Karl Marx und der Untergang des Kapitalismus [1 ed.] 9783428551057, 9783428151059

Mit Unterstützung der Schriften von Karl Marx ist der westliche Kapitalismus über viele Jahrzehnte hinweg in der Sowjetu

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Karl Marx und der Untergang des Kapitalismus [1 ed.]
 9783428551057, 9783428151059

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Karl Marx und der Untergang des Kapitalismus Von

Hubert Kiesewetter

Duncker & Humblot ௘·௘ Berlin

HUBERT KIESEWETTER

Karl Marx und der Untergang des Kapitalismus

Karl Marx und der Untergang des Kapitalismus

Von Hubert Kiesewetter

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany

ISBN 978-3-428-15105-9 (Print) ISBN 978-3-428-55105-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-85105-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

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„Revolutionstheorien kranken beinahe ausnahmslos an einer defizienten Anthropologie.“ Arnold Künzli, 1969

Vorwort Vorwort

Wir sind heute, im 21. Jahrhundert, mit einem eigenartigen gesellschaftlichen Phänomen konfrontiert, das Menschen in Westeuropa nach den Erfahrungen des Kalten Krieges aber nicht mehr allzu stark zu beunruhigen scheint, nachdem Rußland und die Ukraine sich in einem kriegsähnlichen Zustand gegenüberstehen und die lange Friedensperiode ihrem Ende zuneigt. Die sozialistischen Staaten des ehemaligen kommunistischen Ostblocks, vor allem die UdSSR, die über sieben Jahrzehnte lang ihr Herrschaftssystem auf den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels sowie dem Marxismus-Leninismus aufbauten und ideologisch untermauerten, sind durch eine friedliche Revolution seit 1989 hinweggefegt worden. Es war vor allem die ökonomische Ineffektivität einer staatlich gelenkten Zentralverwaltungswirtschaft, die den überall plakatierten Anspruch erhob, die Arbeiter aus dem Unterdrückungs- und Ausbeutungssystem des Kapitalismus zu befreien, an der diese Staaten dramatisch gescheitert sind. Trotzdem gibt es nach 1990 weiterhin viele Schriftsteller – von den kommunistischen Parteien in einigen europäischen Staaten ganz zu schweigen –, die die marxistischen Theorien sowie seine Weltanschauung für die Verwirklichung einer gerechteren Gesellschaft als unverzichtbar ansehen und die Aktualität von Marx’ und Engels’ Denken beschwören. Sie begründen den ausgiebigen Rekurs auf die Marxschen Schriften mit einer fragwürdigen Unterscheidung von Marx als angeblichem Wissenschaftler und theoretischem Ökonomen sowie dem traditionellen Marxismus als tragendes Fundament kommunistischer Staaten, die Marx umgedeutet und fälschlicherweise für ihre unmenschlichen Zwecke instrumentalisiert hätten. Karl Marx’ Lehren können dadurch aus der moralischen Schußlinie genommen werden, irgendeine Verantwortung dafür zu tragen, daß sein Revolutionsfanatismus die kommunistischen Politiker, wie Lenin, Stalin, Ulbricht oder Mao Zedong wesentlich beeinflußt hat, sondern diese haben nach Auffassung dieser Interpreten Marx angeblich deformiert und fehlinterpretiert. Revolutionäre Theorie und totalitäre Praxis werden damit zu unvereinbaren Strategien in zwei scheinbar fremden Welten stilisiert, die sich jedoch in der geschichtlichen Wirklichkeit so eng verzahnt haben, daß die mörderischen Unterdrückungssysteme ohne ideologische Rechtfertigung durch den Marxismus-Leninismus gar nicht vorstellbar und zu erklären sind. Ein kleines Gedankenexperiment kann dies vielleicht etwas verdeutlichen: Womit hätten denn ‚kommunistische‘ Machthaber ihren ideologischen und praktischen Terror gerechtfertigt und untermauert, wenn sowohl Karl Marx als auch Friedrich Engels nicht geboren und keine einzige Zeile ihrer Revolutionstheorie gedruckt worden wäre? Welche psychologischen Motive haben Marx und Engels dazu bewogen, in einem über ein halbes Jahrhundert dauernden, aufopferungsvollen Kampf den Untergang des Kapitalismus nicht nur theoretisch vorauszusagen, sondern auch politisch

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Vorwort

durch internationale Parteigründungen vorzubereiten? In den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen um Marxismus und revolutionären Klassenkampf ist viel zu wenig berücksichtigt worden, daß das ganze Theoriengebäude der unversöhnlichen Kritik am Kapitalismus auf einem haßerfüllten Gefühl gegen den uneinsichtigen Teil der Menschheit beruhte, den Kapitalisten bzw. der Bourgeoisie, der nicht einsehen wollte, daß uns nur revolutionäre Gewalt vom kapitalistischen Unterdrückungssystem befreien könne. Es sollte endlich einmal enthüllt und ohne ehrfurchtsvolle Bewunderung der großen Arbeitsleistung dieser beiden Revolutionäre dargelegt werden, daß ihre sprachlichen Gewaltorgien die brutale Politik in kommunistischen Herrschaftssystemen vorweggenommen haben. Die ständig wiederholte Bezeichnung Wissenschaft bzw. wissenschaftlicher Kommunismus für solche Theorien, deren eigentliche Motivation darin bestand, die endgültige Zerstörung ganzer Gesellschaften, eben der kapitalistischen, zu propagieren, ist eine fast unerträgliche Verhöhnung wissenschaftlicher Redlichkeit. Wenn unbeugsamer Wille und unerschöpfliche Energie dazu benutzt werden, um die Klasse der Kapitalisten auszurotten und solidarische Mitstreiter sowie ideologische Gegner, die eine andere Meinung vertreten, zu denunzieren und abzukanzeln, kann ich darin keine nachahmenswerte Strategie für eine gerechtere Gesellschaft erkennen. Deshalb habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, verschiedenen Weggabelungen dieses revolutionären Gewaltfanatismus nachzuspüren, ohne auf die ökonomischen Ausführungen im Detail einzugehen. Wir müssen uns nämlich gerade in Deutschland die Frage stellen, ob nicht über ein Jahrhundert lang seit 1830 Krieg, Revolution, Umsturz, Judenhaß und eine Geringschätzung des menschlichen Individuums von links bis rechts viel stärker als gesellschaftliche Lösungen angepriesen wurden als Toleranz, Menschlichkeit und friedliches demokratisches Zusammenleben. In den folgenden Ausführungen soll außer einer kritischen Analyse der das ganze Werk durchziehenden Revolutionsforderungen anhand des umfangreichen Briefwechsels zwischen Marx und Engels auch gezeigt werden, welche menschlichen Abgründe sich in der privaten Korrespondenz öffnen und wie vor allem Marx von dem heißblütigen Wunsch nach einer zerstörerischen Revolution des kapitalistischen Systems geprägt war. Denn Marx und der Marxismus haben durch ihre unglaubliche Feindschaft gegen das kapitalistische System nicht nur Generationen von Arbeitern regelrecht aufgehetzt, sondern sie haben auch kommunistischen Regimen das moralische Feigenblatt zur Verfügung gestellt, es handelte sich bei der „Diktatur des Proletariats“ um die erstmalige Verwirklichung eines ‚Reiches der Freiheit‘, durch das das ‚Reich der Notwendigkeit‘ abgelöst würde. Wir können heute kaum noch ernsthaft oder glaubwürdig die These vertreten, daß moralische Maßstäbe keinen Einfluß auf die intellektuellen Ergebnisse und die wissenschaftlichen Theorien von Forschern haben; die Wissenschaft also im ethikleeren Raum agiere. Bis zum Ende des staatlichen Kommunismus ist die Parole von der Diktatur des Proletariats auf der Grundlage von scheinbar wissenschaftlichen Erkenntnissen verkündet und von Millionen von unschuldigen Menschen geglaubt worden, die auf die schönen Worte von einer entfremdungsfreien Welt vertrauten. Die marxistische Idee einer unverbrüchlichen Zusammengehörigkeit von wissenschaftli-

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cher Theorie und revolutionärer Praxis ist allerdings so paradox wie die Behauptung, die Theorie der Kernspaltung von Otto Hahn und Lise Meitner sei untrennbar verbunden mit dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki. Ein Jahr vor Beginn der ‚Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts‘, 1913, gaben der Führer der deutschen Sozialdemokratie, August Bebel, und der sozialistische Revisionist Eduard Bernstein, die Engels vor seinem Tod am 6. August 1895 als Erben seines literarischen Nachlasses sowie des gesamten Briefwechsels eingesetzt hatte, eine vierbändige Ausgabe des Briefwechsels zwischen Karl Marx und Friedrich Engels heraus. Aus falscher Pietät gegenüber den Begründern des revolutionären Marxismus, deren überragendes Ansehen nicht beschmutzt werden sollte, vor allem weil marxistische Revisionisten auf eine Reformpolitik einschwenkten, ist dieser Briefwechsel lückenhaft, und viele Briefe wurden weggelassen, die ein charakterlich ungünstiges Licht auf diese Heroen des marxistischen Sozialismus hätten werfen können. In seinen einleitenden Bemerkungen („Anmerkungen“) zum 1. Band schrieb Bernstein beschönigend und verfälschend: „Nur wo besonders intime Verhältnisse behandelt wurden, an die sich kein allgemeineres Interesse irgendwelcher Art knüpft, wo gleichgültige Dinge über ganz und gar gleichgültige Personen erwähnt werden, schienen Streichungen gerechtfertigt. Fortgelassen sind auch hier und dort mißfällige Bemerkungen über dritte Personen, doch betrifft dies nur solche Äußerungen, die kein politisches oder wissenschaftliches Urteil einbegriffen, das nicht schon in vorhergegangenen Briefen deutlich ausgesprochen ist.“ Wenn Nachlaßverwalter sich anmaßen zu entscheiden, was für die breite Öffentlichkeit relevant ist oder nicht, d. h. vorgeben, das allgemeine Interesse genau zu kennen, sollten wir sehr skeptisch sein gegenüber ihrer angeblich unabhängigen oder wahrheitsliebenden Einstellung. Dahinter verbarg sich tatsächlich der Versuch, die mit dem Revolutionsenthusiasmus verbundenen Schmähungen und intoleranten Einstellungen einem interessierten Leserkreis vorzuenthalten. Sie haben nicht ohne Grund die unmenschlichen Äußerungen von Marx und Engels unterdrückt, denn wie kann man einen einfachen Arbeiter davon überzeugen, daß der ‚wissenschaftliche Marxismus‘ ein unredliches System größten Ausmaßes darstellt, der trotzdem mit unfehlbarer Sicherheit die Wahrheit über den Kapitalismus herausgefunden hat? Um den wahren Gehalt eines wissenschaftlichen Werkes ergründen zu können, benötigen wir neben den offiziellen Schriften auch die persönliche Korrespondenz, noch dazu, wenn sie so umfangreich ist wie zwischen Marx und Engels, um genauer herauszuarbeiten, was sich eventuell hinter abstrakten Formulierungen konkret verbirgt. Jedenfalls führt die gründliche Auswertung einer ausführlichen Korrespondenz zwischen zwei so eng zusammenarbeitenden Denkern wie Marx und Engels zu einem Erkenntnisgewinn von höherer Erklärungskraft. Wie glaubwürdig ist eine Theorie, können wir fragen, die nur einseitige Anklagen gegen eine das Industriesystem aufgebaute Klasse, den Unternehmern, kennt? Es ist das große Verdienst des Leiters des Marx-Engels-Instituts in Moskau, David Rjazanov, daß er seit 1924 nicht nur die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) herausgab, sondern auch den vollständig erhaltenen Briefwechsel zwischen Marx und Engels

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ohne irgendeine Auslassung, was ihm allerdings als einem unabhängigen Kopf zum Verhängnis wurde. Als marxistischer Kommunist geriet er wegen seiner Kontakte zu im Exil lebenden Menschewiki in einen unüberbrückbaren Konflikt zum russischen Diktator Jossif W. Stalin und wurde am 21. Januar 1938 nach einer 15minütigen geheimen Gerichtsverhandlung in Saratow erschossen. Die Stalinschen „Säuberungen“ der 1930er Jahre, bei denen Millionen von Russen ermordet wurden, können Marx und Engels zwar nicht zur Last gelegt werden, doch ihre unmenschliche Einstellung gegenüber Freunden und Weggefährten sollten uns ermahnen und wachrütteln, was alles unter dem Signum eines „wissenschaftlichen Sozialismus“ oder „wissenschaftlichen Kommunismus“ gerechtfertigt werden kann. Es wäre reine Augenwischerei, wenn wir leugnen würden, daß der Sowjetunionsgründer Lenin einer der gründlichsten Kenner des Marx/Engelschen Werkes gewesen ist und seine Unterdrückungsmethoden nicht aus diesen Schriften abgeleitet wurden. Wir müssen uns außerdem fragen, welche menschlichen Motive diese angeblichen Heroen des Kommunismus geleitet haben, fast jede kritische Äußerung von intellektuellen Gegnern rigoros zu verteufeln und keine Idee zu akzeptieren, die mit ihrem revolutionären Gedankengebäude in Widerspruch getreten ist? Der vollständige Briefwechsel, der zum größten Teil auch in die vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED in der Deutschen Demokratischen Republik veröffentlichten Marx-Engels-Werke (MEW) eingegangen ist und dort neun voluminöse Bände umfaßt, enthüllt die tatsächlichen Intentionen der beiden Begründer des sogenannten ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘ und der ‚materialistischen Geschichtsauffassung‘ bzw. des ‚dialektischen Materialismus‘, die mit wissenschaftlicher Redlichkeit nicht das Geringste zu tun haben. Er zeigt aber vor allem, daß Karl Marx und Friedrich Engels weder arbeiter- noch menschenfreundlich waren und daß ihr vielgelobtes Eintreten für die angeblich unterdrückte und ausgebeutete Arbeiterklasse weitgehend taktisch motiviert war, um das verdammte kapitalistische System durch eine gewaltsame Revolution zu beseitigen. Seit 1975 wurde die von David Rjazanov begonnene Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA2) von den Instituten für Marxismus-Leninismus in Ostberlin und Moskau erneut in Angriff genommen und nach 1989 von der Berlin-Brandenburger Akademie der Wissenschaften in Zusammenarbeit mit der Internationalen Marx-Engels-Stiftung fortgeführt; sie ist bis heute nicht abgeschlossen. Wenn in den letzten Jahrzehnten bzw. gegenwärtig, über zweieinhalb Jahrzehnte nach dem erdrutschartigen Zusammenbruch marxistisch-leninistischer Staaten, politische Linksromantiker, marxistische Schriftsteller und hohe kirchliche Würdenträger die unmenschlichen Lehren von Marx rehabilitieren zu können glauben, dann kann man ihnen nur empfehlen, sich gründlicher mit dessen enthüllendem Briefwechsel auseinanderzusetzen. Aus diesem Briefwechsel geht in beklemmender und atemberaubender Klarheit hervor, welche niederträchtigen Ansichten über enge Freunde und treue Mitstreiter von Marx wie Engels vertreten wurden, um ihren Revolutionsfanatismus nicht zu beschädigen. Wir können nicht erwarten, daß die staatsgelenkte ‚Wissenschaft‘ in kommunistischen Staaten sich kritisch mit den Begründern des Marxismus-Leninismus auseinandergesetzt hat und aus-

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einandersetzt, aber in demokratischen Staaten können wir eine Distanz zu deren Klassenkampfparolen einfordern. Diese Apologeten des marxistischen Glaubensbekenntnisses müssen sich fragen lassen, ob ethische Maßstäbe bei der Beurteilung von historischen und ökonomischen Theorien einfach über Bord geworfen werden können, weil ‚Wissenschaft‘ sich angeblich von Werturteilen freihalten müsse. Das dialektische Problem von Theorie und Praxis ist heute so aktuell wie ehedem, aber es kann bei einer wissenschaftlichen Aufarbeitung niemals genügen, wie Lenin zu behaupten, daß der kommunistische Materialismus mit der Wahrheit identisch sei. Wahrheit ist bei wissenschaftlichen Theorien ein anzustrebendes, aber unerreichbares Ziel, doch wir sollten gegenüber denjenigen, die sich im Besitz von ‚Wahrheit‘ glauben, vorsichtig und mißtrauisch sein. Wir sollten uns ebenfalls bei einer ehrlichen Aufarbeitung der politischen Einflüsse weltbekannter Denker nicht darauf beschränken, daß wir uns lediglich auf ihre publizierten Werke beziehen, denn dadurch gewinnen wir höchstens eine einseitige Vorstellung ihrer Absichten. Wenn wir uns ein zutreffendes und halbwegs stimmiges Bild von ihrem Charakter und ihren Überzeugungen machen wollen, dann müssen wir auch ihre sonstigen Äußerungen und Handlungen der privaten Sphäre detailliert betrachten. Um der Legendenbildung nicht noch größeren Raum zu geben, versuche ich in diesem Buch die eigentlichen Hintergründe von Marx’ unerbittlichem Kampf gegen seine wirklichen und eingebildeten Feinde sowie gegen das kapitalistische System anhand des Briefwechsels und einiger wichtiger Schriften aufzudecken. In diesem Buch soll das Marx-Engelsche Gedankengebäude nicht im Detail erörtert, sondern es sollen in einem knappen Überblick zwei Stränge des Lebensweges dieser Denker gegenübergestellt werden. Zum einen ihre frühe Überzeugung, daß das kapitalistische System, das sich zu ihrer Zeit gerade von England aus in anderen europäischen Staaten ausbreitete, durch eine Arbeiterrevolution vernichtet und durch eine klassenlose Gesellschaft ersetzt würde, wenn es nicht durch eigene Widersprüche verschwinden sollte. An diesem Dogma hielt Marx mit ganz geringen Einschränkungen sein ganzes Leben lang fest, während Engels in seinen letzten Lebensjahren wenigstens nicht mehr so sicher war, ob es auch für England seine Gültigkeit beibehalten könne, während Rußland nun stärker in den Fokus rückte. Zum anderen, wie dieser Revolutionsfanatismus besonders bei Marx jede menschliche Rücksicht bzw. Toleranz gegenüber Gegnern wie ehemaligen Freunden auslöschte und in einen menschenverachtenden Feldzug gegen kritische Zeitgenossen ausartete, gegen die schonungslos vorgegangen werden dürfe. Keineswegs soll hier bestritten werden, daß Karl Marx während seines Lebens sich ungeheuer große Kenntnisse der Ökonomie und Geschichte angeeignet und diese in vielen Büchern und Abhandlungen beschrieben hat. Es ist aber in der marxistischen und nichtmarxistischen Literatur oft geleugnet worden, wenn man sich überhaupt damit beschäftigte, daß diese beiden Stränge etwas miteinander zu tun haben, doch es widerspricht dem gesunden Menschenverstand, daß bei einem herausragenden Denker wie Marx die Radikalität seiner Theorien nicht in einem radikalen menschlichen Charakter verwurzelt sind und Ausdruck finden. Es scheint mir eines analytischen Versuchs wert zu sein, dieser Kombination von

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theoretischer und praktischer Radikalität, vom bücherwälzenden Gelehrten und sozialistischem Kämpfer, an einigen Beispielen nachzugehen, die zeigen sollen, wie eine Ideologie die nüchterne Betrachtungsweise ausschalten kann. Außerdem soll vor allem die Angemessenheit der politischen Theorien von Marx und Engels an den tatsächlichen Verhältnissen im 19. Jahrhundert überprüft werden, ohne eine Geschichte dieses Jahrhunderts schreiben zu wollen, damit der interessierte Leser sich ein ungefähres Bild davon machen kann, ob Marx und der Marxismus der historischen Realität auch nur nahe kommen. Das Jahrhundert der industriellen Revolution hat nämlich nicht nur die menschliche Lebensweise dramatisch verändert und an die Menschen ständig neue Herausforderungen herangetragen bzw. sie damit konfrontiert, sondern es hat ökonomische, politische und soziale Strukturen geschaffen, mit denen wir bis auf den heutigen Tag konfrontiert sind. Marx’ historische Bedeutung liegt meiner Ansicht nach nicht in seinem selbstzerfleischenden Kampf für die materiellen Interessen der Arbeiterklasse, der ihm häufig zugute gehalten wurde, sondern in der vielseitigen Propaganda für die endgültige Vernichtung der kapitalistischen Staaten, die in der totalitären Sowjetunion und anderen kommunistischen Herrschaftssystemen über 70 Jahre lang vergeblich versucht und propagiert wurde. In den 1960er Jahren wurde auch im kapitalistischen Westen, der sich zu einer Massenkonsumgesellschaft ohne allzu kritische Rückbesinnung auf deren negative Folgen entwickelt hatte, durch eine rebellierende Jugend marxistische bzw. anarchistische Ideen von Idolen bzw. Ikonen wie (Ernesto) Che Guevara, Rudi Dutschke, Jean-Paul Satre, Herbert Marcuse u. a. gierig aufgesogen und die endgültige Vernichtung des Kapitalismus propagiert, an dessen Stelle der klassenlose Kommunismus bzw. ein herrschaftsfreier Anarchismus treten sollte. Tatsächlich wurde diese antikapitalistische (und angeblich auch antifaschistische) Ideologie zu einer weltweiten Bewegung, ohne auch nur wahrzunehmen, daß der nationalsozialistische Totalitarismus auf der gleichen antikapitalistischen Welle zur Macht gekommen war wie die kommunistischen Staaten. Der Marxismus (wie der Nationalsozialismus) als antikapitalistische Weltanschauung hat nicht nur jeden menschenwürdigen Kredit verspielt, sondern seine Begründer müssen heute einer schonungslosen Kritik unterworfen werden, um nicht der verfälschenden Beschönigung Vorschub zu leisten, zwischen Mensch und Theoretiker könne ein grundlegender inhaltlicher Unterschied gemacht werden. Nicht nur das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen kapitalistischen Gesellschaft ist vom fanatischen Marx verdreht und verzeichnet worden, sondern sein revolutionärer Fanatismus hat alle menschliche Toleranz beseitigt und Freunde zu Feinden gemacht. In einer Welt, in der Millionen von Menschen freiheitlich-demokratische Werte gegenüber autoritären und totalitären Regimen durchzusetzen versuchen, sollten wir eindeutig Stellung beziehen gegenüber intoleranten und gewalttätigen Gedankengebäuden, die eine zerstörerische Revolution trotz des damit verbundenen unsäglichen Leids als einzige Rettung vor Ausbeutung und Unterdrückung propagieren. Bei aller gerechtfertigten Kritik an den menschenfeindlichen Auswirkungen einer ungebremsten ökonomischen Globalisierung sollten wir nicht völlig übersehen, daß das kapitalistische System in funktionierenden Demokratien ge-

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genüber allen anderen Systemen einen weitverbreiteten Wohlstand geschaffen hat, auch wenn es immer noch Armut und menschliches Elend gibt. Diese menschliche und theoretische Verknüpfung anhand einiger Aspekte des Marx-Engelschen Werkes sowie des Briefwechsels zu verdeutlichen soll als bescheidener Beitrag für eine humanere Welt verstanden werden. Eichstätt, den 14. Juni 2016 Hubert Kiesewetter

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel Einleitung

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2. Kapitel Karl Marx’ intellektuelle Spurensuche A. In der Jugend ...........................................................................................................

39 40

B. Im Studium ..............................................................................................................

44

C. In der Philosophie ....................................................................................................

54

3. Kapitel Das atheistische und politische Lehrjahr bei der Rheinischen Zeitung

61

A. Die Anstellung .........................................................................................................

62

B. Der Protegé Moses Hess ..........................................................................................

66

C. „Krieg den deutschen Zuständen“ ...........................................................................

69

D. Der opportunistische Chefredakteur ........................................................................

78

4. Kapitel Redakteur und Revolutionär in Paris

92

A. Arnold Ruges Hilfestellung .....................................................................................

93

B. Zwei Aufsätze für die Deutsch-Französischen Jahrbücher .....................................

99

C. Arbeiter und Revolution ..........................................................................................

109

5. Kapitel Revolutionärer Mitstreiter, Coautor und Geldgeber Friedrich Engels

118

A. Der Bund der Gerechten ..........................................................................................

120

B. Der Bund der Kommunisten ....................................................................................

130

C. Engels’ Arbeiterschrift von 1845 .............................................................................

149

6. Kapitel Die Umbruchsituation Mitte der 1840er Jahre

169

A. Aufstand der Weber 1844 ........................................................................................

172

B. Revolutionäre oder reaktionäre Zustände? .............................................................

183

C. Marx’ Exil in Belgien ..............................................................................................

190

D. Das Kommunistische Manifest ...............................................................................

198

16

Inhaltsverzeichnis 7. Kapitel Die politische Lösung: Revolution, Diktatur, Kommunismus

216

A. Die Geschichte von Klassenkämpfen ....................................................................... 217 B. Der ausbeuterische Kapitalismus ............................................................................. 227 C. Die Diktatur des Proletariats ...................................................................................

235

D. Die Fallstricke der klassenlosen Gesellschaft .........................................................

253

E. Die kommunistischen Widersacher im Londoner Exil ............................................

260

F. Der Krieg gegen Hermann Kriege ..........................................................................

268

G. Die menschliche Selbstentfremdung und das Privateigentum .................................

271

H. Die Grundsätze des Kommunismus ......................................................................... 277 I.

Die Arbeiterklasse als Revolutionslokomotive ......................................................

288

8. Kapitel London und der Sieg der Revolution A. Wie die Realität im fremden Land verdreht werden kann ......................................

301 303

B. Der darbende Marx und seine Geldnot ....................................................................

315

C. Die „Scheißkerle“ Gottfried Kinkel und Ferdinand Freiligrath ..............................

324

D. Der Kampf mit dem „jüdischen Nigger“ Ferdinand Lassalle ..................................

331

9. Kapitel Die endgültige Vernichtung des kapitalistischen Systems

351

A. Die Internationale und die Industrialisierung ..........................................................

353

B. Die hindernißreiche Veröffentlichung von Das Kapital ..........................................

362

C. Die Reformen des Kapitalismus im 19. Jahrhundert ...............................................

373

D. Die unleugbaren Mängel des Kapitalismus .............................................................

385

10. Kapitel Die Marxbeschöniger: Beispiel Ernst Bloch

397

A. Marx’ Menschlichkeit ..............................................................................................

398

B. Der moderne Kapitalismus ......................................................................................

405

C. Die enttäuschten Hoffnungen ...................................................................................

411

11. Kapitel Resümee

419

Literaturverzeichnis ....................................................................................................

429

Personenverzeichnis ....................................................................................................

452

1. Kapitel

Einleitung 1. Kap.: Einleitung 1. Kap.: Einleitung

Der unerwartete und erdbebenartige Zusammenbruch kommunistischer Herrschaftssysteme vor über zwei Jahrzehnten, vor allem der Sowjetunion (UdSSR) sowie der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und der sozialistischen ‚Bruderstaaten‘, war verkoppelt mit der anscheinend endgültigen Desavouierung des revolutionären Marxismus und seiner antikapitalistischen Lehren, die jahrzehntelang als ein wissenschaftliches Glaubensbekenntnis von führenden Politikern und Ideologen des Marxismus-Leninismus verkündet wurden. In den kommunistischen Staaten war jedoch mit großer Deutlichkeit sichtbar geworden, daß die marxistisch-leninistische Ideologie einer Befreiung der Menschen von kapitalistischer Unterdrückung, die vor über 70 Jahren mit der Oktoberrevolution in Rußland begonnen hatte, in der politischen Realität der UdSSR oder der DDR zu totalitären Formen menschlicher Ausbeutung unter Verachtung von Freiheitsrechten geführt hat. Dagegen hatte der verteufelte westliche Kapitalismus seinen Bürgern sowohl mehr Freiheit als auch mehr Wohlstand beschert. Eine zunehmende Kluft zwischen den Konsummöglichkeiten in West- und Ostdeutschland führte Ende der 1980er Jahre zu einer eklatanten Unzufriedenheit großer Teile der DDRBevölkerung und schließlich zur friedlichen Revolution 1989. Die staatssozialistischen Zentralverwaltungswirtschaften, die in immer neuen zentralistischen Anläufen versuchten, ihre Produktion an die allgemeine Nachfrage anzupassen, haben sich als unfähig erwiesen, ein ökonomisch effektives System aufzubauen, das mit dem Wettbewerbskapitalismus konkurrieren konnte oder sich ihm auch nur annäherte. Trotzdem wird weiterhin angenommen, „der Kollaps des SowjetKommunismus 1989 – 1991 [sei] nicht das Ende des sozialistischen Projekts“,1 sondern Marx’ Kapitalismuskritik sei heute dringender als je und wir seien Marx „eine Ehrenrettung schuldig“.2 Diese Annahmen sollen hier anhand von empirischhistorischen Analysen des Marxschen Gedankengebäudes widerlegt werden, um dem fast unsterblichen Märchen vom menschenfreundlichen Marxismus sein moralisches Fundament zu entziehen. Marxistische Ökonomen, wie der Engländer Maurice Dobb in seinen Studies in the Development of Capitalism (1946), haben immer wieder behauptet, daß das wissenschaftlich-technische Innovationspotenti1 Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (2003). Nachdruck Freiburg 2010, S. 12. Die bibliographischen Angaben werden in der ganzen Arbeit verkürzt zitiert. Für den genauen Nachweis vgl. das Literaturverzeichnis. 2 So Barbara Sichtermann: Karl Marx: neu gelesen (1990), Berlin 1995, S. 14. Wir werden später noch genauer zeigen, daß die Aussage: „Der kühle Analytiker, der er überwiegend war, ist aktuell geblieben“ (S. 38), eine euphemistische Übertreibung ist.

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1. Kap.: Einleitung

al des Kapitalismus einmal erlahmen müßte und dann die Diktatur des Proletariats an seine Stelle treten würde und müßte.3 Wie diese ‚Diktatur‘ aussehen könnte, hat Friedrich Engels, der nach einem Polizeibericht von 1854 „unter dem Einflusse von Marx nächst diesem der eifrigste und thätigste Communist“4 gewesen sei, zum 20. Jahrestag der Pariser Kommune, am 18. März 1891, so formuliert, wie Marx sie schwerlich akzeptiert hätte: „Der deutsche Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken geraten bei dem Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.“5 Der theoretische Urvater aller dieser kommunistischen Systeme, Karl Marx (1818 – 1883) – die „sich in der Existenz Sowjetrußlands manifestiert“6 hatten –, hätte eigentlich ebenso in diesen totalitären Abgrund hineingerissen werden müssen wie diese Staaten, die sich von Anfang bis zum Ende auf seine revolutionären Lehren beriefen. Aber seine Ideen eines ‚Reiches der Freiheit‘ in einer Diktatur des Proletariats scheinen unbeschadet aller tatsächlichen Zusammenbrüche sozialistischer Staaten weiter verbreitet zu werden. So schrieb Wolfgang Matz Ende 1991 in viel zu optimistischer Einschätzung: „Karl Marx ist endgültig passé.“7 Die Anhänger der marxistischen Lehre, die in den 1960er Jahren durch rebellierende Studenten eine weltweite Anhängerschaft um sich scharen konnten, die jedoch inzwischen ziemlich zusammengeschrumpft ist, müssen sich zwar den herben Vorwurf gefallen lassen, daß gravierende Veränderungen der realen Verhältnisse bei der Globalisierung des letzten halben Jahrhunderts sie nicht aus ihrem ideologischen Gedankengebäude herauslocken können. Doch was kümmert Ideologen die widerständige Realität, könnte man in Abwandlung Hegels sagen. Sie können sich ja auf die umfangreichen Schriften von Marx, Engels und Lenin berufen, wenn sie den Kapitalismus für alle menschlichen Übel auf der Welt verantwortlich machen wollen. Nach Marx mußten die sozialen Revolutionen zuerst eigentlich in den fortschrittlichsten kapitalistischen Staaten ausbrechen, aber nach der teilweisen Lektüre von N. Flerowskis (Pseudonym für Wassili Berwi) Buch Poloshenije 3 Vgl. Maurice Dobb: Entwicklung des Kapitalismus, Köln/Berlin 1970. Dobb ging von der Überlegung aus, daß wenn die Erde mit Eisenbahnlinien überzogen ist, dem Kapital keine Investitionsmöglichkeiten mehr offen stünden und dadurch unweigerlich seine Schrumpfung einsetzen müßte. Ihm fehlte offenbar die Phantasie, daß in wenigen Jahrzehnten nach seiner (falschen) Prognose die Auto- oder die Flugzeugindustrie (ganz zu schweigen von der Computer- und Elektronikindustrie) neue dynamische Felder der Innovationen und Investitionen eröffneten, die dem Kapitalismus das Überleben sicherten. 4 Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen des neunzehnten Jahrhunderts (1854), Berlin 1976, S. 44 (Hervorhebung im Original). 5 Friedrich Engels: Einleitung [zu „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ von Karl Marx (Ausgabe 1891)], in: MEW. Bd. 17, Berlin 1973, S. 625. Vgl. dazu das 7. Kapitel, Abschnitt C., S. 235 ff. 6 Leopold Schwarzschild: Der rote Preuße, Stuttgart 1954, S. 9. 7 Wolfgang Matz: Die Rettung des Marxismus. Frankfurter Philosophen erwecken tote Begriffe zu neuem Leben, in: Die Zeit, Nr. 44. 25. Oktober 1991, S. 86.

1. Kap.: Einleitung

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rabotschewo klassa w Rossii (1869) schrieb er am 5. März 1870 an seine Tochter Laura und seinen Schwiegersohn Paul Lafargue in Paris: Man könne davon überzeugt sein, „daß eine äußerst schreckliche soziale Revolution – natürlich in den niederen Formen, wie sie dem gegenwärtigen Moskowiter Entwicklungsstand entsprechen – in Rußland unvermeidlich ist und nahe bevorsteht. Das sind gute Nachrichten. Rußland und England sind die beiden großen Eckpfeiler des gegenwärtigen europäischen Systems.“8 (Laura und Paul Lafargue wählten am 25. November 1911 den Freitod, weil sie glaubten, die unüberwindbare Grenze ihrer individuellen Leistungsfähigkeit und ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit erreicht zu haben). Und viele Jahre später, am 21. Januar 1877 in einem Brief an Ferdinand Fleckles in Karlsbad, glaubte Marx von Zar Alexander II. in Petersburg, er habe „das Signal zu einer seit lange sich vorbereitenden Konvulsion in seinem eignen Reich gegeben, die in ihrem schließlichen Resultat den ganzen jetzigen status quo des alten Europa den Garaus machen wird“!9 Doch der Zar wurde am 1. März 1881 durch einen Bombenanschlag von zwei anarchistischen Studenten auf einer Ufer-Straße in Petersburg getötet. Durch den Tod des Zaren wurde das zaristische System nicht beseitigt, weil das russische Volk dem ganzen Treiben gleichgültig gegenüberstand, auch wenn der anarchistisch gesinnte Student Sergej Netschajew in die Schweiz floh, um mit Michail Bakunin einen Revolutionären Katechismus zur Zerstörung des russischen Staates zu verfassen. Die Studentenrevolte seit 1968 hat eine neue Welle der intensiven Beschäftigung mit den revolutionären Gedanken des Marxismus ausgelöst, nicht nur unter massiver Beeinflussung der Schriften von Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas oder Herbert Marcuse. In vielen westlichen Industriestaaten fand die harsche Kritik am kapitalistischen Produktionsprozeß willige marxistische Adepten. Daß vor allem Intellektuelle bzw. Professoren revolutionäre Forderungen an die Arbeiterklasse richteten, war ja keine neue Erscheinung, auch wenn die arbeitende Klasse sich – im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, wo sie zu einer mächtigen Bewegung anwuchs – wegen der rapiden Vermehrung der Dienstleistungsberufe in Auflösung befand und eine internationale Solidarität gar nicht mehr hergestellt werden konnte. Der französische Marxist André Gorz (1923 – 2007) glaubte noch 1970, daß wir in einer Gesellschaft lebten, „die uns unablässig in einer durch und durch ideologischen Weise bestimmt, d. h. durch die Ideologie des Kapitalismus und der Bourgeoisie“.10 Obwohl sich bereits zu dieser Zeit ein Massenkonsum und ein Massentourismus in 8 MEW. Bd. 32, Berlin 1974, S. 659. In der „Vorrede“ zur 2. russischen Ausgabe des Manifest der Kommunistischen Partei vom 21. Januar 1882 wurde sogar behauptet: „Rußland bildet die Vorhut der revolutionären Aktion in Europa“ (MEW. Bd. 19, Berlin 1974, S. 296). 9 MEW. Bd. 34, Berlin 1973, S. 244. In einem Brief an Wilhelm Liebknecht in Leipzig vom 4. Februar 1878 sprach sich Marx für eine militärische Niederlage Rußlands gegen die Türkei aus, weil dies „die soziale Umwälzung in Rußland, deren Elemente massenhaft vorhanden, sehr beschleunigt haben würde und damit den Umschwung in ganz Europa; außerdem wäre eine russische Revolution gleichzeitig „das Totengeläute für Preußen“ (ebd., S. 317 und S. 318 (Hervorhebungen im Original). 10 André Gorz: Die Aktualität der Revolution, Frankfurt am Main 1970, S. 8.

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vielen europäischen Staaten durchgesetzt hatten, glaubte Gorz an eine kapitalistische Konditionierung, an eine gesellschaftliche Unterdrückung von Bedürfnissen und Forderungen, die dem kapitalistischen System bzw. der herrschenden Ideologie nicht adäquat seien. Eine solche ideologische Verzerrung der realen Verhältnisse legte es nahe, auf den marxistischen Revolutionsfanatismus zurückzugreifen, um die ideologische Hegemonie des Kapitalismus zu zerstören: „Um die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Angriff zu nehmen, muß man sich von der Gewalt der herrschenden Ideologie befreien, die gerade leugnet, daß eine solche Veränderung möglich ist.“11 Der emanzipatorische Kampf müsse nicht nur auf der ideologischen und kulturellen, sondern auch auf der ökonomischen und sozialen Ebene ausgefochten werden, weil der Kapitalismus eben alle Lebensbereiche beherrsche. Die notwendige Kritik an Konsum, Kultur und Lebenshaltung im Kapitalismus müsse eine politische Dimension erhalten, eine offensive Strategie: „Dieses Instrument ist die revolutionäre Partei“.12 Es gehört zu den Verdrehungsstrategien von Marxisten, den ökonomisch aufgewühlten Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus so darzustellen, als hätten arbeitende Menschen, wie Bauern und Handwerker, durch eine Enteignung ihrer Arbeitsmittel eine auskömmliche Selbständigkeit verloren, die ihnen vorher eine unbeschwerte Existenz garantiert habe: „Indem die Arbeiter aufhörten, unmittelbar zu den Produktionsmitteln zu gehören wie Sklaven und Leibeigene, hörten die Produktionsmittel auf, ihnen zu gehören wie beim selbstwirtschaftenden Bauern und Handwerker.“13 Es wird bei der ausführlichen Diskussion über die materielle Lage der Arbeiter im Industriekapitalismus selten erwähnt oder behandelt, daß in den Frühphasen der Industrialisierung auch andere Berufsgruppen mit einer erbärmlichen Bezahlung zurechtkommen mußten und deshalb nicht weniger ‚entfremdet‘ waren. Dazu nur ein Beispiel eines fast 50jährigen Schullehrers aus Güldengossa, einem Dorf zwischen Leipzig und Borna, der 40 Kinder dieser Gemeinde unterrichtete, eine kränkliche Frau und fünf Kinder zwischen 13 Jahren und 15 Wochen zu versorgen hatte sowie nebenbei als Küster, Kantor und Organist tätig war. Sein Einkommen aus seinen Tätigkeiten in Güldengossa im Jahr 1828 betrug: „1) als Küster: für ohngef. 7 Kindtaufen à 7 gr. = 2 Thlr., 1 gr., für ohngef. 2 Leichen à 6 gr. = 12 gr., für ohngef. 1 Hochzeit à 14 gr. = 14 gr. Zus. 3 Thlr., 3 gr. 2) als Kantor: für das Neujahrssingen 3 Thlr., für das Gregoriussingen 4 Thlr.: Latus 7 Thlr. Ab davon zum Ankauf der Fahnen für Aeltern und Kinder à 4 Pf., ohngefähr 17 gr. 2 pf., für ½ Tonne Bier 1 Thlr., 2 gr., für Musikanten 16 gr.: Zus. 2 Thlr. 11 gr. 2 pf. Bleibt ihm: 4 Thlr., 12 gr. 10 pf. 3) als Organist: aus dem Kirchenvermögen 2 Thlr. 4) als Ebd., S. 9. Ebd., S. 16. Die Funktionen und Bedingungen einer revolutionären Partei wurden von Gorz auf vielfältige Weise beschrieben, z. B.: „Ohne revolutionäre Bewegung keine revolutionäre Partei; ohne revolutionäre Partei keine dauerhafte revolutionäre Bewegung.“ (S. 22). Obwohl sich Gorz von den „Entartungen der ‚Sowjet‘-Macht“ (S. 54) distanzierte, ist diese Aussage reiner Staatskommunismus! 13 Franz Mehring: Karl Marx (1918). 5. Aufl. Berlin 1983, S. 367. 11

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Lehrer: Nießbruch von 3 Acker Feld à 10 Thlr. = 30 Thlr., Schulgeld pro Mon. 3 Thlr. = 36 Thlr.: Zus. 66 Thlr. Ab davon Ackerlohn 12 Thlr. Bleibt ihm: 54 Thlr. Er hat demnach als Küster 3 Thlr., 3 gr., als Kantor 4 Thlr., 12 gr., 10 pf., als Organist 2 Thlr., als Schullehrer 54 Thlr. Zulage von E. hohen Konsistorio 13 Thlr., 12 gr.: in Summa: 77 Thlr. 3 gr. 10 pf.!!! Das Jahr zählt bekanntermaßen 365 Tage. Sonach kommt laut Rechnung auf den Tag 5 gr. 3 227 365 pf. Davon leben die Eltern mit 5 Kindern. Jedes Individuum hat also täglich 9 pf. zu verthun; denn die täglichen Bruchpfennige braucht die Familie theils für den Klingelbeutel in der Kirche, theils zum nothdürftigen Almosen an Bettler.“14 Der in vielfältige Aktivitäten eingespannte Lehrer Panitz, der diese schlechtbezahlten Ämter seit 14 Jahren ausübte – obwohl man zur gleichen Zeit den Schullehrer als „den größten Wohlthäter der Kinder und in der Schule die Anstalt erblickt, wo dieselben Schätze für Zeit und Ewigkeit sammeln“,15 – unterrichtete die 40 Kinder nicht nur in Lesen, Rechnen und Schreiben, sondern auch in Religion und in Denkübungen. Mit seinem gesamten Einkommen mußte er Holz, Kleidung, Nahrung und Licht für eine siebenköpfige Familie bezahlen und hätte möglicherweise gerne eine weniger belastende Industriearbeit aufgenommen, um sein elendes Leben zu verbessern. Allerdings gab es zu dieser Zeit fast noch keine Industrie in Sachsen. Der Berichterstatter Schedlich schilderte die ärmliche Situation dieser Familie, die aus tiefer Scham nicht betteln wollte, weil sie dies als unedel ansah. Doch trotz dieser vor allem im Winter fast unerträglichen Lage wird dieses Schicksal gottergeben ertragen und niemand abgewiesen. „Kommt Ihr Abends, so wird Euch ein Kienspahn im Mäuerchen brennend die Noth der Familie sehen lassen, der die ganze Stube erleuchten muß. Als Abendbrod werdet Ihr auf dem schmucklosen Tisch eine Schüssel trockner Kartoffeln finden, um die alsbald nach kurzem aber rührendem Gebet die hungernde Familie Platz nimmt. Zwar tragen die jüngeren Geschwister die vielfach zusammengeflickten Kleider der älteren, allein ich sah doch zwei Mädchen – ein Herz erschütternder Anblick! – nur mit dünnen Hemdchen bekleidet, in Schnee spielen!“16 Können wir uns heute noch vorstellen oder ausmalen, ob die von Marx glorifizierten und angeblich ausgebeuteten Arbeiter schlechtere Lebensverhältnisse ertragen mußten als dieser Schullehrer? Was für eine Lehrer- und Arbeiterfamilie während der Frühindustrialisierungsperiode ähnlich war, bestand in der nahezu ökonomischen Unersetzlichkeit des Hauptverdieners. Denn wenn der Vater einer vielköpfigen Familie starb, „so erwartet die verlassene Wittwe mit ihren unschuldigen Kleinen gewiß ein ähnliches Loos, wie das der verwittweten Schullehrerin Penz in Großpößna (Parodie Liebertwolkwitz), 14 Eduard Adolph Schedlich: Herr Schullehrer Panitz in seinem Amte und Hause, in: Die Biene. Wöchentliche Mittheilungen für Sachsen und angrenzende Länder, III. Jg., Nr. 4. 25. Januar 1829, S. 29 (Hervorhebungen im Original). Thlr. = Taler; gr. = Groschen; pf. = Pfennig. 15 So Karl Dittrich: Armer Schullehrer, in: Die Biene, III. Jg., Nr. 11. 15. März 1829, S. 81. 16 E. A. Schedlich: Herr Schullehrer Panitz (wie Anm. 14), S. 29 (Hervorhebung im Original).

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welche von der Gemeinde ins Hirtenhaus geschafft, allda seit Jahren krank auf dem Strohe liegt, und von geringem Almosen lebt“.17 Was die Industriearbeiterschaft von anderen Berufsgruppen vor allem unterschied, war ihr plötzliches Erscheinen in der Arbeitswelt, während viele Lehrer, Handwerker, Landarbeiter etc. schon seit vielen Jahrhunderten ein elendes Dasein führten. Die politische Macht der Arbeiterklasse, verkörpert in einer revolutionären Partei, darüber kann es nach dem Ende des real existierenden Kommunismus keinen Zweifel mehr geben, tendiert gegen Null, auch wenn die rechtfertigende Ideologie noch so moralische Verdammungsurteile gegenüber Kapitalisten und Konterrevolutionären hinausposaunt. Wie soll sich denn der ‚kämpferische Wille der arbeitenden Klassen‘ bei der angeblichen Unfähigkeit der bürgerlichen Staaten zu Strukturreformen entwickeln, wenn das Erreichen von größerem Wohlstand und harmonischem Familienleben ganz oben auf der sozialen Agenda der Arbeiter stehen? Das politische und ökonomische Systemgleichgewicht kann nicht ins Wanken geraten, wie es sich die marxistischen Revolutionäre vorstellen, solange der kapitalistische Staat in der Lage ist, der überwiegenden Zahl seiner Bürger die konkrete Zukunftshoffnung zu vermitteln, daß ihre materielle Lage sich nicht wesentlich verschlechtert – und dazu war er in normalen Zeiten durchaus in der Lage. Daran können auch noch so schöne Revolutionsträume nichts ändern, in denen die Massen die gesellschaftlichen Zustände aus den Angeln heben und die politische Macht in die eigenen Hände nehmen, obwohl ihnen jede konkrete Strategie für einen institutionellen Umbau der Gesellschaft fehlt. Was Gewerkschaften in ihrem antirevolutionären Kampf um Beteiligungsrechte der Arbeiter an politischen Entscheidungen, seien es nun Lohnerhöhungen, bessere Arbeitsbedingungen oder größere Mitspracherechte in Unternehmen geleistet haben, sollte uns erheblich größere Achtung abnötigen als die ständige Aufforderung nach Vernichtung bzw. Untergang des Kapitalismus. Das zentralistische Machtmittel einer Revolution hat sich in der Geschichte politischer Umwälzungen vor 1989, d. h. in vielen Revolutionen der vorangegangenen 200 Jahre, als ein derart massenmörderisches Experiment erwiesen, daß seine Propagierung eigentlich als ein moralisches Armutszeugnis angesehen werden muß. Warum Marxisten dennoch auf revolutionären Aktivitäten beharren, um die angebliche Entfremdung in der Arbeitswelt zu überwinden, kann eigentlich nur durch ihren irrationalen Abscheu vor und dem marxistischen Haß auf sämtliche Formen des kapitalistischen Wirtschaftssystems erklärt werden. Offenbar hat Marx’ Revolutionsfanatismus so viele unterdrückte Träume wieder ans Tageslicht gespült, daß man tatsächlich durch die Vernichtung der Monopolbourgeoisie das Lebensglück herbeizaubern zu können glaubt: „Denn zwischen dem starken Staat, der unter dem Zwang der Notwendigkeit sich als fähig erweist, den Erfordernissen des Monopolkapitals praktisch Geltung zu verschaffen, und 17 Ebd., S. 29 f. (Hervorhebungen im Original). In den folgenden Wochen nach der Veröffentlichung dieses Artikels traf in der Redaktion von Die Biene eine große Zahl von Spenden für den Lehrer Panitz ein, aber sein kümmerliches Einkommen war keineswegs ein Einzelfall.

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dem revolutionären Übergang zum Sozialismus gibt es keinen Mittelweg, sondern nur eine Folge von kurzlebigen Kompromissen und Krisen.“18 Danach ist der Kapitalistenstaat Geschichte und die ausbeuterischen Unternehmer haben ihren verdienten Untergang hinzunehmen! Die intensive Beschäftigung mit den Marxschen Schriften, die Richard Löwenthal als „diesseitsreligiösen Erlösungsglauben“19 bezeichnete, hat nach dem rapiden Zusammenbruch kommunistischer Staaten keineswegs aufgehört. Sie scheint ungebrochen zu sein, obwohl massenhaft Revolutionsliteratur in kommunistischen Staaten veröffentlicht wurde, weil nun der praktische Revolutionsfanatismus ein Ende gefunden hat und Marx’ Schriften geeignet seien, um sie als heuristische Quelle „verstärkt sprudeln zu lassen“.20 Intellektuelle eines bestimmten akademischen Milieus neigen dazu, sich in ein theoretisches Schneckenhaus einzuigeln, um von der widerspenstigen Realität nicht zu sehr aus dem logischen Gleichgewicht gebracht zu werden und Vernunftgründe akzeptieren zu müssen. Es ist ja überaus bezeichnend, daß Marx nach der Veröffentlichung seines Hauptwerks Das Kapital von einem Bielefelder Fabrikanten einen Brief erhielt, in dem dieser vermutete, daß Marx wohl selbst einmal Nähmaschinenfabrikant gewesen sein müßte. Daraufhin schrieb Marx am 16. März 1868 an Engels: „Wenn die Leute nur wüßten, wie wenig ich von all dem Zeug weiß.“21 Marx bezog seine Kenntnisse überwiegend aus Gesprächen und Veröffentlichungen von Friedrich Engels, der ja die Textilindustrie in- und auswendig kannte, und nicht aus eigener Anschauung. Das durch politische Fehlsteuerungen ökonomisch herbeigeführte Ende kommunistischer Staatswirtschaften ermöglicht jedoch folgendes: Daß man jetzt unbefangener die dialektischen Konstruktionen interpretieren kann, ohne danach zu fragen, welche menschenverachtende Rolle der Marxismus-Leninismus in der realsozialistischen Welt gespielt hat und ob die Millionen Ermordeten in der UdSSR irgendetwas mit den Marxschen Gewaltphantasien zu tun hatten. Der Politologe Iring Fetscher schrieb 1962: „Der heutige Marxismus-Leninismus ist die einflußreichste politische Ideologie der Welt.“22 Und ein sowjetisches Autorenkollektiv vertrat im Jahr der blutigen Niederschlagung des ‚Prager Frühlings‘ seit dem 21. August 1968 durch eine militärische Intervention der Staaten des Warschauer Paktes die Auffassung: „Der Marxismus-Leninismus ist die einheitliche revolutionäre Lehre, die

A. Gorz: Die Aktualität (wie Anm. 10), S. 38. Richard Löwenthal: Jenseits des Kapitalismus (1947). 2. Aufl. Berlin/Bonn-Bad Godesberg 1977, S. LVI. Im Jahr 1946, als dieses Buch entstand, schrieb Löwenthal unter dem Pseudonym Paul Sering, daß es Marx um „die Emanzipation des Menschen“ (ebd., S. 12) gegangen sei. 20 So Hans-Josef Helmer: Die Genese des Kapitalismus. Teil 2, Frankfurt am Main 1993, S. 566. 21 MEW. Bd. 32, Berlin 1974, S. 45. 22 Iring Fetscher: Von Marx zur Sowjetideologie. 7. Aufl. Frankfurt a. M./Berlin/Bonn 1962, S. 9. 18

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zur Theorie und Anleitung für die Kommunisten und Revolutionäre der ganzen Welt geworden ist.“23 Es stellt deshalb eine eigentümliche Paradoxie der neueren Geschichte dar, daß Marx heute nicht nur von der politischen Linken wieder zu rehabilitieren versucht wird, sondern auch höchste Würdenträger der katholischen Kirche in ihm einen vorbildhaften Kämpfer gegen soziale Ungerechtigkeiten sehen. Marx war ein Mensch „von exzessivster Subjektivität“,24 selbst wenn seine Schriften in der UdSSR oder in der DDR als „das theoretische Fundament der marxistisch-leninistischen politischen Ökonomie“25 angesehen wurden. Er und der Marxismus haben einen intoleranten Atheismus gepredigt und durchgesetzt, der nur schwer mit einer christlichen Ethik vereinbart werden kann. Ganz abgesehen davon wird der revolutionäre Fanatismus von Marx und Engels von vielen Interpreten einfach ausgeklammert, so als sei die Marxsche Revolutionstheorie kein inhärenter Bestandteil des Marxschen Systems gegen die Opiate des Volkes, nämlich der vernebelnden Religion und des ausbeuterischen Kapitalismus. Der kirchliche Widerstand gegenüber kapitalistischen Produktionsformen richtete und richtet sich auch gegen die Forderung der Aufklärung nach Befreiung des Individuums aus doktrinären Fesseln, denn: „Die Ausbildung der materiellen Interessen ist Hand in Hand gegangen mit dem Zerfall der alten Kirchenmacht.“26 Der Doyen der modernen katholischen Soziallehre, der Jesuit und langjährige Professor an der Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main sowie maßgeblich beteiligt an der Sozialenzyklika Quadragesimo anno von 1931, Oswald von Nell-Breuning (1890 – 1991), hat sich distanzierter geäußert als die heutigen Vertreter einer katholischen Glaubenslehre: „In Marxens Lehre von der Arbeit kulminiert seine Auflehnung gegen Gott und gegen den Gedanken einer Schöpfung; sie ist schlechterdings Wurzel und innerster Kern seines Atheismus.“27 Ein halbes Jahrhundert später verbreiten führende Vertreter der katholischen Kirche ein menschliches Bild von Marx, das Erstaunen auslöst. Die Teilnehmer der deutschen katholischen Bischofskonferenz können doch nicht vergessen haben, daß in der DDR unter Rückgriff auf die Schriften von Marx und Engels ein radikaler Atheismus gepredigt und durchgesetzt wurde. Er machte jede freiheitliche Selbstverwirklichung unmöglich und schrieb den meisten Jugendlichen die Jugendweihe vor, wenn sie ihre berufliche Karriere nicht aufs Spiel P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (1973). 7. Aufl. Berlin 1984, S. 788. Dort wird die marxistische Weltanschauung als Teil der Zivilisation der Menschheit dargestellt: „Der Marxismus ist der rechtmäßige Erbe all des Guten, das von der Menschheit beim Erkennen der Natur und des gesellschaftlichen Lebens hervorgebracht worden ist.“ (S. 7 f.). 24 So Werner Blumenberg: Karl Marx (1962), Reinbek bei Hamburg 1968, S. 8 (Hervorhebung im Original). 25 So Heinrich Gemkow: Unser Leben (1981). 5. Aufl. Berlin 1983, S. 171. 26 Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus (1866). II. Buch, 2. Aufl. Iserlohn 1875, S. 465. 27 Oswald von Nell-Breuning: Auseinandersetzung mit Karl Marx, München 1969, S. 10 (Hervorhebung im Original). 23

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setzen wollten. Nach dem Mauerfall 1989 war der Anteil kirchlich gebundener Mitglieder in der ehemaligen DDR in beiden christlichen Religionen nur noch gering und hat sich seither nicht mehr wesentlich vergrößert. So schrieb etwa Marx’ Namensvetter, der Erzbischof von München und Freising, und jetziger Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, daß wir Karl Marx Unrecht täten, „wenn wir bestreiten würden, dass es auch ihm um die Verwirklichung der Freiheit gegangen ist“.28 Es ist ja immer wieder, besonders von antisemitischen Denkern, darauf hingewiesen worden, daß Marx seine Massenbewegung des internationalen Proletariats wie Moses die Israelis als ein auserwähltes Volk angesehen hat – „Moses ist der erste jüdische Weltrevolutionär!“29 Man interpretierte sein Gedankengebäude als logisch notwendigen Chiliasmus, dem weniger das ökonomische System als ein metaphysisches Nirwana einer internationalen Arbeiterverbrüderung vorschwebte. „In Wirklichkeit aber ist der Marxismus ebenso wie die sonstigen Formen des heutigen Kommunismus in die Reihe der religiösen Bewegungen einzuordnen.“30 Während Marx eine kommunistische und atheistische Gesellschaft durch eine siegreiche Arbeiterrevolution heraufziehen sah, die auch den bourgeoisen Staat zertrümmerte, glaubten sozialistische Zeitgenossen an keine einheitliche Vorgehensweise in der Arbeiterschaft: „Der Arbeiter, welcher irgend einem kommunistischen System anhängt, wird bei der allgemeinen Erschütterung der Gesellschaft zuerst daran denken, eine provisorische Regierung zu bilden; während der konservative Proletarier schon ganz munter demolirt oder plündert.“31 Die gegenwärtigen katholischen Vertreter einer christlichen Ethik auf deutschem Boden können ja eigentlich nicht die Aussage von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest vom Februar 1848 gemeint und zur Grundlage ihrer Einschätzung gemacht haben: „Der christliche Sozialismus ist nur das Weihwasser, womit der Pfaffe den Ärger des Aristokraten einsegnet.“32 Der atheistische Marxsche Sozialismus war nämlich die weltgeschichtliche Antithese in einem dialektischen, historischen Prozeß, an dessen Endpunkt die von aller Religion und von allen christlichen Kapitalisten gereinigte klassenlose Gesellschaft stehen sollte. Die christliche Botschaft dagegen wendet sich vor allem an die Armen und mühselig 28 Reinhard Marx: Das Kapital, München 2008, S. 40. Marx stünde auf dem Boden der aufklärerischen Freiheitsphilosophie, die die tatsächlichen Lebensbedingungen der Menschen verbessern wollte. „Marx wollte statt einer bloß formellen Freiheit die reale Freiheit aller Menschen verwirklicht sehen.“ (S. 42). 29 Antisemitismus der Welt in Wort und Bild, hrsg. von Theodor Pugel, Dresden 1936, S. 11 (Hervorhebung im Original). 30 Fritz Gerlich: Der Kommunismus als Lehre vom Tausendjährigen Reich, München 1920, S. 9. Gerlich war schon 1920 davon überzeugt, daß der marxistische Sozialismus in der Sowjetunion dem Volk „das größte Elend bringen“ (S. 224) mußte. 31 Friedrich Albert Lange: Die Arbeiterfrage (1865). Nachdruck Duisburg 1975, S. 79. 32 Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (1848), in Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (abgekürzt: MEW). Bd. 4, Berlin 1971, S. 484. Ein Reprint der Ausgabe vom Mai 1848 wurde vom Museum Karl-Marx-Haus, Trier 2016, veröffentlicht.

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Beladenen, wie Papst Franziskus I. allen Gläubigen und Bischöfen so eindringlich ins Gedächtnis zurückgerufen hat, und müßte unabhängig vom politischen System praktiziert werden. Die aufklärerische Freiheitsphilosophie des 18. Jahrhunderts, die auch die fast uneingeschränkte Machtbasis der religiösen Fürsten angriff, hatte sich ebenfalls gegen die unmenschlichen Auswüchse der Französischen Revolution von 1789 gestellt. Sie artete in einer mörderischen Schreckensherrschaft Maximilien de Robespierres aus, die sich gleichermaßen gegen die Kirche richtete und viele Gotteshäuser zerstörte und ausplünderte. Die revolutionären Parolen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit versanken in Blutströmen der Guillotine und der französische Kaiser Napoleon I. machte Juden dafür verantwortlich, daß seine militärischen Schlachten nicht den machtsteigernden Erfolg brachten, den er sich erhofft hatte. Man müßte sich kirchlicherseits also fragen, wieso man dem durch Marx vertretenen revolutionären Marxismus etwas Positives abzugewinnen vermag, der den kirchenfeindlichen Atheismus auf seine ideologischen Fahnen gedruckt hatte. Schon in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 lehnte Marx die Schöpfungsvorstellung eines außerirdischen Wesens, z. B. den christlichen Gott, mit einer kruden Radikalität ab. Katholische Theologen müßten eigentlich ihre biblischen Überzeugungen aufgeben, wenn sie Marx eine Freiheitsphilosophie zugestehen wollen: „Ein Wesen gilt sich erst als selbständiges, sobald es auf eignen Füßen steht, und es steht erst auf eignen Füßen, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt. Ein Mensch, der von der Gnade eines andern lebt, betrachtet sich als ein abhängiges Wesen. Ich lebe aber vollständig von der Gnade eines andern, wenn ich ihm nicht nur die Unterhaltung meines Lebens verdanke, sondern wenn er noch außerdem mein Leben geschaffen hat, wenn er der Quell meines Lebens ist, und mein Leben hat notwendig einen solchen Grund außer sich, wenn es nicht meine eigne Schöpfung ist. Die Schöpfung ist daher eine sehr schwer aus dem Volksbewußtsein zu verdrängende Vorstellung. Das Durchsichselbstsein der Natur und des Menschen ist ihm unbegreiflich, weil es allen Handgreiflichkeiten des praktischen Lebens widerspricht.“33 Sind diese Äußerungen nicht ein handgreiflicher Beleg dafür, daß Marx jeden göttlichen Schöpfungsmythos ablehnt, sich vollständig auf menschliche Existenzbedingungen beruft und auch die Religion als eine menschliche Entfremdung betrachtet? Oder in der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, wo Marx die Aufhebung der Religion als das wirkliche Glück der Menschen gegenüber einem illusionären Zustand der Selbstentfremdung bezeichnete: „Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist… Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“34 Es ist mir deshalb unverständlich 33 Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW. Ergänzungsband 1, Berlin 1977, S. 544 f. (Hervorhebungen im Original). 34 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 379 (Hervorhebungen im Original).

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und offenbar lediglich durch die geringe Kenntnis des Marxschen Werkes zu erklären, daß Theologen in Marx den Verwirklicher einer ‚realen Freiheit aller Menschen‘ erkennen wollen. Oder muß man etwa annehmen, daß Bischöfe und Päpste soweit von der konkreten Arbeits- und Lebenswelt der produktiven Unterschichten entfernt sind, um die sachliche Unhaltbarkeit der marxistischen Unterstellungen einer kapitalistischen Ausbeutergesellschaft erkennen zu können und schöne Worte für bare Münze nehmen? Der zurückgetretene Papst Benedikt XVI., der sich so intensiv mit ethischen Fragen auseinandergesetzt hat und ein exzellenter Kenner der römisch-katholischen Geschichte ist, kritisierte zwar an Marx, daß er wegen seines materiellen Denkens die eigentliche Tiefe der Entfremdung nicht ermessen habe, doch habe er „ein anschauliches Bild für den Menschen geliefert, der unter die Räuber gefallen ist“.35 Soll Marx hier als ein Samariter vorgestellt werden, der mühseligen und beladenen Arbeitern Hilfe zukommen läßt? Neuerdings forderte sogar die Vatikanzeitung Osservatore Romano – vielleicht weil in einigen westeuropäischen Staaten, wie in Italien oder Frankreich, immer noch marxistische bzw. kommunistische Parteien existieren – eine Rückbesinnung auf die Lehren von Karl Marx, weil die sozialistischen Diktaturen seine Lehren „bis zur Unkenntlichkeit entstellt“36 hätten. (Den Vorwurf des Mißbrauchs und der Entstellung finden wir häufig zur moralischen Reinwaschung von bekannten Persönlichkeiten, etwa bei der Übernahme von Richard Wagners Antisemitismus durch die Nationalsozialisten).37 Der Revolutionsfanatismus von Marx bzw. die Aufrechterhaltung der Revolutionsidee in kommunistischen Staaten scheinen bei diesen Vertretern eines angeblich bei Marx vorhandenen Freiheitswillens keine Bedeutung beigemessen zu werden. Dies wirft die drängende Frage auf, ob sie Revolution und Freiheit etwa für vereinbar halten. Sie übergehen stillschweigend die ständigen Lobpreisungen der revolutionären Rolle von Marx und Engels in den kommunistischen Staaten und machen sich deshalb einer Verfälschung der Marxschen Lehren schuldig, eine Auffassung, die in der marxistischen Literatur nicht geteilt wird. Dort heißt es etwa über Marx und Engels: „Sie wurden zum Vorbild aller marxistischen Parteien und leiteten den Siegeszug der kommunistischen Weltbewegung ein.“38 Es gilt also zu prüfen, ob es bei Marx eine Forderung gibt, „das menschliche Leben in einem umfassenden Sinne zu schützen und deshalb den ganzen Katalog der Menschenrechte angemessen zu beachten“.39 35 Joseph Ratzinger. Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. 1. Teil, Freiburg im Breisgau 2007, S. 240. 36 So der deutsche Jesuit Georg Sans von der Päpstlichen Gregoriana-Universität in Rom. Zitiert in: Vatikanzeitung lobt Karl Marx, in: Donaukurier vom 22. Oktober 2009. 37 Vgl. Hubert Kiesewetter: Von Richard Wagner zu Adolf Hitler, Berlin 2015, S. 183 ff. 38 Karl Marx und Friedrich Engels (1978). 3. Aufl. Berlin 1983, S. 9 (Vorwort von KarlHeinz Mahlert). 39 Georg Lohmann: Marxens Kapitalismuskritik an menschenunwürdigen Verhältnissen, in Rahel Jaeggi/Daniel Loick (Hg.): Karl Marx – Perspektiven der Gesellschaftskritik,

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Natürlich stand Marx in einer jahrhundertelangen Tradition der intensiven Beschäftigung mit Arbeiterfragen in verschiedensten Berufen. Der Feudalismus hatte z. B. massenhaft landarbeitende Bauern in Form von Untertanenverhältnissen entrechtet und ihnen eine menschenwürdige Existenz vorenthalten; auch der Bauernkrieg von 1525 wurde wegen Rechtsverweigerungen ausgekämpft und von adeligen Kräften blutig niedergeschlagen.40 Wenn wir allerdings das Marxsche Werk daraufhin untersuchen, ob für ihn Freiheit oder Revolution vorzuziehen sei, dann neigt sich eine gerechte Waage eindeutig auf die Seite der Revolution, denn nur durch diese war das verhaßte kapitalistische System zu beseitigen und eine klassenlose Gesellschaft zu begründen und auszuführen. „Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte,41 schrieb Marx 1850, d. h. die Fahrgäste in den Zügen werden ihrem Geschick überlassen, wenn sie von bewaffneten kapitalistischen Heeren angegriffen und getötet werden. Und lassen wir die haßerfüllten Angriffe von Marx auf Freunde wie Feinde Revue passieren, dann scheint es keinen Zweifel darüber zu geben, daß Marx für eine den Kapitalismus vernichtende Revolution alle menschlichen Erwägungen ebenso wie befreundete Weggefährten aufgeopfert hat. Deshalb reicht auch nicht die verständnisvolle Entschuldigung aus, um ihn moralisch zu rehabilitieren: „Marx vertrat in allen diesen Kämpfen die Sache des wissenschaftlichen Kommunismus, das Prinzip der proletarischen Diktatur.“42 Begriffliche Inhalte von ‚Kommunismus‘ gehen auf den französischen Jakobiner François Noël Babeuf (1760 – 1797), der sich Gracchus Babeuf nannte, zurück. Er forderte in seiner Zeitschrift Le tribune du peuple Gütergemeinschaft, proletarische Diktatur, Verstaatlichung, Unterstützung der Alten und Armen, ehe er guillotiniert wurde. Sowohl ‚wissenschaftlicher Kommunismus‘ als auch ‚proletarische Diktatur‘ müssen sich bei einer analytischen Betrachtung der Frage stellen, ob ihre politische Durchführung zu einem menschenwürdigen Gesellschaftssystem führt und nicht in einem Stalinschen Blutbad endet. Der ehemalige stellvertretende Ministerpräsident Jugoslawiens, Milovan Djilas (1911 – 1995), der wegen seiner Kritik an den kommunistischen Diktaturen neun Jahre in jugoslawischen Gefängnissen Berlin 2013, S. 68 f. Schon Sidney Hook: From Hegel to Marx (1950), Ann Arbor 1962, S. 2, vertrat die Ansicht: „Marx was a democratic socialist, a secular humanist, and a fighter for human freeedom.“ 40 Vgl. zum vormarxistischen Kommunismus Günter Bartsch: Kommunismus, Sozialismus und Karl Marx. 3. Aufl. Bonn 1969, S. 10 ff. 41 Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: MEW. Bd. 7, Berlin 1969, S. 85 (Hervorhebung im Original). 42 David Rjazanov: Einleitung zu Karl Marx/Friedrich Engels: Historisch-kritische Gesamtausgabe. III. Abteilung, Bd. 1: Briefwechsel, Berlin 1929, S. XXVI. Selbst wenn die rechtfertigende Aussage richtig wäre: „Alles, was Marx so eifrig verschwieg, was er auch seinen nächsten Ideengenossen verheimlichte: lange Jahre bitterer Not, politischer Isoliertheit, hingebungsvoller Arbeit, das qualvolle Märtyrertum der unerbittlichen kleinen Schicksalsschläge“ (S. XL); dies käme in dem Briefwechsel ans Tageslicht. Trotzdem kann man daraus nicht die moralische Berechtigung ableiten, die engsten Freunde zu denunzieren und sie der erniedrigenden Lächerlichkeit preiszugeben.

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verbringen mußte, schrieb 1957 über dieses System: „Der moderne Kommunismus ist diejenige Form des Totalitarismus, die aus drei Hauptfaktoren zur Kontrolle über das Volk besteht: der erste ist die Macht; der zweite der Besitz; der dritte die Ideologie.“43 Was die wissenschaftlichen Inhalte vom ‚wissenschaftlichen Kommunismus‘ eigentlich sein sollen, das wird von vielen Marxisten verhüllt unter einem Schwall von Worten sowie in düsteren Prophezeiungen und verdammenden Anklagen gegen den Kapitalismus, d. h. dem modernen Industriesystem. „Von einer kleinen Minderheit [im Kapitalismus, H.K.] werden die Massen des Volkes gesellschaftlich niedergehalten,“44 während der Kommunismus die Menschen vom kapitalistischen Joch und Elend befreien soll. Doch der reale Kommunismus „als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat“45 – wie Rosa Luxemburg 1918 schrieb –, war ein System der systematischen Unterdrückung durch eine monopolistische Partei. Dabei waren ‚wissenschaftliche‘ Analysen das rechtfertigende Feigenblatt für eine terroristische Herrschaftspraxis. Wissenschaft im allgemeinen Sinn ist jedoch grundsätzlich die erklärende Suche nach Wahrheit und Klarheit oder, wie Max Weber meinte, das ‚Bohren von dicken Brettern‘ zur begründeten Problemlösung. Werturteile können in der wissenschaftlichen Analyse niemals ausgeschlossen werden, doch zu glauben, daß ein einseitiger und unbelehrbarer Standpunkt zur Erklärung von ökonomischen oder politischen Sachverhalten etwas beitragen könnte, ist ein Selbstbetrug der Glorifizierung von Leidenschaft, von „zornerfüllten Epitheta für die Unterdrücker und Eroberer“,46 seien es nun Feudalherren, Unternehmer, Despoten oder Päpste. „Die zur Schau getragene Leidenschaftslosigkeit, mit der sich die bürgerlichen Historiker bei der Rechtfertigung der Politik der herrschenden Klassen so häufig tarnen, war Marx immer fremd.“ Marx hat schon zu einem frühen Zeitpunkt bestimmte Fragetabus aufgestellt, etwa bei der Frage nach der Schöpfung der Natur und des Menschen, die wissenschaftlich überhaupt nicht gerechtfertigt werden könne, weil sie ein Verbot des kritischen Denkens postuliere: „Denke nicht, frage mich nicht, denn sobald du denkst und fragst, hat deine Abstraktion von dem Sein der Natur und des Menschen keinen Sinn. Oder bist du ein solcher Egoist, daß du alles als Nichts setzt und selbst sein willst?“47 Die vordringlichste Aufgabe einer kritischen (Sozial-)Wissenschaft besteht jedoch in der möglichst realitätsnahen Analyse gesellschaftlicher Vorgänge Milovan Djilas: Die neue Klasse, München 1964, S. 182. Jürgen Kuczynski: Die Bewegung der deutschen Wirtschaft von 1800 bis 1946, Berlin/Leipzig o. J. (1947), S. 9. 45 Zitiert in: Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, hrsg. von Frits Kool und Erwin Oberländer. Bd. 1, München 1972, S. 11. 46 P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (wie Anm. 23), S. 719. Dort auch das nächste Zitat. Mit einer solchen Einstellung wird jeder wissenschaftliche Anspruch aufgegeben. 47 K. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (wie Anm. 33), S. 545 (Hervorhebung im Original). 43

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durch erklärende Theorien und nicht in einem Modell-Platonismus.48 Schon gar nicht reicht die oberflächliche Berufung auf Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) aus, der seine fünf Kinder in ein Findelhaus bringen ließ, um Marx zu rehabilitieren und ihn auf eine Stufe mit den großen Denkern des 18. Jahrhunderts zu stellen. Denn Rousseau war trotz seines Erziehungsromans Émile (1762) in den Augen aller seiner Verehrer niemals ein revolutionärer Kämpfer gegen die ‚Ausbeutung‘ bzw. ein Menschen- oder Arbeiterfreund, während gerade diese revolutionäre Rigorosität Marx zugute gehalten wurde und wird. „Marx stellte seine Arbeit in den Dienst des Menschen und beabsichtigte diesen zu dessen Wohl zu führen.“49 Dieser offenbar unausrottbaren Legende von dem menschen- bzw. arbeiterfreundlichen Karl Marx und seiner Lehren bzw. seiner Theorien sollen hier ein paar kritische Argumente entgegengestellt werden, die zu zeigen versuchen, daß seine unbändige Wut gegen das kapitalistische System nur durch eine revolutionäre Überwindung dieses Systems eingedämmt worden wäre. Der Marxschen Ideologie ein wissenschaftliches Anliegen zu unterstellen, schüttet die theoretischen und empirischen Gräben zwischen Ideologie und Wissenschaft zu, um das Handeln und Denken der Menschen in einseitiger Weise zu beeinflussen und ihnen einen aufklärerischen Impuls zu verleihen. Im Todesjahr von Stalin, 1953, veröffentlichte der ehemalige sozialdemokratische Stadtrat (1926 – 1931) im sächsischen Zwickau, Walther Victor (1895 – 1971), der 1935 von den Nationalsozialisten verhaftet worden war und über die Schweiz, Luxemburg, Frankreich und Portugal 1940 in die USA emigrierte, eine Biographie über Karl Marx. Victor war seit 1947 Mitglied der SED in (Ost-)Berlin und 1960 sowie 1969 Empfänger des Vaterländischen Verdienstordens in Silber und Gold sowie 1961 Nationalpreisträger der DDR. Seinem Marx-Kinderbuch stellte der Minister für Volksbildung und Jugend in der DDR, Paul Wandel, ein Geleitwort voran und am Ende des Buches heißt es: „Der große Freund des Friedens und der Menschheitsbefreiung, der geliebte Führer der Werktätigen aller Länder der Welt, Josef Wissarionowitsch Stalin, hat nicht nur die Lehren Karl Marx’ bis in unsere Tage weitergetragen, er hat, als der Karl Marx unserer Tage, mit seinem weisen Rat schon vielen Völkern auf dem Weg ihrer Befreiung geholfen … Heute steht Stalin für uns alle, mit uns allen auf der Friedenswacht!“50 Die revolutionäre Ideologie des Marxismus-Leninismus sollte bereits den Kindern und Jugendlichen in der DDR eingebläut werden; und der Verkaufserfolg dieses Buches war Honig auf die Mühlen von DDR-Kommunisten. Der Kommunismus Marxscher, Leninscher oder 48 Vgl. dazu Hans Albert: Modell-Platonismus (1963), in ders.: Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Neuwied/Berlin 1967, S. 331 ff. 49 Frank Findeiß: Psychologische Elemente in der Anthropologie von Karl Marx, München 2014, S. 13. 50 Walther Victor: Karl Marx (1953). 2. Aufl. Berlin 1953, S. 82 f. Auf S. 83 ist ein Bild abgedruckt, auf dem von links nach rechts die Köpfe von Marx, Engels, Lenin und Stalin abgebildet sind. In der fünften Auflage dieses Buches mit dem Titel Der Mann, der die Welt veränderte, Berlin o. J. (1960), ist die Eloge auf Stalin wie auch das Bild natürlich nicht mehr enthalten.

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Stalinscher Provenienz war trotz erheblicher inhaltlicher Unterschiede als ideologisches Machtinstrument zur Durchsetzung politischer und ökonomischer Ansprüche gedacht und keineswegs ein wissenschaftliches Gebäude zur Erklärung einer Gesellschaft. „Die kommunistischen Parteien und Regierungen stehen ständig vor der Aufgabe, den Marxismus-Leninismus als Waffe zu handhaben. Er wird eingesetzt, um die Anhänger zu integrieren und zu fanatisieren, die Gegner zu verwirren und einzuschüchtern.“51 Zumindest war die ‚Ideologie‘ des Kapitalismus, wenn man ihn als ökonomisches System betrachtet, im 19. und 20. Jahrhundert nicht darauf ausgerichtet, mit Waffengewalt den ökonomischen Gegner aus dem Feld zu schlagen. Der unternehmerische Erfolg einer kapitalistischen Wirtschaft bestand überwiegend darin, mit neuen Produkten den Weltmarkt zu erobern und die Konkurrenten aus angestammten Absatzmärkten zu verdrängen. Dies gelang der deutschen kapitalistischen Wirtschaft durch technisch-wissenschaftliche Erfolge in der Chemie-, Elektro- und Maschinenbauindustrie in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts gegenüber dem ein Jahrhundert weltweit dominanten Industriestaat England wie der japanischen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber Europa. Zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Marx’ Kapital konstatierte der Verlagsbuchhändler und Herausgeber mehrerer Zeitschriften, wie der Deutschen Turnzeitung, den Parlamentsalmanach, die Annalen des Norddeutschen Bundes und die Annalen des Deutschen Reichs, Georg Hirth, mit großer Bewunderung: „Unsere heutige chemische Industrie ist somit bezüglich der angewandten Methoden als der Art und Masse ihrer Produkte eine fast ganz neue; die Fabrikation künstlicher Farbstoffe (namentlich der Anilinfarben), ferner die Glasfabrikation, die Fabrikation verschiedener Leuchtäther, ätherischer Oele, des Glycerins, des Asphalts, künstlicher Düngestoffe, ferner des Rübenzuckers, der Konserven und Cigarren, sie alle sind Kinder der neuen Zeit.“52 Die Verschränkungen zwischen Politik und Wirtschaft waren im 19. Jahrhundert in Deutschland, als Marx seine Theorien entwickelte, so wenig ausgeprägt, daß man fälschlicherweise sogar von einem „Nachtwächterstaat“ sprach und die technisch-industriellen Errungenschaften überbewertete. Oder aus marxistischer Sicht befürchteten im wirtschaftlich so erfolgreichen Deutschen Kaiserreich Ökonomen den vollständigen Verlust des vormaligen Wohlstands durch weitere Industrialisierung auf Kosten der deutschen Landwirtschaft: „Gott bewahre uns vor den Segnungen einer allzustark geschwollenen Großindustrie! … Die englische Industrie nach Deutschland verpflanzt, würde unser armes Deutschland [das ist nicht materialistisch, sondern metaphorisch gemeint, H.K.] unter der Last ihres Massenelends erdrücken müssen“.53 (Die gottesfürchtigen Max G. Lange: Marxismus – Leninismus – Stalinismus, Stuttgart 1955, S. 11. Georg Hirth: Die Lebensbedingungen der deutschen Industrie sonst und jetzt, in: Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik, Jg. 1877, S. 780. 53 Philipp Geyer: Untersuchungen über Quellen und Umfang des allgemeinen Wohlstandes in Deutschland, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft im Deutschen Reich, N. F., IV. Jg., 1. Heft, 1880, S. 53. 51

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USA-Regierungen haben spätestens seit dem Terroranschlag vom 11. September 2001 die ideologische Trennung von Demokratie und Kapitalismus zugunsten eines von hysterischer Angst geprägten „Kreuzzuges gegen den Terror“ ausgehebelt). Marx konnte dies weder vorhersehen noch in sein System einbeziehen. Der Sowjetkommunismus war ein unmenschliches Unterdrückungssystem einer allmächtigen Partei, die nicht einmal freie Wahlen ermöglichte und eine alle Arbeitsbereiche regulierende Staatsorganisation errichtete. „Es ist nicht das Eigentum an Produktionsmitteln, das alles entscheidet, es ist die Kontrolle der Armee, der Polizei, der Gerichtshöfe und der Nachrichtenmittel.“54 Manche Marxkenner haben den Einwand erhoben, daß zwischen den revolutionären Lehren bzw. Theorien von Marx und seinen menschenverachtenden Einstellungen scharf unterschieden werden müsse und deshalb meine kritischen Urteile über einen arbeiterfeindlichen Marx ungerechtfertigt seien. Ebenso wie bei Richard Wagner seine bombastischen Opern und sein extremer Antisemitismus nicht miteinander vermengt werden dürften,55 müsse man bei Marx kapitalistische Analysen (seine ökonomischen Theorien) und menschliches Verhalten (seine Verdammungsurteile über Zeitgenossen) auseinanderhalten. Der nationalsozialistische Rassismus hat die absurde Auffassung vertreten, „mittelst des unseligsten der Werkzeuge, des Marxismus, der ja ganz jüdische Macht ist, ist unser ganzes Volk auseinandergerissen worden“.56 Eine solche These muß ebenso energisch zurückgewiesen werden wie die Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung. Zu der Trennung von ökonomischer Theorie und menschlicher Einstellung möchte ich nur zwei kurze Bemerkungen machen: 1. scheint es mir auf einer falschen erkenntnistheoretischen Voraussetzung zu beruhen, wenn die Annahme gemacht wird, man könne sich der Wahrheit über einen theoretischen Sachverhalt dadurch nähern, daß dieser Sachverhalt unter dogmatischen Prämissen analysiert wird. Gewalttätige Revolution – Marx dachte niemals an eine friedliche Revolution, wie sie in der zweiten Hälfte des Jahres 1989 in der DDR durchgeführt wurde – kann niemals nur ein einziges gesellschaftliches Problem lösen. Theorie und Moral als zwei voneinander losgelöste Charakterzüge des menschlichen Geistes zu betrachten, verzichtet auf wesentliche Einsichten in die menschliche Psyche. 2. ist der abgrundtiefe Haß gegenüber Freund und Feind kein guter Ratgeber beim Abwägen von Argumenten und Gegenargumenten, weil dann die inhärenten Stärken der Anschauungen des Gegners gar nicht mehr wahrgenommen und berücksichtigt werden. Sobald man die ‚soziale Revolution‘ – die nicht ‚sozial‘ genannt wurde, weil sie eine soziale Komponente besaß, sondern weil sie eine gesellschaftliche Umwälzung anstrebte – auf seine Fahnen schreibt, muß man menschliche Opfer einkalkulieren. Denn eine solche beabsichtigte Umwälzung wird von der gegnerischen 54 Walt W. Rostow: Stadien wirtschaftlichen Wachstums (1960). 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 191. 55 Vgl. H. Kiesewetter: Von Richard Wagner zu Adolf Hitler (wie Anm. 37), S. 44 ff. 56 Ludwig Schemann: Hauptepochen und Hauptvölker der Geschichte in ihrer Stellung zur Rasse, München 1930, S. 396.

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Seite wohl nur in sehr seltenen Fällen kampflos akzeptiert. Um in einer Revolution siegreich zu sein, muß man eine unmenschliche Strategie entwickeln, wie möglichst viele Gegner ausgeschaltet werden können. Für Marx war eine soziale Revolution, d. h. die endgültige Vernichtung des kapitalistischen Produktionsapparates, so sicher wie ein Naturgesetz, so unvermeidlich, wie ein Krieg Tausende von Menschenleben fordert: „Bürgerliche Industrie und bürgerlicher Handel schaffen diese materiellen Bedingungen einer neuen Welt in der gleichen Weise, wie geologische Revolutionen die Oberfläche der Erde geschaffen haben.“57 Friedrich Engels sagte in seiner Grabrede auf dem Friedhof in Highgate am 17. März 1883 die denkwürdigen Sätze über diesen ‚Mann der Wissenschaft‘, den er grundsätzlich als eine revolutionäre Kraft ansah: „Denn Marx war vor allem Revolutionär. Mitzuwirken, in dieser oder jener Weise, am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und der durch sie geschaffenen Staatseinrichtungen, mitzuwirken an der Befreiung des modernen Proletariats, dem er zuerst das Bewußtsein der Bedingungen seiner Emanzipation gegeben hatte – das war sein wirklicher Lebensberuf.“58 Als Revolutionär bezeichnete sich Maximilien de Robespierre, als Revolutionärin sah sich auch Rosa Luxemburg oder Wladimir Iljitsch Lenin und Adolf Hitler reklamierte eine nationalsozialistische Revolution; die unmenschlichen Folgen dieser Revolutionsbegeisterung brauchen wir hier nicht auszumalen. Revolution und Freiheit schließen sich schon deswegen gegeneinander aus, weil eine freiheitliche Gesellschaft nicht über die Köpfe einer bestimmten Gruppe, z. B. den Kapitalisten, über revolutionäre Maßnahmen beschließen kann, die die vollständige Vernichtung dieser Gruppe zum Ziel hat. Die oft geäußerte Aktualität der Marxschen Kapitalismuskritik gegenüber unseren krisengeschüttelten Ökonomien ist wirkungslos und überflüssig, wenn man zeigen kann, daß es Marx gar nicht um eine materielle Verbesserung industrieller Arbeiter durch ökonomischen Strukturwandel gegangen ist. Außerdem steht das Argument einer dringenden erneuten Lektüre des angeblich Totgesagten „wegen des totalen Sieges des Kapitalismus“59 nach 1989 schon deswegen auf wackeligen Füßen, weil der amerikanische, chinesische, deutsche, französische, japanische oder russische Kapitalismus völlig unterschiedliche Formen aufweisen und nicht über einen kapitalistischen Kamm geschert werden können. Eine solche nichtssagende Platitüde ‚Kapitalismus‘ kann vielleicht als selbstbefreiende Anklage junger Menschen gegenüber dem Politikversagen willkommen sein, über die vielfältigen Verwerfungen des historischen Kapitalismus kann sie nichts Erklärendes beitragen. Schon vor über 100 Jahren schrieb der deutsche Ökonom Ludwig Pohle (1869 – 1926) über die mißbräuchliche Verwendung des Begriffs Kapitalismus: „Die Bezeichnungen ‚Kapitalismus‘ und 57 Karl Marx: Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien, in: MEW. Bd. 9, Berlin 1970, S. 226. 58 MEW. Bd. 19, Berlin 1974, S. 336 (Hervorhebung im Original). 59 Wolfgang Wippermann: Der Wiedergänger, Wien 2008, S. 133. Es erscheint mir wie ein verzweifelter Versuch, die toten Geister wiedererwecken zu wollen, wenn Wippermann schreibt: „Der Marxismus mag tot sein, doch Marx lebt.“ (S. 179).

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‚kapitalistisch‘ sind von ihren Urhebern aber auch wohl weniger eingeführt worden, um unsere Einsicht in das moderne Wirtschaftsleben zu fördern, als vielmehr, um im Hörer oder Leser eine ganze Skala von rein gefühlsmäßig bestimmten Werturteilen über die geltende Wirtschaftsordnung hervorzurufen.“60 Der Kapitalismus bzw. kapitalistische Systeme haben in den vergangenen 250 Jahren so unterschiedliche Formen angenommen, daß ein empirischer Vergleich eher zu der Feststellung käme, daß er eine Niederlage nach der anderen erlitten hat. Ich habe die menschenfeindlichen Angriffe von Marx in den folgenden Ausführungen so scharf kritisiert, weil ich der Ansicht bin: „Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil.“ Dabei bin ich mir durchaus bewußt, daß heute in den Geisteswissenschaften (von der Politik ganz zu schweigen) verbale Lobeshymnen viel stärkere Resonanz erfahren als unangenehme Wahrheiten, aber echte Wissenschaft besteht in der Aufdeckung von Fehlern, selbst moralischen. Mit dieser scharfen Kritik an den Marxschen Revolutionstheorien und an den Verdammungsurteilen seiner Widersacher bin ich jedoch meilenweit entfernt von der menschlichen Niederträchtigkeit der beiden Heroen des ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘: Marx und Engels. Vielleicht könnte man das kritische Urteil über die lange verehrten Schöpfer des ‚wissenschaftlichen Marxismus‘ auch in die ironische Formel kleiden: „Der ganze Sinn des Marxismus besteht darin, dass es ein Leben nach dem Marxismus gibt.“61 Denn es ist heute wohl etwas übertrieben zu behaupten: „Marx ist vorwiegend der Nationalökonom des Marxismus, Engels sein Philosoph.“62 Doch dieses unmarxistische Nachleben müßte ein menschliches Antlitz, d. h. die Schopenhauersche Bereitschaft zum Mitleiden, tragen. Und es müßte ganz ohne revolutionären Impuls auskommen, denn Revolution bedeutete bis 1989 mitleidlose Zerstörung von Menschenleben. Ich werde meine Überlegungen an der chronologischen Achse des Lebens von Karl Marx entwickeln und nur gelegentlich inhaltliche Fragen dazwischenschieben, um zeigen zu können, daß sein Revolutionsfanatismus sich umso mehr steigerte, je aussichtsloser die Realisierungschancen in einem sich reformierenden (deutschen) Industriekapitalismus waren. Es kann keinen begründeten Zweifel darüber geben, daß die Marxsche Ideologie und der popularisierte Marxismus seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen unglaublichen Einfluß auf große Teile der arbeitenden Bevölkerung ausgeübt haben. Nicht nur in nichtkommunistischen Gesellschaften, besonders in Deutschland – diesem nach der Ansicht Leo Koflers „ewig in der Halbheit stekkengebliebene Land Europas“63 –, hat der Marxismus viele Jahre die im Kaiserreich marxistisch ausgerichtete Sozialdemokratische Partei (SPD) zutiefst geprägt. 60 Der Begriff des Kapitalismus in kathedersozialistischer Auffassung, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft, N. F., II. Jg., 1911, S. 51. 61 Terry Eagleton: Warum Marx recht hat, Berlin 2012, S. 14. 62 Thomáš G. Masaryk: Die wissenschaftliche und philosophische Krise (1898). Nachdruck London 1977, S. 5. 63 Leo Kofler: Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (1948). 3. Aufl. Neuwied/ Berlin 1966, S. 537.

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Die schlechtbezahlten und im Alter fast überhaupt nicht abgesicherten Arbeiter im 19. Jahrhundert empfanden die Versprechen des Marxismus wie ein diesseitiges Himmelreich. Dadurch würde ihnen endlich ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht, während die gläubigen Christen mit einem göttlichen Himmelreich vertröstet wurden. Es sollen hier jedoch nicht die einzelnen Gründe für diese ungewöhnliche Resonanz erörtert werden, denn dies ist nicht das eigentliche Thema vorliegender Abhandlung und darüber gibt es reichlich Literatur. Doch um zu verstehen, warum eine revolutionäre Lehre, die ein unmenschliches Antlitz trägt, eine solche mobilisierende Wirkung bei Arbeitern und Intellektuellen hervorrufen konnte, müssen wir uns bewußt machen, daß die kapitalistische Industrialisierung jahrhundertealte soziale und kulturelle Traditionen nicht nur in Frage stellte, sondern sie teilweise auslöschte bzw. zerstörte. Dies war ein schwerwiegender Prozeß psychischer und mentaler Umorientierungen, die großen Teilen der Bevölkerung einfach aufgezwungen wurde, ohne ihnen die Möglichkeit einzuräumen, sich darauf einzustellen. Die beinahe einzige Fluchtmöglichkeit war die Auswanderung mit allen ihren existentiellen Unwägbarkeiten. Dies rechtfertigt jedoch keineswegs die Auffassung, wie wir später noch genauer sehen werden, daß „die Industrialisierung insgesamt rückblickend als problematisch“64 zu beurteilen wäre. Lange bevor in England die Industrialisierung begann, kam es zu einer Bevölkerungsexplosion nie gekannten Ausmaßes und damit zu sozialen und ökonomischen Problemen, weswegen ohne Industriearbeit Millionen Beschäftigungssuchende verhungert wären. Die englische Industrieproduktion startete etwa um 1760, doch von 1700 bis 1800 stieg die englische Bevölkerung von ungefähr fünf auf rund zehn und bis 1900 sogar auf 38 Millionen Menschen an. Die industrielle deutsche Bevölkerung im 19. Jahrhundert wurde nicht nur durch die rasante Zunahme der Geburten und die für unvorstellbar gehaltenen Wanderungen von Hunderttausenden von Menschen vom Land in die Städte mental entwurzelt. Die agrarischen und handwerklichen Lebensgewohnheiten und religiösen Bindungen gerieten ins Wanken und mußten durch neue ‚Ideale‘ bzw. ‚Werte‘ ersetzt werden. Wenn man einmal die Entscheidung getroffen hatte, der ländlichen ‚Idylle‘ zugunsten eines Industriejobs in der Stadt zu entfliehen, war eine Rückkehr in Zeiten von Arbeitslosigkeit kaum mehr zu realisieren, denn die sozialen Barrieren eines dörflichen Spott- und Häme-Verhaltens waren viel zu hoch. In Preußen veränderte sich das prozentuale Verhältnis der ländlichen zur städtischen Bevölkerung zwischen 1816 und 1875 nur wenig, nämlich von 73,1 : 26,9 % (1816) bzw. von 65,2 : 34,8 % (1875). 64 So Bruno Kern, in Karl Marx: Texte – Schriften, Wiesbaden 2015, S. 168 (Hervorhebung von mir). Obwohl der ‚Kapitalismus‘ in den vergangenen 250 Jahren in westlichen Industriestaaten ununterbrochen gezeigt hat, daß er sich den technologischen und wissenschaftlichen Veränderungen und Krisen innerhalb des eigenen Wirtschaftssystems und der nationalen Wirtschaftsorganisation anzupassen in der Lage war, will Kern ihm ein zukünftiges Untergangsszenario andichten: „Konnte der Kapitalismus bisher sein Überleben dadurch garantieren, dass er seine Krisentendenzen immer wieder zu externalisieren, abzuschieben und hinauszuschieben verstand (etwa auf die Länder der Dritten Welt), so steht er nun vor einer Grenze, die ihm keinen Ausweg mehr zulässt.“ (S. 397).

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Dagegen lebten im Deutschen Reich 1871 in Gemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern 63,9 %, aber 1910 nur noch 40 %, während der Prozentanteil der Stadtbevölkerung von Städten über 100.000 Einwohner im gleichen Zeitraum von 4,8 auf 21,3 % anstieg.65 Die Marxsche Weltanschauung, daß die neue Proletarierklasse diese gravierenden Veränderungen zukünftig in einer klassenlosen Gesellschaft überwinden oder vielleicht sogar rückgängig machen könnte, hatte eine so große moralische Durchschlagskraft, daß Millionen diese Ideologie als wünschenswerte Realität uminterpretierten. In schweren Krisenzeiten klammern sich viele Menschen an einen Strohhalm der Hoffnung, auch wenn ihnen bewußt ist, daß seine Tragfähigkeit gering ist. Im Revolutionsjahr 1919 schrieb der Nationalökonom Ludwig Pohle: „Ohne Zweifel lebt in der sozialistischen Bewegung ein hohes Maß von Idealismus. Namentlich der Gedanke, daß nur die Arbeit ein Recht auf Einkommen geben, alles arbeitsloses Einkommen aber verschwinden soll, vermag einen großen Zauber auf ideal gerichtete Seelen auszuüben.“66 Diesen betörenden Zauber unrealisierbarer Ideale haben die Nationalsozialisten ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre genutzt, um den Juden zu unterstellen, daß sie für die Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich seien. Außerdem wurden z. B. jüdische Bankiers dafür angeklagt, daß sie durch ‚arbeitsloses Einkommen‘ die hart arbeitenden Deutschen um ihren gerechten Lohn betrögen. Diese haltlosen Anschuldigungen haben im Dritten Reich die sozialistische Widerstandskraft gegen die Verbrechen gegenüber der jüdischen Bevölkerung geschwächt. Man kann über Marx’ theoretische Leistung die beschönigende These vertreten: „Seine spezielle objektivistische Revolutionstheorie folgt nicht notwendig aus der historisch-materialistischen Theorie der Gesellschaft, sondern sie stellt einen spekulativen Überschuß dar“.67 Doch dann stellt sich die drängende Frage, ob dieser ‚Überschuß‘ nicht das eigentlich treibende Moment von Marxismus und Kommunismus gewesen ist. Die kritische Analyse der kapitalistischen Gesellschaft, auch wenn sie textlich den überwiegenden Teil der Marxschen Gesellschaftstheorie in Anspruch nimmt, diente Marx und den Marxisten zum unumstößlichen Nachweis, daß der Kapitalismus nicht nur zum endgültigen Untergang verurteilt ist, sondern daß durch eine soziale Revolution der großen Masse der Arbeiterklasse die letzten Reste einer bürgerlichen Klassenherrschaft beseitigt werden. Noch im Jahr des Beginns der nationalsozialistischen Revolution, 1933, glaubte der Soziologe und Ökonom Franz Oppenheimer (1864 – 1943), weil der Kapitalismus sich gerade in der Weltwirtschaftskrise nicht als System der freien, sondern der gefesselten Konkurrenz erwiesen habe: „Der Kapitalismus hat abgewirtschaftet. Seine Verteidi-

65 Vgl. Gerd Hohorst/Jürgen Kocka/Gerhard A. Ritter: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, München 1975, S. 42 f. 66 Ludwig Pohle: Kapitalismus und Sozialismus (1919). 3. Aufl. Leipzig/Berlin 1926, S. III (Vorwort zur 1. Auflage). 67 Rolf Peter Sieferle: Die Revolution in der Theorie von Karl Marx, Frankfurt/Berlin/ Wien 1979, S. 9.

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ger sind verstummt. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht: er ist gerichtet.“68 Die Herrschaft einer, der ökonomischen Klasse hat es jedoch in keinem kapitalistischen Industriestaat gegeben und kapitalistische Formen der Wirtschaftsorganisation gab es auch im Dritten Reich, obwohl die nationalsozialistische Politik an ihrem Entscheidungsprimat keinen Zweifel aufkommen ließ. Es wird von Revolutionsanalytikern viel zu wenig berücksichtigt, daß niemals eine „objektive Vollendungslogik des Kapitals“69 durchgeführt, sondern daß der Kapitalismus wegen innerer und äußerer Zwänge dazu genötigt wurde, sich den ökonomischen Veränderungen anzupassen und sein ‚revolutionäres‘ Potential in den technischen Neuerungen bzw. Erfindungen zu suchen. Der österreichische Ökonom Joseph Alois Schumpeter (1883 – 1950) nannte diesen Vorgang den „Prozeß der schöpferischen Zerstörung“.70 Wie sonst hätte sich der Kapitalismus auf große Teile der Welt ausbreiten können – von Großbritannien über die USA nach Australien und Japan etc. –, wenn es ihm nicht gelungen wäre, sich an die klimatischen, mentalen oder ressourcenbedingten Eigenheiten in den betreffenden Staaten anzupassen. Man mußte in den industrialisierenden Staaten die entsprechenden Faktoren ausfindig machen und ausnutzen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten für eine Industrialisierung benötigt wurden. Es gab und gibt kein einheitliches und auf alle Staaten übertragbares Konzept wirtschaftlichen Wachstums, sondern die ökonomische Anpassungsfähigkeit an nationale Besonderheiten entscheidet über Erfolg oder Mißerfolg kapitalistischen Strukturwandels. Selbst die sozialistische Arbeiterbewegung war unter miserablen Arbeitsbedingungen in vielen Staaten nicht bereit, Marx in seinem Revolutionsfanatismus zu folgen. Die meisten Arbeiter hatten ein sicheres Gespür dafür, daß eine Vernichtung des kapitalistischen Systems gleichbedeutend gewesen wäre mit einer Selbstpreisgabe ihrer Lebensgrundlagen. Allerdings wurden von nationalistisch-religiösen Denkern einflußreiche Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts als Heroengestalten maßlos überhöht: „So wurde Karl Marx von den unkirchlich gewordenen Arbeitermassen als Durchbruch einer echten Offenbarung empfunden! So wirkte Friedrich Nietzsche trotz der Maske des Freigeistes, die er sich anlegte, schließlich doch wie eine neue Erfassung des Evangeliums!“71 Dadurch wurde eine rationale Kritik68 Franz Oppenheimer: Weder so – noch so, Potsdam 1933, S. 12 (Hervorhebung im Original). Schon 100 Jahre vorher, 1835, hatte Franz von Baader einen ähnlichen Gedanken formuliert: „Da nun die Freiheit der Concurrenz (hier zwischen Arbeitern und ihren Lohnsherren), wie man sagt, kein Monopol verträgt, effectiv aber von letzteren gegen erstere das drückendste Monopol ausgeübt wird, so frage ich, ob ein solches Missverhältniss und ein solcher Druck den Namen einer frei sich bewegenden Industrie verdient?“ (Franz Xaver von Baader: Ueber das dermalige Missverhältniss der Vermögenslosen oder Proletairs, in ders.: Gesammelte Schriften zur Sozietätsphilosphie. Bd. 2, Aalen 1963, S. 136). 69 R. P. Sieferle: Die Revolution (wie Anm. 67), S. 9. 70 Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1947). 8. Aufl. München 2005, S. 134 ff. 71 Max Maurenbrecher: Der Heiland der Deutschen, Göttingen 1930, S. 191 (Hervorhebungen im Original).

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fähigkeit gemindert und Revolution als erstrebenswertes Ziel angesehen. Die katholische bzw. evangelische Kirche wäre von einer Revolution ihrer Institutionen wenig begeistert gewesen, selbst wenn sie antikapitalistische Gedanken von Marx und Engels übernahmen. Ob Marx eine explizite Revolutionstheorie ausgearbeitet hat, ist deswegen von geringer Bedeutung, weil er und seine Anhänger felsenfest davon überzeugt waren, daß eine zwangsläufig auftretende Revolution, die als weltgeschichtliche Notwendigkeit unvermeidlich sei, das verhaßte kapitalistische System ohnehin vernichten wird. Vor ungefähr 140 Jahren, d. h. wenige Jahre nach Erscheinen von Das Kapital, äußerte sich der Nationalökonom Wilhelm Roscher nicht über den Revolutionsfanatiker, sondern er kritisierte an Marx eine abstrakte und unpräzise ökonomische Ausdrucksweise: „Theoretisch freilich ist dieser geistreiche, aber nicht scharfsinnige Mann wenig geeignet, complicirte Erscheinungen auf ihre einfachen Elemente zurückzuführen. Es hindert ihn daran besonders seine merkwürdige Vorliebe für eine fast mythologische Personification der Sachgüter, so daß er z. B. einem Rocke, der gegen Leinwand vertauscht werden soll, Bescheidenheit, der Leinwand Zwecke zuschreibt etc.“72 Dagegen wurde in der Mitte der 1970er Jahre in den sozialistischen Staaten des sowjetischen Machtbereichs noch davon geträumt, daß nationale Befreiungsbewegungen in unterentwickelten Ländern den revolutionären Prozeß fortsetzten und damit die kommunistische Weltbewegung zum Siege führen könnten: „Der Klassenkampf der Werktätigen gegen das Joch der Monopole, gegen die Ausbeuterordnung wird immer stärker. Die revolutionär-demokratische, antiimperialistische Bewegung nimmt immer größere Ausmaße an. All das bedeutet in seiner Gesamtheit ein Fortschreiten des revolutionären Weltprozesses.“73 Es ist die gleiche Sprache, die über ein Jahrhundert vorher Marx und Engels in der illusionären Hoffnung bestärkt hat, daß die revolutionären Arbeitermassen den ausbeuterischen Kapitalismus endgültig vernichten könnten.

72 Wilhelm Roscher: Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland (1874). Nachdruck Düsseldorf 1992, S. 1021 f. 73 Willi Gerns: Krise der bürgerlichen Ideologie und ideologischer Kampf in der BRD, Berlin 1976, S. 233.

2. Kapitel

Karl Marx’ intellektuelle Spurensuche 2. Kap.: Karl Marx’ intellektuelle Spurensuche 2. Kap.: Karl Marx’ intellektuelle Spurensuche

Man kann selbst bei einem intelligenten Jüngling aus einer großbürgerlichen Familie nicht voraussetzen, daß er während seiner ersten beiden Lebensjahrzehnte eine konkrete Vorstellung seines beruflichen Werdegangs oder sogar seiner Lebensbestimmung entwickelt, was nur bei außergewöhnlichen Talenten oder Genies anzutreffen ist. Die katholisch geprägte Römerstadt Trier mit seinen damals etwa 15.000 Einwohnern war erst drei Jahre vor der Geburt Marx’ Teil der preußischen Rheinprovinz geworden und wurde eher von der Basilika Kaiser Konstantin I., der Porta nigra oder dem romanischen Dom als von Maschinenfabriken oder industriellen Etablissements geprägt. Der junge Marx war wahrscheinlich stärker beeindruckt von der kulturellen Vielfalt einer 1500jährigen Geschichte seiner Heimatstadt und vielleicht auch von den Eroberungszügen der Franzosen seit der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, die sie 1800 zur Hauptstadt des französischen Saardepartements erklärten. In seiner Abiturientenarbeit von Mitte August 1835 sprach Marx noch von der ‚Gottheit‘, die die Laufbahn eines jungen Menschen führe und lenke. Die Begeisterung für einen Beruf müßten wir mit unserer inneren Stimme, der Vernunft statt dem Ehrgeiz, prüfen und abwägen, ob wir ihn trotz auftauchender Beschwerden ergreifen können und sollen. „Wer aber nicht in sich selbst die kämpfenden Elemente zu stillen vermag, wie soll sich der dem wilden Drange des Lebens entgegen stellen können, wie soll er ruhig handlen, und aus der Ruhe allein können große und schöne Taten emportauchen; sie ist der Boden, in dem allein gereifte Früchte gedeihen.“1 Ohne Talente könnten wir einen Beruf nie würdig ausfüllen, selbst wenn unsere physische Natur stark sei, und wenn wir dies versuchten, dann folgten Selbstverachtung aufgrund eigener Unfähigkeit, die wie „eine Schlange, die ewig wühlend die Brust zernagt, das Lebensblut aus dem Herzen saugt und es mit dem Gifte des Menschenhasses und der Verzweiflung vermischt“.2 Marx schwelgte in jugendlichen Gefühlen einer Verwirklichung von Würde, Wahrheit und Adel in dem zu ergreifenden Beruf zum Wohle der Menschheit wie zur eigenen Vollendung, um nicht als knechtisches Werkzeug erniedrigt zu werden. Die intensive Beschäftigung mit „abstrakten Wahrheiten“ statt mit konkreten Lebensfragen sei zwar für einen Jüngling gefährlich, aber sie berge auch die erhabensten Möglichkeiten. „Sie können den beglücken, der für sie berufen ist, allein sie vernichten den, der sie übereilt, unbesonnen, dem Augenblicke gehor1 Karl Marx: Betrachtung eines Jünglings bei der Wahl eines Berufes, in: MEW. Ergänzungsband. 1. Teil, Berlin 1977, S. 592. 2 Ebd., S. 593. Dort auch das nächste Zitat.

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chend, ergreift.“3 Vielleicht dachte er an die schwierige religiös-berufliche Situation seines Vaters oder er wollte einen Weg zwischen jugendlicher Begeisterung und Beschwerden der physischen Natur beschreiben und beschreiten, wenn er äußerte: „Aber wir können nicht immer den Stand ergreifen, zu dem wir uns berufen glauben; unsere Verhältnisse in der Gesellschaft haben einigermaßen schon begonnen, ehe wir sie zu bestimmen imstande sind.“4 Marx entwickelte in diesem Aufsatz einen Gedanken, von dem er sich im Laufe seines Lebens immer weiter entfernte wie von der Religion, als deren Ideal er das Menschheitsopfer sah, und dadurch sein Glücklichsein reduzierte: „Wenn er [der Mensch, H.K.] nur für sich schafft, kann er wohl ein berühmter Gelehrter, ein großer Weiser, ein ausgezeichneter Dichter, aber nie ein vollendeter, wahrhaft großer Mensch sein.“5

A. In der Jugend Karl Marx entstammte väterlicherseits einer Familie, die 150 Jahre lang jüdische Rabbiner im rheinländischen Trier gestellt hatte, ehe sein Vater, der Rechtsanwalt am Trierer Ober-Appellationshof Herschel Marx, sich im Herbst 1816 protestantisch taufen ließ und den Vornamen Heinrich annahm, um in der neuen preußischen Provinz im Justizdienst weiterbeschäftigt werden zu können. In der nachnapoleonischen Epoche hofften die Juden zwar auf eine Emanzipation, aber die Vorbehalte gegenüber ihrer Religion waren unter der deutschen Bevölkerung weit verbreitet und wenn man von Trierer Rabbinern abstammte – der Großvater von Karl hieß Marx Levi –, dann hatte man in einem katholischen Umfeld mit Vorurteilen zu rechnen oder gar zu kämpfen. Deshalb zogen viele Juden es vor, sich taufen zu lassen, auch um ihre Berufsaussichten zu verbessern, selbst wenn Marx’ Vater gegenüber seiner jüdischen Religion keineswegs illoyal war. Marx’ Mutter, Henriette Preßburg aus dem holländischen Nimwegen, konnte in ihrer Familie ebenfalls auf Generationen von Rabbinern zurückblicken, die sie religiös geprägt hatten. Sie wollte sich nach ihrer Heirat mit Heinrich Marx jedoch nicht taufen lassen, vielleicht, weil ihre jüdische Tradition ihr sehr viel bedeutete und sie sich erst in das religiöse Umfeld ihrer neuen Heimat einleben wollte. Sie konnte ja nicht ahnen, daß ihr Sohn später kein Vaterland mehr kannte, sondern die internationale Solidarität der Arbeiter einforderte, die aber in Krisenzeiten politischer Rivalitäten zwischen Staaten öfter auf die Probe gestellt und etwa im deutsch-französischen Krieg selbst von Marx durch einen chauvinistischen Nationalismus ersetzt wurde. Außerdem strebte Marx’ Mutter keinen staatlichen Posten an, welche in den Staaten des Deutschen Bundes selten an Juden vergeben wurde, sondern sie widmete sich ganz der Familie mit mehreren Kindern und ging offensichtlich darin auf. Als Karl Heinrich Marx am 5. Mai 1818 in der Trierer Brückengasse 664 geboren wur3 4 5

Ebd., S. 594. Ebd., S. 592. Ebd., S. 594.

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de, ehe die Familie 1819 in die Simeonsgasse 1070 umzog, gehörte deshalb seine Mutter dem jüdischen und sein Vater dem protestantischen Glauben an, aber am 26. August 1824 wurden alle sieben Kinder protestantisch getauft, während die Mutter erst am 20. November 1825 die evangelische Religion annahm; vielleicht auch aus Rücksicht gegenüber ihrem jüdischen Vater, der im gleichen Jahr gestorben war. Wir können deshalb annehmen, daß sowohl Heinrich als auch Henriette Marx bemüht waren, eine bürgerliche Existenz zu führen und sich in eine protestantische Umgebung – der preußische Staat war überwiegend protestantisch, während Trier und das Rheinland überwiegend katholisch waren – zu integrieren, obwohl der vom Aufklärungsdenken geprägte Marx auf einem Bankett im Trierer KasinoSaal sich am 18. Januar 1834 für eine Repräsentativverfassung nach französischem Vorbild ausgesprochen hatte und deswegen von der Polizei unter Beobachtung gestellt, aber nicht verhaftet worden war. Die erfolgreiche Integration von Juden in die deutschsprechende Gesellschaft war zur damaligen Zeit mindestens so schwierig wie für die Zuwanderer bzw. Flüchtlinge aus Kriegsgebieten in die Bundesrepublik Deutschland heute, d. h. es war eine ähnliche Fremdenfeindlichkeit virulent; allerdings gegen alteingesessene Mitbürger. Wir werden deshalb noch zu erörtern haben, warum der Sohn ehemals jüdischer Eltern schon während seines Studiums antisemitische Vorstellungen entwickelte, die er sein ganzes Leben beibehielt. Heinrich Marx war zwar kritisch, aber schon wegen seiner beruflichen Stellung staatstreu und neigte im fortgeschrittenen Alter zu einem preußischen Nationalismus. Die Vorstellung, irgendetwas mit Revolution oder Aufstand im Sinn zu haben, war für diesen Rechtsanwalt undenkbar und Marx’ Vater war zu gebildet und zu konservativ-liberal, um umstürzlerischen Gedanken nachzuhängen oder sie gar in Erwägung zu ziehen. Seinem einzigen Sohn, der nicht als Jugendlicher starb, versuchte er in ausführlichen Briefen erfolglos nahezulegen, daß man sein Talent für die Erringung einer bürgerlichen Karriere nutzen solle und müsse. Wir müssen jedoch ebenfalls berücksichtigen, daß die vielen Angriffe nationalsozialistischer Denker auf den ‚Juden’ Marx und auf den ‚jüdischen‘ Marxismus rein rassistisch motiviert waren und keineswegs der Selbsteinschätzung von Karl Marx oder seiner Familie entsprachen. So behauptete etwa Ottokar Lorenz in bewußter Verdrehung der tatsächlichen Verhältnisse, daß Marx „durch seine Rasse gleichfalls ein Vertreter dieses jüdischen Geistes“6 gewesen sei und ihn schließlich zum Schrittmacher des Kapitalismus gemacht habe! Karl Marx wuchs in Trier zusammen mit acht Geschwistern auf, drei Brüder und fünf Schwestern, doch die Brüder starben in jungen Jahren, während drei Schwestern, Sophie, Emilie und Louise, ihn überlebten. Im Unterschied zu seinem Vater scheint Karl Marx schon als Jugendlicher ein aufmüpfiger Mensch gewesen zu sein, was man einem jungen, wißbegierigen jungen Mann durchaus zugestehen kann, der auf dem Trierer Friedrich-WilhelmGymnasium mit den griechischen und römischen Abenteuergeschichten konfron6 Ottokar Lorenz: Karl Marx und der Kapitalismus, Hamburg 1937, S. 122. Der Grund dafür sei gewesen, daß mit der kapitalistischen Entwicklung „eine Auflösung der Gemeinschaftsbindungen Hand in Hand“ (ebd.) gegangen sei.

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tiert wurde und davon begeistert war. Allerdings bewunderte er seinen hochgebildeten Vater, während er gegenüber seiner Mutter einen gewissen Widerwillen hegte, möglicherweise deswegen, weil sie ein fehlerhaftes Deutsch mit starkem holländischem Akzent sprach und schrieb. Eine kurze Kostprobe des Stils der Mutter in einer Nachschrift zu einem Brief von Marx’ Vater von Anfang 1836 mag dies belegen: „lieber theurer Carl! Dein unwohlseyn hat uns sehr betrübt, doch hoffe und wünsche ich das du wieder hergestellt seyn wirst – und obschon ich seher ängstlich in hinsicht der gesundheit meiner lieben Kinder bin, so bin ich doch überzeugt das wen du lieber Carl vernünftig ha[n]delst du ein hohes alter erreichen kanst – aber dazu must du alles vermeiden was das übel steigeren kan, du darfst dir nicht zu sehr erhitzen nicht viel Wein noch Cafée trinken und nichts scharfes viel pfeffer oder sonst gewürts genießen, darfs kein taback rauchen nicht zu lang aufbleiben abends und früh aufstehen …“.7 Ein solches sprachliches Kauderwelsch scheint den jungen Studenten innerlich von seiner Mutter entfernt zu haben, die in ihrer mütterlichen Liebe ja eigentlich nur Gutes bezwecken wollte, wenn auch sprachlich ziemlich verworren. Wir werden später noch hören, wie er seine Mutter einschätzte, aber diese Andeutungen sollen nicht als ein charakterlicher Vorgriff auf seine späteren menschlichen Urteile angesehen werden, denn Marx benötigte noch viele Jahre, ehe er seine eigentliche Lebensaufgabe gefunden hatte. In der Schule und auf dem humanistischen Gymnasium, das er am 24. September 1835 mit dem Abitur (Zeugnis der Reife) am Trierer Gymnasium abschloß, brillierte er mit guten Kenntnissen, vor allem in der lateinischen und griechischen Sprache, und gewandter Rede. Aber sein arrogantes Verhalten und sein höhnisches Gehabe schon während der Gymnasiumzeit führten dazu, daß er zu seinen Mitschülern fast keinen menschlichen Kontakt aufbauen konnte und keine Freundschaften entwickelte. Der junge, vielleicht altkluge Marx fühlte sich eher zu dem Geheimen Regierungsrat Johann Ludwig von Westphalen (1770 – 1842) hingezogen, der Leiter der Königlich Preußischen Provinzregierung war. Sein Vater Philipp Westphalen war Geheimsekretär und im Siebenjährigen Krieg Generalstabschef des Herzogs Ferdinand von Braunschweig, der ihn wegen seiner Verdienste in den Adelsstand erhob, worauf er die Tochter eines schottischen Barons heiraten konnte. Allmählich entfachte Marx’ Liebe zu dessen Tochter Jenny, die am 12. Februar 1814 in Salzwedel geboren wurde und mit Karls älterer Schwester Sophie in die gleiche Schule ging sowie mit ihr befreundet war. Die Verlobung des 18jährigen Marx mit Jenny von Westphalen war nach Franz Mehring „der erste und schönste Sieg, den dieser geborene Herrscher über Menschen davontrug“.8 Ob die väterliche Entscheidung, die jüdische Vergangenheit durch eine protestantische Taufe hinter sich zu lassen, bei Marx’ späterem Antisemitismus eine Rolle spielte, kann nicht mehr eruiert werden, doch 1931 wurde behauptet, Karl Marx sei nicht aus dem Geschäftsjudentum gekommen, „sondern aus dem geistigen Judentum, und in manZitiert in MEW, Ergänzungsband. 1. Teil, Berlin 1977, S. 622. Franz Mehring: Karl Marx (1918). 5. Aufl. Berlin 1983, S. 15. Eine ausführliche, neuere Biographie hat Marlene Ambrosi: Jenny Marx, Trier 2015, vorgelegt. 7

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chen seiner empörten Anklagen gegen den Kapitalismus lebt etwas von dem Zorne der alttestamentlichen Propheten gegen den ungerechten Reichtum fort“.9 Karl war nicht nur ein aufgeweckter und kluger Kopf, sondern sein Lesehunger und sein ständiges Exzerpieren, seine „Lettern- und Tintengier war auch: Flucht“;10 in späteren Jahren auch Flucht vor der widerwärtigen politischen Realität des kapitalistischen Systems, das man mit einer erfolgreichen Revolution vernichten konnte. Er entwickelte eine beeindruckende Kunst des scharfsinnigen Argumentierens und Diskutierens, die selbst einem preußischen Aristokraten wie Westphalen imponierte, der offenbar gerne den Kontakt mit dem jungen, charmanten Mann pflegte. Marx fühlte sich dadurch nicht nur geschmeichelt und in seinem Selbstbewußtsein bestätigt, sondern hoffte, daß seine Zuneigung zur adeligen Tochter vom Vater geduldet und er von der Familie nicht abgelehnt wurde. Die Idee einer Revolution oder des Umsturzes eines politischen Systems waren nicht einmal in traumhaften Anwandlungen aufgetaucht, denn dieser junge Gymnasiast mußte erst seine geistige Rolle in einer ihm fremden Umgebung finden und vielfältige Studien absolvieren, ehe er seine ‚Lebensaufgabe‘ erkannte. Trotzdem kann man es für einen jungen und hübschen Mann als eine ungewöhnliche Fähigkeit ansehen, bei einer normalen Unterhaltung philosophische und literarische Zitate einzustreuen, doch Marx gefiel sich offenbar in diesem etwas affektierten Gehabe. Es scheint einiges dafür zu sprechen, daß auch die vier Jahre ältere und bildhübsche Johanna Bertha Julia Jenny von Westphalen (1814 – 1881), eine Enkelin des schottischen Duke Archibald of Argyll, davon beeindruckt war und sich in ihn, den Spielgefährten ihrer Kinderjahre, verliebte. Jedenfalls spricht dafür die Tatsache, daß sie trotz heftigen Widerstandes ihrer Familie am 19. Juni 1843 eine Ehe mit „Herrn Carl Marx, Doctor der Philosophie, wohnhaft in Cöln, und der Fräulein Johanna Bertha Julia Jenny von Westphalen, ohne Geschäft, wohnhaft in Kreuznach“ einging, wie es im Ehevertrag hieß, weil Karl sie heißblütig umwarb und ihr ein erfüllteres Leben versprach als in der verstockten Enge eines religiös-konservativen Adels. Seine romantischen Gedichte, in drei Heften seiner „teuren, ewig geliebten Jenny von Westphalen“ gewidmet, an seine zukünftige Braut aus Berlin sind sprechende Beweise dafür, daß er sie erobern und heiraten wollte. Ihren Eltern kann eine solche Verbindung nicht behagt haben – der Vater war allerdings am 3. März 1842 in Trier gestorben und die Mutter daraufhin nach Kreuznach umgezogen –, denn zur damaligen Zeit existierten noch fast unüberwindbare Standesschranken, d. h. eine adelige Tochter sollte einen standesgemäßen Mann aus dem Adel heiraten und nicht einen gerade promovierten Heißsporn, der nicht einmal einen einträglichen Beruf ausübte. Den innerfamiliären Auseinandersetzungen über diese Verbindung braucht hier nicht näher nachgegangen zu werden, denn Marx hatte zwar schon einige Flausen im Kopf, aber von revolutionären Gedanken war er noch vollständig unberührt, 9 Heinrich Getzeny: Die materialistische Geschichtsauffassung des Sozialismus, in: Schönere Zukunft, Nr. 51. 20. September 1931, S. 1214. 10 Fritz J. Raddatz: Karl Marx (1975). 2. Aufl. München 1978, S. 282.

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und sein akademischer Abschluß an einer renommierten Universität ließ eher eine bürgerliche Karriere erwarten. Als bekannt wurde, daß Marx sich mit Jenny von Westphalen verloben wollte, formierten sich innerfamiliäre Widerstände gegen eine engere Verbindung der adeligen Tochter mit dem Sohn aus einer jüdischen Familie. Vor allem der Halbbruder von Jenny, Ferdinand Otto Wilhelm von Westphalen (1799 – 1876) – von 1850 bis 1858 preußischer Innenminister –, sah die ganze Familienehre beschmutzt, wenn ein Atheist, getaufter Jude und einfacher Zeitungsschreiber, der mit seinem mageren Gehalt keine Familie ernähren konnte, in diesen Großadel einheiraten würde. Drohte dadurch nicht die christliche und nationale Loyalität zur preußischen Monarchie beeinträchtigt zu werden mit den allerschlimmsten Folgen? Konnte eine altadelige Tradition von Ehen mit Standesgleichen einfach aufgegeben werden, weil zwei Menschen starke Gefühle füreinander aufbrachten? Wie aber hätte eine solche Liaison verhindert werden können, wenn Jenny bereit war, auch dem stärksten familiären Druck standzuhalten? Marx schrieb dazu wenige Monate vor seiner Heirat, am 13. März 1843, an Arnold Ruge: „Ich bin schon über sieben Jahre verlobt, und meine Braut hat die härtesten, ihre Gesundheit fast untergrabenden Kämpfe für mich gekämpft, teils mit ihren pietistisch-aristokratischen Verwandten, denen ‚der Herr im Himmel‘ und der ‚Herr in Berlin‘ gleiche Kultusobjekte sind, teils mit meiner eignen Familie, in der einige Pfaffen und andere Feinde von mir sich eingenistet haben.“11 Es war keineswegs eine angenehme familiäre Situation, in die sich Marx durch seine Liebe zu einer Tochter aus adeligem und konservativem Haus gebracht hatte, und es muß offen bleiben, ob Ludwig von Westphalen, der mit dem konvertierten Juden Heinrich Marx befreundet war, einer Hochzeit zugestimmt hätte, wenn er noch gelebt haben würde. Was also könnte es in diesem Fall Edelmütigeres und Ritterlicheres für diesen noch im fest verschlossenen Kokon eines Revolutionärs lebenden Zeitungsredakteur geben, als diese junge Frau aus den verderblichen Fesseln einer erzkonservativen Adelsclique zu befreien?

B. Im Studium Blicken wir noch einmal ein paar Jahre zurück auf die ersten Anfänge seiner Studienjahre, die zumindest einen rebellischen, wenn auch nicht revolutionären, Geist ankündigten, der aus den gewöhnlichen Bahnen ausscheren wollte. Bereits mit 18 Jahren, am 15. Oktober 1835, begann für Karl Marx das Studentenleben an der Universität Bonn überwiegend im Fach Philosophie sowie alte Geschichte und nicht nur Rechtswissenschaft, wie sein Vater es gewünscht hatte, der wahrscheinlich die Hoffnung hegte, daß sein Sohn in seine Fußstapfen treten würde. Die ersten Monate waren allerdings weniger mit eifrigem Studium ausgefüllt, 11 Karl Marx/Friedrich Engels: Historisch-kritische Gesamtausgabe (abgekürzt: MEGA). I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (1929). Neudruck Glashütten im Taunus 1970, S. 307.

B. Im Studium

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sondern eher mit übermütigen Jungenstreichen bzw. üblen Studentensitten, als Corpsmitglied der Landsmannschaft Treverania, die für die damalige Zeit nichts Ungewöhnliches waren. Viele Studenten sahen in einer Mitgliedschaft in Korporationen nicht nur eine Karriereleiter, sondern auch ein Freundschaftsbund, der allerdings in schlagenden Verbindungen zu blutigen Fehden ausartete, die mit Freundschaft wenig zu tun hatten. Die Bonner Polizei belangte Marx eines Tages wegen „nächtlichen ruhestörenden Lärmens und Trunkenheit“,12 worauf er von der Universität mit einer Disziplinarstrafe belegt wurde, was ihn offensichtlich wenig beeindruckte. Marx’ etablierter Vater ermahnte seinen Sohn zwar, daß er in Bonn nicht mehr studieren solle, „als Körper und Geist vertragen können“,13 denn ein „siecher Gelehrter ist das unglücklichste Wesen auf Erden“,14 doch Marx nahm diese Ermahnungen gelassen. Heinrich Marx gab seinem Sohn eine Vielzahl guter väterlicher Ratschläge mit auf den studentischen Weg und war davon überzeugt: „Daß Du moralisch gut bleibst, daran zweifle ich wirklich nicht. Doch ein großer Hebel für die Moral ist der reine Glaube an Gott. Du weißt, ich bin nichts weniger als Fanatiker“,15 aber dieser Glaube werde irgendwann zu einem wahren Bedürfnis selbst für Gottesleugner. Marx entfernte sich jedoch in Bonn und Berlin immer weiter von diesen Vorstellungen, indem er sich wie wild gebärdete und sein Vater, der dieses übermütige Treiben finanzierte und außer dem Monatswechsel ständig von seinem Sohn zu weiteren Geldzahlungen aufgefordert wurde, verlor zunehmend die Geduld über dessen liederliches Verhalten und teilte ihm mit, daß eine blendendste Karriere weniger wichtig sei als ein anständiger Charakter: „Ich lasse Dir viel Gerechtigkeit widerfahren, aber ich kann mich nicht ganz des Gedankens entschlagen, daß Du nicht frei von Egoismus bist, etwas mehr, als zur Selbsterhaltung nötig … Entschuldige Dich nicht mit Deinem Charakter. Klage die Natur nicht an. Sie hat Dich gewiß mütterlich behandelt … Nein, Schwachheit, Verzärtlung, Eigenliebe und Dünkel allein reduzieren so alles auf sich und lassen die teuersten Gebilde in den Hintergrund treten!“16 Diese wohlmeinenden, wenn auch harten väterlichen Ermahnungen, die an ihn erst in Berlin gerichtet wurden, muß Marx als unakzeptable Zudringlichkeiten empfunden haben, denn als Egoist und verzärtelter Schwächling tituliert zu werden, muß einen zukünftigen revolutionären Schmetterling gehörig die Flügel gestutzt haben. Er distanzierte sich zwar nicht von seinem Vater und blieb weiterhin im Briefverkehr mit ihm, doch die Regelmäßigkeit des Gedankenaustausches ließ nach, denn Marx dachte gar nicht daran, seinen Lebensstil zu verändern. Schließlich sickerte aus seiner Bonner Studentenzeit die anrüchige Geschichte durch, deren Hintergründe trotz eingehender Nachforschungen nie ganz aufgeAbgangszeugnis der Universität Bonn für Marx vom 22. August 1836, in ebd., S. 194. MEW. Ergänzungsband, 1. Teil, Berlin 1977, S. 616 (Brief vom 18. November 1835). 14 Ebd., S. 618. 15 Ebd., S. 617. 16 MEGA. 1. Abt., Bd. 1, 2 (wie Anm. 11), S. 206 (Brief des Vaters an Marx vom 12. August 1837). 12 13

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klärt werden konnten, daß Karl in Köln ein Duell mit Pistolen bestritten habe, was seinem angeblichen revolutionären ‚Freund‘ Ferdinand Lassalle 1864 das Leben kostete. Lassalle war in einer ähnlichen Lage wie Marx, denn er hatte sich in die Tochter, Helene von Dönniges, eines bayerischen Adeligen verliebt, die jedoch bereits mit Janko von Rakowitz verlobt war, der Lassalle bei einem Duell in Genf erschoß. Dieser überholte Ehrenkodex hatte allerdings gar nichts mit dem kapitalistischen System zu tun, sondern war eher ein überspannter Männlichkeitsbeweis bzw. eine übermütige Mutprobe, bei der man die akute Gefahr des Todes klaglos in Kauf nahm. Als Marx die Bonner Universität einige Monate später verließ, wurde in seinem Abgangszeugnis vom 22. August 1836 vermerkt, daß er „verbotene Waffen in Köln getragen habe. Die Untersuchung schwebt noch.“17 Die ganze Angelegenheit muß selbst Marx unangenehm gewesen sein, denn er äußerte sich zu keiner Zeit zu diesem Pistolenduell und seine eigentlichen Hintergründe. „1834 war in einem Säbelkampf der junge Graf von Arnim getötet worden, wenig später ein Student namens Daniels aus Aachen.“18 Der besorgte Vater, der nicht herausfinden konnte, ob sein Sohn bei dem Duell eventuell verwundet worden war, erinnerte diesen noch kurz vor seinem eigenen Tod daran, daß er in einer problematischen Sache, nämlich dem Duell in Köln, von ihm keine Aufklärung erhalten habe. In dem resignierten Bewußtsein einer verlorenen väterlichen Autorität schrieb er schon Mitte 1836 an den Sohn in Bonn halb ironisch, halb zornig: „Und ist denn das Duellieren so eng mit der Philosophie verwebt? Es ist Achtung, ja Furcht vor der Meinung. Und welcher Meinung? Nicht grade immer der Besseren, und doch!!! So wenig ist überall im Menschen Konsequenz.“19 Ganz sicher hatte das Duell keine philosophischen Hintergründe, aber die fehlende Konsequenz konnte man dem Sohn schon vor Augen führen, selbst wenn es diesen gleichgültig ließ und er es nicht für angemessen ansah, den verärgerten Vater aufzuklären. Allem Anschein nach verließ Marx Bonn in Richtung Berlin, auch um nicht weiter in die Ermittlungen eines dubiosen Pistolenduells hineingezogen zu werden und nicht, weil ihn „der Ruf der akademischen Freiheit“20 an der Berliner Universität angezogen hätte. Humanere Konsequenzen aus einem lebensgefährlichen Duell, wie es offenbar sein Vater erwartet hatte, wurden von Marx daraus aber nicht gezogen.21 Karl Marx ging im Herbst 1836 – die Immatrikulation erfolgte am 22. Oktober – an die 1810 nach dem Konzept der Einheit von Forschung und Lehre Wilhelm von Ebd., S. 194. B. Nicolaevsky/O. Maenchen-Helfen: Karl Marx (1963). 3. Aufl. Berlin/Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 21. 19 MEGA. I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (1929). Neudruck Glashütten im Taunus 1970, S. 192. 20 Rolf Hosfeld: Karl Marx, München/Zürich 2010, S. 12. 21 Auch Eberhard Gockel: Karl Marx in Bonn, Bonn 1989, S. 18, konnte nichts Näheres zu dem Kölner Duell herausfinden, gibt aber die zusätzliche Information: „Bei einem Duell mit einem Burschen der Bonner ‚Borussia‘, des feudalsten Corps, wurde er am Auge verletzt.“ 17

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B. Im Studium

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Humboldts gegründete Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, wo er sich in der Leipziger Straße ein Zimmer mietete. Kurz vorher hatte er sich, ohne Wissen ihrer Familie, mit Jenny von Westphalen verlobt, deren aristokratische Herkunft so gar nicht zum zukünftigen Revolutionär paßte. Diese Übersiedelung nach Berlin geschah nicht freiwillig, fern von seiner geliebten Jenny, sondern auf Drängen seines Vaters, der das liederliche Studentenleben seines Sohnes in Bonn bewußt beenden wollte, damit sich dieser auf das Studium der Rechts- und Kameralwissenschaften konzentrieren sollte. Nach einem Jahr Studium der Rechtswissenschaft an der Berliner Universität schrieb er im romantischen Überschwang am 10. November an den Vater: „Als ich Euch verließ, war eine neue Welt für mich erstanden, die der Liebe, und zwar im Beginne sehnsuchtstrunkner, hoffnungsleerer Liebe. Selbst die Reise nach Berlin, die mich sonst im höchsten Grade entzückt, zu Naturanschauung aufgeregt, zur Lebenslust entflammt hätte, ließ mich kalt, ja sie verstimmte mich auffallend, denn die Felsen, die ich sah, waren nicht schroffer, nicht kecker als die Empfindungen meiner Seele, die breiten Städte nicht lebendiger als mein Blut, die Wirtshaustafeln nicht überladener, unverdaulicher als die Phantasiepakete, die ich trug, und endlich die Kunst nicht so schön als Jenny.“22 In der preußischen Hauptstadt Friedrich Wilhelms III. hatte man hochangesehene Professoren an diese junge Universität berufen, die den wissenschaftlichen Glanz dieses aufstrebenden Staates vergrößern sollten. Schließlich hatte die sieggewohnte preußische Armee am 14. Oktober 1806 bei Jena und Auerstedt eine vernichtende Niederlage gegen die napoleonischen Truppen erlitten, von der sie sich bis 1810 noch nicht erholt hatte, aber die ursächlich für Reformen auf erzieherischem, gewerblichem und militärischem Gebiet waren. Es war nach den militärischen Siegen über Napoleon I. von 1813 bis 1815 eine politisch aufrührende Zeit des sogenannten ‚Vormärz‘, d. h. die Periode vom Wiener Kongreß bis zur Märzrevolution 1848, doch in Preußen hatte das Metternichsche Unterdrückungssystem deutliche Spuren hinterlassen und es gab eine ausgeklügelte Zensur sowie heftiges Mißtrauen gegenüber einer rebellierenden Jugend. Von individueller Freiheit war wenig zu spüren und der preußische Obrigkeitsstaat rekrutierte seine Führungselite noch überwiegend aus dem Adel und monarchietreuen Untertanen. Zweifellos war diese Periode der deutschen Geschichte aufwühlend und verwirrend, in die sich ein junger, himmelstürmender Mann wie Marx hineindenken und existentielle Schlüsse daraus ziehen mußte. Nach dem revolutionären Aufflakkern in einigen deutschen Staaten nach der französischen Revolution 1830 und dem Hambacher Fest vom 27. bis 30. Mai 1832, wo ein freies Deutschland als föderale Republik gefordert wurde, begannen reaktionäre Repressalien gegenüber Teilnehmern und die Presse- und Versammlungsfreiheit wurde vollständig verboten. Der Historiker Constantin Bulle schrieb 1876 rückblickend über diese Zeit: „Den ganzen Umfang des Unheiles, das diese Demagogenverfolgung anrichtete, zu ermessen ist kaum möglich; an Kleinigkeit des Verfahrens, an Gehässigkeit der Gesinnung und an Gewissenlosigkeit in den Mitteln wird sie kaum von einer ande22

MEW. Ergänzungsband. 1. Teil (wie Anm. 13), S. 4.

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ren Periode unserer Geschichte überboten.“23 Bei Eduard Gans (1797 – 1839), einem Schüler und Anhänger des am 14. November 1831 in Berlin gestorbenen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der 1818 ebenfalls an die Berliner Universität berufen worden war, hörte Marx im Wintersemester 1836/37 Kriminalrecht und im Sommersemester 1837 Preußisches Landrecht. Er blieb an der Berliner Universität vom 22. Oktober 1836 bis 30. März 1841, doch sein Studium betrieb er nur nebenbei und belegte in dieser Zeit lediglich zwölf Pflichtkollegien – mit der jedesmaligen Benotung „ausgezeichnet fleißig“.24 Er ahnte wohl noch nichts davon, daß in diesen Jahren auch in Deutschland eine heftige Diskussion über das Industriesystem, über die Lage der Fabrikarbeiter, über die Gefahr einer Übervölkerung oder über den sogenannten Pauperismus, d. h. die Verarmung der Arbeiterbevölkerung, entbrannte. Ein anonymer Autor befürchtete 1836 einen Kampf von Demagogen, die das Bestehende in den schwärzesten und falschesten Farben malten, gegen den Staat und seine Gesetze: „Denn es ist nicht wegzudisputiren, daß es gegenwärtig zu viel Habenichtse, zu viel Handarbeiter, zu viel Handwerker, zu viel Gelehrte, zu viel Spitzbuben und zu viel Gutfresser giebt.“25 In der übrigen Zeit arbeitete Marx fast ununterbrochen an Manuskripten und Gedichtbänden und wollte sogar, zusammen mit Adolf Friedrich Rutenberg, der einige Zeit am Berliner Kadettenkorps Geographie unterrichtet hatte, eine Zeitschrift für Theaterkritik gründen, für die bereits „sämtliche ästhetischen Berühmtheiten der Hegelschen Schule“26 ihre Mitwirkung zugesagt hätten, wie er dem Vater schrieb. Der unheimliche Gedanke an eine Revolution lag noch in weiter Ferne und auch mit seinen Kommilitonen scheint Marx keine größeren Auseinandersetzungen angezettelt, sondern im schwärmerischen Idealismus wolkige Pläne geschmiedet zu haben. Das Ende dieses Jahres, fast gleichzeitig mit Marx’ Brief an den Vater, wurde überschattet durch die Weigerung der Göttinger Professoren Wilhelm Eduard Albrecht, Friedrich Christoph Dahlmann, Georg Heinrich August Ewald, Georg Gottfried Gervinius, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm und Wilhelm Eduard Weber, die Göttinger Sieben, die es am 18. November 1837 ablehnten, der Aufhebung des 1833 erlassenen Staatsgrundgesetzes des Königreichs Hannover durch König Ernst August Duke of Cumberland, der Onkel der englischen Königin Victoria, zuzustimmen, indem sie sich auf ihr Widerstandsrecht beriefen. Daraufhin wurden sie knapp einen Monat später, am 11. Dezember, durch den König ihrer Professuren enthoben und drei von ihnen binnen drei Tagen des Landes verwiesen, 23 Constantin Bulle: Geschichte der neuesten Zeit. 1815 – 1885. Erster Band (1876). 2. Aufl. Berlin 1888, S. 51. 24 Abgangszeugnis der Universität Berlin vom 30. März 1841, in: MEGA. I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (wie Anm. 19), S. 247 f. 25 Wie ist Armuth in den deutschen Staaten zu verhüten, Quedlinburg/Leipzig 1836, S. 7. „Gerechtigkeit, Vorsicht und Strenge möchten die besten Aushülfsmittel gegen alle Demagogen sein.“ (S. 8, Hervorhebungen im Original). 26 MEGA. I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (wie Anm. 19), S. 220 (Brief an den Vater vom 10. November 1837).

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was in ganz Deutschland eine öffentliche Empörung auslöste. „Außerhalb der hannoverschen Grenze und im Ausland erhob sich ein wahrer Zeitungssturm.“27 Nach einem Jahr Studium von Karl Marx in Berlin waren dem Vater, der einen tuberkulosekranken Sohn und noch fünf minderjährige Töchter versorgen mußte, schließlich die überschäumenden Bekundungen der Liebe zu Jenny und die exorbitanten Ausgaben des Sohnes zu viel geworden, weshalb er in einem langen Brief vom 9. Dezember 1837, der ebenso von väterlicher Fürsorge wie von tiefer Besorgnis wegen der beruflichen Zukunft seines Sohnes geprägt ist, anklagte: „Wenn man seine Schwäche kennt, so muß man Maßregeln dagegen ergreifen … Wenn er, ohne sein Alter und seine Lage zu Rat zu ziehen, eines der edelsten Mädchen an sein Schicksal gekettet … Das sei Gott geklagt!!! Ordnungslosigkeit, dumpfes Herumschweben in allen Teilen des Wissens, dumpfes Brüten bei der düsteren Öllampe; Verwildrung im gelehrten Schlafrock und ungekämmter Haare statt der Verwildrung bei dem Bierglase; zurückscheuende Ungeselligkeit mit Hintansetzung alles Anstandes und selbst aller Rücksicht gegen den Vater … Als wären wir Goldmännchen, verfügt der Herr Sohn in einem Jahre für beinahe 700 Taler gegen alle Abrede, gegen alle Gebräuche, während die reichsten keine 500 ausgeben. Und warum? Ich lasse ihm die Gerechtigkeit widerfahren, daß er kein Prasser, kein Verschwender ist. Aber wie kann ein Mann, der alle 8 oder 14 Tage neue Systeme erfinden und die alten mühsam erwirkten Arbeiten zerreißen muß, wie kann der, frage ich, sich mit Kleinigkeiten abgeben?“28 Mit aller Eindringlichkeit, aber auch mit einer altersbedingten Resignation, versuchte der „unbarmherzige“ Vater seinen Sohn davon zu überzeugen, daß weniger Sentimentalität und mehr Realitätssinn die überall lauernden Gefahren des Lebens reduzierten, daß Dankbarkeit gegenüber den Eltern und größere Empfindsamkeit gegenüber seinen Geschwistern auch einem jungen Mann nicht schadeten. Seine Krankheit habe ihn zunehmend verstimmt und wegen seiner Charakterschwäche könne der Sohn nur „die Schilderungen eines alternden, grämlichen Mannes, der sich über die ewigen Täuschungen und besonders darüber, daß er seinem eignen Idol einen Spiegel voller Zerrbilder vorhalten muß“,29 erwarten. Den Vater scheint es tief gekränkt zu haben, daß der Sohn auf seine vielen Briefe entweder gar nicht oder nur oberflächlich geantwortet hat und er empfahl ihm, im Moment nicht nach Hause zu fahren, sondern die Osterferien abzuwarten, und er versicherte ihm, „daß ich Dich mit offenen Armen empfange und ein väterliches Herz Dir entgegenschlägt, das eigentlich nur an Überreiz kränkelt“.30 Mit dem baldigen Tod von Heinrich Marx endeten die vorwurfsvollen Ermahnungen, denen Marx ohnehin nicht nachkam, weil er

27 Albrecht Schöne: Vom Betreten des Rasens. Das Lehrstück der Göttinger Sieben, in: Die Zeit, Nr. 51. 11. Dezember 1987, S. 66. 28 MEGA. I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (wie Anm. 19), S. 635, S. 637 (Hervorhebung im Original) und S. 639. 29 Ebd., S. 636. 30 Ebd., S. 640.

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entschlossen war, Jenny zu heiraten und in Berlin weiter seinen philosophischen Neigungen nachging. Die industrielle und kapitalistische Entwicklung Berlins zum deutschen Wirtschaftszentrum war zu dieser Zeit zwar noch nicht in vollem Gange, doch deutliche Zeichen davon waren erkennbar, aber Marx interessierte sich dafür gar nicht. Berlin hatte sich seit 1815 nicht nur als Hauptstadt der brandenburg-preußischen Monarchie etabliert, sondern der Auf- und Ausbau einer mechanisierten Textilindustrie führte zu einer stärkeren Zuwanderung von Arbeitskräften, die Berlin schließlich zum deutschen Textilzentrum während der Industriellen Revolution aufsteigen ließ. Wilhelm Tappert z. B. errichtete 1791 eine Baumwoll-Maschinenspinnerei, die 1813 über 16.000, allerdings nicht dampfmaschinengetriebenen, Spindeln verfügte. Peter Christian Wilhelm Beuth (1781 – 1853) übernahm 1821 als preußischer Staatsbeamter im Ministerium für Handel, Gewerbe und Bauwesen die Initiative zur Gründung einer technischen Schule, seit 1827 Königliches Gewerbe-Institut, in dem zahlreiche Berliner Unternehmer ihre technische Ausbildung erhielten. Zwei Jahre bevor Marx nach Berlin kam, im Gründungsjahr des Deutschen Zollvereins 1834, existierten in Berlin drei mechanische Spinnereien, von denen allerdings nur eine mit Dampfkraft, d. h. einer Dampfmaschine, betrieben wurde. Zwar stammte die überwiegende Zahl der Dampfmaschinen noch lange aus englischer Produktion, doch der zunehmende Bedarf an Ersatzteilen in Textilfabriken führte zur Gründung von Maschinenbau- und Metallunternehmen in Berlin. Im Jahr 1815 eröffnete die erste Dampfmaschinenfabrik von Georg Ch. Freund und 1821 die Erste Berliner private Eisengießerei und Maschinenbauanstalt von Franz A. Egells. Sie stellte vier Jahre danach die erste größere deutsche Dampfmaschine für eine Maschinenspinnerei im schlesischen Waldenburg her, die der spätere ‚Lokomotivenkönig‘ August Borsig, der gerade seine Ausbildung am Gewerbe-Institut beendet hatte, aufbaute. Die Brüder Hermann und Wilhelm Alberti, Besitzer der Maschinenspinnerei, schrieben am 12. Februar 1827 darüber: „Wir Unterschriebene, Eigentümer der hiesigen Maschinenspinnerey, bezeugen hiermit, daß eine von Herrn Egells in Berlin für uns gefertigte Dampfmaschine von 28 Pferdekraft durch dessen Bevollmächtigten Herrn August Borsig zu unserer völligen Zufriedenheit hier zusammengesetzt und aufgestellt worden ist.“31 Die Fortschritte der Industrialisierung in Berlin erreichten zwar seit Mitte der 1840er Jahre außergewöhnliche Dimensionen, doch schon während Marx’ Aufenthalt in dieser Stadt war der Kapitalismus sichtlich auf dem Vormarsch und katapultierte Berlin langfristig zu einer Industriemetropole von Weltbedeutung. Wenn deshalb der Marxist Georg Eccarius in einem Artikel „Die Schneiderei in London oder der Kampf des großen und kleinen Kapitals“ Ende November 1850 schrieb: „Wir haben gesehen, wie die moderne große Industrie überall vernichtend auf das Kleinbürgertum einwirkt. Es ist in der Tat weiter nichts als ein Rest der feudalen Gesellschaft und ist seiner sozialen 31 Zitiert in: Deutscher Maschinenbau 1837 – 1937 im Spiegel des Werkes Borsig, Berlin 1937, S. 13.

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Stellung nach durchaus reaktionär. Es liegt in seinem Interesse, sich gegen jeden industriellen Fortschritt aufzulehnen, und wenn es sich für den politischen Fortschritt begeistert, so weiß es selbst nicht, was es tut“,32 so ist dies reine Ideologie ohne empirische Substanz. Denn neben dieser mechanisierten (Groß-) Industrie gab es noch lange Zeit kleine, unrentable Betriebe, in der Textilindustrie z. B. sogenannte ‚Lohnspinnereien‘, die für einen Garnhändler oder einen Unternehmer gegen Bezahlung (Lohn) arbeiteten. Die technische Leistungsfähigkeit solcher Kleinbetriebe war gering – in 62 sächsischen Lohnspinnereien um 1855 lag die durchschnittliche Spindelzahl lediglich bei 2.931 Spindeln mit einem Minimum von 352 und einem Maximum von 9.264 Spindeln, während bei größeren Spinnereien mindestens 20.000 Spindeln üblich waren – und der Verdienst der betreffenden Lohnspinner miserabel. „Gegenüber die [!] Nothwendigkeit, alle Wollen, selbst in kleinen Posten, zu sehr verschiedenen Garnnummern mit denselben Maschinen verspinnen zu müssen, wird sogar eine vorzügliche Leistung nach nur einer Richtung hin zu Unmöglichkeit.“33 Die vielkritisierte Industrialisierung verlief also von Land zu Land, von Region zu Region, von Stadt zu Stadt und von Branche zu Branche sehr unterschiedlich. Die Idee, daß der technische und industrielle Fortschritt vor allem negative Auswirkungen auf eine beschauliche, natürliche Lebensweise der Menschen ausübt, gewann mit der Industrialisierung an Fahrt, beschäftigte aber auch im 20. Jahrhundert viele Denker. Der amerikanische Journalist, Buchdrucker und Sozialreformer Henry George (1839 – 1897) hat mit seinem zuerst 1879 erschienenen Bestseller Progress and Poverty auf diese scheinbare Verkoppelung nachdrücklich hingewiesen, weshalb er der amerikanische ‚Marx‘ genannt wurde, ohne Marx zu kennen. George glaubte durch eine Beseitigung des Eigentums an Grund und Boden sowie einer Einheitssteuer die soziale Not überwinden zu können, doch trotz seiner journalistischen Eloquenz und seiner angeblichen Gesetze der Bodenrente, der Löhne und der Zinsen hat er die ökonomische Schwierigkeit seiner Auffassung nicht erkannt, daß Privatbesitz nicht nur die Grundrente auf Kosten der Löhne vermehrt, sondern auch Investitionskapital bereitstellen kann, das zu einer Ausweitung der Nachfrage und der Löhne führt. Es ist eine vorgefaßte und ideologische Ansicht, die die Ursache mit der Wirkung verwechselt, daß materieller Fortschritt immer Schmutz und Elend, Laster und Verbrechen, erzeuge, nur weil es in einer vorübergegangenen Periode der Industrialisierung aufgetreten ist. Victor Böhmert hat sich schon vier Jahre vorher gegen die pauschale Auffassung verwahrt, daß die Arbeitslöhne zu gering seien, um davon zu leben oder etwas zu sparen: „Man muß bestimmt angeben, welche Arbeitskräfte den betreffenden Lohn erhalten und in welchen Erwerbsklassen, Berufskategorien, Altersklassen und Gegenden und

32 Zitiert in: Der Bund der Kommunisten. Bd. 2: 1849 – 1851, Berlin 1982, S. 321 (Hervorhebungen im Original). 33 Die Baumwollenspinnerei im Königreiche Sachsen, in: Zeitschrift des Statistischen Bureaus des Königlich Sächsischen Ministeriums des Innern, II. Jg., 1856, S. 126.

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unter welchen Productions-, Consumtions- und Culturverhältnissen gewisse unzureichende Löhne gezahlt werden.“34 Die ungeheure Not der arbeitenden Klassen ist überwunden worden und zerlumpte und barfüßige Jugendliche pflegen heute lediglich einer modischen Hippykultur und sind kein aussätziges Lumpenproletariat ohne irgendein Einkommen, weshalb es ziemlich zeitbedingt ist zu behaupten: „Diese Verbindung von Armut und Fortschritt ist das große Rätsel unserer Zeit. Sie ist der springende Punkt aus dem die industriellen, socialen und politischen Schwierigkeiten entstehen, die die Welt in Verwirrung setzen und mit denen Staatskunst, Philanthropie und Erziehung vergeblich ringen. Aus ihr bilden sich die Wolken, welche die Zukunft der vorgeschrittensten und selbständigsten Völker verhüllen. Sie ist das Rätsel, das die Sphinx des Schicksals unserer Civilisation zu lösen giebt, und das Unterbleiben der Lösung bedeutet die Vernichtung. So lange die Zunahme des Reichtums, welche der moderne Fortschritt mit sich bringt, nur dazu dient, große Besitztümer zu schaffen, den Luxus zu vermehren und den Unterschied zwischen Palast und Hütte immer schärfer hervortreten zu lassen – so lange ist er kein wirklicher, kein dauernder Fortschritt. Die Reaktion muß eintreten. Der Turm neigt sich und jeder neuer Aufbau beschleunigt nur die Schlußkatastrophe. Menschen, die zur Armut verdammt sind, unterrichten, bedeutet nur, sie widerspenstig machen. Auf einen Zustand ersichtlicher socialer Ungleichheit politische Maßregeln treffen, wonach die Menschen theoretisch gleich sind, ist so viel wie eine Pyramide auf ihre Spitze stellen.“35 Katastrophenszenarien und Untergangsphilosophien haben seit Menschengedenken auf sensationshungrige Leser größeren Eindruck gemacht als nüchterne Beschreibungen der Wirklichkeit, auch wenn sie der historischen Realität widersprechen; aber vielleicht muß man wie George dem Goldrausch in Kalifornien erlegen sein, um solche Phantasien aufs Papier zu bannen. Marx’ eigentliches Ziel lag für ihn damals offenbar in einer anerkannten Reputation als philosophischer Schriftsteller, nachdem er „Hegel von Anfang bis Ende, samt den meisten seiner Schüler“36 kennengelernt hatte, wie er seinem interessierten Vater mitteilte. Dieser war, wie wir gehört haben, bis zu seinem Tod sehr besorgt, ob die großartigen intellektuellen Anlagen seines Sohnes sich nicht in die falsche Richtung eines verwilderten Bohemien entwickelten. Die größte väterliche Sorge bestand nicht darin, ob der Sohn Jurist, Schriftsteller oder Philosoph werden wollte, sondern in den unbestimmbaren Vorstellungen eines Sohnes, der offenbar selbst nicht genau wußte, wohin seine berufliche Reise gehen sollte. Doch einige Zeitschriften, denen Marx Manuskripte zugesandt hatte, schickten diese ohne eine Bemerkung zurück, d. h. der sehnliche Wunsch, ein berühmter Dichter oder Philosoph zu werden, zerschellte an der uneinsichtigen Wirklichkeit. Darauf versank er erneut in Selbstmitleid und Larmoyanz, aber er gefiel sich auch im jugendlichen 34 Victor Böhmert: Beiträge zur Lohnstatistik, in: Zeitschrift des K. Sächsischen Statistischen Bureau’s, XXI. Jg., 1875, S. 117. 35 Henry George: Fortschritt und Armut, Leipzig o. J. (1891), S. 28 f. 36 MEW. Ergänzungsband. 1. Teil, Berlin 1977, S. 10 (Brief vom 10. November 1837).

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Größenwahn, indem er behauptete, schwierigste wissenschaftliche Werke gründlich gelesen und exzerpiert, Werke aus dem Lateinischen und Griechischen übersetzt sowie zwei wissenschaftliche Werke über Rechtsphilosophie und Metaphysik verfaßt zu haben, die er allerdings alle verbrannt habe, weil er damit unzufrieden gewesen sei. Schließlich wollte er seinem Vater ‚beweisen‘, daß die hohen monatlichen Wechsel nicht umsonst ausgegeben worden waren, sondern er trotz seiner Liebessehnsucht nach Jenny durchaus kreativ war und arbeitete. Der Vater wußte natürlich, daß kein Mensch – nicht einmal ein neunzehnjähriges Genie – eine solche Arbeitsleistung innerhalb eines Jahres vollbringen konnte und wies den Sohn zurecht, sich nicht bei dem kleinsten Sturm dem Herzensschmerz zu überlassen und kränkelnder Empfindlichkeit nachzugeben, sondern sein glückliches Talent in die Hand zu nehmen: „Möge der Allgütige es, soviel die gebrechliche Menschlichkeit es gestattet, treu Deinen Fersen folgen lassen. Aber auch der Glücklichste sieht trübe Stunden; keinem Sterblichen lächelt ewige Sonne. Aber von ihm, dem Glücklichen, darf man mit vollem Rechte fordern, daß er dem Sturm männlichen Mut, Fassung, Resignation, Heiterkeit entgegensetze. Mit Fug darf man fordern, daß das verflossene Glück ein Panzer werde gegen momentane Leiden.“37 Aus diesen Worten spricht eine zunehmende Altersresignation des Vaters, der nicht wissen konnte, daß sein Sohn immer stärker zum Atheismus neigte, aber noch keinerlei revolutionäres Gedankengut entwickelte. Allerdings können diese väterlichen Worte auch als eine treffende Prognose der privaten Leiden von Marx angesehen werden, die seine letzten Lebensjahre verdunkelten. Nachdem Marx’ Vater, wahrscheinlich an einem Leberleiden, am 10. Mai 1838 in Trier gestorben war, blieb Karl noch drei Jahre in Berlin und lebte von dem spärlichen Kapital, das seiner ungeliebten Mutter geblieben war. Sie hatte schließlich noch sechs fast unmündige Kinder zu versorgen und das Vermögen der Familie Marx war nicht so groß, um Karl weiterhin großzügig zu alimentieren. Es bleibt unklar, ob ihn deswegen eine willensmäßige Lähmung ergriffen zu haben schien, zumindest was das Studium anbelangt, das er weitgehend vernachlässigte und offenbar für unwichtig hielt: „Er tat nichts, er schrieb nichts, er verfolgte keinerlei konkretes Ziel.“38 Was mögen die tieferen Gründe dafür gewesen sein? Eines scheint sicher zu sein: Der gebildete Vater war trotz erheblicher Meinungsunterschiede für Marx ein stabiler Fixpunkt gewesen, mit dem er korrespondieren konnte und dessen weise Ratschläge er wenigstens anhören wollte. Jetzt, wo er nicht mehr lebte, mag Karl Marx eine gewisse innerliche Leere verspürt haben, denn zu seiner Mutter fühlte er sich nach wie vor wenig hingezogen. Man könnte beinahe annehmen, daß er sich mit seinem ‚Schicksal‘ als ewiger Student abgefunden hatte und ohne väterlichen Halt vor sich hindöste und seinem Leben das Angenehmste abzugewinnen suchte. Er traf sich regelmäßig in Berlin im Kaffeehaus mit Gleichgesinnten, die sich scherzhaft „Doctorklub“ nannten und in Stralow 37 MEGA. I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (wie Anm. 19), S. 207 (Brief des Vaters an Marx vom 12. August 1837). 38 Leopold Schwarzschild: Der rote Preuße, Stuttgart 1954, S. 48.

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ihre Sitzungen abhielten, weil einige von ihnen promoviert waren und an Gymnasien oder Universitäten Dozentenstellen innehatten, wie der Pastor Bruno Bauer, Privatdozent an der Berliner Universität, der Lehrer an der Dorotheenstädtischen Realschule Karl Friedrich Köppen oder der Jung-Hegelianer Arnold Ruge. „Ruge war kein selbständiger Denker und am wenigsten ein revolutionärer Geist, aber er besaß gerade genug Bildung, Ehrgeiz, Fleiß und Kampflust, um eine wissenschaftliche Zeitung gut zu leiten.“39 Von Charles Secondat de Montesquieu (1689 – 1755) stammt die Aussage: „Man muß viel studiert haben, um wenig zu wissen“, doch auf Marx scheint sie gar nicht zuzutreffen, denn ‚Wissen‘ scheint er in reichem Maße angehäuft zu haben. So gingen die Studentenjahre mit angenehmen Beschäftigungen und mit intellektuellen Anregungen dahin, doch nach fünf Jahren Studium ermahnte ihn dann sein Freund Bauer in Bonn, „daß Du mit dem lumpigen Examen fertig wirst und Dich ganz ungehindert Deinen logischen Arbeiten hingeben kannst“.40 Es waren also weiterhin philosophische Gedanken bzw. altgriechische Denker, mit denen Marx sich beschäftigte und die er zum Abschluß bringen sollte, obwohl seine Berufslaufbahn weiter im Dunkeln lag.

C. In der Philosophie Das ‚lumpige Examen‘ bedeutete damals eine Promotion als erster Studienabschluß, weil es noch keine festgelegten Studiengänge gab, d. h. Marx schrieb eine Dissertation über die griechischen Philosophen Demokrit und Epikur, die er aber nicht in Berlin, sondern trotz der hohen Prüfungsgebühr von 160 Talern in Jena einreichte. Es mag erstaunen, daß der spätere Revolutionär in seiner Dissertation, in der nach Löwenstein „der revolutionäre Geist von Marx spürbar“41 sein soll, sich mit Vorsokratikern auseinandersetzte, doch offenbar hatte das Erlernen der altgriechischen Sprache in ihm mächtig nachgewirkt. Demokrit, der zu den vorsokratischen Philosophen zählt und um 460 v. Chr. geboren wurde, beschäftigte sich mit dem veränderlichen Sein, das er im Unterschied zu Parmenides nicht mehr als 39 F. Mehring: Karl Marx (wie Anm. 8), S. 27. Ganz anders urteilte ein preußischer Polizeibericht aus dem Jahr 1854: „Daß bis Juni 1850 Ruge von Bremen aus für die Umsturzparthei äußerst thätig war, ergiebt sich theils aus dem Inhalt der früheren Bremer Tages-Chronik, theils aus seiner nahen Beziehung zu [Rudolph] Dulon und [Johann Heinrich Dietrich] Rösing, theils aus den bei Dulon saisirten Correspondenzen. Eine Menge Nachrichten in Zeitungen, Aufrufen und Correspondenzen ergeben, daß Ruge das deutsche Mitglied des europäischen Central-Comités der Umsturzparthei zu London ist und in dieser Eigenschaft namentlich viele Proclamationen und Erlasse des gedachten Central-Comités mit unterzeichnet hat. Auch in communistischer Beziehung ist Ruge beachtenswerth.“ (Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen des neunzehnten Jahrhunderts (1854), Berlin 1976, S. 107 (Hervorhebungen im Original). 40 MEGA. I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (wie Anm. 19), S. 234 (Brief von Bruno Bauer an Marx vom 11. Dezember 1839). 41 Julius I. Löwenstein: Marx contra Marxismus (1970). 2. Aufl. Tübingen 1976, S. 12.

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einfach und unwandelbar, sondern als teilbare Einheiten, die Atome, ansah und damit den metaphysischen Atomismus begründete. Epikur, der 341 v. Chr. in Samos geboren wurde und von dem nur schriftliche Fragmente erhalten sind, entwickelte eine Lehre über ein glückliches und lustvolles Leben ohne Schmerz und Leid, den Eudämonismus, wobei er sich auf die Wahrnehmungslehre Demokrits stützte. Über diese beiden Denker schrieb Marx seine Dissertation – was keineswegs sehr ungewöhnlich war, da die griechische Antike gerade in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert sehr geschätzt wurde – und reichte sie an der Universität Jena ein. In dieser Arbeit hat er bereits in bewußter Zuspitzung gegenüber Plutarch, der Epikur Gottlosigkeit vorgeworfen hatte, atheistische Vorstellungen entwickelt und sich offen zum Atheismus bekannt. „Die Beweise für das Dasein Gottes sind entweder nichts als hohle Tautologien … [oder wer] einen Wendengott den alten Griechen gebracht, hätte den Beweis von der Nichtexistenz dieses Gottes gefunden“.42 Das braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden, denn man kann es leicht nachlesen, aber gewiß wirkte die Kritik von David Friedrich Strauß vom mythischen Gehalt der Evangelien in seinem Buch Das Leben Jesu (1835/36) nach und wurde umfassend diskutiert. Im Großherzogtum Weimar gab es damals die seltene Möglichkeit, eine Dissertation mit den Gutachten per Post an eine dortige Universität zu schicken und wenige Tage später das Doktordiplom zu erhalten. Dadurch wurde ein üblicherweise langes Verfahren auf wenige Tage abgekürzt, was auch bedeutete, daß man inhaltlich auf eine solche Arbeit nicht gründlich eingehen konnte. Marx sandte also am 6. April 1841 seine Dissertation, Gutachten und einen Bewerbungsbrief an den Dekan der philosophischen Fakultät der Universität Jena, der neun Tage später die Doktorurkunde für Carolus Enricus Marx, Trevirensis, unterzeichnete.43 Eine gründliche Prüfung der Arbeit kann also gar nicht stattgefunden haben und der Universität Jena ging es wohl vor allem um die Prüfungsgebühr, die im voraus entrichtet werden mußte, um Betrügereien zu unterbinden. Es erscheint mir als eine ungerechtfertigte und unhaltbare Übertreibung, von dieser Dissertation zu behaupten: „Somit ließ sich Marx schon in seinen ersten wissenschaftlichen Untersuchungen nicht von abstrakten, rein theoretischen Interessen, sondern von der Notwendigkeit leiten, eine Weltanschauung zu finden, die ihm die quälende Frage beantworten konnte, wie man den Menschen aus der Unterordnung lösen, ihn frei machen könne.“44 Zweifellos stellte Marx sich nun die Frage, was für einen Berufsweg er als promovierter Philosoph einschlagen und wenigstens einigermaßen seinen Lebensunterhalt bestreiten könnte. Nach diesem erfolgreichen Verfahren hätte er gerne eine Universitätslaufbahn als Philosoph angestrebt, wozu er sich nach den damals üblichen Gepflogenheiten an deutschen Universitäten habilitieren mußte, aber dazu bedurfte es einer gedruckten wissenschaftlichen Arbeit, auch die 42 Karl Marx: Kritik der plutarchischen Polemik gegen Epikurs Theologie, in: MEW. Ergänzungsband. 1. Teil, Berlin 1977, S. 371 (Hervorhebung im Original). 43 Vgl. MEGA. 1. Abt., Bd. 1,2 (wie Anm. 40), S. 256. 44 P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (1973). 7. Aufl. Berlin 1984, S. 33.

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Dissertation, um die Lehrerlaubnis, die venia legendi, zu erhalten. Auch in dieser Hinsicht waren die damaligen akademischen Gepflogenheiten ungewöhnlich, denn die gleichen Ausführungen ermöglichten ungedruckt bzw. gedruckt zu dem Erwerb von zwei Titeln: dem Doktorgrad und der Habilitation! Diese zwei Fliegen mit einer Klappe als Bucheinband zu schlagen, war Marx natürlich hochwillkommen. Bruno Bauer, der Frontmann der Berliner Junghegelianer, dessen Kritik an David Friedrich Strauß‘ Leben Jesu ihn bekannt und zu einem Schützling des Kultusministers Karl Frh. vom Stein zum Altenstein gemacht hatte, war nämlich eine theologische Professur an der Universität Bonn in Aussicht gestellt worden, und wenn Marx erst einmal habilitiert sei, könne er als Privatdozent in Bonn mit ihm zusammenarbeiten; eine phantastische Idee. Ein solches Angebot mußte dem angehenden Philosophen nicht nur verlockend vorgekommen sein, sondern bedeutete fast die Erfüllung langersehnter Träume, da er ja ansonsten keiner Beschäftigung nachging und wahrscheinlich auch nicht nachgehen wollte, weil er sich immer noch in einem geistigen Selbstfindungsprozeß befand. Marx bereitete deshalb unverzüglich seine Dissertation zum Druck vor und schrieb dafür zwei Widmungsblätter, die er seiner Arbeit voranstellen wollte und die vom Drucker probeweise gesetzt wurden. Das erste Blatt lautete: „Seinem teuern väterlichen Freunde, dem Geheimen Regierungsrate Herrn Ludwig von Westphalen zu Trier widmet diese Zeilen als ein Zeichen kindlicher Liebe der Verfasser.“45 Diese Widmung war schon eigentümlich genug, denn Marx war ja kein Kind mehr und Ludwig von Westphalen hatte sich mit antiker Philosophie nachweislich nicht beschäftigt; vielleicht hatten sie darüber diskutiert. Doch Widmungen haben so ihre eigenen ‚Gesetze‘ – heute kann man in gedruckten Büchern sogar solche entdecken, die dem eigenen Hund oder der eigenen Katze gelten! Die zweite Widmung – bei der man sich fragen muß, warum sie Marx überhaupt für nötig hielt, denn üblicherweise begnügte man sich mit einer Widmung – galt ebenfalls seinem Schwiegervater in spe Westphalen und enthüllt schon eher die versteckte Absicht des Autors: „… Möchten alle, die an der Idee zweifeln, so glücklich sein als ich, einen jugendstarken Greis zu bewundern, der jeden Fortschritt der Zeit mit dem Enthusiasmus und der Besonnenheit der Wahrheit begrüßt und mit jenem überzeugungstiefen, sonnenhellen Idealismus, der allein das wahre Wort kennt, vor dem alle Geister der Welt erscheinen, nie vor den Schlagschatten der retrograden Gespenster, vor dem oft finstern Wolkenhimmel der Zeit zurückbebte, sondern mit göttlicher Energie und männlich-sicherm Blick stets durch alle Verpuppungen hindurch das Empyreum schaute, das im Herzen der Welt brennt …“! Westphalen hat diese Widmung nie zu Gesicht bekommen, doch offensichtlich wollte Marx mit dieser weitgehend sprachlichen Suada, die ganz im Stile des unverständlichen Philosophen Hegel abgefaßt war, Ludwig von Westfalen imponieren, damit dieser sich nicht gegen seine Heirat mit der Tochter Jenny sträubte und vielleicht glaubte, daß sein zukünftiger Schwiegersohn ein tiefgründiger oder gespensterverscheuchender Philosoph sei. 45

MEW. Ergänzungsband. 1. Teil, Berlin 1977, S. 259. Das nächste Zitat auf S. 260.

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Wenn diese Absicht dahinter gestanden haben sollte, ging die wohl kalkulierte Rechnung allerdings nicht auf, aber nichts spricht dafür, daß sich in diesem Loblied auf Westphalen „auch eine politische und religiös-philosophische Polemik“46 ausdrückte, denn weder politische noch philosophisch-religiöse Anspielungen kann man darin entdecken, höchstens mühsam hineininterpretieren. Wie dem auch sei, Marx hatte sich verkalkuliert, das ganze Buch wurde nämlich gar nicht gedruckt, weil der Theologe Bauer, den der todkranke Stein zum Altenstein im Herbst 1839 wegen einer möglichen Hetzjagd gegen ihn durch eine rechtgläubige Orthodoxie an die Bonner Universität versetzen ließ, in seinen Vorlesungen seinen atheistischen Anschauungen freien Lauf gelassen hatte. Darauf lehnte die theologische Fakultät in außerordentlicher Empörung seine Bewerbung für eine Professur einstimmig ab, was man durchaus nachvollziehen kann. Es war ja eigentümlich genug, daß Bauer glaubte, er könne trotz seines offen propagierten Atheismus eine Professur an einer theologischen Fakultät erhalten, so als wäre Gott für Theologen nur Schall und Rauch und das Alte Testament ein antikes Märchenbuch, während sogar Strauß einen geschichtlichen Kern der Evangelien anerkannte, auch wenn er deren mythische Bestandteile aus den Vorstellungen der ersten christlichen Gemeinden ableitete. Mit dieser Ablehnung Bauers war auch die akademische Karriere von Karl Marx als Philosoph gestorben und die persönliche Enttäuschung auf einem dramatischen Höhepunkt angelangt, von der er sich nicht so bald erholte, selbst wenn Bauer in hanebüchener Selbstüberschätzung die größte Katastrophe ankündigte und gegen seine Suspension in Berlin einen Prozeß anstrengte. Es scheint deshalb wenigstens in dieser Zeit nicht der Realität zu entsprechen, daß Marx in der akademischen Welt einer Universität keine Zukunft gesehen hätte, denn er hatte sich ja intensiv auf ein solches Vorgehen eingelassen: „Es drängte ihn aufgrund seiner wissenschaftlichen Selbsteinschätzung zum politischen Handeln.“47 Dafür spricht kein einziges Argument, denn warum hätte er das Angebot Bauers dann überhaupt in Erwägung gezogen, wenn für ihn damals politisches Eingreifen in Frage gekommen wäre? Nachdem Bauer in Bonn Vorlesungen über die Kritik der protestantischen Theologie und das Leben Jesu angekündigt hatte, schrieb er am 5. April 1840 an Marx: „Die Katastrophe wird furchtbar und muß eine große werden, und ich möchte fast sagen, sie wird größer und ungeheurer werden, als diejenige war, mit der das Christentum in die Welt getreten ist. Und hier sollte man mit den Lumpen sich in persönliches, unendliches Disput einlassen?“48 Bekanntlich hat sich der römische Kaiser Konstantin I. nach der Schlacht an der Milvischen Brücke 312 n. Chr. zum Gott der Christen bekannt und mit dem Toleranzedikt ein Jahr später die christliche mit den antiken Religionen gleichgestellt. Hatte Bauer mit der Katastrophenwarnung etwa gemeint, seine Vorlesungen könnten die politischen ‚Lumpen‘ der preußisch-protestantischen Regierung stürzen? Waren die damaligen Philoso46 47 48

Jonathan Sperber: Karl Marx, München 2013, S. 81. Wolfgang Schieder: Karl Marx als Politiker, München/Zürich 1991, S. 21. MEGA. I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (wie Anm. 19), S. 241.

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phen oder Theologen so realitätsblind, daß sie den Geist der Zeit nicht erkennen konnten? Im gleichen Jahr, am 7. Juni 1840, starb der volkstümliche, aber immer stärker restaurativen Tendenzen der Heiligen Allianz zwischen Rußland, Preußen und Österreich zuneigende preußische König Friedrich Wilhelm III. sowie wenig früher, am 14. Mai, sein einflußreicher Kultusminister Karl Frh. vom Stein zum Altenstein, dessen Nachfolger der erzkonservative Johann Albrecht Friedrich Eichhorn (1779 – 1856) wurde. Hinter der Ablehnung von Bauers Professur konnte in den Augen der beiden Atheisten doch nur eine bösartige Verschwörung feindlicher Mächte stecken, Gottgläubige im Berliner Kultusministerium und feige Unterwürfigkeit der Bonner Theologen, obwohl der neue König Friedrich Wilhelm IV. nach seiner Thronbesteigung politischen Gefangenen Amnestie gewährte. Marx’ extreme Religionsfeindschaft und sein verdammender Atheismus schienen voll bestätigt worden zu sein, aber der politische Kampf ruhte noch im Kokon eines revolutionären Schmetterlings, auch wenn Wolfgang Schieder eine andere Interpretation nahelegen will. „Im Juli 1841 übersiedelt Marx nach Bonn; er trifft dort auf Moses Hess und Georg Jung, die ihn zu den Vorbereitungen der Gründung der ‚Rheinischen Zeitung‘ heranziehen.“49 Es hatte fast den trügerischen Anschein, als könnte Marx nach ausgiebigen Studien eine bürgerliche Existenz beginnen, die in ganz normalen Bahnen verlaufen sollte. Eine bürgerliche Existenz rückte jedoch für Marx in immer weitere Ferne, denn ganz allmählich scheint sich bei ihm die Vorstellung durchgesetzt zu haben, daß nur etwas Außergewöhnliches ihn in das Rampenlicht der Geschichte katapultieren könnte. Wir wissen nicht genau, seit wann Marx einen Vollbart trug, der auf vielen Bildern seiner späten Jahre zu einem revolutionären Markenzeichen wurde. (Erst bei seinem Kuraufenthalt in Algier im Frühjahr 1882 scheint sich Marx wegen der großen Hitze den „Prophetenbart“ hat abrasieren lassen).50 Doch heute wissen nur noch wenige, daß vor der 1848er Revolution das Tragen eines Vollbarts verpönt und teilweise verboten war, d. h. ein äußerliches Symbol für einen aufrührerischen Geist darstellte. Der deutsche Ökonom und Politiker Ludwig Bamberger (1823 – 1899), der 1849 mit den pfälzischen Freischärlern kämpfte und danach zuerst in die Schweiz und dann nach England flüchtete, informiert uns darüber, daß es zur damaligen Zeit nur erlaubt war, einen Backenbart zu tragen und beim Militär höchstens einen Schnurrbart: „Die Revolution des Jahres 1848 legte den Grund zur Umwälzung. Die Radikalen gaben das Beispiel; auch in Deutschland war damals der Vollbart noch ein Anzeichen staatsgefährlicher Meinungen. In der Armee war er in Preußen verpönt; in Österreich durften die Offiziere sogar keinen Schnurrbart tragen. In Frankreich war es den Advokaten verboten. Erst die dritte Republik erkannte ihnen dies Mannesrecht zu. In England brach der Krimkrieg

Andreas Arndt: Karl Marx (1985). 2. Aufl. Berlin 2012, S. 24. Vgl. Hans Jürgen Krysmanski: Die letzte Reise des Karl Marx, Frankfurt am Main 2014, S. 11 f. 49

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den Zauber. Von da erst datiert die Ära der growing mustaches.“51 Die weitere Karriere Bambergers zeigt die politische Zerrissenheit dieser Epoche: Als Mitglied der Nationalliberalen Partei wurde er finanzpolitischer Berater Bismarcks und nach 1871 Mitbegründer der Deutschen Reichsbank sowie der Münzreform, doch nach 1881 wandte er sich als Deutschfreisinniger gegen die Bismarcksche Schutzzollund Kolonialpolitik. Bamberger, der wie Marx 1849 nach London flüchtete, um nicht in Deutschland verhaftet und eventuell zum Tode verurteilt zu werden, dort aber mit seinem Mitvollbartträger nur wenig in Kontakt kam, mußte noch erleben, daß korrekte Engländer „eine wahre Abscheu vor einem unrasirten Gesicht“ hatten. Selbst wenn Marx sich seinen Vollbart noch vor 1848 wachsen ließ, so waren seine revolutionären Vorstellungen in Köln noch wenig bis gar nicht entwickelt und er mußte sich erst einmal in die gesellschaftlichen Zustände hineindenken, die er während seiner Studienzeit nur oberflächlich kennengelernt hatte. Zweifellos ging diese Periode des Vormärz schwanger mit philosophisch, religiös und ökonomisch umwälzenden Veränderungen, die sich bereits in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts angebahnt hatten, aber nach der Neuordnung der mitteleuropäischen Landkarte auf dem Wiener Kongreß in politischen Bewegungen ihren Niederschlag fanden. Die wachstumsfördernde Industrialisierung in dem zentralistischen Kolonialstaat Großbritannien konnte in ‚Deutschland‘ mit seinen 38 Zwerg-, mittelgroßen und wenigen großen Staaten, die alle auf ihrer politischen Souveränität beharrten, im Deutschen Bund nach 1815 – trotz des am 1. Januar 1834 gegründeten Deutschen Zollvereins, dem nicht alle deutschen Staaten angehörten52 – nicht auf gleiche Weise nachgeahmt werden. Deswegen traten in deutschen Regionen ökonomische Diskrepanzen auf, die dazu beitrugen, daß kritische Stimmen gegen eine Industrialisierung lauter wurden. Das enge politische Bündnis von Monarchie und Kirche in den führenden politischen Mächten im Deutschen Bund, nämlich dem überwiegend protestantischen Preußen sowie dem überwiegend katholischen Österreich, führte zu aufsehenerregenden, kritischen Veröffentlichungen über die Bibel und die Religion, etwa durch Bruno Bauer, Ludwig Feuerbach oder David Friedrich Strauß. So schrieb etwa Bruno Bauer am 1. März 1842 an Arnold Ruge: „Dass unsere protestantischen Theologen Lumpen sind im Vergleich mit den Jesuiten, die in klassischer Weise die Aufklärung in ihrer religiösen Form ausgebildet haben, sie also auch unsere Lumpen an Frivolität übertreffen.“53 Damit wollte er keineswegs die katholischen Jesuiten gegen die protestantischen Theologen ausspielen, sondern lediglich seinen atheistischen Gefühlen einen emotionalen Ausdruck verleihen. Die politisch einflußreiche Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels begann sich bereits kurz nach seinem Tod am 14. November 1831 in einen Links- und 51 Ludwig Bamberger: Erinnerungen, Berlin 1899, S. 217 (Hervorhebung im Original). Dort auch das nächste Zitat. 52 Vgl. Hubert Kiesewetter: Industrielle Revolution in Deutschland, Stuttgart 2004, S. 41 ff. 53 Arnold Ruge: Nachgelassene Briefe 1832 – 1880, Amsterdam/Aalen 2013, S. 135.

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2. Kap.: Karl Marx’ intellektuelle Spurensuche

Rechtshegelianismus aufzuspalten, aus denen verschiedene sozialistische Strömungen hervorgingen, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts weiter verästelten und von kommunistischen bis antisemitischen Vertretern getragen wurden. Constantin Frantz, Ferdinand Freiligrath, Karl Gutzkow, Friedrich Hebbel, Moses Hess, Ferdinand Lassalle, Rudolf Virchow, Richard Wagner oder Wilhelm Weitling sind nur wenige Namen für das weite Spektrum intellektueller Aufbruchsstimmungen, mit denen Marx konfrontiert wurde. Der Jurist und bis 1828 vortragender Rat im preußischen Ministerium des Handels und Gewerbes, Carl Wilhelm Ferber (1766 – 1838), wollte wenigstens die deutsche Nation darüber aufklären, was das gewerbefleißige Preußen noch zu leisten imstande sei: „Moegen andere wohlmeinende Maenner sich aufgerufen fuehlen, für ihre Staaten das zu thun, was der Verfasser dieser Beitraege für den Preußischen zu thun versuchte. Mag der Deutsche Stolz neues Leben, die Wahrheit ihr Recht und Europa endlich die langersehnte Ruhe erhalten.“54 Die internationale politische Situation war nicht weniger dramatisch, wie ein Beispiel aus einer von Deutschland weit entfernten Region verdeutlichen kann. In Marx’ 20. Lebensjahr, 1838, wurden in China illegale britische Opiumlager – Opium wurde aus der britischen Kolonie Indien nach China eingeführt – vernichtet, worauf England einen „Opiumkrieg“ zur wirtschaftlichen Unterwerfung Chinas begann, der erst am 29. August 1842 mit einem ‚Friedensvertrag‘ von Nanking siegreich beendet wurde, weil die britische Flotte der chinesischen haushoch überlegen war. In Deutschland entwickelte sich nach der Reichsgründung 1870/71 ein zum Rassismus anschwellender Antisemitismus, der einer angeblich jüdisch verseuchten Presse die perfide Propaganda unterstellte, „dass der deutsche Michel alle deutschen Socialdemokraten für identisch mit Kommunisten, Petroleuren, Mördern und Mordbrennern hält“.55 Gegen diesen Ansturm einer fremdländischen und deutschfeindlichen Minderheit müsse sich das christliche Deutschland mit allen Mitteln wehren, damit seine ureigensten Interessen gewahrt blieben.

54 Carl Wilhelm Ferber: Neue Beitraege zur Kenntniß des gewerblichen und commerciellen Zustandes der Preußischen Monarchie, Berlin 1832, S. 199. 55 Neu-Palästina. 2. Aufl. Berlin 1879, S. 14.

3. Kapitel

Das atheistische und politische Lehrjahr bei der Rheinischen Zeitung 3. Kap.: Das atheistische und politische Lehrjahr bei der Rheinischen Zeitung 3. Kap.: Das atheistische und politische Lehrjahr bei der Rheinischen Zeitung

Wir wissen nicht genau, wie Marx seine damalige persönliche Situation einschätzte, weil er sich dazu nicht detailliert in Briefen oder Aufzeichnungen geäußert hat. Um die in einigen deutschen Regionen beginnende Industrialisierung kümmerte er sich gar nicht, wahrscheinlich registrierte er sie nicht einmal, und mit englischen oder französischen sozialistischen Schriftstellern war er ebenfalls wenig vertraut. Seine noch vorhandene Sympathie zum Linkshegelianismus ließ bei ihm den gescheiterten Plan reifen, mit Ludwig Feuerbach eine Zeitschrift Archiv des Atheismus herauszugeben und als diese nicht zustande kam, arbeitete er in Bonn an Bruno Bauers Schrift Die Posaune des Jüngsten Gerichts über Hegel, den Atheisten und Antichristen mit, die bald darauf verboten wurde. Bauer war wegen seiner Evangelienkritik auch beim neuen Kultusminister Eichhorn in Ungnade gefallen, den die protestantische Lehrfreiheit wenig kümmerte und der alle preußischen theologischen Fakultäten anwies, eine Anstellung Bauers zu verhindern; außer Halle und Königsberg duckmäuserten sie. Der noch vor seiner Thronbesteigung als „aufgeklärt“ angesehene neue preußische Monarch Friedrich Wilhelm IV. geriet in ein zunehmend reaktionäres Fahrwasser und Tendenzen eines preußischösterreichischen Absolutismus trotz einer gemäßigten Pressefreiheit mit einem gemilderten Zensuredikt gewannen die Oberhand. Wie Bruno Bauer geriet auch der in Königsberg geborene Sohn jüdischer Eltern, Johann Jacoby (1805 – 1877), der seit 1830 in seiner Geburtsstadt als Arzt tätig war, in Konflikt mit der preußischen Zensur. Er hatte 1841 in Mannheim eine Broschüre Vier Fragen beantwortet von einem Ostpreußen veröffentlicht, in der er die Einlösung des Versprechens König Friedrich Wilhelm III. von 1815 einforderte, dem preußischen Volk eine repräsentative Verfassung zu geben. Daraufhin wurde er vom Berliner Kriminalgericht wegen Hochverrats und Majestätsbeleidigung zu zweieinhalb Jahren Festungshaft verurteilt, doch das Obertribunal hob das Urteil 1843 auf, was den König gewiß verärgerte. Friedrich Wilhelm IV., der seine Regentschaft als Gottesgnadentum ansah, die nicht durch aufrührerische Aktivitäten wie im Jahr 1830 gestört werden durfte, war nur noch bereit, Provinziallandtage einzuberufen. Etwa den Rheinischen Landtag 1841, nach vier Jahren Unterbrechung, der jedoch wenig beschließen konnte und eigentlich ein Scheinparlament war, auch weil die Ritterschaft über mehr als ein Drittel der Stimmen verfügte. Der Adel blieb in der preußischen Politik dominant und die demokratische Vorstellung, daß einfache Bürger bei Staatsangelegenheiten mitentscheiden dürften oder sogar sollten, war einer monarchischen Herrschaft

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3. Kap.: Das atheistische und politische Lehrjahr bei der Rheinischen Zeitung

völlig fremd. Es bedurfte also vor den 1848er Aufständen persönlicher Courage, sich mit den politischen Instanzen anzulegen. Jacoby geriet noch einige Male während seines Lebens in Konflikt mit der Justiz und mußte mehrere Gefängnisstrafen absitzen, aber er ließ sich nicht entmutigen und als er als Mitglied der Reformpartei im November 1848 die Bildung eines volkstümlichen Ministeriums statt des gerade ernannten Brandenburg-Manteuffelschen, das am 5. Dezember 1848 die oktroyierte Verfassung unterzeichnete, forderte, schleuderte er dem König die Worte entgegen: „Das eben ist das Unglück der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören wollen.“1 Wir haben dieses eine Beispiel hier kurz angeführt, um zu zeigen, daß Marx mit seinen Protesten keineswegs allein war und es in deutschen Staaten viele Formen der Unzufriedenheit mit der Obrigkeit gab. Von einem politischen Kämpfer war Marx noch weit entfernt, auch wenn er die Zensurinstruktion der preußischen Regierung vom 24. Dezember 1841 anonym heftig kritisierte:2 „Die eigentliche Radikalkur der Zensur wäre ihre Abschaffung; denn das Institut ist schlecht, und die Institutionen sind mächtiger als die Menschen.“3 In den fünf Monaten seiner bezahlten Beschäftigung bei der Rheinischen Zeitung entwickelten sich bei Marx erste vage Vorstellungen über sein politisches Engagement, die allerdings in keinerlei Beziehung standen zum Industrialisierungsprozeß, sondern seine Kritik der christlichen Religion fortschrieben.

A. Die Anstellung Den revolutionären Flügeln wurden schon deshalb emotionale Fesseln angelegt, weil Marx nun in der Nähe seiner Verlobten Jenny von Westphalen weilte, deren familiäre Bindungen ein allzu stürmisches Vorgehen ausschlossen, wenn er seine Ehe mit Jenny nicht gefährden wollte. Doch Kompromisse zu schließen, gehörte nicht zu den Intentionen von Marx, wie wir noch öfter hören werden, aber seine berufliche Lage war äußerst ungewiß. Die oft geäußerte Vermutung, daß Marx ein Betätigungsfeld bzw. eine Tribüne für seine revolutionär-demokratischen Ansichten suchte, entspricht in keiner Weise seiner damaligen Situation. Herr Dr. Karl Marx, bald 24 Jahre alt, mußte sich nun nämlich um eine andere Beschäftigung als ‚logisches Arbeiten‘ kümmern, da er auf irgendeine Weise seinen Lebensunterhalt verdienen mußte. Da traf es sich gut, daß ab 1. Januar 1842 in Köln die Rheinische Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe (RZ), die liberale Kaufleute mit einem Startkapital von 30.000 Talern à 1.200 zu 25 Talern gegründet hatten, mit dem Erscheinen begann und Marx eine bezahlte Betätigung ermöglichte, die er 1 Stephan Born: Erinnerungen eines Achtundvierzigers (1898), Berlin/Bonn 1978, S. 12, konnte sich an den Wortlaut wohl nicht mehr erinnern und zitierte Jacobys Aussage so: „Es ist der Fluch der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören können.“ 2 Vgl. [Karl Marx]: Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion, in: MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 3 – 25. Vom 15. Januar bis 10. Februar 1842 geschrieben, aber erstmals in der Schweiz im Februar 1843 von Arnold Ruge veröffentlicht. 3 Ebd., S. 25 (Hervorhebungen im Original).

A. Die Anstellung

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vom 15. Oktober 1842 bis 17. März 1843 wahrnahm.4 Unter den Initiatoren dieses Zeitungsunternehmens befand sich neben Ludolf Camphausen, David Hansemann sowie die beiden Junghegelianer Georg Jung und Dagobert Oppenheim als Redakteure auch Gustav Mevissen (1815 – 1899). Mevissen hatte 1841 ein Bankgeschäft in Köln eröffnet, war Präsident der Rheinischen Eisenbahn sowie Vorsitzender der Kölner Handelskammer und leitete später als Direktor den Schaaffhausenschen Bankverein, der für die rheinländische Industrialisierung große Bedeutung erlangte. Dieser politisch sehr interessierte Unternehmer wurde 1847 in den Vereinigten Landtag und 1848 als liberaler Politiker in die Deutsche Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche gewählt und wird deshalb Marx’ weitere Entwicklung mit Interesse verfolgt haben, nicht nur weil er historisch und wissenschaftlich am Puls seiner Zeit lebte. Es war allerdings gar nicht so einfach, in der Rheinprovinz geeignete Redakteure für diese Zeitung zu finden, weshalb diese kapitalistischen Liberalen sich an Junghegelianer wandten und zuerst den Augsburger Gustav Höfken und den Berliner Adolf Rutenberg, den Schwager Bruno Bauers, als Redakteure anstellten, obwohl Letzterer als „fürchterlicher Revolutionär“5 angesehen und deshalb von der Polizei bespitzelt wurde. Mit dieser neuen Rheinischen Zeitung, die weder auf zustimmende Resonanz bei den Berliner Behörden noch beim rheinischen Oberpräsidenten stieß – der dadurch die rheinpreußischen Bürger in politische Unruhe versetzt sah, weswegen er die Zeitung scharf überwachen wollte –, sollte ein politisches Gegengewicht gegenüber der Kölnischen Zeitung (KZ) geschaffen werden. Die KZ vertrat katholische Interessen, denn das Rheinland war ja im Gegensatz zum sonstigen Preußen überwiegend katholisch, und sie lag mit der protestantischen preußischen Regierung über Kreuz. Dieser preußischen Regierung in Berlin war ohnehin das katholische Rheinland suspekt, denn es war damals noch nicht vorauszusehen, daß Rheinland und Westfalen sich in den nächsten Jahrzehnten zu den bedeutendsten Industrieregionen Deutschlands entwickelten, ja sogar mit der Kohlen- und Stahlindustrie, dem Ruhrkonglomerat, alle anderen europäischen Industrieregionen überflügelte. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die ‚protestantische‘ Rheinische Zeitung vom Berliner Ministerium sofort eine provisorische Konzession für ein Jahr erhielt, denn man konnte ja auch mit Zeitungen ‚Politik‘ machen. Während dieser Zeit überprüfte der preußische Zensor allerdings die geschriebenen Artikel; die Zeitung stellte nach erhaltener Konzession junge Kölner Intellektuelle als Redakteure ein, die allerdings ihre Artikel nicht mit eigenem Namen unterzeichnen durften. 4 In dem im August 1841 ausgegebenen Prospekt für diese Zeitung wurde davon ausgegangen, daß sich das eingezahlte Kapital mit fünf Prozent verzinsen könnte, d. h. Ausgaben von 17.641 Talern Einnahmen von 18.025 Talern gegenüberstünden. „Bei 4000 Abonnenten betrüge der jährliche Gewinn, nach Abzug der Zinsen, 6435 Taler.“ (Zitiert in: Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830 – 1850. 1. Bd., herausgegeben von Joseph Hansen. Neudruck Osnabrück 1967, S. 295, Anm. 1). 5 Franz Mehring: Karl Marx (1918). 5. Aufl. Berlin 1983, S. 46. Über diese unter Marxisten umstrittene Biographie vgl. Konrad Löw: Der Mythos Marx und seine Macher (1996). 3. Aufl. München 2001, S. 171 ff.

3. Kap.: Das atheistische und politische Lehrjahr bei der Rheinischen Zeitung

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Auch Marx, wieder in der Nähe seiner Verlobten in Trier, wo seine Mutter jedoch von ihm verlangte, auf eigenen Füßen zu stehen und nicht von ihrer schmalen Rente zu leben, wurde aufgefordert, gelegentlich Artikel für die Zeitung zu schreiben, aber er hatte damit keine Eile. An Arnold Ruge schrieb er am 9. Juli 1842 einen Entschuldigungsbrief, warum er keine Artikel liefern könne und erwähnte familiäre Schwierigkeiten, die ihn in eine elende Situation brächten: „Ich kann Sie unmöglich mit der Erzählung dieser Privatlumpereien belästigen; es ist ein wahres Glück, daß die öffentlichen Lumpereien jede mögliche Irritabilität für das Private einem Menschen von Charakter unmöglich machen.“6 Zwar war Marx mit journalistischen Tätigkeiten bisher noch nicht in Berührung gekommen, aber sein reger Geist hatte keine Mühe, kritische Artikel aufs Papier zu bringen. In einem Artikel für die RZ vom 9. August 1842 schrieb Marx über die Vertreter der Historischen Rechtsschule, wie Gustav Hugo oder Friedrich Karl von Savigny: „Nur ein Resultat sprechen alle gleich roh aus: Das Recht der willkürlichen Gewalt.“7 Die Zeitung geriet jedoch bald ins Fadenkreuz der preußischen Regierung, denn bereits am 18. Mai 1842 schrieb der preußische Innenminister, Gustav Adolf Rochus von Rochow, in einem Votum, daß die Zeitung ein Partei- und Oppositionsblatt der junghegelianischen Propaganda sei mit einer protestantischen Tendenz, zu der sich kein evangelischer Christ bekennen würde: „Entstellung der Tatsachen, schielende und perfide Darstellung derselben im Lichte und Dienste der eigenen Parteitendenzen, Rücksichtslosigkeiten, Ausfälle gegen das Gouvernement, Verdächtigungen der Absichten und Maßnahmen der Regierung füllen die Spalten dieses Blattes, welches jedes Vorkommnis, in welchem ein Anlaß zu Mißvergnügungen liegen könnte, willkommen heißt und auch übertriebene und lügenhafte Schilderungen als Mittel zur Erregung von Unzufriedenheit zu benutzen sucht.“8 Der engagierte Burschenschaftler und bekannte Junghegelianer Arnold Ruge (1802 – 1880), der wegen seiner burschenschaftlichen Aktivitäten zuerst eine einjährige Haft in Köpenick und dann noch einmal eine fünfjährige auf der Festung Kolberg abgesessen hatte und in Halle mit der Schrift Die Platonische Ästhetik (Halle 1832) habilitiert worden war, war etwa zur gleichen Zeit an Marx herangetreten mit der Bitte, einen Aufsatz für seine 1837 zusammen mit Ernst Theodor Echtermeyer (1805 – 1844) gegründete philosophische Zeitschrift Hallische Jahrbücher für Kunst und Wissenschaft zu verfassen.9 Ruge war ähnlich wie Marx über MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 405. [Karl Marx]: Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule, in: MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 85 (Hervorhebungen im Original). 8 Zitiert in: Rheinische Briefe und Akten, 1. Bd. (wie Anm. 4), S. 338 f. 9 Am Tag des Einzuges Kaiser Wilhelm I. in Berlin, den 16. Juni 1871, erinnerte Stahr Ruge an ihre Jugendjahre zusammen mit Echtermeyer und den Halle’schen Jahrbüchern und richtete an Ruge in Brighton die erstaunlichen Worte: „Und so sende ich, seit vierzig Jahren Dir treu verbunden, heute, an dem Ehrentage unseres Volkes und Vaterlandes, den zu erleben uns beiden Alten, die wir für seine Herbeiführung unser Leben lang nach Kräften gestrebt haben, ein gütiges Geschick vergönnt hat, Dir diesen Freundschaftsgruß aus dem endlich erstandenen geeinten Reiche unseres Volkes über das Meer hinüber!“ (Adolf 6

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A. Die Anstellung

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die antike Philosophie zur Schriftstellerei gekommen, aber er wollte mit der Zeitschriftengründung sogleich auf das politische Geschehen einwirken, auch wenn der Name der Zeitschrift dies nicht vermuten läßt. Marx sollte nach dem Wunsch Ruges das mildere Zensur-Edikt des 1840 an die Regierung gelangten preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. einer kritischen Betrachtung unterziehen, indem er seine ganze logische Schärfe einsetzte, die unter seinen Berliner Freunden wohlbekannt war. Beides, die Zeitungsartikel und die Aufsätze, wurde von Marx auf die lange Bank geschoben, denn nach so langer Abwesenheit von seiner schönen und liebreizenden Jenny gab es für ihn andere Prioritäten als stubenhockerische Bücherweisheit und logisches Sezieren. Außerdem hätte er sich ja in das Thema einarbeiten müssen, denn seine Überlegungen zu Demokrit und Epikur konnten hier kaum Verwendung finden. Zwar wollte seine verzweifelte Mutter das weitere Parasitendasein ihres Sohnes nicht länger dulden und seine Bezüge kürzen bzw. demnächst ganz streichen, weil sie jüngere Kinder zu versorgen hatte, doch das beunruhigte Marx wenig, auch wenn er über fast kein Geld verfügte. Erst am 10. Februar 1842 schickte Marx einen kleinen Artikel über die Zensurinstruktion an Ruge zur Veröffentlichung in den Deutschen Jahrbüchern, der allerdings der Zensur zum Opfer fiel und schließlich in den Anekdota zur neuesten deutschen Philosophie und Publizistik im Literarischen Kontor in Zürich, das Julius Fröbel gegründet hatte, im März 1843 erschien. Ruge war allerdings ziemlich absorbiert von einer preußischen Kabinettsorder, die verlangte, daß seine bei Wigand in Leipzig verlegten Hallischen Jahrbücher sich der preußischen Zensur unterwerfen sollten oder nicht mehr nach Preußen eingeführt werden durften. Darauf übersiedelte Ruge nach Dresden und gab dort am 1. Juli 1841 seine Zeitschrift als Deutsche Jahrbücher heraus, die dann 1843 von der sächsischen Regierung verboten wurden. Ruge konnte also zunächst Marx wenig Hilfestellung leisten, der weit entfernt in Köln bzw. Kreuznach selbst zurechtkommen mußte. Dieser beklagte sich allerdings bei Ruge weiter über seine finanziellen Schwierigkeiten – die damals begannen und über allen Revolutionsenthusiasmus bis an sein Lebensende anhielten – und bezeichnete das Verhalten seiner Mutter als eine „Lumperei“, weswegen er unfähig sei, etwas zu Papier zu bringen: „Ich bin, wie ich Ihnen schon einmal geschrieben, mit meiner Familie zerfallen und habe, solang meine Mutter lebt, kein Recht auf mein Vermögen.“10 Welch ein elendes Lebensschicksal für einen 24jährigen Mann, der promoviert war und dem die Welt eigentlich offen stand, der aber offenbar noch nicht wußte, was man mit einem solch vermögenslosen Leben anfangen sollte! Das sollte sich bald gründlich ändern.

Stahr: Kleine Schriften zur Litteratur und Kunst. 1. Bd. Berlin 1871, S. VI (Hervorhebung im Original). 10 MEGA. I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (1929). Neudruck Glashütten im Taunus 1970, S. 294 (Brief vom 25. Januar 1843). Es heißt dort weiter: „Ich bin ferner verlobt und kann und darf und will nicht aus Deutschland ohne meine Braut … In Deutschland kann ich nichts mehr beginnen. Man verfälscht sich hier selbst.“

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3. Kap.: Das atheistische und politische Lehrjahr bei der Rheinischen Zeitung

B. Der Protegé Moses Hess Der rheinische Kaufmannssohn Moses Hess (1812 – 1875), der 1841 das Buch Die europäische Triarchie11 veröffentlicht hatte und mit seinem 1862 erschienenen Werk Rom und Jerusalem12 zum Vorläufer des Zionismus und der Forderung nach einem eigenen sozialistischen Staat für die Juden wurde, spielte als Autor und Mitbegründer der Rheinischen Zeitung unter Kölner Intellektuellen eine hervorragende, ja herausragende Rolle. Hess hatte sich von den damals weitverbreiteten sozialistischen Gedanken französischer Provenienz anstecken lassen; er war es auch, der für Marx eine entscheidende berufliche und intellektuelle Wende einleitete, die dieser aber später keines Dankes für würdig befand. Als Hauptvertreter des ‚philosophischen Sozialismus‘ war Hess zwischen 1845 und 1848 in Brüssel und Paris eifrig darum bemüht, kommunistische Gruppen von seinen Vorstellungen zu überzeugen. Friedrich Engels nannte Hess einige Jahre danach, der ihn von der Notwendigkeit des Kommunismus überzeugt hatte, „the first communist of the party“.13 Doch die ‚kommunistische‘ Weltanschauung von Hess entsprang der inneren Überzeugung, den Armen zu helfen, während Marx im Sommer 1843 Sozialist geworden war, um sich an den Mächtigen zu rächen und mit einer Arbeiterrevolution das ganze kapitalistische System zu zerstören. Welche egoistischen Gründe ihn dazu bewogen hatten, werden wir noch hören, doch in dieser frühen Phase spielte Hess für die weltanschauliche Festigung von Marx eine entscheidende Rolle. Es war allerdings abzusehen, daß zwischen Marx, Engels und Hess ein harmonisches Verhältnis nicht lange aufrechtzuerhalten war, denn die Ansichten von einer sozialen Umgestaltung der Gesellschaft klafften meilenweit auseinander, je intensiver Marx und Engels die Zerstörung des kapitalistischen Systems propagierten. Diese marxistische Auffassung wurde auch noch zwei Jahrzehnte nach Gründung der Deutschen Demokratischen Republik von Vertretern des Marxismus-Leninismus geäußert, die eine gesellschaftliche Umgestaltung nur durch „Kritik des revolutionären bewaffneten Proletariats“14 für möglich hielten, doch Hess hatte eine solche Strategie stets abgelehnt. Zufälle spielen zwar im menschlichen Leben eine große Rolle, aber wenn zufällige Begegnungen von wesensfremden Menschen zur gedeihlichen Zusammenarbeit führen sollen, bedarf es mehr als den Zufall, nämlich notwendige Toleranz für die Andersartigkeit. Das Begriffspaar Zufall und Notwendigkeit findet seine heuristische Anwendung eher in biologischen Theorien als in menschlichen Verhaltens11 Vgl. Moses Hess: Die europäische Triarchie (1841). Reprint Amsterdam 1971. Hess meinte mit der ‚europäischen Triarchie‘ Deutschland, Frankreich und England. 12 Vgl. Moses Hess: Rom und Jerusalem. Verkürzt, neugeordnet und eingeleitet von Theodor Zlocisti, Tel Aviv 1939. 13 Zitiert in: MEGA. I. Abteilung, Band 2 (1930). Neudruck Glashütten im Taunus 1970, S. LXXVII (Einleitung). 14 Ideologie und Naturwissenschaft, hrsg. von Georg Domin und Reinhard Mocek, Berlin 1969, S. 31.

B. Der Protegé Moses Hess

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weisen, wo zufällige gegenüber notwendigen Entscheidungen meistens überwiegen. Doch warum war Marx so radikal und dogmatisch? Ein echtes Gespür für eine tolerante Einstellung gegenüber Andersdenkenden scheint Marx nie entwickelt zu haben, sondern sein Dogmatismus führte zu einer egoistischen Selbstbespiegelung, die lediglich nach ideologischen Bestätigungen seiner revolutionären Gedanken Ausschau hielt. Dies trifft auch auf das Verhalten gegenüber Moses Hess zu, der anfänglich von Marx’ Gegnerschaft überrascht war und sie nicht erklären konnte. Von der anfänglichen Verehrung für und Zuneigung zu Hess war nämlich bald nichts mehr zu spüren, nachdem dieser sich von den extremen revolutionären Ansichten von Marx und Engels distanziert hatte, die er nicht als zielführend ansah und die seinem Weltbild diametral widersprachen. Mit zunehmender Dauer der Bekanntschaft wurden die gegenseitigen Angriffe verletzender und unversöhnlicher. Engels schrieb am 15. Januar 1847 an Marx: „Ich habe mir hier in Paris einen sehr unverschämten Ton angewöhnt, denn Klimpern gehört zum Handwerk … Aber dies genotzüchtigte Exterieur des ehemals so welterschütternden Überfliegers Heß hätte mich fast entwaffnet … Genug, er ist von mir so kalt und spöttisch behandelt worden, daß er keine Lust haben wird wiederzukommen.“15 Die menschlichen Abgründe gegenüber engen Freunden und Mitstreitern begannen sich damit jedoch erst allmählich zu öffnen und werden, wie wir noch sehen werden, fast alle verschlingen, die es wagten, sich gegen diese Heroen des ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘ kritisch zu äußern oder eigene sozialistische Systeme zu entwickeln. Unverschämtheiten und Spott sind bei diesen menschlichen Vernichtungsfeldzügen nur harmlose Mittel gegenüber engsten Weggefährten; massives Vorgehen gegen politisch Andersdenkende entsprach eher der marxistischen Taktik. Moses Hess glaubte in einem naiven Gottvertrauen, mit einer Rückkehr der Religionen zu ihren gemeinsamen Wurzeln könne man die Menschheit von den vorhandenen Übeln befreien. Und diese sozialistische Philosophie versuchte er deutschen Kommunisten zwischen 1845 und 1848 in Brüssel und Paris näherzubringen, was die Revolutionsphantasten als lächerlich ansahen. Die theologische Idee, daß die Religionen mit Berufung auf den einen, wahren Gott eine gemeinsame Basis finden könnten, durchzieht die abendländische Theologie seit ihren Anfängen und hat immer wieder zu Versuchen geführt, verschiedene Religionen zu vereinen. Sowohl die politischen als auch die religiösen Vorstellungen von Hess waren von denen Marx’ und Engels’ himmelweit entfernt, wie ein einziges Zitat belegen kann, das revolutionsfeindlicher nicht formuliert werden könnte: „Europa ist ein Heiligthum. Entweihet es nicht durch profane Vergleichungen mit Nordamerika. Lästert es nicht durch schielende Hindeutungen auf Rußland. Europa ist ein Land, wie keines auf Erden! – Wie Christus, sein Vorbild, hat es sich für die Menschheit geopfert. Der Kelch des Leidens war ihm in reichem Maße beschieden. Noch ist 15 MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 74. Und dann noch einmal am 9. März 1847: „Gott weiß und Moses [Hess, H.K.] desgleichen, daß ich ihn bei unsrer zweiten und letzten Entrevue am Passage Vivienne mit offnem Maule stehenließ, um mit dem Maler K[örner] zwei Mädel abseiten zu führen, die dieser aufgegabelt!“ (Ebd., S. 81).

3. Kap.: Das atheistische und politische Lehrjahr bei der Rheinischen Zeitung

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es bleich, noch träufelt Blut aus seinen Wunden. – Aber in drei Tagen feiert es seine Auferstehung! Zwei Mal ist bereits die Sonne aufgegangen, seitdem es gekreuzigt worden. Die deutsche Reformation und die französische Revolution sind die beiden ersten Auferstehungstage. Noch Ein Tag, wie diese beiden ersten, und vollendet ist der Sieg Christi in der Weltgeschichte! – Das römisch-germanische Europa ist der auserwählte Welttheil, der unter Gottes besonderem Schutze steht.“16 Diese europäische Selbstbeweihräucherung auf den religiösen Fundamenten des Christentums steht, um dies hier nur anzudeuten, im diametralen Gegensatz zu den etwa gleichzeitig veröffentlichten Gedanken Arthur Schopenhauers über die altindische Vedanta-Philosophie, nach der die verschiedenen Individualseelen ihre Einheit im Körper Gottes finden. Und die gewagte Kombination von Religion und Revolution, von Christus und der unter Gottes besonderem Schutz stehenden europäischen Weltgeschichte mußte dem Atheisten Marx als eine verdammungswürdige Einfältigkeit erscheinen, weil es seinen Revolutionsvorstellungen in unvereinbarer Schärfe entgegengesetzt war. In den ersten Jahren ihrer Bekanntschaft scheint Hess von den intellektuellen Fähigkeiten Karl Marx’ durchaus beeindruckt gewesen zu sein, wie andere auch, und deswegen durchaus geneigt, mit Marx zusammenzuarbeiten und ihn zu unterstützen. Intellektuelle Schärfe und gepfefferte Argumentation haben viele Weggefährten Marx’ ungeheuer beeindruckt, ganz zu schweigen von den nachfolgenden Generationen von Marxisten und Kommunisten. Doch realistische Denker haben sich höchstens für eine Weile blenden lassen, um dann sein diktatorisches Gehabe abzulehnen. Wir werden dazu noch einige Beispiele kennenlernen, denn gerade seine angeblich auf empirischen Fakten basierende Überzeugung, daß das kapitalistische System notwendig dem Untergang geweiht sei, hat seine Toleranzschwelle erheblich gesenkt. Geschult an der widersprüchlichen Dialektik Hegels beherrschte Marx nicht nur die Klaviatur einer unverständlichen, verdrechselten Sprache, sondern seine schneidende Ironie beeindruckte viele Mitstreiter wie politisch Gleichgesinnte. Dieser religiös-eurozentrische Hess jedoch, der in Köln öfter mit Marx zusammengetroffen war und offenbar ebenfalls dessen treffend scharfe Argumentationskunst erlebt hatte, schrieb an einen befreundeten Dichter eine imposante Lobeshymne über die philosophische Exzellenz dieses aufgehenden Fixsterns am sozialistischen Himmel: „Dr. Marx, so heißt mein Abgott, ist noch ein ganz junger Mann (etwa 24 Jahre höchstens alt), der der mittelalterlichen Religion und Politik den letzten Stoß versetzen wird; er verbindet mit dem tiefsten philosophischen Ernst den schneidendsten Witz; denke Dir Rousseau, Voltaire, Holbach, Lessing, Heine und Hegel in Einer Person vereinigt; ich sage vereinigt, nicht zusammengeschmissen – so hast Du Dr. Marx.“17 Das war eine außergewöhnliche Eloge auf eine Person, der bis auf eine unveröffentlichte Dissertation noch wenig Philosophisches M. Hess: Die europäische Triarchie (wie Anm. 11), S. 53. MEGA. I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (1929). Neudruck Glashütten im Taunus 1970, S. 261 (Hervorhebung im Original. Brief von Moses Hess am Berthold Auerbach vom 2. September 1841). 16 17

C. „Krieg den deutschen Zuständen“

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oder Schriftstellerisches gelungen war. Hätte sich ein junger Mensch wie Marx, dessen philosophische Begabung ja noch in keiner einzigen Abhandlung öffentlich gemacht war, einen besseren Fürsprecher erträumen können? Die bereits erwähnte Periode des Vormärz, d. h. die Zeit vom Wiener Kongreß bis zur Märzrevolution 1848, war keineswegs arm an Publikationen zu sozialistischen oder religiösen Themen, aber allein die Gedankenstärke großer französischer Philosophen in sich vereinen zu können, bedeutete eine außerordentliche Wertschätzung, die Hess wenige Jahre später nicht mehr wiederholt hätte. Denn inzwischen war Marx zu einem überzeugten Atheisten gereift und begann eine Revolutionsidee zu entwickeln, die Hess’ Denken nicht nur entgegengesetzt war, sondern ihm eklatant widersprach. In seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843 umschrieb Marx sein Revolutionsideal, dessen praktische Durchführung ihm gänzlich fremd war, mit menschlichen Worten, die man lediglich als einen erfolgreichen Versuch, seinen Lesern humanitären Sand in die Augen zu streuen, ansehen kann: „Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, Verhältnisse, die man nicht besser schildern kann als durch den Ausruf eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!“18 Eine solche Kritik hatte Immanuel Kant lange vor Marx in seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) niedergelegt, doch sein Kategorischer Imperativ lautete: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“, d. h. subjektive Leitvorstellungen sollen verallgemeinert werden, um sittliche Handlungsanweisungen daraus ableiten zu können. Marx hat nicht an Kant, sondern an Hegel angeknüpft und wollte keine widerspruchsfreie Erklärung, sondern gerade den Widerspruch in seine Theorie einbauen. Der politische Kampf müsse also sowohl gegen die Religion, die ein falsches Bewußtsein produziere, als auch gegen die gesellschaftliche Ordnung geführt werden, und das Proletariat ist die anthropologische Stütze dieses Kampfes. Das war wohl auch gegen Hess gerichtet, aber hätte Marx seinen Freunden und Weggefährten auch nur einen winzigen Hauch eines toleranten und mitfühlenden Verständnisses entgegengebracht, wie er es hier verbal zum Ausdruck brachte, wir könnten uns die ganze Kritik an seinen verächtlichen und niederträchtigen Denunziationen sparen.

C. „Krieg den deutschen Zuständen“ Es ist in der marxistischen Literatur öfter behauptet worden, die Aussage, „daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei“ oder „Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theo-

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MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 385 (Hervorhebungen im Original).

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rie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt“,19 könne als humanistisches Credo des jungen Marx angesehen werden. Doch in dem historischen Kontext, in dem es geschrieben wurde und mit dem revolutionären Impetus, den Marx den Deutschen einzuimpfen versuchte, erhält sie eine ganz andere Bedeutung. Marx wollte nämlich zeigen, daß die deutsche Philosophie und Politik einen ganz anderen Verlauf genommen hat als die englische oder französische, also den eigentlichen Konkurrenten bei der europäischen Industrialisierung. In Frankreich und England habe sich folgendes Problem gestellt, mit dem Deutschland nicht konfrontiert war: „Politische Ökonomie oder Herrschaft der Sozietät über den Reichtum, lautet es in Deutschland: National-Ökonomie oder Herrschaft des Privateigentums über die Nationalität. Es gilt also in Frankreich und England, das Monopol, das bis zu seinen letzten Konsequenzen fortgegangen ist, aufzuheben; es gilt in Deutschland, bis zu den letzten Konsequenzen des Monopols fortzugehen.“20 Was immer konkret damit gemeint sein mag – Marx erwähnte die deutschen Schutzzölle, das Prohibitivsystem und die Friedrich Listsche Nationalökonomie –, so ging es Marx wohl vor allem darum, die politische und ökonomische Rückständigkeit seiner preußischen Heimat, wo österreichische und preußische Krautjunker und Philister herrschten, anzuprangern und seine Landsleute mit dem widersprüchlichen Gedanken vertraut zu machen: „Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen.“21 Oder um eine radikale Revolution trotz der „Krankheiten des Christentums“22 in Deutschland durchführen zu können, müsse die allgemeine Losung gelten: „Krieg den deutschen Zuständen!“23 Ehe Marx dem Kapitalismus vollständig den Garaus machen wollte, versuchte er in einem Aufsatz in Deutsche-Brüsseler-Zeitung vom 12. September 1847 den preußischen Konsistorialräten ihre christliche Sklaverei, ihre Feigheit, Selbstverachtung, Unterwürfigkeit und „alle Eigenschaften der Kanaille“24 vorzuhalten: „Die sozialen Prinzipien des Christentums erklären alle Niederträchtigkeiten der Unterdrücker gegen die Unterdrückten entweder für gerechte Strafe der Erbsünde und sonstigen Sünden oder für Prüfungen, die der Herr über die Erlösten nach seiner unendlichen Weisheit verhängt.“ Das Christentum ist demnach reaktionär, rechtfertige antike Sklaverei, mittelalterliche Leibeigenschaft Ebd., S. 391 (Hervorhebungen im Original). Ebd., S. 382 f. (Hervorhebungen im Original). Schon Franz von Baader hatte 1835 die Ansicht vertreten, daß die Armut des englischen und französischen Proletariats „mit der Entwickelung des industriellen Systems durch blosse Geldlöhnungen sich am fühlbarsten machen musste“. (Franz Xaver von Baader: Ueber das dermalige Missverhältniss der Vermögenslosen oder Proletairs, in ders.: Gesammelte Schriften zur Sozietätsphilosophie. Bd. 2, Aalen 1963, S. 131). 21 MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 381 (Hervorhebungen im Original). 22 Ebd., S. 387. 23 Ebd., S. 380 (Hervorhebung im Original). 24 [Karl Marx]: Der Kommunismus des „Rheinischen Beobachters“, in: MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 200. Dort auch das nächste Zitat. 19

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C. „Krieg den deutschen Zuständen“

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und Unterdrückung der Arbeiterklasse, während das Proletariat revolutionär sei – das ist das soziale bzw. sozialistische Credo! Die entscheidende Frage bestand deshalb für Marx darin, ob Deutschland sich in nächster Zukunft zur politischen Höhe einer Revolution emporschwingen bzw. ob im Denken des Philosophen die Revolution beginnen könnte, denn: „Deutschlands revolutionäre Vergangenheit ist nämlich theoretisch, es ist die Reformation.“25 Martin Luthers Protest von 1517 war demnach keine politische Tat, wie sie der revolutionäre Denker Marx für seine Gegenwart forderte, sondern eine theoretische oder theologische Anweisung. Wenn Deutschland eine ‚menschliche‘ Zukunft erreichen wolle, so endete die Marxsche Kritik an Hegels Rechtsphilosophie, wobei er an den oben erwähnten Hessschen Auferstehungszyklus anknüpfte, „wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns“.26 Damit kann eigentlich nichts anderes gemeint sein als eine Revolution nach französischem Muster, d. h. die Beseitigung des monarchischen und bürgerlichen Klüngels. (Heinrich Heine hatte über die zweite französische Revolution von 1830 am 8. März 1831 geschrieben: „Der gallische Hahn hat jetzt zum zweitenmale gekräht, und auch in Deutschland wird es Tag.“)27 Von Humanität sind diese kritischen Gedanken so weit entfernt wie der Marxsche Atheismus vom religiösen Glauben, obwohl die Ansicht vertreten wurde, Marx sei 1843 „offenkundig Anhänger des Humanismus von Feuerbach“28 gewesen. Von Hess’ Auferstehungstag ist dieser Revolutionsenthusiasmus so weit entfernt wie ein schwarzes Loch von unserer beschaulich rotierenden Erde oder sprachliche Mißverständnisse von ungetrübter Klarheit. Wir werden noch einige Male mit der erstaunlichen Tatsache konfrontiert werden, daß verbale Unklarheiten auch dann zugunsten von Marx ausgelegt werden, wenn sich aus dem inhaltlichen Kontext fast zweifelsfrei ergibt, daß eine andere Interpretation dem Sachverhalt eher gerecht wird. Die Periode des Vormärz war nicht nur erfüllt von revolutionärem Enthusiasmus, sondern in vielen europäischen Staaten wurden sozialistische und kommunistische Gedanken und Schriften verbreitet, weil die englische Industrialisierung einen solchen ökonomischen und gesellschaftlichen Umwälzungsprozeß in Gang gesetzt hatte, daß in den europäischen Nachfolgestaaten Ängste aufkamen, die industriellen Geister seien nicht mehr zu bändigen und es müsse zu einer Katastrophe kommen. Die Begriffe socialisme, socialism und Sozialismus gewinnen in den 1830er und 1840er Jahren in Frankreich, England und Deutschland eine politische Bedeutung, z. B. durch Pierre Leroux, Louis Reyboud oder Alphonse de Lamar tine, durch Robert Owen, Thomas Hodgskin oder William Thompson, durch Lorenz von Stein oder Wilhelm Weitling, und führten zu unterschiedlichen MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 385 (Hervorhebungen im Original). Ebd., S. 391 (Hervorhebungen im Original). 27 Heinrich Heine: Einleitung zu „Kahldorf über den Adel, in Briefen an den Grafen von Moltke“, in: Heinrich Heines sämtliche Werke, hrsg. von Otto F. Lachmann. IV. Bd., Leipzig o. J., S. 587. 28 Max G. Lange: Marxismus – Leninismus – Stalinismus, Stuttgart 1955, S. 30. 25

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Konzepten, wie diese Probleme angegangen werden müßten. Denn zum ersten Mal in der Weltgeschichte hatte eine maschinengetriebene Produktion deutlich vor Augen geführt, daß Handarbeit eventuell entbehrlich ist, weil Maschinen Menschen zu ersetzen in der Lage und produktiver waren. Es wurde die drängende Frage aufgeworfen, wie der ungeheure Bevölkerungszuwachs auf längere Sicht beschäftigt werden könnte. Technische oder gesellschaftliche Neuerungen lösen bei vielen Menschen Ängste aus – das war bei den ersten Eisenbahnen nicht anders als bei den ersten Autos oder ersten Flugzeugen bzw. den ersten Robotern –, weil sie in den gewohnten Lebensrhythmus eingreifen, der nicht mehr länger aufrechterhalten werden kann, weshalb Abwehrreaktionen als angemessen erscheinen, wie bei einem deutschen Autor im Jahr 1836: „Aber bei Leibe keine Maschinen! nur lauter Anwendung der Menschenkräfte und Hände! denn wir sind zu human, um unsern John Bull gleich mit schlimmen Maßregeln züchtigen zu wollen; ohnehin fehlen uns auch die Hottentotten, die afrikanischen Löwen und das indische Zuckerrohr.“29 Der Hegelschüler und Lehrer von Karl Marx, Eduard Gans (1797 – 1839), glorifizierte z. B. in einem Aufsatz „Paris im Jahre 1830“ die mittelalterlichen Zünfte, bei denen noch eine organische Arbeitsordnung vorhanden gewesen wäre. Und was sähe man in der vielgepriesenen Weltmacht Großbritannien? „Man besuche die Fabriken Englands, und man wird Hunderte von Männern und Frauen finden, die abgemagert und elend, dem Dienste eines Einzigen ihre Gesundheit, ihren Lebensgenuß, bloß der ärmlichen Erhaltung wegen, zum Opfer bringen. Heißt das nicht Sklaverey, wenn man den Menschen wie ein Thier exploitirt [!], auch selbst, wenn er frei wäre sonst vor Hunger zu sterben? Soll in diese elenden Proletarier kein Funke von Sittlichkeit gebracht werden können? sollen sie nicht erhoben werden dürfen zur Theilnahme an Demjenigen, was sie jetzt geist- und gesinnungslos thun müssen?“30 Hören wir nicht Marx und Engels aus diesen Anklagen gegenüber den ausbeuterischen Fabrikunternehmern vorausposaunt? Engels kennzeichnete die Unterschiede bzw. die Gemeinsamkeiten zwischen Sklaven und Proletariern in dem Entwurf des Kommunistischen Glaubensbekenntnisses vom 9. Juni 1847 folgendermaßen: „Der Sklave gilt für eine Sache, nicht für ein Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft. Der Proletarier ist als eine Person, als ein Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft anerkannt. Der Sklave kann also eine bessere Existenz haben als der Proletarier, aber dieser steht auf einer höheren Entwicklungsstufe. Der Sklave befreit sich dadurch, daß er Proletarier wird und von allen Eigentumsverhältnissen nur das Verhältnis der Sklaverei abschafft. Der Proletarier kann sich nur dadurch befreien, daß er das Eigentum überhaupt abschafft.“31 Er versuchte damit den Eindruck zu erwecken, als ob Sklaven wie Arbeiter, vor allem in der englischen Indu29

Wie ist Armuth in den deutschen Staaten zu verhüten, Quedlinburg/Leipzig 1836,

S. 18. 30 Eduard Gans: Rückblicke auf Personen und Zustände (1836). Neudruck Stuttgart/Bad Cannstadt 1995, S. 100. 31 Zitiert in: Der Bund der Kommunisten. Bd. 1: 1836 – 1849, Berlin 1970, S. 472 (Hervorhebungen im Original).

C. „Krieg den deutschen Zuständen“

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strie, gleichermaßen entrechtet seien, lediglich in einer anderen gesellschaftlichen Formation. Fünf Jahre vorher, am 10. August 1842, wurde vom englischen Parlament ein Gesetz über Frauen- und Kinderarbeit in den Bergwerken Großbritanniens erlassen, dessen erster Satz lautet, daß es „jedem Eigentümer oder Besitzer von Bergwerken verbietet, bei deren Förderung Frauen oder Kinder zu verwenden“. Zur Kontrolle der Einhaltung dieses Gesetzes wurden Bergwerks-Inspektoren eingesetzt, die Gruben und Betriebsräume durchsuchen konnten und Übertretungen wurden mit einer (allerdings milden) Strafe von fünf bis zehn Pfund Sterling pro Person bestraft.32 Nach einer Verordnung vom 12. August 1854 war es in Preußen nicht erlaubt, Kinder unter 16 Jahren in Bergbaugruben unter Tage zu beschäftigen. Selbst Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) hat in den während der 1820er Jahre geschriebenen Wilhelm Meisters Wanderjahre über die Industrie im Zusammenhang mit der handgewerblichen Baumwollproduktion wenig Positives gesagt bzw. sagen lassen: „Das überhand nehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich: es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen.“33 Es erzeuge ein trauriges Gefühl und Schrecknisse, über die man weder denken noch reden könne und das hübsche, frohe Leben müsse zusammensinken und absterben. Technik wird hier als Gegensatz stilisiert zu einem unbeschwerten Leben, sie wird mit Tod und Zusammenbruch verknüpft, während sie in den meisten Fällen das alltägliche Leben erleichtert und z. B. schwere Berufsunfälle verhindert hat. Wenn man dieses Neue ergreifen wolle, so Goethe, würde man das Verderben nur beschleunigen und es falle sehr schwer, die Gründe richtig abzuwägen, wie man sich verhalten soll: „Ich weiß recht gut, daß man in der Nähe mit dem Gedanken umgeht, selbst Maschinen zu errichten und die Nahrung der Menge an sich zu reißen. Ich kann niemandem verdenken, daß er sich für seinen eignen Nächsten hält; aber ich käme mir verächtlich vor, sollt‘ ich diese guten Menschen plündern und sie zuletzt arm und hilflos wandern sehen; und wandern müssen sie früh oder spät.“ Goethe spielt hier wahrscheinlich auf die industrielle Notwendigkeit an, Maschinen dort zu errichten, wo ein geeigneter Standort ist, während die arbeitenden Menschen dorthin ‚wandern‘ müssen, um Arbeit zu finden.

32 Vgl. Adolf Frantz: Die Beschäftigung der Frauen und Mädchen beim Bergbau unter Tage, in: Zeitschrift des oberschlesischen berg- und hüttenmännischen Vereins, 1869, S. 11. „In Preußen bestand das Verbot auch nur für den linksrheinischen Theil des Oberbergamtsbezirkes Bonn, ausschließlich des Oberbergamtsbezirkes Meisenheim, und zwar nach der Verordnung vom 9. Februar 1827, betr. die Entfernung der Frauenspersonen von der Grubenarbeit.“ (S. 12, Hervorhebungen im Original). Mit der Allgemeinen Bergpolizei-Verordnung vom 8. November 1867 (§ 55) wurde das Verbot von Frauenarbeit unter Tage auf den ganzen Oberbergamtsbezirk Bonn ausgedehnt; bei Zuwiderhandlung drohte eine Geldstrafe bis zu 50 Talern. 33 Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: Goethes Sämmtliche Werke. 3. Bd., Leipzig/Wien/Teschen 1870, S. 656 (3. Buch, 13. Kap.). Dort auch das nächste Zitat.

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Die andere Alternative sei die Auswanderung, aber die sei ebenso traurig wie die Errichtung von Maschinen, sodaß der Mann sich eher für die Technik entscheiden würde: „Seine Gründe freilich sind dringend, denn in unsern Gebirgen hauset ein Mann, der, wenn er, unsere einfacheren Werkzeuge vernachlässigend, zusammengesetztere sich bauen wollte, uns zu Grunde richten könnte.“34 Goethe sah also den technischen Fortschritt, die rationale kapitalistische Gesinnung, wie viele seiner Zeitgenossen mit gemischten Gefühlen, weil die angebliche Gemütlichkeit früherer Jahrhunderte – die es aber lediglich für eine winzige adelige und reiche Schicht gab – der Sucht nach Reichtum und Hektik eines arbeitsteiligen Lebens weichen würde. Diese Technikfeindlichkeit hat im 19. und 20. Jahrhundert viele Nachfolger gefunden, aber lediglich ein Beispiel aus der frühen Industrialisierung kann belegen, welche physischen Erleichterungen durch Maschineneinsatz ermöglicht wurden. Um das einfließende Grundwasser aus den Schächten der Kupferbergwerke im englischen Cornwall um 1840 herauszuschöpfen, wären 12.000 Pferde oder 80.000 Menschen notwendig gewesen, aber durch den Einsatz von 64 Dampfmaschinen konnte das eingeflossene Wasser ohne menschlichen Einsatz herausgepumpt werden. Dieses Beispiel verdeutlicht eindrucksvoll den effektiven Ersatz von Muskelkraft durch Maschinen, aber sagt noch nichts über die körperlichen Belastungen der Industriearbeit. Während einer relativ langen Periode der Industrialisierung gab es nämlich für viele arbeitende, vor allem arme Menschen keine anderen physischen Bedürfnisse als Kleidung, Nahrung, Heizung oder Wohnung, worauf Ernst Engel 1857 mit aller Deutlichkeit hinwies: „Der Arme und Elende giebt keine Steuern, und man sieht ihm diese nach wenn es ihm ohne Leistung derselben gelingt, sich noch zu erhalten. Wenn die Noth die äußerste Grenze erreicht hat, so ist es aber auch mit der Wohnung schlecht bestellt; sie ist kein Obdach gegen Wärme und Kälte, sie enthält keine Betten mehr. Wäsche und Betten sind verkauft und verpfändet. Die Kleidung besteht nur noch aus Lumpen und das letzte Hemd vom Leibe wird daran gegeben, um ein Stück Brod dafür zu kaufen.“35 Nach einem halben Jahrhundert waren solche Zustände weitgehend überwunden, weil nicht einmal autoritäre Herrscher oder skrupellose Unternehmer ihre Untertanen oder Arbeitsknechte auf diesem erbärmlichen Niveau dahinsiechen lassen konnten. Lassen wir einmal einen sächsischen Unternehmer in der Mitte der 1850er Jahre zu Wort kommen, um, bevor wir die vielfältigen Anklagen von Marx gegenüber dem ‚Kapital‘ erörtern, einen Eindruck davon zu gewinnen, wie diese angeblich ausbeuterische Spezies ihre eigene und die Lage der Arbeiter beurteilte: „Das Kapital seinerseits nimmt eine eigenthümliche Zwitterstellung ein. Das Kapital ist revolutionären Ursprunges; der rasche Erwerb großen Vermögens kann ohne die wenn auch gesetzlich erlaubte Verletzung der Interessen vieler Einzelner nicht Ebd., S. 657. Die vorherrschenden Gewerbszweige in den Gerichtsämtern mit Beziehung auf die Productions- und Consumtionsverhältnisse des Königreichs Sachsen, in: Zeitschrift des Statistischen Bureaus des Königlich Sächsischen Ministeriums des Innern, III. Jg., 1857, S. 169. 34 35

C. „Krieg den deutschen Zuständen“

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möglich sein. Das Kapital ist meistens niedern Herkommens; es hat nur eine kurze Vergangenheit, deren es sich nicht immer gern zu erinnern pflegt und auch seine Zukunft geht über die Berechnung von höchstens zwei Menschenaltern hinaus. Das Kapital hat keine Politik, außer der Politik seiner Vermehrung; es liebt die politische Freiheit, aber es ist ein entschiedener Feind der Gleichheit und Brüderlichkeit. Das Kapital ist daher revolutionär und wieder reaktionär, weil sein Element dasjenige des rastlosen Fortschrittes und zugleich der ängstlichen Erhaltung ist; es haßt aus Erziehung und Grundsatz die politische Reaktion, es sieht daher den öffentlichen Unwillen und den Widerstand gegen dieselbe nicht ungern, es hat aber zugleich eine solche Angst vor jeder höhern Aufregung der Massen, daß es in solchem Falle alle reaktionären Maßregeln bereitwilligst unterstützt. Trotz dieser Furcht liebt das Kapital seinen Ursprung, das Volk, mit dem es vielfältig in Bildung und Sitten sympathisiert und daher auch seine wahren Bedürfnisse am besten kennt. Daher ist das Kapital auch stets zur Unterstützung des Proletariats bereit, vorausgesetzt, daß es auf eine Weise geschieht, welche seine Zeit und Mühe nicht in Anspruch nimmt. Wenn trotzdem das Kapital von allen Klassen, außer seiner eigenen, mit Mißtrauen und selbst mit Haß betrachtet wird, so geschieht es deshalb, weil man seine wachsende Herrschaft über Menschen und Dinge ohne eine dem Auge sichtbare Macht, seinen unermeßlichen Einfluß ohne Gegengewicht, seine organische Gliederung ohne gesetzliche Regel, und eine Alles vor sich niederwerfende Gewalt erblickt, die gleichwohl nirgend greifbar zu fassen ist, die man also zwar anklagen, aber um so weniger zur Verantwortung ziehen kann, als sich bei näherem Eingehen nicht einmal ein haltbarer Anklagepunkt auffinden läßt, weil zwar die Vortheile der Kapitalkraft erwiesen, ihre Nachtheile jedoch problematisch und der verschiedensten Beurtheilung unterworfen sind.“36 Selbst wenn man Bodemer eine zu rosige Beurteilung seiner eigenen Kapitalistenklasse unterstellt, treffen die schwerwiegenden Anklagen Marx’ gegenüber den unterdrückenden und ausbeuterischen Unternehmern nicht zu; und es wäre zu einfach, Bodemer als eine positive Ausnahme hinzustellen. Stärken und Schwächen der Kapitalisten stellte er ebenso ungeschminkt dar wie ihre distanzierte, aber keineswegs feindliche Haltung gegenüber den Arbeitern und ihren Nöten. Diese Zeit der industriellen und gesellschaftlichen Umbrüche war schwanger mit sozialistischen und kommunistischen Vorschlägen, wie man wieder ‚zurück zur Natur‘ (Jean-Jacques Rousseau) kommen könnte und dadurch den furchterregenden Folgen der Industrialisierung entrönne. Nicht nur im revolutionären Frankreich, sondern auch im erdverbundenen England verbreiteten sich sozialistische und kommunistische Ideen, von denen viele Menschen sich begeistern ließen. In der Novembernummer 1827 der Zeitschrift Cooperative Magazine des englischen Fabrikanten und Sozialreformers Robert Owen (1771 – 1858), der durch die Einrichtung von Fabrikinspektoren die ersten britischen Arbeiterschutzgesetze von 1832 anregte, mit denen die Kinderarbeit – die bereits durch eine Reform der Ar36 Heinrich Bodemer: Die Industrielle Revolution mit besonderer Berücksichtigung auf die erzgebirgischen Erwerbsverhältnisse, Dresden 1856, S. 71 f.

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3. Kap.: Das atheistische und politische Lehrjahr bei der Rheinischen Zeitung

beitszeit von Kindern 1819 in der englischen Baumwollindustrie reduziert worden war – eingeschränkt wurde, stand z. B. die gegen Revolution gerichtete verbindende und versöhnende Aussage: „Wir Kommunisten und Sozialisten“.37 Sechs Jahre später, 1833, wurde durch den Factory Act der Schutz der Jugendlichen in den Fabriken erweitert und das englische Parlament bewilligte Gelder für deren Erziehung, ohne sich Gedanken um revolutionären Sozialismus oder Kommunismus zu machen. Der Philosoph Marx wußte von einer solchen gedanklichen Verbindung noch nichts, auch wenn sich die Berliner Mitarbeiter der Rheinischen Zeitung (RZ) immer wilder im sozialistischen Sinn gebärdeten und den preußischen Zensor sowie die Berliner Gerichte auf den Plan riefen, denn revolutionäres Gedankengut erschien der preußischen Regierung bedrohlicher als der Teufel persönlich und dem das Weihwasser. Im Mai 1842 lieferte Marx – wie bei allen anderen Zeitungsartikeln in der RZ anonym – seinen ersten Artikel für diese Zeitung über das königliche Zensuredikt, was er eher unwillig tat, denn dies hatte wenig mit ‚Logik‘ zu tun und fand wohl nur sein geringes Interesse. Obwohl Marx die weitgehend machtlose preußische Regierung im Sinne einer militärischen Machtpolitik in diesem Artikel als „Gewaltregime“ bezeichnete, wurde er nicht zensiert, denn Friedrich Wilhelm IV. war ein ziemlich sanfter Monarch und wollte gut mit seinen Untertanen auskommen. Der zweite Artikel über den Kölner Kirchenstreit über Mischehen, d. h. die fünfjährige Auseinandersetzung zwischen der katholischen Kirche und dem preußischen Staat, die sogar zur Verhaftung des Kölner Erzbischofs Clemens August Droste zu Vischering führte, bei dem Friedrich Wilhelm IV. 1841 schließlich einlenkte, passierte jedoch den Zensor nicht. Zwar verteidigte Marx den preußischen König, der sich in seiner Staatsführung sehr religiös gebärdete, aber seine scharfen Argumente waren nicht gegen den Kölner Klerus als vielmehr allgemein gegen die Religion gerichtet, „da die Religion an sich inhaltslos nicht vom Himmel, sondern von der Erde lebt und mit der Auflösung der verkehrten Realität, deren Theorie sie ist, von selbst stürzt“.38 Das hörte sich philosophisch an, hatte aber mit der religiösen Realität ebensowenig zu tun wie mit einer umstürzlerischen Theorie, obwohl man herauslesen konnte, daß Marx den Gottesglauben verspotten wollte und sich lustig machte über eine Religion, die eine Theorie zu sein vorgibt, aber in der Wirklichkeit mit verkehrten Welten sich selbst in den Abgrund stürzt, wie dies Jesus angeblich mit dem Teufel getan hatte. Wir müssen uns aber ebenfalls ins Gedächtnis rufen, daß die katholische und protestantische Religion einen erheblich größeren Einfluß auf die Gläubigen ausübte als heute und deshalb Marx’ Atheismus auf heftigen Widerstand sowohl 37 Vgl. Werner Sombart: Der proletarische Sozialismus („Marxismus“). 1. Bd., Jena 1924, S. 4. Karl Grünberg: Der Ursprung der Worte Sozialismus und Sozialist, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft, IX. Jg., 1906, S. 502, behauptete, daß das Wort socialism in England nicht vor August 1837 gebraucht worden sei. 38 MEGA. I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (1929). Neudruck Glashütten im Taunus 1970, S. 286 (Brief von Marx an Arnold Ruge vom 30. November 1842. Hervorhebung im Original).

C. „Krieg den deutschen Zuständen“

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bei den Politikern als bei den Gläubigen stieß. Die Emanzipation der deutschen Juden war ja ebenfalls zu dieser Zeit wenig fortgeschritten und weder die katholische noch die evangelische Kirche forderte ihre Mitglieder zu einer toleranten Haltung gegenüber Andersgläubigen auf. Schon am 18. Oktober 1841 hatte Georg Jung an Arnold Ruge über den virulenten Atheismus geschrieben: „Dr. Marx, Dr. Bauer und L. Feuerbach assoziieren sich zu einer theologisch-philosophischen Zeitschrift, dann mögen alle Engel sich um den alten Herrgott scharen und er sich selber gnädig sein, denn diese drei schmeißen ihn gewiß aus seinem Himmel heraus und hängen ihn noch obendrein einen Prozeß an den Hals, Marx wenigstens nennt die christliche Religion eine der unsittlichsten, übrigens ist er, obgleich ein ganz verzweifelter Revolutionär, einer der schärfsten Köpfe, die ich kenne.“39 Trotzdem oder gerade wegen dieser abstrakten Kritik von Marx an einer irdischen Religion – seine angeblich verzweifelte revolutionäre Kraft war noch ziemlich unterentwickelt – legte der Zensor sein Veto ein, da in preußischen Zeitungen Religionskritik sankrosankt war und der preußische Staat einen schützenden Kordon um die protestantische Religion legte. Die Rheinische Zeitung war aber nicht nur wegen den Tiraden der Berliner Mitarbeiter oder Marx’ extravaganten Artikeln wenig erfolgreich, sondern sie konnte sich auf dem vielumkämpften deutschen bzw. preußischen Zeitungsmarkt nicht behaupten. Es ist vielleicht angemessen, ehe ich Marx’ Tätigkeit bei der Rheinischen Zeitung weiter verfolge, einige wenige Bemerkungen zu Ludwig Feuerbach (1804 – 1872), dem heftigen Kritiker Hegels, aber Mitarbeiter von Ruges Deutschen Jahrbüchern, wozu ihn Marx mit einem Beitrag über Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling inständig bat, zu machen. Nicht nur weil die Feuerbach-Thesen von Marx große Beachtung gefunden haben, sondern weil Feuerbach „die historische Auflösung der christlichen Religion“40 propagierte. Anders als Bruno Bauer und David Friedrich Strauß, an deren Atheismus sich Marx anlehnte und anschloß, während er den „frommen Atheismus“ (Max Stirner) Feuerbachs ablehnte, wollte Feuerbach die Religion nicht durch seine Kritik zerstören, sondern eine sinnliche, gefühlsmäßige Komponente des göttlichen Menschen erhalten wissen. Theologie sollte in philosophische Anthropologie aufgelöst bzw. verwandelt werden, wobei der gefühlsbetonte Mensch – und die naturalistische Philosophie – das Göttliche nach seinem eigenen Ebenbild und nicht umgekehrt geschaffen habe, da Religion nur träumerische Vorstellungen des Menschengeistes reproduziere. In seinem zuerst 1841 erschienenen Hauptwerk Das Wesen des Christentums beschrieb Feuerbach, der 1870 in Nürnberg der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei beitrat, die Religion eines Volkes als höchste Inkarnation Gottes, dessen absolute, göttliche Macht sich in der anthropologischen Liebe ausdrücke: „Gott ist die Liebe, die unsre Wünsche, unsre Gemütsbedürfnisse befriedigt – Er ist selbst der verwirklichte Wunsch des Herzens, der zur Gewißheit seiner Erfüllung, seiner Gültigkeit, zur zweifellosen Ebd., S. 261 f. So Karl Löwith: Vorwort zu Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums, Stuttgart 1969, S. 529 (Hervorhebung im Original). 39

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Gewißheit, vor der kein Widerspruch des Verstandes, kein Einwand der Erfahrung, der Außenwelt besteht, gesteigerte Wunsch. Gewißheit ist für den Menschen die höchste Macht; was ihm gewiß, das ist ihm das Seiende, das Göttliche. Gott ist die Liebe – dieser Ausspruch, der höchste des Christentums – ist nur der Ausdruck von der Selbstgewißheit des menschlichen Gemütes, von der Gewißheit seiner als der allein berechtigten, d. i. der göttlichen Macht – der Ausdruck von der Gewißheit, daß des Menschen innere Herzenswünsche unbedingte Gültigkeit und Wahrheit haben, daß es keine Schranke, keinen Gegensatz des menschlichen Gemüts gibt, daß die ganze Welt mit aller ihrer Herrlichkeit und Pracht Nichts ist gegen das menschliche Gemüt.“41 Es ist dieses lange Zitat hier angeführt worden, um zu zeigen, daß Feuerbach im krassen Gegensatz zu Marx’ Religionskritik die transzendente christliche Theologie im menschlichen Gefühl zu bewahren versuchte, auch wenn er damit Widersprüche heraufbeschwor, während sich der junge Marx an die Feuerbachsche Kategorie der anthropologischen Entfremdung anlehnte, um seiner Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Zuständen eine Basis zu verschaffen. Der atheistische Freigeist Feuerbach hat selbst zu einer widersprüchlichen Auslegung seiner Schriften beigetragen, die in den 1970er Jahren sogar von progressiven Theologen positiv beurteilt wurden, und Hegelianern war er ohnehin suspekt: „Durch nichts konnte die Hegelsche Philosophie ihre innere Wahrheit besser offenbaren, als durch die Kritik Feuerbachs.“42

D. Der opportunistische Chefredakteur Nach neun Monaten ihrer Existenz lagen die Verkaufszahlen der Rheinischen Zeitung immer noch bei nur 800 Exemplaren, während die Kölnische das Zehnfache absetzte, d. h. die finanzielle Investition der rheinischen Kaufleute zahlte sich nicht aus. Sie mußten sich überlegen, ob es noch sinnvoll wäre, weiteres Geld in dieses Unternehmen zu investieren und einen neuen Chefredakteur anzustellen, damit dieser mit einer erfolgreicheren Publikationsstrategie den Verkauf des Blattes steigerte. Die industrielle Entwicklung in ganz Preußen ging schleppend voran, obwohl sich im Ruhrgebiet der wirtschaftliche Aufschwung der Kohlenund Stahlindustrie bereits andeutete, da die preußische Staatsbürokratie z. B. dem Eisenbahnbau skeptisch gegenüberstand und sich mit dem Bau von Eisenbahnlinien nicht weiter verschulden wollte, weil noch nicht erkennbar war, wie profitabel private oder staatliche Eisenbahnen sein würden. Die Schuldenlast der Befreiungskriege legten der Ausgabefreudigkeit enge Fesseln an und es war ja gar nicht vorherzusehen, daß Eisenbahnen ein sehr profitables Geschäft werden würden. Die preußische Regierung hatte im Rheinland und in Köln andere Prioritäten und war nach wenigen Monaten keineswegs mehr bereit, die Konzession der RZ L. Feuerbach: Das Wesen (wie Anm. 40), S. 196 f. (Hervorhebungen im Original). Julius Löwenstein: Hegels Staatsidee, Berlin 1927, S. 135 (Hervorhebungen im Original). 41

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zu verlängern, auch wenn sie von angesehenen Bürgern getragen wurde, wenn die irreligiösen Tendenzen in dem Blatt sich nicht änderten und man nicht einen konservativen Journalismus praktizierte. Es mußte also etwas geschehen, um das Ansehen der Zeitung wiederherzustellen bzw. den Berliner Zensor zu beruhigen. Weil die Geldgeber, die intensiv in wirtschaftlichen Aktivitäten engagiert waren, weder etwas mit Atheismus noch mit Revolution zu tun haben wollten, wurde Karl Marx daraufhin am 1. Oktober 1842 einem Ausschuß der Besitzer der Rheinischen Zeitung vorgestellt und danach gefragt, ob er die Zeitung so führen könne, daß Konflikte mit der preußischen Regierung und dem ultramontanistisch-konservativen Kultusminister Johann Albrecht Friedrich Eichhorn (1779 – 1856), der ebenso den pietistisch-orthodoxen Protestantismus förderte, vermieden würden. Dieser Anstellung ging ein Brief von Marx an Dagobert Oppenheim vom 25. August 1842 voraus, in dem er sich über verschiedene Artikel äußerte, zu denen er eine Entgegnung schreiben wollte, auch zu den Artikeln über „Das Juste-Milieu“ in der Rheinischen Zeitung: „Man muß die Sache leidenschaftslos besprechen. Erstens sind ganz allgemeine theoretische Erörterungen über Staatsverfassung eher passend für rein wissenschaftliche Organe als für Zeitungen. Die wahre Theorie muß innerhalb konkreter Zustände und an bestehenden Verhältnissen klargemacht und entwickelt werden. Allein, da es nun einmal geschehn ist, so ist ein Doppeltes zu berücksichtigen. Bei jeder Gelegenheit, wo wir in Streit mit andern Tagesblättern geraten, kann man uns, geschehe es früher oder später, die Sache aufmutzen. Eine so deutliche Demonstration gegen die Grundpfeiler der jetzigen Staatszustände kann Schärfung der Zensur, selbst Unterdrückung des Blatts zur Folge haben. Auf diese Weise ging die süddeutsche ‚Tribüne‘ unter. Jedenfalls aber verstimmen wir eine große, und zwar die größte Menge freigesinnter praktischer Männer, welche die mühsame Rolle übernommen haben, Stufe für Stufe, innerhalb der konstitutionellen Schranken, die Freiheit zu erkämpfen, während wir von dem bequemen Sessel der Abstraktion ihre Widersprüche ihnen vordemonstrieren.“43 Marx hielt es für unumgänglich, daß die RZ nicht nur von ihren Mitarbeitern geleitet würde, sondern auch durch einen geeigneten Organisationsplan ihre Mitarbeiter leite, d. h. die Zeitung „selbst ihr eigner Arzt ist“.44 Der Publizist Oppenheim konnte ein solches opportunistisches Anerbieten von Marx wohl kaum anders gedeutet haben als daß Marx sich für den Chefposten bereithielte, wenn er ihm angeboten würde, ohne irgendwelche sozialistischen Gedanken in der Rheinischen Zeitung verbreiten zu wollen. Keiner dieser Herren wollte Marx auf eine loyalistische Probe stellen, denn es waren nüchterne Kaufleute, die ihre kapitalistischen Profite zwar in ein riskantes Zeitungsprojekt steckten, aber auch keine zu großen Verluste erleiden wollten. Doch als er sich dazu fähig und willig bekannte, wurde er noch am gleichen Tag – obwohl er bisher nur vier Artikel für die RZ geschrieben und vorher keinen einzigen Beruf ausgeübt hatte – zu deren Chefredakteur ernannt mit einem 43 44

MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 409 f. Ebd., S. 410.

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Jahresgehalt von 600 Talern. Diese Kapitalisten konnten ja nicht ahnen und nicht vorhersehen, daß der gleiche Marx wenige Jahre später eine Klassenkampftheorie entwickeln würde, die darauf hinauslief, seine Brötchengeber mit Stumpf und Stiel zu vernichten und durch die ‚Diktatur des Proletariats‘ zu ersetzen. Es kam diesen Unternehmern vor allem darauf an, daß ihre Investition in eine Zeitung nicht in den Sand gesetzt wurde und sie suchten dafür einen geeigneten Leiter, der ihnen eine belastbare Garantie dafür gab, die politische Ausrichtung der Zeitung so zu verändern, daß sie weder mit der Zensur in Konflikt gerate noch gegenüber den Lesern eine einseitige und abschreckende Tendenz vertrat, um die Auflagenzahl nicht wesentlich steigern zu können. Marx erschien ihnen dafür ein geeigneter und fähiger Kandidat. Die beschönigende marxistische Literatur macht aus diesem Chefredakteursposten dagegen ein revolutionäres Sprungbrett für einen Dreifachsalto, der Marx angeblich hervorragend gelang: „Danach erhielt die Zeitung immer deutlicher ein revolutionär-demokratisches Profil, wurde die Kritik am preußischen Absolutismus und an seinen ideologischen Verteidigern immer schärfer.“45 In der öden, journalistischen Realität war es gerade umgekehrt, denn als Chefredakteur verfügte Marx über ‚Macht‘, wenn auch nicht über politischen Einfluß. Von den internen Querelen mit anderen Redakteuren abgesehen, hätten Marx so viele Vorschußlorbeeren von kühl rechnenden Unternehmern mit großem Stolz erfüllen können, aber entweder verkalkulierte er sich oder er spielte mit gezinkten Karten, weil er die politischen Tendenzen der preußischen Regierung falsch einschätzte oder weil er sich nun auf eine Position gehievt sah, die ihn scheinbar fast unangreifbar machte. Seine erste Handlung als Chefredakteur wirft ein bezeichnendes Licht auf seine charakterliche Einstellung, die sein berechnendes Kalkül zwischen politischem Opportunismus und menschlicher Verachtung bereits aufscheinen läßt, auch wenn er sich in dieser Hinsicht noch enorm steigerte. Marx schrieb nämlich an die preußische Regierung, daß die Entfernung seines Vorgängers Dr. Adolf Rutenberg (1808 – 1869) – mit dem er in Berlin befreundet war, dem er aber jetzt einen gänzlichen „Mangel an Kritik, Selbständigkeit und Fähigkeit“46 bescheinigte – zwar nicht juristisch erzwungen, aber in die Wege geleitet würde. Entweder war es unbändiger Machtinstinkt oder skrupellose Menschenverachtung, keineswegs aber seine „Talente als Schmähschriftler“,47 die Marx antrieb, selbst seine ehemaligen Freunde zu denunzieren und ihnen das Einkommen zu entziehen. Vielleicht kann man dies mit Lujo Brentano so interpretieren: „Die Schmähung ist die Waffe desjenigen, dessen sonstige Vertheidigungsmittel zu Ende sind.“48 Jedenfalls versicherte Marx seinen politischen Vorgesetzten in der preußischen Regierung: Die Rheinische Zeitung würde den Weg des Fortschritts, „auf welchem Preußen dem übriP. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (1973). 7. Aufl. Berlin 1984, S. 41. MEGA. I. Abt., Bd. 1, 2 (wie Anm. 38), S. 285 (Brief an Arnold Ruge vom 30. November 1842). 47 So David McLellan: Karl Marx, München 1974, S. 335 (Hervorhebung von mir). 48 Lujo Brentano: Meine Polemik mit Karl Marx (1890). Reprint London 1976, S. 23. 45

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gen Deutschland vorangeht, bahnen helfen“49 und von nun an „möglichst von allen kirchlichen und religiösen Gegenständen abstrahieren, wo nicht andere Zeitungen und die politischen Verhältnisse selbst eine Bezugnahme auf dieselben notwendig machen“.50 War er nicht gerade von Hess und Ruge als der atheistische Stern eines neuen Götterhimmels hochstilisiert worden, vor dem die Politik erzittern müßte? Warum diente er sich jetzt der preußischen Regierung an und verunglimpfte dazu noch seinen früheren Freund? Der angegriffene Rutenberg kritisierte seinerseits nach seiner Entlassung Marx’ Opportunismus, der für schäbige zwölf Silberlinge die heiligen Prinzipien von Berlin verraten habe, was Marx in einem Brief an Ruge zu der denunzierenden Bemerkung veranlaßte, Rutenberg gebärde sich als „der neue Märtyrer, der schon in Physiognomie, Haltung und Sprache das Märtyrerbewußtsein mit einiger Virtuosität darzustellen weiß“.51 Marx wies außerdem gegenüber der preußischen Regierung den revolutionsverdächtigen Vorwurf zurück, die Zeitung würde französische Ideen im Rheinland verbreiten, sondern sie habe sich als Hauptaufgabe gestellt, „die Blicke, welche noch bei so vielen auf Frankreich hafteten, auf Deutschland zu richten und statt eines französischen einen deutschen Liberalismus hervorzurufen, der der Regierung Friedrich Wilhelm IV. gewiß nicht unangenehm sein kann“.52 Bestand darin der fortschrittliche Impetus, den so wenige aufgeklärte Denker der damaligen Zeit in der preußischen Politik erkennen konnten oder vielleicht sogar ein Marxscher Nationalismus, der später noch häufiger durchbricht? Der frisch ernannte Chefredakteur Marx sonnte sich ganz offensichtlich in dieser herausgehobenen Position oder er fühlte sich in seiner philosophischen Ehre geschmeichelt, obwohl seine Artikel weiterhin anonym erschienen und er nicht damit rechnen konnte, daß eine größere Öffentlichkeit wußte, wer sich hinter dieser spitzen Feder verbarg. Nun hatte er wenigstens eine Plattform, wo sein logisch sezierender Geist sich entfalten konnte, auch wenn seine Anonymität höchstens gegenüber Vertrauten gelüftet wurde und seine Auftraggeber konnten zufrieden sein, oder? Jedenfalls entwickelte er in dieser Zeit einen zynischen-sezierenden Stil, der gegenüber Freund wie Feind fast keinen Pardon kannte, aber von sozialistischem Gedankengut völlig frei war und freigehalten werden sollte. Als etwa die Augsburger Allgemeine Zeitung, in der Heinrich Heine, „die Spottdrossel im deutschen Literaturwalde“,53 seine begeisternden Berichte aus Paris veröffentlichte, ironisch darauf hinwies, daß einige Söhnchen aus reichen Familien in der RZ sich auf Kosten des väterlichen Bankguthabens einem kommunistischen Snobismus hingäben – damit waren die Berliner Genossen des Doctorklubs gemeint –, anstatt 49 MEGA. I. Abt., Bd. 1, 2 (wie Anm. 38), S. 282 (Brief von Marx an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, Justus Wilhelm Eduard von Schaper (1792 – 1868), vom 17. November 1842). 50 Ebd., S. 284. 51 Ebd., S. 286. 52 Ebd., S. 282. 53 So Max Beer: Karl Marx (1921). Nachdruck Hamburg 2014, S. 24.

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mit Kölner Domwerkleuten und Hafenträgern Hab und Gut zu teilen, antwortete Marx mit einem längeren Artikel in der RZ vom 16. Oktober 1842, in dem er u. a. feststellte: „Wir haben die feste Überzeugung, daß nicht der praktische Versuch, sondern die theoretische Ausführung der kommunistischen Ideen die eigentliche Gefahr bildet, denn auf praktische Versuche, und seien es Versuche in Masse, kann man durch Kanonen antworten, sobald sie gefährlich werden, aber Ideen, die unsere Intelligenz besiegt, die unsere Gesinnung erobert, an die der Verstand unser Gewissen geschmiedet hat, das sind Ketten, denen man sich nicht entreißt, ohne sein Herz zu zerreißen, das sind Dämonen, welche der Mensch nur besiegen kann, indem er sich ihnen unterwirft.“54 Man kann sich fragen, was in den nächsten Jahren in Marx vorgegangen sein muß, wenn man diese Aussagen mit dem Kommunistischen Manifest von 1848, wo gerade den Massen die Kanonen in die Hand gelegt werden, oder den Feuerbachthesen vergleicht, worauf wir noch zurückkommen. War Marx noch immer der idealistische Philosoph der Berliner Zeit oder von den tatsächlichen politischen Ereignissen so weit entfernt, um die Macht von Ideen richtig einschätzen zu können? Die persönlichen Auseinandersetzungen mit Freunden und Weggefährten nahmen an eiskalter Schärfe in dem Maße zu, je mehr Marx von seiner revolutionären Sendung durchdrungen wurde und sein politischer Fanatismus unmenschliche Formen annahm, allerdings noch überwiegend in Briefform. Als z. B. der auf Marx’ Drängen entlassene Redakteur Rutenberg nach Berlin zurückkehrte und einigen Mitgliedern des früheren „Doctorklubs“ bzw. den „Freien“, wie Edgar Bauer oder Kaspar Schmidt (später Max Stirner), schilderte, wie Marx sich gegenüber ihm verhalten hatte, drohten diese Marx an, ein Femegericht über ihn abzuhalten und künftig keine Artikel für die RZ mehr schreiben zu wollen. In der Gesellschaft der ‚Freien‘, in der sich nach Franz Mehring „so ziemlich alle vormärzlichen Literaten der preußischen Hauptstadt zusammenfanden, um die politischen und sozialen Revolutionen in der Gestalt wild gewordener Philister zu spielen“,55 hätte sich Marx womöglich heimisch gefühlt, weil auch Bruno Bauer ihr angehörte, doch damit wäre die Kritik der Augsburger Allgemeinen hinfällig geworden. Bauer vertrat ja den gleichen Atheismus wie Marx und seine aufgehobene Professur in Bonn wurde etwa von Arnold Ruge als das offizielle Eingeständnis des Protestantismus gewertet, Lehr- und Geistesfreiheit an deutschen Universitäten abzuschaffen. Die protestantisch-politische Zensur habe „überhaupt keine Freiheit (weder vom Aberglauben noch von der Autorität) hervorgebracht“.56 In regelmäßigen Abständen verfaßte Marx Artikel für die RZ, wie z. B. über die Debatten des rheinischen Landtags wegen des Holzdiebstahlgesetzes, wo er den 54 [Karl Marx]: Der Kommunismus und die Augsburger „Allgemeine Zeitung“, in: MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 108 (Hervorhebungen im Original). 55 F. Mehring: Karl Marx (wie Anm. 5), S. 54. 56 Arnold Ruge: Zwei Jahre in Paris. Bd. 2 (1846), Hildesheim 1977, S. 56. Ruge vertrat dort die Ansicht: „Selbst die Negation der Theologie ist ein theologisches Geschäft. Wer, wenn er kein Jude ist, wird sich die Mühe nehmen, den Talmudismus zu negiren?“

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Holzdiebstahl armer Leute mit dem Gewohnheitsrecht befürwortete: „Wir unpraktische Menschen aber nehmen für die arme politisch und sozial besitzlose Menge in Anspruch, was das gelehrte und gelehrige Bediententum der sogenannten Historiker als den wahren Stein der Weisen erfunden hat, um jede unlautere Anmaßung in lauteres Rechtsgold zu verwandeln.“57 Tatsächlich hatte sich der Holzdiebstahl zu einem veritablen Vergehen entwickelt, denn von 207.478 strafrechtlichen Untersuchungen, die im Jahr 1836 im preußischen Staat stattfanden, bezogen sich fast ein Drittel auf Holzdiebstähle sowie Forst-, Jagd- und Hutungsvergehen.58 Gegen seine gelehrten Berliner Doktorclubmitstreiter war Marx weniger nachsichtig gesinnt als gegenüber Holzdieben und antwortete ihnen auf ihre Drohung nicht weniger derb. Marx, der scheinbar unangreifbare Chefredakteur, war über deren Kritik empört und schrieb am 30. November 1842 an Arnold Ruge, daß die „Freien“, wozu auch der Junghegelianer Eduard Meyen (1812 – 1870) gehörte, aufhören sollten, der Zeitung weiterhin „weltumwälzungsschwangre und gedankenleere Sudeleien in saloppem Stil, mit etwas Atheismus und Kommunismus (den die Herrn nie studiert haben) versetzt“,59 zuzusenden und seine Zeitung als ihr willenloses Organ anzusehen. Solange er Chefredakteur sei, würde er „das Einschmuggeln kommunistischer und sozialistischer Dogmen, also einer neuen Weltanschauung, in beiläufigen Theaterkritiken etc. für unpassend, ja für unsittlich“60 halten und ihre Manuskripte unbarmherziger zensieren als der Zensor. Der wenige Jahre später revolutionäre Zerstörer des kapitalistischen Systems und weltweit berühmte Vordenker des Kommunismus wollte seine Zeitung von allen sozialistischen und kommunistischen Ideen freihalten! Marx rechtfertigte sein destruktives Verhalten gegenüber ehemaligen Berliner Freunden in dem Brief an Ruge damit: „Da wir nun von morgens bis abends die schrecklichsten Zensurquälereien, Ministerialschreibereien, Oberpräsidialbeschwerden, Landtagsklagen, Schreien der Aktionäre etc. etc. zu tragen haben und ich bloß auf dem Posten bleibe, weil ich es für Pflicht halte, der Gewalt die Verwirklichung ihrer Absichten, so viel an mir, zu vereiteln, so können Sie denken, daß 57 [Karl Marx]: Verhandlungen des 6. rheinischen Landtags, in: MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 115 (Artikel vom 25. Oktober 1842). Sehr plastisch formulierte Marx dort seine Kritik: „Um sich der Forstfrevler zu versichern, hat der Landtag dem Rechte nicht nur Arme und Beine gebrochen, sondern sogar das Herz durchbohrt.“ (S. 145). 58 Die Privilegien des Adels gegenüber abhängigen Bauern waren ja in Deutschland vor den Agrarreformen mit traditionellen Vorrechten von Monarchisten oder Königstreuen verbunden. Deutsche Gutsherren z. B. konnten auf Kosten der Bauern ihre Besitztümer vergrößern und in vielen deutschen Staaten verzögerte der Adel die Agrarreformen bis nach der 1848er Revolution. „In manchen Ländern ward von den Fürsten und den höhern Angestellten die Jagd als ein Heiligthum bewahrt, mochte es auch noch so sehr auf Unkosten der Unterthanen geschehen; der Jagddieb wurde gleich argen Verbrechern bestraft.“ (Gustav von Gülich: Ueber den Einfluß der neuesten Revolution, Göttingen 1831, S. 26). 59 MEGA. I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (1929). Neudruck Glashütten im Taunus 1970, S. 285. 60 Ebd., S. 286.

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ich etwas gereizt bin und dem M[eyen] ziemlich derb geantwortet habe.“61 (Selbst noch im Zweiten Weltkrieg warf der nationalsozialistische Hegelianer Karl Larenz (1903 – 1993) Ruge vor, daß seine und von seinen „Gesinnungsgenossen vertretene Ideologie des Liberalismus“62 gegen den preußischen Staat gerichtet gewesen sei). Wenn man solche und andere verbale Ausfälle von Marx Revue passieren läßt, muß man sich wundern, zu lesen, daß bei Marx die Kritik an der Moral im Vordergrund gestanden habe und „die Theorie einer konkret gelebten Sittlichkeit einer abstrakten Moralphilosophie vorzuziehen“63 sei. Vielleicht stand dahinter auch die Absicht, die Verkaufszahlen der Zeitung zu steigern, die nach Aussage des rheinischen Oberpräsidenten vom 8. August bis 15. Oktober 1842 von 885 auf 1.820 angestiegen waren, aber dann hätte Marx sich auch in seinen Artikeln zügeln müssen. Die Junghegelianer, die anders als das Junge Deutschland von der Hegelschen Philosophie bzw. seiner Dialektik ausgingen und von der Kritik an der Bibel zur Kritik an der Religion schritten, sahen ihre Einflußmöglichkeiten auf sozialem und politischem Gebiet.64 Dagegen verband das Junge Deutschland, deren Hauptvertreter Ludwig Börne, Karl Gutzkow, Heinrich Heine, Ferdinand Gustav Kühne, Heinrich Laube und Theodor Mundt waren, literarische mit politischen Vorstellungen und Überzeugungen. Doch wegen ihren unterschiedlichen Einstellungen zu politischen Entwicklungen arteten die Diskussionen dieser junghegelianischen, politisierenden Intellektuellen schnell in Beschimpfungen aus bzw. schlugen in persönliche Denunziationen um. Das dialektische Prinzip Hegels von These, Antithese und Synthese erlaubte keine reibungslose Übertragung auf die widersprüchliche politische Wirklichkeit, weswegen die kritische Haltung dieser Radikalen sich weniger auf die Vermittlung von Widersprüchen, sondern eher auf eine harsche Verurteilung der bestehenden Verhältnisse konzentrierte. Die Hegelsche Dialektik, nach der die dialektische Bewegung sowohl das positive wie negative Prinzip enthält, das auf einer höheren Entwicklungsstufe aufgehoben bzw. bewahrt werden soll, eignet sich überhaupt nicht für eine gehaltvolle Analyse der historischen Realität. Marx Annäherung an den Sozialismus stützte sich zwar auf die junghegelianische Opposition, doch während seiner Tätigkeit bei der Rheinischen Zeitung wurden von ihm konkrete Entscheidungen über die journalistische Zukunft dieses Blattes verlangt, die mit einer junghegelianischen Kritik nicht erreicht werden konnten. Wenige Tage nach der „Todeserklärung“ (so Marx) der RZ, am 25. Januar 1843, begann Marx in einem Brief an Arnold Ruge an der oft wiederholten Legendenbildung seines aufrechten demokratischen Kampfes während dieser Periode seiner vorrevolutionären Aktivitäten zu stricken: „Es ist schlimm, Knechtsdienste selbst MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 413. Karl Larenz: Hegelianismus und preußische Staatsidee, Hamburg 1940, S. 59. Zu Larenz’ nationalsozialistischer Vergangenheit vgl. Hubert Kiesewetter: Von Hegel zu Hitler (1974). 2. Aufl. Frankfurt am Main 1995, S. 294 ff. 63 Johannes Rohbeck: Marx, Leipzig 2006, S. 73. 64 Vgl. dazu ausführlich Wolfgang Eßbach: Die Junghegelianer, München 1988, S. 157 ff. 61

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für die Freiheit zu verrichten und mit Nadeln, statt mit Kolben zu fechten. Ich bin der Heuchelei, der Dummheit, der rohen Autorität und unseres Schmiegens, Biegens, Rückendrehens und Wortklauberei müde gewesen. Also die Regierung hat mich wieder in Freiheit gesetzt.“65 Sein opportunistisches Verhalten nicht nur gegenüber den Herausgebern der Rheinischen Zeitung, sondern auch gegenüber der preußischen Regierung, wurde in die historischen Abgründe versenkt, obwohl es erst einige Monate zurücklag. Mit den Junghegelianern hatte er weiterhin eine Rechnung offen. Doch dieser Ablösungsprozeß dauerte einige Jahre und mit der Deutschen Ideologie,66 die 1845/46 geschrieben wurde, aber erst 1932 in deutscher Sprache in Moskau erschien, trennten sich Marx und Engels endgültig vom Junghegelianismus, um eine eigene Geschichtsauffassung zu begründen. Und trotzdem gilt: „Ohne die Dialektik von Hegel kann … Marxens eigene Gestaltung des Kommunismus nicht verstanden werden.“67 Denn etwa zur gleichen Zeit, als er sich in Kreuznach intensiv mit der Hegelschen Rechtsphilosophie, der „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“, beschäftigte, schrieb er im September 1843 an Ruge, daß man nicht eine dogmatische Fahne aufpflanzen sollte, sondern dem Kommunismus von Cabet, Dézamy oder Weitling als dogmatischer Abstraktion entgegentreten müsse: „Dieser Kommunismus ist selbst nur eine aparte, von seinem Gegensatz, dem Privatwesen, infizierte Erscheinung des kommunistischen Prinzips. Aufhebung des Privateigentums und Kommunismus sind daher keineswegs identisch, und der Kommunismus hat andre sozialistische Lehren, wie die von Fourier, Proudhon etc., nicht zufällig, sondern notwendig sich gegenüber entstehn sehn, weil er selbst nur eine besondere, einseitige Verwirklichung des sozialistischen Prinzips ist.“68 Noch war Marx davon überzeugt, daß man sich vor allem um die theoretische Existenz des Menschen kümmern müsse, d. h. Religion und Wissenschaft unter das scharfe Messer einer sezierenden Kritik legen sollte. Das existentielle Drama um die Rheinische Zeitung war damit jedoch keineswegs ausgestanden, nicht nur weil die Auflage nicht wesentlich gesteigert werden konnte. Der Zensor lauerte nur darauf, antipreußische Artikel ausfindig zu machen, damit dieses Blatt von der Bildfläche verschwände, während die Kapitalgeber eine höhere Auflage wünschten, um nicht weiter rote Zahlen schreiben zu müssen. Das oben erwähnte Ultimatum der preußischen Regierung gegenüber der RZ und das opportunistische Auftreten ihres Chefredakteurs bewirkten zwar, daß die Auflage innerhalb von zwei Monaten um mehr als das Doppelte gesteigert werden konnte, was der Chefredakteur auf sein unermüdliches Bemühen im Kampf gegen revolutionäres Gedankengut zurückführen durfte und vielleicht auch darauf, daß MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 415. Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in: MEW. Bd. 3, Berlin 1962, S. 9 – 530. 67 Julius I. Löwenstein: Marx contra Marxismus (1970). 2. Aufl. Tübingen 1976, S. 38. 68 [Karl Marx]: [Briefe aus den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“], in: MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 344. 65

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er einen kompetenten Stellvertreter, Karl Peter Heinzen (1809 – 1880), eingestellt hatte. Doch gegenüber dem Kölner Konkurrenzblatt blieb diese Absatzzunahme weit hinter den Erwartungen zurück, was Marx durchaus bewußt war, aber ihn wenig tangierte. In seinen Erinnerungen schilderte Heinzen Marx als scharfsinnigen Kopf, von dem sich einige Leute eine Weile haben täuschen und benutzen lassen: „Regelmäßig aber kehrten sie ihm nach einiger Zeit als Feinde den Rücken. Sein Talent hatte sie angezogen, doch sein Charakter trieb sie wieder fort.“69 Ganz offensichtlich gibt es bei heutigen Marxbewunderern eine ‚konkret gelebte Sittlichkeit‘, die mit unserer Vorstellung von moralischem Verhalten rein gar nichts zu tun hat, die aber auch nicht von Marx’ Wegbegleitern geteilt wird, wie wir noch öfter hören werden. Mit der tatkräftigen Unterstützung von Heinzen schien das journalistische Schicksal der RZ sich nach den anfänglichen Querelen zum Guten zu wenden, wenn die Steigerung der Verkaufszahlen anhielt, was wohl alle Beteiligten, außer Marx?, begrüßt hätten. Noch kurz vor Ablauf des Probejahres hatte nämlich der unerbittliche Zensor nach Berlin berichtet, „im Vergleich zu früheren Perioden ist der Ton der Zeitung … ohne Zweifel bedeutend ruhiger geworden“,70 d. h. weniger antireligiös. Religionskritik war jedoch zum sittlichen Markenzeichen einer junghegelianischen Generation geworden, gegen die eine reaktionär gottgläubige preußische Regierung alle politischen Unterdrückungsmaßnahmen einzusetzen für erforderlich hielt. Anfang Januar 1843 sandte die mißtrauische preußische Regierung den Berliner Zensor Wilhelm von Saint Paul nach Köln, der in kurzer Zeit subversive Aktivitäten von Marx entdeckte, worauf am 19. Januar in Berlin der endgültige Beschluß gefaßt wurde, die Zeitung zu verbieten, die bis zum 1. April 1843 ihr Erscheinen einstellen mußte. Am 21. März 1843 berichtete der Zensor von Köln aus an den Regierungsrat Karl Hermann Bitter im Berliner Innenministerium, daß es außer Marx keine Persönlichkeiten gäbe, „welche die Zeitung in ihrer früheren odiosen Dignität zu erhalten und ihre Richtung mit Energie zu vertreten vermöchte“;71 Heinzen, Jung, Meyen oder Mevissen besäßen zwar scharfe Federn, aber sie seien lediglich „instinktmäßige Radikale“. Doch die Zeiten ändern sich und mit ihnen auch die Menschen und ihre Einstellungen; allerdings nicht immer zum Besseren. Bei Marx müssen wir jedoch annehmen, daß seine Gehässigkeit fortlaufend zunahm, was ebenfalls als eine Veränderung angesehen werden kann, wenn auch nicht zum Guten. Um noch einmal seinen Mitredakteur bei der Rheinischen Zeitung Heinzen zu zitieren, der nach einer physiognomischen Beschreibung von Marx folgende Einschätzung von dessen konkreter Sittlichkeit gibt, auch wenn ich dies nicht ganz begreifen kann: „Man begreift sofort, daß eine so gebildete Natur einen Feind nicht offen und ehrlich Karl Heinzen: Erlebtes. II. Theil, Boston 1874, S. 422. Zitiert in MEGA. I. Abteilung, Band 1, 1. Halbband (1927). Neudruck Glashütten im Taunus 1970, S. LXII (Einleitung). 71 Zitiert in: Rheinische Briefe und Akten, 1. Bd. (wie Anm. 4), S. 490. Dort auch das nächste Zitat. 69

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zu Leibe geht, sondern daß ihre entsprechendsten Mittel Lüge und Verleumdung, Tücke und Intrigue sein müssen. Von Treue und Verlaß, Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit, Ehre und Charakter ist bei einem solchen Menschen keine Rede, darauf muß man von vorn herein verzichten. Bei allem Talent ist Herr Marx geistig ein bloßer Dialektiker und Sophist und den übersetzt sein gemeiner Charakter in die Praxis unmittelbar als Lügner und Intrigueanten.“72 Was war passiert, daß man eine solche harsche Anklage zu Papier bringt? Etwa zur gleichen Zeit, als die Zeitungsauflage sich einigermaßen auf einem mittleren Niveau konsolidiert hatte, übergab jemand Marx einen aus dem Berliner Ministerium entwendeten Entwurf eines neuen Ehescheidungsgesetzes, mit dem die Trennung verheirateter Paare erschwert werden sollte – auch ohne Wikileak oder Edward Snowden funktionierte der Enthüllungsjournalismus damals schon recht gut. Dieses Gesetz sollte vom preußischen König demnächst erlassen werden, war aber bisher geheimgehalten worden. Marx erkannte mit analytischer Schärfe darin sofort die Absicht des Königs, wie Friedrich Engels 1843 in seiner Charakteristik Friedrich Wilhelms IV. schrieb, „das Christentum unmittelbar in den Staat wieder einzuführen, die Gesetze des Staates nach den Geboten der biblischen Moral einzurichten“,73 was eindeutig die Toleranzschwelle des angehenden Revolutionärs und verbohrten Atheisten überschritt. Marx druckte unberechtigterweise das zweifelhafte Dokument am 20. Oktober 1842 in der RZ ab und schrieb in einem kommentierenden anonymen Artikel, „daß die ganze Fassung des Entwurfes an logischer Konsequenz, Präzision, Klarheit und durchgreifenden Gesichtspunkten viel zu wünschen übriglasse“,74 worauf der rheinische Oberpräsident in seinem Bericht nach Berlin den Rückfall in eine atheistische Obsession des Blattes konstatierte. Damit war die Auseinandersetzung mit dem radikalpolitischen Schriftsteller Heinzen, einem „der unwissendsten Menschen dieses Jahrhunderts“,75 keineswegs beendet, denn dieser war nach seiner sofort nach Erscheinen konfiszierten Schrift Die preußische Bureaukratie (1845) angeklagt worden und floh nach Brüssel, wo er mit Marx, Johann Heinrich Georg Bürgers und Ferdinand Freiligrath über die deutschen Zustände diskutierte. Von dort ging Heinzen in die Schweiz und danach in die USA, kehrte jedoch 1848 zurück und war bei dem badischen Revolutionsaufstand 1849 Führer einer Freischar, nach deren militärischer Unterdrückung er wieder in die USA ging und ab 1860 in Boston die radikaldemokratische Zeitschrift Pionier herausgab. Mit seinen Forderungen nach einem Aufstand gegen die deutsche Obrigkeit, der radikalen Abrechnung mit deutschen Monarchen sowie seinen sozialistischen Neigungen – er schlug eine republikanische Föderation deutscher Staaten ähnlich dem Schweizer Bund vor, an deren Stelle Marx den K. Heinzen: Erlebtes, II. Theil (wie Anm. 69), S. 424 f. Zitiert in: MEGA. I. Abt., Bd. 1,1 (wie Anm. 70), S. LIX. 74 [Karl Marx]: Der Ehescheidungsgesetzentwurf, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1970, S. 148 (Rheinische Zeitung Nr. 353 vom 19. Dezember 1842). 75 Friedrich Engels: Die Kommunisten und Karl Heinzen, in: MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 314. 72 73

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politischen Zentralismus „der Einen unteilbaren Republik“76 setzen wollte – hätte er eigentlich zu einem Verbündeten von Marx und Engels werden können. Doch Engels eröffnete die Polemik gegen Heinzen in der Deutschen-Brüsseler-Zeitung vom 3. Oktober 1847, die von dem ehemaligen preußischen Offizier Adalbert von Bornstedt (1808 – 1851) herausgegeben wurde, indem er ihn „als den Repräsentanten sämtlicher deutschen nichtkommunistischen Radikalen“77 bezeichnete, der mit „Kommunisten von Partei zu Partei diskutieren“ wolle. In der Schweiz habe Heinzen Revolutionspropaganda betrieben und Engels wollte ihm gar nicht seinen „Übergang vom Liberalismus zum blutdürstigen Radikalismus“78 vorwerfen, doch sein Eintreten für eine schwarzrotgoldene deutsche Republik sei eine armselige Forderung: „Deutschland hat infolge seiner industriellen Trägheit eine so erbärmliche Stellung in Europa, daß es nie eine Initiative ergreifen, nie zuerst eine große Revolution proklamieren, nie auf eigne Faust ohne Frankreich und England eine Republik errichten kann.“79 Heinzen habe seine revolutionären Moralpredigten an die kleinen Bauern gerichtet, aber diese seien niemals fähig, eine revolutionäre Initiative zu ergreifen, weil sie seit 600 Jahren in demokratischen Bewegungen „jedesmal reaktionär auftraten“.80 Karl Marx schrieb in der gleichen Zeitschrift vom 23. Oktober 1847 eine längere satirische Glosse auf Heinzen, einem Mann, „der es versteht, aus Blumenblättern eine Blume, und wäre es auch nur ein Gänseblümchen, zusammenzusetzen“,81 die vor allem versuchte, diesen radikalen Demokraten lächerlich zu machen: „Herr Heinzen ist niemals Republikaner geworden, er ist es seit seiner politischen Geburt gewesen … Herr Heinzen ist nicht immer Revolutionär gewesen, er ist es geworden.“82 Und so geht es seitenlang mit weitschweifigen Zitaten und literarischen Finessen weiter. Logische Schärfe bzw. sprachliche Präzision war und ist kein gleichwertiger Ersatz für rationales Verhalten, schon gar nicht bei einer restaurativ-konservativen Regierung wie der preußischen, der es nicht um halbwegs verwirklichte Pressefreiheit, sondern vor allem um verschärfte Zensur ging, die in aller Rigorosität durchgesetzt werden mußte. Darüber war Marx sich gar nicht im Unklaren, aber er wollte vor allem provozieren und da kam ihm die preußische Regierung gerade recht. Nach Einberufung des Kabinettsrats unter Vorsitz des Königs wurde am 21. Januar 1843 der Bescheid ausgefertigt, daß die Konzession für die Zeitung Ende März beendigt sei und jedes weitere Erscheinen verboten wurde, was der noch anonyme Marx als triumphalen atheistischen Sieg ansehen konnte. Dieses königliche Verbot 76 Karl Marx: Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral, in ebd., S. 355 (Hervorhebung im Original). 77 F. Engels: Die Kommunisten (wie Anm. 75), S. 309. Dort auch das nächste Zitat. 78 Ebd., S. 310. 79 Ebd., S. 311. 80 Ebd., S. 313. 81 K. Marx: Die moralisierende Kritik (wie Anm. 76), S. 353 (Hervorhebungen im Original). 82 Ebd., S. 335 (Hervorhebungen im Original).

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kam einer deutschen und europäischen Sensation gleich, und die Rheinische Zeitung wurde von vielen als Symbol der deutschen Demokratie angesehen, die vom preußischen Despotismus zerschlagen worden war. Der immer noch ‚namenlose‘ Chefredakteur Marx nutzte allerdings diese von Tausenden unterzeichneten Petitionen zum Erhalt ‚seiner‘ Zeitung und veröffentlichte jetzt eine persönliche, von ihm unterschriebene Erklärung, daß er „der jetzigen Zensurverhältnisse wegen aus der Redaktion der ‚Rheinischen Zeitung‘ mit dem heutigen Tage ausgetreten ist“.83 Nun wußte fast alle Welt, nicht nur, wie er sich scheinbar allem opportunistischem Gehabe verweigert, sondern auch, welchen standhaften Charakter er bewiesen hatte, und der Name Karl Marx und seine moralische Standhaftigkeit war in vieler Munde. „Die Legende von der extraordinären demokratischen Radikalität und Rigorosität des Kölner Blattes und seines letzten Leiters wird sich über ein Jahrhundert fortsetzen.“84 In einer mehrmals aufgelegten Marxbiographie wurde noch im Jahr 1984 die falsche Ansicht vertreten, selbst dem liberalen rheinischen Bürgertum „paßte durchaus nicht die revolutionär-demokratische Richtung, die die Zeitung unter Marx erhalten hatte“.85 Marx sei es nicht mehr möglich gewesen, eine revolutionäre Propaganda öffentlich zu betreiben und deswegen habe er sich entschlossen, dem preußischen Staat den Rücken zu kehren, um sich der bevorstehenden Revolution zu widmen. Wir werden sehen, daß eine solche Interpretation auf reinem Wunschdenken beruht und nicht den Anspruch wissenschaftlicher Redlichkeit beanspruchen kann. Die taktischen Konzessionen, die Marx während seiner Tätigkeit als Chefredakteur der RZ gemacht hatte, sollen sich nach seinem Rücktritt in Luft aufgelöst haben und er nun einige Zeit ein lupenreiner Demokrat geworden sein? Zwischen März und August 1843 schrieb er in einem erst 1927 veröffentlichten Manuskript zur Hegelschen Rechtsphilosophie über Demokratie: „Die Demokratie ist die Wahrheit der Monarchie, die Monarchie ist nicht die Wahrheit der Demokratie. Die Monarchie ist notwendig Demokratie als Inkonsequenz gegen sich selbst, das monarchische Moment ist keine Inkonsequenz in der Demokratie.“86 Vielleicht können dialektische Philosophen aus diesen gedanklichen Verschränkungen von Demokratie und Monarchie etwas Nachvollziehbares herausfiltern; ich kann es nicht. Und auch die weiteren Ausführungen von Marx hellen den Sachverhalt nicht auf, sondern verwirren den Leser mit kryptischen Begriffsumschreibungen, die 83 Karl Marx: Erklärung, in: MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 200 (RZ Nr. 77 vom 18. März 1843. Hervorhebung im Original). In einem Brief an Engels in Manchester vom 19. Juli 1868 schrieb Marx allerdings über sein Ausscheiden aus der Rheinischen Zeitung: „Ich trat ab, da noch von Seite der Aktionäre – wenn auch vergeblich, wie sich später zeigte – Vermittlung mit der preußischen Regierung versucht wurde.“ (MEW. Bd. 32, Berlin 1974, S. 128). 84 Leopold Schwarzschild: Der rote Preuße, Stuttgart 1954, S. 83. 85 P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (1973). 7. Aufl. Berlin 1984, S. 50. 86 Karl Marx: Aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in MEGA. I. Abt., Bd. 1,1 (wie Anm. 70), S. 434. Dort auch die beiden nächsten Zitate (Hervorhebungen im Original).

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3. Kap.: Das atheistische und politische Lehrjahr bei der Rheinischen Zeitung

inhaltsleer sind: „Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die Verfassung nicht nur an sich, dem Wesen nach, sondern der Existenz, der Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen Menschen, das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein eigenes Werk gesetzt. Die Verfassung erscheint als das, was sie ist, freies Produkt der Menschen“. Und schließlich gelangte Marx zu dem eigentümlichen Vergleich, dem wahrscheinlich kein Demokratietheoretiker zustimmen könnte: „Die Demokratie verhält sich in gewisser Hinsicht zu allen übrigen Staatsformen, wie das Christentum sich zu allen übrigen Religionen verhält.“ Wollte Marx damit etwa andeuten, daß Demokratie für ihn genauso abzulehnen ist, wie er das Christentum ablehnte, weil beide zur menschlichen Entfremdung beitragen?87 Diese Ausführungen legen den Verdacht nahe, daß sich Marx zu dieser Zeit zwar intensiv mit den dialektischen Prinzipien Hegels, nicht jedoch mit den Grundlagen einer demokratischen Staatsform beschäftigt hat. Die entscheidenden Motive für das Verbot der Rheinischen Zeitung, gleichzeitig mit den Deutschen Jahrbüchern und der Leipziger Allgemeinen Zeitung, die nicht mehr nach Preußen ausgeführt werden durfte, beschrieb Marx in einem Brief an Arnold Ruge vom 25. Januar 1843 so: „1. die Lüge, daß wir keine Konzession hätten, als wenn in Preußen, wo kein Hund leben darf, ohne seine Polizeimarke, die ‚Rh. Z.‘ auch nur einen Tag ohne die offiziellen Lebensbedingungen hätte erscheinen können. 2. die Zensurinstruktion vom 24. Dez. bezweckte eine Tendenzzensur. Unter Tendenz verstand man die Einbildung, den romantischen Glauben, eine Freiheit zu besitzen, die man realiter zu besitzen sich nicht erlauben würde. Wenn der verständige Jesuitismus, wie er unter der früheren Regierung herrschte, ein hartes Verstandesgesicht hatte, so verlangt dieser romantische Jesuitismus die Einbildungskraft als Hauptrequisit.“88 Nach dem Rausschmiß aus der Redaktion der Rheinischen Zeitschrift schrieb Jenny von Westphalen im März 1843 einen tröstenden Brief an ihr „einzig Herzensmännchen“ in Köln, den sie bald darauf, am 19. Juni 1843, heiratete: „Wie steht Dein Bild so glänzend, siegesstark vor mir, wie sehnt sich mein Herz nach Deiner steten Gegenwart, wie bebt es Dir entgegen in Lust und Entzücken, wie folgt es Dir ängstlich auf allen Deinen Wegen nach. Zum Paßschritier, zum Merten in Gold, zum Papa Ruge, zum Pansa, überall begleit ich Dich hin und geh Dir vor und folg Dir nach. Könnt ich Dir doch die Wege all ebnen und glätten und alles wegräumen, was hindernd Dir entgegentreten sollte. Aber das ist nun einmal nicht unser Los, daß wir auch mit in des Schicksals Räder tatkräftig eingreifen sollten. Wir sind vom Sündenfall, von Madame Evas Verstoß her, zur Passivität verurteilt, unser Los ist das Warten, Hoffen, Dulden, Leiden.“89 Es dauerte nicht mehr lange, 87 Shlomo Avineri: The Social and Political Thought of Karl Marx (1968), Cambridge 1993, S. 34, schrieb: „It can be shown clearly that what Marx terms ‚democracy‘ is not fundamentally different from what he will later call ‚communism‘, and that in any case this ‚democracy‘ is based on, ‚man’s communist essence‘.“ 88 MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 414 f. (Hervorhebungen im Original). 89 MEW. Ergänzungsband. 1. Teil, Berlin 1977, S. 644.

D. Der opportunistische Chefredakteur

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da wurde der erste Wunsch, mit Marx ständig vereint zu sein, Wirklichkeit, aber Jenny konnte nicht voraussehen, mit welcher durchschlagenden Wucht ihr Mann in das sündenvolle Schicksal seines deutschen Volkes eingreifen sollte – zur Passivität fühlte er sich nie und nimmer verurteilt, auch wenn sie beide viel leiden und erleiden mußten und Jenny in den Hungerjahren in London mit ihren Kindern lieber im Sarg gelegen hätte.90 Als vielbewunderte Jugendschönheit aus adeligem Haus ist sie mit bewundernswerter Geduld dem Arbeiterrevolutionär tatsächlich überall nachgefolgt und mußte Schmach, Hunger und Krankheiten ertragen und erdulden. Ganz offensichtlich wollte sie 1843 nicht nach Frankreich oder Belgien auswandern und ein weibliches Veto einlegen, doch schließlich legte sie die Angelegenheit „in Vater Abrahams Schoß“.91 Nach mehr als 20 Jahren, am 15. Dezember 1863, nachdem Engels die Familie alimentierte, gab Marx nach einem Besuch von Trier anläßlich der Beerdigung seiner Mutter diese Komplimente an seine „Herzensjenny“ zurück, die dort immer noch als die Ballkönigin und schönstes Trierer Mädchen bekannt war: „Es ist verdammt angenehm für einen Mann, wenn seine Frau in der Phantasie einer ganzen Stadt so als ‚verwunschene Prinzessin‘ fortlebt.“92

90 Es waren wohl die schlechten Viertel dieser Weltstadt, in der die Familie Marx zuerst wohnte, von denen Engels 1845 schrieb, „daß diese Londoner das beste Teil ihrer Menschheit aufopfern mußten, um alle die Wunder der Zivilisation zu vollbringen, von denen ihre Stadt wimmelt, daß hundert Kräfte, die in ihnen schlummerten, untätig blieben und unterdrückt wurden, damit einige wenige sich voller entwickeln“ konnten. (Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: MEW. Bd. 2, Berlin 1970, S. 256 f.). 91 MEW. Ergänzungsband. 1. Teil, Berlin 1977, S. 645. 92 MEW. Bd. 30, Berlin 1972, S. 643.

4. Kapitel

Redakteur und Revolutionär in Paris 4. Kap.: Redakteur und Revolutionär in Paris 4. Kap.: Redakteur und Revolutionär in Paris

Marx’ Redaktionstätigkeit bei der Rheinischen Zeitung hatte bei ihm zweifellos eine größere Sensibilität für bestimmte Nöte der rheinischen Bevölkerung hervorgerufen, auch wenn er noch weit davon entfernt war, das kapitalistische System besonders anzugreifen. In seinem letzten Artikel, der gar nicht mehr ganz erscheinen konnte, weil mit dem Regierungserlaß vom 19. Januar 1843 die Zeitung verboten wurde, kommt diese zwiespältige Haltung deutlich zum Ausdruck: „Wer unmittelbar und häufig die rücksichtslose Stimme der Not in der umgebenden Bevölkerung vernimmt, der verliert leicht den ästhetischen Takt, welcher in den feinsten und bescheidensten Bildern zu sprechen weiß, der hält es vielleicht sogar für seine politische Pflicht, auf einen Augenblick öffentlich jene populäre Sprache der Not zu führen, welche er in seiner Heimat zu verlernen keine Gelegenheit fand.“1 Erst die mehrmonatige Besinnungszeit zwischen seiner Entlassung und der Übersiedelung nach Paris haben Marx’ politische Ansichten radikalisiert, weil er sich nun keine beruflichen Restriktionen mehr auferlegen mußte und mit einer ausgiebigen Lektüre von Schriften Niccolò Machiavellis, Charles de Montesquieus, Justus Mösers, Wilhelm Wachsmuths u. a. sowie mit seiner lebenslangen Anfertigung von Exzerpten begann. Der unruhige Aufenthalt in Paris kann deshalb als Reifezeit für Marx’ Vorstellungen eines revolutionären Programms angesehen werden, auch wenn er industrielle Probleme lediglich aus der Sicht Friedrich Engels und aus entsprechender Literatur kennenlernte. In einem Brief an Ruge vom März 1843 behandelte Marx die Revolution als Scham: „Sie ist wirklich der Sieg der französischen Revolution über den deutschen Patriotismus, durch den sie 1813 besiegt wurde“.2 Diese Scham sei in Deutschland noch nicht vorhanden, aber Friedrich Wilhelm IV. würde den Deutschen den Patriotismus der Befreiungskriege durch komödiantenhaften Despotismus austreiben. „Der Staat ist ein zu ernstes Ding, um zu einer Harlekinade gemacht zu werden. Man könnte vielleicht ein Schiff voll Narren eine gute Weile vor dem Winde treiben lassen; aber seinem Schicksal trieb‘ es entgegen eben darum, weil die Narren dies nicht glaubten. Dieses Schicksal ist die Revolution, die uns bevorsteht.“3 Marx befand sich zu dieser Zeit in einem geistigen Klärungsprozeß, welche revolutionären Schlüsse er aus seinen politischen Erfahrungen ziehen sollte und wie er sie in ein System integrieren konnte. Die erste Lektüre von Schriften James Mills, David Ricardos, Jean-Baptiste Says oder 1 [Karl Marx@5HFKWIHUWLJXQJGHV‫ڟڟ‬.RUUHVSRQGHQWHQYRQGHU0RVHOLQ0(:%G Berlin 1970, S. 172 (Hervorhebungen im Original. Artikel vom 15. Januar 1843). 2 [Karl Marx]: [Briefe aus den ‚Deutsch-Französischen Jahrbüchern‘], in ebd., S. 337. 3 Ebd., S. 338.

A. Arnold Ruges Hilfestellung

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Adam Smith’, die er dann in London gründlich exzerpierte, brachte Marx am Ende seines Pariser Exils, nachdem er Engels’ Aufsatz „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ in den Jahrbüchern gelesen hatte, in Verbindung mit ökonomischen Theorien, die ihm vorher ganz fremd waren. So entstanden zwischen April und August 1844 die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte,4 die allerdings noch stark auf Hegelsche und Feuerbachsche Kategorien bezogen sind und keineswegs als eine theoretische Ökonomik angesehen werden können.

A. Arnold Ruges Hilfestellung Marx war arbeitslos und schrieb einen verzweifelten Brief an seinen Bewunderer Arnold Ruge, ob dieser ihm nicht im Ausland eine Stelle verschaffen könne, denn in Preußen oder Deutschland wolle er nicht länger sein Dasein fristen, ganz abgesehen davon, daß er mittellos war und die späteren kommunistischen Förderer fehlten. Gerade mit dem Land, in dem im 19. Jahrhundert sozialistische und kommunistische Parteien auf der Basis marxistischer Lehren ihre größten Triumphe feierten und der Kapitalismus seinen Siegeszug antrat, wollte der Begründer des ‚Wissenschaftlichen Sozialismus‘ nichts mehr zu tun haben. Im Jahr 1843 stellte sich für Marx allerdings die drängende Frage, an wen er sich wegen Hilfe, aus seiner mißlichen Lage herauszukommen, wenden sollte? Mit seinen Berliner Freunden und seinen preußischen Gönnern hatte er offenbar endgültig gebrochen, seine Mutter wollte oder konnte ihn nicht alimentieren und Friedrich Engels war ihm lediglich kurz Ende November 1842 auf seiner Durchreise nach England in Köln begegnet. Blieb eigentlich nur noch der Briefpartner Ruge, dessen Hallische Jahrbücher nach fünfjährigem Bestehen allerdings auch ums Überleben kämpften. Ruge, ein demokratischer Revolutionär, der im bewußten Gegensatz zu Marx demokratisches und freiheitliches Gedankengut verteidigte und deshalb sechs Jahre in ein preußisches Gefängnis gesperrt worden war, hatte publizistisch ein ähnliches Schicksal erlitten wie Marx, aber er hatte konkrete Pläne. Seine inzwischen in Deutsche Jahrbücher umbenannte Zeitschrift, die im Königreich Sachsen gedruckt wurde, durfte nicht mehr nach Preußen eingeführt werden, weil auch in ihnen der Atheismus einen breiten Raum eingenommen hatte und deshalb von der Zensur verboten worden waren. Ruge entwickelte deshalb die kühne Idee, seine Jahrbücher zusammen mit Marx im Ausland neu zu verlegen und schrieb am 3. Januar 1843 an seinen Bruder Ludwig: „Nun ist Marx ganz ein ausgezeichneter Kopf und nebenbei in Noth wegen seiner Zukunft und zwar der nächsten Zukunft. Die Fortsetzung der Jahrbücher mit ihm ist daher eine Sache, die sich von selbst darbietet.“5 Das sollte sich als 4 Vgl. Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW. Ergänzungsband. 1. Teil, Berlin 1977, S. 465 – 588. 5 Arnold Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter aus den Jahren 1825 – 1880, hrsg. von Paul Nerrlich. 1. Bd. (1886). Neudruck Aalen 1985, S. 295 (Hervorhebung im Original).

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4. Kap.: Redakteur und Revolutionär in Paris

eine grobe Fehleinschätzung erweisen, aber nicht deswegen, weil Ruge als Junghegelianer die Arbeiterklasse verachtete,6 sondern weil Marx unfähig und unwillig war, sich den aktuellen Erfordernissen einer Redaktionstätigkeit anzupassen. Viele Jahre später, am 3. März 1860 in einem Brief an den preußischen Justizrat Weber verdrehte Marx diese Entscheidung, nach Paris überzusiedeln, indem er ein Angebot des preußischen Gerichtsbeamten Christian Joseph Esser vorschob, der ihm eine Stelle im preußischen Staatsdienst angeboten habe: „Nach dieser Mitteilung verließ ich Preußen und ging nach Paris.“7 Zwischen hochfliegenden Theorien und der alltäglichen Praxis klaffen oft riesige Lücken und Gräben, die auch nicht mit logischem Geröllschutt aufgefüllt werden können. Das Angebot Ruges, eine gemeinsame Zeitschrift herauszubringen, erschien Marx als grandioser Plan, weil er glaubte, wie er Ruge am 18. März 1843 nach Dresden schrieb, nun alle seine vergangenen Projekte hinter sich zu lassen und politisch aktiv werden zu können: „Würden nun gar die ‚Deutschen Jahrbücher‘ wieder gestattet, so brächten wir es zum allerhöchsten auf einen schwachen Abklatsch der selig Entschlafnen, und das genügt heutzutag nicht mehr. Dagegen ‚DeutschFranzösische Jahrbücher‘, das wäre ein Prinzip, ein Ereignis von Konsequenzen, ein Unternehmen, für das man sich enthusiasmieren kann. Versteht sich, ich spreche nur meine unmaßgebliche Meinung und füge mich im andern des Schicksals ewigen Mächten.“8 Ruge schoß als Kommanditär 6.000 Taler zur Herausgabe der Zeitschrift bei und das Redaktionsgehalt von Marx sollte 500 Taler pro Jahr betragen; allerdings war man noch unsicher, ob Brüssel, Paris oder Straßburg der günstigste Erscheinungsort sein würde. Das vorhersehbare Problem einer gedeihlichen Zusammenarbeit dieser beiden widersprüchlichen Charaktere scheint Ruge nicht genügend bedacht zu haben, denn ein ‚ausgezeichneter Kopf‘ ist ja nicht automatisch auch ein vertrauenswürdiger und angenehmer Mitarbeiter. Das Frankreich des Bürgerkönigs Louis Philipp war für viele Deutsche ein willkommener Fluchtpunkt und Paris als Zentrum der geistigen Welt Europas bot vielfältige Möglichkeiten, neue Projekte auszuprobieren und sich von der französischen Kultur inspirieren zu lassen. Ruge war bei seinem Plan, seine Zeitschrift in der französischen Hauptstadt erscheinen zu lassen, bewußt, daß der arbeitslose Marx unbedingt eine bezahlte Beschäftigung benötigte, um überleben zu können, und er wollte ihm offenbar auch aus einer akuten Notlage helfen, wie er seinem Bruder schrieb: „Ich habe Marx, der mich um Rath fragt, den Vorschlag gemacht, und wir werden in einigen Wochen einen neuen Prospect ausgeben und Alles ge6 So P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (1973). 7. Aufl. Berlin 1984, S. 70. Dort wird über Ruge die Ansicht vertreten: „Er schreckte zurück vor dem entschieden revolutionären Ton der Artikel von Marx und Engels, vor ihrer unversöhnlichen Kritik der bestehenden Zustände, vor Marx’ Bestreben, enge Beziehungen zu den Arbeitern herzustellen.“ Tatsächlich schreckte Ruge eher zurück vor der kompromißlosen Radikalität von Marx, die für eine Herausgebertätigkeit kontraproduktiv war. 7 MEW. Bd. 30, Berlin 1972, S. 509 (Hervorhebung im Original). 8 MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 416.

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nau verkündigen; denn es leidet keinen Zweifel, daß er darauf eingeht.“9 Ruge war alles andere als ein Sozialist oder Kommunist, weswegen sachliche Konflikte mit Marx eigentlich vorprogrammiert waren, sondern er verurteilte die sozialistische Ordnung und war sich über deren unmenschliche Schwächen klar bewußt: „Weder die complicirten Vorschläge der Fourieristen noch die Eigenthumsaufhebung der Communisten sind klar zu formuliren. Beides läuft immer auf einen förmlichen Polizei- oder Sklavenstaat hinaus.“10 Die schriftstellerische Teilnahme des russischen Revolutionärs Michail Alexandrowitsch Bakunin und Ludwig Feuerbachs, die zwei Briefe sowie je drei von Marx und Ruge, also insgesamt acht, für die Jahrbücher zur Verfügung stellten, wobei nur der Anfangsbuchstabe des jeweiligen Briefschreibers genannt wurde, konnte das gespannte Verhältnis der beiden Herausgeber nicht reduzieren. Ganz bestimmt rührte diese Verstimmung nicht daher, daß Marx im Mai 1843 an Ruge geschrieben hatte: „Ihr Brief, mein teurer Freund, ist eine gute Elegie, ein atemversetzender Grabgesang; aber politisch ist er ganz und gar nicht.“11 Wenn Ruge im Jahr 1844 bereits erkannte, daß der Kommunismus zu einem Polizei- und Sklavenstaat führen müsse, dann können wir kaum noch die ideologische Verblendung erfassen, die Generationen von Kommunisten beseelte, doch noch ein ‚Reich der Freiheit‘ in einer klassenlosen Gesellschaft errichten zu können. Doch diese Idee mobilisierte Millionen von Menschen, gab ihnen ein moralisches Fundament, weil sie sich zumindest einbilden konnten, daß die Zukunft, auch wenn sie in den Sternen lag, erheblich rosiger ausschauen könnte als ihre ökonomische Gegenwart. In dieser bestand eben nur die beklemmende Notwendigkeit, mit schlechtbezahlter Arbeit eine erbärmliche Existenz zu führen, die geprägt war von Hunger, Krankheit, Kindersterblichkeit und ein von sozialen Zwängen und Nöten ausgefülltes Alter, das ohnehin nicht lange dauerte. Robert Mohl schilderte drastisch die gesundheitlichen, sittlichen und körperlichen Folgen und Übel der frühen Fabrikarbeit: „Eine große Anzahl der Weiber und Mädchen geht lahm und linkisch, mit aufgezogener Brust und Krümmung des Rückgrathes. Fast alle haben Plattfüße, und ihr Tritt ist hinsichtlich der Elasticität des Fußes und Knöchels sehr verschieden von der Bewegung einer vollkommenen Bildung. Die Haare sind dünn und straff; gar Manche haben wenig Bart, und dieser sitzt in einzelnen kleinen Büscheln, sehr ähnlich dem Barte der rothen Menschen Amerika’s.“12 Zwar Arnold Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter, 1. Bd. (wie Anm. 5), S. 295. Ebd., S. 346 (Brief an Ludwig Feuerbach vom 15. Mai 1844). 11 Karl Marx: [Briefe aus den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“], in: MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 338. Der damalige politische Plan von Marx bestand nicht in einer Konstruktion der Zukunft, sondern in auf die Gegenwart bezogenen Absichten, „ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten“ (ebd., S. 344. Hervorhebung im Original. Brief vom September 1843). 12 Robert Mohl: Ueber die Nachtheile, in: Archiv der politischen Oekonomie und Polizeiwissenschaft, Bd. II, 1835, S. 150 f. 9

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4. Kap.: Redakteur und Revolutionär in Paris

wurde die Kindersterblichkeit im 19. Jahrhundert durch medizinische Fortschritte und eine bessere Ernährung allmählich reduziert, doch sie bewegte sich immer noch auf einem erschreckend hohen Niveau; etwa die Hälfte der Neugeborenen starb vor Vollendung des 20. Lebensjahres! In seinen schriftlichen Äußerungen mag der Kommunismus in Paris für Marx „eine unvollkommene dogmatische Abstraktion“13 gewesen sein, in der politischen Realität war er durch die Schriften und das Wirken von Etienne Cabet, Pierre Joseph Proudhon, Claude Henri de Saint-Simon u. a. eine ungeheure Herausforderung. Marx und Ruge entfremdeten sich immer stärker, denn in Ruges Überlegungen spiegelte sich eine Auffassung, die mit sozialistischem oder kommunistischem Gedankengut völlig unvereinbar war und eine Zusammenarbeit wahrscheinlich verhindert hätte, wenn Ruge die tiefsten Regungen Marx’ schon vorher bekannt gewesen wären. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, wenn Ruge sich mit Marx über ihre unterschiedlichen ideologischen Standpunkte ausgetauscht hätte, ehe er ihm eine schriftstellerische Mitarbeit in seiner Zeitschrift anbot, doch war er offenbar selbst in einer prekären Lage, die ihm keine ruhige Überlegung ermöglichte und überstürzt handeln ließ. Sein wichtigstes Ziel war ganz offensichtlich der Erhalt der Zeitschrift, in die er schon so viel Kraft, Arbeit und Herzblut gesteckt hatte. Ein schweizerischer Verleger war aber bereit, die Jahrbücher in Frankreich zu veröffentlichen, wenn Ruge 20.000 Francs Gründungskapital aufbringe, und Marx sollte 1.800 Francs pro Jahr als Mitherausgeber und zusätzliche Honorare für seine Beiträge erhalten. Das war ein so großzügiges Angebot, daß Marx es unter allen Umständen ergreifen wollte und mußte. Eine scheinbar gedeihliche Zusammenarbeit mit einer gemeinsamen deutschen Zeitschrift auf französischem Boden konnte beginnen, selbst wenn uns dies heute kurios erscheint, doch Ruge klammerte sich an diesen journalistischen Strohhalm. Im November 1843 trafen das frisch getraute Ehepaar Karl und Jenny Marx in Paris ein, wo Ruge im Faubourg St. Germain, 38, Rue Vanneau, ein Haus gemietet hatte, in dem sie alle wohnen sollten, um gemeinsam die neuen DeutschFranzösischen Jahrbücher. Herausgegeben von Arnold Ruge und Karl Marx – wie gleich auf dem Deckblatt des ersten Heftes stand – erscheinen zu lassen, von denen allerdings nur ein einziges Doppelheft erschien, weil das Interesse in Frankreich gering war und die deutschen Staaten wenig geneigt waren, eine atheistische und politikkritische Zeitschrift auf ihrem Territorium zu dulden. Der völkische und antisemitische Nationalist August Winnig (1878 – 1956), der der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung entstammte, aber 1933 vor „dem Eindringen eines zersetzenden volksfremden Geistes“14 warnte, sah in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern einen „Versuch, den Import französischer Ideen nach Deutschland zu

13 Rolf Hosfeld: Die Geister, die er rief, München/Zürich 2009, S. 55 (Hervorhebung im Original). 14 August Winnig: Vom Proletariat zum Arbeitertum (1930). Sonderausgabe, Hamburg 1933, S. 167.

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beleben, der aber fehlschlug“.15 Ob dies tatsächlich die intendierte Absicht Ruges gewesen war, kann bezweifelt werden, denn die überwiegende Zahl der behandelten Themen in den Jahrbüchern hatte mit ‚französischen Ideen‘ gar nichts zu tun, aber dies steht hier gar nicht zur Debatte, weil es um Marx’ Ideen geht. Menschliche Harmonie und tolerantes Verständnis lassen sich bekanntlich jedoch nicht erzwingen, selbst wenn ein gemeinsames Dach, die Geburt von Marx’ Tochter Jenny am 1. Mai 1844 und ein gemeinsames Zeitschriftenprojekt über einem stehen, das existentielle Bedeutung hat. Es dauerte nur ein halbes Jahr, dann war auch Ruge klar, welchen schwankenden Charakter ein Mann von „tiefstem philosophischen Ernst“ haben konnte, wie er am 15. Mai 1844 Ludwig Feuerbach, mit dem Marx drei Jahre vorher ein Archiv des Atheismus herausgegeben wollte, schrieb: „Marx, mein Mitredacteur, kämpfte immer mit Verlegenheiten und erwartete mit Unrecht seine Hülfe von dem Unternehmen. Alsdann ist er eine eigne Natur, die ganz zum Gelehrten und Schriftsteller geeignet, aber zum Journalisten vollständig verdorben ist. Er liest sehr viel; er arbeitet mit ungemeiner Intensivität und hat ein kritisches Talent, das bisweilen in Uebermuth ausartende Dialektik wird, aber er vollendet nichts, er bricht überall ab und stürzt sich immer von neuem in ein endloses Büchermeer. Er gehört seiner gelehrten Disposition nach ganz der deutschen Welt an, und seiner revolutionären Denkweise nach ist er von ihr ausgeschlossen.“16 Auch diese Aussage ist eine treffende Charakteristik von Marx, der sich offenbar nicht eingestehen wollte, daß er für eine solche Herausgebertätigkeit völlig ungeeignet war, denn es ging ja nicht nur darum, Artikel zu schreiben, sondern das Verlagsprojekt auch organisatorisch zu befördern und Ruge die Arbeit zu erleichtern. Auf dieser menschlichen Grundlage konnte keine gedeihliche Zusammenarbeit entstehen, auch wenn beide über journalistische Exzellenz verfügt hätten, denn ein Minimum an gemeinsamem Wertebewußtsein ist unbedingte Voraussetzung für ein Partnerschaftsprojekt, noch dazu im Ausland, d. h. in der französischen Hauptstadt, wo sich Hunderte von Projektemacher tummelten. Es wurde dennoch vereinbart, daß Marx für die Zeitschrift bekannte deutsche und französische Autoren gewinnen und selbst brillante Beiträge verfassen sollte, aber die erste und letzte Ausgabe vom Februar 1844 enthielt keinen einzigen Beitrag eines bekannten Franzosen und von den Deutschen hatte neben Beiträgen von Engels und Hess nur Heinrich Heine ein Gedicht beigesteuert sowie der aus Bayern vertriebene Redakteur Ferdinand Bernays. Marx hatte zwei längere, ziemlich abstrakte Abhandlungen bereits während seines Aufenthaltes im Hause seiner Schwiegermutter in Kreuznach konzipiert bzw. geschrieben, nämlich über Hegels Rechtsphilosophie und über die Judenfrage. Silberner glaubt, daß Marx sich mit der Judenfrage be-

Ebd., S. 51. Arnold Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter, 1. Bd. (wie Anm. 5), S. 343 (Hervorhebung im Original). 15 16

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4. Kap.: Redakteur und Revolutionär in Paris

faßte, „ohne eine genaue Kenntnis davon zu haben“;17 er habe jedoch seit seiner Jugend Interesse daran gezeigt. Auf alle Fälle hatte er Bruno Bauers Abhandlungen über die Juden gründlich gelesen und als der Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Köln ihn um eine Petition für die Juden an den Landtag bat, sagte er zu, schrieb allerdings am 13. März 1843 an Ruge: „So widerlich mir der israelitische Glaube ist, so scheint mir Bauers Ansicht doch zu abstrakt. Es gilt soviel Löcher in den christlichen Staat zu stoßen als möglich und das Vernünftige, soviel an uns, einzuschmuggeln. Das muß man wenigstens versuchen – und die Erbitterung wächst mit jeder Petition, die mit Protest abgewiesen wird.“18 Im gleichen Brief hatte Marx aus Köln an Arnold Ruge in Dresden über seine schriftstellerischen Pläne für die Jahrbücher geschrieben, von denen jedoch kein einziger eine ökonomische Frage behandelte, sondern eher auf Philosophie und Politik abzielte: „Feuerbachs Aphorismen sind mir nur in dem Punkt nicht recht, daß er zu sehr auf die Natur und zu wenig auf die Politik hinweist. Das ist aber das einzige Bündnis, wodurch die jetzige Philosophie eine Wahrheit werden kann.“19 Die Feuerbachsche Kritik an Hegel, an dessen Philosophie als letztem Zufluchtsort der Theologie, war wohl auch ursächlich für Marx’ Aufsätze, die in den Jahrbüchern erschienen, verantwortlich. Diese Aufsätze brauchen hier schon deshalb nicht ausführlich behandelt zu werden, weil sie die ökonomischen Verhältnisse unzureichend in den Fokus nehmen. Etwa ein halbes Jahr vor der Ankunft Marx’ in Paris hatte Heinrich Heine am 15. Juni 1843 einen Aufsatz „Kommunismus, Philosophie und Klerisei“ verfaßt, der wenig später in der Zeitschrift für die elegante Welt veröffentlicht wurde. Darin geht er kurz auf Kommunisten als einzige Partei in Frankreich ein, die einige Beachtung verdiene, weil sie verachtet und verfolgt werde, auch wenn „deren Glaubenseifer und düsterer Zerstörungswille“20 an frühere Jahrhunderte erinnere. Der Saint-Simonismus mit dem trübsinnigen Pierre Leroux und Hippolyt Carnot und die Fourieristen verkörperten zwar ehrenwerte Männer, aber sie spielten nur mit der sozialen Frage als überliefertem Begriff und würden nicht von einer dämonischen Notwendigkeit getrieben, weshalb früher oder später „die zerstreute Familie Saint-Simons und der ganze Generalstab der Fourieristen zu dem wachsenden Heere des Kommunismus übergehen und, dem rohen Bedürfnisse das gestaltende Wort leihend, gleichsam die Rolle der Kirchenväter übernehmen“ würden.

17 Edmund Silberner: Sozialisten zur Judenfrage, Berlin 1962, S. 115 (Hervorhebung im Original). 18 MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 418 (Hervorhebung im Original). 19 Ebd., S. 417. 20 Heinrich Heines sämtliche Werke. 4. Bd., Leipzig o. J., S. 354. Dort auch das nächste Zitat.

B. Zwei Aufsätze für die Deutsch-Französischen Jahrbücher

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B. Zwei Aufsätze für die Deutsch-Französischen Jahrbücher Beide Aufsätze waren kaum geeignet, eine größere Leserschaft weder in Deutschland noch in Frankreich bei der Stange zu halten, was ja die unabdingbare Voraussetzung des finanziellen Überlebens nicht nur der Zeitschrift, sondern auch ihrer beiden Herausgeber war, denn ihre Inhalte waren so steif und trocken wie lange eingefrorenes Leder. Weder deutsche und schon gar nicht französische Leser waren geneigt, sich durch diesen abstrakten und ausgewalzten Wust von komplizierten Gedankengängen hindurchzuarbeiten oder genauer hindurchzuwühlen. Marx hatte sich offenbar in Berlin den unverdaulichen Jargon Hegels und des deutschen Idealismus angeeignet, der tiefgründige Phrasen mit intellektueller Exzellenz verwechselte und eine Zumutung für jeden kritisch-rationalen Betrachter darstellt. Ich möchte nur ein Beispiel dieser abstrakten Überlegungen zitieren, um zu zeigen, daß wohl nur wenige Leser etwas Konkretes damit anfangen konnten und sich eher auf den Arm genommen fühlen mußten als mit einem echten Problem konfrontiert zu sein: „Wie die alten Völker ihre Vorgeschichte in der Imagination erlebten, in der Mythologie, so haben wir Deutsche unsre Nachgeschichte im Gedanken erlebt, in der Philosophie. Wir sind philosophische Zeitgenossen der Gegenwart, ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein. Die deutsche Philosophie ist die ideale Verlängerung der deutschen Geschichte. Wenn wir also statt die oeuvres incomplètes unsrer reellen Geschichte die oeuvres posthumes unserer ideellen Geschichte, die Philosophie, kritisieren, so steht unsere Kritik mitten unter den Fragen, von denen die Gegenwart sagt: That is the question.“21 Damit konnte vieles gemeint sein, aber eine wichtige Frage der Philosophie oder gar der Geschichtswissenschaft war es nicht, denn die deutsche Philosophie seit Immanuel Kant war ja durch seine Nachfolger, vor allem durch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, auf den idealistischen Kopf gestellt worden, d. h. sie hatte mit reeller Geschichte nichts mehr gemein und schwelgte in mythologischen Vorstellungen, die mit der konkreten Gegenwart gar nichts zu tun hatten. Unter den gegebenen Umständen eines deutschen Zeitschriftenprojekts in einer ausländischen Stadt wäre eine andere Publikationsstrategie vonnöten gewesen als eine abstrakte Beschreibung Hegelscher Varianten von Staat und bürgerlicher Gesellschaft, für die aber weder Ruge noch Marx die organisatorischen Voraussetzungen mitbrachten. Entweder hätte man alle Aufsätze gleich in französischer Sprache veröffentlichen müssen oder noch besser sich aktueller Probleme widmen sollen, um französische und/oder deutsche Leser anzusprechen. Wenn Marx Hegels künstlichen Gegensatz zwischen Privateigentum und Vermögen behandelt, die ja eigentlich gar keinen Gegensatz bilden, sofern wir einen betriebswirtschaftlichen oder ökonomischen Standpunkt einnehmen, kommt er über einige belanglose Aphorismen nicht hinaus und trägt zu dem eigentlichen Problem gar nichts bei: „Die politische Verfassung in ihrer höchsten Spitze ist 21 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844), in: MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 383 (Hervorhebungen im Original).

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also die Verfassung des Privateigentums. Die höchste politische Gesinnung ist die Gesinnung des Privateigentums. Das Majorat ist bloß die äußere Erscheinung von der innern Natur des Grundbesitzes. Dadurch, daß es unveräußerlich ist, sind ihm die sozialen Nerven abgeschnitten und seine Isolierung von der bürgerlichen Gesellschaft gesichert. Dadurch, daß er nicht nach der ‚Gleichung der Liebe zu den Kindern‘ übergeht, ist er sogar von der kleinern Sozietät, der natürlichen Sozietät der Familie, ihrem Willen und ihren Gesetzen losgesagt, unabhängig, bewahrt also die schroffe Natur des Privateigentums auch vor dem Übergang in das Familienvermögen.“22 Man kann diese Gedanken drehen und wenden, man kann riesige ‚philosophische‘ Abhandlungen darüber schreiben, ohne eine konkrete Erklärung der Bedeutung des Privateigentums zu erhalten, denn ob der Staat das Privateigentum schützt oder nicht, kann weder abhängig gemacht werden von der Gesinnung noch von der Staatsform, solange Privateigentum nicht völlig abgeschafft ist, was selbst im Kommunismus nicht möglich war, auch wenn es ideologisch hinausposaunt wurde. Was bei allen diesen Überlegungen gar nicht reflektiert wird, ist, daß mit der Aufhebung des Privateigentums nur noch ein Akteur, nämlich der allmächtige Staat, das Sagen hat und gesellschaftliche Korrekturmechanismen automatisch außer Kraft gesetzt werden. Marx erging sich, bevor er für die gänzliche Abschaffung von Privateigentum an Produktionsmitteln plädierte, in begrifflichen Spielereien, etwa mit dem dialektischen Widerspruch von Privateigentum und Familie, weil die natürliche Sittlichkeit in Form der Liebe abhanden gekommen sei und dieser Widerspruch „die Barbarei des Privateigentums gegen das Familienleben“23 darstelle. Arthur Schopenhauer hat den Hegelschen Sprachunsinn als Windbeutelei und Schaumschlägerei in aller Schärfe kritisiert, aber wenn Marx diesen Jargon weiter kultivierte, sollte man ihm zumindest nicht konzedieren, daß er damit einen wichtigen wissenschaftlichen Beitrag zu einer materialistischen Einsicht, „einen typischen Zug der menschlichen Beziehungen im Kapitalismus mit seinem Grundsatz, daß der Mensch des Menschen Wolf ist“,24 widerspiegele. In welchem Gesellschaftssystem der Mensch stärker unter die Wölfe geraten ist, ob im Kapitalismus oder im Kommunismus, darüber gibt es heute kaum mehr einen wissenschaftlichen Dissens. Der Übergang vom Idealismus zum Materialismus bzw. von der Philosophie zur Ökonomie konnte Marx zu dieser Zeit schon deshalb nicht gelingen, weil er in die industriellen Verhältnisse der frühen 1840er Jahre keinen Einblick hatte. An pessimistischen Ansichten über kapitalistische Systeme mangelt es in der Literatur des 19. Jahrhunderts nicht, selbst auf den Niedergang der Kunst, den Rückgang der Frömmigkeit und Sittlichkeit, der Zunahme von Luxus und Lastern sowie den heitern Genuß des Lebens soll er sich ausgewirkt haben: „Der Kapitalismus hat ei-

22 Karl Marx: [Kritik des Hegelschen Staatsrechts (§§ 261 – 313], in ebd., S. 303 (Hervorhebungen im Original). 23 Ebd., S. 304 (Hervorhebungen im Original). 24 P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (wie Anm. 6), S. 54 f.

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nen finsteren Zug in unser Leben gebracht, er verwandelt die Menschen, um einen derben Ausdruck Schopenhauers zu gebrauchen, in ernste Bestien.“25 Es ist hier nicht der Ort, die Marxschen Elogen genauer zu kommentieren oder zu analysieren, sondern es sollen nur kurz die Inhalte dieser Aufsätze erwähnt werden, um sich eine vage Vorstellung davon zu machen, womit Marx sich damals beschäftigte, bevor er sich dem kapitalistischen System zuwandte. In dem anderen Aufsatz, Zur Judenfrage, versuchte sich Marx nicht nur von seiner jüdischen Herkunft ganz loszusagen, die ihm immer größere geistige Fesseln anzulegen schien, sondern reihte sich ein in einen verstärkenden Strom des Antisemitismus: „Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.“26 Die deutschen Juden waren ja wegen ihrer Religion seit dem Mittelalter fast aller bürgerlichen Rechte beraubt und konnten an dem sozialen und industriellen Emanzipationsprozeß nur dort teilhaben, wo ihnen die Fürsten und Zünfte eine Teilhabe gewährten, d. h. nicht in handwerklichen Berufen, sondern vermehrt in der Geldleihe und in Kaufmannsgeschäften. Marx’ Abrechnung mit Bruno Bauers Schrift Die Judenfrage (1843) mündete in die Forderung einer politischen Emanzipation von der Religion, weil der Widerspruch zwischen Religion und Staatsbürgertum „ein Teil des allgemeinen weltlichen Widerspruchs zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft“27 sei. Er entdeckte plötzlich auch die „politische Revolution“,28 d. h. die Anwendung von vernichtender Gewalt zur Durchsetzung sozialistisch-politischer Ziele, die sich in schönen Worten verkleidet ohne Einschränkung unmenschlicher Mittel bedienen kann: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“29 Auf einen einfachen Nenner gebracht, heißt dies, Gewalt und Waffen sind die eigentlichen Mittel zur Lösung gesellschaftlicher Probleme, nicht friedliches Verhandeln und versöhnliche Kompromisse. Das war ein ganz neuer Gedanke, den er vielleicht in Anlehnung an die große französische Revolution formulierte, die nach dem Sturz der Monarchie am 10. August 1792 ja in die brutale Gewalt der Guillotine durch die Jakobinerführer Maximilien de Robespierre, Camille Desmoulins und Louis-Antoine de Saint-Just ausartete und auch nicht vor der Ermordung des Monarchen zurückschreckte. Vor25 Georg Hansen: Die drei Bevölkerungsstufen, München 1915, S. 352. Später heißt es: „Wie ein Alp lastet der Kapitalismus auf unserer Gesellschaft. Er bewirkt, daß nicht die begabtesten und fähigsten Köpfe, sondern die plattesten und seichtesten den Ton angeben, den Geschmack bestimmen.“ (S. 356). 26 Karl Marx: Zur Judenfrage (1844), in: MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 373. Oder: „Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.“ (S. 377, Hervorhebungen im Original). 27 Ebd., S. 361 (Hervorhebungen im Original). 28 Ebd., S. 367. 29 K. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (wie Anm. 21), S. 385.

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her hatte er ja noch Ideen den Kanonen vorgezogen, denen sich die Menschen unterwerfen, aber nun verspürte er einen revolutionären Impuls, der sich in materieller Gewalt entladen müsse, d. h. die Aussage, es sei für ihn „vor 1848 der sofortige Einstieg in eine proletarische Revolution nicht in Frage“30 gekommen, kann kaum noch aufrechterhalten werden. Und wieso Fritz J. Raddatz behaupten kann: „Karl Marx wollte keine sozialistische Revolution … Karl Marx’ strategischer Plan hieß die proletarische Revolution“,31 ist mir unverständlich und wohl eher ein Mythos bzw. eine philosophische Wortklauberei, die idealistisch gedeutet werden soll. Im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 – das in über 100 Sprachen übersetzt wurde und allein in der DDR davon „fast 8 Millionen Exemplare“32 erschienen – wies Marx unverständlich darauf hin, daß die deutsche bürgerliche Revolution wegen eines fortgeschrittenen Proletariats „nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen [d. h. sozialistischen bzw. kommunistischen, H.K.] Revolution sein kann“33 bzw. daß die Arbeiter die bürgerliche Revolution als eine Bedingung der Arbeiterrevolution ansehen könnten: „Sie können sie aber keinen Augenblick als ihren Endzweck betrachten.“34 Einen ähnlichen ‚Idealismus‘ vertraten in den 1970er Jahren unter Berufung auf Marx die mordenden Mitglieder der Roten Armee Fraktion, die ja ebenfalls bei der arbeitenden Klasse ideologischen Rückhalt erhofften, die ihnen allerdings die kalte Schulter zeigten. Was bei aller Unterschiedlichkeit der konkreten Denkungsart bei beiden ähnlich war, bestand in der sprachlichen Abgehobenheit, die auf jeden arbeitenden Menschen befremdlich wirken muß. Wenn es bei Marx um Gewalt bzw. um Revolution geht, muß man sich fragen, wer die eigentlichen Träger dieses umstürzlerischen Prozesses sind, und in diesem Zusammenhang kommen die Arbeiter ins Spiel, die Proletarier, die als Klasse einer anderen Klasse gegenüberstehen und diese in einer sozialen Revolution vernichten müssen, um sich aus ihrer unverschuldeten Unterdrückung und maßlosen Ausbeutung zu befreien. Das Proletariat ist jedoch noch eingehüllt in die Eierschale einer gesellschaftlichen Kraft, die erst zerschlagen werden muß, um in eine sozialistische Praxis auszuschlüpfen; mehr Philosophie als Tat. In Die heilige Familie wird die weltgeschichtliche Rolle des Proletariats von Marx nicht als eine selbstgestellte Aufgabe dargestellt, sondern einer überirdischen Gesetzmäßigkeit übertragen, die einem unausweichlichen Schicksal gleicht: „Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sinn gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen

Wolfgang Schieder: Karl Marx als Politiker, München/Zürich 1991, S. 27. Fritz J. Raddatz: Karl Marx (1975). 2. Aufl. München 1978, S. 111 f. 32 Eberhard Fromm: Marx – von rechts gelesen, Berlin 1989, S. 148. 33 MEW, Bd. 4, Berlin 1971, S. 493. 34 Karl Marx: Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral, in: MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 352 (Hervorhebung im Original). 30 31

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bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet.“35 Es ist eine phantastische und illusionäre Vorstellung, die dann 1848 im Manifest der Kommunistischen Partei vertreten wurde, daß weltweit einmal Ausbeutung verschwinden könnte, wenn die Klassengegensätze durch die Befreiung des Individuums abgeschafft seien: „In dem Maße, wie die Exploitation des einen Individuums durch das andere aufgehoben wird, wird die Exploitation einer Nation durch die andere aufgehoben.“36 Diese Behauptung ähnelt der nach dem Zweiten Weltkrieg, „Nie wieder Krieg!“, die gebetsmühlenartig wiederholt wurde und wird, selbst wenn verheerende und verwüstende Kriege sich über den ganzen Erdball ausbreiten. Nur wenn man revolutionäre Gewalt durch die geschichtliche Entwicklung als legitimiert ansieht, kann man die paradoxe Auffassung vertreten, Gewalt könne, um Ungerechtigkeiten zu beseitigen, „in den Dienst des Fortschritts“37 gestellt werden, während sie in der historischen Realität zerstört statt aufbaut und friedliches Zusammenleben verhindert. Marx ist in dieser Hinsicht zwiespältig, denn einerseits ist er vom historisch unausweichlichen Selbstmord des kapitalistischen Systems, das sich sein eigenes Grab schaufelt, überzeugt, andererseits benötigt er den massenhaften Aufmarsch der Arbeiterheere zum revolutionären Umsturz des Kapitalismus. Die seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts von England ausgehende Industrielle Revolution hatte die jahrhundertealten Arbeitsverhältnisse, den natürlichen Rhythmus der Landwirtschaft, vollständig verändert und Millionen Menschen zur Fabrikarbeit gezwungen unter teilweise unmenschlichen Verhältnissen, die jeden unbeteiligten Beobachter zutiefst erschüttern mußten. Doch lange vor Marx’ und Engels’ Verdammungsurteilen hatten sich Ökonomen, wie der Staatsrechtler und Politiker Robert (von) Mohl (1799 – 1875), mit den Vor- und Nachteilen des modernen Industriesystems auseinandergesetzt und vor einem übertriebenen Optimismus gewarnt: „Leider hat aber das Fabrikwesen auch seine starke Schattenseite, und es beweist wenig ernste und umsichtige Prüfung, wenn man dieselbe leicht hinwegzuläugnen oder ganz zu ignoriren sucht. Sie besteht natürlich nichts desto weniger, und ihre nachtheiligen Folgen müßten die absichtlich die Augen verschließenden und in träger Ruhe Verharrenden nur um so stärker treffen, je unvorbereiteter der Schlage erfolgt.“38 Aus deutscher Sicht war das riesige englische Kolonialreich, die dominierende Flotte oder der ungeheure Reichtumzuwachs Großbritanniens 35 Karl Marx/Friedrich Engels: Die heilige Familie, in: MEW. Bd. 2, Berlin 1970, S. 38 (Hervorhebungen im Original). 36 Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 479. 37 /MXERPLU7DGLü: Sozialistische Revolution und politische Herrschaft, in: Marx und die Revolution, Frankfurt am Main 1970, S. 107. 38 R. Mohl: Ueber die Nachtheile (wie Anm. 12), S. 142. Mohl hielt es unter diesen Umständen für unwahrscheinlich, daß die Arbeiter ein sittliches Leben führen könnten: „Das Gefühl des ununterbrochenen Leidens und die Bitterkeit über die aussichtslos schlechte Lage macht sie mißtrauisch gegen die höhern und gebildetern Stände, und also auch deren Veranstaltungen und Belehrungen abgeneigt, verhärtet überhaupt das Gemüth gegen eine

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vor dem Durchbruch zur Industrialisierung ein ständiges Ärgernis: „Dieser Staat gleicht den Polypen, die überall ihre Saugfäden haben.“39 Das Revolutionäre an der industriellen Revolution war jedoch nicht die Gewalt, sondern die massiven Veränderungen in der Produktion durch eine ungeheure Steigerung der Arbeitsproduktivität durch Maschineneinsatz, d. h. die Freiheit von Erfindern, neue Maschinen zu konstruieren und zu bauen sowie von Naturwissenschaftlern, neue Theorien über die Materie aufzustellen, um dadurch anerkannt, berühmt oder reich zu werden. „Die größte Schwierigkeit bei Marx ist,“ schrieb ein wohlwollender Biograph bereits 1918, „daß er die Erfinder und Entdecker, die Chemiker und Physiker, die industriellen und landwirtschaftlichen Pioniere und Organisatoren wohl als sozial nützliche, aber nicht als produktive, wertschaffende Faktoren in Rechnung stellte.“40 Die kontinuierliche Erhöhung der Arbeitsproduktivität, gleichgültig ob durch stärkeren Maschineneinsatz oder durch effektivere Arbeitsabläufe, führte zwangsläufig zur Verbilligung der Produkte, die bei gleichem Lohnniveau auch den Lebensstandard der Arbeiter verbesserten. Gerade bei den landwirtschaftlichen Produkten, die im Haushalt einer Arbeiterfamilie im 19. Jahrhundert den weitaus größten Ausgabeposten darstellten, d. h. mehr als zwei Drittel des Einkommens wurde für Lebensmittel ausgegeben, führten zunehmende Importe aus europäischen Staaten und aus Übersee zu einem drastischen Verfall der Preise. Marx hat diese Fragen nie gründlich analysiert und behandelt das Grundeigentum erst ab dem 37. Kapitel des 3. Bandes vom Kapital ausführlicher.41 Aber auch hier konzentrieren sich seine Ausführungen auf die Aussaugung der Landbevölkerung durch die großen Grundeigentümer, der gesellschaftlichen Konzentration des Kapitals sowie der Zersplitterung der Produktionsmittel durch Parzellierung. „Einen bäuerlichen Mittelbetrieb scheint Marx überhaupt nicht zu kennen. Das Hauptgewicht legt er jetzt auf das Irrationelle der Betriebsweise. Sowohl der Großgrundbesitz als auch der Zwergbetrieb sollen die Kräfte des Bodens erschöpfen, die Arbeitskräfte der in ihm thätigen Personen durch Überanstrengung untergraben.“42 Das Problem eines Preisverfalls von Agrargütern lag für Marx schon deshalb außerhalb seiner Überlegungen, weil er davon ausging, daß der Bodenpreis eine Höhe erklimmen würde, die jegliche Produktion beschränke und eben zur Ausbeutung und Vergeudung der Bodenkräfte führen müsse.

fromme Weltanschauung und gegen den Glauben an eine gerechte und wohlwollende Vorsehung.“ (S. 162). 39 Wie ist Armuth in den deutschen Staaten zu verhüten, Quedlinburg/Leipzig 1836, S. 16. Gerade das englische Maschinen- und Fabrikwesen kränkele, was der Autor mit Ironie zu überspielen versuchte: „Es ist doch ein ganz herrliches Land, das England, wo es so viel reiche Leute, als bei uns Poggen im Teiche giebt!“ (S. 17). 40 Max Beer: Karl Marx (1921). Nachdruck Hamburg 2014, S. 135. 41 Vgl. Karl Marx: Das Kapital. III. Bd. (MEW. Bd. 25), Berlin 1966, S. 627 ff. 42 Wilhelm Böhmert: Die Socialdemokratie und die Landfrage, in: Der Arbeiterfreund, 33. Jg., 1895, S. 482 (Hervorhebung im Original).

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Dieser Preisverfall durch eine erhebliche Zunahme der Importe von Nahrungsmitteln aus Übersee war jedoch so gravierend, daß sich der freihändlerischen Partei zuneigende Otto von Bismarck Ende 1878 gezwungen sah, die Einfuhrzölle für Fleisch, Hafer, Roggen, Weizen und andere Produkte erheblich zu erhöhen, weil die deutschen Bauern angeblich durch den Preisverfall in den Ruin getrieben worden wären. (Das war der Vorläufer einer europäischen Abschottungspolitik gegenüber unterentwickelten Staaten, deren Agrarexporte durch hohe Zölle in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft verhindert wurden und einen Teufelskreis von geringem ökonomischen Wachstum und erbärmlicher Armut auslösten). Auch das Handwerk war durch die Industrie unter immer größeren Existenzdruck geraten, weil viele Produkte industriell billiger hergestellt werden konnten und das Handwerk nach Nischen suchten mußte, wo es unverzichtbar war. Verdrängen konnte die Industrie das Handwerk allerdings nicht, wie Marx und die Marxisten vorhersagten und in kapitalistischen Horrorszenarien heraufbeschworen, während konservative Autoren der angeblichen Zunftherrlichkeit vergangener Zeiten nachtrauerten, was ebenso unrealistisch war: „Wer es unternehmen wollte, dem Handwerk die Lebensbedingungen wiederzugeben, welche es z. B. in Deutschland vor 300 Jahren hatte, der müßte nicht blos unsere Eisenbahnen und Telegraphen aus der Welt schaffen, er müßte auch die hunderte lästiger Zollschranken wieder aufrichten, mit denen unsere damaligen zahlreichen Vaterländer umgeben waren; er müßte die damalige Unsicherheit des Waaren- und namentlich auch des Geldverkehrs wieder herstellen und Alles, was bisher für Rechtshülfe und Rechtseinheit geschehen, vernichten; er müßte die Kohlenbergwerke sperren und den Fabriken ihre Dampfmaschinen und Turbinen zerschlagen; und nicht genug an dieser ungeheuren Zerstörung müßte er noch dafür sorgen, daß die Menschen des 19. Jahrhunderts auf die Befriedigung der unzähligen Bedürfnisse verzichteten, welche auch dem eifrigsten Zunftschwärmer zur anderen Natur geworden sind.“43 Zwar ging Marx von diesem ökonomischen Umwälzungsprozeß aus, aber ihm haftete in seinem Sinn nichts echt Revolutionäres an, weswegen die Fabriken zerstört werden sollten, obwohl er von den technischen Neuerungen des Industriezeitalters durchaus beeindruckt war. Die gewaltigen Träger der Revolution konnten eben nur in der Arbeiterklasse gesucht werden bzw. aus dieser hervorgehen, ungeachtet der historischen Tatsache, daß staatlicher oder gesellschaftlicher Umsturz meistens nur etwas Exzeptionelles darstellt. Bevor er sich allerdings mit diesem Phänomen intensiv beschäftigen konnte, vergingen noch einige Jahre, und Paris war trotz einiger Fabriken gerade nicht die geeignete Stadt, um die Entfaltung des Industriesystems genauer zu untersuchen oder gründlicher kennenzulernen. Eine These, die ich für die Industrialisierung Sachsens etwa seit 1825 theoretisch und mit empirischem Material belegt habe, soll hier kurz erwähnt und auf die englischen Verhältnisse bezogen werden, nämlich der erhebliche ökonomische 43 Georg Hirth: Die Lebensbedingungen der deutschen Industrie sonst und jetzt, in: Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik, Jg. 1877, S. 789 (Hervorhebung im Original).

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Druck, der dadurch ausgelöst wurde, daß die eigene Landwirtschaft die steigende Bevölkerung nicht mehr ernähren konnte und auf Agrarimporte angewiesen war. Solange diese Agrarimporte nicht durch den Ausbau eines Eisenbahnnetzes und durch fallende Frachtkosten mit Schiffen aus Übersee günstig transportiert werden konnten, geriet das soziale Gefüge bei jeder Agrarkrise bis in die 1860er Jahre gehörig ins Schwanken, weil sich die Getreidepreise nach starken Ernteausfällen um ein Vielfaches erhöhten. (Umgekehrt war das Gleiche der Fall; bei guten bzw. sehr guten Ernten verfielen die Preise, was schon den Realisten William Shakespeare zu der Aussage über einen Bauern vor einer guten Ernte veranlaßte: „He hang himself in the expectation of plenty.“) Dadurch wurden natürlich auch die Viehbestände an Kühen, Rindern oder Schweinen bedroht, denn für den Nährwert, den man aus einer bestimmten Menge Fleisch erhielt, benötigte man ein Vielfaches des Getreidenährwerts, d. h. es fehlte dieses für die Tiernahrung verwendete Getreide bei der Ernährung der Bevölkerung. England war bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auf erhebliche Agrarimporte angewiesen und konnte nur mit einer Industrialisierung, d. h. mit Exporten von Industriegütern die Agrarimporte bezahlen; in Sachsen entstand dieser Engpaß nach dem Verlust der agrarischen Gebiete an Preußen 1815, für ganz Deutschland in den 1860er Jahren. Im Jahr 1861 wurden 3.510 Tonnen (t) Weizen nach Deutschland eingeführt, 1881 waren es 3.619 t und 1895 13.382 t, während im letzten Jahr lediglich 360 t ausgeführt wurden.44 Nicht nur Marx verstand diese Zusammenhänge nicht, sondern auch ein Professor an der polytechnischen Hochschule Prag, Jan Baptista Lambl, sah in Agrarimporten eine heraufziehende Katastrophe, weshalb man Englands Übermacht und seine „latente volkswirthschaftliche Tyrannie“45 brechen müsse: „Britannien, das Vaterland des Autors der ‚Wealth of nations‘, dieser industrielle und handelspolitische Koloß von Europa, übt auf die agricolen Staaten und die Entwickelung ihrer Viehzucht einen unglaublich despotischen, verderblichen Einfluß, nicht etwa deshalb, weil es, gleich anderen Importstaaten, für sein Geld von ihnen animale Waaren bezieht, wodurch sie, – wiewohl in ganz naturgemäßer Weise – depecorirt werden, sondern und hauptsächlich dadurch, daß es versteht, Handel und Industrie überall zu hemmen, diese besten Hebel der Viehzucht überall lahm zu legen, mit hundert Künsten niederzuhalten, und unter dem Vorwande der ‚Vertretung europäischer Interessen‘ selbst Kriege anzuzetteln und zu führen, deren wohlberechnetes Ziel nichts Anderes ist, als Handel und Industrie anderwärts nicht aufkommen zu lassen.“46 Wenn Marx und Lambl sich gekannt hätten, wären sie wohl darüber übereingekommen, daß es für Europa am besten gewesen wäre, den englischen Staat durch eine Revolution zu beseitigen. Lambl sah die größte Gefahr darin, daß England durch seine Einfuhren an Nahrungsmitteln und Fleisch alle europäischen Agrikulturstaaten massiv bedrohe. „So lange aber ein angemessener Wohlstand, 44 Vgl. Hubert Kiesewetter: Die Industrialisierung Sachsens, Stuttgart 2007, S. 210 ff.; Max Peters: Die Entwickelung der deutschen Rhederei. 1. Bd., Jena 1899, S. 15. 45 Jan Baptista Lambl: Depecoration (Viehabnahme) in Europa, Leipzig 1878, S. 255. 46 Ebd., S. 254 f. (Hervorhebungen im Original).

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durch Industrie und Handel erzeugt, auch in den Agriculturstaaten nicht das Glück recht Vieler ist, hilft keine Erleichterung der Communication zur Einfuhr von Nahrungsmitteln, welche viele so leicht, gleichsam für selbstverständlich, wie die Ausfüllung eines ‚luftleer gewordenen Raumes‘ halten.“47 In England hatte sich das Industriesystem zuerst durchgesetzt und die 1. Weltausstellung vom 1. Mai bis 11. Oktober 1851 im Londoner Chrystal Palace (Hyde Park) war eine vielbewunderte Demonstration der inzwischen erreichten technischen Fortschritte, von Rasenmähern über Pistolen (Colt) bis zu Beinprothesen und Colgate-Zahnpasta. Als z. B. der amerikanische Landmaschinenproduzent Cyrus Hall McCormick (1809 – 1884) von Chicago mit seinen Rasen- und Getreidemähern auf diese Weltausstellung kam und die führenden englischen Hersteller dieser Maschinen herausforderte, sich in einem Mähwettbewerb mit seinen Maschinen zu messen, machte man sich über ihn lustig. Wie sollte denn die amerikanische Industrie in so kurzer Zeit in der Lage gewesen sein, die englische Weltherrschaft herausfordern oder sogar bedrohen zu können? Doch die McCormick-Maschinen gewannen alle Wettbewerbe auf englischem Boden, weswegen dieser Unternehmer glaubte, daß er im industriell unterentwickelten Deutschland viele seiner Maschinen verkaufen könnte. Aber die überwiegend kleinräumige Struktur der deutschen Landwirtschaft verhinderte einen Erfolg, weil die deutschen Bauern stärker auf chemische Düngung als auf Maschineneinsatz setzten, der sich auf ihren kleinen Gütern selten lohnte. McCormick ging deshalb nach Rußland, wo es erheblich größere Bauerngüter und ebenere Flächen ähnlich denen in den USA gab, auf denen diese mowers und reapers effektiver und ohne häufige Reparaturschäden eingesetzt werden konnten.48 Zur gleichen Zeit sandte die preußische Regierung politische Spione nach London und Paris, um die Aktivitäten des Bundes der Kommunisten auszuforschen und möglichst viele von dessen Mitgliedern verhaften zu lassen. In einem Polizeibericht wurde erwähnt, daß in Paris eine kommunistische Gemeinde von dem aus Niedernhausen stammenden Schneidermeister Johann Georg Reininger zusammen mit Adolph Majer u. a. geleitet wurde, in der regelmäßig Sitzungen abgehalten wurden, auf denen revolutionäre Strategien diskutiert worden seien, deren Ergebnisse an die Londoner Zentralbehörde übermittelt wurden. „Dieser Mann [Reininger], ein Deutscher von Geburt, ist einer der thätigsten Emissaire der kommunistischen Partei. Seine Werkstatt in Paris war eine Haupt-Pflanzschule der kommunistischen Propaganda und er hat sich mit solcher eine förmliche Speisewirthschaft verbunden, vermittelst deren er namentlich deutsche Gesellen an sich zu fesseln suchte“.49 Ebd., S. 255. Vgl. Hubert Kiesewetter: „Mein Vater ist mit seinen McCormick Ma(s)chinen sehr zufrieden“, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 34. Jg., Heft 2, !989, S. 91 ff. 49 Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen des neunzehnten Jahrhunderts (1853), Berlin 1976, S. 81. Eine weitere Pariser kommunistische Gemeinde wurde von dem Lithographen Julius Joseph Cherval, der Marx in Köln kennengelernt hatte und von diesem in den Bund aufgenommen worden war, geleitet: „Cherval ist nämlich der Sohn eines rheinischen Beamten Namens Joseph Krämer, welcher sein Gewerbe als Lithograph 47

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Auf einer der Sitzungen sprach sich Reininger, der schon am 6. September 1851 als kommunistischer Emissär in Mainz verhaftet worden war, aber im folgenden Prozeß freigesprochen wurde, dafür aus, alle revolutionären Kräfte zu zentralisieren, damit Fürsten, Pfaffen, Aristokraten und Kapitalisten vernichtet werden könnten. „Nach der Revolution wird das Land von der Proletarier-Armee in Belagerungszustand erhalten.“50 Marx und Engels hätten sich über diese ökonomischen Entwicklungen leicht informieren können, denn Marx in London und Engels in Manchester erlebten den amerikanischen Aufstieg zu einer Industrienation hautnah mit. Für Marx stand allerdings der unbarmherzige Krieg zweier Klassen im Vordergrund seiner Überlegungen und auch die parlamentarischen Errungenschaften von Presse-, Koalitionsund Versammlungsfreiheit beeindruckten ihn wenig. Für ihn galt, ganz besonders in England, daß die moderne Industrie unterworfen werden müßte: „In keinem anderen Lande hat die Despotie des Kapitals und die Arbeitssklaverei einen so hohen Grad der Entwicklung erreicht wie in Großbritannien.“51 Ein Jahr bevor Marx den 1. Band von Das Kapital veröffentlichte, 1866, schrieb der Philosoph und Sozialist Friedrich Albert Lange (1828 – 1875), weil die englische Philosophie und Naturwissenschaft den Materialismus bzw. den materialistischen Geist auf die politische Ökonomie des ganzen Volkslebens übertrugen: „Wenn das Streben nicht auf flüchtigen Genuss, sondern auf wirkliche Vervollkommnung der Zustände gerichtet ist, wenn die Energie des materiellen Unternehmungsgeistes geleitet ist durch eine klare Berechnung, die bei Allem die Grundlage bedenkt und daher zum Ziele kommt: dann entsteht jener riesige Fortschritt, der in unseren Tagen England binnen zwei Jahrhunderten gross gemacht hat, der in Athen zur Zeit des Perikles mit der höchsten Blüthe geistigen Lebens, die je von einem Staate erreicht worden ist, Hand in Hand ging.“52 Davon wollte Marx in seiner Klassenkampfideologie gar nichts wissen, aber trotzdem war diese angebliche Despotie keineswegs der Krieg zweier feindlicher Armeen gegeneinander, wie er in so vielen Kriegen der Weltgeschichte ausgefochten wurde. Diesem Kriegsgeschehen gegenüber bewahrte Marx eine zwiespältige Haltung, wie er es in einem Brief vom 12. September 1870 an Nikolai Franzewitsch Danielson in Petersburg ausdrückte: „Ich hoffe, es wird in Europa keinen allgemeinen Krieg geben. Obwohl er schließlich die soziale, ich zu Wechselfälschungen mißbraucht hat, deswegen verhaftet worden, aber 1844 aus dem Gefängniß in Cöln entsprungen und nach England und später nach Paris entflohen ist.“ (Ebd.). 50 Zitiert ebd., S. 83. 51 Karl Marx: Brief an das Arbeiterparlament, in: MEW. Bd. 10, Berlin 1970, S. 125. (Abgedruckt in The People’s Paper Nr. 98 vom 18. März 1854). In diesem Jahr 1854 wurde im 2. Teil des preußischen Polizeiberichts über Kommunisten-Verschwörungen von Marx geschrieben: „Marx wird von Trier aus als einer der gefährlichsten und talentvollsten Mitglieder der europäischen Umsturzparthei, dabei als schlau, kalt und entschlossen, bei seiner Parthei hoch angesehen, geschildert.“ (Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen (wie Anm. 49), S. 80 (Hervorhebungen im Original). 52 Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus (1866). 1. Buch, 2. Aufl. Iserlohn 1873, S. 145.

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meine damit die ökonomische Entwicklung nicht aufhalten könnte, sie vielmehr noch vorantreiben würde, brächte er doch sicher für eine längere oder kürzere Periode eine nutzlose Erschöpfung der Kräfte mit sich.“53

C. Arbeiter und Revolution In der Landwirtschaft bahnten sich langfristig ähnliche umwälzende Veränderungen wie in der Industrie an, denn durch die Auflösung des Feudalwesens, die sogenannten Agrarreformen, wurden Landarbeiter zu beliebig verwendbaren Funktionsträgern; sie wanderten aus, sie arbeiteten als Wander- oder Saisonarbeiter oder sie suchten eine wenig qualifizierte Beschäftigung in der Industrie. Sachsen- oder Hollandgänger wurden diese bedauernswerten Menschen genannt, weil sie dort vorübergehende Arbeit finden wollten, wo sie gerade gebraucht wurden, d. h. im industrialisierten Sachsen oder bei Blumen- bzw. Gemüseernten in den Niederlanden. Ob es ihnen besser ging als dem späteren Industrieproletariat, kann füglich bezweifelt werden, denn sie waren öfter arbeitslos als beschäftigt. Die (deutschen) Landwirte waren traditionell konservativ, was schon Johann Heinrich von Thünen in den 1820er Jahren erfahren hatte, doch als Justus von Liebig Anfang der 1840er Jahre seine Mineraltheorie veröffentlichte, wollten die meisten Bauern nichts von künstlicher Düngung wissen, weil sie jahrhundertelange Erfahrungen mit natürlichem Dünger, dem Stallmist, gemacht hatten und nichts Neues ausprobieren wollten.54 Die Erträge der deutschen Landwirtschaft, die außer in den ostpreußischen Großgütern überwiegend relativ kleine Bauerngrundstücke aufwies, konnten langfristig nur durch künstliche Düngung massiv erhöht werden, was für die Versorgung der deutschen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln von entscheidender Bedeutung war; aber dagegen sträubten sich konservative Bauern viele Jahrzehnte. Die Landwirte interessierten Marx kaum, da ihnen jeglicher revolutionärer Impuls fehlte, sie waren schmückendes Beiwerk eines verdammenswerten Feudalismus, der mit der sozialen Revolution ebenfalls in den Orkus der Geschichte verschwinden würde. Doch das Proletariat, das Marx bisher nicht kennengelernt hatte und von dessen Nöten und Sorgen er nicht die geringsten Kenntnisse mitbrachte, weil er sich ja bisher in ganz anderen Kreisen bewegt hatte, verbarg sich noch im theoretischen Nebel eines unversöhnlichen Klassenantagonismus. Von einem revolutionären Sozialismus oder Kommunismus eines Louis Blanc, Charles Fourier, Pierre Joseph Proudhon oder Claude Henri de Saint-Simon war Marx bisher nur wenige Worte zu Ohren gekommen; trotzdem wurde das Proletariat von ihm ausbeuterisch idealisiert. „Marx allein verkündete aber die Lehre von der messiani-

MEW. Bd. 34, Berlin 1973, S. 464 (Hervorhebung im Original). Vgl. Justus (von) Liebig: Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie (1840). 9. Aufl. Braunschweig 1876. 53

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schen Berufung des Proletariats.“55 Wir dürfen nämlich nicht vergessen, daß in den 1840er Jahren die Industrialisierung erst in einigen deutschen Staaten begonnen hatte und das Fabrikproletariat eine relativ kleine Bevölkerungsschicht bildete, die lediglich in den Industriestädten beheimatet war. Industrieunternehmen mit Tausenden von Arbeitern, wie wir es von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennen, waren auf dem Kontinent zu dieser frühen Zeit noch weitgehend unbekannt. Doch Marx’ Revolutionstheorie benötigte dringend die Arbeiterklasse, deren gesellschaftliche Emanzipation erst das Sprungbrett für ein Wasserbecken errichtete, von dem aus mit einem Salto mortale der Kapitalismus ertränkt werden konnte. Es ist interessant, wie Marx, ohne sich mit dem Industriesystem intensiver auseinandergesetzt zu haben, die Auflösung der bisherigen Weltordnung durch das (deutsche) Proletariat beschreibt: „In der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, welche in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.“56 Wer sich nur ein oberflächliches Bild von der Lage von Arbeitern in den 1840er Jahren verschafft, erkennt sogleich, daß Marx keine realen Umstände beschreibt, sondern auf überschwängliche Weise einen dogmatischen Klassenstandpunkt konstruiert, der nicht die arbeitenden Menschen aus ihrem geknechteten Zustand befreien will, sondern Revolution als einzig wirksames Mittel zur Emanzipation der Deutschen empfiehlt. Wie aber war diese geringe Zahl von Arbeitern in den Industriebetrieben zu mobilisieren? Um den relativ wenigen Arbeitern ihre ausweglose Lage zu verdeutlichen und sie eventuell für revolutionäre Aktivitäten zu gewinnen, mußte man die industriellen Verhältnisse in den schwärzesten Farben malen, die sich gegenüber der ländlichen Geborgenheit tatsächlich dramatisch unterschieden. Nach Marx schmachtete deshalb das deutsche Proletariat unter „radikalen Ketten“, was natürlich sofort die Assoziation zur Sklaverei hervorruft, einer „christlich-

55 Nikolai Berdiajew: Wahrheit und Lüge des Kommunismus, Darmstadt/Genf 1953, S. 20 (Hervorhebung im Original). 56 K. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (wie Anm. 21), S. 390. Dort auch das nächste Zitat (Hervorhebungen im Original).

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germanische(n) Leibeigenschaft“,57 oder „universellen Leiden“,58 die unter den gegebenen Umständen niemals gelindert werden können, sowie unter dem „Unrecht schlechthin“. Diese Assoziationen einer geknebelten, gefesselten und leidenden Arbeiterschaft, die damals nur in England anzutreffen war, schließen schlechthin alles ein, von dem man sich eine furchterregende Vorstellung machen kann, d. h. es bedurfte eines ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘, um sich von diesen sklavenhalterischen Ketten zu befreien und sie abzuschütteln. Hierbei wurden die englischen Verhältnisse, die schon erheblich weiter fortgeschritten waren, nicht nur maßlos übertrieben, sondern einfach auf Deutschland übertragen, ohne sich die entscheidende Frage zu stellen, warum die politischen und industriellen Voraussetzungen in diesen beiden Staaten ganz verschieden waren. Nichts, aber rein gar nichts, weder das Industriesystem noch das parlamentarische System, war zu dieser Zeit von England auf Deutschland zu übertragen, denn in der verworrenen Lage der deutschen Kleinstaaterei mußten erst eigenständige industrielle Wege gefunden werden, um die notwendigen Voraussetzungen für eine Industrialisierung zu schaffen, die teilweise ganz erheblich vom englischen Vorläufer abwich. Die vereinfachte Formel aus dem 1. Band des Kapital: „Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft“, kann nämlich für die europäische Industrialisierung als vollständig widerlegt angesehen werden.59 Denn England hatte aufgrund seiner Vorreiterrolle, seiner massenhaften Steinkohlenvorkommen, seiner Patentgesetzgebung, die Erfinder vor Nachahmung schützte, und seines riesigen Kolonialreiches so viele komparative Kostenvorteile, daß ein Nachzügler nur unter außergewöhnlich günstigen Bedingungen mit der Industrialisierung beginnen konnte – Deutschland war dazu noch lange nicht in der Lage und mußte einen gänzlich anderen Weg beschreiten. Das zentralistische England hatte sich nicht nur durch kriegerische Eroberungen ein riesiges Kolonialreich einverleibt, in das es seine Stapelwaren, wie Baumwolle, Kohlen oder Eisenprodukte, exportieren konnte, sondern es hatte schon im 18. Jahrhundert eine Steinkohlen- und Eisenindustrie aufgebaut, die alles in den Schatten stellte, was für möglich erachtet wurde, während in dem in große, mittlere und kleinste Staaten zersplitterten Deutschland in den 1840er Jahren nur schwache industrielle Ansätze anzutreffen waren.60 Es waren ganz andere Faktoren, die in Deutschland oder Frankreich – das lange Zeit seine agrarische Struktur beibehielt und gegenüber anderen Industriestaaten eine geringe Bevölkerungszunahme aufwies – oder den USA eine Industrialisierung auslösten, weswegen Marx’ Sentenz ein falsches Bild vermittelt und dem Vorurteil Vorschub leistete, der KaFranz Mehring: Karl Marx (1918). 5. Aufl. Berlin 1983, S. 78. K. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (wie Anm. 21), S. 390. Dort auch das nächste Zitat (Hervorhebung im Original). 59 Vgl. Hubert Kiesewetter: Region und Industrie in Europa 1815 – 1945, Stuttgart 2000, S. 107 ff. 60 Vgl. Hubert Kiesewetter: Industrielle Revolution in Deutschland, Stuttgart 2004, S. 41 ff. 57

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pitalismus hätte in allen Industriestaaten gleiche Formen entwickelt. Gravierende Unterschiede zu nivellieren und fehlende Merkmale in einen revolutionären Topf zu werfen und sie miteinander zu vermengen, scheint das zweifelhafte Vorrecht von Philosophen zu sein, aber ein realistisches Bild von der Wirklichkeit kann dadurch nicht entstehen. Das Proletariat wurde auf diese Weise von Marx auserwählt als Vollstrecker der philosophischen Revolutionäre, denn wie „die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen“61 – ob es dabei zugrunde geht, kann der Philosophie gleichgültig sein. „Erst in dem Sozialismus kann ein philosophisches Volk seine entsprechende Praxis, also erst im Proletariat das tätige Element seiner Befreiung finden.“62 Oder: „Ohne Revolution kann sich aber der Sozialismus nicht ausführen. Er bedarf dieses politischen Aktes, soweit er der Zerstörung und der Auflösung bedarf.“63 Die humanitären Grundsätze Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der Großen Französischen Revolution von 1789 endeten ja unter dem Jakobiner Maximilien de Robespierre (1758 – 1794) ebenfalls in dem blutigen Terror der Guillotine. Diese unverhohlene Marxsche Propaganda für eine bewaffnete Revolution bzw. für den proletarischen Klassenkampf, ohne den angeblich ein proletarischer Sozialismus nicht zustande kommen kann – wie dies in der DDR bis zum Überdruß propagiert wurde –, rief die erzkonservative preußische Regierung auf den Plan, die fast nichts mehr fürchtete als revolutionäre Umtriebe, d. h. Marx wurde wegen Aufwiegelung zum bewaffneten Aufstand unter Anklage gestellt. Die verharmlosende Interpretation, daß Revolutionspropaganda und Friedenswille Hand in Hand gehen können, verkennt die politische Strategie kommunistischer Staaten, gegen sogenannte Konterrevolutionäre mit brutaler Gewalt vorzugehen und sie zu vernichten. Nicht nur autoritäre oder totalitäre Staaten sehen im Aufruf zur Gewalt ein gefährliches Potential für die gesellschaftliche Stabilität, die staatliche Behörden und Gerichte verfolgen müssen, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Der Unterschied zur erzkonservativen preußischen Regierung bestand darin, daß sie die sozialen Fundamente des Staates bereits gefährdet sah, wenn kritische Kommentare an ihrem autoritären Regierungsstil abgegeben wurden, selbst in dem Fall, daß sie im fernen Ausland stattfanden. Marx hingegen wollte nicht nur die Regierungen provozieren, sondern er versuchte eine Anhängerschaft unter den Arbeitern zu finden, die seinen Revolutionsfanatismus teilten und sich massenhaft zusammenrotteten, um das verhaßte kapitalistische System zu beseitigen. Wir können deshalb feststellen, daß Marx, inspiriert von dem Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789, während seines Aufenthaltes in Paris sein Lebensthema fand, nämlich einen Revolutionsfanatismus, der in verschiedensten Schattierungen sein 61 K. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (wie Anm. 21), S. 391 (Hervorhebungen im Original). 62 Karl Marx: Kritische Randglossen zu dem Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen“, in: MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 405 (Hervorhebung im Original). 63 Ebd., S. 409 (Hervorhebungen im Original).

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zukünftiges Werk durchzieht und alle menschlichen Regungen überlagerte und verdrängte. Es entbehrt andererseits nicht einer historischen Ironie, daß die preußische Regierung knapp vier Jahre vor der 1848er Revolution glaubte, man könne die revolutionären Bewegungen in der französischen Hauptstadt durch eine amtliche Verordnung ein für allemal zum Schweigen bringen oder sogar vernichten. Außerdem schickte sie wahrscheinlich Alexander von Humboldt als Sondergesandten in die französische Hauptstadt, doch auch er konnte die Widersprüche nicht auflösen und reiste unverrichteter Dinge wieder ab. Am 18. April 1844 wurden die Oberpräsidenten aller preußischen Provinzen darauf hingewiesen, daß es sich bei den Aktivitäten der Deutschen in Paris um Hochverrat und monarchischer Subversion handele, weswegen schärfste polizeiliche Gegenmaßnahmen allzu berechtigt seien, denn die revolutionäre Lunte war ja schon 1830 von Frankreich herübergetragen worden und hatte in einigen deutschen Staaten zu Aufständen geführt. (Die USA halten noch im 21. Jahrhundert in Guantanamo Geiseln fest, die sie in ausländischen Staaten entführt haben, weil sie ihnen verbrecherische Taten unterstellen, aber ihnen jeden rechtsstaatlichen Prozeß verweigern!). Heine, Marx, Bernays und Ruge, die sich alle in Paris aufhielten, sollten sofort verhaftet werden, wenn sie die deutsche Landesgrenze überschritten; außerdem wurde die Einführung der Jahrbücher nach Preußen verboten und 200 Exemplare an der französisch-pfälzischen Grenze und 100 auf einem Rheindampfer beschlagnahmt. Presse- oder Meinungsfreiheit war in Preußen ein Tabu, das einer Gotteslästerung oder einer Monarchenbeleidigung gleichkam und auch entsprechend verfolgt werden mußte. Die verfassungsmäßige Vertretung der Interessen der Staatsbürger in parlamentarischen Gremien war zwar nach 1815 in der Deutschen Bundesakte festgeschrieben worden, doch nur wenige Staaten erließen freiheitliche landständische Verfassungen, doch Preußen beharrte auf dem monarchischen Prinzip einer gottgewollten Herrschaft. In unserem Fall wollte die preußische Bürokratie wenigstens gegenüber einer Zeitschrift, die nun nicht mehr profitabel verlegt werden konnte, ihren ungeheuren politischen Einfluß in Europa demonstrieren, obwohl ohnehin klar war, daß die Zeitungsaufsätze keine wie auch immer geartete Umwälzung bewirken konnten. Die Deutsch-Französischen Jahrbücher waren ohne irgendeine Beteiligung von französischen Behörden an ihr Ende gekommen; lediglich ihre organisatorische Fehlkonstruktion und die ungenügende Einschätzung ihrer Verkaufsmöglichkeiten haben ihren Ruin herbeigeführt. Der Züricher Verleger erklärte sich daraufhin als bankrott und das Rugesche Kapital als verloren bzw. verbraucht, weswegen dieser tapfere Versuch einer schriftstellerischen Subversion als gescheitert angesehen werden mußte. Karl Marx hatte erneut kein Einkommen mehr, da die Deutsch-Französischen Jahrbücher daraufhin ihr Erscheinen einstellten, seine Frau war schwanger und gesundheitlich angeschlagen – eine düstere Zukunftsprognose. Außerdem: „Zwischen Marx und Ruge war das Tischtuch für immer zerschnitten.“64 Das fanatische Revolutionsgehabe hatte offenbar nicht ausgereicht, um die wenigen Leser – dar64

F. Mehring: Karl Marx (wie Anm. 57), S. 74.

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unter befanden sich bestimmt keine oder nur wenige Arbeiter – davon zu überzeugen, daß alle europäischen Regierungen zum Teufel gejagt werden müßten. Das ‚Schicksal‘, das sein Vater mehrmals eindringlich beschworen hatte, schien es allerdings gut mit Marx zu halten, denn eigentlich hätte er sich jetzt um einen einträglichen Job kümmern müssen, um seine Familie zu ernähren, noch dazu in einem fremden Land, dessen Sprache Marx noch keineswegs vollständig beherrschte. Das war offenbar auch die Ansicht seiner Frau, die während eines Aufenthalts bei ihrer Mutter in Trier am 20. Juni 1844 an Marx in Paris schrieb: „Lieb Herzchen, ich hab‘ oft gar zu große Sorgen wegen unserer Zukunft, in der Nähe wie in der Ferne, und ich meine, ich bekomme die Strafe für meinen hiesigen Übermut und meine Üppigkeit. Wenn Du es kannst, so beruhige mich darüber. Es spricht alles zuviel vom ständigen Einkommen. Ich antworte dann bloß mit meinen roten Bakken, meinem weißen Fleisch, meiner Samtmantille, Federhut und Grisikopfputz. Das schlägt am besten und tiefsten, und wenn ich dafür niedergeschlagen werde, sieht es doch keiner.“65 Doch wie so oft in der deutschen Geschichte, von Richard Wagner bis Adolf Hitler, ist das wohlwollende Vertrauen in finanzielle Mäzene ausgeprägter als das entsprechende Pflichtbewußtsein für ausgebeutete Arbeiter, wie wir noch hören werden. Die wohlhabende Mutter von Jenny, die ihre Tochter nicht auf das Niveau einer Arbeiterexistenz herabsinken lassen wollte, schickte das 21jährige Bauernmädchen Lenchen Demuth (1820 – 1890) nach Paris, um für den Haushalt zu sorgen und der adeligen Tochter das Leben zu erleichtern, aber das machte die finanzielle Situation noch prekärer, denn nun mußte eine zusätzliche Person versorgt und verköstigt werden. Der Schweizer Verleger, der an diesem Projekt nur verdienen konnte, bot Ruge zwar an, die Zeitschrift weiterzuführen, wenn er weiteres Kapital einschösse, aber Ruge besaß nicht mehr genug Geld, um erneut ein solches publizistisches Abenteuer einzugehen, außerdem war das menschliche Verhältnis zu Marx so zerrüttet, daß man sich schwer eine weitere Zusammenarbeit vorstellen kann. An seine Mutter schrieb Ruge am 19. Mai 1844, daß Marx „die deutschen Handwerker nur an sich gezogen, um eine Parthei und Leute zum Knechten zu haben. Mich haßt er so sehr, daß ich ihm fortdauernd im Kopf stecke, obgleich ich auf seinen Absagebrief nur geantwortet habe, ‚daß wir uns nicht wie die Puppen in dem Marionettenkasten zu trennen brauchten, und daß ich mich freuen würde, wenn er sein Princip bewiese und durchsetzte‘.“66 Wahrscheinlich wäre Marx auch gar nicht mehr bereit gewesen, mit Ruge unter den vorherigen Bedingungen dieses gemeinsame Zeitschriftenvorhaben weiterzuführen, denn seine intellektuelle Reputation hatte sich eher verschlechtert und seine Interessen suchten nach anderen Betätigungsfeldern. Hinzu kam die objektive Schwierigkeit, daß eine in Paris erscheinende Zeitschrift mit überwiegend deutschen und außerdem abstrakten Artikeln nicht genug LeMEW. Ergänzungsband. 1. Teil, Berlin 1977, S. 650 (Hervorhebung im Original). Arnold Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter. I. Bd., Berlin 1886, S. 350 f. „Das Albernste aber ist, daß ich gehalten sein sollte, mein Vermögen an die Fortsetzung der Zeitschrift zu wagen, da ich doch gänzlich ohne alle Kenntniß des Buchhandels bin“ (S. 351). 65

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ser finden konnte, um einen Gewinn abzuwerfen oder wenigstens zwei Familien zu ernähren. Noch etwas kam hinzu, was die gesamte Situation außerordentlich verschärfte: „Ruge hatte Heß Vorschuß auf Artikel gezahlt, die dieser dann nicht lieferte, und nun verlangte er unverzüglich das Geld zurück – was Heß verärgerte, denn er befand sich gerade in pekuniärer Notlage und wußte zudem, daß Ruge gerade erst durch glückliche Spekulation mit Eisenbahnaktien sehr viel verdient hatte.“67 Nach so vielen internen Reibereien, Streitigkeiten und Unklarheiten über das weitere Vorgehen war allen Beteiligten deshalb klar, daß dieses kurze Zeitschriftenabenteuer mit einem tödlichen Fiasko geendet hatte, das keine Chance der Wiederbelebung mehr besaß. Marx’ Selbstbewußtsein fochten diese Schwierigkeiten wenig an, wie er ja überhaupt eine seltsame Realitätsverweigerungshaltung an den Tag legte. Er setzte kurz nach dem Ende der Jahrbücher Arnold Ruge, der u. a. wegen seiner Beteiligung am Würzburger Burschentag 1824 zu 15jähriger Festungshaft verurteilt wurde, von denen er fünf Jahre auf der Festung Colberg verbüßen mußte, mit dem scheinheiligen Argument unter Druck, er habe ihn aus dem sicheren Kreuznacher Refugium seiner Schwiegermutter nach Paris gelockt und könne ihn jetzt nicht einfach auf dem Trockenen sitzen lassen. Die tatsächlichen Verhältnisse werden hier, wie später noch häufiger, nicht nur auf den Kopf gestellt, sondern in ein haltloses Nichts aufgelöst. Weder in Köln noch in Trier noch irgendwo sonst in Deutschland hätte Marx eine realistische Chance gehabt, seinen Lebensunterhalt in einem bürgerlichen Beruf zu verdienen, weshalb es umso unverständlicher ist, daß er Ruge alle Schuld an seiner Misere in die Schuhe schieben wollte. Doch Ruge blieb unnachgiebig und beklagte die zunehmende Verschlechterung seiner Beziehung zu Marx: „Marx hat, trotz meiner Bemühungen die Differenz in den Schranken des Anstandes zu halten, sie überall zum Exceß getrieben, er schimpft überall in beliebigen Ausdrücken auf mich, er hat zuletzt seinen Haß und seinen gewissenlosen Ingrimm drucken lassen, und alles das warum?“68 Diese Frage hätte sich Ruge eigentlich früher stellen müssen, um solche menschlichen Enttäuschungen zu vermeiden, doch offenbar war er der zynischen Raffinesse Marx’ nicht gewachsen und naiv genug zu glauben, daß überragende Intelligenz mit einem anständigen Charakter verbunden sei. Erst jetzt schien ihm das unausweichliche Dilemma zu Bewußtsein gekommen zu sein, denn er beklagte sich auf einmal über die egoistischen Eigenschaften seines Mitherausgebers des Zeitschriftenprojekts: „Marx bekennt sich zum Communismus, er ist aber der Fanatiker des Egoismus und mit mehr heimlichem Bewußtsein als [Bruno, H.K.] Bauer.“69 Mit etwas mehr Menschenkenntnis bzw. Einfühlungsvermögen wäre dieses Drama wahrscheinDavid McLellan: Karl Marx, München 1974, S. 107. Arnold Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter. 1. Bd. (wie Anm. 5), S. 380 (Brief an Julius Fröbel vom 6. Dezember 1844. Hervorhebung im Original). 69 Ebd., S. 381. Und weiter: „Der heuchlerische Egoismus und die geheime Geniesucht, das Christusspielen, das Rabbinerthum, der Priester und die Menschenopfer (Guillotine) kommen daher sogleich wieder zum Vorschein … Zähnefletschend und grinsend würde 67

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lich zu vermeiden gewesen, denn diese Marxschen Charaktereigenschaften sind ja nicht erst in Paris ausgebrochen, sondern waren von Anfang an vorhanden, aber Ruge war entweder zu gutmütig oder ein naiver Idealist. Eine kommunistische Revolution, das haben die Ereignisse in Rußland nach 1917 gezeigt, kann nur dann erfolgreich durchgeführt werden, wenn die revolutionäre Klasse einen solchen fanatischen Egoismus entwickelt, daß sie bereit ist, ihre eigenen Landsleute umzubringen und danach noch zu behaupten, daß sie dies im Namen des Humanismus getan hätten. Ruge konnte damals nur noch wehleidig beklagen: Es ist „dahin gekommen, daß die tödtlichste Feindschaft fertig ist, ohne daß ich meinerseits einen andern Grund weiß als den Haß und die Verrücktheit meines Gegners“.70 Der revolutionäre Haß des gescheiterten Marx mußte sich eine andere Bühne und andere Opfer suchen, um überleben zu können, denn Ruge blieb zwar in Paris, wollte aber mit dem fanatischen Egoisten nichts mehr zu tun haben und schon gar nicht mit ihm ein neues Projekt starten. Außerdem war klar und unabweisbar: Alle diese gegenseitigen Anschuldigungen änderten nichts an dieser existentiellen Misere, denn Marx brauchte dringend Geld zum Überleben und erhielt 1.000 Taler von Georg Gottlieb Jung (1814 – 1886), einem Junghegelianer, der bei den früheren Aktionären der Rheinischen Zeitung für den leidenden Intellektuellen und gestrandeten Marx in Köln Geld sammelte und ihm am 31. Juli 1844 noch einmal 800 Francs als Ersatz für 100 konfiszierte Exemplare der Jahrbücher übersandte.71 Die sozialistische Solidarität der kommunistischen Bewegung war eines ihrer großartigen Merkmale, die Millionen von Menschen begeisterte und sie zu willigen Gefolgsleuten einer unmenschlichen Ideologie werden ließ, aber sie appellierte mehr an die Gefühle und weniger an den Verstand bzw. die Vernunft. Marx dagegen schien sich wenig Sorgen darüber zu machen – außer wenn seine Frau und seine Kinder krank waren und ärztliche Hilfe sowie Medikamente benötigten –, wie er seine existentielle Situation in finanzieller Hinsicht verbessern könnte; er vertraute offenbar auf die Großzügigkeit seiner Mitstreiter. Wir werden es noch öfter hören, daß Marx auf das uneigennützige Wohlwollen verschiedener Gönner angewiesen war, aber daß gerade seine früheren Geldgeber in Köln ihn finanziell unterstützten, wo Marx ohne politische Notwendigkeit diesen lukrativen Posten verlassen hatte, ist zumindest erstaunlich. Es waren insgesamt 4.400 Francs, d. h. im Vergleich zu der vom französischen König ausgesetzte, aber geheimen jährlichen Rente für Heinrich Heine 400 Francs weniger, die Jung zusammenbrachte. Außerdem erhielt Marx Geld von seinem holländischen Vetter Lion Philips, einem Verwandten des späteren Gründers des Elektronik-Konzerns Philips in Eindhoven, und von seiner Schwiegermutter, die damit wohl vor allem ihrer darbenden Tochter helfen wollte. Trotzdem tauchte immer dringender die Frage auf, was ein freier Intellektueller wie Marx ohne eigenes Einkommen in PaMarx alle schlachten, die ihm, dem neuen Babeuf, den Weg vertreten.“ (Ebd., Hervorhebungen im Original). 70 Ebd., S. 380. 71 Vgl. Auguste Cornu: Karl Marx und Friedrich Engels. 2. Bd., Berlin 1962, S. 10 f.

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ris machen sollte, denn wie glaubwürdig ist die extreme Verteidigung der Arbeiterschaft, wenn man sich selbst einer Arbeitsfron verweigert? Gab es Gelegenheiten, sich als Sozialist oder Kommunist außerhalb der literarischen Salons von Eugène Sue oder George Sand sein tägliches Brot zu verdienen? War es denn möglich, durch den sensationellen Nachweis der historischen Notwendigkeit des Zusammenbruchs des Kapitalismus bzw. des herrschenden ökonomischen Systems durch eine soziale Revolution an Geld zu kommen? Es dauerte ja noch einige Zeit, ehe Marx aufgrund der zunehmenden Akkumulation in der kapitalistischen Produktion ein Zusammenbruchgesetz aufstellte.72 Und was er zu der Ansicht des Ökonomen Georg von Below gesagt hätte: „Der kapitalistische Geist kann schon darum nicht überall der gleiche sein, weil der Kapitalismus selbst nicht überall in der gleichen Art sich darstellt“,73 wissen wir schon gar nicht, auch wenn Marx auf Kritik am Kapital oder an seiner Theorie vom Wertgesetz harsch reagierte.74

72 In allen Einzelheiten untersucht von Henryk Grossmann: Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems (1929). 2. Aufl. Frankfurt 1970, S. 78 ff. 73 Georg von Below: Die Entstehung der modernen Kapitalismus, in ders.: Probleme der Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1926, S. 430. 74 Eine methodologische Kritik der irrationalen Voraussetzungen von Marx’ Werttheorie hat Werner Becker: Kritik der Marxschen Wertlehre, Hamburg 1972, S. 11 ff., verfaßt.

5. Kapitel

Revolutionärer Mitstreiter, Coautor und Geldgeber Friedrich Engels 5. Kap.: Revolutionärer Mitstreiter, Coautor und Geldgeber Friedrich Engels 5. Kap.: Revolutionärer Mitstreiter, Coautor und Geldgeber Friedrich Engels

Obwohl Engels, der am 28. November 1820 in Barmen geboren wurde, Marx um 12 Jahre überlebt hat und während dieser langen Zeitspanne intensiv an der Verbreitung des gemeinsamen Gedankengebäudes weiterarbeitete, ist seine theoretische und ideologische Bedeutung hinter Marx zurückgefallen. Er war sich darüber klar bewußt und hat dies mehrmals zum Ausdruck gebracht, aber auch die Nachwelt und die Biographen haben ihm sehr viel geringere Aufmerksamkeit geschenkt – es existiert kein Engelsismus, aber ein Marxismus, Leninismus oder Stalinismus. Ungefähr drei Jahre nach Marx’ Tod schrieb Engels in einer Abhandlung über Ludwig Feuerbach: „Was Marx geleistet, hätte ich nicht fertiggebracht. Marx stand höher, sah weiter, überblickte mehr und rascher als wir andern alle. Marx war ein Genie, wir andern höchstens Talente.“1 Hier soll Engels ebenfalls nicht besonders aufgewertet, sondern in unserem Zusammenhang der kritischen Analyse der Marxschen Kapitalismusideologie mögen drei Dinge etwas in den Blick gerückt werden. Zum einen die frühe ökonomische Kritik Engels, die Marx dazu angeregt hat, sich intensiver mit wirtschaftlichen Theorien zu beschäftigen und die bei Engels zur Abfassung und Veröffentlichung der Lage der arbeitenden Klasse in England (1845) geführt hat. 2. hat die Bewunderung Engels für die theoretischen Leistungen Marx’ in diesem das Bewußtsein einer unverbrüchlichen Freundschaft gestärkt, auf die er sich in jeder Phase seines Lebens verlassen konnte, nicht nur bei den finanziellen Unterstützungen, ohne die Marx keine echte Lebensperspektive mehr gehabt hätte. Schließlich 3. der intensive Gedankenaustausch zwischen diesen beiden ungleichen Charakteren sowohl in Briefen als auch in persönlichen Gesprächen, der diese Verbundenheit verdeutlicht wie die über 40jährige Zusammenarbeit an einem politischen Programm der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft. Trotzdem scheint mir dieses freundschaftliche Verhältnis verzeichnet, wenn man glaubt, „daß Marx mehr der Dichter und Denker, Engels mehr der Praktiker und Schriftsteller“2 gewesen sei, denn die eigentliche psychologische Klammer war der prognostizierte Untergang des Kapitalismus. Theorie und Taktik des Klassenkampfes zur Verwirklichung des Kommunismus standen dabei im Zentrum der Gemeinsamkeiten wie Auseinandersetzungen, auch wenn die politische Umsetzung erst viele Jahre nach ihrem Tod durch Lenin und andere versucht 1 Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW. Bd. 21, Berlin 1973, S. 292, Anm. *. 2 Robert Wilbrandt: Karl Marx (1918). 3. Aufl. Leipzig/Berlin 1919, S. 14.

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wurde. Bundeskanzler Willy Brandt sagte in einer Rede zum 150. Geburtstag Engels’ in Wuppertal mit dem Eingeständnis der Voreingenommenheit: „Friedrich Engels war ein großer Deutscher.“3 Die revolutionäre Arbeiterbewegung ist ohne Marx gar nicht denkbar, aber ohne Engels wäre sie zumindest unvollständig und es bleibt fraglich, ob Marx die ständigen theoretischen und ideologischen Kämpfe mit Freunden und Gegnern mental und gesundheitlich durchgestanden hätte, wenn Engels ihm nicht einen stabilen geistigen Rückhalt und dauernde materielle Unterstützung gewährt hätte. August Bebel, der Leipziger Drechslermeister, der sich in sächsischen und deutschen Gefängnissen Bildungswissen aneignete, sagte in der Begrüßungsrede auf dem Kölner Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 12. Oktober 1893 in der bei unkritischen Marxisten üblichen Selbstbeweihräucherung, die einige schwierige Phasen in dem gemeinsamen Leben einfach ausklammert: „Wenn je die Freundschaft zweier Männer mustergültig und von höchstem Werte für die Menschheit geworden, so diese.“4 Wie wertvoll gesellschaftszerstörende Revolutionen für die Menschheit sein können, werden wir unten noch erörtern und Engels Beitrag dazu wenigstens erwähnen. Engels Herkunft aus einer Barmer Unternehmerfamilie, seine kaufmännische Ausbildung in Bremen und seine langjährige leitende Tätigkeit in einer Textilfabrik in Manchester verringerten seine Glaubwürdigkeit als ein revolutionärer Vertreter des Klassenkampfs der Arbeiter gegen das Kapital. Zwar studierte er in seiner Freizeit ohne Abitur – er verließ ein Jahr davor das Gymnasium – Geschichte, Literatur und Philosophie und eignete sich fremde Sprachkenntnisse an, doch seine Zugehörigkeit zur Kapitalistenklasse mußte ihn für ‚ausgebeutete‘ Arbeiter verdächtig machen, was ihn angeblich nicht störte. Alle diese Argumente können begründen, warum es ausreichend ist, mit wenigen Bemerkungen auf Engels einzugehen und vor allem die briefliche Korrespondenz zu beleuchten. Marx und Engels haben eine Vielzahl von Schriften und Parteidokumenten nach eingehenden Diskussionen und brieflichen Erörterungen zusammen verfaßt, auf die hier nicht im einzelnen eingegangen wird, weil darüber massenweise ältere und neuere Literatur vorhanden ist. Es mag deshalb genügen, zu erörtern bzw. einige Aspekte zu beleuchten, warum diese beiden Denker schon in jungen Jahren nach einem gemeinsamen Halt, dem kapitalismusfeindlichen Kommunismus gesucht und ihre Vorstellungen und praktischen Handlungen daran abgearbeitet haben. Der knappe Abriß über einige gemeinsame Projekte und über Engels’ Schrift der Lage der englischen Arbeiterklasse soll ausreichen, um einen Einblick davon zu geben.

3 Willy Brandt: Gegen Parteidiktatur und Willkür. Friedrich Engels und die soziale Demokratie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 276. Samstag, den 28. November 1970, S. 13. 4 Zitiert in: Bund der Kommunisten. Bd. 3: 1851 – 1852, Berlin 1984, S. 388.

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A. Der Bund der Gerechten Obwohl viele Revolutionen in der Weltgeschichte ohne intensive Beteiligung von Arbeitern durchgeführt wurden und gerade die englische Industrialisierung auf den theoretischen Konzepten von Adam Smith’ Wealth of Nations (1776) basierte, die der Arbeitsteilung und dem freien Güteraustausch größeres Gewicht beimaßen als dem Wert der Arbeit oder der merkantilistischen Wohlstandsvermehrung, ist die Marxsche Revolutionsideologie ohne die Arbeiterklasse undenkbar und undurchführbar. Marx machte sich noch in Paris an die theoretische Arbeit, um sich bessere Kenntnisse der ökonomischen Verhältnisse und der Produktionsprozesse zu verschaffen, nicht nur weil Friedrich Engels ihm in dieser Hinsicht weit voraus war, sondern weil ohne solche Kenntnisse doch alle Theorie in der Luft hing, auch wenn die Philosophie ihn weiter beschäftigte und er Texte dazu verfaßte. Zwar kannte er den Engelschen Aufsatz in den Jahrbüchern von 1844 über die Kritik der Nationalökonomie, aber im Gegensatz zu diesem hatte er die konkreten Arbeiterverhältnisse nirgendwo kennengelernt und Theorie ohne Praxis ist bekanntlich leer. Die Erforschung der politischen Ökonomie, schrieb er 15 Jahre später ziemlich distanziert über diese frühen Versuche, „die ich in Paris begann, setzte ich fort zu Brüssel, wohin ich infolge eines Ausweisungsbefehls des Herrn Guizot übergewandert war“.5 Außerdem besuchte er Versammlungen französischer Arbeiter bzw. Handwerker, die von bürgerlichen französischen Intellektuellen über die Vorzüge des Sozialismus aufgeklärt werden sollten und Marx wie Engels machten folgende erstaunliche Beobachtung, die natürlich eine grobe Verallgemeinerung darstellte: „Man muß das Studium, die Wißbegierde, die sittliche Energie, den rastlosen Entwicklungstrieb der französischen und englischen Ouvriers kennengelernt haben, um sich von dem menschlichen Adel dieser Bewegung eine Vorstellung machen zu können.“6 Der arbeitende ‚Adel‘ und ihre philosophischen Lehrmeister schienen sich in einem rastlosen Trieb verbündet zu haben, wie man die elende Welt aus den Angeln heben könnte, doch die täglichen Sorgen der arbeitenden Bevölkerung betrafen viel banalere Dinge als ‚sittliche Energie‘. Es war nämlich gar nicht so einfach, sich genauere Kenntnisse von den Arbeitsverhältnissen in den unterschiedlichen Branchen zu verschaffen, denn einerseits fürchteten die Fabrikbesitzer Sabotage, wenn sie freigebig Informationen preisgaben, andererseits waren wissenschaftliche Forschungen zu einzelnen Industrien nur vereinzelt anzutreffen und Umfragen unter den Arbeitern oder genaue statistische Erhebungen über die Lebenssituation von Arbeitern kannte man noch gar nicht. Friedrich Engels kannte zwar aus eigener Anschauung die englischen und deutschen Verhältnisse der Textilindustrie recht gut, aber die gesundheitlichen Risiken in Textilfabriken waren keineswegs repräsentativ für alle Industrien, sondern in 5 Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859), in: MEW. Bd. 13, Berlin 1975, S. 8 (Vorwort). 6 Friedrich Engels/Karl Marx: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (1845), in: MEW. Bd. 2, Berlin 1970, S. 89 (Hervorhebung im Original).

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ihnen war die Gefährdung durch umherfliegenden Staub und die Neigung zur Kinderbeschäftigung besonders groß. Da die Textilfäden, die von Spulen zum Webstuhl liefen, oft rissen, benötigte man kleine und empfindliche Finger und Hände von Kindern oder Frauen, die diese Fäden wieder zusammenknüpften. Außerdem war die Textilindustrie, mit Ausnahme der englischen Baumwollindustrie, für den Durchbruch der Industrialisierung von untergeordneter Bedeutung, die vor allem getragen wurde von der Eisen- und Stahlindustrie, dem Kohlenbergbau und der Maschinenbauindustrie, bevor die Chemie- und Elektroindustrie eine zweite industrielle Revolution auslösten. Eine zusätzliche Schwierigkeit bestand darin, daß alleinstehende Arbeiter viel mobiler waren, um nach besseren Arbeitsbedingungen zu suchen, als Familienväter mit sechs bis zwölf Kindern, von denen etwa die Hälfte vor dem Erreichen des fünften Lebensjahres starben oder die Mutter im Kindbett bzw. durch Krankheiten. Die konkrete Realität der damaligen Arbeitswelt war oft mit unbekannten Fallstricken versehen, die selbst dem größten Enthusiasten die Kehle einschnüren können, ganz abgesehen davon, daß wir sie uns heute kaum noch vorzustellen vermögen. Was Marx und Engels unter ‚Arbeiter‘ verstanden, hat nicht nur mit dem heutigen Verständnis nichts mehr zu tun, sondern veränderte sich in ihrer Lebenszeit dramatisch, wie folgendes Beispiel verdeutlicht. Zu dem vom Schneider Wilhelm Weitling (1808 – 1871) – dem unehelichen Kind eines französischen Besatzungsoffiziers und einer deutschen Wäscherin – 1836 mitbegründeten Geheimbund der deutschen Arbeiterbewegung, dem Bund der Gerechten,7 der in Paris seinen Stammsitz hatte und von August Hermann Ewerbeck und German Mäurer geführt wurde mit Filialen in anderen europäischen Hauptstädten, fand Marx zwar Zugang, doch ohne die materielle Lage der Arbeiter wirklich zu kennen und zu verstehen. Diesem Bund war der Bund der Geächteten mit einer eigenen Zeitschrift vorausgegangen, dessen Zweck in der „Befreiung Deutschlands von dem Joche schimpflicher Knechtschaft und Begründung eines Zustandes, der soviel es Menschenvorsicht vermag, den Rückfall in Knechtschaft und Elend verhindert“,8 bestehen sollte, doch die beiden Bünde spalteten sich und eine angestrebte Wiedervereinigung kam nicht zustande. Auch Engels, der religiös erzogen worden war, geriet stark unter den Einfluß atheistischer Strömungen und den radikalen Ansichten der Junghegelianer, die er als Freiwilliger in einer Berliner Artilleriekompagnie vom September 1841 bis Mitte August 1842 kennengelernt hatte. David Friedrich Strauß’ Schrift Das Leben Jesu (1835/36) hatte ihn tief beeindruckt und ihn immer stärker von seinem früheren Glauben entfernt. Nebenbei hörte er Vorlesungen an der Universität und vertiefte sich in das Studium der Philosophie von Hegel, aber ganz besonders von Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775 – 1854), gegen den

7 Vgl. dazu ausführlich: Die frühsozialistischen Bünde in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, hrsg. von Otto Büsch und Hans Herzfeld, Berlin 1975, S. 81 ff. 8 Zitiert in: Der Bund der Kommunisten. Bd. 1: 1836 – 1849, Berlin 1970, S. 975 (Statuten von 1834/35, Art. 2).

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er kritische Pamphlete schrieb,9 ehe er in die Zweigfirma seines Vaters nach Manchester ging. Von diesen Pamphleten wurde noch am 75. Todestag, dem 5. August 1970, behauptet, daß sie „den reaktionären Charakter der Philosophie des alten Schelling“10 entlarvten. Seit ihrem ersten Zusammentreffen Ende November 1842 entwickelte sich allmählich eine enge Zusammenarbeit im Bund der Gerechten, im Bund der Kommunisten sowie in anderen sogenannten Arbeiterorganisationen. Der erste Bund war gegründet worden, um den im Ausland tätigen Arbeitern – dies waren in den 1840er Jahren noch überwiegend Handwerker auf der Wanderschaft und keine Industriearbeiter, die es damals in größerer Zahl nur in England gab – sozialistisches Gedankengut nahezubringen, das sie nach Rückkehr in ihre Heimat verbreiten sollten. Die philosophischen Vorstellungen des Bundes, der in Paris unter Leitung des Danziger Arztes August Hermann Ewerbeck (1816 – 1860) stand, waren ein wachsartiges, utopisches Gemenge von Schriften Weitlings, Moses Hess’ oder Pierre Joseph Proudhons über die Brüderlichkeit aller Menschen, Abschaffung des Geldes, Gütergemeinschaft statt Privateigentum oder einer christlichen Ethik, der Weitling in seinem 1842 erschienenen Buch Garantien der Harmonie und Freiheit Ausdruck verlieh. Das mochte sich für schlechtbezahlte Handwerker bzw. Arbeiter gut anhören, aber was sie damit in ihrer Heimat politisch verändern sollten, blieb den meisten unerschlossen, da sie sich mit diesen Texten gar nicht beschäftigen konnten. Es war wohl eher eine Form der Geselligkeit in einem fremden Land und jugendlicher Überschwang, was viele Handwerkergesellen dazu bewog, sich dem Bund anzuschließen. Anfänglich bewunderten Marx und Engels Weitlings kommunistische Überzeugung und sein intensives Bemühen um Handwerker und Arbeiter, aber je mehr sie auf eine revolutionäre Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft zusteuerten, umso größer wurde die Distanz und die kritische Abgrenzung. In einer polizeilichen Aktenpublikation aus dem Jahr 1853 wurde über die kommunistischen Verbindungen Weitlings ausführlich berichtet, seine sechsmonatige Gefängnisstrafe in Zürich erwähnt und seine Flucht über Magdeburg, Hamburg, Paris und den USA beschrieben sowie dem Befreiungsbund, ein nordamerikanischer Zweig des Kommunistenbundes, besondere Aufmerksamkeit gewidmet. „Weitling war als Agent und Propagandist von dem New-Yorker Comité oder Loge (denn der Bund bewegt sich in Amerika in den dort sehr beliebten Formen der Freimaurerei) dieses Bundes nach Deutschland gesandt, hat 1848 und 1849 in Hamburg und Altona Sektionen desselben errichtet und eine nicht unbeträchtliche Anzahl Mitglieder demselben zugeführt.“11 Auf dem Berliner Kongreß 9 Vgl. Friedrich Engels: Schelling und die Offenbarung. Kritik des neuesten Reaktionsversuchs gegen die freie Philosophie, in: MEW. Ergänzungsband. 1. Teil, Berlin 1977, S. 171 – 221; ders.: Schelling, der Philosoph in Christo, oder der Verklärung der Weltweisheit zur Gottesweisheit, in ebd., S. 223 – 245. 10 Hansulrich Lobuske: Neue Dokumente aus der Jugendzeit von Friedrich Engels, in: Neues Deutschland vom 28. August 1970. 11 Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen des neunzehnten Jahrhunderts (1853), Berlin 1976, S. 28.

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über die Soziale Frage soll Weitling am 30. Oktober 1848 allerdings auch gesagt haben: „Erst wolle er mit den Anderen die Republik, dann werde sich das Weitere schon finden.“12 Der offene Konflikt brach aus in einer Sitzung des Brüsseler Komitees am 30. März 1846, wo Marx Weitling, der Anfang dieses Jahres von der Schweiz nach Brüssel übergesiedelt war, um beim Bund der Kommunisten mitzuarbeiten, phantastischer Träumereien beschuldigte. Er sei ein Verkünder vulgärer und überholter Doktrinen, die einer Mißachtung seiner revolutionären Theorie gleichkämen, weshalb er im Korrespondenz-Komitee unerwünscht sei. Weitling war wahrscheinlich wirklich etwas naiv zu glauben, daß seine kommunistischen Ideen mit denen von Marx und Engels in Übereinstimmung gebracht werden könnten oder daß man sich wenigstens über eine gemeinsame Strategie verständigen könnte. Doch Weitling war offensichtlich lernfähiger als seine dogmatischen Mitstreiter. Der russische Schriftsteller Pawel Wassiljewitsch Annenkow hat diese Sitzung anschaulich beschrieben und die Reaktion auf Marx’ Ausbrüche mit den Worten wiedergegeben: „Die bleichen Wangen Weitlings färbten sich, und seine Sprache wurde frei und lebhaft. Mit vor Erregung zitternder Stimme begann er zu beweisen, daß ein Mann, welcher Hunderte von Menschen im Namen der Idee der Gerechtigkeit, Solidarität und brüderlicher Liebe um sich geschart habe, nicht ein inhaltsloser, müßiger Mensch genannt werden könne, daß er, Weitling, sich den heutigen Angriffen gegenüber mit den Hunderten von Briefen, Erklärungen und Kundgebungen der Dankbarkeit tröste, welche er aus allen Enden unseres Vaterlandes empfange, und daß vielleicht seine bescheidene Vorbereitungsarbeit für die gemeinsame Sache von größerer Wichtigkeit sei als die Kritik und Kabinettsanalysen, welche entfernt von der leidenden Welt und den Drangsalen des Volkes entwickelt werden.“13 Fast vier Jahrzehnte nach ihrem ersten Zusammentreffen in Brüssel schrieb Engels über Weitling: „Er war nicht mehr der naive junge Schneidergeselle, der, über seine eigene Begabung erstaunt, sich klar darüber zu werden sucht, wie denn eine kommunistische Gesellschaft wohl aussehen möge. Er war der wegen seiner Überlegenheit von Neidern verfolgte große Mann, der überall Rivalen, heimliche Feinde, Fallstricke witterte; der von Land zu Land gehetzte Prophet, der ein Rezept zur Verwirklichung des Himmels auf Erden fertig in der Tasche trug und sich einbildete, jeder gehe darauf an, es ihm zu stehlen.“14 Wer wirklich Rivalen witterte Zitiert ebd., S. 68. Auch andere Kommunisten, wie der Lithograph Alexander Rolle aus Rudolstadt, erhofften sich während der Revolutionszeit die Errichtung eines republikanischen Deutschlands, wie ein von der preußischen Polizei gefundenes Rundschreiben im Frühjahr 1851 belegt: „So erwäget denn, ob Ihr die Hand bieten wollt zum Ruine Eurer Familien, zur Verarmung Eures Volkes, zur Vermehrung Eures Druckes, zur Vernichtung aller Freiheit, – und wollt Ihr das nicht, wie wir hoffen, dann bedenkt, daß man Euch die Waffen in die Hand gedrückt hat, und es ein Mittel giebt, einem Unwesen und allem Elend ein Ende zu machen: ‚Die einige und untheilbare Republik‘.“ (Zitiert ebd., S. 131). 13 Zitiert von David McLellan: Karl Marx, München 1974, S. 166. 14 Friedrich Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, in: MEW. Bd. 21, Berlin 1973, S. 213. 12

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und Fallstricke fürchtete, war vor allem Marx, dem jedes Mittel recht war, seine Gegner in einer Fallgrube zu versenken. Ein preußischer Polizeispitzel, der 1853 Marx in London observierte, gab folgendes Urteil über Marx’ Auftreten ab: „Auf seine Autorität als Parteichef ist Marx eifersüchtig, gegen seine politischen Rivalen und Gegner ist er rachgierig und unerbittlich; er ruht nicht, bis er sie zugrunde gerichtet hat; seine vorherrschende Eigenschaft ist eine grenzenlose Ambition und Herrschsucht.“15 Diese Umbruchperiode von einer weitgehend agrarisch geprägten zu einer stärker industriellen Gesellschaft führte zu erheblichen sozialen und ökonomischen Verwerfungen, die allgemein mit der Bezeichnung Soziale Frage umschrieben werden. Die Soziale Frage wird zwar in der Forschung überwiegend als eine Arbeiterfrage angesehen, doch da es eine massenhafte Wanderung von Menschen von agrarischen Gebieten in die industriellen Städte gab, um in den Fabriken Arbeit zu finden, war es ebenso eine Frage der ländlichen Bevölkerung, die mit ihrer Entwurzelung erst einmal zurechtkommen mußten. Die Anforderungen, denen die betroffenen Menschen ausgesetzt waren, waren auch psychologischer, mentaler und ethischer Natur, denn es bedeutete ja eine dramatische Veränderung der Einstellung, vom üblichen Tagesrhythmus in vorgestanzte Arbeitszeiten überzuwechseln. Wir können uns heute kaum noch in die Situation hineinversetzen, was es für einen an den gewöhnlichen Tagesrhythmus gewohnten Landarbeiter bedeutete, wenn er in das hektische Treiben einer maschinengetriebenen Fabrik mit festgelegten Arbeitszeiten hineinversetzt wurde. Alle sozialen Bindungen mußten aufgegeben werden, weil eine Rückkehr aufs Land ausgeschlossen war. Die Analphabetenrate z. B. war während dieser Zeit in weiten Kreisen der Bevölkerung noch ziemlich hoch, d. h. die Menschen gerieten in starke Abhängigkeiten von sinnvermittelnden Instanzen, seien es Kirchen, Parteien oder Vereine.16 Aus nationalistischer Sicht war die soziale Frage ein politisches Programm für eine konservative Gesetzgebung, die als gewünschten Nebeneffekt auch eine Erhöhung der Arbeitslöhne vorsehen konnte: „Das deutsche Volk ist aber durch sein Geistes- und Denkcapital 15 Zitiert von Gustav Mayer: Neue Beiträge zur Biographie von Karl Marx, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, 10. Jg., 1922, S. 59 (Hervorhebung im Original). In öffentlichen Parteiversammlungen dagegen sei Marx „unter allen der Liberalste und Populärste“ (ebd.). 16 Für den Antisemiten Otto Glagau war der Kernpunkt der sozialen Frage die Judenfrage, wie er als Vorsitzender der Allgemeinen Vereinigung zur Bekämpfung des Judenthums in seiner Eröffnungsrede des 2. antijüdischen Kongresses in Chemnitz am 27. April 1883 betonte: „Indem wir in der Judenschaft unseren gemeinsamen Gegner bekämpfen, indem wir der Jüdischen Internationale als Antijüdische Internationale gegenübertreten, gedenken wir nicht etwa, wie man uns in abenteuerlicher Weise nachsagt, die Judenschaft zu massacriren, sondern wir wollen nur die höchst gemeinschädlichen und gemeingefährlichen Auswüchse der Judenschaft beschneiden; wie wollen die Juden in die gebührenden Schranken zurückweisen, und die Eingeborenen von der Uebermacht, welche Israel auf allen sozialen und wirthschaftlichen Gebieten ausübt, befreien.“ (Zitiert in: Beiträge zur Geschichte der antisemitischen Bewegung, hrsg. von Max Liebermann von Sonnenberg, Berlin 1885, S. 147).

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berufen, die sociale Frage zu lösen, und zwar nicht durch gewaltsamen Umsturz, nicht durch revolutionäre plötzliche Neuschöpfungen, sondern durch den gesetzgeberischen Geist des preußischen Staates ja des germanischen Begreifens, welcher tiefwurzelnd in der historischen Entwickelung, in der conservativen Pietät für das Gewordene, unbeirrt und unberührt von utopischen Luftschlössern, auf dem breiten Fundamente vernünftiger Wirklichkeit fußt.“17 Außerdem gerieten viele Handwerke, wie etwa das Bauhandwerk, in eine Krise, weil die Zahl der Lehrlinge durch eine Bevölkerungszunahme dramatisch anstieg und es deshalb für viele Gesellen unmöglich wurde, eine Meisterstelle zu ergattern, was ja den jahrhundertealten Zunftregeln entsprach. Es scheint mir deswegen wenig aussagekräftig, wenn von dem frühen Marx behauptet wird, er habe „auf der Grenzscheide zwischen einem ontologischen Determinismus und einer normativen Ethik“18 gestanden, denn seine Kenntnisse der Arbeiterbevölkerung waren nicht sehr ausgeprägt. Man sollte sich doch nicht einfach von wohlklingenden Worten täuschen lassen, wie etwa, wenn Marx und Engels behaupten, daß sie von den wirklichen Bedingungen der Arbeitswelt ausgingen: „Ihre Voraussetzungen sind die Menschen nicht in irgendeiner phantastischen Abgeschlossenheit und Fixierung, sondern in ihrem wirklichen, empirisch anschaulichen Entwicklungsprozeß unter bestimmten Bedingungen.“19 Am 20. Januar 1847 traten Marx und Engels durch Vermittlung von Joseph Moll dem Bund bei, obwohl dieser ganz andere Ziele anstrebte als eine kommunistische Revolution, wie Engels 1885 zutreffend, aber beschönigend rekapitulierte: „Wollten wir eintreten, so sollte uns Gelegenheit gegeben werden, auf einem Bundeskongreß unsren kritischen Kommunismus in einem Manifest zu entwickeln, das sodann als Manifest des Bundes veröffentlicht würde; und ebenso würden wir das unsrige beitragen können, daß die veraltete Organisation des Bundes durch eine neue zeit- und zweckgemäße ersetzt werde.“20 Die Pariser Versammlungen des Bundes der Gerechten bestanden überwiegend nur aus einem Dutzend Teilnehmern – auch wenn dessen Mitgliederzahl sich auf ein paar Hundert Handwerker belief –, auf denen den Handwerkern ein „Schneiderkommunismus“ beigebracht werden sollte, von dem Marx schon damals himmelweit entfernt war, weil dieser ‚Schneiderkommunismus‘ eher religiös als revolutionär angehaucht war. Dieser Begriff bezieht sich auf den damals häufig ausgeübten Beruf des Uniform- bzw. Militärschneiders, der von der Damenschneiderei zwar nicht strikt getrennt war, aber auch keinen rein zivilen Beruf darstellte oder als typischer Arbeiter anzusehen war. Lange vor der Industrialisierung gab es ja staat17 Gottfried Stommel: Die deutsche Industrie vor dem Reichstag, Leipzig 1877, S. 44 (Hervorhebung im Original). 18 Herbert Schack: Die Revision des Marxismus-Leninismus (1959). 2. Aufl. Berlin 1965, S. 120. 19 Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie (1845), in: MEW. Bd. 3, Berlin 1962, S. 27. 20 Friedrich Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, in: MEW. Bd. 21, Berlin 1973, S. 215.

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liche Manufakturen, in denen solche Waren massenhaft hergestellt wurden, die auch manchmal Tausende von Beschäftigte aufwiesen, aber eben keine Maschinen einsetzten und deswegen auch selten eine ausgeprägte Arbeitsteilung kannten. Die ‚Arbeiter‘ in diesen Manufakturbetrieben waren weder organisiert noch befanden sich diese Produktionsstätten in Regionen, wo sich solche Beschäftigungen konzentrierten. Ein Arbeiterbewußtsein war höchstens in den englischen Großbetrieben anzutreffen, wo manchmal Aufstände bzw. Streiks ausbrachen, während die kontinentalen Arbeitsverhältnisse noch überwiegend kleinbetrieblich organisiert waren und den Arbeitern gar keine Solidarisierungsmöglichkeiten eröffneten. Es ist deshalb schon etwas seltsam, daß Marx hoffte, aus diesem Häufchen ‚Verbündete‘ könne sich eine Massenbewegung entwickeln, die dann die kapitalistische Klasse in die entfremdete Wüste schicken würde. Der Sitz der Zentralbehörde des Bundes wurde im November 1846 von Paris nach London verlegt, wo der Schumacher Heinrich Bauer, der Uhrmacher Joseph Moll und der Böttcher Karl Schapper hofften, größeren Einfluß auf die englische Arbeiterbewegung zu erlangen sowie Marx und Engels zum Eintritt in diese geheime Gesellschaft zu bewegen. Schapper war der Sohn eines hessischen Landpfarrers sowie später kommunistischer Revolutionär, der mit dem Rechtsanwalt aus Genua, Giuseppe Mazzini,21 zusammenarbeitete und schon am 7. Februar 1840 den Londoner deutschen Arbeiterverein mitbegründet hatte, dessen Zweck „die sociale, politische und wissenschaftliche Ausbildung seiner Mitglieder“ (Art. 1) sein sollte. Bruno Hildebrand, Mitbegründer der Historischen Schule der Nationalökonomie in Deutschland, berichtete von einer Versammlung des Kommunistischen Arbeiterbildungsvereins in London am 14. April 1846, wo Schapper in einer Rede so weit gegangen sei, „daß er den Kommunisten riet, sich lieber an ihre offenen Feinde, die Jesuiten, als an ihre heimlichen Feinde, die Geldliberalen anzuschließen, die durch Verfassungen usw. nur die politische Herrschaft der Geldmacht ausdehnen wollten“.22 Die offenbar unüberbrückbaren Widersprüche zwischen klassischen Nationalökonomen und Marxisten beruhen m. E. auf unterschiedlichen Begriffsdefinitionen, denen eine konträre Zielsetzung zugrunde liegt. Um dies nur an einem Beispiel, dem Kapital, zu verdeutlichen, das ökonomisch sowohl die Summe eines Arbeitsprodukts, Zahlungsmittel als auch Maschinenausstattung etc. bedeuten kann. Marx dagegen wollte im Kapital ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis, die Existenz einer arbeitsfähigen Klasse, erkennen, d. h. angehäufte, vergegenständlichte Arbeit, also einen Tauschwert. „Eine Baumwoll21 In einem Polizeibericht aus dem Jahr 1854 heißt es u. a. über Mazzini: „Die italienische Revolution des Jahres 1848 stellte Mazzini an die Spitze der neu gegründeten römischen Republik als Mitglied des eingesetzten Triumvirats. Als die Republik durch die französischen Truppen gestürzt war, floh Mazzini nach London, von wo aus er die Flamme des Aufruhrs auf dem Continent und besonders in Italien von Neuem anzufachen unausgesetzt bemüht ist, und zu dem Zwecke von Zeit zu Zeit den Continent selbst bereist oder durch Emissaire hat bereisen lassen.“ (Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen des neunzehnten Jahrhunderts (1854), Berlin 1976, S. 81 (Hervorhebungen im Original). 22 Zitiert in: Der Bund der Kommunisten, Bd. 1 (wie Anm. 8), S. 311.

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spinnmaschine ist eine Maschine zum Baumwollspinnen. Nur in bestimmten Verhältnissen wird sie zu Kapital. Aus diesen Verhältnissen herausgerissen, ist sie so wenig Kapital, wie Gold an und für sich Geld oder der Zucker der Zuckerpreis ist.“23 Daß eine solche Maschine für einen Ökonomen oder genauer für einen Unternehmer immer Kapital sein kann und muß, wenn er z. B. das Anlagekapital einer Fabrik betrachtet, kann die marxistische Terminologie nicht zugestehen. Als Marx von neoklassischen Ökonomen, die von der objektiven Arbeitslehre zur subjektiven Grenznutzenlehre umschwenkten, vorgeworfen wurde, daß sein Wertbegriff zu abstrakt sei, reagierte er ziemlich grob: „Das Geschwatz über die Notwendigkeit, den Wertbegriff zu beweisen, beruht nur auf vollständigster Unwissenheit, sowohl über die Sache, um die es sich handelt, als die Methode der Wissenschaft.“24 Im Paris des Proudhonschen Antikommunismus und der bürgerlichen Eigentumsideologie konnte man schwerlich eine internationale kommunistische Partei gründen oder aufbauen, da der sozialistische Proudhonismus und der Saint-Simonismus weit verbreitet waren und viele Anhänger rekrutieren konnten. Die Marxsche Begeisterung über die ‚deutschen Kommunisten‘ wurde deshalb von Ruge höhnisch kommentiert, auch wenn er damit wohl auch seiner aufgestauten Wut Luft machen wollte gegenüber den Anschuldigungen, die Marx ihm gemacht hatte: „Marx hat sich in den deutschen hiesigen Communismus gestürzt – gesellig heißt das, denn unmöglich kann er das traurige Treiben politisch wichtig finden. Eine so partielle Wunde, als die Handwerksbursche, und nun wieder diese anderthalb hier eroberten, zu machen im Stande sind, kann Deutschland aushalten, ohne viel daran zu doctern.“25 Gemeint war mit ‚Deutschland‘ die politische Clique metternichscher Prägung, der alle suspekt und verfolgungswürdig erschienen, die sich mit sozialistischem Gedankengut auch nur anfreundeten oder es zu verbreiten versuchten. Für Politik im modernen Sinn konnte man diese Menschen schon deshalb nicht gewinnen, weil es damals überhaupt keine politischen Parteien gab, denen man sich hätte anschließen können. Marx hatte zur Rolle der Arbeiter allerdings eine ganz andere Meinung, nicht nur, weil er sich mit Ruge überworfen hatte, sondern weil er mit dem Arbeitsleben wenig vertraut war. Einige Jahre später, 1853, hatten die preußischen Politiker schon erheblich größeren Respekt vor der kommunistischen Partei, wie eine Aussage aus einem geheimen Polizeibericht verdeutlicht: „Die Partei wird mit der Guillotine anfangen und mit einer tabula rasa enden. Sie ist für den Staat wie für die Familie und gesellschaftliche Ordnung so außergewöhnlich gefährlich, daß alle Regierungen und jeder einzelne Bürger sich gegen diesen unsichtbaren lauernden Feind verbinden sollen und schon aus Selbsterhaltungs23 Karl Marx: Lohnarbeit und Kapital, in: MEW. Bd. 6, Berlin 1968, S. 407 (Hervorhebungen im Original). 24 MEW. Bd. 32, Berlin 1974, S. 552 (Brief an Ludwig Kugelmann in Hannover vom 11. Juli 1868). 25 Arnold Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter aus den Jahren 1825 – 1880, hrsg. von Paul Nerrlich. 1. Bd. (1886). Neudruck Aalen 1985, S. 359 (Brief an Moritz Fleischer vom 9. Juli 1844. Hervorhebungen im Original).

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trieb nicht eher ruhen dürfen, bis sie diesen Krebsschaden mit Feuer und Schwert bis in die letzte Faser ausgerottet haben.“26 Trotzdem traten Marx und Engels 1847 dem Bund bei, wohl vor allem, weil die Londoner Führer dieses Geheimbundes, Heinrich Bauer, Joseph Moll und Karl Schapper, sich eifrig um sie bemüht hatten. Das Brüsseler Korrespondenzbüro wurde daraufhin aufgelöst, weil nicht genügend belgische Arbeiter rekrutiert werden konnten. In Deutschland bzw. in Preußen hatte zu dieser Zeit, am 11. April 1847, der König Friedrich Wilhelm IV. den preußischen Vereinigten Landtag als Vertretung des ganzen preußischen Staates, d. h. der seit 1823 bestehenden Provinziallandtage, in Berlin eröffnet. Nach der schweren, letzten großen Agrar- und Erntekrise sowie der darauf folgenden Gewerbekrise und Mißernte 1847 sollte er Anleihen und Steuern bewilligen, weil die Errichtung und der Bau staatlicher Eisenbahnen Unsummen verschlang und noch keine großen Renditen abwarf. Allerdings war die Herren- und Ständekurie des Landtags aus adeligen Kreisen zusammengesetzt und eine konstitutionelle Verfassung lag vollständig außerhalb der königlichen Absicht. Dieser erklärte in seiner Eröffnungsrede, er werde es nicht dulden, daß zwischen ihm und dem Land nur ein beschriebenes Blatt Papier geschoben werde. Drei Jahre vorher hatte ein anonymer Autor angemahnt: „Eigennutz, Unwissenheit, Parteiwuth, priesterliche Einflüsse, Armuth der Massen – die Folge eines übelverstandenen industriellen Systems – können auch die besten Institutionen lähmen, während wahre Aufklärung, ein bis auf die untersten Volksklassen sich erstreckender Wohlstand, moralische Freiheit, Mäßigkeit und Eintracht die Mängel eines auch noch so fehlerhaften Repräsentativsystems oft glücklich neutralisiren.“27 Selbst als nach der revolutionären Erhebung in Berlin am 18. März 1848 der Vereinigte Landtag einberufen wurde, um eine rechtsstaatliche Verfassung auszuarbeiten, sollte der preußische Monarch diese genehmigen. Der Schriftsetzer Karl Schapper aus Weinbach in Nassau war schon früh mit der Obrigkeit in Konflikt geraten, denn wegen revolutionärer Umtriebe wurde er seit dem 26. August 1834 als Gießener Student steckbrieflich gesucht und verfolgt, hatte am kommunistischen Aufstand vom 12. März 1839 in Paris teilgenommen und kehrte nach der Märzrevolution 1848 nach Deutschland bzw. Köln zurück. In dieser Hochburg kommunistischer Aktivitäten schloß er sich Marx, Engels, Gottschalk u. a. an, begab sich aber zur revolutionären Agitation nach Wiesbaden, wo er im Sommer 1850 ausgewiesen wurde und nach London ging. „Dort trat er von Neuem an die Spitze des communistischen Bundes, dem er schon längst angehört, und ist seitdem eines der thätigsten Werkzeuge der Communisten, wie überhaupt der revolutionairen Propaganda.“28 Marx und Engels hatten für diese restaurative Politik der preußischen Regierung berechtigterweise nur Spott übrig, auch wenn der König von einem Proletariat noch nichts wissen konnte, weil die preußisch-deutsche Industrialisierung noch Zitiert von G. Mayer: Neue Beiträge (wie Anm. 15), S. 62 f. Der Pauperismus und dessen Bekämpfung, in: Deutsche Vierteljahrs Schrift, III. Heft, 1844, S. 322 f. 28 Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen (wie Anm. 21), S. 109. 26 27

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in den Kinderschuhen steckte und nur wenige deutsche Regionen vom industriellen Bazillus infiziert waren. Die konkrete Begeisterung für diese angeblich unterdrückten und ausgebeuteten Arbeiter kühlte sich auch bei Marx bald ab, denn er benötigte ja eine massenhafte Unterstützung einer ganzen Klasse, um seine ‚soziale Revolution‘ durchführen zu können. Diese Arbeiter stellten ja später das ideologische Rückgrat für die soziale Revolution und gingen als ‚Diktatur des Proletariats‘ in die Geschichte ein, weil sie nicht, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, die „fertige Staatsmaschine“ einfach übernehmen, sondern den Staatsapparat vollständig zerschlagen und ihre eigene politisch-diktatorische Herrschaft errichten. Selbst Ernst Bloch räumte ein, daß Marx’ theoretisches Konzept der Diktatur des Proletariats „a limine schon nicht so durchdacht war, daß sie sich im Stalinismus nicht zu einer Diktatur über das Proletariat verwandeln konnte“.29 Mit den paar geselligen Handwerksburschen konnte Marx dem kapitalistischen System eben nur eine ‚partielle Wunde‘ zufügen und dies war ihm zweifellos zu wenig, um viel Gedanken und Arbeit dafür zu investieren. Die unrealistische Idealisierung z. B. der französischen Arbeiter diente ja schon 1844 dem Zweck, die eigenen Unsicherheiten und die geringen Kenntnisse über ihre wahren Verhältnisse zu überspielen, wie folgendes idealisierendes Zitat belegt: „Die Gesellschaft, der Verein, die Unterhaltung, die wieder die Gesellschaft zum Zweck hat, reicht ihnen hin, die Brüderlichkeit der Menschen ist keine Phrase, sondern Wahrheit bei ihnen, und der Adel der Menschheit leuchtet uns aus den von der Arbeit verhärteten Gestalten entgegen.“30 Die eigentlichen Probleme der wandernden Handwerker, die kein Klassenbewußtsein entwickelten und wohl auch nicht entwickeln wollten, beruhten jedoch keineswegs in einer fehlenden politischen Ideologie, sondern in der beruflichen Unsicherheit nach der Rückkehr in ihr Heimatland, wo sie mit vielen anderen um eine Meisterstelle konkurrieren mußten. Der umstürzlerische Gedanke an eine Revolution war ihnen so fremd wie Marx und Engels die konkrete Anschauung der existentiellen Nöte einer Berufsgruppe, die von der Industrie verdrängt zu werden drohte. Und der Gedanke an den ‚Adel der Menschheit‘ war ihnen so fremd wie das Bewußtsein, in einer Welt zu leben, die in den nächsten Jahrzehnten aus allen sozialen Fugen geraten sollte. Die Erste Deutsche Gewerbeausstellung vom 15. August bis 24. Oktober 1844 in Berlin, zehn Jahre nach Gründung des Deutschen Zollvereins, vermittelte bereits einen vielfältigen Eindruck, wie der deutsche ökonomische Ikarus sich zu ungeahnten Höhenflügen aufschwingen könnte. Vom 2. bis 9. Juni 1847 tagte in London der Bund der Gerechten, an dem Marx wegen finanzieller Notlage nicht teilnehmen konnte, aber Wilhelm Wolff repräsentierte die Brüsseler Gruppe und Engels war von Paris aus angereist. Das eigentliche Ziel war die Umbenennung der Organisation in Bund der Kommunisten mit neuer, revo29 Ernst Bloch: Aufrechter Gang, konkrete Utopie. Zum 150. Geburtstag von Karl Marx, in: Die Zeit, Nr. 19. Freitag, den 10. Mai 1968, S. 20 (Hervorhebung im Original). 30 Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW. Ergänzungsband. 1. Teil, Berlin 1977, S. 554.

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lutionärer Struktur und anderer ideologischer Ausrichtung. Auch in Brüssel wurde im August dieses Jahres ein Deutscher Arbeiterverein gegründet, dessen Vorsitz Moses Hess und Karl Wallau innehatten, während Wilhelm Wolff als Schriftführer fungierte – innerhalb kurzer Zeit zählte er 100 Mitglieder. Nach einer Notiz von Marx bildete sich die Brüsseler Gemeinde des Bundes der Kommunisten am 5. August 1847.31

B. Der Bund der Kommunisten Der Bund der Kommunisten (1847 – 1852) war aus dem Bund der Geächteten hervorgegangen, der etwa von 1840 bis 1845 seinen Hauptsitz in Paris hatte und nach seiner Zerschlagung in die Schweiz ging, ehe er seinen Sitz nach London verlegte.32 Zwar hatte Engels für den Londoner Junikongreß den Entwurf eines „Kommunistischen Glaubensbekenntnisses“33 vom 9. Juni 1847 ausgearbeitet, doch die konkrete Umsetzung einer revolutionären Arbeiterbewegung ließ noch lange auf sich warten, da er sich erst am 8. Dezember desselben Jahres in London ein Statut gab und Karl Schapper zum Präsidenten ernannte. Als Engels als Sekretär des Bundes z. B. Anfang 1848 kommunistische Propaganda im Kommunistenbund in Paris machte, dem anfänglich auch der spätere preußische Finanzminister Johannes von Miquel angehörte, teilte er Marx über diese Handwerkerburschen am 14. Januar 1848 resigniert mit, daß es nur miserabel vorangehe: „Solche Schlafmützigkeit und kleinliche Eifersucht der Kerls untereinander ist mir nie vorgekommen.“34 Von menschlicher Brüderlichkeit, von Wißbegierde und adeliger Einstellung bei den Arbeitern scheint nicht mehr viel übrig geblieben zu sein und eine umwälzende Revolution kann man mit solchen eifersüchtigen Kleingeistern auch nicht durchführen. Noch über 26 Jahre später, am 26. Juni 1874, warf Engels in einem Artikel in Der Volksstaat dem französischen Revolutionär Louis Auguste Blanqui (1805 – 1881) vor, er habe die volkssympathisierende Ansicht vertreten, „daß eine kleine wohlorganisierte Minderheit, die im richtigen Moment einen revolutionären Handstreich versucht, durch ein paar erste Erfolge die Volksmasse mit sich fortreißen und so eine siegreiche Revolution machen kann“.35 Blanqui war nach der Februarrevolution im April 1848 zu zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden, nach der französischen Amnestie im März 1861 nach Paris zurückgekehrt und der Vgl. MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 593. Die Statuten des Bundes der Geächteten sind abgedruckt in Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen (wie Anm. 11), S. 177 – 187. 33 Zitiert in: Der Bund der Kommunisten, Bd. 1 (wie Anm. 8), S. 470 – 475. 34 MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 111. 35 Friedrich Engels: Programm der blanquistischen Kommuneflüchtlinge, in: MEW. Bd. 18, Berlin 1971, S. 529. Im Frühjahr 1851 hatten Marx und Engels Blanqui noch als „den edlen Märtyrer des revolutionären Kommunismus“ bezeichnet. (Karl Marx/Friedrich Engels: Vorbemerkung [zur deutschen Übersetzung des Toastes von L.-A. Blanqui], in: MEW. Bd. 7, Berlin 1969, S. 568). 31

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Gründung einer Geheimgesellschaft angeklagt, worauf man ihn erneut mit vier Jahren Gefängnis bestrafte. Diese Verurteilung bewog Marx dazu, am 10. November 1861 an Louis Watteau in Brüssel zu schreiben, daß er Blanqui „immer für den Kopf und das Herz der proletarischen Partei in Frankreich gehalten habe“.36 Marx und Engels verband dagegen die unumstößliche Gewißheit, obwohl sie die Pariser Kommune 1871 ideologisch überhöhten, daß eine revolutionäre Strategie nur durch eine massenhafte Bewegung ausgelöst und darauf eine proletarische Klassenherrschaft aufgebaut werden könne, obwohl es dafür keinerlei konkrete Hinweise gab. Die Commune de Paris war ja entstanden, als französische Truppen mit Unterstützung des preußischen Militärs vergeblich versuchten, die französische Hauptstadt zu erobern, in der bewaffnete Aufständische sich weigerten zu kapitulieren. Trotzdem war Marx in London noch zehn Jahre nach der Märzrevolution in einem Brief an Engels vom 8. Oktober 1858 felsenfest von der irrigen Ansicht überzeugt, weil sein Revolutionsfanatismus jede nüchterne Betrachtung ausschloß: „Auf dem Kontinent ist die Revolution imminent und wird auch sofort einen sozialistischen Charakter annehmen“.37 Engels glorifizierte 27 Jahre später die Übereinstimmungen mit Marx auf allen theoretischen Gebieten, die angeblich enge Beziehung zum organisierten Proletariat sowie besonders der materialistischen Geschichtstheorie: „Und Kommunismus hieß nun nicht mehr: Ausheckung, vermittelst der Phantasie, eines möglichst vollkommenen Gesellschaftsideals, sondern: Einsicht in die Natur, die Bedingungen und die daraus sich ergebenden allgemeinen Ziele des vom Proletariat geführten Kampfs.“38 Doch abgesehen davon, daß eine Arbeiterklasse im strengen Sinne des Wortes damals höchstens in England existierte und eine gewerkschaftliche Organisation sich dort erst allmählich entwickelte, konnte von einem europäischen Proletariat überhaupt nicht die Rede sein. Der Bund der Kommunisten war tatsächlich „eine reine Propagandagesellschaft“,39 in die Marx und Engels angeblich erst dann eingetreten sind, nachdem „alles aus den Statuten entfernt würde, was dem Autoritätsglauben förderlich“40 gewesen sei. Der Statutenentwurf des Bundes der Kommunisten vom 9. Juni 1847 mit der Parole „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ wurde erst 1968 wiedergefunden. Wahrscheinlich wurde diese Fanfare von der Französin Flora Tristan, Tochter eines Peruaners und einer Pariserin, übernommen, die 1843 ihrem Buch Union ouvrière das Motto vorangestellt hatte: „Ouvriers, vous êtes faibles et malheureux parce que vous êtes divisés – Unissevous!“41 Allerdings wurden deren revidierte Bestimmungen bereits 1850 von der Polizeidirektion Leipzig an das sächsische InnenministeMEW. Bd. 30, Berlin 1972, S. 617. MEW. Bd. 29, Berlin 1973, S. 360. 38 F. Engels: Zur Geschichte (wie Anm. 20), S. 212. 39 Ebd., S. 215. 40 MEW. Bd. 34, Berlin 1973, S. 308 (Brief von Marx an Wilhelm Blos in Hannover vom 10. November 1877). 41 Zitiert von Paul Kägi: Genesis des historischen Materialismus, Wien/Frankfurt/Zürich 1965, S. 156. 36 37

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rium gesandt42 und enthält 36 Artikel, die auf dem Kongreß einstimmig angenommen wurden. Der Art. 1 lautet: „Der Bund bezweckt die Entsklavung der Menschen durch die Verbreitung der Theorie der Gütergemeinschaft [d. h. die Aufhebung des Privateigentums, H.K.] und die baldmöglichste Einführung derselben.“43 Danach wird die regionale Organisation des Bundes in Gemeinden und Kreise – die wöchentlich oder monatlich Beiträge zur Finanzierung der Organisationsausgaben zu leisten haben – mit der Zentralbehörde als der vollziehenden Gewalt beschrieben sowie die Anforderungen an die Mitglieder, nämlich männliches Betragen, keine entehrenden Handlungen zu begehen, die Grundsätze des Bundes anzuerkennen und verschwiegen zu sein. „Alle Bundesmitglieder sind gleich und Brüder und als solche sich Hülfe in jeder Lage schuldig.“ (Art. 4). Der Kongreß als gesetzgebende Behörde des Bundes sollte im August jeden Jahres stattfinden, wenn die Zentralbehörde es nicht für nötig erachtete, einen außerordentlichen Kongreß einzuberufen (Art. 19). Wer unmännlich handelte bzw. sich unmännlich betrug oder gegen die Prinzipien des Bundes verstieß, wurde ohne eine Rechtfertigungsmöglichkeit entfernt oder ausgestoßen. „Über solche Mitglieder, welche Verbrechen begehen, richtet die Kreisbehörde und sorgt für die Vollstreckung des Urteils.“ (Art. 24).44 Der Vorsteher einer Gemeinde konnte neue Mitglieder aufnehmen, nachdem diesem die Statuten vorgelesen, das Männerwort abgefordert und er die folgenden fünf Fragen mit „Ja“ beantwortet hatte: „a) Bist Du von der Wahrheit der Grundsätze der Gütergemeinschaft überzeugt? b) Hälst Du einen kräftigen Bund für nötig, um die Grundsätze baldmöglichst zu verwirklichen, und willst Du in einen solchen eintreten? c) Versprichst Du, stets mit Wort und Tat für die Verbreitung und praktische Ausführung der Grundsätze der Gütergemeinschaft zu wirken? d) Versprichst Du Verschwiegenheit über das Bestehen und alle Angelegenheiten des Bundes? e) Versprichst Du den Beschlüssen des Bundes Folge zu leisten?“45 So also stellte man sich eine Geheimorganisation zur Vorbereitung des Umsturzes der kapitalistischen Gesellschaft vor und wenn das aufzunehmende Mitglied sein „Männerwort zum Unterpfand“ gegeben hatte, konnte es zum Bundesmitglied ernannt werden. Soweit war man allerdings noch nicht in Paris, wo es erst einmal darum ging, die ungeliebte Mitarbeit an den Jahrbüchern, die so gar nicht den Erwartungen der Herausgeber entsprachen, zu beenden und einen eigenständigen Weg zu einer revolutionären Strategie zu finden. Marx war Mitte der 1840er Jahre immer noch ein ziemlich unbekannter Denker oder Schriftsteller, sowohl in Deutschland und erst recht in Frankreich, auch wenn die preußische Politik auf ihn aufmerksam geworden war und seine Redakteurstätigkeit bei der Rheinischen Zeitung einiges Aufsehen ausgelöst hatte. Friedrich Engels erregte erst nach der Veröffentlichung 42 Vgl. Dokumente zur deutschen Geschichte aus dem Sächsischen Landeshauptarchiv Dresden, hrsg. von Hellmut Kretzschmar, Berlin 1957, S. 60. 43 Zitiert in: Der Bund der Kommunisten, Bd. 1 (wie Anm. 8), S. 466. Dort auch das nächste Zitat. 44 Zitiert ebd., S. 468. 45 Zitiert ebd., S. 469 (Art. 36). Dort auch das nächste Zitat.

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der Lage der arbeitenden Klasse in England 1845 größere Aufmerksamkeit, obwohl er ja schon einige Abhandlungen, wenn auch unter dem Pseudonym Friedrich Oswald, verfaßt hatte. Marx’ wenige, ziemlich abstrakte Aufsätze in den DeutschFranzösischen Jahrbüchern hatten nur geringe Resonanz gefunden und von einem führenden Sozialisten oder Kommunisten war er meilenweit entfernt, als ihm ein ungewöhnlicher Zufall zu Hilfe kam. Der bereits berühmte Pierre Joseph Proudhon (1809 – 1865) – der in seiner 1840 in Französisch erschienenen Schrift Was ist das Eigentum46 das Schlagwort geprägt hatte: „Eigentum ist Diebstahl!“ – wollte die Hegelsche Philosophie kennenlernen, war aber der deutschen Sprache nicht mächtig genug, um dessen unverständliches Deutsch lesen und verstehen zu können. Es wurde ihm deshalb der Philosoph Marx empfohlen, der ja gerade einen Aufsatz über Hegel in den Jahrbüchern veröffentlicht hatte, der sich bestens in dieser Materie auskenne, weil er ja bei einem Schüler Hegels in Berlin studiert hatte. Marx nahm das Angebot nicht nur an und belehrte Proudhon über Hegel, sondern beschäftigte sich mit dem Gedankengebäude Proudhons ziemlich ausführlich, aber mit zunehmender Distanzierung. Im Juli 1847 erschien Marx’ Schrift Misère de la philosophie, in der er sich kritisch mit dem angeblich bürgerlichen Sozialisten Proudhon und dessen Buch La philosophie de la misère auseinandersetzte, der darüber schrieb: „Es ist ein Gewebe von Grobheiten, Verläumdungen, Falsificationen und Plagiaten.“47 Es wird uns noch öfter begegnen, daß Marx gegenüber Denkern, die eigene Vorstellungen entwickelten, die nicht mit seinen übereinstimmten, eine unverständliche Abneigung an den Tag legte. Marx hatte Proudhon zur Mitarbeit an den Deutsch-Französischen Jahrbüchern aufgefordert, weil ohne französische Autoren die Zeitschrift ohnehin keine Überlebenschance hatte. Es ist interessant, aus einem längeren Brief Proudhons aus Lyon an Marx vom 17. Mai 1846 zu zitieren, in dem er die Mitarbeit nicht grundsätzlich ablehnte, aber auf einige Schwierigkeiten aufmerksam machte: „Ich glaube, dass es meine Pflicht, dass es die Pflicht eines jeden Sozialisten ist, für einige Zeit noch die alte oder zweifelhafte Form anzuerkennen; mit Einem Wort: ich stelle mich mit dem Publikum auf die Seite eines beinahe absoluten ökonomischen Anti-Dogmatismus. – Suchen wir gemeinsam, wenn Sie wollen, die Gesetze der Gesellschaft, die Art und Weise, wie diese Gesetze sich realisieren, den Fortschritt, demzufolge wir zu ihrer Entdeckung gelangen; aber hüten wir uns, bei Gott, nachdem wir alle apriorischen Dogmatismen vernichtet haben, nun unsererseits das Volk doktrinär machen zu wollen (endoctriner); fallen wir nicht in den Widerspruch Ihres Lands46 Vgl. Pierre Joseph Proudhon: Was ist das Eigentum. Nachdruck Graz 1971. In der deutschen Übersetzung von 1896 wurde Diebstahl mit Raub übersetzt. „Warum also kann ich auf die Frage: ‚Was ist das Eigentum?‘ nicht ebensogut antworten: ‚Es ist Raub!‘, ohne allgemein unverstanden zu bleiben?“ (S. 1, Hervorhebungen im Original). Es ist Ende des 19. Jahrhunderts die gegenteilige, ebenso absurde Ansicht vertreten worden: „Der Staat hat zwar, wenn er genötigt ist Krieg zu führen, das Recht, das Blut der Unterthanen zu fordern, an ihr Eigentum aber darf er nicht rühren.“ (Georg Hansen: Die drei Bevölkerungsstufen, München 1915, S. 364). 47 Zitiert von Arthur Mülberger: P. J. Proudhon, Stuttgart 1899, S. 70.

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mannes Martin Luther, der, nachdem er die katholische Theologie über den Haufen geworfen, sofort daran ging, unter grossem Aufgebot von Exkommunikationen und Anathemas eine protestantische Theologie zu gründen … geberden wir uns nicht als Apostel einer neuen Religion, selbst dann nicht, wenn diese Religion die Religion der Logik, die Religion der Vernunft wäre.“48 Proudhon kannte nicht nur Marx’ Aufsätze in den Jahrbüchern, sondern er hatte wohl auch miterlebt, wie dieser sich als Dogmatiker und Revolutionär gebärdete, was ja manchmal sogar als eine „scharfe antiromantische Position“49 einer dogmatischen Persönlichkeit angesehen wird. Exklusivität und Mystizismus sollten nach Proudhon bekämpft werden, aber keine einzige Frage, auch nicht die der Revolution, dürfe kritischen Argumenten entzogen werden, wenn es Möglichkeiten für Reformen gäbe. In der politischen Ökonomie sollte die Eigentumstheorie gegen das Eigentum gerichtet werden, aber nicht durch eine Bartholomäusnacht, sondern durch Kleingewehrfeuer, um Freiheit und Gleichheit zu erreichen: „Die Reichtümer durch eine ökonomische Kombination in die Gesellschaft zurückfliessen zu lassen, welche der Gesellschaft durch eine andere Kombination entnommen werden.“50 Und was die Arbeiter betreffe, so sei es eine schlechte Politik, als Racheengel aufzutreten und Gewaltmittel, wie etwa eine Revolution, zu propagieren: „Unsere Proletarier haben solchen Durst nach Wissenschaft, dass man sehr schlecht von ihnen aufgenommen würde, wenn man ihnen nichts zum Trank zu bieten hätte als Blut.“ Eine solche bittere Einschätzung des revolutionären Fanatismus von Marx (und Engels) mußte natürlich von einem echten Kommunisten mit aller Rigorosität bekämpft werden. Wie man fast nicht anders erwarten konnte, fiel das Marxsche Urteil über Proudhon, der außerdem eine Werttheorie aufgestellt hatte, wenig später nicht gerade freundlich aus: „Er exkommuniziert als Heiliger, als Papst die armen Sünder und singt Ruhmeshymnen auf das Kleinbürgertum und die elenden, patriarchalischen Liebesillusionen des trauten Heims.“51 Marx duldete keine geistigen Konkurrenten, selbst wenn sie ihm in seinem Kampf gegen den kapitalistischen Klassenfeind zur Seite standen, weil alles, was mit privater Vertrautheit in Zusammenhang gebracht werden konnte, seinem revolutionären Rigorismus zuwider war, d. h. bekämpft werden mußte. Also mußten die Gegner, diesmal Proudhon, als religiös verklemmt, kleinbürgerlich und spießerisch denunziert werden, obwohl dieser ja ebenfalls gegen das Eigentum zu Felde gezogen war und eine große Anhängerschaft gefunden hatte. Russische Marxisten hielten Proudhon noch in den 1970er Jahren vor, daß der Proudhonismus mit seinem kleinbürgerlichen Sozialismus viele Jahrzehnte lang eine einflußreiche Richtung gewesen sei, die zwar den kapitalistischen Wucher verurteilt habe, aber vom Marxismus bekämpft werden müßte: „Proudhons Zitiert ebd., S. 54 f. So Wolfgang Schwerbrock in: Karl Marx privat, München 1962, S. 12. 50 Zitiert von A. Mülberger: P. J. Proudhon (wie Anm. 47), S. 56 (Im Original ganz hervorgehoben). Dort auch das nächste Zitat. 51 MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 462 (Brief an Pawel Wassiljewitsch Annenkow vom 28. Dezember 1846). 48 49

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Anschauungen drückten das Denken, Fühlen und Hoffen der kleinen Unternehmer und derjenigen Proletarierschichten aus, die sich nicht ganz vom kleinbürgerlichen Handwerker- oder Bauernmilieu gelöst hatten.“52 Diese bewußte Abgrenzung vom angeblich kleinbürgerlichen Proudhon verdeutlichte Marx noch einmal in einem Aufsatz in der Deutschen-Brüsseler-Zeitung vom 28. Oktober 1847: „Die Arbeiter wissen, daß die Abschaffung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse nicht herbeigeführt wird durch Erhaltung der feudalen. Sie wissen, daß durch die revolutionäre Bewegung der Bourgeoisie gegen die feudalen Stände und die absolute Monarchie ihre eigne revolutionäre Bewegung nur beschleunigt werden kann. Sie wissen, daß ihr eigner Kampf erst anbrechen kann an dem Tag, wo die Bourgeoisie gesiegt hat.“53 Die Arbeiter gab es jedoch nicht und ob die in relativer Armut dahinsiechenden Menschen sich viel Gedanken wegen der Eigentumsverhältnisse machten, ist doch eher fraglich, denn es war ja nur allzu offensichtlich, daß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts große Teile der Arbeiterschaft vom Pauperismus betroffen waren. Also mußte man Revolution und Gewalt predigen, damit dieses System zerschlagen würde, wie Engels in seiner Arbeiterschrift von 1845 betonte: „Der Krieg der Armen gegen die Reichen wird der blutigste sein, der je geführt worden ist. Selbst der Übertritt eines Teils der Bourgeoisie zur Proletariatspartei, selbst eine allgemeine Besserung der Bourgeoisie würde nichts helfen.“54 Und speziell für die englischen Verhältnisse Mitte der 1840er Jahre galt nach Engels: „Es ist zu spät zur friedlichen Lösung.“55 Den Ausspruch des Anarcho-Syndikalisten Gustav Landauer (1870 – 1919), der am 2. Mai 1919 nach Ende der Münchener Räterepublik in einem Gefängnis brutal ermordet wurde: „Nie kommt man durch Gewalt zur Gewaltlosigkeit!“, können Marxisten nur als idealistisch ansehen. Es wird von Marxisten gerne so dargestellt, als sei Armut unter Arbeitern ein direktes Resultat der Industrialisierung gewesen, doch gravierende Armut gab es Jahrhunderte vor dem industriellen Kapitalismus in allen europäischen Staaten, auch wenn sie oft als gottgegeben und unvermeidlich hingestellt wurde. Erst das aufklärerische Zeitalter weckte ein kritisches Bewußtsein – vorher hatten die Kirchen aus christlicher Barmherzigkeit Armenhäuser errichtet und betrieben – dafür, daß erhebliche staatliche und private Maßnahmen gegen Not und Elend ergriffen werden müßten sowie nach den eigentlichen Ursachen dieser Erscheinung gesucht P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (1973). 7. Aufl. Berlin 1984, S. 149. Karl Marx: Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral, in: MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 352 (Hervorhebungen im Original). 54 Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: MEW. Bd. 2, Berlin 1970, S. 504 f. Und als müßte er sich selbst Mut machen, daß eine friedliche Lösung ausgeschlossen bleibt, fügte Engels hinzu: „Das sind alles Schlüsse, die mit der größten Bestimmtheit gefolgert werden können, Schlüsse, deren Voraussetzungen unbestreitbare Tatsachen, einerseits der geschichtlichen Entwicklung, andrerseits der menschlichen Natur sind.“ (S. 505). 55 Ebd., S. 506. 52 53

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werden sollte. Wenn man im hochindustrialisierten England Mitte der 1830er Jahre 3,9 Mio. Arme bei einer Bevölkerung von 23,4 Mio. Einwohnern zählte, d. h. 14,5 %, bzw. in den Niederlanden, wo etwa ein Drittel mehr Menschen in der Industrie und dem Handel als in der Landwirtschaft beschäftigt waren, 14,2 % Arme – alle diese Zahlen sind Schätzungen, die nur Annäherungen an die wirklichen Verhältnisse darstellen können –, dann erscheint es dringend, Ursachenforschung zu betreiben. Im Jahr 1836 wurde über den Pauperismus geschrieben: „Die Dürftigen, d. h. diejenigen, welche aus eigenen Mitteln und Kräften ihren Lebensunterhalt nicht zu bestreiten vermögen, zerfallen, je nach den verschiedenen Ursachen dieses Zustandes, in solche, welche keine Kraft zur Arbeit haben – gebrechliche, Kinder, kranke, altersschwache und verkrüppelte Personen – in solche, welche Kraft zur Arbeit haben, aber nicht arbeiten wollen – Faullenzer, Müssiggänger – in solche, welche Kraft und Lust zur Arbeit haben, aber entweder aus Mangel an Zutrauen oder aus wirklichem Mangel an Arbeit, keine, oder keine hinreichende Arbeit bekommen können, und es gehören demnach mit einem Worte im allgemeinen all diejenigen zu der Klasse von Bedürftigen, welche, entweder weil es an Arbeit fehlt, oder weil sie ihnen verweigert wird, oder endlich, weil sie zu schwach dazu sind, der öffentlichen Unterstützung anheim fallen. Eine Unterabtheilung der Dürftigen machen die Bettler von Profession aus, und es muß darauf aufmerksam gemacht werden, weil sie bei den Maßregeln gegen die Verbreitung der Armuth ganz besondern Rücksichten unterliegen müssen.“56 Unabhängig davon, ob wir diese ausgewogene Beschreibung bzw. Aufzählung für korrekt halten oder nicht, scheint es keinen Zweifel darüber zu geben, daß die landwirtschaftliche Bevölkerung, die in Deutschland zu dieser Zeit noch bei weitem überwog, ebenso wie die industrielle von Armut betroffen war, d. h. die Industrialisierung nicht als ursächlich für Armut angesehen werden kann. In der wenig industrialisierten Handelsstadt Venedig waren um diese Zeit 70 % der Bevölkerung Arme! Trotz dramatischen Schilderungen einer erhöhten Arbeitslosigkeit durch die kapitalistische Produktion und einer industriellen Reservearmee hatten sich die gewerblich beschäftigten Arbeiter in England zwischen 1836 und 1886 von neun auf 13,2 Millionen vermehrt und das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen war im gleichen Zeitraum um mehr als das Viereinhalbfache gestiegen, d. h. eine zunehmende Verarmung kann damit nicht verbunden gewesen sein. Noch 1885 gab es im Deutschen Reich bei einer Gesamtbevölkerung von 46,86 Mio. insgesamt 70.949 Ortsarmenverbände, von denen 3,1 % auf städtische und 72,6 % auf ländliche Ge-

56 Friedrich Schmidt: Untersuchungen über Bevölkerung, Arbeitslohn und Pauperism in ihrem gegenseitigen Zusammenhange, Leipzig 1836, S. 320 f. „Preußen, ein protestantischer, vorzüglich ackerbautreibender Staat, hat 12,778,000 Einwohner und darunter 425,933 Dürftige, das heißt 1/30 der Bevölkerung. Das Verhältniß der landbautreibenden Klassen zu der industriellen Bevölkerung ist wie 5 zu 1. Es giebt also 10,648,915 Landbesitzer und Bebauer und 2,129,035 Manufacturisten.“ (S. 325).

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meinden entfielen; der Rest verteilte sich auf Gutsbezirke und gemischte Bezirke.57 Die Armen wurden also nicht nur massiv unterstützt, sondern die Landarmut war offenbar erheblich höher als die städtische Armut, selbst wenn die dortigen Fabrikarbeiter von den Ortsarmenverbänden schwieriger erreicht bzw. angesprochen werden konnten. In vielen deutschen Regionen bewirtschafteten ehemalige Bauern ihre Äcker nur noch im Nebenerwerb, weil sie mit dem Ackerbau nicht genug verdienen konnten und versuchten eine Beschäftigung in der Industrie zu finden. In dem hochindustrialisierten Königreich Sachsen war trotz einer ständigen Zunahme der Bevölkerung, die 1885 3,18 Mio. betrug, die Zahl der Armen, die wegen Krankheit und Arbeitslosigkeit arm geworden waren, zurückgegangen: „Im Jahre 1880 nämlich zählte man in Sachsen 53.672 Selbstunterstützte und 40.027 Mitunterstützte, für 1885 fand man als entsprechende Zahlen (ausschl. der direct unterstützten Landarmen) 52.879 und 35.412; der Rückgang insgesammt belief sich also in dieser 5jährigen Periode auf 5.408 Personen.“58 Anläßlich einer internationalen Versammlung in London am 29. November 1847, dem 17. Jahrestag des polnischen Aufstandes 1830, hielten Marx und Engels kurze Reden über Polen. Diese wurden am 9. Dezember in der Deutschen-BrüsselerZeitung, die vom 1. Januar 1847 bis zum 27. Februar 1848 zweimal wöchentlich erschien, vom Redakteur Adalbert von Bornstedt geleitet wurde und als Organ des Bundes der Kommunisten galt, abgedruckt. Darin sprach Marx über die Verbrüderung der Bourgeoisieklasse aller Nationen zur Ausbeutung der Proletarier, der dadurch begegnet werden könne, daß die Eigentumsverhältnisse endgültig abgeschafft würden. (Noch 1913 glaubte Eberhard Gothein, es sei ein Naturgesetz des Kapitalismus, „sich ins Grenzenlose auszudehnen“59). Sollte das Proletariat siegen, woran kein Zweifel bestehen könne, dann seien auch – wie bei Aladin mit der Wunderlampe – die nationalen und industriellen Konflikte beseitigt. „Der Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie ist darum zugleich das Befreiungssignal aller unterdrückten Nationen.“60 Der Untergang dieser alten Gesellschaften, vor allem der deutschen, französischen und englischen, sei unausweichlich und ihnen müsse eine klassenlose Gesellschaft nachfolgen, weil das Proletariat die diktatorische Herrschaft übernehme. Weil jedoch England das entwickelste aller Länder sei, könne Polen und andere Staaten erst befreit werden, wenn die proletarische Revolution in England siegreich durchgeführt worden ist: „Der Sieg der englischen

57 Vgl. Zeitschrift des K. Sächsischen Statistischen Bureaus, XXXIII. Jg., 1887, S. 237, Tab. XIV. 58 Victor Böhmert: Die Ergebnisse der Reichsarmenstatistik für das Jahr 1885 im Königreiche Sachsen, in: Zeitschrift des K. Sächsischen Statistischen Bureaus, XXXIII. Jg., 1887, S. 169. 59 Eberhard Gothein: Die Reservearmee des Kapitals, Heidelberg 1913, S. 5. 60 Karl Marx/Friedrich Engels: Reden über Polen, in: MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 416. Rede von Marx.

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Proletarier über die englische Bourgeoisie ist daher entscheidend für den Sieg aller Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker.“61 Engels war ebenso davon überzeugt, daß die Befreiung aller europäischen Staaten von den englischen Chartisten ausgehen müsse, weil in England mit seiner modernen Industrie und dem massenhaften Einsatz arbeitssparender Maschinen Bourgeois und Proletariat sich am feindlichsten gegenüberstünden. Jeder kleinste Kompromiß zwischen Arbeitern, Unternehmern und der politischen Klasse wurde von Engels durch die anmaßende Einschätzung ausgeschlossen, ihm sei „nie eine so tief demoralisierte, eine so unheilbar durch den Eigennutz verderbte, innerlich zerfressene und für allen Fortschritt unfähig gemachte Klasse vorgekommen wie die englische Bourgeoisie“.62 Schon gegenüber Proudhon, der wie Johann Most, SPD-Reichstagsabgeordneter von 1874 bis 1878, eher dem Anarchismus zuneigte, hatte Marx argumentiert, daß es nur massenhaften Tod oder endgültigen Sieg gegen die ausbeuterische Klasse geben könne, weil nach einem gewonnenen blutigen Krieg gesellschaftliche Evolutionen aufhörten, politische Revolutionen zu sein: „Inzwischen ist der Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie ein Kampf von Klasse gegen Klasse, ein Kampf, der, auf seinen höchsten Ausdruck gebracht, eine totale Revolution bedeutet.“63 Die völlige Beseitigung des Kapitalismus und die Abschaffung von Privateigentum wurden etwa von dem Sozialisten Friedrich Albert Lange, der mit Marx und Engels korrespondierte, 1865 nicht geteilt, weil er im Kommunismus keine Gefahr für das Eigentumsrecht, „muthmaßlich mindestens auf Jahrhunderte hinaus“,64 erkennen konnte. Allerdings schrieb Lange am 2. März 1865 an Engels, um angeblich die gemeinsame Sache der Arbeiterfrage zu fördern, daß auf seiner Seite „sämtliche Arbeiter-Consumvereine der Rheinprovinz“65 stünden. Doch wie können die englischen Arbeiter, unter denen sich nach Engels ein großer Teil irischer Einwanderer befand, die moralisch so heruntergekommen seien, daß sie nur mit Abscheu betrachtet werden könnten, in die Lage gebracht werden, die Kapitalistenklasse zu besiegen und auszurotten? Nach Engels geschieht dies dadurch, daß die große Masse des englischen Volkes sich „zu einer furchtbaren Phalanx, deren Sieg über die herrschenden Kapitalisten näher und näher heranrückt“,66 vereinigt. In allen anderen Ländern sei die Lage wegen der ungeheuren geschichtlichen Fortschritte der Maschinerie fast gleich und deshalb würde Ebd., S. 417. F. Engels: Die Lage (wie Anm. 76), S. 486. 63 Karl Marx: Das Elend der Philosophie, in: MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 182 (Hervorhebung von mir). 64 Friedrich Albert Lange: Die Arbeiterfrage (1865). Nachdruck Duisburg 1975, S. 83. 65 Friedrich Albert Lange: Über Politik und Philosophie, Duisburg 1968, S. 78. Es habe sich in Elberfeld und Barmen eine Partei gebildet, die „den alten Standpunkt der Social-Demokratie reiner vertreten dürfte, als die Lassalleaner“ (ebd.). 66 K. Marx/F. Engels: Reden über Polen (wie Anm. 60), S. 418. Rede von Engels. Dort auch das nächste Zitat. 61

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die Kapitalistenklasse auch dort gestürzt: „Weil die Lage der Arbeiter aller Länder dieselbe, weil ihre Interessen dieselben, ihre Feinde dieselben sind, darum müssen sie auch zusammen kämpfen, darum müssen sie der Verbrüderung der Bourgeoisie aller Völker eine Verbrüderung der Arbeiter aller Völker entgegenstellen.“ Man kann sich als Wirtschaftshistoriker kaum ein illusionäreres Hirngespinst ausmalen als diese internationale, pauschale Gleichmacherei industrieller Verhältnisse aller Staaten! Nicht nur Unternehmer in verschiedenen europäischen Staaten, die den Aufbau einer Maschinenindustrie vorangetrieben hatten, standen Mitte des 19. Jahrhunderts mit ihren Produkten in einem heftigen Konkurrenzkampf um nationale und internationale Absatzmärkte, sondern die ökonomische Situation verschiedener Staaten war überhaupt nicht vergleichbar oder gleichzusetzen. In dieser Konkurrenzsituation hatte England 1878 von deutschen Unternehmen verlangt, auf alle Produkte die Angabe Made in Germany aufzudrucken, weil man fälschlicherweise annahm, daß alle deutschen Waren minderwertig seien, obwohl dies nur auf einige zutraf. Die beiden Deutschen Marx und Engels hätten dies eigentlich aus eigener Erfahrung wissen müssen, denn ein kurzer Blick auf die deutschen Verhältnisse zu dieser Zeit kann verdeutlichen, daß zwar im Königreich Sachsen und in einigen preußischen Provinzen industrielle Produktion auf dem Vormarsch war, daß aber in souveränen deutschen Bundesstaaten wie Lippe-Detmold, WaldeckPyrmont, Schwarzburg-Rudolstadt, Reuß jüngere und ältere Linie oder AnhaltBernburg überhaupt keine Arbeiterklasse vorhanden war. In vielen französischen oder spanischen Regionen war es ähnlich, im östlichen Europa waren die Staaten überwiegend Agrarstaaten, d. h. eine ‚Verbrüderung der Arbeiter aller Völker‘ war ein märchenhaftes Luftschloß von Revolutionsfanatikern. Nicht nur gegenüber industriellen Entwicklungen verbreiteten Marx und Engels phantastische Fehleinschätzungen, sondern auch ideologische Mitstreiter gerieten in diese zermalmende Mühle des Klassenhasses. Dazu ein Beispiel: Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814 – 1876) – der spätere Theoretiker des marxismusfeindlichen Anarchismus, d. h. einer staatsfreien, herrschaftslosen Gesellschaft –, der von dem in Paris politisch agierenden Schneidergesellen Weitling vom Kommunismus überzeugt worden war, trat ebenfalls 1844 mit Proudhon und Marx in der französischen Hauptstadt in Kontakt.67 Der russische Aristokrat Bakunin eroberte mit seinem spontanen Enthusiasmus die Herzen der Arbeiter, weil er emotional argumentierte, aber mit Marx konnte er sich trotz mehrerer Zusammentreffen nicht anfreunden, obwohl er dazu nicht abgeneigt war: „Wir trafen uns ziemlich häufig, denn ich bewunderte ihn sehr wegen seines Wissens und seiner leidenschaftlichen und ernsten Hingabe für die Sache des Proletariats [Bakunin ließ sich wie viele andere nach ihm von den Worten Marx’ täuschen, H.K.], obwohl sie immer eine Beimischung von persönlicher Eitelkeit hatte … Aber es gab niemals wirkliche Intimität zwischen uns. Unsere Temperamente erlaubten dies nicht. Er nannte mich einen sentimentalen Idealisten; und er hatte recht. Ich nannte ihn mißmutig, eitel 67 Ausführlich dazu Ricarda Huch: Michael Bakunin und die Anarchie, Leipzig 1923, S. 84 ff. (Frankfurt am Main 1988, S. 68 ff.).

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und verräterisch; und auch ich hatte recht.“68 Wie treffend diese charakterliche Kennzeichnung des jungen Marx war, werden wir noch öfter sehen, denn diese unverwechselbare Mischung aus vernichtendem Sezierertum und egoistischem 68 Zitiert von Edward Hallet Carr: Michael Bakunin (1937), New York 1975, S. 129 f. In einem Brief an den Schriftsteller Georg Herwegh schrieb Bakunin: „Die Deutschen, diese Handwerker Bornstedt, Marx und Engels – vor allem Marx –, treiben ihren gewohnten Unsinn hier. Eitelkeit, Bösartigkeit, Streitigkeiten, theoretische Intoleranz und praktische Feigheit … In einem Wort, Lügen und Dummheit, Dummheit und Lügen. In solcher Gesellschaft kann man nicht frei atmen.“ (Zitiert ebd., S. 146. Meine Übersetzung). Und dieser Bakunin hatte 1868 in Genf nach langer Gefangenschaft in Sibirien eine Internationale Allianz der sozialistischen Demokratie (Alliance Internationale de la Démocratie Socialiste) gegründet, deren Sektionen der I. Internationale beitreten wollten. (Außerdem hatte er, nach dem Abschluß eines Vertrages mit einem russischen Verleger, der ihm von den 1.200 Rubeln Honorar 300 Rubel Vorschuß auszahlte, damit begonnen, Marx’ Kapital ins Russische zu übersetzen, aber nach einiger Zeit gab er seine unvollendete Übersetzung an den Verleger zurück). Marx war über diese Gründung einer neuen Arbeiterorganisation entsetzt, weil er befürchten mußte, daß dieser begeisternde Agitator seine führende Stellung in der IAA untergraben könnte. Er schrieb am 15. Dezember 1868 über die Allianz an Engels: „Diese Scheiße existiert seit 2 Monaten … Herr Bakunin – im Hintergrund dieser Geschichte – ist so herablassend, die Arbeiterbewegung unter russische Leitung nehmen zu wollen.“ (MEW. Bd. 32, Berlin 1974, S. 234. Hervorhebungen im Original). Am 22. Dezember 1868 schrieb Marx einen Zirkularbrief, in dem er eine zweite internationale Organisation ablehnte und die Satzung der Allianz „für null und nichtig“ erklärte. Wenn jeder anderen Gruppe von Personen das Recht eingeräumt würde, eine Organisation zu gründen, die der IAA beitreten wolle, dann würde die IAA „bald zum Spielball der Intriganten aller Racen und Nationalitäten“. (Karl Marx: Die Internationale Arbeiterassoziation und die Allianz der sozialistischen Demokratie, in: MEW. Bd. 16, Berlin 1973, S. 340). Am 9. März 1869 richtete Marx im Auftrag des Generalrats einen Brief an die Allianz, um die Ablehnung der Aufnahme in die IAA zu begründen, in dem es u. a. hieß: „Nicht die Gleichmachung der Klassen – ein logischer Widersinn, unmöglich zu realisieren – sondern vielmehr die Abschaffung der Klassen, dieses wahre Geheimnis der proletarischen Bewegung, bildet das große Ziel der Internationalen Arbeiterassoziation.“ (Karl Marx: Der Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation an das Zentralbüro der Allianz der sozialistischen Demokratie, in ebd., S. 349 (Hervorhebungen im Original). Und als Bakunin versuchte, Einfluß auf die IAA zu nehmen, schrieb Marx am 27. Juli 1869 an Engels: „Dieser Russe will offenbar Diktator der europäischen Arbeiterbewegung werden. Er soll sich in acht nehmen. Sonst wird er offiziell exkommuniziert.“ Und dann noch einmal am 17. Dezember 1869 an Engels: „Sobald so ein Russe sich einnistet, ist gleich der Teufel los.“ (MEW. Bd. 32, Berlin 1974, S. 351 und S. 423). Und schließlich bezichtigten Marx, der „das Spiel dieses höchst gefährlichen Intriganten“ (Karl Marx: Konfidentielle Mittteilung, in: MEW. Bd. 16, Berlin 1973, S. 420) Bakunin möglichst schnell beenden wollte, und Engels Mitglieder der Allianz der „allzerstörenden Taten des Zuchthausgesindels“ (Karl Marx/Friedrich Engels: Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation, in: MEW. Bd. 18, Berlin 1971, S. 440), die der internationalen Polizei in die Hände spielten: „Ihre hochtönenden Phrasen von Autonomie und freier Föderation, überhaupt ihr Kriegsgeschrei gegen den Generalrat waren nichts weiter als ein Kunstgriff zur Maskierung ihres wahren Zwecks: die Internationale zu desorganisieren und sie eben dadurch der geheimen, hierarchischen und autokratischen Regierung der Allianz zu unterwerfen.“ (Ebd., S. 439 f.).

B. Der Bund der Kommunisten

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Größenwahn war typisch für diesen verhinderten Revolutionär, der diktatorische Vollmachten für sich beanspruchte. Max Nettlau vermutete nach der Auseinandersetzung wegen der Internationale, daß Bakunin eine theoretische Abrechnung verfassen wollte, sich aber zurückhielt und schwieg, weil er „sich gewissermassen für Marx schämte, d. h. er schätzte dessen Nützlichkeit für die Bewegung noch so hoch, dass er sich nicht verzeihen konnte, ihn durch Blossstellung seines erbärmlichen Charakters dieser Nützlichkeit zu berauben“.69 Diese Einschätzung erscheint mir wenig plausibel, denn als Stephan Born als Oberkommandierender der Kommunalgarde beim Mai-Aufstand 1849 in Dresden erneut Bakunin im Rathaus begegnete, konnte er nichts anderes feststellen, daß dieser keinen ausgeprägten Sinn für die wirklichen Verhältnisse entwickelte und „wo nicht das Wort, sondern die Tat entschied, sehr überflüssig war“.70 Als Marx und Bakunin, die sich 16 Jahre nicht gesehen hatten, sich am 3. November 1864 in London wiedersahen, schrieb ersterer einen Tag später an Engels über Bakunin: „Ich muß sagen, daß er mir sehr gefallen hat und besser als früher.“71 Etwa drei Jahrzehnte nach der ersten Begegnung, nachdem Bakunin seine anarchistischen Ansichten entwickelt hatte, die ja von totaler, antiintellektueller Abscheu vor kirchlicher, politischer, rechtlicher und staatlicher Autorität nur so trieften, wetterte Marx in einem erst 1926 in der Sowjetunion veröffentlichten Kommentar von Bakunins 1873 erschienenen Buch Staatlichkeit und Anarchie: „Er versteht absolut nichts von sozialer Revolution, nur die politischen Phrasen davon: die ökonomischen Bedingungen derselben existieren nicht für ihn.“72 Aber auch jüngere Denker, wie die Historikerin und Philosophin Ricarda Huch (1864 – 1947), die 1933 aus Protest gegen die nationalsozialistische Politik aus der Preußischen Akademie der Künste austrat, sah den haarscharf sezierenden Marx in menschlichen Abgründen versinken: „Marx, der Sprößling von Rabbinern, verfügte über den scharfen, zerteilenden, durchdringenden Verstand seiner Rasse. Alles, was er vornahm, unterwarf er seinem Verstande und machte es dadurch zum Leichnam; was er bearbeitete, wurde Vergangenheit, wenn es auch Zukunft war.“73

Max Nettlau: Michael Bakunin, Berlin 1901, S. 30. Stephan Born: Erinnerungen eines Achtundvierzigers (1898), Berlin/Bonn 1978, S. 116. „Er träumte von der Errichtung einer großen panslavistischen Republik, die von der sächsischen Grenze, denn Böhmen gehörte ja dazu, bis über den Ural hinaus sich ausdehnte, überall das russische Gemeineigentum der Bauern an Grund und Boden einführte und damit die Welt erlöste, wenn sie auch gar nicht darauf versessen war, ihre Zivilisation auf den Kulturgrad des russischen Landvolks zurückzuschrauben.“ (Ebd.). 71 MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 16. 72 Karl Marx: [Konspekt von Bakunins Buch „Staatlichkeit und Anarchie“], in: MEW. Bd. 18, Berlin 1971, S. 633. 73 R. Huch: Michael Bakunin (wie Anm. 67), S. 89 f. (1988, S. 73). „Der wissenschaftliche Begründer des internationalen Sozialismus war ein unvolkstümlicher, unwohlwollender Mensch; die breite, umfassende, chaotische Natur Michels [Bakunin, H.K.] war ihm unverständlich und stieß ihn eher ab.“ (S. 92. 1988, S. 75). 69

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Außerdem kam Friedrich Engels, der Sohn eines erfolgreichen Textilfabrikanten aus Barmen (heute Wuppertal), auf der Rückreise von der Zweigniederlassung einer Baumwollfabrik seines Vaters in Manchester, zu Besuch nach Paris, um Marx besser kennenzulernen, weil sie ja zusammen in den Jahrbüchern veröffentlicht hatten. Die beruflichen Karrieren dieser beiden Revolutionäre waren so unterschiedlich verlaufen, daß man tiefenpsychologische Untersuchungen anstellen müßte, um herauszufinden, warum sie wie siamesische Zwillinge jahrzehntelang zusammenarbeiteten, selbst wenn der revolutionäre Kampf gegen den verhaßten Kapitalismus ein gemeinsames Band bildete. Engels hatte in einem kapitalistischen Betrieb eine kaufmännische Berufsausbildung absolviert, aber schon als junger Mann (1839 – 1842) unter dem Pseudonym ‚F. Oswald‘ literarische und religionskritische Abhandlungen veröffentlicht, weil er sich atheistischen Strömungen angeschlossen hatte. Neben seiner Arbeit im Kontor von Ermen & Engels in Manchester,74 die ihm mit eigenem Reitpferd Fuchsjagden im roten Rock ermöglichten, wo er aber auch das englische Industriesystem kennenlernte, war Engels während seiner Militärzeit als Freiwilliger in einer Berliner Artillerieeinheit von September 1841 bis Mitte August 1842 dort mit den Junghegelianern um Arnold Ruge in Kontakt getreten. Nach marxistischer Lesart trennten sich Marx und Engels von den Junghegelianern in dem Punkt, daß sie „nicht liberal, sondern demokratisch gesinnt und somit von vornherein bestrebt, … für die Demokratie, d. h. für die Interessen des ganzen Volkes, zu kämpfen“.75 In Engels’ Aufsatz Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie von 1844, der zuerst in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern erschien, übersteigerte er die Rolle des Industrieproletariats beim zukünftigen Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft und bereits ein Jahr später erschien Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in der er die elenden Lebensverhältnisse der vorindustriellen Zeit in England glorifizierte und die menschenunwürdige Lage der englischen Industriearbeiterschaft in den schwärzesten Farben malte, obwohl die englische Regierung seit den 1830er Jahren bereits Reformen eingeleitet hatte.76 Darauf werden wir unten noch etwas näher eingehen. Im Sommer 1845 verlegte Engels seinen Wohnsitz nach Brüssel und zwar in ein Nachbarhaus der Marxfamilie, um intensiver mit Marx zusammenzuarbeiten, doch dieser ließ sich am 7. November 1847 zum Vizepräsidenten der Demokratischen Gesellschaft in Brüssel wählen, die von Revolution und ArbeiVgl. William O. Henderson: The Firm of Ermen & Engels in Manchester, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung 11/12, April 1971, S. 1 ff. 75 Auguste Cornu: Karl Marx und Friedrich Engels. 1. Bd., Berlin 1954, S. 536. Das ist eine ‚Demokratie‘ im Sinne der Deutschen Demokratischen Republik! Zum 100. Todestag 1983, das die SED als „Karl-Marx-Jahr“ ausrief, wurden in der DDR großflächige Plakate aufgehängt mit der Aufschrift: „Wir ehren Karl Marx durch die Stärkung des Sozialismus und die Sicherung des Friedens.“ 76 Vgl. Friedrich Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie (1844), in: MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 499 – 524; ders.: Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845), in: MEW. Bd. 2, Berlin 1970, S. 225 – 506. 74

B. Der Bund der Kommunisten

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terverbrüderung so weit entfernt war wie der Himmel von der Hölle; gleichzeitig nahm er vom 29. November bis 8. Dezember 1847 am 2. Kongreß des Bundes der Kommunisten in London teil. Vom 21. bis 29. März 1848 schrieben Marx und Engels in Paris das politische Programm des von ihnen als Kommunistische Partei in Deutschland umfunktionierten Bundes der Kommunisten in 17 Forderungen nieder, die als Flugschriften am 30. März in Paris und am 10. September 1848 in Köln gedruckt wurden. Nach einem Polizeibericht von 1853 war diese Stadt im Revolutionsjahr dafür prädestiniert: „Cöln wurde in solcher Weise für Deutschland der Hauptsitz der damaligen revolutionairen Bestrebungen und ist es auch noch bis auf die neueste Zeit geblieben.“77 Das politische Programm soll hier vollständig zitiert werden, weil ihre revolutionären Forderungen so eklatant an den Reformerwartungen der deutschen Bevölkerung und ganz sicher auch an den deutschen Industriearbeitern vorbeigehen, die sich nach einer geeinten Nation in einem Bundesstaat, nach parlamentarischer Vertretung und freiheitlichen Institutionen wie Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit sehnten. Diese Forderungen sind vor allem deswegen von großem Interesse, weil sie zwar mit dem Motto des Kommunistischen Manifests (siehe nächstes Kapitel) beginnen, aber ganz andere Interessen der landwirtschaftlichen und industriellen Bevölkerung verfolgen. Zwar wird ein Staatssozialismus sowjetischer Machart propagiert, doch nirgends werden die Klassengegensätze von Kapital und Arbeit, der Revolutionsenthusiasmus bzw. die historische Unausweichlichkeit des Zusammenbruchs des kapitalistischen Systems erörtert. Trotzdem heißt es in einer russischen Marx-Biographie: „Die Gründung des Bundes der Kommunisten, der ersten internationalen Arbeiterorganisation, die den wissenschaftlichen Kommunismus auf ihre Fahnen schrieb, war ein großes Ereignis in der Geschichte des Befreiungskampfes des Proletariats. Sie legte den Grundstein für die Vereinigung des Marxismus mit der Arbeiterbewegung, verkündete den späteren Triumph der marxistischen Weltanschauung, der Idee der internationalen proletarischen Solidarität.“78 Aus dem kapitalistischen Fabriksystem hat sich viel eher als in der kommunistischen Gesellschaft ein Zukunftsmodell entwickelt, das „nicht nur als eine Methode zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktion, sondern als die einzige Methode zur Produktion vollseitig entwickelter Menschen“79 angesehen werden kann. Für marxistische Denker hörte jedoch die rechtliche und faktische Freiheit in einer Fabrik vollständig auf: „Die Sklaverei, in der die Bourgeoisie das Proletariat gefesselt hält, kommt nirgends deutlicher ans Tageslicht als im Fabriksystem.“80 Ganz offensichtlich sollte in dem politischen Programm für 77 Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen (wie Anm. 11), S. 66. Über die geheimdienstlichen Aktivitäten des Mitautors dieses Berichts, dem Polizeirat Wilhelm Stieber, informiert Richard Friedenthal: Karl Marx (1981). 2. Aufl. München/Zürich 1990, S. 389 – 401. 78 P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (wie Anm. 52), S. 164 f. 79 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. 1. Bd., Berlin 1966, S. 508. 80 F. Engels: Die Lage (wie Anm. 76), S. 398.

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den Bund eine andere Klientel angesprochen werden als in dem wenig früher erschienenen Manifest, wie wir gleich sehen werden. „,Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!‘ 1. Ganz Deutschland wird zu einer einigen, unteilbaren Republik erklärt. 2. Jeder Deutsche, der 21 Jahre alt, ist Wähler und wählbar, vorausgesetzt, daß er keine Kriminalstrafe erlitten hat. 3. Die Volksvertreter werden besoldet, damit auch der Arbeiter im Parlament des deutschen Volkes sitzen könne. 4. Allgemeine Volksbewaffnung. Die Armeen sind in Zukunft zugleich Arbeiterarmeen, so daß das Heer nicht bloß, wie früher, verzehrt, sondern noch mehr produziert, als seine Unterhaltungskosten betragen. Dies ist außerdem ein Mittel zur Organisation der Arbeit. 5. Die Gerechtigkeitspflege ist unentgeltlich. 6. Alle Feudallasten, alle Abgaben, Fronden, Zehnten etc., die bisher auf dem Landvolke lasteten, werden ohne irgendeine Entschädigung abgeschafft. 7. Die fürstlichen und andern feudalen Landgüter, alle Bergwerke, Gruben usw. werden in Staatseigentum umgewandelt. Auf diesen Landgütern wird der Ackerbau im großen und mit den modernsten Hilfsmitteln der Wissenschaft zum Vorteil der Gesamtheit betrieben. 8. Die Hypotheken auf den Bauerngütern werden für Staatseigentum erklärt. Die Interessen für jene Hypotheken werden von den Bauern an den Staat gezahlt. 9. In den Gegenden, wo das Pachtwesen entwickelt ist, wird die Grundrente oder der Pachtschilling als Steuer an den Staat gezahlt. Alle diese unter 6, 7, 8 und 9 angegebenen Maßregeln werden gefaßt, um öffentliche und andere Lasten der Bauern und kleinen Pächter zu vermindern, ohne die zur Bestreitung der Staatskosten nötigen Mittel zu schmälern und ohne die Produktion selbst zu gefährden. Der eigentliche Grundeigentümer, der weder Bauer noch Pächter ist, hat an der Produktion gar keinen Anteil. Seine Konsumtion ist daher ein bloßer Mißbrauch. 10. An die Stelle aller Privatbanken tritt eine Staatsbank, deren Papier gesetzlichen Kurs hat. Diese Maßregel macht es möglich, das Kreditwesen im Interesse des ganzen Volkes zu regeln und untergräbt damit die Herrschaft der großen Geldmänner. Indem sie nach und nach Papiergeld an die Stelle von Gold und Silber setzt, verwohlfeilert sie das unentbehrliche Instrument des bürgerlichen Verkehrs, das allgemeine Tauschmittel, und erlaubt, das Gold und Silber nach außen hin wirken zu lassen. Diese Maßregel ist schließlich notwendig, um die Interessen der konservativen Bourgeois an die Revolution zu knüpfen. 11. Alle Transportmittel: Eisenbahnen, Kanäle, Dampfschiffe, Wege, Posten etc. nimmt der Staat in seine Hand. Sie werden in Staatseigentum umgewandelt und der unbemittelten Klasse zur unentgeltlichen Verfügung gestellt. 12. In der Besoldung sämtlicher Staatsbeamten findet kein anderer Unterschied statt als der, daß diejenigen mit Familie, also mit mehr Bedürfnissen, auch ein höheres Gehalt beziehen als die übrigen. 13. Völlige Trennung der Kirche vom Staate. Die Geistlichen aller Konfessionen werden lediglich von ihrer freiwilligen Gemeinde besoldet.

B. Der Bund der Kommunisten

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14. Beschränkung des Erbrechts. 15. Einführung von starken Progressivsteuern und Abschaffung der Konsumtionssteuern. 16. Errichtung von Nationalwerkstätten. Der Staat garantiert allen Arbeitern ihre Existenz und versorgt die zur Arbeit Unfähigen. 17. Allgemeine, unentgeltliche Volkserziehung. Es liegt im Interesse des deutschen Proletariats, des kleinen Bürger- und Bauernstandes, mit aller Energie an der Durchsetzung obiger Maßregeln zu arbeiten. Denn nur durch Verwirklichung derselben können die Millionen, die bisher in Deutschland von einer kleinen Zahl ausgebeutet wurden und die man weiter in der Unterdrückung zu erhalten suchen wird, zu ihrem Recht und zu derjenigen Macht gelangen, die ihnen, als den Hervorbringern allen Reichtums, gebührt.“81

Die unüberbrückbaren Gegensätze zwischen dem kommunistischen Klassenkampf und den politischen Erwartungen von Arbeitern erschließen sich recht gut aus einem Aufruf des Mainzer Arbeiterbildungsvereins An alle Arbeiter Deutschlands! vom 5. April 1848, der von Karl Wallau und Adolph Cluß unterzeichnet war. Zwar treffen Marx und Engels drei Tage später auf ihrem Weg nach Köln mit Vertretern des Arbeitervereins in Mainz zusammen, aber es kam zu keinen Vereinbarungen. Der Bildungsverein für Arbeiter wollte mit seinem Aufruf erreichen, daß „überall in Städten und Dörfern Arbeitervereine gebildet, in denen unsere Verhältnisse erörtert, Maßregeln zur Abänderung unserer jetzigen Lage vorgeschlagen, Vertreter aus der Arbeiterklasse ins deutsche Parlament namhaft gemacht, erwählt und alle übrigen Schritte getan werden, die zur Wahrung unserer Interessen nötig sind“.82 Kein Wort von revolutionärer Gewalt, keine Anklagen gegen eine ausbeuterische Klasse, keine Forderungen nach Verstaatlichungen, sondern der echte Wunsch nach einem Zusammenschluß deutscher Arbeitervereine, um Arbeiterinteressen gegenüber der Politik durchzusetzen. Allerdings blieb die Resonanz auf den Aufruf des Arbeiterbildungsvereins gering, wohl auch deshalb, weil in den verschiedenen deutschen Regionen sich noch kein Arbeiterbewußtsein entwickelt hatte und eine politische Organisation in Form einer Partei fehlte. Im Jahr 1898 schrieb der Begründer des ersten deutschen Arbeiterkongresses – dessen Präsident Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck (1776 – 1858) am 23. August 1848 in Berlin gewählt worden war –, Stephan Born, mit seiner seit dem 3. Oktober 1848 erschienenen Zeitschrift Die Verbrüderung, über das prognostizierte Ende des Klassenkampfes in einer kommunistischen Gesellschaft: „Dieser Gedanke, er mag von nationalökonomischem Gesichtspunkte aus noch so geistreich begründet

81 Karl Marx/Friedrich Engels: Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland, in: MEW. Bd. 5, Berlin 1969, S. 3 – 5 (Hervorhebung im Original). 82 [Aufruf des Mainzer Arbeiterbildungsvereins an alle Arbeiter Deutschlands zur Gründung von Arbeitervereinen und zur Vorbereitung eines Arbeiterkongresses], in ebd., S. 483.

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worden sein, lebt heute ebensowenig wie vor fünfzig Jahren im Bewußtsein des Volkes.“83 Die Idee von Arbeiterbildungsvereinen entstand seit 1825 durch die Errichtung von Working Men’s Colleges durch den englischen Politiker Lord Henry Peter Brougham (1778 – 1868), der sich nicht nur für die Abschaffung der Sklaverei, sondern auch für eine gebildetere Arbeiterschaft einsetzte. Zwar gab es in deutschen Staaten seit 1830 sogenannte Gewerbevereine in Sachsen, Nassau oder in Hannover sowie in größeren Städten Norddeutschlands, die jedoch vor allem Handwerkern in Abendschulen eine Gelegenheit zur Weiterbildung eröffnen wollten. Die eigentlichen Arbeiterbildungsvereine entstanden erst mit der revolutionären Bewegung Ende der 1840er Jahre – in Belgien nannten sie sich Ligue de l’enseignement, in Frankreich Cercles d’ouvriers –, von denen allerdings viele nach der Revolution aufgelöst wurden. Es dauerte bis in die 1860er Jahre, ehe Arbeiterbildungsvereine durch die Lassallebewegung wieder zahlreicher gegründet werden konnten, doch nach der Reichsgründung gingen sie in die Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung auf, die um 1900 etwa 23 Zweigvereine und Verbände umfaßte. Die Deutsche Bildungsgesellschaft für Arbeiter zählte 1847 fast 1.000 Mitglieder und konnte bei mehrmaliger Namensänderung bis 1918 ihre Arbeit fortsetzen.84 Der eigentliche Zweck dieser Vereine bestand in einer Beförderung der Bildung von Arbeitern durch Vorträge, Bibliotheken und schließlich auch Fortbildungsschulen. Die vorhandene Kluft zwischen Gebildeten und Arbeitern sollte durch ein Angebot formeller Bildung wenigstens soweit verringert werden, daß Standesdünkel eine weniger gravierende Wirkung entfalteten, was um 1865 unter Sozialisten befürchtet wurde: „Während bei andern Gelegenheiten das Demüthigende und Widerwärtige gerade darin besteht, daß Andere, im Bewußtsein ihrer überlegenen Bildung auch das ganze menschliche Wesen des Arbeiters unterschätzen, sein Denken, Fühlen und Wollen mißachten, welches doch oft bei gänzlich mangelndem Schliff gerade sehr lebendig und kräftig ist: da liegt hier die Sache insofern anders, als man außer der Bildung selbst, die dem Arbeiter thatsächlich fehlt, weiter keine Gegenstände des Lebens vor sich hat, in deren Berathung und Verwaltung jene naive Eitelkeit der Gebildeten sich kund geben könnte.“85 Betrachten wir am Ende dieses Abschnittes über den Bund der Kommunisten, der ja eine Verbrüderung zwischen den Arbeitern anstrebte, kurz den menschlichen Umgang mit dem Sozialisten Stephan Simon Born (1824 – 1898), der als fünfter Sohn des Maklers Meyer Buttermilch in Lissa im preußischen Regierungsbezirk Posen geboren wurde und nach Abbruch des Gymnasiumbesuchs eine fünfjährige Setzerlehre in Berlin absolvierte; „ein schreiender Mißbrauch“.86 Er war 1847 auf Empfehlung Friedrich Engels’, dem er sich in Paris angeschlossen hatte, dem Bund S. Born: Erinnerungen (wie Anm. 70), S. 84. Vgl. D. McLellan: Karl Marx (wie Anm. 13), S. 177. 85 F. A. Lange: Die Arbeiterfrage (wie Anm. 64), S. 144 (Hervorhebung im Original). 86 So S. Born: Erinnerungen (wie Anm. 70), S. 13, wo es zur Begründung dieses Mißbrauches heißt: „Einen jungen Menschen fünf Jahre an die Kette zu legen, um ihm während 83

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beigetreten und hatte, wohl auch um Marx und Engels zu unterstützen, 1848 in Berlin die politische Arbeiterorganisation Allgemeine deutsche Arbeiter-Verbrüderung gegründet, die etwa 100 Arbeitervereine in Mecklenburg, Ostpreußen und Sachsen vertrat.87 Diese Form des antirevolutionären Reformismus und bourgeoisen Versöhnlertums mußte von den auf Vernichtung eingeschworenen Revolutionären unbarmherzig bekämpft werden, auch wenn Born wegen seiner Beteiligung an der Revolution verfolgt wurde. In seinen Lebenserinnerungen von 1898 zeigte sich Born vom Kommunismus als gewaltige wirtschaftliche Bewegung seiner Zeit nicht wirklich überzeugt, sondern er habe ihm nur gefühlsmäßig angehangen: „Es ging mir wie allen denen, welche im Glauben allein sich glücklich fühlen und denen dabei der Spott gegen die Nichtgläubigen nicht ausgeht.“88 Wie viele andere Revolutionäre und Scheinrevolutionäre, wie etwa Richard Wagner, konnte er noch vor seiner Verhaftung in die Schweiz fliehen, wo er später in Basel eine Professur für deutsche und französische Literatur innehatte. Alle diese sozialistischen und revolutionären Aktivitäten Borns waren in den Augen der Weltrevolutionäre nur vordergründiges Geplänkel eines eigentlich bourgeoisen Charakters. Noch 1885 warf Engels dem damals 23jährigen Born, der aus jugendlichem Idealismus, aber mit einem bewundernswerten Realitätssinn handelte, vor, er habe sich ‚verbrüdert‘ mit „verschiedenartigsten Krethi und Plethi, um nur einen Haufen zusammenzubekommen, und war keineswegs der Mann, der Einheit in die widerstrebenden Tendenzen, Licht in das Chaos bringen konnte.“89 Eine einheitsstiftende Rolle kann man Marx und Engels wirklich nicht bescheinigen, doch Borns politische Absichten hatten „mit Zunfterinnerungen und Zunftwünschen, Abfällen von Louis Blanc und Proudhon, Schutzzöllnerei usw.“ gar nichts zu tun. Der Bund hat während seiner Gründungsperiode vielfältige Aktivitäten in Deutschland entfaltet, wie aus einem polizeilichen Bericht aus dem Jahr 1853 klar hervorgeht: „Jedenfalls haben im Jahre 1847 fast in allen bedeutenden Städten Deutschlands Bundes-Gemeinden existirt, welche mit einander durch die der Central-Behörde in London in der geheimsten, wohl organisirten Verbindung standen; namentlich waren es die zahlreichen, wandernden Handwerksburschen, von denen es damals in Deutschland wimmelte, welche diese Verbindung in unsichtbarer Weise, von Königsberg in Preußen bis Paris, von Wien bis London, und von London bis nach Marseille und zur Schweiz unterhielten.“90 Versuche, in Deutschland einen Bundes-Kongreß einzuberufen bzw. abzuhalten, sind entweder an der polizeilider letzten drei Jahre als fertigen Arbeiter für eine lächerlich geringe Entschädigung auszubeuten“. 87 Vgl. Karl Birker: Die deutschen Arbeiterbildungsvereine, Berlin 1973, S. 38 ff. 88 S. Born: Erinnerungen (wie Anm. 70), S. 27. 89 Friedrich Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, in: MEW. Bd. 21, Berlin 1973, S. 219. Dort auch das nächste Zitat. S. Born: Erinnerungen (wie Anm. 70), S. 77, glaubte, daß Engels ihm nicht verzeihen konnte, „daß ich arbeitete, ohne vorher bei ihm, dem päpstlichen Staatssekretär in Köln, Verhaltungsbefehle einzuholen“. 90 Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen (wie Anm. 11), S. 54 f.

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chen Überwachung oder an den revolutionären Tumulten seit 1848 gescheitert. Als sich eine von London abgespaltene Zentralbehörde am 1. Dezember 1850 in Köln bildete, war der revolutionäre Elan des Bundes längst verpufft und man benötigte andere organisatorische Formen, um durch eine Revolution den Kapitalismus aus den Angeln zu heben. In einem Sendschreiben der Kölner Zentralbehörde sind die hoffnungsvollen Töne einer erfolgreichen Agitation sehr gedämpft: „Namentlich wissen wir, was Deutschland anlangt, über die Lage des Bundes in den Kreisen Breslau, Schwerin und Nürnberg und über eine Anzahl einzeln bestehender Gemeinden so gut wie gar nichts, und nach Allem, was wir bisher aus den Mittheilungen unserer Emissaire nach der Analogie schließen können, haben wir sehr zu befürchten, daß dort alles in völliger Auflösung begriffen ist.“91 Die Emissäre, die nach allen Teilen Deutschlands ausgesandt wurden, um über die städtischen Tätigkeiten zu berichten, konnten nur feststellen, daß der Bund entweder, wie in Süddeutschland, gar keine Wurzeln geschlagen hatte, oder wie in Leipzig, Berlin oder Breslau Auflösungserscheinungen registriert werden mußten. Ja selbst im Kölner Kreis, dem Sitz der Zentrale, soll es Bundesmitglieder gegeben haben, „die ihr Princip um eines materiellen Vortheils willen verleugneten und sich z. B. so weit herabließen, in die Kirche zu gehen“!92 Trotzdem versuchte man den Bundesmitgliedern, die unter ständiger polizeilicher Überwachung standen, einzuschärfen, daß sie der Zentralbehörde in London folgen sollten, weil „die Centralisation aller kommunistischen Kräfte zur Erreichung des Kommunismus nothwendig sind“.93 Der 1853 erstellte Polizeibericht konnte deshalb nach den erfolglosen Revolutionsbemühungen der kommunistischen Partei den Jubelschrei ausstoßen: „Als die Sache der Ordnung 1849 gesiegt hatte, fanden sich fast alle Führer der Sache des Kommunismus als politische Flüchtlinge im Exil. Namentlich trafen sich sechs der früheren Chefs, [Johann August Ernst] Willich, [Oswald] Dietz, [A.] Gebert, Adolph Meier, [Carl] Schapper, [August] Schärttner, in London zusammen.“94 Mit der Niederschlagung der revolutionären Aufstände in verschiedenen europäischen Staaten und der lebensrettenden Flucht von Revolutionären ins Exil war die Gefahr eines kommunistischen Umsturzes keineswegs gebannt. Schon gar nicht, weil Marx’ Fanatismus durch eine revolutionäre Niederlage reduziert werden konnte, wie ein Spitzel des Berliner Polizeipräsidenten bei seinen Erkundigungen von 91 92 93

Zitiert ebd., S. 59. Ebd., S. 60. Zitiert ebd., S. 126 (Schreiben unter dem Decknamen F. Geyer vom 25. September

1851). 94 Ebd., S. 69. Von dem in Hanau geborenen Schärttner wurde im 2. Teil des Polizeiberichts von 1854 mitgeteilt, daß er nach dem badischen Aufstand 1849 über die Schweiz und Frankreich nach London geflüchtet sei, wo er in der Long-Acre-Street 27 mit seiner Frau ein Lokal eröffnete, das er Deutsches Haus nannte. „Diese Wirthschaft bildet den Sammelplatz aller politischen Flüchtlinge. Namentlich haben Kinkel, Schimmelpfennig und Schurz dort gewohnt. Schärttner selbst ist aber auch ein eifriges Mitglied der Umsturzparthei und gehört namentlich zur communistischen Parthei derselben.“ (Ebd., S. 108. Hervorhebungen im Original).

C. Engels’ Arbeiterschrift von 1845

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dessen Lebens- und Arbeitsweise im Jahr 1853 schnell erkannte: „Keiner wird es leugnen, daß der Kommunismus nach der Marxschen Theorie für den Bestand der Staaten und der bürgerlichen Gesellschaft von der höchsten Gefahr ist, denn er trägt im Keime den Kampf auf Leben und Tod des besitzlosen Proletariats gegen die besitzenden Kreise, mit einem Wort, es ist dies die Lehre des Raubrechts, des Faustrechts, nur ist sie mit der raffiniertesten Feinheit, mit dem Mantel des Humanismus und des gleichen Rechtes aller auf Besitz und Verdienst umhüllt.“95 Obwohl viele kommunistische deutsche Revolutionäre nach 1849 ins Ausland geflohen waren, gab man sich in politisch führenden Kreisen keiner Illusion über die umstürzlerischen Gefahren und über den attraktiven moralischen Impuls des Kommunismus auf die arbeitende Klasse hin und versuchte sie mit allen Mitteln zu bekämpfen.

C. Engels’ Arbeiterschrift von 1845 Im Dezember 1842 hatte Friedrich Engels ein paar Artikel, wie üblich anonym, in der Rheinischen Zeitung veröffentlicht, in denen er zeigen wollte, daß „das ganze künstliche Gebäude der sozialen und politischen Wohlfahrt Englands“96 auf tönernen Füßen stehe, weil die herrschenden Parteien aus dem Grundbesitzadel, der Aristokratie des Geldes und der radikalen Demokratie bestünden. Da der englische Mittelstand nur an der Aufrechterhaltung des Bestehenden interessiert sei, könne die Forderung der Chartisten, ein allgemeines Stimmrecht einzuführen, bei der jetzigen Lage Englands nur eine Revolution nach sich ziehen. Ob eine solche Revolution möglich oder wahrscheinlich sei, erörterte Engels in dem nächsten Artikel und er glaubte, daß davon die Zukunft Englands abhänge, aber der normale Engländer kümmere sich lediglich um die öffentliche Ruhe und seine materiellen Interessen. „Darum ist es ein Ding der Unmöglichkeit, daß ein Staat wie England, dessen politische Exklusivität und Selbstgenügsamkeit am Ende um einige Jahrhunderte gegen den Kontinent zurückgeblieben ist, ein Staat, der von der Freiheit nur die Willkür kennt, der bis über die Ohren im Mittelalter steckt, daß ein solcher Staat nicht endlich mit der indes fortgeschrittenen, geistigen Entwickelung in Konflikt kommen sollte.“97 Es soll nur beiläufig erwähnt werden, daß Großbritannien zu dieser Zeit der weltweit führende Industriestaat war, der in allen Bereichen des ökonomischen Lebens – beim Maschineneinsatz, beim weltweiten Export, in der Produktivität, der Schiffahrt, der Baumwollproduktion, der Stahl- oder Steinkohlenindustrie – alle anderen europäischen Staaten weit hinter sich ließ. All das 95

Zitiert von G. Mayer: Neue Beiträge (wie Anm. 15), S. 60 (Hervorhebung im Origi-

nal). 96 [Friedrich Engels]: Englische Ansicht über die innern Krisen, in: MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 454 (Nr. 342 der RZ vom 8. Dezember 1842). 97 [Friedrich Engels]: Die innern Krisen, in: MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 457 (Nr. 343 der RZ vom 9. Dezember 1842). Dort auch das nächste Zitat.

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kümmerte Engels wohl wenig – ganz abgesehen davon, daß der englische Parlamentarismus staatsrechtliche Grundlagen für eine moderne Demokratie gelegt hatte –, sondern für ihn war England „von Natur ein armes Land“ und die Arbeiter dem Hungertod preisgegeben. Betrachten wir ein einziges Beispiel, das für alle Produktionssparten ähnlich ausfallen würde: Die englische Kohlenproduktion betrug um 1850 etwa 66 Mio. Tonnen im Jahr, während sie für ganz Deutschland zu dieser Zeit ungefähr bei 5,3 Mio. t lag, d. h. die englische Produktion übertraf die deutsche um weit mehr als das Zehnfache. Wenige Streiks in englischen Städten und eine vorübergehende Handelskrise führten nach Engels, nachdem ein Streik in Manchester durch fünf Dragoner aufgelöst worden war, zu der unbezweifelbaren Überzeugung: „Der Nutzen, der für die Besitzlosen daraus hervorgegangen ist, bleibt aber bestehen; es ist das Bewußtsein, daß eine Revolution auf friedlichem Wege eine Unmöglichkeit ist, und daß nur eine gewaltsame Umwälzung der bestehenden unnatürlichen Verhältnisse, ein radikaler Sturz der adligen und industriellen Aristokratie die materielle Lage der Proletarier verbessern kann.“98 Diese unrealistischen, ja man muß eigentlich sagen absurden Überlegungen verarbeitete Engels in ausführlicher Form in seinem Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in dem er nachzuweisen versuchte, daß das krisenhafte englische Industriesystem die Brotlosigkeit und Ausbeutung der gesamten Arbeiterschaft nach sich ziehen müßte. Man muß ihm mit Lujo Brentano, der dies bereits 1872 niederschrieb, entgegenhalten, daß Marx, Engels und ihre Parteigenossen „nichts Positives an Stelle des jetzt Bestehenden setzen [wollen]; sie verurtheilen sogar, wenn Jemand überhaupt positive Anschauungen über eine Neuordnung der socialen Verhältnisse hat und wollen als echte Revolutionäre nichts als tabula rasa“.99 Ein paar wenige inhaltliche Bemerkungen zu dieser ersten größeren Buchveröffentlichung von Engels, die angeblich „große Urkunde des wissenschaftlichen Sozialismus“,100 mögen verdeutlichen, daß es diesem hochgeschätzten kommunistischen Heroen weniger um sachliche Analyse der industriellen Verhältnisse ging, sondern vor allem um aufstachelnde Propaganda. Die eigentliche Absicht dieses Buches teilte Engels in einem Brief an Marx vom 19. November 1844 unverblümt mit: „Ich werde den Engländern ein schönes Sündenregister zusammenstellen; ich klage die englische Bourgeoisie vor aller Welt des Mordes, Raubes und aller übrigen Verbrechen in Masse an … Übrigens versteht es sich, daß ich den Sack schlage und den Esel meine, nämlich die deutsche Bourgeoisie, der ich deutlich genug sage, sie sei ebenso schlimm wie die englische, nur nicht so couragiert, so konsequent und so geschickt in der Schinderei.“101 Engels’ Schrift von 1845, die 1892 in eiEbd., S. 460 (Nr. 344 der RZ vom 10. Dezember 1842). Lujo Brentano: Meine Polemik mit Karl Marx (1890). Reprint London 1976, S. 17 (Hervorhebung im Original. Artikel in Concordia. Zeitschrift für die Arbeiterfrage, Nr. 28. Berlin, den 11. Juli 1872). 100 Franz Mehring: Karl Marx (1918). 5. Aufl. Berlin 1983, S. 118. 101 MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 10. 98

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ner zweiten deutschen Auflage mit einem langen Vorwort erschien,102 beginnt mit einem Aufruf an die arbeitenden Klassen Großbritanniens, denen er sein Werk widmete, nicht als Engländer, sondern als Mensch in einer internationalen Familie, weil er seinen deutschen Landsleuten die Lebensbedingungen der englischen Arbeiter, „eurer Leiden und Kämpfe, eurer Hoffnungen und Perspektiven“,103 darbieten möchte. Während seines fast zweijährigen Englandaufenthalts von November 1842 bis August 1844 habe er diese Arbeitersituation gründlich kennengelernt, um nun wahrhaftiger Zeuge zu sein „eurer Kämpfe gegen die soziale und politische Macht eurer Unterdrücker“, die er ungeschminkt seinen deutschen Lesern mitteilen wollte. Engels suggerierte in seinem Buch einem unbedarften Publikum, daß die englische Mittelklasse den Arbeitern als ausgesprochener Gegner gegenüberstehe, der zwar herzliches Mitgefühl bekunde, aber sich an den Produkten der Arbeiter nur bereichern wolle und sie dem Hungertod überlasse, „sobald sie aus diesem indirekten Handel mit Menschenfleisch keinen Profit schlagen kann“.104 Und warum ist die Lage der arbeitenden Klasse, der französische und deutsche Arbeiterkommunismus sowie der englische Sozialismus der Chartisten, der Ausgangspunkt aller sozialen Bewegungen?, „weil sie die höchste, unverhüllteste Spitze unsrer bestehenden sozialen Misere ist“.105 England wählte Engels zum Untersuchungsobjekt, weil die proletarischen Zustände dort am fortgeschrittensten waren und weil das statistische Material durch offizielle Erhebungen und Enqueten in reichhaltigem Maße zusammengetragen und vorhanden war. Und was Deutschland betreffe, so habe die Bourgeoisie die soziale Frage mißhandelt und der deutsche Sozialismus und Kommunismus sei von theoretischen Voraussetzungen statt von den wirklichen Lebensumständen des Proletariats ausgegangen, weshalb die „lächerlichsten und abgeschmacktesten Meinungen über die Lage der Arbeiter“106 verbreitet worden seien. In ähnlicher Fehleinschätzung wie Marx glaubte Engels die englischen und deutschen Verhältnisse gleichsetzen zu können: „Dieselben Grundursachen, welche in England das 102 Vgl. F. Engels: Die Lage (wie Anm. 76), S. 637 – 650. Unterzeichnet „London, 21. Juli 1892“. Engels wollte 1892 weiterhin nicht einräumen, daß der Kapitalismus in diesem halben Jahrhundert seit der ersten Veröffentlichung eine Reformdynamik entwickelt hatte, die alle seine Vorhersagen und schmachvollen Untergangsszenarien widerlegten. Die funktionierende Konkurrenz zur Verbilligung von Produktionsgütern, die von Gewerkschaften durchgesetzten Lohnerhöhungen für Arbeiter, die effektive Kontrolle von Sicherheitsmaßnahmen in den Unternehmen durch Fabrikinspektoren, die Abschaffung des Trucksystems oder die Einführung des 10-Stunden-Arbeitstages waren für ihn 1892 lediglich Errungenschaften, die „ebensosehr die Konkurrenz des Riesenkapitalisten gegen seine weniger begünstigten Geschäftskollegen noch überlegener machten“ (S. 639). Lediglich bei seiner Prophezeiung einer nahe bevorstehenden sozialen Revolution in England machte er 1892 das halbherzige Zugeständnis, sie sei auf seine „jugendliche Hitze“ (S. 642) zurückzuführen gewesen. 103 Ebd., S. 229. Dort auch das nächste Zitat. 104 Ebd., S. 230. 105 Ebd., S. 232. 106 Ebd., S. 233. Dort auch das nächste Zitat.

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Elend und die Unterdrückung des Proletariats bewirkt haben, sind in Deutschland ebenfalls vorhanden und müssen auf die Dauer dieselben Resultate erzeugen.“ In dem industriell weit fortgeschrittenen England trete jedoch die brutale Gleichgültigkeit und die gefühllose Isolierung „um so widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr diese einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind“.107 Es ist bezeichnend für die realitätsverleugnende Einseitigkeit von Extremisten, daß auch der verblendete Antisemit und protestantische Hof- und Domprediger in Berlin, Adolf Stoecker (1835 – 1906), auf einer Sitzung des Preußischen Abgeordnetenhauses über die Judenfrage am 22. November 1880 in das gleiche Horn der ausgebeuteten Arbeiter blies wie Engels, um daraus rassistische Töne hervorzulocken: „Das Judenthum als Finanz-, Handels- und Industriemacht hat bei uns sozial eine tiefgreifende und, ich glaube, nicht heilsame Bedeutung; indem es den Grundsatz einer weitgetriebenen Konkurrenz im Großen und im Einzelnen anwendet, führt es dahin, daß in Deutschland die Löhne so niedrig werden und bleiben, wie sie sind.“108 Engels breitete ein umfangreiches, allerdings einseitig selektiertes, statistisches Material aus, das alles andere als eine „vollständige, systematische Darlegung der Lage des englischen Proletariats“109 darstellte, um den endgültigen Sieg der Maschinenarbeit durch die Erfindungen von Spinnmaschinen seit James Hargreaves (1764), Richard Arkwright (1769), Samuel Crompton (1779) oder Richard Robert (1825) gegen die Handarbeit in der englischen Industrie zu belegen.110 Dieser Maschineneinsatz habe zum Preisverfall der Manufakturwaren, zum Aufblühen von Handel und Industrie, der Vermehrung des Kapitals und des Nationalreichtums geführt, was eigentlich als positive Effekte angesehen werden könnte, wenn nicht gleichzeitig eine rasche Vermehrung des Proletariats, „Zerstörung alles Besitzes, aller Sicherheit des Erwerbs für die arbeitende Klasse, Demoralisation, politische Aufregung“111 eingetreten wären. Engels behandelte ausführlich die Wohn- und Lebenssituation englischer Arbeiter in mehreren Industriestädten, vor allem in Manchester, und kam zu dem niederschmetternden Ergebnis, „daß in den Arbeiterwohnungen von Manchester keine Reinlichkeit, keine Bequemlichkeit, also auch keine Häuslichkeit möglich ist; daß in diesen Wohnungen nur eine entmenschte, degradierte, intellektuell und moralisch zur Bestialität herabgewürdigte, körperlich kränkliche Rasse sich behaglich und heimisch fühlen kann“.112 Gleichzeitig schwang bei ihm Bewunderung mit, was in Großbritannien seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts alles neu geschaffen wurde; Straßen, Brücken, Kanäle, Ebd., S. 257. Der Fall Kantorowicz. 2. Aufl. Berlin 1881, S. 127. Stoecker war davon überzeugt, daß „in dem Druck, welche das Judenthum auf Grundbesitz, Handel und Gewerbe ausübt, einen der Gründe zur Verschärfung der sozialen Frage“ (S. 128) erkannt werden könne. 109 Auguste Cornu: Karl Marx und Friedrich Engels. 3. Bd., Berlin/Weimar 1968, S. 112. 110 Vgl. F. Engels: Die Lage (wie Anm. 76), S. 243 ff. 111 Ebd., S. 242. 112 Ebd., S. 295. 107

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Chausseen, eine Handelsflotte, Eisenbahnen, ein ungeheures Städtewachstum und ein internationales Handelssystem: „Die industrielle Revolution hat für England dieselbe Bedeutung wie die politische Revolution für Frankreich und die philosophische für Deutschland, und der Abstand zwischen dem England von 1760 und dem von 1844 ist mindestens ebenso groß wie der zwischen dem Frankreich des ancien régime und dem der Julirevolution. Die wichtigste Frucht aber dieser industriellen Umwälzung ist das englische Proletariat.“113 Die Annahme, Engels intendierte mit dieser Schilderung, das Wachstum der Arbeiterklasse und die Zunahme des Arbeitslohns habe auf fruchtbare Weise dazu geführt, daß beschäftigungslose Landarbeiter in den Industrie- und Handelsstädten Arbeit fanden und dadurch dem Teufelskreis von Agrarkrisen und Hungersnöten entfliehen konnten, ist unhaltbar. Engels wollte vielmehr zeigen, daß aus den Gesellen und Meistern in Handwerksberufen Arbeiter und große Kapitalisten wurden, d. h. die (Handwerks-)Meister durch Fabrikanten verdrängt worden sind, weil eine selbständige Fabrik neben viel Kapital eine große Anzahl von Arbeitern benötigte, die zu einer wirklichen Klasse wurden: „Wer jetzt als Arbeiter geboren wurde, hatte keine andere Aussicht, als lebenslang Proletarier zu bleiben.“114 Die Kapitalisten kennten dagegen nur ein Ziel, nämlich „alles an sich [zu] reißen, während den vielen Schwachen, den Armen, kaum das nackte Leben bleibt.“115 Die Entstehung der Arbeiterklasse, „der ungeheuren Majorität des englischen Volks“116 – was zu dieser Zeit nicht zutraf, wie Bruno Hildebrand 1848 nachwies, weil es immer noch mehr Handwerker, Landarbeiter, Kaufleute etc. gab –, werfe allerdings die Frage auf, was aus diesen besitzlosen Millionen werden solle. Doch wenn sie sich ihrer politischen Macht bewußt würden, dann könnten sie Vorteile von den Mittelklassen bei gesellschaftlichen Veränderungen, sei es die Armenbill, die Fabrikenbill oder die Reformbill, herausschlagen: „Es ist aber auch hohe Zeit, daß die englische Mittelklasse den nicht bittenden, sondern drohenden und fordernden Arbeitern Konzessionen macht, denn in kurzem möchte es zu spät sein.“117 Diese eindeutige Drohung gegenüber der englischen Industrie, daß sie mit einer offensichtlichen Gleichgültigkeit die elende Existenz von Arbeitern hinnehme, verband Engels mit der möglichen Gefahr, daß ihnen der sichere Boden unter den Füßen ausgehöhlt würde und einstürzen könnte, ja daß „dessen baldiger Einsturz so sicher ist wie irgendein mathematisches oder mechanisches Gesetz“. Die angebliche Ausbeutung der Arbeiterklasse und deren gefühlloses Überlassen ihres Schicksals muß nach Engels zu einer Revolution führen, „gegen die die erste französische und das Jahr 1794 ein Kinderspiel sein wird“! Die industriellen Arbeiter, d. h. die Fabrikarbeiter, werden nach Engels von der Industrie „nur als ein 113 114 115 116 117

Ebd., S. 250. Ebd., S. 251. Ebd., S. 257 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 251. Ebd., S. 252. Dort auch die beiden nächsten Zitate.

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Stück Kapital angesehen, dem der Fabrikant dafür, daß es ihm zur Benutzung sich hingibt, Zinsen, unter dem Namen Arbeitslohn, erstattet“.118 Diese übertriebene Schilderung des Arbeitsalltags, in dem „überall sozialer Krieg, das Haus jedes einzelnen im Belagerungszustand, überall gegenseitige Plünderung unter dem Schutz des Gesetzes“119 auftrete, diente wie bei Marx zur revolutionären Aufstachelung der Arbeiter gegen das verhaßte kapitalistische System. Die bedrückende Situation von Industriearbeitern, gelegentlich in Arbeitslosigkeit ohne irgendeine Unterstützung zu geraten und dann eventuell zu verhungern, wurde von Engels in einer Weise verallgemeinert, die auch im englischen Industriekapitalismus leicht widerlegt werden kann, der gerade in konjunkturellen Hochphasen Millionen von Menschen eingestellt hat und die Industriellen nicht „notwendig schwere Krankheiten und den Tod“120 ihrer Arbeiter herbeiführten. Natürlich bedrohten schlechte Handels- und Absatzkonjunkturen die existenzielle Situation der Arbeiterschaft und konnten zu einer lebensbedrohlichen Lage, besonders in höherem Alter, führen, doch eine ausgewogene Betrachtung der Industriearbeit müßte die vorindustriellen Zustände mit in den Blick nehmen, wo Tausende von Menschen nach Erntekatastrophen oder Seuchen elend umkamen, was man als göttliche Fügung interpretierte.121 Bereits 1828 hatte Moritz Mohl energisch der These widersprochen, daß die Maschinenindustrie die Löhne erniedrige und Arbeiter in Fabriken ausgebeutet würden, während die Handarbeit ein besseres Auskommen ermögliche: „Zwölf Kreuzer ist in Württemberg ein Maximum, das mit Flachs- und Hanfspinnerei in einem Tage von Morgens 6. bis Abends 10. Uhr zu verdienen schon eine seltene Übung bei einer erwachsenen Person voraussezt, und 12. Kreuzer sind ein Lohn, den in Württemberg schon ein zehnjähriges Kind bei der leichtesten Arbeit in einer Spinnerei, dem Spulen, erhält, während eine erwachsene weibliche Person in Württemberg bei unvollkommenen Maschinen leicht 30. bis 36. Kreuzer, in England bei vollkommeneren leicht das Doppelte erwirbt.“122 Und ein Ebd., S. 254. Ebd., S. 257. 120 Ebd., S. 258. Ohne irgendeinen Beleg behauptete Engels: „Die englischen Arbeiter nennen das sozialen Mord und klagen die ganze Gesellschaft an, daß sie fortwährend dies Verbrechen begehe.“ (Ebd.). Ein preußischer Polizeispitzel fand bei einem in Straßburg verhafteten Mitglied des Bundes der Kommunisten, dem Schneidermeister Joseph Gipperich, ein Schreiben vom 18. Februar 1851 aus Paris von Frank Cherval, in dem Mord an den Kapitalisten propagiert wurde, nur solle man davon nicht öffentlich sprechen: „Erwecke den Haß gegen die Reactionaire, aber predige nicht den Haß.“ (Zitiert von Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen (wie Anm. 11), S. 90. Hervorhebung im Original). Oder in einem anderen Schreiben des Tapezierers Starke vom 25. September 1851: „Brüder wetzt die Dolche, wir können nimmer ungestraft diese Verräthereien und diese Spionage an unserer Parthei ausüben lassen!!! Bluten müssen die Hunde, unter dem planmäßigen Dolche, wie in Italien.“ (Ebd., S. 123. Hervorhebung im Original). 121 Vgl. Manfred Vasold: Pest, Not und schwere Plagen, Augsburg 1999. 122 Moriz Mohl: Über die württembergische Gewerbs-Industrie, Stuttgart/Tübingen 1828, S. 210. 118

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Lehrer aus Kempten wies 1838 darauf hin, daß nach der Erfindung des Buchdrucks mit austauschbaren Lettern durch Johannes Gutenberg befürchtet wurde, daß ein Buchdrucker die Arbeit von 200 Buchschreibern ersetzen würde, d. h. damit allein 199 Menschen arbeitslos wurden. Das Gegenteil trat ein: „Die neue Kunst erforderte Schriftgießer, Papiermüller, Setzer, Drucker, Buchbinder etc., etc., und brachte diese in Thätigkeit, und ihre Zahl wurde wohl hundertmal größer, als jene, welche auf die erstere Weise Bücher in Umlauf brachten.“123 Eine detaillierte Untersuchung der besitzlosen Klasse kann keinen akzeptierbaren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, wenn nur Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit für möglich gehalten und jegliche sachliche Differenzierung vermieden wird. Es geht mir bei der Diskussion von Arbeiterschicksalen keineswegs darum, die unmenschlichen Verhältnisse in der frühen Industrialisierung zu verharmlosen, sondern ich möchte darauf hinweisen, daß eine noch so gründliche, ‚wissenschaftliche‘ Analyse nichts erklärt (und auch nichts Positives bewirkt), wenn ihr überwiegender Impuls darin besteht, einseitige Denunziationen auszusprechen und dem Kapitalismus Barbarei, Tyrannei und Ausbeutertum zu unterstellen. Drei Jahre nach Engels verglich Carl Junghanns die Arbeitslöhne im Deutschen Zollverein und in England mit dem Ergebnis, daß in großen englischen Baumwollspinnereien etwa in Manchester zwei Spinnmaschinen mit 1.128 Spindeln durch einen Spinner und der Mithilfe von vier bis fünf Kindern bedient wurden, wobei der Gesamtlohn 11 Taler wöchentlich betrug. „Ein solcher Arbeiter liefert, wöchentlich pr. Spindel 20 Zahlen Gespinst gerechnet, [Garn von] 550 Mule Nro. 40“,124 d. h. für 50 Pfund einen Taler Verdienst bzw. ein englisches Pfund sechs Neupfennig. In deutschen Spinnereien bediente dagegen um 1848 ein Arbeiter mit einem Kind 192 Spindeln, die wöchentlich pro Spindel 80 Pfund Mule Nr. 40 erzeugten. „Das [!] Lohn, mit 4 ½ Pfennig pr. 20 Zahlen angenommen, beträgt für dieses Quantum 2 Thlr. 9 Ngr., so daß 35 Pfund 1 Thlr. oder das Pfund ǫ1HXSIHQQLJ]XVWHKHQEHNRPPHQ³125 Aus diesen Angaben läßt sich leicht entnehmen bzw. errechnen, daß moderner Maschineneinsatz, d. h. Maschinen mit 123 Jos. Anton Geist: Ueber die Fortschritte im Maschinenwesen, in: Jahresbericht 1837/38 der Landwirthschafts- und Gewerbeschule Kempten, Kempten 1838, S. 14. Auch nach der Erfindung des Stahlstiches im Jahr 1826 wurde behauptet, daß der Beruf des Kupferstechers dadurch zugrunde gerichtet würde, weil man von einer Kupferplatte 1.000 Abzüge, von einer Stahlplatte jedoch 20.000 Abzüge herstellen konnte. Doch „die Zahl der Metallstecher war nie so zahlreich und fühlte sich nie so wohl, als heutigen Tages, und zwar deswegen, weil die Abzüge von den Stahlplatten wohlfeiler sind und ungleich häufiger gekauft werden, als früher“ (ebd.). 124 Carl Junghanns: Die Fabrikindustrie des Zollvereins, Leipzig 1848, S. 22 f. 125 Ebd., S. 23. Junghanns folgerte aus diesen Vergleichen, daß deutsche Schutzzölle die Industrie auf Kosten der Arbeiter wie der Verbraucher ausruhen ließ: „Der deutsche Spinner aber, durch den Eingangszoll geschützt und sicher gemacht, bleibt, wie wir eben gesehen haben, bei seinen alten Maschinen, und fühlt er die Mitbewerbung [also die Konkurrenz, H.K.] der verbesserten, so beginnt er mit Herabsetzung des Lohnes der Arbeiter, um sich seinen zeitherigen Gewinn zu sichern.“ (S. 24, Hervorhebung im Original).

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größeres Spindelzahl, sowohl die Löhne als auch die Produktivität erhöhte. Es handelt sich hier jedoch ausschließlich um Männerlöhne. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es weniger die Männer, die unter der Arbeitsfron zusammenzubrechen drohten, sondern vor allem Frauen, die wegen ihres geringen Einkommens sowie ihrer ‚Sittsamkeit‘ und ‚Zucht‘ fabrikmäßig und häuslich eingespannt waren: „Wenn nach der Fabrikarbeit der Mann ausruhen kann, beginnt für die Frau das Kochen, Waschen, Flicken, Kinderwarten. Man braucht nur wenig menschliches Fühlen, um diesen Arbeitstag der Frauen entsetzlich finden zu müssen.“126 Engels war weder 1845 noch 1892 bereit, einzugestehen, daß die Industrialisierung nicht nur negative Auswirkungen auf die arbeitenden Menschen gehabt hat, daß ohne Fabrikunternehmen die stark zunehmende Bevölkerung nur vor der Alternative gestanden hätte, entweder auszuwandern oder zu verhungern. Er lastete der kapitalistischen Industrie alle Übel dieser Welt an, weil sie nur nach dem größtmöglichen Gewinn strebe, als sei dies das einzige Motiv eines Unternehmers, der sich meistens des Risikos bewußt war, was es bedeutete, eine Fabrik zu gründen und dann möglicherweise zu scheitern, was von Engels offenbar nicht ins Kalkül gezogen wurde: „Nur die Industrie hat es möglich gemacht, daß der kaum aus der Leibeigenschaft befreite Arbeiter wieder als ein bloßes Material, als Sache gebraucht werden konnte, daß er sich in eine Wohnung sperren lassen muß, die jedem andern zu schlecht und die er nun für sein teures Geld das Recht hat vollends verfallen zu lassen. Das hat die Industrie getan, die ohne diese Arbeiter, ohne die Armut und Knechtschaft dieser Arbeiter nicht hätte leben können.“127 Es erstaunt deshalb wenig, daß auch die Träger der Industrie, die Kapitalisten bzw. Unternehmer, d. h. in marxistischer Ausdrucksweise die Bourgeoisie, deren Monopol angeblich durch die Staatsgewalt geschützt wird, keinerlei moralischen Kredit erwarten können: „Der Proletarier ist also rechtlich und tatsächlich der Sklave der Bourgeoisie; sie kann über sein Leben und seinen Tod verfügen.“128 Wie scheinbar unbeschwert konnte dagegen die vorindustrielle handwerkliche Existenz angeblich selbständiger Gewerbetreibender hingestellt werden, obwohl Gesellen nicht selten die Witwe ihres Meisters heirateten, die ihre Mutter oder sogar Großmutter 126 Robert Wilbrandt: Die Weber in der Gegenwart, Jena 1906, S. 140. „Von den 140.000 verheirateten Arbeiterinnen, welche im Jahre 1895 in der Gesamtindustrie Deutschlands gezählt wurden, entfallen 71.000, also mehr als die Hälfte, auf die Textilindustrie.“ (S. 143). 127 F. Engels: Die Lage (wie Anm. 76), S. 286 (Hervorhebung im Original). 128 Ebd., S. 307. Nach der Schilderung der elenden Situation der Arbeiter in den Wohndistrikten der Industriestädte zog Engels den Schluß: „Die englische Bourgeoisie hat nur die Wahl, entweder mit der unwiderlegbaren Anklage des Mordes auf ihren Schultern und trotz dieser Anklage fortzuregieren – oder zugunsten der Arbeiterklasse abzudanken.“ (Ebd., S. 338. Hervorhebung im Original). Wie die an die politischen Schalthebel der Macht gelangte Arbeiterklasse diese Situation hätte verändern können, darauf hat Engels keine Antwort, aber er stellte die gewagte Hypothese auf: „Der englische Arbeiter, der kaum lesen und noch weniger schreiben kann, weiß dennoch sehr gut, was sein eignes Interesse und das der ganzen Nation ist – er weiß auch, was das spezielle Interesse der Bourgeoisie ist und was er von dieser Bourgeoisie zu erwarten hat.“ (S. 342).

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sein konnte, nur um als Zunftmeister anerkannt zu werden und das Handwerk ausüben zu können. Eine andere Sicht zu Engels’ Lebzeiten auf das freiheitsfeindliche Korporationswesen der Frühen Neuzeit mit seiner rechtlichen Gebundenheit und individuellen Unfreiheit kann die Engelsche Industrieschelte zumindest ergänzen: „Wenn es möglich wäre, den trefflichsten Meistern des alten Zunfthandwerks unsere mathematisch-physikalischen und chirurgischen Instrumente, unsere Telegraphenapparate und Lokomotiven, unsere Tunnels und Eisenbahnbrücken u. dgl. m. vorzustellen, ich glaube denn doch, sie würden das philadelphische Orakel des Herrn Reulaux nicht einstimmen, sondern bewundernd eine Zeit lobpreisen, in der so großes nicht durch und für privates Mäcenenthum, sondern durch den Willen eines großen Volkes und zum allgemeinen Besten geleistet wird.“129 Das unausweichliche Dilemma einer Industriegesellschaft, daß nicht alle Menschen, nicht einmal alle Arbeiter, Kapitalisten bzw. Unternehmer werden können, d. h. daß viele von ihnen keine andere Wahl haben, als ihren Lebensunterhalt durch körperliche Arbeit zu verdienen und dadurch in eine vertragliche Abhängigkeit zu geraten, interpretierte Engels als das Todesurteil von Arbeitern, herbeigeführt entweder durch Entrechtlichung bzw. Entmündigung oder durch Verhungern oder Erfrieren. Scheinbar gibt es nur diese zynische Alternative, obwohl Engels anerkannte, daß die industriellen Verhältnisse kompliziert und für verschiedene Arbeiterklassen ganz unterschiedlich sind: „Wenn alle Proletarier nur den Willen aussprächen, lieber verhungern als für die Bourgeoisie arbeiten zu wollen, so würde diese schon von ihrem Monopol abstehen müssen; aber das ist nicht der Fall, das ist sogar ein ziemlich unmöglicher Fall, und daher ist die Bourgeoisie noch immer guter Dinge.“130 Und was könnten die englischen Arbeiter um 1845 tun, um ihre miserable Lage wenigstens etwas zu verbessern? Weitere Reformen durch eine bessere Gesetzgebung vorantreiben oder „unter den jetzigen Verhältnissen der Arbeiter seine Menschheit nur durch den Haß und die Empörung gegen die Bourgeoisie retten“?131 Engels behandelte an mehreren Beispielen der englischen Arbeiterbewegung – die hier nicht wiedergegeben zu werden brauchen – den nach ihm sich verschärfenden Gegensatz zwischen Arbeitern und Kapitalisten, die sich in Aufständen und Protesten niedergeschlagen haben: „Diese Strikes sind allerdings erst Vorpostenscharmützel, zuweilen auch bedeutendere Gefechte; sie entscheiden nichts, aber sie sind der sicherste Beweis, daß die entscheidende Schlacht zwischen Proletariat und Bourgeoisie herannaht.“132 Er hätte nur einen Blick auf das engli129 Georg Hirth: Die Lebensbedingungen der deutschen Industrie sonst und jetzt, in: Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik, Jg. 1877, S. 784 (Hervorhebung im Original). Der deutsche Ingenieur Franz Reulaux hatte als Mitglied des Preisgerichts auf der Weltausstellung in Philadelphia 1876 die deutschen Industrieprodukte als „billig und schlecht“ bezeichnet, was in Deutschland einen Sturm der Entrüstung auslöste. 130 F. Engels: Die Lage (wie Anm. 76), S. 307. 131 Ebd., S. 430. 132 Ebd., S. 441.

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sche Sparkassenwesen zu richten brauchen, um zu erkennen, daß die Masse der englischen Bevölkerung an einem gestiegenen Wohlstand partizipierte. Im Jahr 1841 betrug das Kapital der englischen Sparkassen 24.474.689 Pfund (£) und erhöhte sich bis 1873 – 1864 wurden zum erstenmal weltweit neben den normalen Sparkassen auch Postsparkassen in England eröffnet – auf 61.667.884 £, d. h. um das Zweieinhalbfache!133 Und so verbesserte sich die anfänglich miserable Lage der Industriearbeiter kontinuierlich, auch wenn das Wohlstandsniveau aus heutiger Sicht noch erschreckend niedrig war. Die über 250seitige, jedes ekelerregende und abstoßende Detail ausschmückende, Schilderung der Arbeitsverhältnisse in England wird in Engels’ Buch – das Wilhelm Roscher knapp drei Jahrzehnte später ein geschickt komponiertes Nachtgemälde und eine „zur Beunruhigung und Aufreizung höchst wirksame Caricatur“134 nannte –, mit einer phantastischen Geschichte eingeleitet. Engels tischte nämlich seinen deutschen und später englischen Lesern die historische Lüge auf, daß in der von Hungersnöten, Seuchen, Armut und hoher Kindersterblichkeit durchzogenen vorindustriellen Zeit die englischen Weber und Landarbeiter viel bessere Lebensbedingungen gehabt hätten als die Industriearbeiter im 19. Jahrhundert. Die Weberfamilien, die auf dem Land in der Nähe von Städten wohnten, hätten sich ihren Lebensunterhalt gut erarbeiten können, solange der heimische Markt Nachfrage nach ihren Produkten ausübte, doch mit der Ausdehnung des Handels nach Übersee und einer übermächtigen Konkurrenz sei ihr Arbeitslohn mehr und mehr heruntergedrückt worden.135 Weber hätten sich ein kleines Grundstück gepachtet, wo sie landwirtschaftliche Produkte anbauen konnten, und im Gegensatz zu Proletariern wären ihnen genügend Mußestunden geblieben; bis die Maschinen ihnen der Erwerb geraubt hätten: „Auf diese Weise vegetierten die Arbeiter in einer ganz behaglichen Existenz und führten ein rechtschaffenes und geruhiges Leben in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit, ihre materielle Stellung war bei weitem besser als 133 Vgl. Die allgemeinen Wirthschaftszustände und die Lage der handarbeitenden Klassen in Großbritannien, in: Der Arbeiterfreund, 12. Jg., 1874, S. 451. Oder um ein anderes Beispiel anzuführen, aus dem der Kaufkraftzuwachs der englischen Bevölkerung klar hervorgeht: „Im Vereinigten Königreich wurden im Jahre 1874 zusammen 1.585 Zeitungen veröffentlicht, darunter 130 täglich erscheinende. Größere periodische Zeitschriften gab es 639, von denen 242 fast nur religiösen Inhalts. Vor 20 Jahren ( i. J. 1854) erschienen im Ganzen 624 Zeitungen und davon nur 20 täglich ausgegebene.“ (S. 456). 134 Wilhelm Roscher: Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland (1874). Nachdruck Düsseldorf 1992, S. 1021. F. Mehring: Karl Marx (wie Anm. 100), S. 115, schrieb dagegen über Engels Buch: „Er schilderte die Zustände der englischen Arbeiterklasse in ihrer grauenerregenden, aber für die Herrschaft der Bourgeoisie typischen Wirklichkeit.“ 135 In diesem Zusammenhang erscheint es mir interessant darauf hinzuweisen, daß ein sächsischer Textilunternehmer fünf Jahre vor Engels’ Schrift feststellte: „Unsere wohlfeilen Arbeitslöhne sind eine Waffe gegen Englands Industrie, die wir nicht aus den Händen geben dürfen. Wir fechten einen heißen Kampf mit ihr. Am allerwenigsten darf die Spinnerei wohlfeile Löhne entbehren, wenn sie es auch in ihrem eignen Interesse dahin bringen muß, daß ihre Arbeiter mehr verdienen als jetzt.“ (Friedrich Georg Wieck: Industrielle Zustände Sachsens, Chemnitz 1840, S. 83).

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die ihrer Nachfolger; sie brauchten sich nicht zu überarbeiten, sie machten nicht mehr, als sie Lust hatten, und verdienten doch, was sie brauchten, sie hatten Muße für gesunde Arbeit in ihrem Garten oder Felde, eine Arbeit, die ihnen selbst schon Erholung war, und konnten außerdem noch an den Erholungen und Spielen ihrer Nachbarn teilnehmen; und alle diese Spiele, Kegel, Ballspiel usw., trugen zur Erhaltung der Gesundheit und zur Kräftigung ihres Körpers bei. Sie waren meist starke, wohlgebaute Leute, in deren Körperbildung wenig oder gar kein Unterschied von ihren bäurischen Nachbarn zu entdecken war. Ihre Kinder wuchsen in der freien Landschaft auf, und wenn sie ihren Eltern bei der Arbeit helfen konnten, so kam dies doch nur dann und wann vor, und von einer acht- oder zwölfstündigen täglichen Arbeitszeit war keine Rede.“136 Ganz offensichtlich spukte in Engels’ Kopf die soziale Lage des englischen Adels, denn die Landbevölkerung wurde von ähnlichen Hungersnöten heimgesucht wie die auf dem Kontinent, d. h. die weitverbreitete Armut mit Hunderten von Bettlern in den Städten und das schreckliche Seuchenelend, das wellenartig Tausende von Menschen dahinraffte, war in der vorindustriellen Zeit viel ausgeprägter als im Industriezeitalter, auch wenn wir die dadurch verursachten Todesfälle in der vorstatistischen Zeit nur schätzungsweise oder auf örtliche Verhältnisse bezogen ermitteln können. Engels’ phantastische und realitätsferne Übertreibungen deutete Stephan Born mit dessen Unvertrautheit der realen materiellen Lage von Arbeitern: „Er war denn doch der reiche Bourgeoissohn, der allmonatlich seinen Wechsel von seinem Vater, dem großen Fabrikherrn in Barmen erhielt; die Sorge des Lebens trat nie an ihn heran, er hatte nichts von einem Arbeiter an sich und war vollkommen in seinem Recht, wenn er eine Maske nicht anlegte, die ihm schlecht gestanden hätte.“137 Die Schwarze Pest von etwa 1347 bis 1351 raffte in Europa Millionen von Menschen dahin, der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648 verwüstete ganze Landstriche und vernichtete Menschen und Tiere wie in einer höllischen Apokalypse. Die ständig wiederkehrenden Hungersnöte machten das Überleben zu einem reinen Vabanquespiel zwischen Hoffnung und Verzweiflung ohne Zukunftschancen, so daß man berechtigterweise sagen kann, „daß das Elend mit seiner Sense in ununterbrochener Arbeit“138 gewesen ist. Der Sozialist Friedrich Albert Lange äußerte sich zwei Jahrzehnte nach Engels sehr viel realistischer über das grausame Elend der vorindustriellen Zeit: „Eine reiche Ernte brachte damals leicht Ueberfluß und Ueppigkeit ins Land, aber bei einer Hungersnoth starben die Menschen

136 F. Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse (wie Anm. 76), S. 238. Zu den tatsächlichen Verhältnissen vgl. Hubert Kiesewetter: Das einzigartige Europa, Stuttgart 2006, S. 88 ff. 137 S. Born: Erinnerungen (wie Anm. 70), S. 29. 138 F. A. Lange: Die Arbeiterfrage (wie Anm. 64), S. 28. Engels schrieb am 11. März 1865 an Marx über Langes Buch: „Konfus, Malthusianer mit Darwin versetzt, nach allen Seiten liebäugelnd, doch einige nette Sachen gegen Lassalle und die Bourgeoiskonsumkerls.“ (MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 97).

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wie Fliegen sogar in den Straßen der reichen niederländischen Handelsstädte.“139 Die Engelschen Schilderungen können deshalb lediglich als ideologische Übertreibungen angesehen werden, die die verzweifelte Lage industrieller Arbeiter in den Frühphasen der Industrialisierung in eine besonders grelle Farbe tauchten. Es kann hier nicht ausführlich dargelegt werden, auf welchen subtilen ideologischen Verdrehungen diese rührende Beschreibung von „idyllischer Einfalt und Vertraulichkeit“140 beruht, doch sie hat maßgeblich dazu beigetragen, daß seitdem der Kapitalismus in den schwärzesten Farben gemalt wurde. Zwei Stimmen aus der damaligen Zeit sollen hier zu Wort kommen, die die Ansichten Engels in einem anderen Licht erscheinen lassen. Zum einem eine Analyse der englischen Textilindustrie, d. h. dem gleichen Gewerbezweig wie das Engelsche Unternehmen, nämlich Sir Edward Baines (1800 – 1890), der etwas ausführlicher zitiert wird, weil Baines die realen Verhältnisse beschreibt, die Engels stillschweigend überging, obwohl er Baines’ Schrift in seiner Lage der arbeitenden Klasse zitierte: „Beim Regierungsantritt Georgs III (1760) ernährte die Baumwollenfabrication schwerlich mehr als 40,000 Menschen; und jetzt da Maschinen erfunden sind, mittels derer Ein Arbeiter so viel Garn zu erzeugen vermag als damals 200 oder 300, Einer so viel Zeug drukken kann als damals 100, finden ihrer an 1,500,000 oder 37 mal so viel dabei ihr Brod. Und dennoch gibt es jetzt noch viele, ja Gelehrte und Parlamentsmitglieder, die so unwissend, oder durch Vorurtheile so verblendet sind, daß sie pathetische Klagen über die Zunahme und Ausdehnung des Maschinenwesens erheben. Man sollte glauben, die Geschichte der Kattunfabrication zumal habe längst allen diesen Jeremiaden ein Ende gemacht, oder man würde solche bloß etwa von einzelnen Arbeiterclassen zuweilen vernehmen, denen allerdings gewisse Veränderungen zunächst und vorübergehend wenigstens nachtheilig seyn können. Es gibt nämlich Leute, die, wenn sie hören, daß 150,000 Menschen in unsern Spinnereien jetzt so viel Garn erzeugen, als mit dem Handrädchen 40 Millionen kaum spinnen könnten, dieß für ein großes Übel halten. Diese Leute scheinen die abgeschmackte Meinung zu hegen, daß, wären keine Maschinen vorhanden, die Fabrication wirklich so vielen Millionen Menschen Beschäftigung gäbe, und bedenken nicht, daß ganz Europa zu dieser Arbeit nicht hinreichte, und daß sich in diesem Falle der fünfte Theil aller Bewohner bloß mit Baumwollspinnen abgeben müßte!“141 Diese nüchterne Bestandsaufnahme kann ideologisch Verblendeten nicht behagen und Engels, der diese Schrift kannte, hat sich davon bei seinen Verdammungsurteilen nicht beirren lassen, weil es ihm nicht um die keineswegs unproblematische Realität, sondern um eine revolutionäre Ideologie ging. Er behauptete nämlich: „Jede Verbesserung der Maschinerie wirft Arbeiter außer Brot, und je bedeutender die Verbesserung, desto zahlreicher die arbeitslos gewordene Klasse; jede bringt demF. A. Lange: Die Arbeiterfrage (wie Anm. 64), S. 15. F. Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse (wie Anm. 76), S. 239. 141 Edward Baines: Geschichte der brittischen Baumwollenmanufactur und Betrachtungen über ihren gegenwärtigen Zustand, Stuttgart/Tübingen 1836, S. 153 f. (Hervorhebung im Original). 139

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nach auf eine Anzahl Arbeiter die Wirkung einer Handelskrisis hervor, erzeugt Not, Elend und Verbrechen.“142 Die zweite zeitgemäße Kritik stammt von einem der drei Begründer, neben Karl Knies und Wilhelm Roscher, der Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie, Bruno Hildebrand (1812 – 1878), der 1848 eine sachliche, mit statistischem Material untermauerte Rezension der Engelschen Schrift veröffentlichte, die wohl die erste größere Auseinandersetzung mit den Thesen von Engels darstellte.143 Zwar war Engels für Hildebrand „ohne Zweifel der begabteste und kenntnisreichste unter allen deutschen Sozialschriftstellern“,144 weil seine Analysen nicht nur moralisch seien, sondern mit einer Masse von statistischen Angaben zu untermauern versucht würden, aber sein Standpunkt „auf der äußersten Linken des Kommunismus“, den er schon in seinem Aufsatz in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern 1844 geäußert habe, verstelle ihm den wissenschaftlichen Blick. Er argumentiere nicht ausgewogen und abwägend, sondern „mit der ganzen unbändigen Leidenschaft seines Gefühls“, d. h. er suche nicht nach Fehlern im ökonomischen System, sondern er will es vernichten. Engels Lage der arbeitenden Klasse in England, das seit seiner Veröffentlichung als „kommunistisches Evangelium der Tatsachen, worauf sich alle Sozialtheorien berufen können“,145 gelte, sei „blendend und verführerisch“146 und lasse eine „sittliche Wärme“147 erkennen, die auf einer wohlberechneten Taktik eines parteiischen Standpunktes beruhe und deshalb viele anspreche. Weil Engels, der außer mit offiziellen Dokumenten auch mit „Zeugnissen der eigenen Partei“ arbeitete, die natürlich nicht objektiv und neutral sein könnten, erwecke er beim unbefangenen Leser den Eindruck, als ob es ihm um Tatsachen gehe, obwohl er ein ganz einseitiges Gemälde entwerfe. Was Hildebrand an Engels Buch vor allem kritisierte, war die den historischen ‚Tatsachen‘ untergeschobene ideologische Tendenz, die man ohne genaue Überprüfung der statistischen Angaben nicht erkennen könne: „Sein Gemälde stellt nur die Nachtseite der britischen Industrie und der britischen Arbeitswelt dar, und ist ebenso unberechtigt wie eine Darstellung der Moralität der Menschheit, die lediglich aus den Biographien der Verbrecher entlehnt ist.“148 Die erheblichen Mängel des Buches liegen nach Hildebrand 1. in falschen historischen und statistischen Voraussetzungen, 2. in der Nichtberücksichtigung wichtiger faktischer Verhältnisse sowie 3. in Trugschlüssen, die aus Generalisierungen angeblicher Fakten gezogen werden. Hildebrand hat, um die Fehlerhaftigkeit der Schlüsse F. Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse (wie Anm. 76), S. 361. Bruno Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft (1848), Düsseldorf 1998, S. 125 – 196. 144 Ebd., S. 125. Dort auch die beiden nächsten Zitate. 145 Ebd., S. 130 f. 146 Ebd., S. 137. „Die Einzelheiten sind richtig, aber das Ganze ist falsch.“ (Ebd.). 147 Ebd., S. 127. Dort auch das nächste Zitat. 148 Ebd., S. 137 f. 142 143

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Engels’ zu demonstrieren, eine große Menge statistischer Daten aus verschiedenen deutschen Regionen und unterschiedlichen Berufen für das Jahrzehnt 1834 bis 1843 zusammengetragen. Damit wollte er zeigen, daß nicht nur das Industrieproletariat ein erbärmliches Leben führen mußte, sondern daß Handwerker in Gegenden, in denen es damals überhaupt keine Industrie gab, mindestens ebenso schlecht lebten: „Körperliche Schwäche, Trägheit, Scheu vor Anstrengungen, Mangel an Selbstvertrauen und Selbstgefühl, geistige Stumpfheit sind die herrschenden Eigenschaften dieses deutschen Handwerksproletariats, und der Zustand der Moralität ist in diesen Gegenden wahrhaft beklagenswert.“149 Nach komplizierten Vergleichen von englischen Preisen und Löhnen – weil damals über die Lebenshaltungskosten in beiden Staaten keine vergleichbaren Statistiken erhoben wurden –, kam Hildebrand zu dem Ergebnis, daß Engels „nur dasjenige aus den britischen Arbeiterverhältnissen herausgehoben, was für seine Ansicht spricht und diese vereinzelten und aus ihrem sachlichen Zusammenhange herausgerissenen Tatsachen zu einem falschen Gesamtbilde generalisiert“.150 Außerdem machte er Engels den schwerwiegenden Vorwurf, den er empirisch belegte, daß dieser „statistische Tatsachen mißbraucht“151 und parteiische Urteile daraus ableite. Wir müssen ebenfalls berücksichtigen, daß die Lebensart und die Ansprüche in diesen beiden ganz unterschiedlichen Staaten, nämlich England und Deutschland, zu dieser Zeit sehr verschieden waren, wie schon 1836 klar festgestellt wurde: „Ein deutscher Arbeiter würde sich für reich halten, hätte er die Genüsse, welche ein englischer Arbeiter tagtäglich sich verschaffen kann, ja der Arbeiter, der in England schon als Dürftiger Unterstützung zu genießen hat, würde von seinem für unzulänglich erachteten Verdienste immer noch besser leben können, als der deutsche Arbeiter, wenn es ihm ganz gewöhnlich geht.“152 Versuchen wir einmal an einigen Beispielen, die Lebenshaltung von Arbeitern zu eruieren, damit wie deren Lage etwas genauer abschätzen können. Verläßliche und flächendeckende Aussagen über die Lebenshaltung von Arbeitern im 19. Jahrhundert zu machen, ist eine empirische Unmöglichkeit, denn wir kennen nur Daten für einzelne Berufssparten und einige Städte für kurze Zeiträume und vergleichbare Angaben für die Einnahmen und Ausgaben von Arbeiterhaushalten oder die unterschiedlichen Preise für Konsumgüter liegen lediglich für ausgewählte Regionen vor.153 Selbst genaue Lohnangaben helfen dabei nicht weiter, Ebd., S. 148. Ebd., S. 163 (Im Original ganz hervorgehoben). 151 Ebd., S. 171. „Die Einseitigkeit und Unwahrheit der Engelschen Schlußfolgerungen, die wir bisher kennen gelernt haben, wiederholt sich fast in allen einzelnen Partien des Buches.“ (S. 182). 152 Friedrich Schmidt: Untersuchungen über Bevölkerung, Arbeitslohn und Pauperism in ihrem gegenseitigen Zusammenhange, Leipzig 1836, S. 334. 153 Die erste veröffentlichte Erhebung von Haushaltsrechnungen, zusammengestellt seit dem 1. Januar 1907 und als Aufbereitungstabellen eingesandt von deutschen statistischen Ämtern bis zum 1. März 1908 an das Kaiserliche Statistische Amt in Berlin stammt aus dem Jahr 1909. Vgl. Erhebung von Wirtschaftsrechnungen minderbemittelten Familien 149

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denn wir müßten ja außerdem wissen, was sich Arbeiter zu verschiedenen Zeiten bei höheren oder niedrigeren Einkommen für ihren Lohn kaufen konnten, d. h. ob die Lebensmittelpreise stärker gestiegen sind als Preise für andere Konsumgüter. Die statistische Idee von Haushaltsrechnungen ist erst Ende des Jahrhunderts ansatzweise verwirklicht worden, doch selbst sie konnten keine definitiven Aussagen darüber machen, wie etwa die Wohnungsmieten, die Anschaffung von Kleidung oder Möbel in städtischen oder ländlichen Haushalten prozentual das Budget einer Arbeiterfamilie belasteten. Ein repräsentatives Bild davon, wie arbeitende Familien mit ihren kärglichen Löhnen überhaupt über einen längeren Zeitraum existieren konnten, denn Stockungen und Krisen führten zu Arbeitslosigkeit und damit zu gänzlichem Lohnausfall, ist deshalb nicht zu zeichnen. Ernst Engel hat dieses Problem bereits 1857 drastisch formuliert: „Wer läßt sich gern die Bissen in den Hals zählen?“154 Einige Hinweise aus der zeitgenössischen Literatur können möglicherweise einen ungefähren Eindruck davon vermitteln, unter welchen schwierigen Verhältnissen der Arbeitsalltag bewältigt werden mußte. In England z. B. ermittelte eine Kommission zur Beurteilung der Armengesetze 1833, daß ein vollbeschäftigter Landarbeiter mit seiner Familie, d. h. Frau und vier Kindern zwischen fünf und vierzehn Jahren, 41 Pfund, 17 Schilling und 8 Pence verdiente, von denen etwa 66 % auf den Mann und das restliche Drittel auf Frau und Kinder entfielen. „Man hat durch die sorgfältigsten Untersuchungen ermittelt, daß diese Summe bei dem gegenwärtigen Preise der Lebensmittel hinreiche, der Familie einen angemessenen im Deutschen Reiche (1909). Nachdruck Berlin/Bonn 1981. Es wurden insgesamt an 4.134 Haushaltungen Bücher ausgeteilt und 3.575 Familien haben mindestens einen Monat lang ihre Einnahmen und Ausgaben dokumentiert, doch die Reichsstatistik wies darauf hin, daß Einnahmen weniger vollständig aufgeführt wurden als Ausgaben, denn Einnahmen von Arbeitern „aus Trinkgeldern oder Unterstützungen, der Beamtenfrauen aus Hausarbeit, an kleine Nebeneinnahmen der Männer, die sie der Frau verschwiegen haben, an Naturalzuwendungen von Angehörigen u. dgl.“ (S. 18 *), wie Auszahlungen von Sparkassenbüchern oder aus Kapitalvermögen bzw. dem Verkauf von Kleidern oder Möbeln, wurden selten angeführt. Zur Erläuterung der vorliegenden Erhebungen wurde darauf hingewiesen: „Die Untersuchungen sollten sich nicht auf Arbeiterhaltungen beschränken, sondern es war nur ein Einkommen von etwa 3.000 M als Obergrenze vorgesehen, auch sollten nur Familien mit 3 – 5 Kindern berücksichtigt werden. Die Auswahl der Familien sollte seitens der städtischen Ämter im Benehmen mit Krankenkassen und Arbeiterorganisationen erfolgen, die Einrichtung der Bücher so beschaffen sein, daß die Ausschreibung seitens der buchführenden Personen nicht nach einem bestimmten Schema geschähe, sondern daß nur Posten für Posten möglichst genau aufgezeichnet würde. Die Klassifizierung sollte erst Aufgabe der Bearbeitung sein. Es waren Monatsbücher mit einzeln herausnehmbaren Wochenabschnitten in Aussicht genommen, die nach Wochenschluß dem Statistischen Amte einzureichen wären.“ (S. 6*). Selbst die gründlichste Untersuchung von Wirtschaftsrechnungen vor dem Ersten Weltkrieg kann nicht als repräsentativ angesehen werden. 154 [E. Engel]: Die vorherrschenden Gewerbszweige (wie Anm. 160), S. 156. Und er fügte hinzu: „Die Bedürfnisse in den Ausgaben überhaupt werden fast ohne Ausnahme ungleich höher als die Einnahmen angegeben mit der Bemerkung, daß das Deficit durch Schuldenmachen, Betteln und Stehlen gedeckt werde, eine Bemerkung, welche den Stempel der Unwahrheit an sich trägt.“ (S. 157).

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Unterhalt und den öftern Genuß von Fleisch zu verschaffen.“155 In Deutschland dagegen wurde noch über 30 Jahre später darüber geklagt, daß ein großer Teil der Bevölkerung fast kein Fleisch verzehren konnte, „während doch grade im Interesse einer kräftigeren und gesunderen Entwickelung der Menschheit Fleisch als das einzig wirklich unentbehrliche Nahrungsmittel“156 gelten müsse. In der sächsischen Oberlausitz hat 1832 ein Komitee von Kaufleuten und Fabrikanten den Verdienst und die Bedürfnisse einer Weberfamilie untersucht und bei einem Leineweber ein jährliches Einkommen von ungefähr 60 Talern (Thlr.) und 16 Groschen (Gr.) ermittelt. Allerdings war dies eine Periode mit geringen Arbeitslöhnen, weshalb Friedrich Schmidt glaubte, daß unter normalen Bedingungen eine Weberfamilie 78 Taler im Jahr verdienen und deshalb auch einige Ersparnisse machen konnte. „Wenn ein Kind spulen kann, welches ungefähr mit dem 6ten oder 7ten Jahre der Fall ist, so kann man seinen wöchentlichen Verdienst neben dem Schulbesuche auf ungefähr drei Gr., oder jährlich sechs Thlr. 12 Gr. anschlagen.“157 Mit anderen Worten: Je mehr Kinder in der Familie vorhanden sind und ab dem sechsten Lebensjahr mitarbeiten können, desto größer ist das Einkommen der Weberfamilie. Die notwendigsten Ausgaben einer fünfköpfigen Familie „zur Bestreitung der höchsten Nothdurft“158 wurden ebenfalls auf 60 Thlr., 16 Gr. geschätzt, wovon ungefähr 30 % auf Ausgaben für Getreide, 17 % für Holz und Beleuchtung, 15 % für Kleidung, 12 % für Gemüse, Salz, Butter und Tabak, acht Prozent für Kartoffeln und etwa das gleiche für Wohnung; der Rest für Geräte, Fleisch an hohen Festtagen sowie Staats- und Gemeindeabgaben entfielen. Schulgeld für die Kinder wurde erst dann fällig, wenn die Kinder schon mitarbeiten und mitverdienen konnten, weshalb galt: „So war die Lage bei dem schwierigsten Puncte der Wirthschaft, nämlich ehe die Familie noch den Erwerb eines Kindes mit benutzen konnte.“159 Der sächsische Ökonom und Statistiker Ernst Engel (1821 – 1896), der sich seit den 1850er Jahren intensiv mit Konsumausgaben beschäftigt und das Engelsche Gesetz aufgestellt hat, nach dem bei steigendem Einkommen die Ausgaben für Nahrungsmittel zwar absolut zunehmen, aber ihr relativer Anteil sinkt, hat aufgrund der ausgedehnten Forschungen des belgischen Ökonomen Edouard Ducpétiaux über die Lebenshaltung belgischer Arbeiter – vgl. Budgets économiques des classes ouvrières en Belgique, Brüssel 1855 – Schätzungen für Konsumausgaben sächsischer Arbeiter vorgenommen. Engel faßte die intuitiven Ergebnisse von Ducpétiaux’ über belgische Arbeiter in zwölf Punkten zusammen, doch seine Bedenken richteten sich auf den Umstand, daß bei der Erfassung der Budgets eine ganz ungünstige ökonomische Lage herrschte und die Nahrungsmittel teuer und F. Schmidt: Untersuchungen über Bevölkerung (wie Anm. 152), S. 292. F. A. Lange: Die Arbeiterfrage (wie Anm. 64), S. 123. Lange zweifelte daran, ob die Arbeiterfrage zu lösen sei, „so lange es mit dem Fleisch im Topf so schlecht bestellt ist“ (S. 128). 157 F. Schmidt: Untersuchungen über Bevölkerung (wie Anm. 152), S. 297. 158 Ebd., S. 298. 159 Ebd., S. 299. 155

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wegen der gewerblichen Krise die Löhne niedrig waren. Ducpétiaux’ Resümee war folgendes: „1. Die Einnahme- und Ausgabe-Budgets sind verschieden nach den Orten, den Gewerben, der Zahl der Kinder, dem Geist der Ordnung und der Sparsamkeit. Im Allgemeinen sind sowohl die Einnahmen als auch die Ausgaben größer in den Städten, als auf dem Lande. 2. Der Verdienst der Frauen und namentlich der Kinder trägt sehr wesentlich zur Vermehrung der Einkünfte der Familien aus den arbeitenden Classen bei. Die Kehrseite dieses Vortheils ist leider aber die, daß sehr viele Hauswirthschaften dabei in den schlechtesten Zustand kommen und die geistige und leibliche Bildung der Kinder verkümmert wird. 3. Die Ernährung der Arbeiter läßt allenthalben und zwar eben sowohl in quantitativer, wie in qualitativer Hinsicht noch viel zu wünschen übrig. Durch den Ankauf im Kleinen werden die Nahrungsmittel meist sehr beträchtlich vertheuert. 4. Der Miethzins für Wohnung ist gering; dafür sind aber die Wohnungen, namentlich in den Städten und in Fabrikdistrikten, räumlich ganz unzureichend und obendrein noch von der schlechtesten Beschaffenheit. 5. Die Kleidung ist erträglich, die Schlafstätten sind aber um so schlechter. 6. Die Arbeiter tragen nur sehr wenig zu den directen Staats- und Gemeindelasten bei. Es fällt aber ein ziemlich hoher Antheil indirecter Steuern und Abgaben auf sie. 7. Die Ausgaben für Erziehung, Unterricht, Cultus u. s. w. sind fast null; die Kinder genießen unentgeldlichen Unterricht in den Gemeindeschulen und andern Schulen von gleichem Lehrzweck. 8. Die Benutzung der Voraussichts-Anstalten, wie Sparcassen, Krankencassen, Invaliden-, Wittwen- und Waisenpensionscassen, Seiten der Arbeiter, ist nur ausnahmsweise der Fall. 9. In den Städten werden die Leihhäuser von den Arbeitern sehr stark in Anspruch genommen. 10. Die Luxusausgaben beschränken sich in den meisten Fällen auf Ankauf von Tabak und auf Genüsse in den Wirthshäusern. 11. Der gute oder schlechte häusliche Zustand einer großen Zahl von Arbeiterfamilien hängt nicht blos von der Höhe des Lohnes ab, sondern noch weit mehr von ihren Sitten und Gewohnheiten, von der Ordnung oder Unordnung, welche bei ihnen herrscht. 12. Die meisten Ausgabe-Budgets ergeben ein Defizit gegen die Einnahmen, welches nur durch die Inanspruchnahme der öffentlichen Wohlthätigkeit, durch Schuldenmachen und daraus hervorgehenden Bankerott ausgeglichen wird.“160 Gleichgültig, ob wir diese bedrückenden Aussagen als repräsentativ ansehen für die belgische, englische oder deutsche Arbeiterschaft, so zeigt die ökonomische Entwicklung der nächsten Jahrzehnte, daß die Katastrophenszenarien von Marx und Engels nicht eingetroffen sind, so entsetzlich die materielle Lage der Arbeiterschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch gewesen sein mag.161 160 [Ernst Engel]: Die vorherrschenden Gewerbszweige in den Gerichtsämtern mit Beziehung auf die Productions- und Consumtionsverhältnisse des Königreichs Sachsen, in: Zeitschrift des Statistischen Bureaus des Königlich Sächsischen Ministeriums des Innern, III. Jg., 1857, S. 166. Die genauen Einnahmen und Ausgaben für neun verschiedene Arbeiterkategorien in verschiedenen belgischen Regionen werden dort tabellarisch auf S. 166 – 168 angegeben. 161 Noch 1906 argumentierte Karl Bücher gegen Gottlieb Schnapper-Arndt, daß nicht Haushaltungsbudgets, sondern Wirtschaftsrechnungen aufgestellt werden sollten: „Der äu-

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Wir können selbst nach dieser kurzen Erörterung der Inhalte von Engels’ Schrift kaum noch die Ansicht vertreten, daß in ihr die Arbeiterverhältnisse in England bzw. in englischen Industriestädten auch nur halbwegs objektiv dargestellt wurden. Darum ging es Engels offenbar nicht, denn mit Marx teilte er die unerschütterliche Überzeugung, daß der Kapitalismus ohnehin zwangsläufig untergehen müsse, ob die Unternehmer ihre Arbeiter anständig behandelten oder nicht. Dieser Sproß eines von Marx später in den schärfsten Ausdrücken verdammten Unternehmertums, Friedrich Engels, der mit den Gewinnen des väterlichen Unternehmens Marx lebenslang finanziell unterstützte, war nämlich schon 1845 mit unbezweifelbarer Sicherheit davon überzeugt, daß die sozialistische Revolution auf den britischen Inseln unmittelbar bevorstünde, weil sich das erbärmliche Elend der ausgebeuteten, arbeitenden Massen sich immer mehr vergrößern müßte und sie dann mit unbändiger Gewalt dieses System Kapitalismus beseitigten. In seinen Überlegungen spielte überhaupt keine Rolle, daß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wegen besserer Ernährung gerade in Großbritannien eine vorher unbekannte Bevölkerungszunahme begann, die ohne Industriesystem dazu geführt hätte, daß Abertausende von Menschen wegen fehlender Erwerbstätigkeit verhungert wären. Am Ende seines Lebens, nachdem gerade in Großbritannien eine Vielzahl von Reformvorhaben in der Arbeitswelt und der politischen Beteiligung von Arbeitern durchgesetzt worden waren, mußte Engels allerdings zugestehen, daß die englische Entwicklung dem Revolutionsideal nicht entsprach, aber statt es aufzugeben, ersann er raffinierte Immunisierungsstrategien, damit sein Ideal vor einer Widerlegung geschützt wurde. Die widerlegenden Fakten können noch so umfangreich sein, wenn man glauben will, daß die Sonne um die Erde kreist, dann wird man jeden Morgen, wenn die Sonne scheint, dafür einen Beweis erblicken können, der unbezweifelbar ist und den ja auch die kirchlichen Autoritäten gegenüber Galileo Galilei ins Feld führten, weil sie sich ja auf die Bibel berufen konnten. Die Existenz von fliegenden Untertassen oder von einem Weiterleben nach dem Tod können nicht dadurch widerlegt werden, daß wir gegenteilige Fakten präsentieren, denn Glauben ist vernünftigen Argumenten unzugänglich. Friedrich Engels ist ein erstaunliches und vielsagendes Beispiel dafür, daß sogar wissenschaftlich arbeitende Menschen in zwei verschiedenen Welten offenbar unproblematisch existieren können; in der Welt der realen Dinge und der Welt der ideologischen Träume. Seine tiefe Bewunderung von Marx’ verbissenem Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaft hat ihn angefeuert, nach Marx’ Tod weiterhin für das arbeiterfeindliche Ideal eines kommunistischen Reiches zu kämpfen, ßere Beweis für die Unrichtigkeit der ‚Budget-Methode‘, der sich jedem sofort aufdrängen muß, liegt darin, daß die nach ihr gemachten Aufstellungen in den Endsummen fast immer ein Defizit ergeben. Schnapper war geneigt, dies dem Umstand zuzuschreiben, daß manche Einnahmen, wie Almosen, Geschenke, Trinkgelder, Darlehen verschwiegen würden, während ich überzeugt bin, daß der anscheinende Fehlbetrag Fehlschätzungen auf Seite der Ausgaben zuzuschreiben ist.“ (Karl Bücher: Haushaltungsbudgets oder Wirtschaftsrechnungen? (1906), in ders.: Entstehung der Volkswirtschaft. 2. Sammlung, Tübingen 1922, S. 372, Anm. 1. Hervorhebung im Original).

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das nach 1917 in der Sowjetunion zwar den Marxismus als staatstragende Basis anerkannte, doch die Arbeiter nur als Objekt einer diktatorischen Gewaltherrschaft duldete. Blind für die sozialen Reformbestrebungen in England, hörte Engels nur noch revolutionäre Trompetensignale und verlor damit die industrielle Realität, die sich wie die Sonne in entgegengesetzte Richtung bewegte, vollkommen aus den Augen. Dies ist umso erstaunlicher, weil er sich dem Frühsozialisten Robert Owen annäherte und eine zeitlang verbunden fühlte. Dieser errichtete nicht nur eine Arbeiterbörse (Labour Exchange) 1832 in London, sondern führte in seiner Fabrik im schottischen New Lanark interessante sozialpolitische Experimente durch, wie den Verkauf von Waren in Einzelhandelsläden ohne Gewinn. Außerdem richtete er Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen ein, wie Krankenversicherung, freier Arztbesuch, eine Sparkasse oder ließ das Institute for the Formation of Character 1816 erbauen. Engels hatte sich den Chartisten anfänglich angeschlossen; ja er verfaßte sogar für Owens Wochenzeitung The New Moral World einige Artikel. Wenn Engels seine Revolutionsideologie mit den ökonomischen, sozialen, politischen und historischen Entwicklungen während seines Lebens abgeglichen hätte und zu grundlegenden Revisionen bereit gewesen wäre, dann hätte er ein Owenianer werden können. Für hegelianisierende Dogmatiker sind widerlegende Tatsachen allerdings nur der aufhebbare Widerspruch aus der Wirklichkeit, die dialektisch überwunden werden muß.162 In einer Monumentalbiographie Engels’ äußerte Gustav Mayer die Überzeugung, daß Engels unerschütterlich bis an sein Lebensende an „den Endsieg des Kommunismus“163 geglaubt habe. Mit Marx und Engels hatten sich zwei seelenverwandte Naturen gefunden, die in den nächsten 40 Jahren seit der Veröffentlichung der Lage der arbeitenden Klasse die unfehlbare Gesetzmäßigkeit der bewaffneten Revolution der staunenden Welt verkünden werden, weitgehend unberührt von der Reformfähigkeit des kapitalistischen Systems und den Veränderungen der Fabrikarbeit. Engels versorgte Marx aus den industriellen Gewinnen der Fabrik seines Vaters mit reichlich Geld zum Leben, nachdem er im November 1850 ins Kontor der Firma Ermen & Engels in Manchester eingetreten war. Marx lieferte Engels die abstrusesten Theorien über den unvermeidlichen Zusammenbruch kapitalistischer Gesellschaften, denen die im unklaren Nebel gelassene klassenlose Gesellschaft kommunistischer Provenienz folgen sollte. Von der staatlichen Organisation dieser klassenlosen Gesellschaft kann man ironisch oder gar sarkastisch behaupten: „In Wahrheit aber hören die politischen Vorstellungen, die Karl Marx entwickelte, 162 F. A. Lange: Die Arbeiterfrage (wie Anm. 64), S. 83, äußerte sich skeptisch über die Möglichkeit, genügend Kapital für die Verwirklichung des Owenschen Ideals aufbringen zu können: „Wenn einmal das Wunder geschähe, daß alle Millionäre ein Herz hätten, wie Owen, daß sie alle glückliche kommunistische Kolonien gründeten und daß diese Kolonien alle dauernd gediehen, so würde die große Masse der Menschen doch überschießen, und nun, in der Konkurrenz gegen ein neues, weltbewegendes Princip, wahrscheinlich doppeltem Elend anheimfallen.“ 163 Gustav Mayer: Friedrich Engels. 2. Bd., Haag 1934, S. 526.

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genau an dem Laternenpfahl auf, an dem der letzte Kapitalist aufgeknüpft wird.“164 Am 31. Juli 1865 schrieb der darbende Marx von London an den bürgerlichen Engels in Manchester: „Es ist wahrhaft niederschmetternd, sein halbes [richtiger wäre gewesen, „sein ganzes“, H.K.] Leben abhängig zu bleiben. Der einzige Gedanke, der mich dabei aufrecht hält, ist der, daß wir zwei ein Compagniegeschäft treiben, wo ich meine Zeit für den theoretischen und Parteiteil des business gebe.“165 Dieses Geschäft, das von Engels’ Seite so erfolgreich betrieben wurde, daß er damit seinen und Marx’ Lebensunterhalt bestreiten konnte, warf wenig ideellen Gewinn für die materielle Besserstellung der Arbeiterklasse ab, aber umso größeren für die Parteiinteressen der kommunistischen Herrschaftssysteme. Um nur ein einziges Beispiel der Alimentierung hier anzuführen: 1868 hat Engels Marx 9.700 Mark und danach eine jährliche Rente von 7.000 Mark überwiesen, während deutsche Arbeiter damals zwischen 500 bis 900 Mark jährlich verdienten; außerdem hat Engels „für Marxens Erholungsreisen später in einem Jahr 15.000 Mark beigesteuert“.166

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C. Northcote Parkinson: Good-bye, Karl Marx (1970). 2. Aufl. Hamburg 1970, S. 78. MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 131. R. Wilbrandt: Karl Marx (wie Anm. 2), S. 17 (Hervorhebung im Original).

6. Kapitel

Die Umbruchsituation Mitte der 1840er Jahre 6. Kap.: Die Umbruchsituation Mitte der 1840er Jahre 6. Kap.: Die Umbruchsituation Mitte der 1840er Jahre

Die ökonomische Situation in Deutschland in der 2. Hälfte der 1840er Jahre wurde von zwei außergewöhnlichen Entwicklungen mit weitreichenden Folgen besonders geprägt. Zum einen hatte das Jahrzehnt seit der Errichtung des Deutschen Zollvereins in mehreren deutschen Regionen eine ökonomische Aufbruchsstimmung erzeugt, die durch Friedrich Lists Kampf für „Erziehungszölle“, d. h. eine Form des ökonomischen Protektionismus, eine Debatte über Freihandel oder Schutzzoll auslöste, die sich in den späten 1870er Jahren wiederholte. Angeblich hat sich Marx auf dem internationalen Kongreß von Freihändlern vom 16. bis 18. September 1847 in Brüssel für den Freihandel ausgesprochen, weil dadurch die ökonomischen Gesetze in ihren verblüffenden Widersprüchen ans Tageslicht kämen und „weil aus der Vereinigung aller dieser Widersprüche zu einer Gruppe sich unmittelbar gegenüberstehender Widersprüche der Kampf hervorgehen wird, der mit der Emanzipation des Proletariats endet“.1 In Deutschland gab es während dieser Zeit weder ein reines Freihandels- noch ein reines Schutzzollsystem, weil man sich in den Mitgliedsstaaten des Deutschen Zollvereins nicht über entsprechende Maßnahmen einigen konnte. Von den gemeinsamen Zolleinnahmen entfielen 1845 zwar immer noch zwei Drittel auf Finanzzölle – auf Zucker, Kaffee, Tabak, Wein etc. –, aber industrielle Produkte erreichten inzwischen einen Anteil von 28 % an den Zolleinnahmen. Von 1834 bis 1845 hatten sich die Bruttoeinnahmen an Eingangs-, Ausgangs- und Durchgangszöllen, die je nach Bevölkerungszahl an die einzelnen Bundestaaten verteilt wurden, von 14,5 Mio. auf 27,4 Mio. Taler erhöht, d. h. pro Kopf der Bevölkerung von 15 auf 25 Silbergroschen. Dieser unerwartete ökonomische Aufschwung brachte zwar einige Gemüter in Wallung, doch insgesamt war Deutschland gegenüber Großbritannien auf nahezu allen Gebieten des gewerblichen Lebens rückständig und im Hintertreffen. Trotz heftiger Debatten hatten sich die Bundesstaaten nach 1834 weder auf einheitliche Maße, Münzen oder Gewichte einigen können noch waren auf Straßen oder Flüssen einheitliche Regelungen vereinbart oder ein modernes Gewerberecht, d. h. die Aufhebung des Zunftzwangs durch Gewerbefreiheit, durchgeführt worden. Zum anderen verbreitete sich ab 1845 eine verheerende Kartoffelkrankheit über fast ganz Deutschland, weil wegen zu großer Nässe im Frühjahr und Sommer die Kartoffeln in der Erde verfaulten, was vor allen deshalb besonders dramatisch war, weil die Kartoffel inzwischen zu einem weitverbreiteten Nahrungsmittel der deutschen Bevölkerung aufgestiegen war. Die starken Regenfälle beeinflußten auch die Getreide1 [Friedrich Engels]: Der Freihandelskongreß in Brüssel, in: MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 308.

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ernte negativ, weshalb die Preise für Nahrungsmittel rasant anstiegen und Bauern, Handwerker und Industriearbeiter gleichermaßen in eine Notsituation brachten. Diese letzte große Agrarkrise in Deutschland führte zu gewerblichen Verwerfungen großen Ausmaßes, d. h. zu einer gewerblichen und landwirtschaftlichen Doppelkrise, die schließlich in die Revolution von 1848/49 mündete. Im nichtindustrialisierten Agrarstaat Irland führte die Kartoffelkrankheit 1845 bis 1847 zu einer derartigen Hungersnot, daß über eine Million Iren ihr Leben verloren und etwa die gleiche Zahl auswanderte, aber auch Belgien, Frankreich oder die USA wurden damals von einer Wirtschaftskrise nicht verschont. Es ist deswegen eigentümlich, daß Marx, der ja England als die beherrschende und fortgeschrittenste Weltmacht und am ehesten reif für eine Arbeiterrevolution ansah, am 9. April 1870 an Sigfrid Meyer und August Vogt in New York schrieb: „Ich bin nach jahrelanger Beschäftigung mit der irischen Frage zu dem Resultat gekommen, daß der entscheidende Schlag gegen die herrschenden Klassen in England (und er ist entscheidend für die Arbeiterbewegung all over the world) nicht in England, sondern nur in Irland geführt werden kann.“2 Der spätere Direktor der Gesellschaft für Türkischroth-Garnfärberei und Drukkerei in Hagen schrieb am 15. August 1848 an seinen Sohn über die Frankfurter Nationalversammlung, die etwa zwei Monate vorher den österreichischen Feldmarschall Erzherzog Johann (1782 – 1859) zum deutschen Reichsverweser gewählt hatte; von diesem Posten trat er am 20. Dezember 1849 zurück: „Was kann uns die schönste Politik helfen und die weisesten Gesetze, wenn die kommerziellen Fragen für die Nährstände unberücksichtigt bleiben und wir dabei verhungern müssen! Das begreift aber im Parlament kein Jurist, kein Literat und kein Geistlicher, und daraus besteht doch die Majorität.“3 Er wies also auf drängende ökonomische Mißstände hin, die gerade in Deutschland beseitigt werden mußten, um eine Industrialisierung beginnen zu können. Seit den 1830er Jahren hatte sich zuerst in England und danach in allen Industriestaaten der Welt eine zyklische Entwicklung der Wirtschaft bemerkbar gemacht, die in unterschiedlich langen Perioden zu Aufschwungs- und Depressionsphasen führte, die eigentlich leicht verständlich sind – abgesehen von hochkomplexen Zyklentheorien4 –, auch wenn die Zyklendauer von drei bis dreißig Jahren hoch umstritten ist. Um es kurz zu umschreiben: In einer wachsenden Wirtschaft mit steigender Nachfrage kommt es nach einer gewissen Zeit zu einer Überproduktion, einem ökonomischen Boom, weil Unternehmer in einem lukrativen, d. h. gewinnträchtigen Markt einsteigen und dadurch mehr Waren angeboten als nachgefragt werden. Die harte Konkurrenz zwischen 2 MEW. Bd. 32, Berlin 1974, S. 667 (Hervorhebungen im Original). Eine solche Ansicht konnte sich nur auf die illusionäre Hoffnung gründen, daß Irland sofort seine vollständige Unabhängigkeit von England erkämpfen könnte, was ja teilweise erst nach dem Ersten Weltkrieg mit der Verfassung des ‚Irischen Freistaates‘ vom 6. Dezember 1922 gelang. 3 Zitiert von Wilhelm Elbers: Hundert Jahre Baumwolltextilindustrie, Braunschweig 1922, S. 16. 4 Vgl. Reinhard Spree: Wachstumstrends und Konjunkturzyklen in der deutschen Wirtschaft von 1820 bis 1913, Göttingen 1978, S. 32 ff.

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den Unternehmen führt wegen eines Überangebots zu Preisrückgängen und damit zu anhaltender Nachfrage, d. h. der Boom dauert an. Dieser Zustand ist allerdings nicht von Dauer, denn irgendwann ist der Markt gesättigt und der Absatz geht zurück, d. h. einige Unternehmen werden verdrängt; es kommt zu Arbeitslosigkeit, zu Unternehmenszusammenbrüchen und zur ökonomischen Krise. Dieses Wechselspiel von Konjunktur und Krise hat sich in industrialisierten Gesellschaften in unregelmäßigen Abständen kontinuierlich wiederholt und Marx aufgrund der weltweiten Krise von 1857 zu der Fehleinschätzung verleitet: „Entweder können die sozialen Verhältnisse von der Gesellschaft kontrolliert werden, oder sie wohnen dem jetzigen System der Produktion inne. Im ersten Fall kann die Gesellschaft Krisen vermeiden; im zweiten Fall müssen sie wie der natürliche Wechsel der Jahreszeiten ertragen werden, solange das System existiert.“5 In Deutschland machte sich eine derartige Krise des Industriekapitalismus in ersten Ansätzen Mitte der 1840er Jahre bemerkbar und erregte größte Aufmerksamkeit. Denn sie war verbunden mit der letzten großen Agrarkrise der westlichen Welt, bei der Tausende von Menschen verhungerten und auf mildtätige Gaben von Mitbürgern angewiesen waren. Ein Arzt aus Eilenburg hat zu dieser Zeit das Bettelwesen untersucht, das vor allem von Kindern und Müttern ausgeübt wurde, und ermittelte für einen erwachsenen Mann: „Ein Bettler, der den Tag zu benutzen weiß, durchstreift an einem Hauptbetteltage höchstens 20 Dörfer und bringt an einem solchen mitunter den Werth von 15 – 20 Sgr. [Silbergroschen] und mehr, theils baar, theils in Brot etc. nach Haus. Als mittlerer Ertrag aus höchstens 20 Dörfern kann man aber recht gut 10 Sgr. anrechnen. Dies gäbe für das Dorf durchschnittlich 6 Pfennige, also 6 Gebende.“6 Gleichzeitig entwickelte sich in einigen deutschen Regionen eine industrielle Wachstumsdynamik. Dieser ungewöhnliche Industrialisierungsschub und das danach nicht mehr aufgetretene Zusammentreffen von Agrar- und Gewerbekrise mit anschließender Revolution hat nicht nur Hans-Ulrich Wehler7 zu dem falschen Schluß einer deutschen Doppelrevolution geführt, sondern auch Marx und Engels dazu verleitet, sich ein revolutionäres Proletariat auszudenken, das es noch lange nicht gab. Während Marx und Engels aus diesen revolutionären Aufständen eine beginnende, weltumstürzende Umwälzung des kapitalistischen Systems herauslasen, sah der Sozialist Lange in der „idealpolitischen Sturmfluth des Jahres 1848“8 den Neuanfang materialistischer Interessen und des industriellen Fortschritts in Deutschland. 5 Karl Marx: Britischer Handel und Finanzen, in: MEW. Bd. 12, Berlin 1969, S. 571 (Artikel in der New York Daily Tribune Nr. 5445 vom 4. Oktober 1858). 6 Bernhardi: Ein Vorschlag zu einer Statistik des Bettelns, in: Zeitschrift des Vereins für deutsche Statistik, I. Jg., 1847, S. 654. 7 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 2. Bd. (1987). 3. Aufl. München 1996, S. 585 ff. Kritisch dazu Hubert Kiesewetter: Wehlers Mythos der „Deutschen Doppelrevolution“ und seine Folgen, in: Historische Mitteilungen, Bd. 11, Heft 1, 1998, S. 125 – 140. 8 Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus (1866). II. Buch, 2. Aufl. Iserlohn 1875, S. 86.

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A. Aufstand der Weber 1844 Selbst die unbeugsamsten Revolutionäre benötigen Menschen, die ihnen entweder zuarbeiten oder ihre Ideen unter gläubigen Adepten verbreiten, damit ihre Theorien in die revolutionäre Praxis umgesetzt werden können. Dies können Freunde oder Mitläufer oder Anhänger sein, die sich für die gemeinsame Sache umso stärker engagieren, je mehr sie von deren inhaltlicher Richtigkeit sowie deren moralischer Güte überzeugt sind. Es ist nämlich ein grundlegender Unterschied, ob man von Theorie und Praxis in der Wissenschaft oder von theoretischen Vorgaben für die politische Praxis spricht, wenn man Sein und Sollen auseinanderhalten möchte. Ersteres Theorie-Praxis-Verhältnis ist ein Erkenntnisprogramm, etwa die Frage, ob die Theorie der Ellipsenbahnen von Planeten bei konkreten Prüfungen sich bewahrheitet oder widerlegt wird. Letzteres, die Rolle der Praxis im Leben der Gesellschaft, hat mit dem erkenntnistheoretischen Theorie-Praxis-Verhältnis gar nichts zu tun und ist lediglich ein begrifflicher Fehlschluß. Marxisten versuchen diesen Unterschied zu verwischen, um den Marxschen Materialismus als den eigentlichen Praxistest gegenüber idealistischem Theoretisieren etablieren zu können: „Die Einführung der Kategorie der Praxis in die Erkenntnistheorie [durch Marx, H.K.] war eine wahre Revolution in der Gnoseologie und eines der Hauptelemente der revolutionären Umwälzung in der Philosophie.“9 Doch bereits Anfang des 20. Jahrhunderts erkannte der tschechische Philosoph, Soziologe und Politiker Thomáš Garrique Masaryk (1850 – 1937) die Krise des Marxismus darin, „daß sich innerhalb des Marxismus eine ertödtende Scholastik ausbildet, die ganz nach dem Vorgange anderer Parteien und Kirchen und nach ihrer Methode durch Distinktion, Definition, Interpretation, Allegorisierung und Symbolisierung die unhaltbaren Lehren von Marx und Engels den neuen Ansichten anzupassen streben“.10 Marx und Engels scheinen von einer freundschaftlichen Verbundenheit mit ihren theoretischen Anhängern wenig angetan gewesen zu sein, wenn man sich den ausufernden Briefwechsel genauer ansieht und analysiert. Dies hängt auch damit zusammen, daß die marxistische Lehre, die im Leninismus-Stalinismus zu einem Staatskommunismus weiterentwickelt wurde, das Kollektiv als die vorrangige Gesellschaftsform ansieht und durchgesetzt hat. „Der Leninismus wurde der Marxismus des 20. Jahrhunderts. Er wurde zur theoretischen und ideologischen Waffe aller wahrhaften Revolutionäre in der Welt.“11 Der Mensch als Individuum, das aufgrund eigener Interessenvorstellungen sein Leben selbst gestalten möchte, muß sich dem Kollektiv unterordnen, d. h. den Anweisungen der herrschenden Partei. Der Marxsche Slogan „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ (Kritik des Gothaer Programms, 1875) ist lediglich die täuschende Formel dafür, daß nicht das selbstbewußte und selbstverantwortliche Individuum P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (1973). 7. Aufl. Berlin 1984, S. 107. Thomáš G. Masaryk: Marx-Studien, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft, VII. Jg., 1904, S. 694. 11 Ihre Namen leben durch die Jahrhunderte fort, Berlin 1983, S. 18. 9

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darüber entscheidet, was es für richtig hält, sondern der allmächtige Staat die Menschen steuert und anweist, was sie zu tun und zu lassen haben. Ein individuelles Bewußtsein, das von Marx wie Engels als „falsch“ bzw. „illusorisch“ erklärt wurde, wird dem kommunistischen Kollektiv untergeordnet. Eine menschliche Behandlung von kritischen Abweichlern von der Staatsraison ist in solchen Herrschaftssystemen nicht zu erwarten, denn welche Bedürfnisse für verschiedene Menschengruppen höchste Priorität erlangen und bevorzugt werden, gesundheitliche, sexuelle, materielle oder ökonomische Bedürfnisse, darauf läßt sich eine totalitäre Herrschaft gar nicht ein. An ein paar Beispielen soll gezeigt werden, warum der Revolutionsfanatismus jede menschliche Regung überlagerte und zu einem verbissenen Kampf gegen sozialistische Windmühlen führte, die längst ihren Geist aufgegeben hatten. Zum Beispiel gab es neben deutschen Handwerkern und englischen Industriearbeitern, die sich für eine Revolution als untauglich erwiesen hatten, immer noch diesen Arnold Ruge, der in der zweimal wöchentlich in Paris vom Januar bis Dezember 1844 erscheinenden deutschen Zeitschrift Vorwärts! Pariser Signale aus Kunst, Wissenschaft, Theater, Musik und geselliges Leben, unter dem Pseudonym „Ein Preuße“ Artikel veröffentlichte. Diese Zeitschrift wurde von dem früheren preußischen Offizier Adalbert von Bornstedt und dem Geschäftsmann Heinrich Börnstein herausgegeben und dessen Redakteur war „ein geschickter und findiger Journalist“,12 Ferdinand Bernays. (Bornstedt, der sich für die Entsendung einer bewaffneten deutschen Legion von Handerkern nach Deutschland ausgesprochen hatte, wurde am 16. März 1848 in Paris von Marx aus dem Bund der Kommunisten ausgeschlossen). Ruge, der Marx ja aus einer prekären menschlichen und finanziellen Situation herausgeholfen hatte, verfaßte für diese Zeitschrift einen Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform“, in dem er über den Aufstand der schlesischen Weber vom 4. bis 6. Juni 1844 u. a. etwas zu pathetisch schrieb: „Es ist unmöglich, die partielle Not der Fabrikdistrikte einem unpolitischen Lande, wie Deutschland, als eine allgemeine Angelegenheit, geschweige denn als einen Schaden der ganzen zivilisierten Welt zur Anschauung zu bringen. Das Ereignis hat für die Deutschen denselben Charakter, wie irgendeine lokale Wassers- oder Hungersnot. Deshalb nimmt es der König als einen Verwaltungs- oder Mildtätigkeitsmangel … Armut und Verbrechen sind zwei große Übel; wer kann sie heilen? Der Staat und die Behörden? Nein, aber die Vereinigung aller christlichen Herzen.“13 Die schlesischen Weber waren ja tatsächlich in einer verzweifelten Lage, weil sie nicht sehen konnten oder wollten, daß sich ihr Leinengewerbe auf einem absterbenden Ast befand, ihnen aber auch keine anderen Erwerbsmöglichkeiten offen standen.14 Sie hätten entweder auswandern oder sich einen anderen Beruf suchen können; David McLellan: Karl Marx, München 1974, S. 109. Zitiert von Karl Marx: Kritische Randglossen zu dem Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen“, in: MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 392 f. (Hervorhebungen im Original). 14 Vgl. Christina von Hodenberg: Aufstand der Weber, Bonn 1997. 12 13

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beide Alternativen waren wenig attraktiv, weswegen ihre Verzweiflung durchaus verständlich ist. Weder die staatlichen Organe noch die christliche Barmherzigkeit konnten dieses Problem zur Zufriedenheit aller lösen, weil dieser Gewerbezweig in einer veränderten Industrielandschaft als nicht mehr wettbewerbskonform erhalten werden konnte wie viele anderen Handwerke auch.15 Die Leinenproduktion wurde seit Ende des 18. Jahrhunderts als Textilware immer stärker von der Baumwollindustrie verdrängt, die angenehmer zu tragenden Garne und Stoffe billiger herstellen und den Produktionsprozeß durch Maschineneinsatz effektiver und produktiver gestalten konnte. Dieser Verdrängungswettbewerb von weniger attraktiven Produkten zugunsten von hochwertigeren und preisgünstigeren ist ein typisches Merkmal einer kapitalistischen Industrialisierung, der während des ganzen 19. Jahrhunderts anhielt. Doch diesen industriellen Wandel wollten die revolutionären Enthusiasten weder sehen noch in ihre Überlegungen einbeziehen, da er ihrer eindimensionalen Sichtweise vollkommen wiedersprach. Auch die übliche Abwehrreaktion gegenüber Veränderungen bei der industriellen Produktion finden wir zur damaligen Zeit mit einem nationalistischen Unterton, nämlich eine Zollmauer zu errichten, damit die inländischen Leinenhersteller scheinbar geschützt und Arbeitslosigkeit vermieden würden: „Da nun ein Weber durchschnittlich im Jahre 50 bis 60 Schock Leinewand weben kann, so würden im deutschen Zoll-Verbande nur für den einen Artikel Hemdenleinewand 35,000 Weberfamilien ihre Beschäftigung und Broderwerb haben können, wenn durch einen Schutz- oder Rückzoll von 10 pCt. des Waarenwerthes die Einfuhr der rohen Leinewand, so weit dieselbe vor der Hand im Inlande konsumirt wird, unmöglich gemacht würde.“16 Zu dem Rugeschen Artikel schrieb Karl Marx in Nr. 63 und Nr. 64 des Vorwärts! vom 7. und 10. August 1844 eine lange Replik, in der er seinen atheistischen Gefühlen und seinen kommunistischen Überzeugungen freien Lauf ließ: „Der orthodoxe Katholik steht dem orthodoxen Protestanten feindlicher gegenüber als dem Atheisten, wie der Legitimist dem Liberalen feindlicher gegenübersteht als dem Kommunisten.“17 Allein diese beiden Vergleiche sind ja schon merkwürdig genug und zeigen, daß es Marx gar nicht um eine sachliche Auseinandersetzung über ein absterbendes Gewerbe ging, sondern um persönliche Denunziation. Während dieser Zeit schrieb er zusammen mit Friedrich Engels Die heilige Familie gegen Bruno Bauer und andere Junghegelianer, um sich über ihre kommunistischen Anschauungen klar zu werden: „Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre 15 Aus zeitgenössischer Sicht Waldenburger Fabrikanten mit umfangreichen statistischen Tabellen siehe: Die deutsche Leinen-Industrie-Frage, Breslau 1845. 16 F. A. Bormann: Die Ursachen des Verfalls der Leinen- und Baumwollen-Industrie in den deutschen Zollvereins-Staaten, Berlin 1852, S. 9. 17 K. Marx: Kritische Randglossen (wie Anm. 13), S. 393.

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Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz. Sie ist, um einen Ausdruck von Hegel zu gebrauchen, in der Verworfenheit die Empörung über diese Verworfenheit, eine Empörung, zu der sie notwendig durch den Widerspruch ihrer menschlichen Natur mit ihrer Lebenssituation, welche die offenherzige, entschiedene, umfassende Verneinung dieser Natur ist, getrieben wird.“18 Schon in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 hatte Marx dem Menschen als Produkt seiner Arbeit bescheinigt, daß er seiner Lebenstätigkeit sowie seinem Gattungswesen entfremdet sei, d. h. in der entfremdeten Arbeit betrachte der arbeitende Mensch den anderen Menschen als fremd, feindlich, mächtiger, unabhängiger als er selbst: „Jede Selbstentfremdung des Menschen von sich und der Natur erscheint in dem Verhältnis, welches er sich und der Natur zu andern, von ihm unterschiedenen Menschen gibt … Also durch die entfremdete, entäußerte Arbeit erzeugt der Arbeiter das Verhältnis eines der Arbeit fremden und außer ihr stehenden Menschen zu dieser Arbeit.“19 Es ist eine maßlose Übertreibung, zu behaupten, alle (Industrie-) Arbeiter fühlten sich oder seien in ihrer Arbeit entfremdet, auch wenn ihre Abhängigkeit oft unmenschliche Ausmaße annahm. Unter dieser ideologischen Voraussetzung scheint es menschlich angemessen und verständlich, daß Ruge, der „überkluge ‚Preuße‘“20 und seine „merkantilistische Zigeunersprache“,21 mit der „er selbst nicht einmal in Redensarten sich über den bornierten politischen Standpunkt zu erheben weiß“,22 kräftig eins ausgewischt bekommt. Menschliche Rücksichten kennen fanatische Dogmatiker nicht. Eine fehlerhafte Interpretation der ökonomischen Hintergründe des Weberaufstandes hat sich auch im von Friedrich Engels niedergeschriebenen, aber von Karl Schapper und Wilhelm Wolff unterzeichneten Entwurf des Kommunistischen Glaubensbekenntnisses niedergeschlagen, der auf dem 1. Kongreß des Bundes der Kommunisten am 9. Juni 1847 angenommen wurde. Die Antwort auf Frage 9, wie das Proletariat entstanden sei, lautete nämlich: „Das Proletariat ist hervorgegangen aus der Einführung der Maschinen, welche seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts erfunden wurden und von denen die hauptsächlichsten sind: die Dampfmaschine, die Spinnmaschine und der mechanische Webstuhl. Diese Maschinen, welche sehr teuer waren und also nur von reichen Leuten angeschafft werden konnten, verdrängten die damaligen Arbeiter, indem man mittelst der Maschinen die Waren wohlfeiler und schneller liefern konnte, als dies den bisherigen Arbeitern auf ihren unvollkommnen Spinnrädern und Webstühlen möglich war. Die Maschinen lieferten dadurch die Industrie gänzlich in die Hände der großen Kapitalisten und machten das wenige Eigentum der Arbeiter, das hauptsächlich in ihren Werkzeugen, 18 Friedrich Engels/Karl Marx: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, in: MEW. Bd. 2, Berlin 1970, S. 37 (Hervorhebungen im Original). 19 Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW. Ergänzungsband. Teil 1, Berlin 1977, S. 519 f. (Hervorhebung im Original). 20 K. Marx: Kritische Randglossen (wie Anm. 13), S. 399. 21 Ebd., S. 403. 22 Ebd., S. 408 (Hervorhebung im Original).

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Webstühlen pp. bestand, völlig wertlos, so daß der Kapitalist alles, der Arbeiter nichts übrig behielt. Damit war das Fabriksystem eingeführt. Als die Kapitalisten einsahen, wie vorteilhaft ihnen dies war, suchten sie es auf immer mehr Arbeitszweige auszudehnen. Sie teilten die Arbeit mehr und mehr unter die Arbeiter, so daß die letzteren, die früher jeder ein ganzes Stück Arbeit gemacht, jetzt jeder nur einen Teil dieses Stückes machten. Die so vereinfachte Arbeit lieferte die Erzeugnisse schneller und daher wohlfeiler, und erst jetzt fand man fast in jedem Arbeitszweige, daß auch hier Maschinen angewandt werden könnten. Sowie nun ein Arbeitszweig fabrikmäßig betrieben wurde, geriet er, gerade wie die Spinnerei und Weberei, in die Hände der großen Kapitalisten, und den Arbeitern wurde der letzte Rest von Selbständigkeit entzogen.“23 Diese Betrachtung leidet an zwei gravierenden Fehlern, nämlich 1., daß die Zustände der Textilindustrie – die in Großbritannien die industrielle Revolution durch Mechanisierung ausgelöst hatte, aber in Deutschland, Frankreich oder in den USA eine viel geringere industrielle Bedeutung besaß – auf die gesamte Industrie übertragen wurden. Die technischen Entwicklungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und danach waren jedoch so rasant, daß Werkzeugmaschinenbau, Lokomotivenbau oder die Eisenund Stahlindustrie mit Puddel- und Hochöfen die technischen Anforderungen vollständig veränderten. 2. waren es in dieser Übergangsperiode nicht nur ‚reiche Kapitalisten‘, die angeblich die vollständige Produkte herstellenden Handwerker verdrängten, d. h. es wurden scheinbar „die kleinen Handwerksmeister, mehr und mehr ruiniert“ und aus dem Produktionsmarkt ausgeschlossen. Tatsächlich waren es gerade viele ‚kleine‘ Handwerker, die Fabriken gründeten und durch Erfindergeist und/oder Organisationstalent große Unternehmen aufbauten und sich zu bedeutenden Unternehmerpersönlichkeiten emporarbeiteten. Beispiele für solche frühen Handwerkerunternehmer sind etwa Matthew Boulton, Friedrich Koenig, John Cockerill, Joseph Whitworth, August Borsig, Richard Hartmann, Rudolf Sack, Louis Schwartzkopff oder Johann von Zimmermann.24 Die gravierendste Fehleinschätzung von Marx und den Marxisten bei der Analyse der industriellen Entwicklung bestand darin, daß sie die Industrie oder die fabrikatorische Fertigung über einen Kamm scherten und sich keine empirische Klarheit darüber verschafften, daß die ökonomische Situation nicht nur von Fabrik zu Fabrik, von einer Periode zur nächsten Periode, sondern auch von einer Branche zur anderen erhebliche Unterschiede aufwies. Die Textilbranche z. B., d. h. Spinnereien, Webereien, Färbereien und Appreturbetriebe, wies in ihren Einzelsegmenten eine völlig verschiedene Produktionsstruktur auf. Auch die Herstellung von Leinen, Wolle, Baumwolle oder Seide erforderte ganz andere Produktionsabläufe und damit andere Anforderungen an die Arbeiterschaft, die somit nicht der gleichen Ausbeutung durch die Kapitalisten unterlag. Sachkundige Augenzeugen der 23 Zitiert in: Der Bund der Kommunisten. Bd. 1: 1836 – 1849, Berlin 1970, S. 471. Dort auch das nächste Zitat. 24 Vgl. Biographien bedeutender Unternehmer, hrsg. von Gisela Buchheim und Wolf D. Hartmann, Berlin 1991, S. 39 ff.

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Frühindustrialisierung, wie ein französischer Deputierter des Seinedepartements in seinem Bericht vom Dezember 1840, haben nicht nur erkannt, daß gesetzliche Bestimmungen gegen Kinderarbeit eingeführt werden mußten, sondern daß es schwierig sein würde, diese unterschiedlichen Arbeitsbedingungen in kurzer Zeit zu nivellieren. Von Fabrik zu Fabrik wie von Region zu Region gab es eine unterschiedliche Armut der Eltern, Verdienstunterschiede, unterschiedliche Arbeitszeiten, verschiedener Schulzugang der Kinder in nahegelegene Schulen, wenn keine Fabrikschule vorhanden war, fehlende Überprüfungsmöglichkeiten der erlaubten Kinderarbeitszeiten durch Lokalkommissionen, verschiedene Grade von sittlicher Verrohung unter den Arbeitern, wie sexuelle Übergriffe oder Alkoholkonsum, die unterschiedliche Verschmutzung in der Fabrik bzw. Risiken von Verletzungen je nach der Maschinenverwendung, Unterschiede einer gesunden Ernährung in der Fabrik oder im Elternhaus, verschiedene Ruhe- und Erholungspausen während der Arbeitszeit etc. „Dies Alles ist das Ergebniß einer Menge kleiner Umstände in Bezug auf Ordnung, Fürsorge, Schonung und gutes Beispiel, die sich in kein Gesetz bringen lassen: Umstände, welche einen verständigen und menschenfreundlichen Dirigenten verrathen, der sich nicht damit begnügt, seine Arbeiter zu beaufsichtigen und regelmäßig zu bezahlen, dessen Sorgfalt sich vielmehr auch auf ihr Familienleben, ihre Wohnung, ihre Nahrung und den Unterricht ihrer Kinder erstreckt.“25 Ein zehn Jahre vorher angeführtes Beispiel aus der frühindustriellen Zeit vermag diese widersprüchliche Situation der damaligen Kinderarbeit etwas zu verdeutlichen. Der Fabrikant Wilhelm Weigle aus Ludwigsburg stellte bei der Gesellschaft zur Beförderung der Gewerbe in Württemberg, die von 1830 bis 1848 in Stuttgart die württembergische Industrialisierung zu fördern versuchte, einen Antrag zur finanziellen Unterstützung bei der Beschäftigung von „Mädchen und Weiber“. Dieser Vorgang ist im Staatsarchiv Ludwigsburg unter der Aktenbezeichnung „Ueber die Nothwendigkeit, Mädchen bey der Weberey baumwollener Stoffe zu beschäftigen“ erfaßt und steht zu den berechtigten Klagen über extensive Kinderarbeit in Fabriken im eklatanten Widerspruch. Die Gesellschaft sprach sich nämlich dafür aus, dem Unternehmen 2.000 Gulden für diese Frauen- und Kinderarbeit zu gewähren, wahrscheinlich, um ihnen wenigstens ein geringes Einkommen zu ermöglichen, doch das württembergische Innenministerium teilte der Gesellschaft am 4. Mai 1831 mit, daß sich das Finanzministerium „für die Aussezung [!] einer ermäßigten Prämien Summe von 1000 f. [Gulden] aussprach, das Ministerium des Innern dagegen nicht die Ueberzeugung gewinnen konnte, daß der angetragene Aufwand zur Bestreitung aus Staatsmitteln sich eigne“.26 Das Argument des Ministeriums, den Zuschuß zu verweigern, ist hochinteressant gerade 25 M. Carnot: Bericht an den Herrn Minister des Ackerbaues und des Handels, in: Mittheilungen des Industrie-Vereins für das Königreich Sachsen. Lief. I, 1841, S. 38 f. Für die Provinz Niederösterreich wurde am 16. Juli 1839 eine Verordnung erlassen, die folgendes vorsah: „Die Fabrikunternehmer haben darauf zu achten, daß die jungen Arbeiter jährlich vier Mal zur Beichte und zum heiligen Abendmahl geführt werden.“ (Zitiert ebd., S. 34). 26 Staatsarchiv Ludwigsburg: E 170, Büschel 937, Blatt 22. Dort auch das nächste Zitat.

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für seine politische und ökonomische Einstellung. Denn es gab zu bedenken, daß eine wohlfeilere Verwendung von Arbeiterinnen in der Weberei gleichgesetzt werden müsse mit der Aufstellung neuer Maschinen, durch die die Fabrikationskosten ebenfalls verringert würden. Dem Ministerium sei jedoch keine Beispiel dafür bekannt, daß die Verwendung von Maschinen – lediglich neue Erfindungen seien mit einem Zuschuß bedacht worden – finanziell gefördert worden sei; außerdem seien ihm „außerordentliche Schwierigkeiten, welche die Zurbeiziehung von Weibspersonen zur Weberei in Württemberg fände“, nicht zu Ohren gekommen. Staatliche Instanzen waren sich demnach zu einem frühen Zeitpunkt der Industrialisierung bewußt, daß das Textilgewerbe kein fortschrittlicher Industriezweig darstellte, in den man Geld investieren sollte, das nicht durch eigene Effektivität erwirtschaftet werden konnte. Was Marx 1844 über den Weberaufstand schrieb, ist ebenso wie Gerhart Hauptmanns Drama Die Weber von 1892 eine moralische Karikatur der tatsächlichen Ereignisse, denn obwohl die schlesischen Weber in Peterswaldau und Langenbielau durch Verlegerfabrikanten mit niedrigen Löhnen in eine Existenzkrise getrieben wurden, ermangelte den leinenproduzierenden Hauswebern vollständig ein Arbeiterbewußtsein. Sie fühlten sich als selbständige Handwerker in einem jahrhundertealten Gewerbezweig, deren Existenz durch maschinelle Webstühle in Fabriken massiv bedroht war, doch die Zerstörung dieser Maschinen war höchstens ein unüberhörbarer Hilfeschrei, aber keine Lösung ihres Existenzproblems. Marx schrieb: „Zunächst erinnere man sich an das Weberlied [damit war das Lied „Das Blutgericht“ gemeint, das in Textilgebieten Schlesiens vor dem Weberaufstand verbreitet war, H.K.], an diese kühne Parole des Kampfes, worin Herd, Fabrik, Distrikt nicht einmal erwähnt werden, sondern das Proletariat sogleich seinen Gegensatz gegen die Gesellschaft des Privateigentums in schlagender, scharfer, rücksichtsloser, gewaltsamer Weise hinausschreit. Der schlesische Aufstand beginnt grade damit, womit die französischen und englischen Arbeiteraufstände enden, mit dem Bewußtsein über das Wesen des Proletariats. [Das ist, wie wir bereits gehört haben, ein reines Marxsches Phantasieprodukt, denn die zerstörerische Wut der Leinenweber speiste sich ähnlich wie die Maschinenzerstörungen von englischen Ludditen Anfang des 19. Jahrhunderts von dem Frustgefühl, nicht mehr in einem selbständigen Beruf den Lebensunterhalt verdienen zu können, H.K.] Die Aktion selbst trägt diesen überlegenen Charakter. Nicht nur die Maschinen, diese Rivalen des Arbeiters, werden zerstört, sondern auch die Kaufmannsbücher, die Titel des Eigentums, und während alle andern Bewegungen sich zunächst nur gegen den Industrieherrn, den sichtbaren Feind kehrten, kehrt sich diese Bewegung zugleich gegen den Bankier, den versteckten Feind. Endlich ist kein einziger englischer Arbeiteraufstand mit gleicher Tapferkeit, Überlegung und Ausdauer geführt worden.“27 Solche Anklagen mögen für marxistische Adepten erschütternd sein – und dies war wohl auch ihre eigentliche Absicht –, doch sie entsprechen in keinerlei Hinsicht den historischen Ereignissen, und Marx’ Aussage, der Aufstand der schlesischen 27

K. Marx: Kritische Randglossen (wie Anm. 13), S. 404 (Hervorhebungen im Original).

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Weber sei wichtiger für das politische Bewußtsein gewesen als die englischen und französischen Arbeiteraufstände, ist radikaler Unsinn.28 Hier werden bewußte ideologische Verfälschungen zugunsten eines Revolutionsdramas vorgenommen, denn es war ja gerade der Erhalt des Privateigentums an Produktionsmitteln, den Webstühlen, der die Weber gegen die Maschinenfabriken vorgehen ließ, d. h. ein proletarisches Bewußtsein war überhaupt nicht vorhanden. Doch Privateigentum war für Marx nicht Lebensgenuß, sondern Lebensentäußerung, wie das Arbeiten nicht Leben sei: „Unter der Voraussetzung des Privateigentums ist meine Individualität bis zu dem Punkte entäußert, daß diese Tätigkeit mir verhaßt, eine Qual und vielmehr nur der Schein einer Tätigkeit, darum auch eine nur erzwungene Tätigkeit und nur durch eine äußerliche zufällige Not, nicht durch eine innere notwendige Not mir auferlegt ist.“29 Die meisten Weber wollten an ihren Webstühlen weiterarbeiten, wie ihre Vorfahren es seit Generationen getan hatten, obwohl das Leinengewerbe nicht mehr konkurrenzfähig war und viel früher hätte aufgegeben werden müssen. Der schlesische Weberaufstand war überwiegend eine Hungerrevolte in dem Jahr der letzten großen europäischen Erntekrise, bei der Tausende von Menschen verhungert sind. Viele Studien der deutschen Textilindustrie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zeigen, daß die trostlosen Zustände der Zeiten des Weberaufstandes einer fernen Vergangenheit angehörten, „die man heutzutage als menschenunwürdig nicht mehr ans Licht zu ziehen wagt, und die uns so recht erkennbar machen, welch‘ gewaltige soziale Fortschritte die kapitalistische Wirtschaftsperiode neben allen ihr anhaftenden Schwächen und Schäden gezeitigt hat, und wie wenig eine alles rücksichtslos negierende Unzufriedenheit in der Gegenwartsepoche am Platze ist!“30 Wenn man allerdings das moralische Schlachtfeld idealistischer und dialektischer Anklagen verläßt und in die trockene ökonomische Wirklichkeit eintaucht, was das eigentliche Ziel einer wissenschaftlichen Analyse wirtschaftlicher Entwicklungen sein sollte, dann muß man ernüchternd feststellen, daß Marx an der ökonomischen Realität vollkommen vorbeiphilosophiert hat. Schon ein Jahr nach der 1830er Revolution – also eineinhalb Jahrzehnte vor dem anhaltende Empörung auslösenden Weberaufstand – erkannte ein subtiler deutscher Statistiker die unaufhaltsame Ausweglosigkeit der Leinenindustrie: „Der abnehmende Debit der deutschen Garne in Großbritannien, die ungünstigen Absatzverhältnisse für die deutsche Leinwand in Spanien und auf den meisten amerikanischen Märkten, welche sowohl aus den verminderten Zahlungsmitteln dieser Länder als auch aus der 28 Über 170 Jahre später reduziert ein Mythenzerstörer diese Vorgänge auf die märchenhafte Aussage: „Als 1844 die halb verhungerten schlesischen Weber revoltierten, wurden sie kurzerhand zusammengeschossen.“ (Ulrich Drüner: Richard Wagner, München 2016, S. 220). 29 Karl Marx: [Auszüge aus James Mills Buch „Élémens d’économie politique“], in: MEW. Ergänzungsband. 1. Teil, Berlin 1977, S. 463 (Hervorhebungen im Original). 30 Curt Frahne: Die Textilindustrie im Wirtschaftsleben Schlesiens, Tübingen 1905, S. 124. Vgl. schon Alfred Zimmermann: Blüthe und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien, Breslau 1885, S. 299 ff.

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Ueberfüllung ihrer Märkte mit Leinen anderer Gegenden, zumal mit den brittischen und der vermehrten Anwendung der baumwollnen statt der leinenen Stoffe hervorgingen, verursachten, daß die deutschen Leinen in manchen Jahren, sowohl in mehrern Gegenden der neuen Welt als besonders in Spanien, kaum, aber doch nur zu immer niedrigern Preisen abgesetzt werden konnten.“31 Die angeblich so tiefschürfenden Ökonomen Marx und Engels konnten wegen ihres revolutionären Fanatismus diesen einfachen Sachverhalt, der mit einer zunehmenden Verarmung der (Leinen-)Weber einherging, nicht erkennen. Seit Ende des 18. Jahrhunderts hatte die englische, maschinengetriebene Baumwollindustrie jedem nüchternen Beobachter verdeutlicht, daß Baumwolle, obwohl sie aus Übersee importiert werden mußte, effektiver, produktiver sowie preisgünstiger als Leinen verarbeitet werden konnte und bei den Verbrauchern auf eine viel höhere Resonanz stieß, weil das Tragen von Baumwollsachen angenehmer und diese strapazierfähiger waren. Auch in deutschen Regionen setzte sich nach 1815 die Baumwollverarbeitung allmählich gegenüber der Leinenindustrie durch, auch wenn sie sie nicht ganz verdrängen konnte. Noch über ein halbes Jahrhundert später hatte sich die existentielle Lage der Weber nicht wesentlich gebessert, vor allem in der Hausweberei und bei weiblichen Beschäftigten, die weiterhin geringer bezahlt wurden als ihre männlichen Kollegen. Wilbrandt gibt entsetzliche Schilderungen vom Elend von Hauswebern um 1906 wieder: „So erzählt mir in Tscherbeney ein Weber: er webt Leinwand von sechs Uhr früh bis elf Uhr abends, macht eine Stunde Mittag, arbeitet also 16 Stunden; sein Verdienst ist brutto dabei 8 Mark, aber davon gehen 2 Mk. an den Spuler und 2 Mk. an den Andreher, ihm bleiben also 4 Mk. in der Woche, 4 Pfg. in der Stunde! Und doch ist das noch eine persönliche besondere Leistung; denn sonst haben oft Weber und Spuler zusammen 4 Mk.!“32 Die Zusammenstellung der Jahresverdienste von 23 hauptgewerblichen Webern im Frankenwald ergab für das Jahr 1914 einen Durchschnittsverdienst zwischen 301 und 500 Mark,33 während etwa rheinisch-westfälische Arbeiter in der Maschinenbau- und Kleineisenindustrie jährlich 1.427 Mark (1913) oder Hütten- und Walzwerkarbeiter im gleichen Jahr sogar 1.744 Mark verdienten.34 Zwar waren in den Textilfabriken die Löhne gestie31 Gustav von Gülich: Ueber den Einfluß der neuesten Revolution, Göttingen 1831, S. 13. Sobald es um die Mittel geht, wie dieser Notstand behoben werden könnte, verfiel Gülich in den industriefeindlichen Vorschlag eines reduzierten Maschineneinsatzes: „Indeß wäre zugleich auch die Anwendung der todten Kräfte, der Maschinen, statt der Menschenhände zu beschränken, und wenigstens dahin zu sehen, daß bei der Verfertigung der baumwollnen, wollnen und leinenen Stoffe die Maschinen nicht in größerm Umfange als bisher angewandt würden, und daß die im Lande fabricirten baumwollnen Zeuge nicht die leinenen verdrängten, vielmehr die letztern ganz an die Stelle der baumwollnen träten.“ (S. 44). 32 Robert Wilbrandt: Die Weber in der Gegenwart, Jena 1906, S. 54 (Hervorhebung im Original). 33 Vgl. Hans Michel: Die hausindustrielle Weberei Deutschlands, Jena 1921, S. 66. 34 Vgl. Hubert Kiesewetter: Regionale Lohndisparitäten und innerdeutsche Wanderungen im Kaiserreich, in Jürgen Bergmann u. a.: Regionen im historischen Vergleich, Opladen 1989, S. 180 f., Tabellen A7 und A8.

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gen, aber in den größeren Städten auch die Mieten, ganz abgesehen davon, daß die Gesundheitsbelastung als Textilarbeiter größer war als in den meisten anderen Fabriktätigkeiten. Kinderarbeit, vor allem in Textilfabriken und in der Hausweberei,35 war immer noch nicht vollständig in ganz Deutschland verboten, obwohl Ernst Engel schon 1866 geschrieben hatte: „Es wird dadurch der geistigen und körperlichen Entwicklung der Kinder der größte Schaden gethan. Ein schwächliches Geschlecht wächst empor; in jeder neuen Generation sinkt die physische Kraft nothwendig um einige Grade tiefer, weil die schwächere der Aufgabe der Amortisation innerhalb der von der Natur gegebenen Zeit noch weniger gewachsen ist, als die stärkere.“36 Vor dem Ersten Weltkrieg zeigte sich ein ökonomisches Phänomen, das uns in den letzten Jahrzehnten in hochentwickelten Industriestaaten immer stärker begleitet, nämlich nicht nur die größer werdende Schere zwischen Armut und Reichtum, sondern auch die zunehmende Lohn- und Wohlstandspreizung zwischen besser und niedrig bezahlten Arbeiterkategorien. Die von Friedrich Engels als beschaulich geschilderte Lage der Hausweber in vorindustrieller Zeit, die es höchstens in Einzelfällen gegeben hat, während die große Mehrzahl Hungerkrisen und Seuchenkatastrophen ausgesetzt war, hatte sich während des 19. Jahrhunderts immer weiter verschlechtert und die Arbeitszeit mit Frau und Kindern war noch wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg teilweise auf 13 bis 16 Stunden täglich gestiegen; trotzdem bestand die Hauptnahrung lediglich aus Brot, Kartoffeln, Heringen und Getreidekaffee – nur an Feier- oder Festtagen gab es etwas Fleisch. „Bei 6 Arbeitstagen betrug die Entlohnung eines Handwebers für Baumwollwaren (Hemdenstoffe, Bettzeuge usw.) 8 – 12 Mark, für Wollwaren bei einer Stuhlbreite von 120 – 180 cm (Stückzeuge, kleine Tücher) 12 – 15 Mark pro Woche, bei einer Stuhlbreite von 180 – 200 cm (größere Tücher 160/160 cm) 18 – 20 Mark pro Woche.“37 Das waren keine Einzel- sondern Familienverdienste, die weit unter denen eines (gelernten) Fabrikarbeiters lagen, obwohl Geschicklichkeit und Tüchtigkeit eines Hauswebers sehr hoch waren. Freilich kam es auch vor, daß besondere Moden oder eine steigende Nachfrage nach bestimmten Stoffen die Weberlöhne ansteigen ließen, aber generell war der Verdienst kläglich. Der deutsche Ökonom und sozialistische Genossenschaftstheoretiker Robert Wilbrandt (1875 – 1954) – der 1899 bei Wilhelm Dilthey über Platos Ideenlehre in der Kritik des Aristoteles promoviert hatte, sich 1904 bei Gustav Schmoller und Max Sehring habilitierte –, wurde 1908 ordentlicher Professor für Volkswirt35 R. Wilbrandt: Die Weber in der Gegenwart (wie Anm. 32), S. 76, zitierte einen Gewerbeinspektor aus Oberfranken: „Schon vom 5. oder 6. Lebensjahre müssen die Kinder vielfach in angestrengtester Weise im Beruf mithelfen. Ohne die Beihilfe der Kinder erscheint in sehr vielen Familien der ohnedies kärgliche Nahrungsstand noch weiter gefährdet und es ist bezeichnend, daß in manchen Orten der Lehrer mitunter um Befreiung vom Schulunterricht gebeten wird, da kein Brot im Hause sei und die Kinder verdienen helfen müßten.“ 36 Ernst Engel: Der Preis der Arbeit, Berlin 1866, S. 69. 37 Karl Schmid: Die Entwicklung der Hofer Baumwoll-Industrie 1432 – 1913, Leipzig/ Erlangen 1913, S. 31.

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schaftslehre und Finanzwissenschaft an der Universität Tübingen. Er schrieb 1906 eine aus vielen Beobachtungen und Untersuchungen hervorgegangene Studie über die Weber, ein „Zurückbleiben der Arbeiter gegenüber dem feenhaften Aufleuchten von Reichtum, Pracht und Luxus der besitzenden, vor allem bei den obersten Zahntausend des Reichtums, ließ die Arbeiterfamilie nach wie vor in relativer Armut, ja relativ in größerer Armut als zuvor. Und eben dieses Relative, der wachsende Abstand von dem, was bei den Besitzenden Leben heißt, wird empfunden. Um auch etwas davon zu erhaschen, will man mehr verdienen; wenn es dem Mann nicht möglich, so die Frau. Und zugleich, trotz aller Hebung, wächst auch jene unterste Schicht mit an, bei der es einfach bittere Not, daß die Frau mitgeht in die Fabrik; jene unterste Schicht wächst mit an als Masse ungelernter Arbeiter und Heimarbeiter, sie wächst mit der Textilindustrie, mit der Verweiblichung ihrer Fabriken, mit der Notwendigkeit für Massen von Männern, als Konkurrenten der Frauen Arbeit zu suchen. Damit wächst die Zahl der Mütter in den Fabriken und der Kinder ohne Mutter.“38 Im sächsischen Eibau waren 1903 in der dortigen Textilfabrik die Hälfte der Frauen über 21 Jahren verheiratet und einige von deren Männern blieben zu Hause, um ein kleines Stück Ackerland zu bestellen und die Kinder zu versorgen. Ein anderer Teil war immer noch als Hausweber mit kümmerlichen Einkünften beschäftigt und das angestrebte Ziel, „die Hausweberei in mechanische Weberei zu überführen und so bei ihrem Gewerbe zu erhalten, [ist] hier im allgemeinen bereits erreicht; die Fabrikarbeit der Mutter ist an die Stelle der Hausweberei getreten“.39 Generell waren die ökonomische Situation und damit auch die Löhne in Webereien und Spinnereien schlechter als etwa die des Maschinenbaus, der Eisen- und Stahl- oder der Elektroindustrie. Schon frühzeitig tauchte in der Weberei das sogenannte „Garnmetzen“ auf, d. h. das Unterschlagen bzw. die Mitnahme von Garn, das man selbst verwebte bzw. verkaufte. Ernst Engel führte diese Unsitte, die er als einen verbotenen Diebstahl bezeichnete, 1866 auf die niedrigen Weberlöhne zurück, deren Folgen, nämlich die Reduzierung von Stück- und Akkordlohn sowie die Infragestellung des Tantiemesystems, von den Unterschlagern nicht erkannt würden: „Schlechte Sitten wirken auf Lohnverminderung, gute auf Lohnerhöhung.“40 Zwei 38 R. Wilbrandt: Die Weber in der Gegenwart (wie Anm. 32), S. 159 (Hervorhebungen im Original). 39 Ebd., S. 126 (Hervorhebung im Original). Die berufliche Unsicherheit von Handwebern aufgrund von saisonalen und modischen Schwankungen, die Lohndrückerei, Frauenund Kinderarbeit begünstigte und auch nicht durch den Einsatz von Elektromotoren beseitigt werden konnte, führte nach Wilbrandt dazu: „Was aber den Übergang der Handweberei in die mechanische Webfabrik zu einem Übergang in verändertes und kaum vermindertes Elend macht, das ist die Konkurrenz der Geschlechter an den mechanischen Webstühlen, aus der ein familienzerstörendes Nebeneinander von Mann und Weib hervorgeht. So setzt sich das alte Weberelend, um so länger im Haus fortvegetierend, auch in der Fabrik wieder fort.“ (S. 22. Im Original ganz hervorgehoben). 40 E. Engel: Der Preis der Arbeit (wie Anm. 36), S. 19. Engel betonte, daß Sparsamkeit, Ordnungsliebe, Reinlichkeit, Pünktlichkeit, Selbstverantwortung und Ehrlichkeit Trieb-

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Tendenzen sind demnach durch die Industrialisierung ausgeprägt worden; zum einen eine starke Lohndifferenzierung zwischen den einzelnen Industrietätigkeiten, zum anderen eine relative Verarmung im Weberhandwerk, was wir heute als Prekariat bezeichnen, wo kinderreiche Familien gezwungen waren, eine schlechtbezahlte Arbeit anzunehmen. Wilbrandt sah für die Hausweber, von denen viele ihre eigenbestimmte Selbständigkeit nicht aufgeben wollten, als möglichen Ausweg: „Das Hausweberproblem hat sich von selbst auf die langsamste und qualvollste Art soweit gelöst, daß jetzt die Gesamtheit etwas tun kann, was sie früher nicht konnte: die noch übrigen Handweber als ‚Gnadenbrot‘ mit Arbeit versehen.“41

B. Revolutionäre oder reaktionäre Zustände? Kommen wir zurück zu der Auseinandersetzung mit Ruge wegen dessen Aufsatz über den Weberaufstand in der Zeitschrift Vorwärts! Marx fackelte nicht lange und stellte die rhetorische Frage: „Ist von einem so unlogischen Kopfe eine Einsicht in soziale Bewegungen zu erwarten?“42 Oder: „Die einzige Aufgabe eines denkenden und wahrheitsliebenden Kopfes, angesichts eines ersten Ausbruchs des schlesischen Arbeiteraufstandes, bestand nicht darin, den Schulmeister dieses Ereignisses zu spielen, sondern vielmehr seinen eigentümlichen Charakter zu studieren. Dazu gehört allerdings einige wissenschaftliche Einsicht und einige Menschenliebe, während zu der andern Operation eine fertige Phraseologie, eingetunkt in eine hohle Selbstliebe, vollständig hinreicht.“43 Das war ungezügelte Polemik, denn den eigentümlichen Charakter bzw. die unvermeidliche Folgerichtigkeit der sich aufbäumenden schlesischen Weber gegen eine von ihnen nicht erkannte Ausweglosigkeit ihres Berufszweiges hat Marx selbst wie auch Gerhart Hauptmann zu keiner Zeit erkannt, weil sie an der Realität wenig interessiert waren und ihren ideologischen Standpunkt vortragen wollten. Doch Marx benutzte kräfte der modernen Industrie seien, während schlechtbezahlte Arbeiter, die vier Tage in der Woche bettelten und Diebstähle begingen, sich selbst schadeten: „Dies ist der tieffste Stand sittlicher Verkommenheit. Daß solche Verhältnisse meist blühende Industrie zum Erliegen gebracht, dafür giebt es Beweise genug.“ (S. 20). 41 R. Wilbrandt: Die Weber in der Gegenwart (wie Anm. 32), S. 189 (Hervorhebung im Original). Wilbrandt faßte aus den Jahresberichten der bayerischen Fabrikinspektion für den Monat Oktober 1904 Einnahmen und detaillierte Ausgaben von acht Weberfamilien zusammen, von denen hier nur zwei kurz betrachtet werden sollen: 1. ein verheirateter Weber mit Frau und vier Kindern in einer Wohnung mit einem Zimmer, einer Kammer, Küche und Holzlege wies ein Familieneinkommen von 118,38 Mark und Ausgaben von 119,38 Mark aus, wovon allein die Ausgaben für Nahrungs- und Genußmittel 76,8 % ausmachten. 2. ein verheirateter Weber mit Frau, drei Kindern und Schwiegermutter in einer Wohnung von zwei Zimmern, Kammer und Küche verdiente 144 Mark – je zur Hälfte von Mann und Frau – und hatte Ausgaben von 137,61 Mark, von denen für Nahrungs- und Genußmittel 58,1 % und für Miete 11,6 % ausgegeben wurden. (Vgl. ebd., S. 160 f.). 42 K. Marx: Kritische Randglossen (wie Anm. 13), S. 394 f. (Hervorhebung im Original). 43 Ebd., S. 405 f. (Hervorhebungen im Original).

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diese Gelegenheit, um sein marxistisches Credo von einer vernichtenden Revolution durch das Proletariat der Rugeschen Behauptung von der Unmöglichkeit einer ‚Sozialrevolution ohne politische Seele‘ entgegenzustellen: „Eine ‚soziale‘ Revolution mit einer politischen Seele ist entweder ein zusammengesetzter Unsinn, wenn der ‚Preuße‘ unter ‚sozialer‘ Revolution eine ‚soziale‘ Revolution im Gegensatz zu einer politischen versteht, und nichtsdestoweniger der sozialen Revolution statt einer sozialen eine politische Seele verleiht. Oder eine ‚soziale Revolution mit einer politischen Seele‘ ist nichts als eine Paraphrase von dem, was man sonst eine ‚politische Revolution‘ oder eine ‚Revolution schlechthin‘ nannte. Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch.“44 Die untergehende Bourgeoisie wird auf eine Ebene mit dem siegreichen Proletariat gesetzt, d. h. beide sind eng miteinander verkoppelt. Man kann nicht gerade behaupten, daß eine solch bittere Abrechnung mit dem Mann, der ihn als Mitherausgeber der Jahrbücher vorgeschlagen und eingestellt hatte, ein großes Maß an Menschenliebe oder Menschlichkeit ausdrückt. Ruge hatte sich in der 1848er Revolution stark engagiert und wurde als Vertreter der radikalen Linken in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt, weswegen er „seit dem 7. Juli 1849 vom vereinigten Criminalamte der Stadt Leipzig wegen aufrührerischer und hochverrätherischer Handlungen steckbrieflich verfolgt“45 wurde. Diese Rücksichtslosigkeit gegenüber Ruge ist bedrückend. selbst dann, wenn man die falschen Auffassungen Marx’ über den Weberaufstand – dem ja bereits ein Aufstand der Seidenweber in Lyon am 21. November 1831 sowie eine republikanische Erhebung ebenda vom 9. bis 14. April 1834 vorangegangen war – teilt. Dieser Aufstand ist ja in der deutschen Geschichtsschreibung fälschlicherweise als ein verurteilungswürdiges Fanal ausbeuterischer Unternehmer interpretiert worden. Marx rechtfertigte seine weitläufigen Ausführungen damit, daß nicht alle Leser die Bildung und die Zeit besäßen, „sich Rechenschaft über solche literarische Scharlatanerie abzulegen“,46 wie sie Ruge geboten habe, der ja vor allem größere Mildtätigkeit forderte, die er den staatlichen Behörden nicht zutraute, Ebd., S. 408 f. (Hervorhebungen im Original). Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen des neunzehnten Jahrhunderts (1854), Berlin 1976, S. 106. Dieser Polizeibericht hat eruiert, daß Ruge zusammen mit Marx Ende April/Anfang Mai 1949 in Hamburg waren, um dortige Arbeiter zu revolutionären Aktionen zu bewegen. Im Juni 1849 war Ruge „mit dem bekannten [Karl] Blind und dem Litteraten Schütz aus Mainz einige Zeit in Paris, wo sich die Drei als außerordentliche Abgesandte der Revolutions-Regierung Badens und der Pfalz bezeichneten, sich indeß den durch die Pariser Ereignisse vom 13. Juni 1849 veranlaßten polizeilichen Nachforschungen durch die Flucht entzogen, während ihre Papiere in die Hände der Pariser Polizei fielen.“ (S. 107, Hervorhebungen im Original). 46 K. Marx: Kritische Randglossen (wie Anm. 13), S. 409. Dort auch das nächste Zitat. Marx schrieb auch: „So vieler Weitläufigkeiten bedurfte es, um das Gewebe von Irrtümern, die sich in eine einzige Zeitungsspalte verstecken, zu zerreißen.“ (Hervorhebungen im Original). 44 45

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während er das Christentum dazu fähig hielt. Scharlatanerie und Windbeutelei sind Vorwürfe, die Arthur Schopenhauer gegenüber vielen deutschen Philosophen, vor allem Hegel, erhoben hat, mit denen man sich aber besser nicht beschäftigen sollte, um mehr Zeit für das intensive Studium der Schriften Immanuel Kants zu erübrigen. Marx hingegen gab Ruge den zweifelhaften Rat, „vorläufig aller Schriftstellerei in politischer und sozialer Hinsicht, wie den Deklamationen über die deutschen Zustände zu entsagen, und vielmehr mit einer gewissenhaften Selbstverständigung über seinen eigenen Zustand zu beginnen“. Was heißt dies konkret? Die richtigen Analysen über die deutschen Zustände muß man einem Revolutionär überlassen, der in politischer und sozialer Hinsicht so radikal ist, daß er sich keine Gewissensbisse über die menschlichen Abgründe zu machen braucht, in die er sich selbst hineinsteuert. Leopold Schwarzschild kommentierte Marx’ verbale Ausfälle und persönliche Ranküne gegenüber Ruge mit der Aussage: „Es gab kein Halten, Marx mußte dieses Reptil zertreten, es totschlagen mit seinem eigenen Geschreibsel.“47 Dagegen reagierte Ruge etwa ein Jahr vorher gelassener und schrieb am 23. November 1843 an seinen „vielgeprüften Freund“ Moritz Fleischer: „Marx hat mehrere Kleinigkeiten im V[orwärts] geschrieben, anonym und ohne Werth, immer in dem alten geschraubten Hegelschen Jargon und mit seinem hohlen Hochmuth.“48 Diese revolutionsschwangere Periode der deutschen Geschichte entfachte gerade in Berliner Regierungskreisen eine panische Angst vor aufrührerischen Bewegungen, die aus Frankreich nach Deutschland überschwappen könnten – wie dies ja bereits 1830 in einigen deutschen Staaten der Fall gewesen war – und die man mit allen Mitteln unterbinden wollte. Dagegen war in England nach der halbherzigen Wahlrechtsreform, die als Reformbill vom König am 7. Juni 1832 bestätigt wurde und unter anderem 56 Ortschaften mit weniger als 2.000 Einwohnern, in denen aber Grundbesitzer wohnten, die Chartistenbewegung aktiv geworden. Gleichzeitig wurde diesen Ortschaften verweigert, Vertreter ins Unterhaus zu entsenden, wogegen die Chartisten ankämpften. Wilhelm Lovett (1800 – 1877) und der radikalere Ire Feargus Edward O’Connor (1796 – 1855) u. a. hatten 1836 die London Workingmen’s Association und zwei Jahre später eine People’s Charter, daher der Name der Bewegung, veröffentlicht. Diese Bewegung wollte die sozialen und politischen Rechte der englischen Arbeiter ausweiten, z. B. das allgemeine und geheime Wahlrecht für Männer. Die People’s Charter wurde am 8. Mai 1838 als Gesetzentwurf ins englische Parlament eingebracht und forderte neben dem Männerwahlrecht jährliche Parlamentswahlen, die Einführung von Abgeordnetendiäten, Aufhebung des Vermögenszensus für Parlamentskandidaten, Neuordnung der Wahlkreise sowie geheime Abstimmungen. Friedrich Engels hatte eine zeitlang dieser Chartistenbewegung nahegestanden, aber dann war sie ihm wohl Leopold Schwarzschild: Der rote Preuße, Stuttgart 1954, S. 122. Arnold Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter aus den Jahren 1825 – 1880, hrsg. von Paul Nerrlich. 1. Bd. (1886). Neudruck Aalen 1985, S. 378 (Hervorhebungen im Original). 47

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nicht revolutionär genug, um sich dauerhaft anzuschließen. Noch von Brüssel aus versuchten Marx und Engels auf die Chartistenbewegung Einfluß zu nehmen, denn das Kommunistische Korrespondenz-Komitee verurteilte in einer Resolution vom 25. März 1846 Thomas Cooper wegen angeblich verleumderischer Ausfälle und verlangten dessen Ausschluß aus der National Chartist Assoziation, während sie Feargus O’Connor am 17. Juli 1846 zu seinem Wahlerfolg in Nottingham beglückwünschten: „Wir freuen uns darüber, daß sich die englischen Arbeiter des veränderten Standes der Parteien, des neuen Stadiums, in das die Agitation der Chartisten mit der endgültigen Niederlage der dritten Partei, der Aristokratie, getreten ist, der führenden Stellung, die der Chartismus von nun an einnehmen wird und einnehmen muß – wenngleich sich die Bourgeoisiepresse auch verschworen hat, ihn totzuschweigen –, und schließlich der neuen Aufgabe, die ihnen durch die neuen Bedingungen gestellt wurde, vollauf bewußt sind.“49 Etwa gleichzeitig mit dieser Bewegung versuchte die freihändlerische Vereinigung der Anti-Corn-Law-League das Verbot der Getreideeinfuhr, d. h. die Korngesetze, aufzuheben, was 1846 durch ein Gesetz durchgeführt wurde und England lange Zeit zum einzigen freihändlerischen Staat der Welt werden ließ. England war zu dieser Zeit tatsächlich ein kapitalistischer Staat, nicht nur weil die Zahl der Industriearbeiter die der Landarbeiter überstieg. Aber wenn Marx 24 Jahre später glaubte, daß die revolutionäre Initiative eigentlich von Frankreich ausgehen würde, doch „allein England als Hebel für eine ernsthafte ökonomische Revolution dienen“50 könne, dann täuschte er sich wie auf so vielen anderen Gebieten. Wenn eine Bevölkerung zum größten Teil aus Lohnarbeitern besteht und Gewerkschaften den Klassenkampf propagieren, dann reicht es ebensowenig aus, um die Kapitalistenklasse zu vernichten, wie die revolutionäre Propaganda der Internationalen Arbeiterassoziation durch markige Worte anzuheizen: „Der Generalrat ist jetzt in der glücklichen Lage, seine Hand direkt auf diesem großen Hebel der proletarischen Revolution zu haben; welche Torheit, ja, man könnte fast sagen, welches Verbrechen wäre es, ihn englischen Händen allein zu überlassen!“ Während Friedrich Wilhelm IV. 1841 in Berlin den Pour le mérite-Orden stiftete, errichtete Lovett in London die National Association for Promoting the Political and Social Improvement of the People und versuchte damit Einfluß auf die englische Politik zu gewinnen. Es ist deshalb eigentümlich, daß der Sozialist Lange noch 1865 die Schulze-Delitzschen Selbsthilfe-Genossenschaften mit den englischen Gewerkschaften als „Arbeiter-Genossenschaften“51 verglich und ihren sozialen Kampf so beschrieb: „Die Vereinigung ist den Trägern der Genossenschafts-Idee kein bloßes

49 Karl Marx/Friedrich Engels: Grußadresse der deutschen demokratischen Kommunisten zu Brüssel an Herrn Feargus O’Connor, in: MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 24 f. 50 Karl Marx: Der Generalrat an den Föderalrat der romanischen Schweiz, in: MEW. Bd. 16, Berlin 1973, S. 386. Dort auch das nächste Zitat (Hervorhebungen im Original). 51 Friedrich Albert Lange: Die Arbeiterfrage (1865). Neudruck Duisburg 1975, S. 139. Dort auch das nächste Zitat.

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Mittel, um Kapital zu bekommen, sondern ein Anfang zur Umgestaltung der bürgerlichen Gesellschaft.“ Zwar wurden auch Chartisten verfolgt und eingesperrt sowie nach Australien verbannt, doch sie richteten weiterhin Petitionen mit Millionen von Unterschriften an das britische Parlament; aber im Revolutionsjahr 1848 verloren sie die Massenunterstützung der Bevölkerung. Der in Berlin geborene Engländer und Chartistenführer Ernest Charles Jones (1819 – 1869), Sohn des militärischen Begleiters Herzog von Cumberland, späterer König Ernst August von Hannover, gab zwar ab 8. Mai 1852 die chartistische Wochenzeitung The People’s Paper heraus, in der Marx eine Serie über „Lord Palmerston“52 veröffentlichte, doch die Bewegung selbst konnte nicht mehr als revolutionäre Organisationsbasis der Arbeiterklasse wiederbelebt werden. Die politische und fabrikinterne Repräsentation wurde immer stärker von den gewerkschaftlichen Trade Unions übernommen, die weniger Revolution propagierten als für die Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter kämpfen wollten, d. h. für Lohnregelungen, Arbeitszeitverkürzungen oder die Organisation von Streiks, obwohl Jones vom 6. bis 18. März 1854 in Manchester ein englisches Arbeiterparlament einberief, zu dem Marx eingeladen wurde, aber daran nicht teilnehmen konnte. Ganz anders stellte sich die politische und ökonomische Lage Mitte der 1840er Jahre in Deutschland bzw. Preußen dar, denn die konservativen und reaktionären Kräfte hatten seit 1815 eine Mitsprache der Bevölkerung an politischen Entscheidungen verhindert und die Ökonomie war in den meisten deutschen Bundesstaaten noch wenig entwickelt und konnte sich in keiner Hinsicht mit der englischen messen. Eine bedeutungsvolle Veränderung stellte die Eröffnung der ersten, sechs Kilometer langen und privat finanzierten Eisenbahnlinie von Nürnberg nach Fürth am 7. Dezember 1835 dar, der innerhalb der nächsten zehn Jahre ein regelrechter Eisenbahnbauboom folgte. Deswegen wird der spätere Eisenbahnbau auch als Führungssektor der deutschen Industrialisierung angesehen wie die Baumwollindustrie für England. Zwar waren die Bau- und Unterhaltskosten für längere Eisenbahnstrecken so hoch, daß immer mehr Staatsregierungen angefangene Bahnlinien übernahmen oder ihr Eisenbahnnetz auf eigene Kosten bauen ließen, doch noch immer gab es Vorbehalte gegenüber dem Eisenbahnverkehr, nicht nur weil Preußen zwischen 1816 und 1831 insgesamt 482,2 Meilen Staatsstraßen neu bauen ließ. Die anfänglich restriktive Eisenbahnpolitik Preußens hatte sich nach den enormen Ausgaben für den Chausseebau ebenfalls gewandelt, weil man befürchtete, daß der Handel umgeleitet werden könnte, aber der Preußenkönig war kein ausgesprochener Freund des Eisenbahnbaus. Friedrich Wilhelm III. soll gesagt haben: „Unser Zeitalter liebt den Dampf; alles soll Karriere gehen. Die Ruhe und Gemütlichkeit 52 Vgl. Karl Marx: Lord Palmerston, in: MEW. Bd. 9, Berlin 1970, S. 353 – 418. Marx äußerte sich in einem Brief an Engels vom 13. Februar 1855 nicht gerade freundlich über Jones: „Bei aller Energie, Ausdauer und Tätigkeit, die man an Jones anerkennen muß, verdirbt er alles durch Marktschreierei, taktloses Haschen nach Agitationsprätexten und Unruhe, die Zeit zu überspringen.“ (MEW. Bd. 28, Berlin 1973, S. 435).

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leidet aber darunter. Kann mir keine große Freude davon versprechen, ein paar Stunden früher in Berlin oder in Potsdam zu sein.“53 Es war auch gar nicht absehbar, daß der Eisenbahnverkehr nicht nur eine äußerst lukrative Kapitalanlage darstellte, sondern daß in verschiedenen deutschen Staaten Lokomotivenfabriken entstanden, die nach einigen Jahrzehnten über den einheimischen Bedarf hinaus Lokomotiven produzierten, die exportiert werden konnten. Auch einige deutsche Unternehmer reihten sich um 1840 in diesen erzkonservativen Chor der Verhinderung von Arbeiterrechten ein, weil sie befürchteten, daß gewerkschaftliche Organisationen ihre unternehmerische Autorität untergraben könnten: „Herrscht in unserem Deutschland nicht die selbstvernichtende Manie der Arbeiterverbindungen zur gezwungenen Erhöhung des Arbeitslohnes und Einstellung der Arbeit, die nur aus einem krankhaften Zustand der Gesellschaft, aus einer Ueberreizung der Fabrikindustrie, im Gegensatze zur gemeinen Gewerb- und Agrikulturthätigkeit hervorgehen kann, von der wir in unserem Deutschland, dessen Volkszustände von ausländischen und einheimischen sogenannten Volksbeglückern häufig angefeindet und verballhornirt werden, gottlob! noch nichts wissen.“54 Ein nicht politisch motiviertes Attentat auf den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. – der zwar künstlerisch und wissenschaftlich interessiert war und die Demagogenverfolgung beendet hatte, aber als romantischer Monarch am Gottesgnadentum und einem restaurativen Ständestaat festhalten wollte – wurde am 26. Juli 1844 von einem abgedankten Soldaten verübt. Im Pariser Vorwärts!, der ohnehin in vielen deutschen Staaten verboten war, wurde dieser Vorfall dazu benutzt, den Wunsch nach einem geschickteren Schützen auszusprechen, worauf die preußische Regierung diplomatisch in Frankreichs Hauptstadt vorstellig wurde. Das war schon ungewöhnlich genug, denn es bedeutete ja eigentlich eine Einmischung in innere Angelegenheiten der französischen Behörden bzw. des Staates, doch der Ministerrat erklärte sich bereit, gegen den Vorwärts! einzuschreiten. Eine deutsche Zeitung mit deutschen Redakteuren auf französischem Territorium war ohnehin eine Provokation, weshalb man wegen angeblich unzureichender Kautionsleistung gegen sie vorging und einige Schreiber beschuldigte, zum Königsmord angestiftet zu haben und sie strafrechtlich verfolgte. Die preußische Regierung in ihrem Verfolgungswahn verlangte das Verbot der Zeitung, worauf die französische Regierung offenbar keinen anderen Ausweg mehr sah, als den verantwortlichen Redakteur, Kurt Ludwig Bernays (1815 – 1876), wegen angeblich nicht entrichteter Steuerschulden drei Monate ins Gefängnis zu werfen und ihn zu 300 Francs Geldstrafe verurteilte. Darauf wandelte sich die Zeitung in eine Monatsschrift um, für die keine Steuern erhoben wurden. Schließlich erbot sich nach monatelangen Verhandlungen über eine angemessene Lösung der französische Außenminister François Guizot (1787 – 1874), alle nichtnaturalisierten Ausländer, die jemals etwas 53 Zitiert von Friedrich R. Paulig: Friedrich Wilhelm III. 2. Aufl. Frankfurt a. O. 1905, S. 325 f. 54 Friedrich Georg Wieck: Industrielle Zustände Sachsens, Chemnitz 1840, S. 82 (Hervorhebungen im Original).

B. Revolutionäre oder reaktionäre Zustände?

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in dieser Zeitschrift veröffentlicht hatten, ausweisen zu lassen, was durch einen Beschluß der französischen Behörden vom 16. Januar 1845 bestätigt wurde. Die französische liberté war zwar noch in der französischen Politik vorhanden, wie die großzügige Aufnahme von politischen Flüchtlingen belegt, aber mit einem aufstrebenden Staat wie Preußen wollte man allzu starke Verstimmungen nicht provozieren, nachdem die preußische Armee sich im Krieg gegen Napoleon I. schließlich als siegreich erwiesen hatte. Diese Interventionen ereigneten sich in der Regierungszeit des zunehmend konservativen ‚Bürgerkönigs‘ Louis Philipp (1773 – 1850), auf den 1835 ja ebenfalls ein Attentat verübt worden war, der sich innenpolitisch auf das liberale Großbürgertum stützte, aber immer stärker unter politischen Druck geriet, eine Wahlrechts- und Parlamentsreform durchzuführen. Obwohl Guizot die Bestrebungen zur Ausweitung des Wahlrechts ablehnte, kann es die französische Regierung mit dem Ausweisungsbeschluß vom 16. Januar 1845 nicht ganz ernst gemeint haben, denn auch Bakunin, Bürgers, Heine, Ruge u. a. wurde diese Ausweisungsorder zugestellt, aber sie vertrauten auf die französische Toleranz und blieben in Paris. Einige französische Zeitschriften protestierten gegen diese Maßnahme und setzten dadurch die französische Regierung unter öffentlichen Druck, wenn dies überhaupt in diesem revolutionsbegeisternden Land nötig gewesen ist. Schließlich konnte man auf die gemäßigte Regierung, das Juste-milieu, des französischen Königs vertrauen, obwohl Guizot ein gutes Verhältnis mit den Nachbarstaaten anstrebte und an politischen Verwerfungen mit dem nördlichen Nachbarn keineswegs interessiert war. Der radikalisierte Marx hingegen wollte sich einer angeblich brutalen bourgeoisen Regierung in dem Land, das ihm jahrelang Zuflucht gewährt hatte, nicht beugen. Deshalb verfügte die Pariser Polizei im Januar 1845, daß er innerhalb von vier Wochen Frankreich verlassen müsse, dem er am 3. Februar 1845 nachkam und Paris verließ. Es entspricht also nicht der historischen Wahrheit, wenn Rolf Hosfeld behauptet, daß Guizot Heines „internationalem Renommee als europäischer Schriftsteller Respekt“55 zollte und ihn nicht auswies, während Marx gehen mußte. Im gärenden französischen revolutionären Boden konnte sich der angehende Revolutionsfanatiker also nicht einwurzeln, auch wenn er mit dem späteren Barrikadenkämpfer Richard Wagner nicht mehr zusammentreffen konnte, der schon 1842 ebenfalls äußerst enttäuscht Paris in Richtung Dresden verlassen hatte. Am 2. Februar 1845 siedelte Marx, zusammen mit dem Vorwärts!-Journalisten Johann Heinrich Georg Bürgers, gezwungenermaßen mit seiner dreiköpfigen Familie von Paris nach Brüssel über und bezog Anfang Mai eine Wohnung in der Rue de l’Alliance Nr. 5. Jenny war noch eine zeitlang bei Emma und Georg Herwegh in Paris geblieben, um den Haushalt aufzulösen und abzuwarten, bis ihr Mann eine Bleibe gefunden hatte. Die überstürzte Flucht aus Paris wäre offenbar nicht zwingend notwendig gewesen, erhielt aber einen dramatischen Anstrich, den Marx 55 Rolf Hosfeld: Karl Marx, München/Zürich 2010, S. 80. Unzutreffend ist auch die Ansicht von Wolfgang Wippermann: Der Wiedergänger, Wien 2008, S. 27, daß Marx wegen eines kritischen Artikels im Vorwärts ausgewiesen wurde.

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während seines ganzen Lebens so gerne zur Schau trug. Denn der sozialistische Publizist Karl Theodor Ferdinand Grün (1817 – 1887), den Marx in seinem ersten Studienjahr in Bonn in einem polizeilich überwachten studentischen Poetenbund kennengelernt hatte und der ebenfalls in Paris lebte, hatte Marx damals kritisiert, daß er keinerlei Anstrengungen unternommen habe, seine Ausweisung annullieren zu lassen. Dies wäre offenbar ebenso einfach möglich gewesen, wie dies bei den deutschstämmigen Heine und Ruge der Fall war; letzterer war ja gleichzeitig mit Marx nach Paris gekommen und hatte ebenfalls in der den Ausweisungsbeschluß auslösenden Zeitschrift Vorwärts! publiziert. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß Marx und Engels Grün in den folgenden Jahren nicht sehr grün waren, wie folgende Episode zeigt, die in der marxistischen Literatur entweder übergangen oder beschönigt wird. Als Engels eineinhalb Jahre später, am 15. August 1846, nach Paris ging, um dort den sogenannten wissenschaftlichen Kommunismus unter die Arbeiter des Bundes der Gerechten zu bringen, propagierte Karl Grün – „der Übersetzer Proudhons, machte lebhafte Propaganda für dessen Evangelium“56 des Eigentums als Diebstahl und gegen kommunistische Vereine – auf diesen Versammlungen ebenfalls sozialistische Ideen eines Weitlingschen Arbeiterkommunismus. Engels, der Grüns Kritik an Marx kannte, bezichtigte ihn wohl deshalb in einem Brief an seinen kommunistischen Mitstreiter vom 19. August 1846, „durch ein abwechselnd kriechendes, abwechselnd hochfahrendes Betragen … die Arbeiter um ca. 300 fr. beschissen“57 zu haben. Grün hatte nämlich ein Buch, Die soziale Bewegung in Frankreich und Belgien, Darmstadt 1845, veröffentlicht, während Marx selbst über den ausländischen Sozialismus Abhandlungen verfassen wollte. „Es war also schmutziger Konkurrenzneid, der Marx Grün hassen liess.“58 Den leisesten Hauch einer gerechten Beurteilung kann man von fanatischen Revolutionären offenbar nicht erwarten, noch dazu, wenn sie rechtmäßig kritisiert werden. Und der Vorwurf eines wissentlichen Betruges der hochgeschätzten Arbeiter mußte unter Kommunisten einer Majestätsbeleidung entsprochen haben.

C. Marx’ Exil in Belgien Die nervenzehrende Wanderschaft durch einige europäische Staaten scheint Marx nicht besonders belastet zu haben, auch wenn seine mehrmals schwangere Frau und Lenchen Demuth einen ständigen Wohnsitz sicher vorgezogen hätten. Nach der Marxschen Übersiedelung am 2. Februar 1845 blieb die belgische Polizei nicht untätig und eröffnete am 22. Mai dem ausgewiesenen Literaten und politischen Agitator, daß er zwar keiner Zensur unterliege, sich aber verpflichten müsse, nichts über die innere belgische Tagespolitik zu veröffentlichen, wenn Stephan Born: Erinnerungen eines Achtundvierzigers (1898), Berlin/Bonn 1978, S. 24. MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 32. 58 Pierre Ramus (Rudolf Großmann): Kritische Beiträge zur Charakteristik von Karl Marx, Berlin 1906, S. 23. 56 57

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er eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen wolle, was Marx wohl oder übel akzeptierte. An den belgischen König Leopold I. hatte Marx fünf Tage nach seiner Ankunft um eine Aufenthaltserlaubnis nachgesucht, aber keine Auskunft erhalten, doch der belgische Justizminister wies die Polizeiverwaltung an, Marx als „gefährlichen Demokraten und Kommunisten“!59 zu beaufsichtigen. Trotzdem wurde er politisch ungewöhnlich aktiv, wenn auch nicht besonders erfolgreich, indem er sich zusammen mit Engels seit Anfang 1846 durch das Kommunistische Korrespondenz-Komitee, mit dem er eigentlich erstmals praktische Politik betrieb, ein internationales Netz aufzubauen versuchte, wodurch kommunistische Gedanken verbreitet werden sollten. Es fanden regelmäßig, teilweise geheime, Treffen mit nach Belgien emigrierten Männern statt, wie den Deutschen Stephan Born, Ferdinand Freiligrath, Karl Heinzen, Hermann Kriege, Karl Gustav Maynz, Sebastian Seiler, Georg Weerth, Edgar von Westphalen, Joseph Weydemeyer oder Wilhelm Wolff, dem polnischen Historiker Ignacy Lelewel, aber auch mit Belgiern, wie Philippe-Charles Gigot oder Lucien-Léopold Jottrand. Ob Brüssel allerdings „einen ruhenden Pol und ein Mekka für eine große Zahl von ernsthaften Geistern, die am Kommunismus interessiert waren“,60 bildete, mag eher bezweifelt werden. Marx vermutete allerdings, teilweise zu Recht, daß hinter allen diesen politischen Intrigen die preußische Regierung steckte, weshalb er es für angemessen ansah, seinen sofortigen Austritt aus dem preußischen Staatsverband zu beantragen, der ihm auch prompt bewilligt wurde. Extreme Gesten und fanatische Handlungen, die auf eingebildeten Bedrohungen beruhen, erscheinen Revolutionären besonders angemessen, auch wenn sie später einsehen müssen, daß die unbeabsichtigten Folgen unangenehm und unerwünscht sind, was Marx mehrmals erlebte. An den Landrat und Trierer Oberbürgermeister Franz Damian Görtz schrieb Marx am 17. Oktober 1845 wegen seiner Entlassung aus dem „Königl. Preuß. Untertanenverband“, daß er darum bitte, „von der kgl. hochlöblichen Regierung zu Trier mir einen Auswanderungsschein nach den Vereinigten Nordamerikanischen Staaten auswirken zu wollen“!61 In die USA auszuwandern, was in dieser Zeit viele Deutsche taten, wäre für Marx völlig illusorisch gewesen, denn dort hätte er gar keine revolutionären Aktivitäten entfalten können, weshalb man nur annehmen kann, daß dies ein allgemein verständlicher Vorwand war, da es zu dieser Zeit Auswanderungsvereine gab, die vielen Deutschen bei der Übersiedelung nach Nord- und Südamerika behilflich waren.62 Seine Geburtsstadt 59 Zitiert von Auguste Cornu: Karl Marx und Friedrich Engels. 3. Bd., Berlin/Weimar 1968, S. 149. 60 So Otto Rühle: Karl Marx (1928), Haarlem 1974, S. 149. 61 MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 602. 62 In London hat sich Marx später intensiv mit der amerikanischen Geschichte beschäftigt, aber er ist zu keiner realistischen Einschätzung gelangt, weil er die durch Abraham Lincoln durchgesetzte Befreiung der amerikanischen Sklaven im Bürgerkrieg als den Beginn einer revolutionären Arbeiterschaft in den USA ansah: „Euch denn fällt die glorreiche Aufgabe anheim, der Welt zu beweisen, daß jetzt endlich die Arbeiterklasse den Schauplatz

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erfüllte ihm diesen Wunsch, doch in späteren Jahren, als er diese übereilte Spontanreaktion offenbar bereute, versuchte Marx mehrere Male mit großer Intensität, in Deutschland oder in Preußen eingebürgert zu werden, was allerdings nicht gelang und ihn sein ganzes Leben zu einem Staatenlosen machte, weil er auch in England nicht eingebürgert wurde. Als Engels von der Anfang Februar erfolgten Ausweisung aus Frankreich erfuhr, teilte er Marx am 22. Februar 1845 aus Barmen mit, daß er es für nötig gehalten habe, „gleich eine Subskription zu eröffnen, um die Dir dadurch verursachten Extrakosten auf uns alle kommunistisch zu repartieren“,63 d. h. Geld zu sammeln bei Barmer und Elberfelder Kommunisten, damit Marx nicht darben mußte. Ein Goldesel wie der Bayernkönig Ludwig II., den der Pseudorevolutionär Richard Wagner sei 1864 um Millionenbeträge schröpfte, stand Marx nicht zur Verfügung,64 d. h. er mußte sich auf die Mildtätigkeit seiner kommunistischen Genossen verlassen. Engels war nämlich selbst durch seine fast ununterbrochenen kommunistischen Aktivitäten in eine prekäre finanzielle Situation geraten, weil sein Vater nicht länger bereit war, diese unternehmensfremden Tätigkeiten seines Sohnes zu tolerieren, die dessen Konzentration auf die beruflichen Aufgaben zweifellos beeinträchtigten, wie Engels Marx am 17. März 1845 aus Barmen schrieb: „Ich lebe Dir jetzt ein wahres Hundeleben. Durch die Versammlungsgeschichten und die ‚Liederlichkeit‘ mehrerer unsrer hiesigen Kommunisten, mit denen ich natürlich umgehe, ist der ganze religiöse Fanatismus meines Alten wieder erweckt, durch meine Erklärung, den Schacher definitiv dranzugeben, gesteigert – und durch mein offnes Auftreten als Kommunist hat sich nebenbei noch ein glänzender Bourgeoisfanatismus in ihm entwickelt … Ich kann nicht essen, trinken, schlafen, keinen Furz lassen oder dasselbe vermaledeite Kindergottesgesicht steht mir vor der Nase. Ich mag ausgehen oder zuhause bleiben, stillschweigen oder sprechen, lesen oder schreiben, lachen oder nicht, ich mag tun, was ich will, gleich setzt mein Alter diese infame Fratze auf … Es ist rein zum Tollwerden. Von der Malice dieser christlichen Hetzjagd nach meiner ‚Seele‘ hast Du keine Ahnung.“65 Engels’ Vater, dem die katholische Religion sehr viel bedeutete, hatte wahrscheinlich andere Erwartungen an die berufliche Karriere seines Sohnes geknüpft als vorher der Vater von Marx, als ihn als kapitalismusfeindlichen Revolutionär enden zu sehen, der den ‚Bourgeoisfanatismus‘ noch fanatischer bekämpfen und den Kapitalismus vernichten wollte, der Geschichte nicht länger als abhängiges Gefolge betritt, sondern als selbständige Macht, die sich ihrer eigenen Verantwortlichkeit bewußt und imstande ist, Frieden zu gebieten, wo diejenigen, die ihre Herren sein wollen, Krieg schreien.“ (Karl Marx: Adresse an die Nationale Arbeiterunion der Vereinigten Staaten, in: MEW. Bd. 16, Berlin 1973, S. 356 f.). 63 MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 19. Dort heißt es weiter: „Die Hunde sollen wenigstens das Pläsier nicht haben, Dich durch ihre Infamie in pekuniäre Verlegenheit zu bringen. Daß man Dich gezwungen hat, die Hausmiete für die Zukunft noch zu bezahlen, ist doch die Krone der Scheußlichkeit. Ich fürchte aber, man wird Dich am Ende in Belgien auch molestieren, so daß Dir zuletzt nur England übrigbleibt.“ Welch richtige Einschätzung! 64 Vgl. Hubert Kiesewetter: Von Richard Wagner zu Adolf Hitler, Berlin 2015, S. 73 ff. 65 MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 26 f.

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dem sein Vater seinen Reichtum verdankte. Die väterlichen Erwartungen wurden jedoch gleichermaßen getäuscht, auch wenn Marx’ Vater die revolutionäre Kehre seines Sohnes nicht mehr erlebte und Engels’ Vater vielleicht hoffte, daß die Tätigkeit in Manchester seinen Sohn ‚zur Vernunft‘ bringen würde. Während dieser Zeit ging es vordringlich um eine finanzielle Versorgung des einkommenslosen Marx in Brüssel, der vom 3. Mai 1845 bis 7. Mai 1846 in der Rue de l’Alliance 5 wohnte, danach zum Ste-Gudule-Platz und in die Rue d’Orléans Nr. 42 zog; insgesamt war er mehr als drei Jahre in der belgischen Hauptstadt, dem ökonomischen Zentrum eines bereits durch Kohlen-, Maschinen- und Textilindustrie hochentwickelten Staates. Marx entwickelte vielfältige Aktivitäten, doch er fand noch keine Muße, sich mit den ebenfalls in Brüssel lebenden utopischen Sozialisten zu befassen, die sich an den Italiener Filippo Michele Buonarotti (1761 – 1837) anlehnten, der von 1815 bis 1830 in Brüssel lebte und für eine radikal-demokratische Gesellschaft eintrat. Eine Demokratische Gesellschaft (Association démocratique) konstituierte sich in Brüssel am 7. November 1847; zum Vorsitzenden wurde der belgische Rechtsanwalt Lucien-Léopold Jottrand, zum Ehrenvorsitzenden General François Mellinet und zu Vizepräsidenten der französische Sozialist Jacques Imbert und auf Vorschlag von Engels Karl Marx gewählt.66 Diese Gesellschaft versuchte zwar ein internationales sozialistisches Netzwerk zu knüpfen, aber da sie keine revolutionären Absichten verfolgte, war das Interesse von Marx und Engels an ihr eher gering, weshalb Marx am 22. Februar 1848 das Amt des Vizepräsidenten vorübergehend niederlegte. Die kommunistischen Klingelbeutel waren jedoch niemals so prall gefüllt, daß Marx sich und seine Familie – in Brüssel wurden die Tochter Laura am 26. September 1845 und der Sohn Edgar am 3. Februar 1847 geboren – damit längere Zeit ernähren konnte, weswegen auch in der belgischen Hauptstadt finanzielle Engpässe auftraten. Engels war jedoch in fast engelhafter Güte bereit, das Honorar für die englische Ausgabe der Lage der arbeitenden Klasse in England an Marx abzutreten, das „ich hoffentlich bald wenigstens teilweise ausbezahlt bekomme und für den Augenblick entbehren kann, da mein Alter mir pumpen muß, Dir mit dem größten Vergnügen zur Disposition steht“,67 damit Marx und seine adelige Frau nicht hungern mußten. Und schließlich begab sich Engels nach Brüssel, um dem scheinbar niedergeschlagenen und fast hungernden Marx tröstend zur Seite zu stehen, damit er wenigstens seinen revolutionären Mut nicht verlöre. Er bezog im Sommer 1845 sogar neben Marx in der Rue d’Alliance eine Wohnung, doch er erlebte eine Überraschung, die er sich wohl nicht in seinen kühnsten Träumen vorgestellt hätte. Marx hatte nämlich in seiner bourgeoisen Abgeschiedenheit eine gedank-

66 Engels hatte am 30. September 1847 Lucien Jottrand geschrieben, daß Marx den größten Anspruch darauf habe, „in der Kommission die deutsche Demokratie zu vertreten“. (Ebd., S. 469). 67 Ebd., S. 19.

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liche Rohfassung des Manifests der Kommunistischen Partei,68 „eines der bedeutsamsten programmatischen Dokumente des wissenschaftlichen Kommunismus“,69 entworfen. Noch 40 Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe des Manifest – also fast fünf Jahre nach dem Tod von Karl Marx – schrieb Engels in der Vorrede zur englischen Ausgabe 1888: „Als ich aber im Frühjahr 1845 Marx in Brüssel wiedertraf, hatte er ihn [den Gedanken, daß die ganze Geschichte der Menschheit eine Geschichte von Klassenkämpfen gewesen ist, H.K.] fertig ausgearbeitet“.70 Nach einer Eingewöhnungszeit begannen Marx und Engels in Brüssel politisch tätig zu werden, indem sie Anfang 1846 eine Parteiorganisation aufzubauen sich bemühten, die sie verschleiernd Kommunistisches Korrespondenz-Komitee nannten, wofür sie den belgischen Kommunisten Philippe-Charles Gigot gewinnen konnten. In Form von lithographierten Schreiben wurden die wichtigsten Ergebnisse der Versammlungen verbreitet und um Geldspenden für die revolutionäre Propaganda gebeten. Ziel dieser Organisation sollte es sein, Kommunisten aus verschiedenen Ländern zur Zusammenarbeit für die Gründung einer internationalen Partei zu gewinnen bzw. sich gegenseitig über die sozialistischen Bewegungen zu informieren oder, wie Marx an Pierre Joseph Proudhon am 5. Mai 1846 schrieb, „um sich der nationalen Beschränktheit zu entledigen“.71 In London wurde durch George Julian Harney, der Sekretär der Gesellschaft Fraternal Democrats war, Heinrich Bauer, Joseph Moll und Karl Schapper, der dem dortigen Deutschen Bildungsverein für Arbeiter vorstand, eine Verbindung mit dem linken Flügel der Chartisten vorbereitet und angestrebt. In Deutschland wurden in verschiedenen Städten, wie Köln, Elberfeld oder Kiel, Kommunisten wie Roland Daniels, Heinrich Bürgers, Louis Heilberg, Gustav Adolph Köttgen, Stephan Naut, Sebastian Seiler, Georg Weber, Joseph Weydemeyer und Wilhelm Wolff zur Mitarbeit angeschrieben. An G. A. Köttgen in Elberfeld, der vergeblich versucht hatte, sozialistische und kommunistische Sympathisanten zusammenzuführen, schrieben Marx und Engels am 15. Juni 1846, daß regelmäßige Zusammenkünfte von Kommunisten sowie die Verbreitung von Schriften und Broschüren nützlich seien, aber ein kommunistischer Kongreß noch nicht stattfinden sollte: „Erst wenn sich in ganz Deutschland kommunistische Vereine gebildet und Mittel zur Aktion zusammengebracht haben, können die Deputierten der einzelnen Vereine mit Aussicht auf Erfolg zu einem Kongreß zusammentreten.“72 Französische Sozialisten wurden ebenfalls ange68 Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (1848), in Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 4, Berlin 1971, S. 459 – 493. 69 So in MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 648, Anm. 297. 70 Ebd., S. 581. 71 MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 442 (Hervorhebung im Original). Diese Zwecksympathie hielt nicht lange an, denn am 11. September 1867 schrieb Marx an Engels in Manchester: „Diesen Eseln von Proudhonisten werde ich persönlich auf dem nächsten Kongreß zu Brüssel den Garaus machen.“ (MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 342). 72 Karl Marx/Friedrich Engels: [Brief des Brüsseler kommunistischen Korrespondenz-Komitees an G. A. Köttgen], in: MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 21.

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schrieben, z. B. Étienne Cabet und Pierre Joseph Proudhon, weil wir dort „keinen besseren Korrespondenten finden können als Sie“,73 aber ihr Interesse war gering und deshalb scheiterte dieser Versuch. Deshalb gründete Hermann Ewerbeck vom Bund der Gerechten ein Korrespondenzkomitee in Paris. Die Versammlungen des Brüsseler Korrespondenzkomitees waren halb öffentlich, halb konspirativ, um die belgische Polizei nicht aufzuschrecken, weshalb am 30. März 1846 wohl auch der liberale russische Schriftsteller Pawel Wassiljewitsch Annenkow von Marx eingeladen wurde. So verstrich die Zeit in Brüssel mit politischen Aktivitäten zur Gründung einer kommunistischen Partei, die allerdings erst Ende 1847 konkretere Formen annahm. Die eigentliche Abfassung des Manifests der Kommunistischen Partei beruhte allerdings auf einer Initiative englischer Kommunisten, aber Engels hatte am 23. November 1847 aus Paris an Marx in Brüssel geschrieben: „Überleg Dir doch das Glaubensbekenntnis etwas. Ich glaube, wir tun am besten, wir lassen die Katechismusform weg und titulieren das Ding: Kommunistisches Manifest.“74 Der Bund der Kommunisten in London erteilte Marx nämlich Anfang Dezember 1847 während des zweiten Kongresses, der vom 29. November bis 8. Dezember stattfand und an dem Delegierte aus Belgien, England, Frankreich und der Schweiz teilnahmen, den Auftrag, ein Manifest auszuarbeiten und es bis 1. Februar 1848 abzuliefern, was nur unzureichend gelang.75 Die Londoner Zentralbehörde richtete am 24. Januar 1848 ein dringliches Ersuchen an die Kreisbehörde in Brüssel, daß bei weiterer Verzögerung der Fertigstellung des Manifests Maßregeln gegen Marx, der propagandistisch und mit Reden bzw. Vorträgen beim Deutschen Arbeiterverein stark beansprucht war, ergriffen werden müßten. Wie wir auch immer Marx’ menschliches Verhalten beurteilen, so ist es doch erstaunlich, unter welchen widrigen Bedingungen er an seinem theoretischen Gebäude und seinen politischen Plänen weiterarbeitete – nur durch rücksichtslosen Fanatismus scheint dies möglich, auch wenn seine unsystematische Arbeitsweise sich auch hier wieder zeigte. Der marxistische Historiker und von 1963 bis 1991 Mitarbeiter des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED in Berlin sowie Professor für Geschichte der Arbeiterbewegung, Martin Hundt, schrieb 1985 über das Manifest: „Nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution eroberte sich das ‚Manifest‘ ein noch unvergleichlich größeres internationales Terrain und ist heute in nahezu alle Sprachen übersetzt, von Dutzenden Millionen Kommunisten in allen Ländern als eine Grundlage ihrer Tätigkeit beachtet; vor allem aber – im täglichen Leben der sozialistischen Staaten gewinnen die Ideen des ‚Kommunistischen Manifestes‘ in revolutionär wachsendem Maße praktische, unwiderlegliche Realität.“76 Eine solche Aussage ist nicht nur erstaunlich, sondern widerspricht eigentlich jedem 73 74 75 76

MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 443 (Brief von Marx an Proudhon vom 5. Mai 1846). Ebd., S. 107 (Hervorhebung im Original). Vgl. Martin Hundt: Wie das „Manifest“ entstand (1973). 2. Aufl. Berlin 1985, S. 96 ff. Ebd., S. 104.

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gesunden Menschenverstand, denn ein Wissenschaftler müßte eigentlich erkennen, wenn er nicht vollständig ideologisch verblendet ist, daß die Idee von die ganze Geschichte beherrschenden Klassenkämpfen ein reines Hirngespinst ist. Denn neben Klassenkämpfen bzw. Kriegen, die es natürlich gegeben hat, gab es auch Friedenszeiten, Friedensbemühungen, Kulturschöpfungen, von Perioden ausgesprochener Menschlichkeit und das Bemühen, Menschen aufzuklären und sie von theologischen Ideologemen zu befreien. Doch die neue Epoche der Weltgeschichte, die mit dem Geschützdonner des Panzerkreuzers Aurora am 7. November 1917 begann, ließ Millionen von Marxisten und Kommunisten in einen Freudentaumel ausbrechen: „Geführt von der marxistisch-leninistischen Partei der Bolschewiki und handelnd nach den Lehren von Marx, Engels und Lenin, stürzten die russischen Arbeiter, Bauern und Soldaten die Herrschaft der Kapitalisten und Gutsbesitzer und errichteten die politische Macht der Arbeiterklasse.“77 Schon am 20. Juli 1851 hatten die Mitglieder des Bundes der Kommunisten, Cherval, Reininger und Uebel, aus Paris an den Bundesbruder, den Schneidermeister Joseph Gipperich in Valenciennes, geschrieben, daß man sich für die bevorstehende Revolution wappnen und rechtzeitig eine beträchtliche Armee zusammentrommeln müsse: „Dann werden wir immer vorwärts marschiren, und immer stärker werdend, drängen wir gegen Osten, über Berge und Flüsse, und der deutsche Arbeiter wird die ersten rothen Fahnen auf den Thürmen Moskaus aufstecken.“78 Die begeisternde Idee einer proletarischen Weltrevolution und des verheerenden Untergangs des Kapitalismus spukte in den radikalen Köpfen von Kommunisten seit dem Kommunistischen Manifest und konnte auch durch ständige Widerlegungen nicht beseitigt werden. Ein längeres Zitat aus einem Schreiben von Kommunisten aus Paris vom 31. August 1851 an die ‚Brüder‘ in Straßburg mag dies belegen: „Die Herrschaft der Proletarier, das ist die Frage der Zeit, gegen welche alle anderen Meinungen und politische Fragen erblassen, wie Sterne vor dem Glanz der allmächtigen Sonne. Es hängt nur von uns ab, diese Herrschaft bald kommen zu sehen, oder uns von Neuem unter das Joch beugen zu lassen, und noch lange Zeit Sclaven des Kapitals zu bleiben. Wartet deshalb mit Festigkeit und Muth; dauert aus in diesem einzigen Princip: Herrschaft der Arbeiter. Bewahret in Eurem Herzen die heilige Flamme, damit sie daselbst ewig lebe. Sie möge das ganze Weltall entzünden, wie ein ungeheurer Brand, sie sei roth wie das Feuer, roth wie das reine Proletarierblut, 77 So Karl-Heinz Mahlert: Vorwort, in: Karl Marx und Friedrich Engels (1978). 3. Aufl. Berlin 1983, S. 11. Schließlich hatten Marx und Engels in der Vorrede zur russischen Ausgabe des Manifests am 21. Januar 1882 geschrieben: „Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so daß beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Grundeigentum an Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.“ (MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 576). 78 Zitiert von Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen des neunzehnten Jahrhunderts (1853), Berlin 1976, S. 93. Im 2. Teil dieses Polizeiberichts von 1854 wird erwähnt, daß Gipperich im September 1851 in Straßburg verhaftet wurde und „im Februar 1852 von den Assisen zu Paris zu 8 Jahr Gefängniß verurtheilt“ (S. 52) worden war, aber entflohen und nach London gegangen sei.

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das in Euren Adern fließt; die rothe Fahne soll Euch also führen, diese heilige rothe Farbe der Menschheit, sie soll Euch führen in Eurem Traume wie im Wachen, als neuer Jehova, in der Wüste der verfluchten gegenwärtigen Gesellschaft. Die rothe Flamme im Sinne, denket, wachet, handelt, redet ohne Unterlaß, aller Orten; seid die neuen Jesuiten unseres Prinzips, klug wie die Schlangen, und einfach wie die Tauben. Seid unersättlich in Eurem Hasse und in Eurer Rache, wie die Tigerin, der man ihre Jungen geraubt. Unterwühlet, zerstöret, unterdrücket, vernichtet bis zum letzten Keime die Herrschaft des Kapitals. Alle sollen sich unter dieser Fahne sammeln, und wie einstens die Türken die halbe Welt eroberten mit dem Rufe: Es giebt nur Einen Gott, und Mahomed ist sein Prophet, so wollen wir uns mit fanatischer Wuth auf die Wege der neuen Revolution stürzen. Unser Schlachtruf soll sein: Es giebt nur ein Recht, und die Arbeit ist seine Grundlage. Dann, wenn wir Sieger sind, werden wir nicht bloß über die halbe Welt, sondern über das ganze Weltall herrschen, welches dann von der Zuchtruthe der Tyrannen und der Wucherer befreit sein wird, und wir werden die bis jetzt erniedrigte Menschheit zu göttlicher Hoheit erheben u. s. w.“79 Die vergiftete Saat des Marxschen Hasses hatte unter Kommunisten reichliche Früchte hervorgetrieben, „die Zeit der Aerndte ist nah“,80 die den Arbeitern versprach, nicht mehr von Kapitalisten unterdrückt oder von der Religion mit dem vagen Versprechen eines himmlischen Glückes abgespeist zu werden. Es war zum Greifen nahe, in das proletarische Paradies mit unentfremdeter Arbeit und allen lebensweltlichen Genüssen und materieller Unbesorgtheit einziehen zu können – wenn die Revolution erfolgreich ist! Am 1. Februar 1893 verfaßte Friedrich Engels ein Vorwort zur italienischen Ausgabe des Kommunistischen Manifests in französischer Sprache, in dem er die Verdrehungen Marx’ der 1848er Revolution wiederholte: „Die Revolution war damals überall das Werk der Arbeiterklasse; die Arbeiterklasse war es, die die Barrikaden errichtete und ihr Leben in die Schanze schlug. Nur die Arbeiter von Paris hatten, als sie die Regierung stürzten, die ausgesprochene Absicht, das Bourgeoisregime zu stürzen.“81 Engels konnte 1893 nicht mehr leugnen oder hinweginterpretieren, daß die Revolution 1848/49 in allen europäischen Staaten kläglich gescheitert war und zu restaurativen Tendenzen und Regimen geführt hatte. Also mußte er einen anderen Schuldigen ausmachen und wer konnte dies anderes sein als die Unternehmer bzw. die Kapitalisten: „Die Früchte der Revolution wurden daher letzten Endes von der Kapitalistenklasse eingeheimst. In den anderen Ländern, in Italien, Deutschland, Österreich, Ungarn, taten die Arbeiter von Anfang an nichts anderes, als die Bourgeoisie an die Macht zu bringen.“ Die Revolution war gerade andersherum verlaufen, wie die Revolutionäre es vorhergesagt hatten, aber was stört mich das dumme Geschwätz vor 45 Jahren, wenn es möglich ist, realitätsblinde InterZitiert ebd., S. 94 f. Zitiert ebd., S. 100 (Hervorhebung im Original. Schreiben von Paris am 10. Februar 1851 an „die Brüder in Berlin“). 81 Friedrich Engels: An den italienischen Leser, in: MEW. Bd. 22, Berlin 1972, S. 365. Dort auch das nächste Zitat. 79

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pretationen zu publizieren. Die Arbeiterklasse hat somit ihre historische Aufgabe gründlich mißverstanden und müßte eigentlich auf dem Misthaufen der Geschichte landen, wenn es nicht Marxisten gäbe, die die Realität auf den Kopf stellen und uns ein R für ein P verkaufen. Engels formulierte eine Immunisierungsstrategie, nämlich die angeblich durch die Revolution in Gang gesetzten Nationalstaatsgründungen: „Wenn also die Revolution von 1848 keine sozialistische Revolution war, so ebnete sie dieser doch den Weg, bereitete für sie den Boden vor. Mit der Entwicklung der großen Industrie in allen Ländern hat das Bourgeoisregime in den letzten 45 Jahren allenthalben ein zahlreiches, festgefügtes und starkes Proletariat hervorgebracht, hat es, um einen Ausdruck des ‚Manifests‘ zu gebrauchen, seine eignen Totengräber produziert.“82 Ein wahrhaft überraschendes Ergebnis, warum die revolutionäre Etappe nicht vergeblich war und der Sieg des italienischen Proletariats noch bevorstehe, wenn die italienischen Leser nur dem Danteschen Inferno aus Engels Wundertüte Glauben schenkten: „Wird uns Italien den neuen Dante schenken, der die Geburtsstunde des proletarischen Zeitalters verkündet?“ In der Neuen Rheinischen Zeitung vom 13. Januar 1849 hatte Engels seinen klassen- und rassenkämpferischen Vorurteilen noch freien Lauf gelassen: „Der nächste Weltkrieg wird nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, er wird auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden machen. Und das ist auch ein Fortschritt.“83 Wenden wir uns ab von dieser nachträglichen Geschichtsfälschung, die Lujo Brentano schon 1872 Marx und Engels nachgewiesen hat, was von diesen energisch zurückgewiesen wurde,84 und kehren wir zurück zu den revolutionären Gedanken von Marx und Engels im Revolutionsjahr 1848.

D. Das Kommunistische Manifest Auf dem Kongreß in London Anfang Dezember 1847 wurden Statuten des Bundes der Kommunisten beschlossen, dessen Artikel 1 ganz im Sinne von Marx und Engels lautete: „Der Zweck des Bundes ist der Sturz der Bourgeoisie, die Herrschaft des Proletariats, die Aufhebung der alten, auf Klassengegensätzen beruhenden bürgerlichen Gesellschaft und die Gründung einer neuen Gesellschaft ohne Klassen und ohne Privateigentum.“85 Zweifellos wirkte das Kommunistische Ebd., S. 366. Dort auch das nächste Zitat. Karl Marx/Friedrich Engels: Der magyarische Kampf, in: MEW. Bd. 6, Berlin 1968, S. 176. Geschrieben von Friedrich Engels. 84 Vgl. Lujo Brentano: Meine Polemik mit Karl Marx (1890). Reprint London 1976, S. 4 f. und S. 8 ff. Dort heißt es auf S. 7: „Möge die Veröffentlichung dieser Polemik dazu beitragen, die Autorität des vergötterten Marx wenigstens bei Einigen des Weiteren zu erschüttern, sie von Rückfällen, gleich den in jenen Protestationen liegenden abzuhalten und zu noch weiteren Fortschritten und weiteren Einrichtungen auf dem Boden der heutigen Ordnung zu veranlassen!“ 85 MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 596. 82 83

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Manifest wie die Trompeten von Jericho des Kommunismus; es war sprachlich aufwühlend, moralisch begeisternd und international verbindend. Nicht nur die auf dem Deckblatt und am Schluß des lediglich 30 Seiten umfassenden Büchleins erhobene Forderung „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“86 – die schon die in London erscheinende Kommunistische Zeitschrift vom September 1847 zierte – unterstützte seine Popularität, sondern auch der günstige Zeitpunkt der Veröffentlichung, kurz vor Ausbruch der französischen Februarrevolution. Es verwundert deshalb nicht, daß noch im gleichen Jahr seines Erscheinens, 1848, eine dänische, englische, flämische, französische, italienische, polnische und schwedische Ausgabe erschien; allerdings jedesmal ohne Angabe der Verfasser. Wenn wir allerdings die inhaltlichen Aussagen nüchtern zu analysieren versuchen, stellt sich eine merkwürdige Diskrepanz zwischen den hochgesteckten Ansprüchen sowie Behauptungen und der politischen Realität der damaligen Zeit ein. Das beginnt mit dem ersten Satz: „Ein Gespenst geht um in Europa – ein Gespenst des Kommunismus“87 und endet mit dem letzten: „Die Proletarier haben nichts in ihr [der kommunistischen Revolution, H.K.] zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.“88 Aber damit gaben die Revolutionäre sich nicht zufrieden, sondern sie erhoben außerdem den Vorwurf, die alten europäischen Mächte, wie die Kirche, der Papst, französische Radikale, deutsche Polizisten und führende Politiker, hätten sich zu einer ‚heiligen Hetzjagd‘ gegen dieses Gespenst verbündet und wollten es zur Strecke bringen. In meiner Kindheit gab es ein Spiel „Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann?“, doch auch ein (kommunistisches) Gespenst in einem verwunschenen kapitalistischen Schloß kann als eine furchterregende Spukerscheinung wahrgenommen werden, die man eventuell durch einen Dämonenexorzismus vertreiben bzw. ausrotten kann. Wollten Marx und Engels mit dem ‚Kommunismus‘ den Arbeitern eine ähnliche Gespenstergeschichte, einen solchen irrationalen Aberglauben, auftischen, wie sie Friedrich Schiller mit Der Geisterseher (1787) versucht hat? Ganz bestimmt nicht, denn für sie war der Kommunismus eine zukünftige Realität, deren sozialistische Wunderdinge man den Arbeitern nur in geeigneter Form plausibel machen mußte.89

86 In der vom schwedischen Sozialisten Per Görtrek angefertigten Übersetzung lautete diese Losung: „Des Volkes Stimme ist Gottes Stimme!“ 87 K. Marx/F. Engels: Manifest (wie Anm. 68), S. 461. Das ist einer Aussage aus Lorenz von Steins Buch Der Sozialismus und Communismus des heutigen Frankreichs von 1842 nachempfunden. 88 K. Marx/F. Engels: Manifest (wie Anm. 68), S. 493. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe von 1872 schrieben Marx und Engels am 24. Juni dieses Jahres: „Wie sehr sich auch die Verhältnisse in den letzten fünfundzwanzig Jahren geändert haben, die in diesem ‚Manifest‘ entwickelten allgemeinen Grundsätze behalten im ganzen und großen auch heute noch ihre volle Richtigkeit.“ (Ebd., S. 573). 89 Ein französischer Autor hat 2012 ein marxistisch verbrämtes, von Donatien Mary reich bebildertes Kinderbuch über dieses Thema veröffentlicht. Vgl. Ronan de Calan: Das Gespenst des Karl Marx, Zürich/Berlin 2014.

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Das Manifest war vielmehr der untaugliche Versuch, den Kommunismus als eine politische Macht emporzustilisieren, vor dem die europäischen Mächte erzittern müßten, weil nun dem Gespenstermärchen ein ‚Manifest der Partei‘ entgegengestellt würde, das seine revolutionäre Wirkung bald entfalten könnte. Marx und Engels waren begeisterte Revolutionäre und versuchten in einem kurzen historischen Abriß darzulegen, die „Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“,90 was natürlich nicht so gemeint war und gemeint sein konnte, daß der Geschichtsprozeß seit seinen ersten Anfängen nur von Klassenkämpfen geprägt war. Eine solche unspezifische Verallgemeinerung wird jedoch der historischen Entwicklung ebensowenig gerecht wie die hingeschleuderte Behauptung, Unterdrücker und Unterdrückte hätten sich in früheren Epochen der Geschichte in einem offenen Kampf gegenübergestanden, „der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“. Die ganze Abhandlung schien lediglich als ein mobilisierender Impuls gegen eine wenig konkretisierte kapitalistische Klasse wirken zu sollen, indem sie für die neuere Epoche „zwei große feindliche Lager“91 postulierte, die sich kriegerisch gegenüberstehen. In Deutschland wurde das Manifest, das ja zuerst in London in deutscher Sprache gedruckt wurde, als kleine Broschüre mit grünem Umschlag bei Hausdurchsuchungen der Polizei gefunden: „Diese Broschüre“, heißt es in einem Polizeibericht von 1853, „ist niemals im Buchhandel erschienen, sondern stets im Geheimen verbreitet worden und deutet der Besitz derselben jedesmal auf verdächtige kommunistische Beziehungen hin.“92 Unter den damaligen politischen, restaurativen Verhältnissen nach der gescheiterten Revolution gab es für die preußischen Behörden keine andere realistische Möglichkeit, als den Autor dieser Revolutionsschrift und geborenen Trier Staatsbürger mit den staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen zu verfolgen, die dem Staat Preußen zur Verfügung standen. Als Marx im Londoner Exil auch vier Jahre nach der verunglückten Revolution weiterhin Propaganda für den Umsturz des kapitalistischen Systems machte, sandte der Berliner Polizeipräsident einen Spitzel nach London, um die Lebensverhältnisse von Marx und seiner Familie auszukundschaften. Dieser gab vom Chef der kommunistischen Umsturzpartei ein eigenartiges Charakterbild ab, d. h. das herausgefilterte Ergebnis seines Privatlebens war für jeden bürgerlichen Intellektuellen niederschmetternd: „Marx ist von mittlerer Statur, 34 Jahre alt; trotz seines besten Alters werden seine Haare schon grau; seine Gestalt ist kräftig; seine Gesichtszüge mahnen sehr an [den ungarischen Revolutionär Bartholomeus von, H.K.] Szemere, nur ist sein Teint mehr braun, sein Haar und Bart ganz schwarz; letzteren rasiert er gar nicht; sein großes, durchdringend feurig schwarzes Auge hat etwas dämonisch Unheimliches; man sieht ihm übrigens auf den ersten Blick den Mann von Genie und Energie an; seine Geistesüberlegenheit 90 91 92

K. Marx/F. Engels: Manifest (wie Anm. 68), S. 462. Dort auch das nächste Zitat. Ebd., S. 463. Dort auch das nächste Zitat. Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen (wie Anm. 78), S. 61.

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übt eine unwiderstehliche Gewalt auf seine Umgebung aus. Im Privatleben ist er ein höchst unordentlicher, zynischer Mensch, ein schlechter Wirt; er führt ein wahres Zigeunerleben (il mène une vie à la bohémien de l’intelligence). Waschen, Kämmen, Wäschewechseln gehört bei ihm zu den Seltenheiten; er berauscht sich gern. Oft faulenst er tagelang, hat er aber viel Arbeit, dann arbeitet er Tag und Nacht mit unermüdlicher Ausdauer fort; eine bestimmte Zeit zum Schlafen und Wachen gibt es bei ihm nicht; sehr oft bleibt er ganze Nächte auf, dann legt er sich wieder mittags, ganz angekleidet, aufs Kanapee und schläft bis abends, unbekümmert um die ganze Welt, die bei ihm frei aus- und eingeht.“93 Und bei einem solchen ‚Zigeunerleben‘ konnte eine revolutionäre Theorie entstehen, die über ein Jahrhundert lang die Welt außer Atem brachte und Millionen Anhänger fand? Einfache Gemüter, für die dieses Manifest wohl auch gedacht war, können sich eher eine Vorstellung von der komplizierten Geschichte machen, wenn sie in ein dichotomisches Schema zweier sich bekriegender Klassen gezwängt wird. Die industrielle Entwicklung selbst des kurzen Zeitraums vom 16. bis zum 18. Jahrhundert ist jedoch in den verschiedenen europäischen Staaten so unterschiedlich verlaufen, daß ein Klassenkampfmodell überhaupt keine Erklärungskraft besitzt für die eigentlichen ökonomischen Faktoren dieser verworfenen Übergänge vom Feudalismus zum Kapitalismus. Marx’ Vorstellung in der gegen Pierre Joseph Proudhon gerichteten Schrift Das Elend der Philosophie, daß die sozialen Verhältnisse sich mit den ökonomischen Umwandlungen verändern, ist ebenso zutreffend wie die Folgerung, technische Neuerungen führten zu unterschiedlichen Gesellschaften, falsch ist: „Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.“94 Marx und Engels hatten eine unklare Vorstellung davon, daß „der Dampf und die Maschinerie die industrielle Produktion“ revolutionierten. Denn tatsächlich beruhte die Industrielle Revolution auf der konsequent durchgeführten Arbeitsteilung und den dadurch ausgelösten Innovationen von der Dampfmaschine bis zum Elektromotor, die diese Revolution vorantrieben. Und diese „große Industrie“ hat die Gesellschaft nicht in zwei antagonistische Hälften gespalten, sondern in ein sich immer stärker differenzierendes Spektrum ökonomischer und politischer Teilgruppen oder Schichten aufgelöst. Nachdem die Broschüre in einer kleinen Londoner Druckerei eines deut93 Zitiert von Gustav Mayer: Neue Beiträge zur Biographie von Karl Marx, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, 10. Jg., 1922, S. 57 f. (Hervorhebungen im Original). Als Vater sei Marx „der zarteste und zahmste Mensch“ (zitiert S. 58). 94 Karl Marx: Das Elend der Philosophie, in: MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 130 (Hervorhebung von mir). Etwas ironisch könnte man heute in marxistischer Redeweise hinzufügen, daß eine Gesellschaft mit Computern und Internet eine Gesellschaft von Terroristen und Flüchtlingen hervorbringt.

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schen Emigranten im Februar 1848 gedruckt worden war, gingen im März dieses Jahres 1.000 Exemplare, allerdings ohne Angabe der Autoren, zum Verkauf nach Deutschland und Frankreich, wo in den nächsten Jahren mehrere anonyme Übersetzungen angefertigt wurden. Marx und Engels bedienten sich der häufig angewandten Methode ideologischer Denker, nämlich die Realität radikal zu vereinfachen, um sie umso wirkungsvoller angreifen und verurteilen zu können. Ihnen war sicher bewußt, daß der Teufel im Detail steckt, doch mit einer differenzierten Betrachtungsweise lassen sich keine (Arbeiter-) Massen mobilisieren und schon gar nicht eine vernichtende Revolution entfachen – dies war sowjetischen Kommunisten ebenso klar wie faschistischen Diktatoren. Die Heroen des ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘ waren überhaupt nicht daran interessiert, ein auch nur halbwegs realistisches Gemälde, geschweige denn eine wissenschaftliche Analyse, der historischen Entwicklung zu präsentieren, sondern sie wollten die Bourgeoisie, d. h. die Kapitalistenklasse, unbarmherzig und für den Leser auf abschreckend-abscheuliche Art und Weise sezieren und vernichten. Die Bourgeoisie habe angeblich an die Stelle von verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten „der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt“.95 Ist es unter solchen unerträglichen Verhältnissen denn nicht mehr als gerechtfertigt und dringend erforderlich, einer solchen Clique von Blutsaugern die revolutionären Zähne zu zeigen und alles zu versuchen, sie in ihren perfiden Machenschaften zu bekämpfen bzw. auszuschalten? Die revolutionäre Rolle der Bourgeoisie, d. h. die innovativen Unternehmer, die durch Errichtung von Fabriken Millionen von sonst arbeitslosen und hungernden Menschen wenigstens eine schlechtbezahlte Beschäftigung ermöglichten, mußte gegenüber den Arbeitern moralisch abgekanzelt werden: „Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt.“96 Es fällt nicht schwer, eine solche unsachliche Beschimpfung als eine wenig realistische Beschreibung des in harten Konkurrenzkämpfen verwickelten Industriekapitalismus zu durchschauen, doch für Marxisten scheint es einer Herkulesaufgabe zu gleichen, die Urheber dieses Manifests dafür zu kritisieren, daß sie eine wilde Hetze gegen den Kapitalismus aufführten. Später, im Kapital, versuchte Marx eine ideale Gesellschaft zu konstruieren, die im Gegensatz zu ihrer „naturwüchsig brutalen, kapitalistischen Form, wo der Arbeiter für den Produktionsprozeß, nicht der Produktionsprozeß für den Arbeiter da ist, Pestquelle des Verderbs und der Sklaverei, unter entsprechenden Verhältnissen umgekehrt zur Quelle humaner Entwicklung umschlagen muß“.97 Im Grunde ging es Marx und Engels im Manifest gar nicht um eine, wenn auch einseitige, historische Darstellung der Produktionsverhältnisse und der ganz unter95 96 97

K. Marx/F. Engels: Manifest (wie Anm. 68), S. 465. Ebd., S. 464 f. Karl Marx: Das Kapital. 1. Bd., Berlin 1966, S. 514.

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schiedlichen Stellung der Arbeiterschaft in den verschiedenen Produktionsformen und Berufen, sondern um die wortgewaltige Anstachelung einer emotionalen Empörung der Arbeiter über eine solche angeblich weltweite Klassenherrschaft des Kapitals, der „Epidemie der Überproduktion“,98 die „in die Luft gesprengt“99 werden soll. Ohne moralische Skrupel werden despotische und diktatorische Eingriffe in die Eigentumsrechte von bürgerlichen Individuen gefordert und befürwortet: „Die kommunistische Revolution ist das radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen; kein Wunder, daß in ihrem Entwicklungsgange am radikalsten mit den überlieferten Ideen gebrochen wird.“100 Revolutionärer Radikalismus – oder sollte man nicht genauer sagen: Terrorismus – wird den Arbeitnehmern gegen das Beschäftigungssystem empfohlen, weil sie angeblich die entfremdete Arbeitswelt auflösen können. Die große Industrie, d. h. die Unternehmen im produzierenden Sektor, die immer größere Kapitalien anhäuften, sollen gegenüber der geballten Macht der Arbeiterklasse nicht die geringste Chance haben, denn: „Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“101 Welch eine grandiose eschatologische Schau wird hier geboten: Die kapitalistischen Unternehmer haben gar keine andere Wahl als den selbstvernichtenden Selbstmord, wobei sie sich vorher selbst ihre Gräber schaufeln, während mit ihrem Verschwinden die historische Schicksalsgöttin den befreiten Arbeitern den Siegeskranz aufs Haupt legt, ohne die geringste Anstrengung wie durch eine göttliche Vorsehung. Was das Proletariat dann eigentlich produzieren soll, wenn die Kapitalisten verschwunden sind, bleibt das unvermeidliche Geheimnis unserer wunderhaften Zauberer, die ja den Alleskönner Arbeiter aus dem Zylinderhut hervorholen. Die endlosen historischen Betrachtungen über Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse dienten überwiegend dem Zweck, den Kapitalismus auszuhebeln und Marxisten rechtfertigende Argumente zu liefern, warum dieses privateigentumslose und staatslose System Kommunismus, das durch eine soziale Revolution etabliert wird, unübertrefflich ist: „Marx’ Entdeckung lieferte den Schlüssel zur wissenschaftlichen Einsicht in den gesamten historischen Prozeß und zu einer wirklich wissenschaftlichen Periodisierung der Geschichte.“102 Warum sind so viele intelligente Menschen und Wissenschaftler auf einen solchen Hokuspokus hereingefallen? Wie kann eine gebärfreudige ‚Klasse‘, die sich tatsächlich in einem Konkurrenzkampf befand und in der sich erfolgreiche und gescheiterte Unternehmer je nach ökonomischer Konjunktur ständig abwechselK. Marx/F. Engels: Manifest (wie Anm. 68), S. 468. Ebd., S. 473. 100 Ebd., S. 481. 101 Ebd., S. 474. 102 P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (wie Anm. 9), S. 128. Dieses unmenschliche Resultat wird freimütig eingeräumt: „Das Hauptergebnis der materialistischen Geschichtsauffassung ist die Schlußfolgerung von der historischen Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit der proletarischen, kommunistischen Revolution.“ (S. 132). 98

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ten, der ‚Barbarei‘ und des ‚Vernichtungskriegs‘ bezichtigt werden? Für Marx und Engels war die Sache sonnenklar, denn aufgrund des dialektischen Gespenstes könnten sie nicht ihrem vorbestimmten Schicksal entgehen: „Die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier.“103 Muß es nicht erhebend sein und emotionale Begeisterungsstürme hervorrufen, wenn zwei noch ziemlich unbekannte Geister den unterdrückten, halb verhungerten Arbeitern die Illusion vorgaukeln, daß sie, im Kampf mit der Bourgeoisie erst als Proletarier zur Existenz gelangt, gegen diese Millionärsklasse in einem Krieg siegreich sein werden, weil diese ihnen dummerweise die todbringenden Waffen überlassen hat? Es ist gar nicht zu verstehen oder nachzuvollziehen, wie der Arbeiter, unter ausbeuterischen Bedingungen in Fabriken zusammengepfercht, „ein bloßes Zubehör der Maschine, von dem nur der einfachste, eintönigste, am leichtesten erlernbare Handgriff verlangt wird“,104 sich auf einmal international zu einer Massenbewegung zusammenschließen kann. Und außerdem soll er ja noch die mächtige industrielle Kapitalistenklasse in den Orkus der Geschichte versenken können! Schließlich sind ja die Proletarier eigentumslos, ausgebeutet, unterjocht und haben gänzlich ihre nationalen Gefühle abgestreift, weil sie die Lebensbedingungen der alten, bürgerlichen Gesellschaft hinter sich gelassen haben: „Die Gesetze, die Moral, die Religion sind für ihn [den Proletarier, H.K.] ebenso viele bürgerliche Vorurteile, hinter denen sich ebenso viele bürgerliche Interessen verstecken.“105 In den Gehirnen der beiden verbündeten Revolutionäre des Manifests scheint die Kampfmoral, die man einem schwachen Proletariat einzuimpfen versuchte, alle nüchternen Betrachtungen überlagert zu haben. Die marxistische Aufgabe dieser revolutionären Proletarier soll es sein, alles zu zerstören, was ihnen Arbeit und Brot gab: die Produktionsinstrumente, die Fabriken, die Maschinen und schließlich auch noch die fremden Waren! Der solidarische Zusammenschluß der Arbeiter zu einer kämpfenden Truppe gegen das Kapital diente allerdings nicht zur Verbesserung der Lebensbedingungen bzw. der Erhöhung des Arbeitslohns, sondern: „Jeder Klassenkampf ist aber ein politischer Kampf.“106 Es ist ja nichts Neues, daß die kapitalistische Wirtschaft krisenhafte Perioden aufweist, d. h. daß einem Konjunkturaufschwung nach einigen Jahren ein Konjunkturabschwung folgt und umgekehrt. Eine allgemein akzeptierbare Erklärung für diese Hausse und Baisse ist allerdings sehr viel schwieriger, denn sie kann ja durch eine Veränderung bei der Konsumnachfrage, durch Absatzstockungen wegen Kriegen, durch Geldspekulationen oder durch Zollbarrieren etc. hervorgerufen werden. Wenn Marx glaubte, jede Krise vermindere die Luxuskonsumtion und mache einen Teil der Luxusarbeiter arbeitslos, dann bediente er sich einer einseitigen Krisendeutung, denn die Verringerung bzw. der Wegfall der Luxusgüternachfrage 103 104 105 106

K. Marx/F. Engels: Manifest (wie Anm. 68), S. 468 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 468 f. Ebd., S. 472. Ebd., S. 471.

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hat in den meisten Industriestaaten eine geringere krisenhafte Wirkung als eine entsprechende Abnahme bei den Konsumgütern; allein schon wegen der größeren Zahl an Konsumenten. Wenn also der Arbeitslohn kontinuierlich gesteigert werden kann, ohne daß die Inflation bzw. Geldentwertung höher ist als diese Lohnsteigerungen, dann wird dies üblicherweise, wenn keine sonstigen gravierenden Veränderungen auftreten, zu einer größeren Konsumnachfrage führen. Marx vertrat die These: „Daß Waren unverkäuflich sind, heißt nichts, als daß sich keine zahlungsfähigen Käufer für sie finden, also Konsumenten (sei es nun, daß die Waren in letzter Instanz zum Behuf produktiver oder individueller Konsumtion gekauft werden). Will man aber dieser Tautologie einen Schein tiefrer Begründung dadurch geben, daß man sagt, die Arbeiterklasse erhalte einen zu geringen Teil ihres eignen Produkts, und dem Übelstand werde mithin abgeholfen, sobald sie größern Anteil davon empfängt, ihr Arbeitslohn folglich wächst, so ist nur zu bemerken, daß die Krisen jedesmal gerade vorbereitet werden durch eine Periode, worin der Arbeitslohn allgemein steigt und die Arbeiterklasse realiter größern Anteil an dem für Konsumtion bestimmten Teil des jährlichen Produkts erhält. Jene Periode müßte – von dem Gesichtspunkt dieser Ritter vom gesunden und ‚einfachen‘ (!) Menschenverstand – umgekehrt die Krise entfernen. Es scheint also, daß die kapitalistische Produktion vom guten oder bösen Willen unabhängige Bedingungen einschließt, die jene relative Prosperität der Arbeiterklasse nur momentan zulassen, und zwar immer nur als Sturmvogel einer Krise.“107 Abgesehen davon, daß Marx einen relativ einfachen ökonomischen Sachverhalt in eine komplizierte Sprache kleidete, wird hier ein richtiger Gedanke mit einer falschen Schlußfolgerung verknüpft, denn unverkäufliche Waren, gleichgültig ob keine Nachfrager für sie da sind oder weil ihre Qualität so schlecht ist, daß sie auch zu einem niedrigen Preis nicht abgesetzt werden können, kann zur Krise des herstellenden Unternehmens und zu Entlassungen führen. Doch ein Kapitalismusmodell, in dem bei einem unersättlichen Mehrwerthunger der Kapitalisten selbst bei kontinuierlichen Lohnerhöhungen keine Wachstumszunahme möglich ist, sondern nur die nächste Krise vorbereitet wird, verkennt die ökonomischen Zusammenhänge aufgrund einer revolutionären Illusion von Arbeitererwartungen. Wir können deshalb Max Beer zustimmen, daß „die Marxsche Wert- und Mehrwerttheorie eher die Bedeutung eines politischen und sozialen Schlachtrufs als die einer ökonomischen Wahrheit hat“.108 Oder Michael C. Burda, der an der Mehrwerttheorie kritisiert, daß sie für eine effektive Ressoucenallokation und für menschliche Bedürfnisse „nur ein schwarzes Loch“109 anbietet. Dagegen erhob etwa zur gleichen Zeit, zu der das Kommunistische Manifest erschien, der Nationalökonom und Staatssozialist Johann Karl Rodbertus (1805 – 1875) realistischere Forderungen „ohne Eingriff in das Grund- und Kapital-Eigenthum und die Grundsätze der Karl Marx: Das Kapital. 2. Bd., Berlin 1965, S. 409 f. Max Beer: Karl Marx (1921). Nachdruck Hamburg 2014, S. 134. 109 Michael C. Burda: Marx als Ökonom, in: Marxismus, hrsg. von Volker Gerhardt, Magdeburg 2001, S. 326. 107

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Verkehrsfreiheit“.110 Dazu gehörten, daß den Arbeitern höhere Löhne, geringere Arbeitszeiten, bessere Sparmöglichkeiten und eine Existenzsicherung bei Invalidität gewährt würden: „Zuvorderst kann nach meiner Ueberzeugung die Aufgabe, die Armenpflege entbehrlich zu machen und der Noth und Invalidität der Arbeiter durch ihre eigne Kraft und Hülfe zu begegnen, in keinem nur nennenswerthem Umfange gelöst werden, wenn man die Mittel dazu aus den jetzigen Arbeitslöhnen schöpfen, also in jener Führung Fürsorge treffen will, ohne vorher auf Erhöhung der Löhne gewirkt zu haben.“111 Nun nähern wir uns des Pudels Kern, denn die Organisierung der Proletarier zu einer revolutionären Klasse, „der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl“,112 soll gar nicht dazu dienen, ihre materielle Existenz durch höhere Löhne und fairere Arbeitsbedingungen zu verbessern. Sie soll vielmehr zur Bildung einer politischen Partei führen, die sich die militärischen Machtmittel erkämpft, um die verhaßte kapitalistische Klasse endgültig zu vernichten. Denn nur das international vereinigte Proletariat sei eine wirklich revolutionäre Klasse. Alle anderen klassenmäßigen Gruppen sind nur reaktionär, d. h. sie wollen das Rad der Geschichte zurückdrehen. Der revolutionäre Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie muß zwar zuerst in einem Bürgerkrieg auf nationaler Ebene ausgefochten werden, damit die nationale Bourgeoisie mit der großen Industrie untergehen könne; trotzdem müsse die Internationalität des Proletariats gefordert werden. Nichts kann die Absurdität dieser Überlegungen deutlicher bezeugen als die Behauptung: „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.“113 Eine oberflächliche historische Betrachtung bzw. Analyse der ökonomischen Entwicklung auch nur einiger europäischer Staaten hätten Marx und Engels davon überzeugen müssen, daß der Nationalismus eine unverzichtbare Strategie eines staatlichen Zusammengehörigkeitsgefühls darstellte, das Arbeitern nicht nur durch die Bourgeoisie oder politisch interessierte Kreise oktroyiert wurde, sondern das von ihnen als ein Geborgenheitsgefühl der Zugehörigkeit zu einem nationalen Verband angesehen wurde. Der Urvater aller modernen Nationalökonomen, Adam Smith, nannte sein zuerst 1776 erschienenes Werk nicht zufällig Wohlstand der NATIONEN und der deutsche Friedrich List propagierte in seinem Hauptwerk Das nationale System der politischen Oekonomie (1844) ein nationalistisches Programm der Wirtschaftsentwicklung, um den ökonomischen Rückstand gegenüber England aufzuholen, das auf große Resonanz auch in Arbeiterkreisen 110 Karl Rodbertus: Bemerkungen zu dem Bericht über die Gründung einer Invalidenund Altersversorgungsanstalt für Arbeiter, in: Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, 2. Jg., IV. Lieferung, 1849, S. 38 (Hervorhebung im Original). 111 Ebd., S. 30 (Hervorhebung im Original). Rodbertus stellte ebenfalls fest: „In jedem civilisirten europäischen Lande ist heute diejenige Producentenmasse, die zur Deckung des Arbeitslohns dient, im Verhältniß zu der Gesammtproductenmasse des Landes, geringer, als sie vor hundert Jahren war.“ (Ebd., S. 36. Hervorhebung im Original). 112 K. Marx/F. Engels: Manifest (wie Anm. 68), S. 472. 113 Ebd., S. 479.

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stieß. Wladimir Iljitsch Lenin (1870 – 1924) oder das Politbüro des Zentralkomitees der SED in der Deutschen Demokratischen Republik waren bei der Einschätzung der revolutionären Arbeiterbewegung im eigenen Land und des proletarischen Internationalismus schon etwas vorsichtiger als Marx und Engels: „Indem die Arbeiterklasse ihre historische Mission im eigenen Lande verwirklicht und zugleich internationalistische Klassensolidarität übt, fördert sie die gemeinsame Sache der ganzen internationalen Arbeiterklasse und trägt dazu bei, günstige Bedingungen für deren Sieg in anderen Ländern zu schaffen.“114 Die von nationalen Gefühlen entsolidarisierende Funktion des Revolutionsfanatismus wird besonders deutlich bei der sozialen Zuordnung eines großen Teils der arbeitenden Bevölkerung, nämlich dem Lumpenproletariat, „diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft“.115 Das menschliche Schicksal dieser untersten gesellschaftlichen Schicht soll darin bestehen, ebenso wie die Kapitalisten der revolutionären Vernichtung preisgegeben zu werden. Diese ‚Lumpen‘ haben eben nicht ihre eigentliche historische Aufgabe erkannt und können auch nicht durch eine marxistische Ideologie dazu gebracht werden, in den revolutionären Strom einzusteigen, weswegen ihnen wie im wahren Kommunismus Stalinscher Prägung jegliches Lebensrecht entzogen wird. Es kann und darf nach Marx’ und Engels’ Ansicht nicht wahr sein, daß die Arbeiterschaft in den verschiedenen Industriestaaten des 19. Jahrhunderts äußerst differenziert war, daß Arbeiter einerseits in bestimmten Arbeitstätigkeiten mit einem Hungerlohn abgespeist bzw. dem Existenzminimum ausgeliefert wurden, d. h. es ging ihnen nicht viel besser als Sklaven, obwohl sie nicht wie diese völlig entrechtet waren. Andererseits entstanden wegen zunehmend höherentwickelten technischen Produktionsverfahren qualifizierte Berufsgruppen, die von einem langfristig steigenden Lohnniveau profitierten, auch wenn ihr Lebensstandard, gemessen an heutigen Maßstäben, immer noch dürftig war. Die Arbeitswelt des Industriekapitalismus hat das Verhältnis von Arbeitern zu Arbeitern nicht vereinfacht und zu einer internationalen Solidarisierung beigetragen, sondern laufend stärker differenziert und dadurch soziale Reibungen zwischen gut und weniger gut bezahlten Arbeiterkategorien hervorgerufen. Außerdem entwickelte sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine abgehobene Angestelltenschicht, die white-collar-workers, die sich von den Arbeitern weitgehend distanzierte. Heinrich Bodemer nannte schon 1856 diese Schicht das ,höhere Proletariat‘, und nach ihm ist es „aus den Kaufleuten und Handwerkern ohne Kunden, Aerzten ohne Patienten, Advokaten ohne Clienten, Literaten ohne Verleger, Virtuosen ohne Publikum und überhaupt aus der social gedrückten und materiell darbenden Halbbildung und Halbwisserei zusammengesetzt, einer eben so zahlreichen als unvermeidlichen Klasse, welche durch Einführung einer demokratischen Staatsverfassung zu Besitz und Ehren zu gelangen hofft, es übrigens mit System und Theorie nicht so genau nimmt, sofern nur die Möglichkeit des Angriffes auf 114 115

Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1978, S. 14. K. Marx/F. Engels: Manifest (wie Anm. 68), S. 472.

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jede hervorragende Stellung dabei in Aussicht steht.116 Für Revolutionsfanatiker kann eine differenzierte Sichtweise nichts beitragen zur Auflösung von festgefahrenen Vorurteilen, sondern sie weicht lediglich die universale Anklage auf: „Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch schneller als Bevölkerung und Reichtum.“117 Es ist ja gar nicht zu leugnen, daß es in den ersten Phasen der Industrialisierung Armutsphänomene unter Arbeitern gab,118 aber daraus abzuleiten, daß der Frühkapitalismus eine Entwicklung zum Pauperismus einleitete, stellt die Realität auf den Kopf. Es ist eine ebenso realitätswidrige Verzerrung der historischen Verhältnisse um die Mitte des 19. Jahrhunderts wie die degradierende Behauptung, die Bourgeoisklasse habe die politische Herrschaft an sich gerissen durch „die Anhäufung des Reichtums in den Händen von Privaten“,119 so als sei Politik und Industrie eine ununterscheidbare Einheit. In Preußen gab es im Jahr 1816 insgesamt 186.612 Fabrikarbeiter bei einer Gesamtbevölkerung von 10.424.691, das sind 0,018 %, während sie sich bis 1846 auf 553.542 Fabrikarbeiter vermehrt hatten, aber immer noch nur auf einen Prozentwert von 0,034 an der preußischen Einwohnerzahl kamen. Der sächsische Unternehmer Heinrich Bodemer, der wie Engels in der Textilindustrie tätig war, versuchte bereits 1856 das schwierige Verhältnis zwischen der Zunahme der Bevölkerung, den Beschäftigungsmöglichkeiten in der Industrie und einer vermehrten Armut auszutarieren, indem er auf das damalige Dilemma hinwies, daß die überwiegende Zahl der Arbeiter kaum in der Lage sei, sich aus dem Teufelskreis von Armut und Unterernährung herauszuarbeiten, weil sie aus verschiedenen Gründen nicht zu Kapitalisten aufsteigen könnten. Er verwies außerdem auf die Chancen einer zunehmenden Technisierung: „Die Massenarmuth ist allerdings vorhanden, aber sie ist nicht die Folge der Verarmung, sondern vielmehr die Folge des wachsenden Nationalreichthums, welcher die Ernährung und Erhaltung der Millionen neu Hinzugekommener möglich macht. Das Kapital, die Intelligenz, der Unternehmungsgeist, die Maschine, die große Produktion, alle diese Faktoren der industriellen Revolution zusammengenommen sind es, denen das Proletariat seine Existenz verdankt. Zwar bedarf das Kapital eben so wohl auch der Arbeit, weil es aber eher den Arbeiter findet, als der Arbeiter das Kapital, so bleibt dieser in der Abhängigkeit und da er selbst vermittelst seines geringen Einkommens niemals in den Besitz von Kapital gelangen kann, so gewahrt er die durch ihn selbst bewirkte ungeheure Erwerbsbewegung und den wachsenden öffentlichen Wohlstand, ohne daß er seine eigne dürftige Lage zu verbessern vermag.“120 Marxisten mögen dies als eine unternehmerische Selbstrechtfertigung ansehen, die den ausgebeuteten Arbeitern nicht den Lohnanteil gewährt, den sie eigentlich verdienten. Doch eine distanziertere Betrachtung muß einräumen, daß die angeblich 116 117 118 119 120

Heinrich Bodemer: Die Industrielle Revolution, Dresden 1856, S. 71. K. Marx/F. Engels: Manifest (wie Anm. 68), S. 473. Vgl. Die soziale Frage, hrsg. von Wolfram Fischer und Georg Bajor, Stuttgart 1967. K. Marx/F. Engels: Manifest (wie Anm. 68), S. 473. H. Bodemer: Die Industrielle Revolution (wie Anm. 116), S. 65.

D. Das Kommunistische Manifest

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ausbeuterischen Kapitalisten sich als viel einfühlsamer gegenüber den Nöten und Sorgen der Arbeiter erweisen als ihnen kommunistische Ideologen ein Jahrhundert lang unterstellt haben. Der Kommunismus bzw. die kommunistische Partei sollte zu dem gespenstigen Rettungsanker für die internationale Arbeiterbewegung werden, weil die Kommunisten angeblich „keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen“121 haben. Wie dieses politische Ideal oder genauer diese Weltverbesserungsideologie in kommunistischen Staaten, die sich in ihrer diktatorischen Herrschaft auf die Schriften von Marx und Engels stützten, während des 20. Jahrhunderts konkret ausgesehen hat bzw. praktiziert wurde, wollen heutige MarxApologeten nicht mehr wissen oder wahr haben. Doch sie können die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß ihre Heroen den entscheidenden Sturz der Bourgeoisie und die revolutionäre Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat propagiert haben: „Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.“ Die Arbeiter waren und sind Stimmvieh für eine allwissende, die ökonomischen und historischen Bedingungen vorausahnende kommunistische Partei. Genau auf diese Weise haben kommunistische Parteien seit 1917 weltweit versucht, die politische Herrschaft an sich zu reißen mit verheerenden Folgen für die Freiheit und den Wohlstand der Massen der Bürger, nicht nur der Arbeiter, denen die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums eigentlich zugute kommen sollte – „Erarbeitetes, erworbenes, selbstverdientes Eigentum!“122 Marx und Engels versuchten im Manifest ihren Lesern die ausbeuterische Legende schmackhaft zu machen, daß die Industrie kleinbürgerliches und kleinbäuerliches Eigentum abgeschafft habe, doch das genaue Gegenteil hat der Industriekapitalismus bewirkt. Immer höhere Löhne, immer bessere Schul- und Ausbildung, immer mehr Urlaub und Freizeit, immer stärkere Verlagerung der körperlichen Arbeit auf Maschinen, immer umfassendere soziale Sicherungssysteme haben Eigentumserwerb für die große Masse der arbeitenden Bevölkerung ermöglicht und zu größerer persönlicher Freiheit und beruflicher Selbständigkeit geführt. Eigentum ist ja keineswegs nur ein Privilegium reicher Bürger, auch wenn die Einkommensschere zwischen Arm und Reich bis heute riesige Ausmaße angenommen hat und es weltweit immer mehr Millionäre gibt. 2015 waren es 17 Millionen mit einem Anteil von 41 Prozent am gesamten Privatvermögen; in Deutschland nahm die Zahl der Millionäre um 3,6 % auf 350.000 zu, die der Superreichen mit mehr als 100 Mio. $ Vermögen sogar um 6,9 % auf 679. Über Eigentum zu verfügen ist für alle Menschen ein erstrebenswertes Ziel, für das materielle Einschränkungen in Kauf genommen werden. Schon vor über 120 Jahren wurde anhand der deutschen Steuerlisten von 1890 kritisiert, daß die meisten Reichen das materielle 121 122

K. Marx/F. Engels: Manifest (wie Anm. 68), S. 474. Dort auch das nächste Zitat. Ebd., S. 475.

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6. Kap.: Die Umbruchsituation Mitte der 1840er Jahre

Elend eines großen Teils der Bevölkerung nicht dazu bewegt, etwas von ihrem Wohlstand abzugeben oder sogar an der Beseitigung der Armut mitzuwirken, sondern daß sie es als unvermeidliches Schicksal, als ein irdisches Jammertal, beschönigen: „Das Vermögen der 944.344 Personen, welche zur armen Klasse gehören, betrug 237 Millionen Mark, so daß ein Reicher so viel Einkommen hat als 50 Arme! 67 ½ Prozent der Steuerzahler sind arm, nur 29,2 Prozent gehören zur mittleren Klasse – als Familienväter mit starker Familie können nur ein Prozent dieser mittleren Klasse sich diejenigen Ausgaben leisten, welche das Normal-Budget verlangt – 2,6 Prozent sind wohlhabend und nur 0,71 Prozent reich! In so wenigen Händen konzentriert sich also die Arbeit der Bevölkerung, für so wenige Personen arbeitet rastlos ein ganzes Volk! Und immer reicher werden die Reichen! 1888 waren 8344 5HLFKHYRUKDQGHQZHOFKHѿ0LOOLRQHQ(LQNRPPHQKDWWHQXQG$UPH PLWҀ0LOOLRQHQ0DUN(LQNRPPHQVRGD‰HLQ5HLFKHUVRYLHO(LQNRPPHQ hatte wie 46 Arme!“123 Die ungleiche Verteilung des Vermögens hat also rasant zugenommen und es ist deshalb nicht verwunderlich, daß kommunistische Parteien Zulauf erhielten und linke Propaganda für eine Enteignung von superreichen Kapitalisten bis heute Anhänger unter den weniger Begünstigten findet. Der Sozialist Friedrich Albert Lange prägte schon 1865 die plastische Sentenz, die die ökonomische Ungleichverteilung des Bruttosozialprodukts präzise beschreibt: „Essen wir doch Alle aus einem Topf, wenn auch mit ungleichen Löffeln!“124 Die Verstaatlichungsorgien sozialistisch-kommunistischer Parteistrategen zur Umwandlung der Ausbeutergesellschaft „in ewige Natur- und Vernunftgesetze“125 haben jedoch Klassengegensätze, auch wenn es nicht mehr die der kapitalistischen Gesellschaft waren, eher verstärkt und keineswegs dazu geführt, „den Lebensprozeß der Arbeiter zu erweitern, zu bereichern, zu befördern“.126 Das Resultat des kommunistischen ‚Reiches der Freiheit‘ waren weitverbreitete Korruption und Vetternwirtschaft, von denen die politische Herrschaft einer kleinen Elite durchdrungen war, die sich im Besitz der wahren historischen Entwicklungsgesetze wähnte, und an die Stelle von bürgerlichem Eigentum die politische Herrschaft antrat. In der Deutschen Ideologie von 1845/46 hatten Marx und Engels sich noch vorsichtig herangetastet, um den Unterschied zwischen den Produktivkräften und den gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie dort etwas unklar ‚Verkehrsform‘ nannten, herauszuarbeiten. In der menschlichen Geschichte hätten sich stufenweise entwickelte Produktivkräfte in immer höhere Verkehrsformen niedergeschlagen, was später als Stufentheorie oder eben Entwicklungsgesetze in die ökonomische Sprache einging, ohne konkrete Erklärungen anzubieten. Marx und Engels wollten jedoch vor allem zeigen, daß die historischen Prozesse von Produktivkräften 123 Emanuel Wurm: Die Lebenshaltung der deutschen Arbeiter, Dresden 1892, S. 111 f. (Hervorhebungen im Original). 124 F. A. Lange: Die Arbeiterfrage (wie Anm. 51), S. 155. 125 K. Marx/F. Engels: Manifest (wie Anm. 68), S. 478. Gemeint sind hier im Gegenteil die kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse der untergegangenen Klassen. 126 Ebd., S. 476.

D. Das Kommunistische Manifest

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dominiert werden, die sich von Epoche zu Epoche in einem Vernichtungskampf befinden: „Alle Kollisionen der Geschichte haben also nach unsrer Auffassung ihren Ursprung in dem Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der Verkehrsform. Es ist übrigens nicht nötig, daß dieser Widerspruch, um zu Kollisionen in einem Lande zu führen, in diesem Lande selbst auf die Spitze getrieben ist.“127 Selbst der überzeugte Marxist Franz Mehring räumte ein, daß sich in dieser Schrift zwar dialektische Schärfe zeige, aber sie arte in kleinliche „Haarspaltereien und Wortklaubereien“128 aus. Im Manifest war man darüber hinausgestiegen und hatte den Kommunismus als das Gesellschaftssystem ohne Widersprüche und einer von allen Menschen geteilten Ideologie des friedlichen Zusammenlebens propagiert. Der unüberbrückbare Widerspruch zwischen Theorie und Praxis ist allerdings von den Erfindern des ‚wissenschaftlichen Materialismus‘ nicht ernsthaft analysiert oder aufgelöst worden. Niemals in der neueren Weltgeschichte ist nämlich eine arbeitende Bevölkerung so ausgebeutet und unterdrückt worden wie im real existierenden Kommunismus, weil Menschen über Menschen herrschen wollen. Wenn ihnen große politische Macht, die nicht durch verfassungsmäßig gesicherte und garantierte Rechte des Einzelnen eingeschränkt ist, durch eine Revolution in die Hände fällt, dann ist die ‚Diktatur des Proletariats‘ ein revolutionäres Feigenblatt für größte Ungerechtigkeiten und menschliche Verbrechen.129 Der Marx-Engelssche Katalog der Enteignungsmaßnahmen nach einer kommunistischen Revolution ist so aufschlußreich für eine adäquate Einschätzung diktatorisch-sozialistischer Staatsvorstellungen, daß er hier unkommentiert wiedergegeben werden soll. Die späteren Überlegungen gingen nämlich davon aus, daß nach einer erfolgreichen sozialen Revolution die politische Organisation Staat allmählich aufgelöst würde und verschwinden müßte, weil „die Arbeiterklasse zuerst die organisierte politische Gewalt des Staates in Besitz nehmen und mit ihrer Hilfe den Widerstand der Kapitalistenklasse niederstampfen und die Gesellschaft neu organisieren muß“.130 In diesem Zusammenhang ist interessant, daß ein sozialistischer Zeitgenosse von Marx und Engels, Friedrich Albert Lange, sich 1865 für ein individuelles Bewußtsein der Arbeiter, die „ihr Auge dem Sonnenlicht eines neuen Zeitalters zuwenden“,131 aussprach. Die Arbeiter sollten einen sozialen Kampf um mehr Einfluß im Staat ausfechten, aber ohne jede Gewalt: „Nichts ist leichter, als daß in 127

Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW. Bd. 3, Berlin 1962,

S. 53. Franz Mehring: Karl Marx (1918). 5. Aufl. Berlin 1983, S. 120. Es ist deshalb von einiger Ironie, wenn Engels 1845 wegen der Brutalität und Rücksichtslosigkeit englischer Unternehmer gegenüber den Arbeitern glaubte: „Mit der Ausdehnung des Proletariats hat daher auch das Verbrechen in England zugenommen, und die britische Nation ist die verbrecherischste der Welt geworden.“ (Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: MEW. Bd. 2, Berlin 1970, S. 356 f.). 130 MEW. Bd. 36, Berlin 1973, S. 11 (Brief von Engels an Philip Van Patten in New York vom 15. April 1883). 131 F. A. Lange: Die Arbeiterfrage (wie Anm. 51), S. 168. 128 129

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6. Kap.: Die Umbruchsituation Mitte der 1840er Jahre

erregten Zeiten Verzagtheit in Trotz, Kriecherei in Grausamkeit umschlägt; denn eben wo das höhere Bewußtsein der Berechtigung fehlt, da wird der Durchbruch altgewohnter Schranken leicht zur verwüstenden Ueberschwemmung.“132 Die völlige Neuorganisation der Gesellschaft, die Schaffung eines neuen, den Gefahren einer (Industrie-) Gesellschaft besser angepaßten Menschen, ist ein Menschheitstraum, der seit der Antike Denker bewegt und zu phantastischen Vorschlägen geführt hat. In der euphorischen und gefühlsdurchtränkten Stimmung des Manifests wollte man sich noch nicht von einem staatlichen Organ zur Durchführung der vorgeschlagenen Maßnahmen verabschieden: „Für die fortgeschrittensten Länder werden jedoch die folgenden ziemlich allgemein in Anwendung kommen können: 1. Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsaufgaben. 2. Starke Progressivsteuer. 3. Abschaffung des Erbrechts. 4. Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen. 5. Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol. 6. Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staats. 7. Vermehrung der Nationalfabriken, Produktionsinstrumente, Urbarmachung und Verbesserung der Ländereien nach einem gemeinschaftlichen Plan. 8. Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau. 9. Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und Industrie, Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land. 10. Öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder. Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form. Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion usw.“133 Zu diesem letzten Punkt sei mir eine Bemerkung gestattet, weil diese Maßnahme so ausgelegt werden könnte, als ob sich ein liberales Erziehungsideal dahinter verbirgt, daß Kindern, nicht nur den durch ein geringes elterliches Einkommen benachteiligten Kindern, unentgeltlicher Zugang zu Bildung und Erziehung gewährt werden sollte. Im Entwurf des Kommunistischen Glaubensbekenntnisses vom 9. Juni 1847 formulierte Engels jedoch ein Erziehungsmodell, das totalitäre Erziehungsmethoden von Diktaturen in seinen schlimmsten Formen auf Staatskosten befürwortete: „Sämtliche Kinder werden von dem Zeitpunkt an, wo sie der ersten mütterlichen Pflege entbehren können, in Staatsanstalten erzogen und unterrichtet.“134 Den Eltern wird also das natürliche Recht entzogen, die Erziehung ihrer Kinder so 132 133 134

Ebd., S. 167. K. Marx/F. Engels: Manifest (wie Anm. 68), S. 481 f. Zitiert in: Der Bund der Kommunisten, Bd. 1 (wie Anm. 23), S. 474.

D. Das Kommunistische Manifest

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zu gestalten, wie sie dies für die geistige Entwicklung ihrer Kinder am günstigsten ansehen, damit der kommunistische Staat seine ideologische Indoktrination nach seinen Vorstellungen durchführen kann. Beim Lesen von Engels Vorschlag erinnerte ich mich an den österreichischen Sozialisten Josef Popper-Lynkeus (1838 – 1921), der in seinem Buch Das Recht zu leben und Die Pflicht zu sterben von 1878 wegen des starken Bevölkerungswachstums, von einigen Forschern Bevölkerungsexplosion genannt, den Vorschlag machte, ein spezielles Kataster einzurichten, wo die Kinder jedes Ehepaares genau erfaßt würden. Um den Mangel an notwendigen Nahrungsmitteln zu verhindern und eine weitere Bevölkerungszunahme zu stoppen, schlug er vor, daß „Neugeburten der kinderreichsten Mütter von Staatswegen sofort getödtet“135 werden. Um diese Maßnahme „erfolgreich“ praktizieren zu können, regte Popper-Lynkeus an, die tägliche Anzahl aller Neugeburten sowie Todesfälle nicht nur der kinderreichsten, sondern auch der weniger kinderreichen Eltern zu registrieren, damit bei einer Untergrenze von Geburten dem Staat ein Hinweis gegeben würde, nicht mehr alle Neugeborenen von kinderreichen Müttern umzubringen! Die lebenserhaltende Erkenntnis, daß die staatlichen Behörden und Institutionen nicht immer das leibliche und erzieherische Wohl der ihnen anvertrauten Menschen durchsetzen wollen und können, scheint bei Marxisten wenig ausgeprägt gewesen zu sein. Die ungeheure Bevölkerungszunahme, die den Ökonomen Malthus dazu anregte, in seiner Schrift An Essay on the Principle of Population136 ein vermeintliches ‚Bevölkerungsgesetz‘ aufzustellen, nach dem das Wachstum der europäischen Bevölkerung in geometrischer Progression (d. h. um das 4, 8, 16, 32, 64 usw. fache) ansteigen sollte, während die Nahrungsmittelproduktion nur in arithmetischer Progression (d. h. um das 1, 2, 3, 4 usw. fache) zunehmen könnte, scheint von vielen wie ein tödliches Menetekel angesehen worden zu sein. Ein Professor der Medizin und Chirurgie an der Universität Halle-Wittenberg, Carl August Weinhold, z. B. schlug 1827 weisen und gerechten Regierungen den sofortigen Erlaß von Gesetzen vor, die regeln sollten, daß Familien nur Kinder bekommen dürften, wenn sie 135 Josef Popper-Lynkeus: Das Recht zu leben und Die Pflicht zu sterben (1878). 3. Aufl. Dresden/Leipzig 1903, S. 159. 136 Vgl. Thomas Robert Malthus: An Essay on the Principle of Population as it Affects the Future Improvement of Society, London 1798 (deutsch: Das Bevölkerungsgesetz, München 1977). Malthus hatte zur Reduzierung der Bevölkerungszunahme u. a. sexuelle Enthaltsamkeit sowie vergeblich die Abschaffung der Armenunterstützung in England vorgeschlagen, was einen deutschen Autor noch 1840 zu dem unmenschlichen Urteil verleitete: „Durchgängig aber zeigt sich in den Staaten Großbritanniens der Nachtheil davon, daß der Arme ein Recht auf Unterstützung hat, daß er weiß, wie er unterstützt werden muß, wenn er hilfsbedürftig ist, da dies Bewußtsein der Nachlässigkeit, Trägheit, Sorglosigkeit, Unmoralität und den Leichtsinn der untern Classen auf die höchste Stufe steigert, zumal ihre Ehre durch den Empfang der Unterstützung nicht leidet. So wird, was den Pauperismus mindern soll und momentan mindert, die unerschöpfliche Quelle seiner Fortdauer und seiner Vermehrung.“ (Buddeus: Pauperismus, in: Allgemeine Encyklopaedie der Wissenschaften und Künste, hrsg. von J. S. Ersch und J. G. Gruber, Leipzig 1840, S. 245).

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6. Kap.: Die Umbruchsituation Mitte der 1840er Jahre

nachweisen, daß sie ein Kind oder Kinder bis zu deren eigener Arbeitsfähigkeit ernähren bzw. unterhalten könnten. Um jedoch zu verhindern, daß männliche Jugendliche vor der Ehe Geschlechtsverkehr hätten und eventuell ein Kind zeugten – Verhütungsmethoden oder Abtreibungsmittel waren zur damaligen Zeit noch wenig bekannt –, sollten folgende Maßregeln ergriffen werden: „Man infibulire [d. h. man durchsticht die Vorhaut mit einer Nadel und schiebt einen verzinnten Metalldraht, die Fibula, hindurch, den man an beiden Seiten umbiegt und an den Enden verlötet, H.K.] sämmtliche männliche Dienstbothen, Gesellen und Lehrlinge in den Städten und auf dem Lande, und gestatte ihnen die Ehe nicht eher, als bis sie im Stande sind, außer sich, auch Frau und Kinder ernähren zu können, halte sie unter strenger medicinal-polizeylicher Aufsicht durch öftere und unvermuthete Visitationen, wegen heimlicher Eröffnung der metallischen Versiegelung, und wende im Uebertretungsfalle, die angezeigten Strafen ohne alle Ausnahme ernstlich an.“137 Zwar erhob sich gegen diese Vorschläge ein Sturm der Entrüstung – „Schon bei Bekanntwerden seines philanthropischen Vorschlages wollte man ihn steinigen“138 –, doch allein ihre Publikation und Verbreitung kann uns eine ungefähre Vorstellung davon vermitteln, welche unvorstellbaren Ängste mit der großen Bevölkerungszunahme seit dem 18. Jahrhundert verbunden wurden. Noch Mitte der 1850er Jahre vertrat der hervorragende sächsische Statistiker und Ökonom Ernst Engel die Auffassung: „Das Proletariat lebt von der Hand in den Mund, ohne Aussicht darauf, daß es je anders werde, es ist sogar schon glücklich, wenn es nicht schlechter wird. Leider liegt es in der Natur der Dinge, daß es bei der gegenwärtigen Regelung und Auffassung der Verhältnisse die letztere Voraussetzung eine trügerische ist. Nicht nur drängt der rastlos vordrängende Erfindungsgeist der Menschen nach immer vollkommeneren und neueren Methoden der Nutzbarmachung der leblosen Naturkräfte, und wirkt dadurch auf Verdrängung der bloßen physischen Handarbeitskraft, sondern die Zunahme der Bevölkerung liefert tagtäglich neue Bewerber und bringt neue Münder auf die Welt, um von der Production mitzuzehren. Die Concurrenz der Arbeitnehmer steht zwar der Arbeitgeber gegenüber, allein die erstere ist mit Ausnahme einzelner Perioden ungleich größer, als die letztere, welche zu einer offenen Wunde wird in einem Staate, der an Überbevölkerung leidet.“139 Mitte des 19. Jahrhunderts konnten selbst weitblickende Ökonomen sich schwer vorstellen, daß die ungeheure Bevölkerungszunahme nicht in Hungerkatstrophen biblischen Ausmaßes, wie dies ja so oft in vorhergehenden Jahrhunderten aufgetreten war, enden müßte und die Industrie unmöglich so viele neue Arbeitskräfte beschäftigen könnte. Alle diese düsteren 137 Carl August Weinhold: Von der Ueberbevölkerung in Mittel-Europa, Halle 1827, S. 46 f. (im Original ganz hervorgehoben). Ausführlich dazu Hubert Kiesewetter: Das einzigartige Europa, Stuttgart 2006, S. 88 ff. 138 Wie ist Armuth in den deutschen Staaten zu verhüten, Quedlinburg/Leipzig 1836, S. 3 (Hervorhebung im Original). 139 Der Wohlthätigkeits-Congreß in Brüssel im September 1856, in: Zeitschrift des Statistischen Bureaus des Königlich Sächsischen Ministeriums des Innern, II. Jg., 1856, S. 159.

D. Das Kommunistische Manifest

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Prophezeiungen, die auch zu so absurden Vorschlägen wie ein Zwangszölibat für Arme beitrug,140 sind nicht eingetreten, nicht einmal deswegen, weil durch Lohnsteigerungen die Kaufkraft der wachsenden Bevölkerung zunahm, sondern weil die kapitalistischen Unternehmen ständig neue Produkte erfanden und auf den nationalen wie internationalen Märkten anboten, wodurch bei günstigen Konjunkturen die Nachfrage nach Arbeitskräften stark anstieg. Außerdem stand ja noch das breite Ventil der Auswanderung offen, vor allem in die unerschlossenen USA, das Hunderttausende, ja MIllionen von Deutschen fast während des ganzen 19. Jahrhunderts nutzten, wenn sie aus politischen oder ökonomischen Gründen ihre Heimat verlassen wollten oder mußten.

140 Vgl. Karl Braun: Das Zwangs-Zölibat für Mittellose in Deutschland, in: Vierteljahrschrift für Volkswirthschaft und Kulturgeschichte, Bd. XX, 1868, S. 1 ff.

7. Kapitel

Die politische Lösung: Revolution, Diktatur, Kommunismus 7. Kap.: Die politische Lösung: Revolution, Diktatur, Kommunismus 7. Kap.: Die politische Lösung: Revolution, Diktatur, Kommunismus

Wir haben bereits an einigen Beispielen gezeigt, mit welchem unbändigen Haß Marx das kapitalistische System beseitigen wollte, um mit internationalen, politischen Befreiungsbewegungen an dessen Stelle die klassenlose Gesellschaft zu setzen, die alle Nöte beseitigen sollte. Der Kapitalismus in allen seinen verschiedenen Formen hatte sich ja in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in vielen europäischen Staaten durchgesetzt bzw. war auf dem Vormarsch und es hätte erheblicher kriegerischer Anstrengungen bedurft, die weit über eine politische Revolution hinausgegangen wären, sich „den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen“, wie es in der Deutschen Ideologie heißt. Es ist deshalb notwendig und wohl auch von einigem Interesse nachzuverfolgen, wie Marx und Engels nicht nur den Kapitalismus beseitigen wollten, sondern wie eine künftige kommunistische Gesellschaft aussehen und funktionieren sollte. Der Umsturz der alten und die Aufrichtung der neuen Gesellschaft wurde zwar als ein ökonomischer, die Produktionsverhältnisse revolutionierender Prozeß angesehen, da Kultur, Religion oder politische Institutionen lediglich als Überbau der ökonomischen Herrschaft wahrgenommen wurden. Doch selbst die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln erforderte juristische Veränderungen, die nicht unmittelbar mit der Selbstbetätigung freier Menschen verbunden waren. Das Rechtssystem und die Bürokratie waren in den meisten industrialisierenden Gesellschaften Europas weit fortgeschritten, auch wenn nur wenige Staaten eine rechtstaatliche Verfassung besaßen, die Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit oder ein gleiches sowie allgemeines Wahlrecht für alle erwachsenen Bürger garantierte. Wie konnte man sich also konkret vorstellen, was durch eine soziale Revolution der internationalen Arbeiterklasse alles zerstört oder was beibehalten werden sollte? Soziale Revolution oder die Diktatur des Proletariats können ja nicht als vollwertiger Ersatz für einen komplizierten Gesellschaftsmechanismus angesehen werden, selbst wenn man einige Organisationen der bürgerlichen Gesellschaft zu übernehmen bereit war. Thomas Petersen und Malte Faber vermuten, daß für Marx der Gerechtigkeitsbegriff in einer kommunistischen Gesellschaft eine transitorische, d. h. vorübergehende, Kategorie sei und er diese Gesellschaft „jenseits der Gerechtigkeit ansieht“.1 Dagegen spricht allerdings, daß Marx diese neue Gesellschaft ökonomisch, sittlich und geistig noch mit den Muttermalen der alten Gesellschaft behaftet glaubte. 1 Thomas Petersen/Malte Faber: Karl Marx und die Philosophie der Wirtschaft (2013). 2. Aufl. Freiburg/München 2014, S. 114 (Hervorhebung im Original).

A. Die Geschichte von Klassenkämpfen

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Die neue, klassenlose Gesellschaft konnte ja auf keiner tabula rasa, d. h. auf dem Nichts von bürokratischen Behörden, Schulen, politischen Institutionen, Kirchen, Theatern, Sportvereinen etc., aufgebaut werden, weil dann auch nichts das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen ermöglicht hätte. Denn auch eine kommunistische Partei benötigt organisatorische Regeln, nicht nur für die Wirtschaft. Die kommunistische Kontrolle der Produktion mußte auf einem (politischen) Plan beruhen, der nicht rein ökonomisch ausgestaltet sein konnte und dieses Problem konnte nicht mit der Floskel von der Verwandlung des Sozialismus von einer Utopie zur Wissenschaft gelöst werden. Wie sollte z. B. Handel mit Fabrikwaren oder landwirtschaftlichen Produkten mit anderen Staaten durchgeführt werden, wenn keine Handelsverträge oder monetäre Zahlungsinstitutionen vorhanden waren? Solche und andere organisatorische Fragen mußten sich die marxistischen Ideologen eigentlich stellen und auch beantworten, wenn sie ihren Adepten ein besseres Gesellschaftssystem als den Kapitalismus versprachen. Die materialistische Geschichtstheorie von der ökonomischen Stufenfolge antiker, feudalistischer und kapitalistischer Gesellschaften, um es hier einmal vereinfacht wiederzugeben, konnte zwar als Blaupause historischer Entwicklungen angesehen werden, aber sie reichte nicht aus, um ein völlig neues Gesellschaftssystem nach einer erfolgreichen Arbeiterrevolution zu konstruieren oder aufzubauen. An diesen konstruktiven Unklarheiten und politischen Widersprüchen scheiterten nicht nur Marx und Engels, denen es nicht gelang, ein konsistentes Theoriengebäude zu errichten, sondern vor allem Lenin, Stalin oder Mao Zedong, die sich mit ökonomischen wie politischen Problemen der Umgestaltung von wenig industrialisierten Gesellschaften konfrontiert sahen. Ganz abgesehen von den Problemen der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Konsumgütern, mit denen sie sich ebenfalls nicht gründlich auseinandergesetzt hatten und die selbst durch eine weltweite Revolutionspropaganda nicht hinweginterpretiert werden konnten. In den folgenden Ausführungen sollen einige Aspekte des marxistischen Gesellschaftsmodells kurz erörtert werden, um eine genauere Vorstellung davon zu gewinnen, welche Absichten von Marx und Engels mit dem Kommunismus verbunden wurden. Beginnen wir mit einer historischen Theorie, die den realen Geschichtsverlauf bereits so stark vereinfacht, daß nur noch schemenhaft die einzelnen Akteure, seien es nun Politiker, Feldherrn, Kapitalisten oder arbeitende Menschen bzw. Sklaven darin erkennbar sind.

A. Die Geschichte von Klassenkämpfen Die Geschichte der Menschheit aus der Geschichte der ökonomischen Verhältnisse abzuleiten bzw. sie damit zu verknüpfen, d. h. die materiellen Verhältnisse als Basis aller menschlichen Verhältnisse anzusehen, war für Marx und Engels eine einmalige historische Enthüllung, die mindestens auf der theoretischen Stufe der evolutionären Theorie von Charles Darwin (1809 – 1882) stand. Friedrich Engels schrieb nach dem Tod von Marx am 18. März 1883: „Wie Darwin das Gesetz der

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7. Kap.: Die politische Lösung: Revolution, Diktatur, Kommunismus

Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, daß die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können; daß also die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnittes die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben“.2 Allerdings ist die Menschheitsgeschichte etwa 1,7 Millionen Jahre alt und ob Sammler und Jäger oder Steinzeitmenschen oder der Ötzi der ökonomischen Spezi zugerechnet werden können, scheint zumindest fraglich bzw. fragwürdig. Denn die Urzeitmenschen kannten ja kein ‚ökonomisches System‘, sondern ihr Leben war davon abhängig, eßbare Nahrung zu finden oder durch Jagd sich (und ihre Familien?) mit Fleisch zu versorgen. Eine Determiniertheit der ökonomischen oder gesellschaftlichen Bedingungen widerspricht so sehr allem historischen Verständnis, daß man erstaunt ist, warum der scharfe Analytiker Marx nicht auf den Gedanken kam, daß sein eigenes Bewußtsein ideologisch determiniert war und er der Geschichte Interpretationen überstülpte, die mit deren realen Ablauf nicht in Übereinstimmung zu bringen waren. Die Seßhaftwerdung in einer größeren Gruppe, d. h. die ersten Formen der Geselligkeit, finden wir im Neolithikum, also erst einige Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung, was gemessen an der Erdgeschichte einen winzigen Zeitraum darstellt. Bis dahin existierten Menschen Hunderttausende von Jahren ohne jede Form des gesellschaftlichen Zusammenhalts und weitgehend auch ohne irgendwelche Regeln oder Vorschriften, selbst wenn sie religiöse Symbole verehrten. Und darin bestand ja die eigentliche Leistung Darwins, daß er die Evolution auf den Ursprung aller Lebewesen zurückführte und damit die Theorie des genetischen Wandels begründete, die auch auf den Menschen und seine Abstammung vom Affen zutrifft. Menschliche Gesellschaften bildeten sich jedoch erst viel später und abgesehen davon konnten ‚Klassen‘ oder ‚Klassengegensätze‘ erst dann entstehen, nachdem eine politische (bzw. Stammes-)Herrschaft in einem offiziell abgegrenzten Territorium etabliert war. Es offenbart deshalb eine rührende Naivität, wenn in einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft diese antagonistischen Feindschaften nicht mehr als existent angesehen werden, weil Marx und Engels dies behauptet haben: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“3 Was Marx und Engels unter ‚Geschichte der Menschheit‘ verstanden, ist also ein Phänomen, das höchstens in

Friedrich Engels: Das Begräbnis von Karl Marx, in: MEW. Bd. 19, Berlin 1974, S. 335. Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (1848), in Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 4, Berlin 1971, S. 482. 2

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den letzten Perioden der Menschheitsgeschichte aufgetreten ist und selbst dort nur vereinzelt. In einem Brief an Pawel Wassiljewitsch Annenkow vom 28. Dezember 1846 hatte Marx geschrieben, was natürlich auf das industrielle Zeitalter und nicht auf irgendwelche vorindustriellen Perioden wie den Feudalismus oder den Merkantilismus bezogen war: „Die Produktivkräfte sind also das Resultat der angewandten Energie der Menschen, doch diese Energie selbst ist begrenzt durch die Umstände, in welche die Menschen sich versetzt finden, durch die bereits erworbenen Produktivkräfte, durch die Gesellschaftsform, die vor ihnen da ist, die sie nicht schaffen, die das Produkt der vorhergehenden Generation ist.“4 In dieser komplizierten Ausdrucksweise wird der banale Sachverhalt ausgedrückt, daß menschliche Arbeit auf einer früheren Generation beruht, aber auch durch bestimmte Umstände eingeschränkt sein kann, weil die Energieformen in verschiedenen Epochen selbstverständlich nicht gleich waren und sind. Noch allgemeiner drückte er diesen Gedanken einer Übernahme von gesellschaftlichen Zuständen im Vorwort seines Buches Zur Kritik der Politischen Ökonomie in einer oft zitierten Redewendung aus: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“5 Doch nicht einmal die neuesten Erkenntnisse der Neurophysiologie können eine begründete Aussage darüber treffen, ob die Ideen in unseren Köpfen ihren Ursprung im ökonomischen System haben oder nicht, aber mit großer Sicherheit sind Ideengebäude mit geistigen Traditionen verknüpft, die von einer Generation auf die andere übertragen werden können. Es gibt ja auch Ideengebäude, wie z. B. die Religionen, die ihre Mitglieder mit mythischen Vorstellungen überziehen, die mit Ökonomie nur oberflächlich in Verbindung gebracht werden, auch wenn Kapital dabei eine wichtige Rolle spielt. Wie weit wir uns dieses Umstandes bewußt sind, hängt aber ganz wesentlich von unserem Bildungsgrad und unserem Erkenntnisvermögen ab. Ein höheres Bewußtsein des ökonomischen Bewegungsgesetzes für sich in Anspruch zu nehmen, das ökonomische Zusammenhänge genauer erkennen kann als Generationen von Ökonomen, ist entweder reine Ideologie oder eine praktikable Immunisierungsstrategie gegen jegliche Widerstände aus der Wirklichkeit. Solche Thesen über die ökonomischen Verhältnisse in der jahrtausendealten Menschheitsgeschichte, die wegen fehlender Dokumente in einen fast undurch4 MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 452. Ich finde es deshalb erstaunlich, daß in einer neueren Studie über Marx die Feststellung getroffen wird: „Eine wesentliche Charakteristik der materialistischen Geschichtsauffassung ist es nämlich, dass sie ausdrücklich darum bemüht ist, sich der Festlegung auf eine bestimmte Zielvorstellung zu entziehen.“ (Denis Mäder: Fortschritt bei Marx, Berlin 2010, S. 14). Als könnte man den Fortschrittsgedanken abkoppeln von der zunehmenden Verbesserung der Produktivkräfte, was Marx in seinen reiferen Schriften niemals beabsichtigte. 5 Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859), in: MEW. Bd. 13, Berlin 1975, S. 9. Dieses Buch erschien am 11. Juli 1859 in 1.000 Exemplaren im Verlag von Franz Duncker in Berlin.

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dringbaren Nebel gehüllt sind, so daß wir höchstens vage Vermutungen anstellen können, waren ähnliche philosophische Hirngespinste von Marx und Engels wie die Behauptung: Weil die Produktivkräfte bzw. die Produktionsverhältnisse bestimmend sind für die gesellschaftlichen Systeme, entwickelte der industrielle Kapitalismus Eigentümer dieser Produktivkräfte, d. h. die herrschende Klasse. Es wird von Marxisten viel zu wenig berücksichtigt, daß der sogenannte ‚wissenschaftliche Materialismus‘ sich spezielle ökonomische Aussagen über Gesellschaftsformationen in der Vergangenheit anmaßt, über die wir lediglich unzureichende Informationen besitzen und von denen wir höchstens vage Zusammenhänge ermitteln können, die weitreichende Schlüsse über sie eigentlich verbieten. Um weit zurückliegende Klassengesellschaften empirisch dingfest zu machen, benötigten wir soziologische Daten der Statushierarchie, die nicht vorhanden sind und die nicht einfach durch eine Behauptung wie: Wer im Besitz von Produktiveigentum ist, muß notwendigerweise alle anderen, die abhängigen Bevölkerungsgruppen unterdrücken und ausbeuten, ersetzt werden können und dann zu folgern, dadurch entstünden Klassengegensätze und Klassenkämpfe, die sich dann in einer sozialen Revolution entladen und zu einer klassenlosen Gesellschaft führen müßten. Die ‚herrschenden Klassen‘ waren jedoch in Epochen, über die genauere Daten zur Verfügung stehen, nämlich während des gesamten kapitalistischen Mittelalters und der frühen Neuzeit überwiegend der landwirtschaftliche Adel – der über das meiste Produktiveigentum verfügte – auf der ökonomischen und die kirchlichen Fürstbischöfe auf der weltlichen Seite, wobei sich beides öfter vermischte. Es ist jedoch eine einseitige und schiefe Vorstellung, wenn behauptet wird, daß ‚Klassen‘ über alle gravierenden Unterschiede von Gewerbe, Handwerke, kirchliche und weltliche Herrschaften und landwirtschaftlicher Produktion – die von Land zu Land noch sehr verschieden waren – existiert und ihre Macht ausgeübt hätten. In unterschiedlichen Phasen über einen langen Zeitraum von fast tausend Jahren wurden in Europa und in eroberten Kolonien Kriege bzw. Kreuzzüge um die politische Vorherrschaft geführt und die große Mehrheit der betroffenen Menschen mußte sich damit abfinden, todgeweihter Spielball von Königen und Päpsten zu sein, ohne wirkungsvoll dagegen vorgehen zu können. Erst die Aufklärung im 18. Jahrhundert verbreitete ein allgemeines Bewußtsein davon, daß Menschen selbständige Individuen sind, denen persönliche Rechte zustehen und die nicht als Sklaven oder Leibeigene behandelt werden dürfen. Jean-Jacques Rousseaus Einleitungssatz im Gesellschaftsvertrag von 1762: „Der Mensch ist frei geboren, und überall ist er in Ketten“ drückt auf prägnante Weise das gesellschaftliche Dilemma aus, in dem sich Menschen strukturell befinden, sobald sie einer staatlichen Organisation angehören oder angehören wollen. Wenn also die geistige, industrielle und technische Revolution im 18. Jahrhundert – die für Marx und Engels entscheidend war für die endgültige Durchsetzung des modernen Kapitalismus – die gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber vorhergehenden Epochen grundlegend verändert hat, dann kann die zeitlose Aussage nicht zutreffend sein: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich

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ihre herrschende geistige Macht.“6 Mit klassenkämpferischen Parolen hatten diese emanzipatorischen Ansätze einer individualisierten Gesellschaft gar nichts zu tun, denn wir können in der 2. Hälfte des 18. wie in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus kapitalistische Staaten antreffen, in denen solche Klassenkämpfe ausblieben und Unternehmer sich sozial engagierten, wie wir dies bereits bei Robert Owen gesehen haben. Die Idee einer klassenkämpferischen Natur des Kapitalismus legte es allerdings nahe, eine klassenlose, eine eigentumslose, eben die kommunistische Gesellschaft dagegenzustellen, in der es möglich sei, Unterdrückung, Armut und Ausbeutung der arbeitenden Klasse endgültig zu beseitigen! Der Klassenkampf ist die proletarische Droge, um die Empörung über die bestehende Ordnung anzufachen und die massenhaften Arbeiterheere zur Revolution zu mobilisieren – im Hegel-Marxschen bzw. philosophischen Jargon die Negation der Negation und die gesellschaftliche Totalität. Die historische Mission des Proletariats, die kapitalistische Klasse zu beseitigen, wurde in der Marx-Engelschen Giftküche zusammengebraut, weil man dadurch alle Klassengegensätze überwinden zu können glaubte und stattdessen ein ‚Reich der Freiheit‘ versprach. Etwa ein Jahr vor seinem Tod, am 26. September 1894, schrieb Engels an sizilianische Sozialisten: „Die Morgenröte einer neuen und besseren Gesellschaft steigt für die unterdrückten Klassen aller Länder leuchtend empor … Es formiert sich das Heer des internationalen Proletariats, und das nahende neue Jahrhundert wird es zum Siege führen!“7 Diese weltgeschichtliche Mission hat das Proletariat aber offenbar nicht erkannt bzw. verstanden und die Hoffnungen auf die Vorsehung wie auf den Zusammenschluß der internationalen Arbeiterschaft waren so spekulativ, daß die Menschheit in den meisten kapitalistischen Staaten – bis auf die Sowjetunion und ihre chinesischen und osteuropäischen Satelliten – diesem revolutionären Projekt die kalte Schulter zeigte. Es ist selten an Marx kritisiert worden, daß die Träger des Klassenkampfes, das Proletariat, sich nach ihm nicht aus einzelnen Individuen zusammensetzte – weder dem einzelnen Proletarier noch dem Proletariat als Einheit wird eine entscheidende Rolle bzw. Funktion in der Revolution zugebilligt –, sondern daß es dazu naturnotwendig gezwungen ist. Der geschichtliche Prozeß ist nach Marx und Engels der eigentliche Motivator der Klassenkämpfe, doch diese Vorstellung ist so ahistorisch und realitätsfremd, daß man erstaunt sein muß, weshalb Generationen von marxistischen Denkern diesen Rattenfängern nachgerannt sind.8 Wenn es tatsächlich möglich wäre, daß Arbeiter unbewußt den Klassenkampf durchführen und Marx ihnen ein Bewußtsein, ein Klassenbewußtsein, davon vermitteln könnte, dann wäre er kein Ökonom oder Historiker oder Soziologe, sondern 6 Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW. Bd. 3, Berlin 1962, S. 46 (Erste Hervorhebung von mir, die beiden anderen Hervorhebungen im Original). 7 Friedrich Engels: [Grußadresse an die Sozialisten Siziliens], in: MEW. Bd. 22, Berlin 1972, S. 477. 8 Vgl. dazu schon Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. II, Tübingen 2003, S. 96 ff., ein Buch, das zuerst 1945 in englischer Sprache veröffentlicht wurde.

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ein messianistischer Prophet. Es fehlte Marx offensichtlich an Selbstkritik, um erkennen zu können, daß seine Klassenkampftheorie eine verblüffende Ähnlichkeit mit eschatologischen Vorstellungen, wie etwa die notwendige Ankunft eines Jüngsten Gerichts, darstellte. Das ‚Geheimnis des dialektischen Geschichtsablaufs‘ kann nämlich niemals auf der Basis einer wissenschaftlichen Analyse gewonnen werden, sondern ist ebenso Lesen aus dem Kaffeesatz wie das unentfremdete Paradies eines kommunistischen Staates. Die ermüdenden Wiederholungen des Begriffs ‚wissenschaftlich‘, sei es für die Dialektik, den Kommunismus, den Materialismus oder den Sozialismus, kann nicht verdecken, daß alle diese ‚Theorien‘ auf einem kruden materialistisch-positivistischen Pragmatismus basieren. Der Revisionist Eduard Bernstein hat dies so umschrieben, daß beide Forderungen erhalten bleiben können, doch Wissenschaft ist es trotzdem nicht, so wenig wie eine wissenschaftliche Theorie: „Wenn von wissenschaftlichem Socialismus gesprochen wird, so kann es sich immer nur um die Begründung socialistischen Strebens, socialistischer Forderungen handeln, um die diesen Forderungen zu Grunde liegende Theorie.“9 Die klassenlose sozialistische Gesellschaft ist somit das träumerische Produkt von Geschichte und Revolution oder philosophischer ausgedrückt: von Notwendigkeit und Zufall. Ein irrationaleres Gebäude ist selten über einem ökonomischen System errichtet worden, auch wenn Millionen von Menschen ihre enttäuschten Hoffnungen damit verbanden. Selbst die Idee des atheistischen Materialisten Paul Heinrich Dietrich Holbach (1723 – 1789), daß Völker in außergewöhnlichen Situationen bzw. in entarteten Zuständen zu einer Revolution berechtigt seien, kann Marx zu seiner Rechtfertigung nicht beanspruchen. Hinter diesen Ideen eines menschheitsgeschichtlichen Klassenkampfes, der nur durch eine gesellschaftsvernichtende Revolution beseitigt werden könne, steht die weitverbreitete Vorstellung einer kollektiven Gesellschaft, in der die Individuen nichts weiter sind als notwendiger Bestandteil des ökonomischen und politischen Systems. In marxistischen, totalitären bzw. kommunistischen Gesellschaften ist den Menschen ständig eingetrichtert worden, daß das Staatswohl – „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ – weit über den privaten Bedürfnissen rangiere und deshalb das Individuum sich unterzuordnen und den Befehlen der Herrschenden bzw. der Partei bedingungslos zu folgen habe. Die Herrschenden haben die höhere Weihe, entweder durch ein angebliches Gottesgnadentum, das Königen durch Päpste verliehen wurde, oder durch eine allmächtige Partei, die ihre Ideologie durch faschistische oder kommunistische Ideengebäude verabreicht bekommen hat. Das einzelne Individuum sei eben nicht in der Lage, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und für sich und seine Familie zu sorgen, geschweige denn die Erfordernisse einer Gesellschaft zu erkennen, weshalb man sich einer Klasse oder einer Partei anschließen bzw. unterordnen müsse, die besser wissen, was dem gesamten Volk gut tue. Dieser Kollektivismus ist der ärgste Feind aller demokratischen Bestrebungen, 9 Eduard Bernstein: Wie ist wissenschaftlicher Socialismus möglich?, Berlin 1901, S. 20 (Hervorhebungen im Original). Allerdings schrieb er später: „Kein Ismus ist eine Wissenschaft.“ (S. 35).

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denn er setzt Individualismus mit Egoismus gleich, obwohl echter Individualismus mit einer altruistischen, d. h. sich um die Leiden der anderen kümmernden, Einstellung ganz leicht zu vereinbaren ist. Eine Gesellschaft, in der Menschen ein politisches System etablieren, das nur über vorübergehende Herrschaftsmacht verfügt und abgewählt oder grundlegend verändert werden kann, ist sowohl religiösen wie politischen Dogmatikern ein Gräuel, denn es verzichtet auf endgültige Wahrheiten und auf totalitären Dogmatismus. In solchen demokratischen Gesellschaften ist Toleranz gegenüber anderen Meinungen das tragende Fundament des einträglichen Zusammenlebens und politische Entscheidungen werden in einem langwierigen Verhandlungsprozeß ausdiskutiert und vorbereitet, nicht aber revolutionär oktroyiert. Dagegen mußte in kommunistischen Gesellschaften den gutgläubigen Bürgern die ‚wissenschaftlichen‘ Erkenntnisse der Heroen des Sozialismus nahegelegt und ihnen eingebläut werden, daß ohne die führende Partei alles wie gesprengte Atome zersplitterte: „Die Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus begnügten sich nicht mit der revolutionären Erkenntnis, sondern begannen sie unverzüglich in die revolutionäre Tat umzusetzen.“10 Als wirkungslose Beruhigungspille wurde den werktätigen Menschen von Marxisten die ökonomische Lüge aufgetischt bzw. verabreicht, daß der Kommunismus die kapitalistischen Staaten im Sozialprodukt pro Kopf nicht nur einholen, sondern überholen und überflügeln würde und bald „die Überlegenheit der kommunistischen Gesellschaft endgültig“11 bewiesen sei. Wirkungslos war diese Pille vor allem auf lange Sicht, als sich nämlich herausstellte, daß diese ‚Überlegenheit‘ lediglich eine rhetorische Floskel darstellte, die in der konkreten Realität mit Freiheitsverzichten, Wohlstandsreduzierungen und Verfolgungen von Andersdenkenden erkauft werden mußte. Dieses platonische Ideal einer kollektiven Gesellschaft, in der die Philosophen die geborenen Könige bzw. politischen Herrscher sind, hat Marx aus Hegels Staatsphilosophie entlehnt, die in der konkreten politischen Realität nichts anderes erzeugt als ein totalitäres Herrschaftssystem Hitlerscher oder Stalinscher Prägung.12 Es erscheint mir deshalb als der vergebliche Versuch einer ideologischen Reinwaschung von Marx, wenn behauptet wird, er habe „die Veränderungsmöglichkeiten mit Blick auf eine bessere Gesellschaft aus der Entwicklung des kapitalistischen Gesellschaftssystems“13 im Auge gehabt bzw. vertreten. Natürlich hat er nicht geglaubt, daß der Kommunismus mit einem revolutionären Faustschlag errichtet werden könnte, doch ohne eine endgültige Vernichtung des Kapitalismus sei die höchste Stufe des Kommunismus unerreichbar: „Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1978, S. 10. Hermann Scheler: Philosophische Probleme des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus, Berlin 1959, S. 5. 12 Vgl. Hubert Kiesewetter: Von Hegel zu Hitler (1974). 2. Aufl. Frankfurt am Main 1995, S. 65 ff. 13 Johannes Rohbeck: Marx, Leipzig 2006, S. 77. 10 11

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kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt.“14 Marx hat nie einen Gedanken daran ‚verschwendet‘, wie man den durch den Kapitalismus erzeugten ungeheuren Reichtum besser durch Reformierung dieses Systems für die arbeitenden Menschen nutzen bzw. verteilen könnte, weshalb die Aussage unhaltbar ist: „Er untersucht die objektiven Möglichkeiten für einen sozialen Wandel zum Besseren.“15 Er wollte vor allem das kapitalistische System zerstören, aber nicht durch mühsam ausgehandelte Kompromisse zwischen den unterschiedlichen Akteuren auf politischer und ökonomischer Ebene reformieren. Um dieses vage, nie konkret ausformulierte Ziel einer klassenlosen, kollektiven Gesellschaft, in der die Illusion verbreitet wurde, daß die Menschen zum erstenmal wirklich frei seien, daß sie ins ‚Reich der Freiheit‘ einzögen, durch eine zerstörerische Revolution möglichst bald zu erreichen, mußte Marx nicht nur die Philosophie praktisch werden lassen. Die 11. Feuerbach-These lautet ganz im Gegensatz zu den Ideen, die die Welt verändern, während die praktischen Versuche durch Kanonen beseitigt werden: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern“.16 In der Zwischenzeit hatte sich Marx vom idealistischen Philosophen zum Revolutionär gewandelt, weil er erkennen mußte, daß mit philosophischen Aphorismen der Ökonomie nicht beizukommen ist, aber er strebte keine erklärende Interpretation des so komplexen Industriesystems an, sondern stellte die historische Realität des Industriekapitalismus durch wilde Übertreibungen auf den Kopf, indem er behauptete: „Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d. h. auf der Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert.“17 Diese Schwarz-Schweiß-Dichotomie hat es in keinem industrialisie14 Karl Marx: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, in: MEW. Bd. 19, Berlin 1974, S. 20 (Hervorhebungen im Original). Wie der ideale Kommunismus nach Marx aussehen soll, dazu siehe Text zu Anm. 249, unten. Für Engels ist in seinem Entwurf des Kommunistischen Glaubensbekenntnisses vom 9. Juni 1847 der Kommunismus erst entstanden, seit es Maschinen und andere technische Erfindungen gab, die allen Mitgliedern der Gesellschaft eine glückliche Existenz ermögliche: „Der Kommunismus ist die Lehre von einer Befreiung, die nicht den Sklaven, den Leibeigenen oder den Handwerkern möglich war, sondern erst den Proletariern, und daher gehört er notwendig dem neunzehnten Jahrhundert an und war zu keiner früheren Zeit möglich.“ (Zitiert in: Der Bund der Kommunisten. Bd. 1: 1836 – 1849, Berlin 1970, S. 473). 15 J. Rohbeck: Marx (wie Anm. 13), S. 77 (Hervorhebung von mir). 16 Karl Marx: [Thesen über Feuerbach] (1845), in: MEW. Bd. 3, Berlin 1962, S. 7 (Hervorhebungen im Original). 17 K. Marx: Das Kapital. 1. Bd. (wie Anm. 41), S. 675. Dieses moralische Unwerturteil rechtfertigt wohl keineswegs die Aussage: „Die verborgene Moral von Marx weist auf das Desiderat einer Verbindung von Ökonomie und Ethik hin.“ (So J. Rohbeck: Marx (wie Anm. 13), S. 17).

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renden Staat gegeben, selbst nicht in den Frühphasen der Industrialisierung, in denen die meisten Arbeiter mit Hungerlöhnen auskommen mußten. Denn in diesem angeblich ausbeuterischen Kapitalismus gingen auch Hunderte oder gar Tausende von Unternehmern bei schlechten Konjunkturen bankrott oder Bankiers brachten sich nach Börsenkrisen um, weil sie die persönliche Schande nach finanziellen Verlusten nicht verkraften konnten. Doch für die schlechtbezahlten Arbeiter, die sich nach einer menschlichen Existenz sehnten, in der ihre persönliche Würde einen angemessenen Platz zugewiesen bekäme, bedeutete die Idee einer klassenlosen Gesellschaft beinahe das wenn auch schwer erreichbare Paradies auf Erden; denn sie lockte mit dem Versprechen: „Die soziale Vernunft wird den endgültigen Sieg über die irrationalen, elementaren Kräfte der Natur und der Gesellschaft davontragen, und der soziale Mensch wird sich zum mächtigen Herrscher über das Weltall aufschwingen.“18 Bis zum endgültigen Untergang osteuropäischer, kommunistischer Herrschaftssysteme seit 1989 wurde die längst widerlegte Ansicht vertreten, „daß eine Ausbeutergesellschaft wie der Kapitalismus stets nur auf Kosten der Werktätigen Fortschritt bringen kann, während der Sozialismus Fortschritt gerade zum Wohle der Werktätigen bringt“.19 Kuczynski paraphrasiert selbstverständlich Marx, der schon im Elend der Philosophie die individuelle Güternachfrage, die Adam Smith zur menschlichen Grundlage seines privatkapitalistischen ökonomischen Systems erhoben hatte, als reaktionär und anarchistisch, d. h. vollständig überholt kennzeichnete: „In der heutigen Gesellschaft, in der auf den individuellen Austausch basierten Industrie, ist die Produktionsanarchie, die Quelle so vieles Elends, gleichzeitig die Ursache alles Fortschritts. Demnach von zwei Dingen eins: Entweder man will die richtigen Proportionen früherer Jahrhunderte mit den Produktionsmitteln unserer Zeit, und dann ist man Reaktionär und Utopist in einem. Oder man will den Fortschritt ohne Anarchie: und dann verzichte man, um die Produktivkräfte beizubehalten, auf den individuellen Austausch.“20 In jeder Beziehung hatte der so verteufelte ‚Kapitalismus‘ in den westlichen Industriestaaten seit den 1950er Jahren der arbeitenden Bevölkerung eine Wohlstandszuwachs beschert, der nach den fürchterlichen Kriegen, Inflationen und Massenarbeitslosigkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unvorstellbar gewesen war. Auch die Möglichkeiten, durch eine höhere Bildung bzw. bessere Berufsausbildung die soziale Stufenleiter emporzusteigen, hat sich in den letzten Jahrzehnten in kapitalistischen Staaten erheblich verbessert, ganz abgesehen von mehr Freizeit und Urlaub sowie erheblich reduzierter Wochenarbeitszeit. Doch bereits im 19. Jahrhundert, der Hochblüte des vom Marxismus verteufelten Kapitalismus, hatten Unternehmer nicht nur die Löhne ihrer Arbeiter erhöht, sondern auch verschiedene Formen der Gewinnbetei18

Nikolai Berdiajew: Wahrheit und Lüge des Kommunismus, Darmstadt/Genf 1953,

S. 20. 19 Jürgen Kuczynski: Gesammelte Studien zur Geschichte und Theorie des Kapitalismus, Berlin 1979, S. 18. 20 Karl Marx: Das Elend der Philosophie, in: MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 97.

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7. Kap.: Die politische Lösung: Revolution, Diktatur, Kommunismus

ligung etabliert: „Dieser Assecuranzlohn bildet einen Zusatz zum festen Tage- oder Stücklohn und unterscheidet sich von dem gewöhnlichen Arbeitslohn dadurch, daß er allen Arbeitsgehülfen zusammen mit fester Zweckbestimmung ertheilt wird. Er dient für Krankheiten, Unfälle, für Altersversorgung, als Theuerungszulage, als Beihülfe bei Familienereignissen, wie Heirathen, Geburten, Begräbnisse, als Nothpfennig in Zeiten der Arbeitslosigkeit und für verwandte Zwecke.“21 Auch wenn diese Summen nicht so groß waren, daß alle diese Ereignisse ausreichend finanziert werden konnten, so bedeutete die Gewinnbeteiligung eine sichtbare Wertschätzung der Mitarbeiter durch die Unternehmensleitung, die mit einem ausbeuterischen Mehrwerthunger nicht vereinbart werden kann.22 Der englische Arzt Arthur Shadwell (1854 – 1936) hat interessante Beobachtungen darüber gemacht, daß nicht nur die verkürzten und verlängerten Arbeitszeiten Vor- und Nachteile haben – obwohl er sich wegen höherer Leistungsfähigkeit eindeutig für kürzere Arbeitszeiten aussprach –, sondern daß sich auch die Pausen in England, Deutschland und den USA um 1900 unterschieden: „In England ist die Mittagspause immer eine Stunde; in Deutschland niemals weniger und häufig mehr; in Amerika gewöhnlich. In England gibt es auch eine Frühstückspause und in Deutschland noch eine dritte für den Nachmittagskaffee; in Amerika kennt man beides nicht.“23 Ein differenziertes Bild von ganz unterschiedlichen menschlichen Reaktionen auf solche Arbeitsgewohnheiten, auf Gewinne oder Verluste von Unternehmern, auf den Versuch von Arbeitern, ihre materielle Lage durch eine höhere Berufsqualifikation zu verbessern, paßt natürlich nicht in ein solches tiefschwarzes Gemälde von sklavenähnlicher Arbeitsquälerei durch kapitalakkumulierende Unternehmer. Und es wird außerdem überhaupt nicht ins Kalkül gezogen, daß wegen der starken Zunahme der europäischen Bevölkerung seit Mitte des 18. Jahrhunderts Millionen von Menschen verhungert wären, wenn ihnen keine, wenn auch schlechtbezahlte und gesundheitsgefährdende, Arbeitsmöglichkeiten in Fabriken angeboten worden wären. Man kann deshalb nur an den gesunden Menschenverstand appellieren, sich nicht durch kommunistische Versprechungen betören zu lassen, wie sie Marx dem Kommunismus andichtete: „Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion … Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche 21 Victor Böhmert: Die Gewinnbetheiligung. 1. Theil, Leipzig 1878, S. 11 (Hervorhebung im Original). 22 Vgl. ebenso Victor Bähmert: Praktische Versuche mit neuen Lohnzahlungsmethoden und Gewinnbetheiligung der Arbeiter, in: Der Arbeiterfreund, 11. Jg., 1873, S. 24 ff. 23 Arthur Shadwell: England, Deutschland und Amerika, Berlin 1908, S. 333. Über die physisch erschöpfenden Folgen von zu langen Arbeitszeiten bzw. die unausgelasteten oder ungenügenden Formen von zu kurzen sowie umgekehrt schrieb Shadwell: „Acht Stunden oder weniger von einer Arbeit können erschöpfend sein, 12 Stunden von einer andern nicht, ebenso mag eine Gruppe von Arbeitern eine Arbeit in 8 Stunden leisten, zu der eine andere 12 Stunden braucht.“ (S. 336).

B. Der ausbeuterische Kapitalismus

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Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.“24

B. Der ausbeuterische Kapitalismus Es kann und soll ja gar nicht bezweifelt werden, daß die Industriearbeit in den Anfängen der technischen Revolution enorme Anforderungen an Menschen stellte, die an den landwirtschaftlichen Tagesrhythmus gewöhnt waren und nun in schmutzigen Fabrikhallen, bei ungesunder Luft sowie bei wechselnden Arbeitsschichten – oft auch durch stundenlange Fußmärsche von der Wohnung zur Arbeit und zurück – an den Rand ihrer körperlichen Kräfte gedrängt wurden. Während in landwirtschaftlichen Tätigkeiten Ruhepausen eingelegt werden konnten und wohl auch die Hygiene leichter zu praktizieren war, mußte in Fabriken ein straffes Zeitregiment die Arbeiter in ein unbarmherziges Korsett von Zeitrhythmen und Arbeitsabläufen zwingen – ganz abgesehen von sexuellen Nöten in einer knapper werdenden Freizeit. Außerdem waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Millionen europäischer Menschen durch Klimaveränderungen, Erntekrisen und anschließenden Hungersnöten existentiell bedroht, bevor durch eine massive Reduzierung der Frachtkosten Getreide aus Brasilien, Rußland und den USA nach Europa verschifft werden konnte. Gerade in Industrieregionen mangelte es an ausreichender Versorgung mit Nahrungsmitteln, weshalb sie meist auf Importe angewiesen waren, die bei Erntekrisen jedoch ausblieben, weil die früheren landwirtschaftlichen Exportstaaten ihre Nahrungsmittel für die eigene Bevölkerung benötigten und entweder die Ausfuhr ganz verboten oder mit hohen Zöllen belegten. Deshalb muß aus Wahrheitsgründen immer wieder betont werden, daß zu der Zeit, als Marx diese bedrückende Schilderung des ausbeuterischen kapitalistischen Systems veröffentlichte, sich die materielle und gesundheitliche Lage eines großen Teils der arbeitenden Klasse in allen industrialisierenden Staaten verbesserte. Zwar traten diese Veränderungen nicht plötzlich auf, sondern setzten sich allmählich gegenüber der frühindustriellen Situation durch, doch die Lebenssituation war längst nicht mehr so lebensbedrohend wie noch wenige Jahrzehnte früher, auch wenn sie weiterhin unzureichend war.25 Im Vergleich mit heutigen Ansprüchen an materielle Lebensqualität war die damalige Situation natürlich verheerend und eigentlich unzumutbar, doch zu Marx’ Lebzeiten sind auf Druck von kirchlicher und politischer Seite erhebliche Verbesserungen gerade für die Industriearbeiterschaft vorgeschlagen und durchgesetzt worden. Die Kinderarbeit wurde reduziert, wenn auch nicht abgeschafft, Fabrikinspektoren kontrollierten die hygienischen Bedingungen in den Unternehmen und Mißbräuche wurden bestraft, Löhne erhöht und die WochenarKarl Marx: Das Kapital. 3. Bd., Berlin 1966, S. 828. Vgl. Hubert Kiesewetter: Industrielle Revolution in Deutschland, Stuttgart 2004, S. 29 ff. 24 25

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7. Kap.: Die politische Lösung: Revolution, Diktatur, Kommunismus

beitszeit gesenkt. Aber die konkreten Sorgen der arbeitenden Bevölkerung interessierten diese Heroen des wissenschaftlichen Kommunismus nur wenig, da sie revolutionäre Ideologien verbreiten und die Menschen gegen das Industriesystem aufhetzen wollten. Kinderarbeit war zweifellos ein Makel, der dem Industrialisierungszeitalter anhaftet, aber sie entstand ja keineswegs durch die Industrie, sondern war eine gewöhnliche Beschäftigung in der Landwirtschaft, im Hausgewerbe oder im Handwerk seit Jahrhunderten. Wenn wir etwas darüber erfahren wollen, warum man die Kinderarbeit nicht sofort mit der Errichtung von Fabriken abgeschafft hat, müssen wir uns mit den Lebensbedingungen im 19. Jahrhundert vertraut machen, denn traditionelle Gewohnheiten werden nicht einfach aufgegeben, wenn sich die Arbeitswelt verändert. Man kann die Ansicht diskutieren: „Was die Fabrik tat, war, die Schäden der Kinderarbeit konzentriert ans Licht zu bringen und die Aufmerksamkeit darauf zu lenken“.26 Aber daß arbeitende Kinder in Fabriken – nicht in Bergbaugruben, wo sie bei entsetzlicher Arbeitsbelastung einem hohen Lebensrisiko ausgesetzt waren – vielleicht besser aufgehoben, versorgt und beaufsichtigt werden konnten als alleine in verrotteten Wohnungen und unhygienischen Kellerräumen, kann kaum bestritten werden. Wenn die Ehepartner, also Mann und Frau, beide arbeiten gehen mußten, um ihren Lebensunterhalt mit meistens sechs bis zwölf Kindern zu verdienen, lag es nahe, wenigstens einige Kinder mit in die Fabrik zu nehmen und sie dort beschäftigen zu lassen, damit sie nicht verwahrlosten. Am 20. Juli 1837 schlug der Fabrikant Schuchard aus Barmen den Ständen der Rheinprovinzen den Erlaß eines Gesetzes vor, um den Mißbrauch von Kinderarbeit einzudämmen, das folgende Vorschriften enthalten sollte: „1. Ein Kind kann zur Arbeit in den Fabriken nicht zugelassen werden, bevor es nicht das neunte Lebensjahr zurückgelegt hat. 2. Ebenso ist auch ein Kind nicht zuzulassen, das nicht ein Zeugniß über einen dreijährigen Schulunterricht beibringt; es sei denn, daß die Lokalverhältnisse eine Ausnahme von dieser Regel unvermeidlich machen, was dem Ermessen der Behörde anheim gestellt wird. 3. Die Kinder dürfen nicht länger als zehn Stunden täglich zur Arbeit angehalten werden. 4. Diese zehn Stunden müssen durch zwei Ruhestunden unterbrochen werden, von denen eine zum Mittagessen und zur Bewegung in freier Luft bestimmt ist.“27 Nach langwierigen Beratungen und verschiedenen Abänderungen wurden diese Vorschläge Grundlage des preußischen Kinderschutzgesetzes von 1839. Bereits am 22. Juli 1802 wurde in England der Health and Morals of Apprentice Act des Politikers Robert Peel vom britischen Parlament angenommen, wodurch die Arbeitszeit von Lehrlingen auf zwölf Stunden begrenzt und die Nachtarbeit einA. Shadwell: England, Deutschland und Amerika (wie Anm. 23), S. 258. Zitiert von M. Carnot: Bericht an den Herrn Minister des Ackerbaues und des Handels, in: Mittheilungen des Industrie-Vereins für das Königreich Sachsen. Lief. I, 1841, S. 14. Dort heißt es auch, was in seiner Allgemeinheit bezweifelt werden muß: „Ueberall waren es die Fabrikanten, die zuerst die hier besprochenen Mißbräuche anzeigten und auf deren Abstellung antrugen.“ (S. 39). 26 27

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geschränkt wurde, während in Frankreich erst ein Gesetz vom 19. Mai 1874 Kinderschutz vorschrieb. In Großbritannien wurde die Kinderarbeit in den nächsten Jahrzehnten zügig eingeschränkt; ab 1833 durften Kinder unter neun Jahren gar nicht mehr, von diesem Alter bis 13 Jahren nur noch neun Stunden täglich in Fabriken arbeiten. 1844 wurde zwar das Verbot der Kinderarbeit um ein Jahr gesenkt, doch die tägliche Stundenzahl auf 6,5 reduziert; wenn man Kinder zehn Stunden beschäftigen wollte, dann nur jeden zweiten Tag. Ab 1. Mai 1848 wurde für Personen unter dem 18. Lebensjahr und für alle Frauen über 18 Jahren die Arbeitszeit in Spinnereien und Webfabriken auf zehn Stunden täglich bzw. 58 Stunden wöchentlich beschränkt. Der Factory Act von 1867 dehnte diese Regelung auf andere Fabrikzweige aus, allerdings konnte das Verbot der Nachtarbeit nicht flächendekkend durchgesetzt werden. Aus heutiger Sicht ist es ungeheuer beklagenswert, daß Kinder, wie in Entwicklungsländer noch heute, einen Teil des Unterhalts für die Familie verdienen mußten und dadurch nicht nur ihre jugendliche Unbeschwertheit verloren, sondern auch eine unnatürliche Frühreife durch sexuelle Verlockungen erlangten, keine emotionalen Familienbanden ausprägten und wahrscheinlich gravierende gesundheitliche Schäden davontrugen, von denen eine Reihe in Armenhäusern oder in Strafanstalten wegen krimineller Übergriffe landeten. Im industriellen Nachzügler Deutschland traten Regelungen zur Kinderarbeit nicht nur viel später in Kraft als im zentralistischen England, sondern sie waren auch im Staatengewirr des Zollvereins viel schwieriger durchzusetzen. Sechs Jahre vor Beginn des Deutschen Zollvereins informierte uns der württembergische Ökonom Moritz Mohl (1802 – 1888), der zu dieser Zeit Referendar im Stuttgarter Finanzministerium war, über folgenden Sachverhalt. Der Besitzer einer großen Schweizer Baumwollspinnerei habe ihm mitgeteilt, „daß ihm die Beschäftigung von 10jährigen Anknüpfkindern [die gerissene Fäden zusammenknoteten, H.K.], zu welchen er sich durch die Schwierigkeit, seinen Arbeitern die frühe Aufnahme ihrer Kinder in die Fabrik bei der Concurrenz der Cattun-Fabriken abzuschlagen und eine hinreichende Anzahl älterer Kinder zu erhalten, genöthigt sehe, jährlich einen Schaden von einigen tausend Gulden durch schlechte Arbeit zufüge“.28 Dies mag eine schweizerische Ausnahme dargestellt haben, aber seit der milden Einschränkung der Kinderarbeit durch das preußische Gesetz von 1839 stieg in Deutschland das Bewußtsein davon, daß es „Pflicht des Staates“29 sein müsse, die Kinderarbeit „von den Sklavenbanden zu befreien, welche kaltgrausame Habsucht oder die Verzweiflung der eigenen Eltern ihr auferlege“. Man sollte allerdings auch nicht verschweigen, daß dieses Gesetz aufgrund der Feststellung, daß die waffenfähigen Jünglinge im Militär an Schwindsucht und Skrofulose litten, erlassen wurde. Am 9. April 1839 wurde durch eine Kabinettsorder die Beschäftigung von Kindern unter neun Jahren in preußischen Fabriken gänzlich untersagt und bis zum 16. Le28 Moriz Mohl: Ueber die württembergische Gewerbs-Industrie, Stuttgart/Tübingen 1828, S. 312, Anm. 29 Peter Franz Reichensperger: Die Agrarfrage aus dem Gesichtspunkte der Nationalökonomie, Trier 1847, S. 248. Dort auch das nächste Zitat.

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bensjahr höchstens 10 Stunden Arbeit täglich erlaubt, wenn der vorgeschriebene Schul- und Religionsunterricht absolviert worden war. In den Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg wurde in allen deutschen Staaten die Kinderarbeit massiv eingeschränkt und genaue Vorschriften über die Länge der Arbeitszeiten bzw. über die Nachtarbeit erlassen.30 Die von Marx und Engels angegebenen Arbeitszeiten von 10 bis 18 Stunden täglich von Kindern und Erwachsenen in Fabriken sind deshalb keineswegs repräsentativ, sondern seltene Ausnahmen, die als abschreckendes Fanal eines ausbeuterischen Kapitalismus ausgeschlachtet wurden. Es kam allerdings auch vor, daß Eltern sich gegen das Verbot von Kinderarbeit, allerdings vergeblich, zur Wehr setzten, wie folgendes Beispiel verdeutlichen kann. Im Jahr 1890 richteten 96 Elternpaare aus dem sächsischen Großschönau und Hainewald eine Eingabe an die Handels- und Gewerbekammer Zittau, um das geplante Verbot der Kinderarbeit zu verhindern. Die Eingabe erscheint mir inhaltlich so interessant, daß ich sie im vollen Wortlaut wiedergeben möchte: „Die unterzeichneten Eltern, welche schulpflichtige Kinder vom 12. Jahre an in Fabriken hiesigen Orts beschäftigen lassen, haben Kenntnis von dem § 135 des Entwurfs zur Abänderung der Gewerbeordnung erhalten und gestatten sich gegen das Verbot der Arbeit ihrer Kinder folgende Einwendungen zu geneigten Berücksichtigung. 1. Unsere Kinder verdienen sich jetzt vom 12. Jahre an bei 6stündiger Arbeitszeit durchschnittlich 2 – 3 Mark die Woche, und wir wissen nicht, wie wir den entstehenden Ausfall dekken sollten, wenn die Kinder nicht mehr arbeiten dürften. 2. Das Verbot würde uns nach der Fassung des § 135 besonders hart treffen, weil die Kinder von der Arbeit ausgeschlossen sein sollen, so lange sie überhaupt schulpflichtig sind; das bedeutet bei uns in Sachsen, wo nach den Vorschriften des Volksschulgesetzes die Kinder im günstigsten Fall mit 13 ¾, im ungünstigsten Falle mit 14 ¾ Jahre die Schule verlassen, eine Einbuße an Verdienst während 1 ¾ – 2 ¾ Jahren für jedes Kind. 3. Wir wissen, daß die Arbeit der Kinder eine leichte, daß sie in den Vorschriften entsprechenden Arbeitsräumen untergebracht sind und daß ein Nachteil für sie aus der 6stündigen Arbeit nicht wohl entstehen kann. Wir bitten deshalb in unserem Interesse als Arbeiter, daß betreffs dieser Kinderarbeit eine Änderung nicht getroffen werde, daß vielmehr die bisherige Ordnung bestehen bleibe.“31 Gleichgültig, ob diese Argumente der Eltern zutrafen oder nicht, es war die zu geringe Bezahlung in bestimmten Berufen, auf die wir noch eingehen werden, die Kinderarbeit fast zu einem Überlebenszwang werden ließ. Nicht nur Marx’ Ansichten über den Kapitalismus, sondern auch seine Zu- oder Abneigung gegenüber Weggefährten kann verdeutlichen, wie der Mensch Marx seine Umwelt einschätzte. Am deutlichsten kann das Ausmaß an Menschlichkeit daran gemessen werden, wie man Personen behandelt, denen man lange nahegestanden hat, die aber nach einiger Zeit andere Auffassungen entwickelt haben, die 30 Vgl. ausführlich dazu Annika Boentert: Kinderarbeit im Kaiserreich 1871 – 1914, Paderborn 2007, S. 117 ff. 31 Zitiert in: Dokumente zur deutschen Geschichte aus dem Sächsischen Landeshauptarchiv Dresden, hrsg. von Hellmut Kretzschmar, Berlin 1957, S. 65.

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mit den eigenen nicht mehr konform gehen. In ihren verbalen Ausfällen gegenüber Hermann Kriege, um ein Beispiel anzuführen, der sich in New York den Ansichten der amerikanischen Nationalreformer angeschlossen hatte, daß jedem Bauern 160 Acre Land zur Verfügung gestellt werden sollte, schrieben Marx und Engels, dies sei alles andere als ein kommunistischer Wunsch, sondern: „Kein anderer als der, alle Menschen in Privateigentümer zu verwandeln, ein Wunsch, der ebenso ausführbar und kommunistisch ist, wie der, alle Menschen in Kaiser, Könige und Päpste zu verwandeln.“32 Dabei ging es ja lediglich um landlose Bauern, die mit einem Stück Land Privateigentum in die Lage versetzt werden sollten, sich und ihre Familie zu ernähren und nicht mehr der Gesellschaft zur Last zu fallen, die andernfalls für sie hätte sorgen müssen. Es ist wohl nicht mehr zu leugnen, daß Marx und Engels gar nicht an einer materiellen Besserstellung der Arbeiter interessiert waren, denn Privateigentum in den Händen von arbeitenden Menschen mit monarchischer oder päpstlicher Gewalt gleichzusetzen, scheint lediglich denunzierenden Gehirnen zu entspringen, d. h. sie instrumentalisierten diese Vergleiche nur für ihre eigenen revolutionären Ziele, wie wir noch genauer sehen werden. Eine solche Anthropologie, die moralische Maßstäbe an sozialökonomische Verhältnisse kettet, sollte als menschliche Ethik verworfen werden: „Wenn mein Egoismus nur so lange virulent ist, als es Privateigentum gibt, genügt die Abschaffung des Privateigentums, um ihn zum Verschwinden zu bringen.“33 Friedrich Engels hat 1847 die stufenweise Enteignung aller Produktionsmittel durch die Arbeiter ohne irgendeinen Vorbehalt gefordert: „Ist einmal der erste radikale Angriff gegen das Privateigentum geschehen, so wird das Proletariat sich gezwungen sehen, immer weiter zu gehen, immer mehr alles Kapital, allen Ackerbau, alle Industrie, allen Transport, allen Austausch in den Händen des Staates zu konzentrieren.“34 Es ging ja Marx und den Marxisten nicht nur um persönliches Privateigentum, sondern um die völlige Abschaffung von Privateigentum an den Produktionsmitteln, d. h. eine kommunistische Verwandlung in Volkseigentum bzw. Verstaatlichung: „Vielmehr steht die ganze Gesellschaft eigentumslos ihrer Staatsmaschine gegenüber.“35 Marx’ steigende Besessenheit vom ausbeuterischen Kapitalismus hat seine intellektuelle Neigung gering gehalten, sich ausführlich mit staatlichen Institutionen oder der Funktionsfähigkeit staatlicher Bürokratien zu beschäftigen bzw. ihre organisatorische Entwicklung zu analysieren. Der Staat, das politische System, 32 Karl Marx/Friedrich Engels: [Zirkular gegen Kriege], in: MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 10. Am 14. August 1851 schrieb Marx an Engels: „Je mehr ich aber den Dreck treibe, um so mehr überzeuge ich mich, daß die Reform der Agrikultur, also auch der darauf basierten Eigentumsscheiße, das A und O der kommenden Umwälzung ist.“ (MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 314). 33 Arnold Künzli: Wider den Parzifal-Sozialismus, in: Marx und die Revolution, Frankfurt am Main 1970, S. 53. Mein Motto auf S. 51. 34 Friedrich Engels: Grundsätze des Kommunismus, in: MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 374. 35 Rudolf Bahro: Die Alternative (1977), Köln/Frankfurt a. M. 1979, S. 12.

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die Gesetze, die Ideen, die moralischen Einstellungen etc. sind nach Marx und Engels lediglich der Überbau; die aus den ökonomischen Verhältnissen der jeweiligen Epoche entspringenden Strukturen. ‚Überbau‘ ist hier nicht im Sinn eines Höherbaus wie bei einem Haus gemeint, sondern als eine höherrangige Instanz, aus der rechtliche und politische Institutionen abgeleitet werden, die durch das ökonomische System bestimmt sind. In den Worten Engels, „daß also die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, aus der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiösen, philosophischen und sonstigen Vorstellungsweise eines jeden geschichtlichen Zeitabschnittes in letzter Instanz zu erklären sind“.36 Wir müssen uns die inhaltliche Bedeutung dieser Aussage einmal konkret zu Gemüte führen, um zu erkennen, welche geschichtlichen Dimensionen sie umfaßt und welches Gesellschaftsbild ihr zugrunde liegt. In einem theoretischen System, das nur die Zweiteilung von herrschender Klasse gegenüber unterdrückter bzw. ausgebeuteter Klasse kennt, wird jede politische oder ökonomische Differenzierung zu einer verfälschenden historischen Analyse, weil sie angeblich nichts erklärt und nichts versteht. Die Ökonomie wird somit das alles entscheidende Fundament der Gesellschaft, aus der jegliche sonstigen Strukturen und Handlungen abgeleitet werden, die ihre traditionellen Zuständigkeiten an einen ökonomischen Gott verlieren. Ethische Prinzipien wie „Du sollst nicht lügen“, „Du sollst den Armen helfen“, „Du sollst gegenüber Deinem Nächsten tolerant sein“, „Du sollst nicht töten“, sind demnach ausschließlich aus der ökonomischen Struktur erwachsen, weil diese Struktur die reale Grundlage jeder Gesellschaft bilde! Eine solche realitätsfremde Vereinfachung der ökonomischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, die schon im 19. Jahrhundert aus unendlich vielen Wünschen und Entscheidungen zusammengesetzt war, die eine Vielzahl von Kompromissen benötigte, wurde tatsächlich von Marx und Engels und von Tausenden ihrer Epigonen als das wahre und unumstößliche Gesetz der historischen Entwicklung angesehen. Daß menschliche Gesellschaften nicht nur aus antagonistischen Klassen bestehen und bestehen können, ist eigentlich eine solche soziologische Selbstverständlichkeit, daß es überflüssig erscheint, darauf umständlich einzugehen. Aber auch die Kapitalisten bzw. Unternehmer während der industriellen Revolution bildeten keine homogene Klasse, deren einziges Motiv die Profitmaximierung oder die Mehrwertverwertung war, wobei bis heute im Unklaren bleibt, in welcher Höhe der Profit eigentlich sein Maximum erreicht. Die vielfältige Ausdifferenzierung der ‚Kapitalistenklasse‘ nicht nur in kleine, mittlere und große Unternehmen, sondern auch in umsatz- und gewinnstarke bzw. in ihrer Existenz höchstgefährdete und ineffektive Betriebe, verbietet eine eindimensionale Kennzeichnung dieser Personengruppe. Wir können ja in Industriestaaten im 19. Jahrhundert das eigentümliche Phänomen beobachten, daß vorher unbedeutende Handwerker in der Lage waren, wenn sie Geld angespart oder es von der Familie bzw. Banken ge36 Friedrich Engels: Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft [abgekürzt: Anti-Düring] (1878), in: MEW. Bd. 20, Berlin 1973, S. 25 (Hervorhebung von mir).

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liehen bekamen, eine eigene Fabrik gründen konnten und einige davon sind zu kapitalistischen Unternehmern aufgestiegen und haben einen Reichtum, d. h. Kapital, angehäuft, der ihnen vorher völlig illusorisch vorgekommen wäre. Daß ihnen dieser Reichtum gelegentlich ‚zu Kopf gestiegen‘ ist und sie sich einen adeligen Lebensstil zulegten, beschränkt sich ja keineswegs auf das 19. Jahrhundert – von der Verleihung des Adelsdiploms durch Fürsten abgesehen. Wie in anderen Berufen auch, z. B. Ärzte, Lokomotivführer, Rechtsanwälte oder Professoren, wurde die kapitalistische Karriere eines Unternehmers meistens geprägt von familiären Traditionen, von der intellektuellen oder beruflichen Erziehung bzw. von ethischen Prinzipien, die sich während des Berufslebens erheblich wandeln und zu einem ‚Herr-im-Hause-Standpunkt‘ führen konnten. Natürlich spielte auch eine Rolle, ob sie sich mit ihren Produkten der ständig wechselnden Nachfrage anpassen bzw. ob sie durch Erfindungen ihren Absatz steigern konnten, damit ihr Betrieb der harten Konkurrenz gewachsen war und überlebte. Das 18. und 19. Jahrhundert, wo es noch keine Manager-Unternehmer im heutigen Sinne gab, ist angefüllt von Unternehmerpersönlichkeiten, die aufgrund eigener Erfindungen oder unternehmerischem Organisationstalent von einfachen Handwerkern zu bedeutenden Unternehmern oder sogar Industriemagnaten aufsteigen konnten. Um nur einige in alphabetischer Reihenfolge zu nennen, die keineswegs die gleichen Merkmale als ‚Kapitalisten‘ aufwiesen und ganz unterschiedliche Voraussetzungen mitbrachten: August Borsig (1804 – 1854), Matthew Boulton (1728 – 1809), John Cockerill (1790 – 1840), Evan Evans (1765 – 1844), Henry Ford (1863 – 1947), Richard Hartmann (1809 – 1878), Friedrich Koenig (1774 – 1833), Alfred Krupp (1812 – 1887), Reinhard Mannesmann (1856 – 1922), Louis Schwartzkopff (1825 – 1892), Joseph Whitworth (1803 – 1887) oder Johann von Zimmermann (1802 – 1901). Von diesen in ihren Charakteren so unterschiedlichen Unternehmern unisono zu behaupten, daß ihre Seele vom Kapital zerfressen gewesen sei und sie nur einen Lebenstrieb kannten, nämlich möglichst viel Mehrwert zu schaffen, d. h. die Profitrate maximal zu vergrößern, ähnelt der absurden Vorstellung, heutige Menschen würden nur leben, um möglichst viel zu konsumieren und in der Welt herumzureisen. Erfolgreiches Unternehmertum verwirklichte sich in schöpferischen Akten einer mit anderen Produzenten in Konkurrenz stehenden, manchmal auch rücksichtslosen Persönlichkeit, bei der zuweilen der gesellschaftliche Prestigegewinn einer außergewöhnlichen Leistung höher geschätzt wurde als möglichst hohe Gewinnmarchen. Wenn man allerdings die Auffassung vertritt: „Die Konkurrenz ist der vollkommenste Ausdruck des in der modernen bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Kriegs Aller gegen Alle. Dieser Krieg, ein Krieg um das Leben, um die Existenz, um alles, also auch im Notfalle ein Krieg auf Leben und Tod“,37 kann man kein positives Staubkörnchen mehr in einer Konkurrenzgesellschaft erkennen, sondern nur gegenseitige Vernichtung. Wie auch in anderen Lebenszyklen, so waren auch bei Unternehmern keine einheitlichen Motive 37 Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: MEW. Bd. 2, Berlin 1970, S. 306.

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anzutreffen, die dazu geführt hätten, in jedem Fall erfolgreich zu sein und große Reichtümer anzuhäufen. Die Zahl der Fabrikbesitzer, die aus eigenem Verschulden oder aufgrund von Konjunkturkrisen gescheitert sind, ist Legion und kann kaum geleugnet werden, doch Marx’ Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate als kapitalakkumulierende Erklärung dieser Krisen ist naiv und einseitig.38 Manche Analytiker, wie etwa Fritz Gerlich, vertreten eine antimarxistische Auffassung, die ich allerdings ebenfalls nicht teilen kann, weil sie viel zu stark etwas verallgemeinert, was bei einem Unternehmer zutreffen kann, aber bei einem anderen gar nicht anzutreffen war: „Nicht nur in der Wissenschaft und in der Kunst, auch im Wirtschaftsleben steht vor der Größe die Entsagung.“39 Sobald man sich jedoch darauf einläßt, zu untersuchen, ob Überlieferungen, Traditionen und Mentalitäten die gesellschaftliche Wirklichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt prägen, kann man sich nicht mehr mit einer eindimensionalen Deutung der historischen Realität zufriedengeben, sondern muß danach fragen, unter welchen Bedingungen gesellschaftliche Strukturen verändert werden können oder nicht. Selbst unter relativ ähnlichen klimatischen und geographischen Voraussetzungen wie in europäischen Staaten haben sich aufgrund von politischen Prioritäten oder vorhandenen bzw. fehlenden Ressourcen ökonomische Entwicklungen unterschiedlichster Formen ausgeprägt. So hat z. B. die erste Kolonialmacht Spanien, trotz großer Gold- und Silbereinfuhren und überseeischer Handelsimperien keine gewerbliche Entwicklung initiieren können, die sie zum führenden europäischen Industriestaat hätten aufsteigen lassen, sondern Spanien (und Portugal) ist mit einer riesigen Handelsflotte relativ verarmt. Viele solcher Beispiele könnten angeführt werden, die jedesmal die marxistische Vorstellung einer Klassengesellschaft als unangemessene Vereinfachungen für die unterschiedlichen ökonomischen Wachstumspfade bestätigen. Allerdings muß die unerläßliche Bedürftigkeit einer Gesellschaft – in der sich zwei Klassen wie feindliche Militärbataillone gegenüberstehen – nach revolutionärem Umsturz jedem vernünftigen Menschen einleuchten, der nicht von solchen ökonomischen Verhältnissen versklavt und ausgebeutet werden möchte, aber sie existierte nicht im 19. Jahrhundert. Wir können ja auch die Überlegung anstellen, ob es nicht eher gerechtfertigt wäre, einen kommunistischen Diktator umzubringen, der selbst Hundertausende oder Millionen von Menschen töten läßt, als sich auf eine klassenlose Gesellschaft einzulassen? Unter solchen phantastischen Verhältnissen wie einer kapitalistischen Klassengesellschaft, in der sich Arbeiter und Unternehmer wie wilde Raubtiere in einer antiken Arena gegenüberstehen, ist die Frage erlaubt: Was macht die ausgebeutete 38 Vgl. Karl Marx: Das Kapital. 3. Bd. (MEW, Bd. 26), Berlin 1966, S. 221 ff. Marx’ For݉ mel: P = c + v ; P = Profitrate, m = Mehrwert, c = konstantes Kapital, v = variables Kapital, kann beliebig ersetzt werden und jedesmal wird P sinken, wenn der Wert des Nenners sich ݉ erhöht. Nehmen wir z. B. P = k + l ; P = Profitrate, m = Maschinen, k = Kapital, l = Löhne, dann sinkt P, wenn k und/oder l sich erhöht. 39 Fritz Gerlich: Geschichte und Theorie des Kapitalismus, München/Leipzig 1913, S. 385 (Im Original ganz hervorgehoben).

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und unterdrückte Klasse eines unübersehbaren Heeres von Arbeitern, wenn sie immer stärker ausgebeutet und unterdrückt wird? Man muß ja nicht unbedingt die Ansicht eines bekannten deutschen Statistikers aus dem 19. Jahrhundert teilen: „Was dem Landmann der liebe Gott, ist dem Fabrikarbeiter der Fabrikherr.“40 Haben uns die Heroen des ‚wissenschaftlichen‘ Kommunismus nicht in langatmigen Erörterungen die angeblich unumstößliche Tatsache nahegelegt, daß die Arbeiter vom Kapital so ausgebeutet, geknechtet und niedergedrückt werden, weil ihre Entlohnung nur ein Leben nahe des Verhungerns ermöglicht, daß sie nur noch dahinsiechen? Und auf einmal, wenn sich die gesellschaftlichen Widersprüche hoch genug aufgetürmt haben, ergreift die Arbeiterschaft die mörderischen Waffen und vernichtet den Kapitalismus? Nach einer anderen von Marx’ ökonomischer Einschätzung, die seinem Revolutionsfanatismus eklatant widerspricht, kann das Proletariat eigentlich passiv bleiben und macht erstaunlicherweise eigentlich gar nichts, denn zum einen müssen sich die miserabel bezahlten Arbeiter darum kümmern, daß sie und ihre Familien genug zum (Über-)Leben haben, zum anderen hat das historische Gesetz das kapitalistische System zum unvermeidlichen Untergang verurteilt, d. h. die Arbeiter können bei der mit totsicherer Gewißheit eintretenden, die gesamte Gesellschaft umstürzenden Revolution höchstens „die Geburtswehen abkürzen und mildern“.41 Es bleibt deshalb zu klären, welche politische bzw. ökonomische Rolle die ‚Diktatur des Proletariats‘ überhaupt spielen soll und wie sie die Klassengesellschaft überwinden kann.

C. Die Diktatur des Proletariats Wir sind inzwischen schon daran gewöhnt, daß sich Marx und Engels in ihrem dogmatischen Denken in Widersprüche verwickeln, doch bei der Rolle der Arbeiterschaft, die ja später zum ‚Diktator‘ erhoben wird, hätte man eigentlich klarere Funktionsmerkmale erwarten können. Die versklavten Arbeiter sind sozusagen die Hebammen des gesetzmäßigen Untergangs des Kapitalismus und das Kind, das danach auf die Welt kommt, ist die von allen Sorgen befreite klassenlose Gesellschaft ohne jeden Arbeitsstreß. Dieses traumhafte Ideal entsprang nicht dem Zylinderhut eines morgenländischen Zauberers aus Tausend-und-einer-Nacht, sondern soll das unabänderliche Schicksal einer Klassengesellschaft sein, in der die Arbeiter zur gleichen Zeit sowohl Opfer als Täter sind. Diesen inhärenten Widerspruch zwischen einem den revolutionären Klassenkampf durchführenden Proletariat und der unausweichlichen historischen Notwendigkeit des Zusammenbruchs der kapitalistischen Systeme konnten weder Marx noch Engels auflösen oder auch nur einem skeptischen Leser verständlich machen. Theorie und Praxis klaffen weiter auseinander, als man dies einem kohärenten System, von wissenschaftlich gar 40 Carl F. W. Dieterici: Über die Fortschritte der Industrie, in: Abhandlungen der königlichen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1855, S. 448. 41 Karl Marx: Das Kapital. 1. Bd. (1867), Berlin 1962, S. 16.

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nicht zu sprechen, zugestehen kann. Noch Ende des 20. Jahrhunderts träumte der amerikanische Philosoph Richard Rorty (1931 – 2007) davon, daß der Kapitalismus zusammenbrechen könnte aufgrund der Machtübernahme „durch ein tugendhaftes, aufgeklärtes Proletariat“.42 Die sozialistischen und kommunistischen Systeme, die sich auf die unbezweifelbaren Lehren von Marx und Engels stützten, haben ihren Untertanen jahrzehntelang den gesetzmäßigen Sieg der Kommunismus über den kapitalistischen Klassenfeind vorgetäuscht, um ihre totalitäre Herrschaft zu untermauern und haben einen Heroenkult mit ihren Parteiführern betrieben, der der menschlichen Würde von Arbeitern ins Gesicht schlägt. So behauptete etwa ein sowjetisches Autorenkollektiv unter der Leitung von P. N. Fedossejew in einer vielgelesenen, fünf Jahre nach der Originalausgabe 1968 aus dem Russischen ins Deutsche übersetzten Biographie von Karl Marx: „Seit dem 19. Jahrhundert ist der Kampf für den Kommunismus ein Gesetz der Geschichte.“43 Nach der militärischen Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 – den der tschechoslowakiVFKH.3)XQNWLRQlU$OH[DQGHU'XEþHNHLQJHOHLWHWKDWWH±GXUFKGLHVR]LDOLVWLVFKHQ Bruderländer, schrieb Günter Bartsch hellsichtig: „Als politische Bewegung dürfte der Kommunismus scheitern, weil er sich utopische und den heutigen Grundbedürfnissen widersprechende Ziele gesetzt hat; als archetypische Idee aber wird er weiterleben und niemals zerstört werden können. Eine Minderheit wird stets für den Kommunismus anfällig sein.“44 Ich möchte hier an einem Beispiel, nämlich dem Sozialistengesetz, das am 19. Oktober 1878 im Deutschen Reichstag angenommen wurde und zwei Tage später in Kraft trat, verdeutlichen, daß Marx und Engels nicht einmal gegenüber ihren sozialistisch-kommunistischen deutschen Mitstreitern Rücksichtnahme übten. Einige Jahre vorher, vom 11. bis 26. März 1872, fand ein Hochverratsprozeß gegen August Bebel, Adolf Hepner und Wilhelm Liebknecht wegen Unterstützung der Pariser Kommune vor dem Schwurgericht in Leipzig statt, der die Solidarität der Genossen auf eine harte Probe stellte. Die sogenannte Gründerkrise hatte die deutsche Wirtschaft nach einem rasanten Aufschwung in den Jahren nach der Reichsgründung in eine veritable Krise hineinmanövriert mit Massenentlassungen, Firmenpleiten und einem nie gekannten Börsencrash, wodurch allerdings die erstarkende sozialdemokratische Arbeiterpartei Auftrieb erhielt und bei den Reichstagswahlen 1877 insgesamt 493.258 Stimmen bzw. 9,1 % gewinnen konnte. Obwohl es bei der Reichstagswahl etwa drei Jahre früher, am 10. Januar 1874, schon 350.000 Stim42 Richard Rorty: Endlich sieht man Freudenthal. Endlich, endlich kommt einmal – Wiedergelesen: Vor hundertfünfzig Jahren erschien das „Kommunistische Manifest“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 43. Freitag, den 20. Februar 1998, S. 40. Rorty scheint nicht genügend aufgeklärt gewesen zu sein, um die haltlose Illusion zu vermeiden: „Möglich, daß die fortschreitende Verbürgerlichung des europäischen und des nordamerikanischen Proletariats im nächsten Jahrhundert durch die Globalisierung des Arbeitsmarktes rückgängig gemacht werden wird.“ (Ebd.). 43 P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (1973). 7. Aufl. Berlin 1984, S. 9. 44 Günter Bartsch: Kommunismus, Sozialismus und Karl Marx. 3. Aufl. Bonn 1969, S. 134.

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men und neun Mandate waren, war Bismarck in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Der von belgischen Sozialisten einberufene Sozialistische Weltkongreß, der vom 9. bis 15. September 1877 in Genf stattfand, konnte Marx nicht versöhnlicher stimmen, eben weil er die Diktatur des Proletariats nicht auf seine Fahnen schrieb bzw. zum politischen Programm erhob. Zwar vertrat Wilhelm Liebknecht, der für den sächsischen Wahlkreis Stollberg-Schneeberg in den Norddeutschen Reichstag gewählt worden war und seit 1868 das Demokratische Wochenblatt in Leipzig herausgab, dort die deutsche Sozialdemokratie, doch wahrscheinlich war Marx deswegen unversöhnlich, weil auf dem Kongreß Bakunisten eine große Rolle spielten, mit denen Marx nichts zu tun haben wollte und deshalb glaubte, daß der Kongreß viel „zu wünschen übrig läßt“.45 Nachdem zuerst am 11. Mai 1878 der Klempnergeselle Max Hödel und danach am 2. Juni der Sohn eines Domänenpächters, Dr. Karl Eduard Nobiling, erfolglose Attentate auf Kaiser Wilhelm I. verübten, legte die Reichsregierung dem Reichstag einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ vor. Diese Attentate waren keine deutschen Besonderheiten, denn in demselben Jahr wurden auch Attentate auf die Monarchen Umberto I. von Italien und Alfons XII. von Spanien verübt. Die gegen Sozialisten bzw. die Sozialdemokratie gerichtete Kampagne schlug sich in einem Gesetz nieder, das noch im gleichen Jahr verabschiedet wurde und nach mehrmaliger Verlängerung bis 1890 in Kraft blieb. Die marxistischen Sozialdemokraten stellten gerade für die preußische Regierung eine unerhörte Bedrohung dar, denn während auf der Reichsebene ein Personenwahlrecht eingeführt worden war, wurde das preußische Parlament nach dem Dreiklassenwahlrecht gewählt, d. h. die immer größere werdende Arbeiterschaft konnte lediglich bis zu einem Drittel der Abgeordneten stellen. Keine Maßnahme in der noch jungen Reichsgeschichte konnte die Wut der Arbeiterschaft auf den Bismarckschen Obrigkeitsstaat derart steigern wie die systematische Unterdrückung einer noch jungen Bewegung durch das Sozialistengesetz, die sich in ihrer staatsfeindlichen Haltung voll bestätigt fühlen mußte. Es war das politische Armutszeugnis einer von adeligen Kreisen getragenen Reichsregierung, die eine institutionalisierte Mitwirkung der überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes wie der Teufel das Weihwasser fürchtete. Die Sozialdemokratie verbreitete ihrerseits wirkungsvoll einen „grassirenden Glauben an die unübertroffene gründliche Gelehrsamkeit, Wahrhaftigkeit und Unfehlbarkeit des Londoner Orakels“46 Karl Marx. Aufgrund dieses Ausnahmegesetzes konnten alle Vereine, Druckschriften und Versammlungen, die sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Bestrebungen förderten, durch Landespolizeibehörden verboten werden – die Sozialdemokratische Partei fiel nicht unter dieses Verbot, verlegte allerdings ihre Aktivitäten in den politischen Untergrund. Am 28. September 1879 erschien in 45 MEW. Bd. 34, Berlin 1973, S. 295 (Brief an Friedrich Adolph Sorge vom 27. September 1877). 46 So Lujo Brentano: Meine Polemik mit Karl Marx (1890). Reprint London 1976, S. 11.

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Zürich unter dem Chefredakteur Georg Heinrich von Vollmar (1850 – 1922), der von Eduard Bernstein abgelöst wurde, die erste Probenummer der Wochenzeitung Der Sozialdemokrat, die illegal nach Deutschland eingeschmuggelt wurde und von der Marx in einem Brief an Engels vom 8. Dezember 1882 verlangte, sie müßte sich detailliertes Material „über Arbeiterbehandlung in preußischen Staatsbergwerken etc. verschaffen zur Charakteristik des [Hermann] Wagener-Bismarckschen Staatssozialismus“.47 Dieser unvorstellbare staatliche Verfolgungswahn betraf bis 1888 246 Vereine, 83 inländische und 19 ausländische Zeitschriften etc.; 893 Personen wurden aus Deutschland ausgewiesen und die verhängten Freiheitsstrafen summierten sich auf 731 Jahre Straf- und Untersuchungshaft. Man hätte also erwarten können, daß die beiden Londoner Sozialisten bzw. Kommunisten ihren verfolgten Leidensgenossen in Deutschland auch dann jegliche Unterstützung angedeihen ließen, wenn sie mit ihren Ansichten nicht vollständig übereinstimmten. Marx und Engels verschickten allerdings einen am 17./18. September 1879 geschriebenen „Zirkularbrief“, in dem sie die sozialdemokratische Partei aufforderten, nicht in den „Schein rastloser Geschäftigkeit“48 zu verfallen und den zerstörerischen Klassenkampf und die soziale Revolution zur Überwindung des Kapitalismus nicht aus den Augen zu verlieren, weil darin ihre eigentliche Aufgabe bestünde. Schon Jahre vorher hatte Marx Veröffentlichungen in der sozialdemokratischen Zeitschrift Volksstaat als „halbgelehrte Philisterphantasien“49 denunziert: „Das Zeug kommt von Schulmeistern, Doktoren, Studenten. Engels hat dem Liebknecht den Kopf gewaschen, was ihm von Zeit zu Zeit nötig zu sein scheint.“ Und die Reichstagssitzung vom 16./17. September 1878 über das Sozialistengesetz kommentierte Marx so, daß eine gewaltsame Reaktion der Machthaber, ein „Feldgeschrei der gewaltsamen Kontrerevolution“,50 gegen eine ‚friedliche‘ Entwicklung durchgeführt werde und die Regierung versuche, „eine ihr mißliebige, aber gesetzlich unangreifbare Entwicklung gewaltsam niederzuschlagen. Dies ist die notwendige Einleitung gewaltsamer Revolutionen“. Dagegen vertrat ein sozialökonomischer Schriftsteller 1877 die angeblich ketzerische Auffassung, daß diese Partei den deutschen Staat an unabweisbare Reformen erinnere und gemahne: „Gefährlich wird uns die Sozialdemokratie nur dann werden, wenn wir es verschmähen, ihre berechtigten und gesunden Forderungen zu den unsrigen zu machen, und wenn wir sie polizeilich todt zu machen suchen.“51 Die Sozialdemokraten sollten MEW. Bd. 35, Berlin 1973, S. 124. Karl Marx/Friedrich Engels: [Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht, Bracke u. a.], in: MEW. Bd. 19, Berlin 1974, S. 164. 49 MEW. Bd. 33, Berlin 1973, S. 636. Dort auch das nächste Zitat. (Brief an Friedrich Adolph Sorge vom 4. August 1874). 50 Karl Marx: Konspekt der Reichstagsdebatte über das Sozialistengesetz, in: MEW. Bd. 34, Berlin 1973, S. 499. Dort auch das nächste Zitat (Hervorhebungen im Original). 51 Georg Hirth: Die Lebensbedingungen der deutschen Industrie sonst und jetzt, in: Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik, Jg. 1877, S. 799 (Hervorhebungen im Original). 47

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sich nach Marx ein nachahmenswertes Beispiel an den beiden revolutionären Doktrinären im friedlichen, beschaulichen England nehmen, denn: „Was uns betrifft, so steht uns nach unsrer ganzen Vergangenheit nur ein Weg offen. Wir haben seit fast 40 Jahren den Klassenkampf als nächste treibende Macht der Geschichte und speziell der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat als den großen Hebel der modernen sozialen Umwälzung hervorgehoben; wir können also unmöglich mit Leuten zusammengehn, die diesen Klassenkampf aus der Bewegung streichen wollen.“52 Das Sprichwort: Friß diese Ideologie oder stirb bzw. laß dich von der deutschen Polizei ins Gefängnis werfen, wenn du zum vernichtenden Klassenkampf oder der Diktatur des Proletariats nicht bereit bist, verwendeten sie nicht. Doch selbst ein englischer Autor interpretierte die Krisenereignisse des Jahres 1878 dahingehend, daß niemand bezweifeln könne, „if Socialism should continue to advance with as much rapidity as it has lately shown in Germany and the United States, the day is not distant when the Socialists will be able to control the legislation of those countries“.53 Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) konnte sich in ihrem Erfurter Programm vom 21. Oktober 1891 noch nicht ganz aus der marxistischen Ideologie einer „Abschaffung der Klassenherrschaft“ befreien, obwohl Marx schon fast ein Jahrzehnt tot war und Lassalle eine weniger revolutionäre Strategie entwikkelt hatte. Sie befürchtete aufgrund der Monopolisierung der Produktionsmittel, daß den ausgebeuteten Arbeitern eine elende Existenz bevorstehe, geknechtet und erniedrigt durch eine zunehmende Entrechtlichung ihrer Lebensgrundlagen. Dagegen hatte der bayerische sozialdemokratische Parteiführer Georg Heinrich von Vollmar (1850 – 1922) als Münchener Mitglied des Reichstages im Juni 1890 dafür plädiert, eine realistischere Politik zu verfolgen und mit anderen Parteien und der Regierung zu verhandeln, doch damit stieß er bei den Parteioberen auf wenig Sympathie. Die Bismarcksche Sozialgesetzgebung hatte in dieser Richtung einer staatlichen Fürsorge zwar schon einige soziale Schneisen geschlagen, doch ein Jahr nach Ende des Sozialistengesetzes schien den Sozialdemokraten eine harte Linie unerläßlich. Lediglich ein paar unkommentierte Zitate aus diesem Programm mögen belegen, daß führende Strategen der Sozialdemokratie den ideologischen Schulterschluß mit Marxisten suchten, obwohl Marx ihnen nicht wohlgesonnen gewesen war: „Immer größer wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche Heerlager trennt und das gemeinsame Merkmal aller Industrieländer ist … Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln – Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel – in gesellschaftliches Eigentum, und die Umwandlung der Warenproduktion in soziaK. Marx/F. Engels: [Zirkularbrief…] (wie Anm. 48), S. 165. Henry Fawcett: The Recent Development of Socialism in Germany and the United States, in: The Fortnightly Review, Bd. XXIV, N. S., 1878, S. 606. 52 53

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listische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger, harmonischer Vollkommenheit werde … Die Befreiung der Arbeiterklasse ist also ein Werk, an dem die Arbeiter aller Kulturländer gleichmäßig beteiligt sind. In dieser Erkenntnis fühlt und erklärt die Sozialdemokratische Partei Deutschlands sich ein(s) mit den klassenbewußten Arbeitern aller übrigen Länder.“54 Das war kommunistischer Klassenkampf in marxistischer Reinkultur, der auch nicht vor einer vollständigen Verstaatlichung aller Produktionsmittel zurückschreckte und den Arbeitern wie Marx und Engels eine paradiesische Gesellschaft vorgaukelte, in der Harmonie und Wohlstand allein aus dem Untergang des Kapitalismus herauswachsen würde. Wenn heute unter dem Slogan „Nehmt weg, was Euch weggenommen wurde!“55 erneut eine Sozialisierung des gesellschaftlichen Eigentums gefordert wird, dann kann man nur bedauerlicherweise konstatieren, daß die marxistische Ideologie stärker zu sein scheint als historische Erkenntnisse. Es wird in diesem Programm ein Bild kapitalistischer Systeme am Ende des 19. Jahrhunderts gezeichnet, daß in seiner simplifizierenden Dichotomie überhaupt nicht dem vielfältig differenzierten Industrie-, Handels- und Verkehrssystem entspricht, das sich im Laufe diese Jahrhunderts herausgebildet hatte. In verschiedenen Branchen, in der Textil-, Maschinen-, Eisen- und Stahl-, Elektro- oder Chemieindustrie, gab es die unterschiedlichsten Formen von Arbeitsbeschäftigungen und Entlohnungen, die eine einheitliche Bezeichnung ‚Arbeiterklasse‘ als willkürlich und verfälschend erscheinen lassen. Außerdem wurden von staatlichen Stellen und von privaten Organisationen Wohlfahrtseinrichtungen gefordert und ins Leben gerufen, die die Lage der arbeitenden Klasse verbessern sollten. Fünfzehn Jahre vor diesem düsteren Gemälde des Erfurter Programms fand im ungarischen Budapest ein internationaler statistischer Kongreß statt, auf dem die bestehende Gesetzgebung über den öffentlichen Unterricht, die öffentlichen Unterstützungsmaßnahmen von Gewerbe- und Fabrikwesen in verschiedenen Industriestaaten diskutiert und untersucht wurden. Es wurde gefordert, daß die Staaten statistische Fragebögen erstellten, in denen nicht nur fabrikatorische Informationen, wie Zahl der Arbeiter, Löhne, Umsatz oder Art der Maschinen abgefragt würden, sondern auch, welche Fürsorgeeinrichtungen in den Unternehmen vorhanden seien: „2. Zahl, Kategorien und Altersklassen der Arbeiter; 3. allgemeine Gehalts- und Lohnzahlungseinrichtungen (Zeit- oder Stücklohn, Unteraccorde, Gewinnbetheiligung, Kapitalbetheiligung); 4. Fabriksparkassen (Summe der Einlage, Zinsfuß, Sicherstellung, Verwaltung, Zwangs-Theilnahme, Sparprämien); 5. Kranken- und 54 Zitiert von Felix Salomon: Die deutschen Parteiprogramme vom Erwachen des politischen Lebens in Deutschland bis zur Gegenwart, Heft 2. 3. Aufl. Leipzig/Berlin 1924, S. 125 – 127. 55 Christian Lotz zu Karl Marx: Das Maschinenfragment, hrsg. von Carolin Amlinger/ Christian Baron, Hamburg 2014, S. 39.

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Unterstützungskassen (Art derselben, Verpflichtung zur Theilnahme, Leistungen der Kasse, Zeit des Bestandes, Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Verbindung mit anderen Kassen, Anwendung des Haftpflichtgesetzes); 6. Allgemeine Wohlfahrts-Einrichtungen (für Ernährung, Wohnung, Kleidung, Heizung, Gesundheitspflege, Seelsorge, Bildung, Vergnügen und Erholung, Kinderbehütung und Kindererziehung).“56 Damit war noch keineswegs die schwierige materielle Lage der Arbeiterklasse überwunden, aber allein diese Aufzählung kann zeigen, daß es bereits Wohlfahrtseinrichtungen gab. Die Forderung eines staatlichen Eingreifens, neben den Lohnverhältnissen und Lohnzahlungsmethoden auch sozialstatische Beobachtungsstationen nach dem Vorbild metereologischer Stationen einzurichten, muß einen positiven Einfluß auf „die Verhältnisse des Arbeitsmarktes, die Höhe der Löhne und Preise und Miethen, die Löhnungsmethoden, das sociale Wetter und die etwa herannahenden socialen Stürme und die dagegen getroffenen Vorkehrungen“57 gehabt haben. Um 1890 lagen die Industriearbeiterlöhne in deutschen Großunternehmen bei 1.000 Mark (M.), womit eine Arbeiterfamilie einigermaßen auskommen konnte. „So viel steht jedoch fest, daß M. 800 jährlich der Mindestbetrag ist, den eine Familie, die gleich drei Erwachsenen zu rechnen ist, für die unzubereiteten Nahrungsmittel auszugeben hat“.58 Zwar werden in diesem Erfurter Programm, das in vielen Aspekten dem Manifest der Kommunistischen Partei ähnelt, auch allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht ohne Unterschied des Geschlechts – von dem der Sozialist Friedrich A. Lange schon 1865 in der Nachfolge Ferdinand Lassalles sagte, „sobald es von den Massen gefordert wird, stets auch gewährt werden muß“59 –, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, obligatorischer und unentgeltlicher Besuch öffentlicher Volksschulen, allgemeine Wehrpflicht, Religionsfreiheit und keine öffentliche Finanzierung der Kirchen, kostenlose medizinische Behandlung, Abschaffung der Todesstrafe sowie der indirekten Steuern und Einführung von progressiver Erbschaftssteuer, achtstündiger Normalarbeitstag, Verbot von Nachtarbeit und Kinderarbeit unter 14 Jahren, Verbot des Trucksystems60 etc. gefordert. Doch in seiner Grundtendenz vertrat das Erfurter Programm die antikapitalistischen Vorstellungen von Marx und den Marxisten sowie die Verstaatlichung der wichtigsten 56 Victor Böhmert: Der internationale statistische Congress in Buda-Pest, in: Zeitschrift des K. Sächsischen Statistischen Bureau’s, XXII. Jg., 1876, S. 358. 57 Ebd., S. 359. 58 Emanuel Wurm: Die Lebenshaltung der deutschen Arbeiter, Dresden 1892, S. 39. 59 Friedrich Albert Lange: Die Arbeiterfrage (1865). Nachdruck Duisburg 1975, S. 5 (Hervorhebung im Original). 60 Im Jahr 1844 hieß es noch über diese überwiegende Entlohnung durch Naturalien: „In einer gewissen Fabrikgegend geht die Leibeigenschaft der Arbeiter so weit, daß drei unter sich verbundene Unternehmer im ganzen volkreichen Flecken das Monopol aller Handwerke an sich gebracht haben und keinen Arbeiter daselbst dulden, der nicht von ihnen das Brod, die Kartoffeln, den Branntwein, die Kleider und Schuhe kauft.“ (Aus Anlaß der Fabrikemeuten, in: Deutsche Vierteljahrs Schrift, IV. Heft, 1844, S. 373).

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Produktionszweige. Die Sozialdemokratische Partei konnte sich 1891 nicht mehr ganz den Forderungen von Gewerkschaften verschließen, die Arbeitsbedingungen einer inzwischen auf ein Millionenheer angewachsenen Arbeiterbewegung zu verbessern und sich in ihrer Politik an den sozialen Zuständen anderer europäischer Industriestaaten zu orientieren. Es dauerte noch über ein Jahrzehnt, ehe sich bei einigen Sozialdemokraten die politische Überzeugung durchsetzte, daß für die Arbeiterschaft mehr zu erreichen sei, wenn man das System nicht durch eine Revolution abschafft, sondern selbst an den politischen Schalthebeln seine Vorstellungen durchzusetzen versucht – doch der sogenannte Revisionismus löste eine jahrelange Debatte aus, die eigentlich erst im Ersten Weltkrieg durch den Willen zu einer Regierungsbeteiligung eine Lösung anstrebte. Im ersten Kriegsjahr vertrat allerdings der Redakteur der sozialdemokratischen Zeitschrift Vorwärts und spätere Reichsfinanzminister Rudolf Hilferding (1877 – 1941), der in Paris von der Gestapo ermordet wurde, die Auffassung, daß die Arbeiterbewegung „heute überall unter der Diktatur der Rechten innerhalb der Partei“61 stehe. Lange nach ihrer Gründung hielt die Sozialdemokratie an dem marxistischen Dogma fest, die Befreiung der gesamten Menschheit durch soziale Revolutionen müsse das erstrebte Ziel und das durchzuführende Werk der Arbeiterklasse sein, denn erst die völlige Abschaffung des Privateigentums böte die Chance, daß die Gesellschaft nicht mehr nur aus den beiden Klassen der reichen Kapitalisten sowie der Großgrundbesitzer und der arbeitenden Besitzlosen bestehe, sondern daß die kapitalistische Ausbeutung sowie Elend und Unterdrückung durch einen politischen Kampf beseitigt würde. Dichotome Klassenkampfparolen waren einfachen Menschen viel leichter zu vermitteln als komplizierte ökonomische Zusammenhänge, bei denen der sozialistische Teufel nicht nur im Detail steckt, sondern bei denen die Funktionäre auch den ständigen Wandel der Industriestruktur im Auge behalten müssen, wenn sie überzeugende Antworten bei einer rasanten Industrialisierung finden wollten. Marx und der greise Engels waren für die Sozialdemokratie wohl zu überragende Lichtgestalten, um sich von ihnen im Parteiprogramm kritisch zu distanzieren und den gravierenden Veränderungen des Industriesystems Rechnung zu tragen. Wenn man dagegen die Reden der SPD-Führungsriege in der Bundesrepublik Deutschland zum 150. Jahrestag der Parteigründung hört und liest, dann hat es in der ganzen sozialdemokratischen Geschichte – vielleicht weil die SPD unter der Hitlerdiktatur massiv verfolgt und unterdrückt wurde – nie etwas anderes gegeben als eine aufrechte demokratische Einstellung, d. h. die Nähe zum marxistischen Dogmatismus wird wahrheitswidrig verschwiegen. Versuchen wir einmal kurz zu umreißen, was die marxistische Vorstellung von einer Klassenherrschaft des Kapitals in der politischen Realität bedeutet, um ihre völlige Unhaltbarkeit zu erkennen und zu begreifen. Danach ginge die gesamte politische Macht aus der ökonomischen hervor, d. h. es gibt in einem kapitalistischen 61 Rudolf Hilferding: Arbeitsgemeinschaft der Klassen?, in: Der Kampf, Jg. 8, Nr. 10. Oktober 1915, S. 321. Der pazifistische Austromarxist Hilferding schloß sich der USPD an, trat 1922 aber wieder der SPD bei.

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Staat nur abgeleitete Formen der Machtausübung, weil sich alle Herrschaftsinstrumente alleine in der Hand der kapitalistischen Klasse befinden sollen. In keinem Industriesystem der westlichen Welt im 19. Jahrhundert und schon gar nicht in den kapitalistischen Demokratien des 20. Jahrhunderts konnte sich auch nur annähernd ein solcher fragiler Überbau entwickeln. Für Marxisten kämpfen Demokratien ohnehin ums Überleben, doch dies tun sie in der westlichen Welt seit fast 250 Jahren mit wachsendem Erfolg, wenn man Wohlstandsgewinne als Maßstab eines gesunden Lebens anerkennt.62 Die industrialisierenden Gesellschaften, die Marx kapitalistisch nannte, bestanden aus miteinander konkurrierenden Gruppen und Parteien, wie Militär, Wissenschaft, Technik, Kultur, Politik etc., die je nach politisch-ökonomischer Lage oder wirtschaftlichem Entwicklungsstand größeren oder geringeren Einfluß auf die Machtzentren des Staates gewannen. Das Vorherrschen einer einzigen ökonomischen Macht, des Kapitals, ist so unhistorisch wie die These, daß die Religion, wie etwa in Max Webers Theorie der calvinistischen Ethik, der alleinige Antrieb für den sozialen oder mentalen Wandel von einer vorkapitalistischen, feudalen zu einer kapitalistischen Gesellschaft sein könnte. Und man muß schon realitätsverweigernde Scheuklappen tragen, wenn man dem wunderschönen Märchen aufsitzt, daß eine klassenlose Gesellschaft bzw. die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln die politische Herrschaft von Menschen oder Parteien über Menschen in Nichts auflösen kann. Die kommunistischen Systeme, die sogenannten Arbeiter- und Bauernstaaten, die die Ideologie eines irdischen Paradieses von Marx und Engels in die politische Praxis umsetzten, waren freiheitsfeindlicher als jedes andere Gesellschaftssystem – außer dem Nationalsozialismus. Der Marxsche Freiheitsbegriff, der die komplizierten Herrschaftsstrukturen auflösen möchte in ein selbstbestimmtes, entfremdungsloses, von schöpferischer Muße bestimmtes Leben, mag Millionen von Menschen begeistert haben und zu Marxisten werden lassen, mit der verfluchten Realität sowohl von kapitalistischen wie sozialistisch-kommunistischen Gesellschaften hat er nichts gemein. Ebenso wie die Entfremdung nicht nur im Arbeitsprozeß stattfinden kann und die arbeitenden Menschen erheblich belastet, so finden wir im alltäglichen Leben Entfremdungsformen, die durch selbstbestimmte Aktivitäten in Vereinen, Freundeskreisen oder der Familie abgebaut werden können. Die unlösbare Verbindung von theoretischer Analyse und politischer Praxis erweist sich bei der konkreten Umsetzung des marxistischen Revolutionsprogramms als das schwächste Glied einer ohnehin morschen Kette, denn eine religiöse Überzeugung ist kein adäquater Ersatz für ein politisch durchsetzbares Programm. Lediglich die Hegelsche Dialektik mit ihrer notwendigen Beibehaltung von Widersprüchen, die jeden wissenschaftlichen Anspruch aushebelt, bietet hier eine raffinierte ‚Lösung‘ aus diesem unlösbaren Dilemma, das damit allerdings einfach hinwegerklärt wird, um sowohl den Revolutionsanspruch als auch die historische 62 Vgl. André Gorz: Die Aktualität der Revolution, Frankfurt am Main 1970, S. 32, der über Frankreich die Ansicht vertritt: „Die bürgerliche Demokratie liegt seit vierzig Jahren im Todeskampf.“

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Gesetzmäßigkeit aufrechtzuerhalten. Wenn es richtig wäre, daß in der vergangenen Geschichte alle die Staatsmacht63 benutzten, „die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen“,64 dann gäbe wohl auch die Geschichte den furchtbar ausgebeuteten Volksmassen das moralische Recht, sich zu wehren bzw. Reformen durchzusetzen. Aber von einer ‚treibhausmäßigen‘ Förderung bzw. Verwandlung des Kapitalismus durch die Staatsmacht in der nachfeudalistischen Epoche kann keineswegs die Rede sein, denn sonst wären sehr viel mehr Staaten nicht nur in Europa, sondern weltweit industrialisiert worden. Es ist ja ohnehin eine historische Gesetzmäßigkeit nach Marx, daß die absterbende Gesellschaftsformation durch eine neue revolutionäre Generation abgelöst wird, um dem siegreichen Proletariat die einzigartige Rolle zu übertragen, das erlösende Signal der ausgebeuteten Völker nicht zu überhören. „Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht“, so wird diese zerstörerische Ideologie verharmlost und der Eindruck erweckt, daß es keine gewaltlose Herrschaft geben könne. Diese Behauptungen beziehen sich ja nicht auf einen Staat oder eine Nation, sondern sollen international gelten, weil das Proletariat international ausgebeutet wird und sich deshalb auch international vereinen soll. Aber was ist das Proletariat? „Es ist eine Idee, ein Mythos, aber keine empirische Realität.“65 Es genügt hier, daran zu erinnern, daß selbst während der Lebenszeit von Karl Marx, z. B. im deutsch-französischen Krieg 1870/71, auch ‚ausgebeutete‘ Arbeiter sich von nationalistischen Parolen sowohl in Deutschland als auch in Frankreich verführen ließen, d. h. die internationale Arbeitersolidarität eine Schimäre blieb. Eine angemessene sozialistische Einschätzung dieses Krieges fiel Marx sichtlich schwer, denn einerseits war die friedliche Arbeiterverbrüderung eine Voraussetzung zur Vernichtung der Kapitalistenklasse, andererseits kämpften nun deutsche und französische Arbeiter unerbittlich gegeneinander. Die verbrecherischen Kriegspläne der kapitalistischen Ausbeuter mußten deshalb den kriegstreibenden Monarchen bzw. Politikern angelastet werden, selbst wenn dafür eine paradoxe Konstruktion benötigt und erfunden wurde: „Von deutscher Seite ist der Krieg ein Verteidigungskrieg. Aber wer brachte Deutschland in den Zwang, sich verteidigen zu müssen? Preußen! Bismarck war es, der mit demselben Louis Bonaparte konspirierte, um eine volkstümliche Opposition zu Hause niederzuschlagen und 63 Die Funktion staatlicher Organe ist von Karl Marx zu keiner Zeit adäquat analysiert worden. In Der Bürgerkrieg in Frankreich (1871) führte er die zentralistische Staatsmacht auf das Wirken absoluter Monarchien zurück, doch die modernen staatlichen Herrschaftsformen stünden lediglich unter direkter Kontrolle der Kapitalaristokratie: „In dem Maß, wie der Fortschritt der modernen Industrie den Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit entwickelte, erweiterte, vertiefte, in demselben Maß erhielt die Staatsmacht mehr und mehr den Charakter einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, einer Maschine der Klassenherrschaft.“ (MEW. Bd. 17, Berlin 1973, S. 336). 64 K. Marx: Das Kapital, 1. Bd. (wie Anm. 41), S. 779. Dort auch das nächste Zitat. 65 G. Bartsch: Kommunismus (wie Anm. 44), S. 26 (Hervorhebung im Original).

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Deutschland an die Hohenzollerndynastie zu annexieren.“66 Der siegreiche Krieg Preußens gegen Österreich 1866 hatte ja die europäischen Machtverhältnisse zu Ungunsten Frankreichs verschoben, d. h. die eigentlich belanglose Frage einer spanischen Thronkandidatur durch Erbprinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen wollte die französische Regierung nicht hinnehmen, weil sie eigene Ansprüche anmeldete. Und Marx’ realitätsverleugnender Revolutionsfanatismus kam auch in einem Brief an seine Tochter und deren Ehemann, Paul und Laura Lafargue in Paris, vom 28. Juli 1870 zum Ausdruck: „Ich meinerseits wäre dafür, daß beide, Preußen und Franzosen, sich abwechselnd schlagen, und daß – wie ich annehme – die Deutschen schließlich siegen. Ich wünsche das deshalb, weil die definitive Niederlage Bonapartes wahrscheinlich eine Revolution in Frankreich hervorruft, während durch die definitive Niederlage Deutschlands nur die gegenwärtige Lage um weitere 20 Jahre hinausgezogen würde.“67 Als Otto von Bismarck mit der Emser Depesche vom 13. Juli 1870, einem veränderten Bericht über eine Unterredung von König Wilhelm I. und dem französischen Botschafter Vincent Graf Benedetti über den Verzicht auf die spanische Thronfolge, Öl ins Feuer goß, fühlte sich Frankreich brüskiert und erklärte Deutschland am 19. Juli 1870 den Krieg. Bei der Schlacht um Sedan im französischen Département Ardennes an der Maas mußte der Marschall Marie Edme Patrice Maurice Graf von Mac-Mahon am 2. September 1870 mit seiner gesamten Armee kapitulieren und Napoleon III. geriet in deutsche Gefangenschaft. Es war derselbe General, der im Mai 1871 den Aufstand der Pariser Kommune, die sich nach dem revolutionären Gemeinderat von 1792 Commune de Paris nannte, brutal niederschlagen ließ. Danach schrieb ein preußischer Militarist am 4. Juni von St. Denis an seine Mutter, daß er „mit eigenen Augen das Gottesgericht über das moderne Sodom geschaut“68 habe. Auch im weiteren Verlauf der relativ schnellen Eroberung Frankreichs und der Besetzung von Paris war keinerlei Konspiration zwischen deutscher und französischer Seite zu entdecken; in Gegenteil, denn Bismarck setzte gegen den Willen der militärischen Führung die Beschießung der Pariser Festung durch, um die französische Hauptstadt möglichst bald einzunehmen. Marx dagegen wollte in seiner Adresse vom 9. September 1870 an den Generalrat der IAA vor allem das französische Kaiserreich besiegt wissen: „Die deutsche Arbeiterklasse hat den Krieg, den zu hindern nicht in ihrer Macht stand, energisch unterstützt, als einen Krieg für Deutschlands Unabhängigkeit und für die Befreiung Deutschlands und Europas von dem erdrückenden Alp des Zweiten Kaiserreichs. Es waren die deutschen Industriearbeiter, welche mit den ländlichen Arbeitern zusammen die Sehnen und

66 Karl Marx: Erste Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg, in: MEW. Bd. 17, Berlin 1973, S. 5 (Hervorhebung im Original). 67 MEW. Bd. 33, Berlin 1973, S. 126 (Hervorhebung im Original). 68 Max Liebermann von Sonnenberg: Aus der Glückszeit meines Lebens, München 1911, S. 374.

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Muskeln heldenhafter Heere lieferten, während sie ihre halbverhungerten Familien zurückließen.“69 Die spannungsreiche Zeit zwischen dem siegreichen Ende der Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg 1865 und dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 war in der Internationalen Arbeiterassoziation angefüllt mit heftigen Debatten belgischer, dänischer, englischer, französischer oder polnischer Delegierten über die richtige Auffassung der europäischen Arbeiterklasse von Krieg und Frieden, was hier nicht besonders untersucht werden soll. Marx allerdings zog im Kapital merkwürdige Schlüsse aus dem ökonomischen Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft: „Wie der amerikanische Unabhängigkeitskrieg des 18. Jahrhunderts die Sturmglocke für die europäische Mittelklasse läutete, so der amerikanische Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts für die europäische Arbeiterklasse.“70 Ab 9. September 1867 fand in Genf der Gründungskongreß der Friedens- und Freiheitsliga, Lique Internationale de la Paix et de la Liberté, organisiert von Victor Hugo, Giuseppe Garibaldi, Michail Bakunin u. a., kurz nach dem zweiten IAA-Kongreß in Lausanne vom 2. bis 8. September mit 71 Delegierten,71 statt. Er war geprägt von christlichem Gedankengut und humanitären Ideen, denen Marx feindlich und ablehnend gegenüberstand, weswegen er wohl lediglich den Beitritt des Genfer Friedenskongresses zur Internationalen Arbeiterassoziation forderte und sich nicht eingehend mit dessen Zielen beschäftigen wollte, denn die Verfechter des Friedens „ließen gern Rußland allein im Besitz der Mittel zur Führung eines Krieges gegen das übrige Europa“.72 Marx’ Haltung zu der Frage Krieg oder Frieden war weder auf dem dritten Kongreß der Internationale in Brüssel vom 6. bis 13. September 1868 noch später eindeutig, aber seine revolutionäre Taktik schloß aus, „sämtliche Kriegsgegner einschließlich der Arbeiterklasse unter der Fahne des bürgerlichen Pazifismus so69 Karl Marx: Zweite Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg, in: MEW. Bd. 17, Berlin 1973, S. 276. 70 Karl Marx: Das Kapital. 1. Bd., Berlin 1962, S. 15. 71 Marx war offenbar mit den Ergebnissen des Lausanner Kongresses, an dem an seiner Stelle für Deutschland Ludwig Börner, Ludwig Kugelmann, Friedrich Albert Lange u. a. teilnahmen, sehr unzufrieden, wie er Engels in einem Brief vom 11. September 1867 mitteilte, wo er ihn mit dem 30jährigen Wirken Mazzinis verglich sowie: „Mit den Intrigen der Proudhonisten in Paris, Mazzinis in Italien und der eifersüchtigen Odgers, Cremer, Potter zu London, mit den Schulze-Del[itzsch] und den Lassalleanern in Deutschland!“ (MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 343). 72 [Aufzeichnung einer Rede von Karl Marx über die Stellung der Internationalen Arbeiterassoziation zum Kongreß der Friedens- und Freiheitsliga], in: MEW. Bd. 16, Berlin 1973, S. 530. (Protokoll der Sitzung des Generalrats vom 13. August 1867). Daraufhin legte Marx einen Resolutionsentwurf vor, der lautete: „Die Delegierten des Rats sollen angewiesen werden, nicht offiziell am Friedenskongreß teilzunehmen und auf dem Kongreß der Arbeiterassoziation jedem Antrag entgegenzutreten, der eine offizielle Teilnahme anstrebt.“ (Karl Marx: [Resolutionsentwurf über die Stellung der Internationalen Arbeiterassoziation zum Kongreß der Friedens- und Freiheitsliga], in ebd., S. 206).

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wie sentimental-kosmopolitischer Brüderlichkeitsphrasen zusammenschließen zu wollen“,73 da auch der Generalrat die divergierenden nationalen Interessen nicht durch einen moralischen Appell an das internationale Proletariat überbrücken konnte. Der Vorschlag belgischer Delegierter auf dem Brüsseler Kongreß, daß die Arbeiter bei einem Kriegsausbruch in den Generalstreik treten sollten, bezeichnete Marx in einem Brief an Engels vom 16. September 1868 als „den belgischen Blödsinn“.74 Eine pazifistische Einstellung bürgerlicher Kreise konnte ein Revolutionär wie Marx den Arbeitern nicht empfehlen, aber den großen Wunsch breiter Bevölkerungsschichten in Deutschland nach nationaler Einigung konnte er auch nicht einfach ignorieren. Doch zu warten, „bis die Franzosen reif sind, eine soziale Revolution zu machen“,75 kam für ihn ebenfalls nicht in Frage. Er vertrat die Ansicht, daß die großen europäischen Armeen das zwangsläufige Resultat des durch die Revolution von 1848 hervorgerufenen gesellschaftlichen Zustandes seien: „Sie würden nicht unterhalten, um internationale Kriege zu führen, sondern um die Arbeiterklasse niederzuhalten. Aber nicht immer gäbe es Barrikaden, die man bombardieren, und Arbeiter, die man erschießen könne; dann bestünde die Möglichkeit, internationale Konflikte vom Zaume zu brechen, damit die Soldaten nicht aus der Übung kommen.“76 Am 7. Jahrestag der Gründung der IAA beschwor Marx in London noch einmal die Pariser Kommune als revolutionäre Vorhut zur Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse, damit die Klassenherrschaft beseitigt würde: „Aber bevor eine solche Veränderung vollzogen werden könne, sei eine Diktatur des Proletariats notwendig, und ihre erste Voraussetzung sei eine Armee des Proletariats. Die arbeitenden Klassen müßten sich das Recht auf ihre Emanzipation auf dem Schlachtfeld erkämpfen.“77 Die Parole „Frieden den Hütten, Krieg den Palästen“ war offenbar für Marx nur durchzuführen, nachdem die Arbeiterklasse in einem militärischen Vernichtungskampf die Kapitalisten vollständig besiegt hatten. Nachdem Frankreich besiegt – am 4. November 1870 wurde in Frankreich die Republik ausgerufen – und Elsaß-Lothringen von Deutschland annektiert worden war, rangen sich Marx und Engels dazu durch, den preußischen Militarismus anzuprangern. Noch vor dem Aufruf des Braunschweiger Ausschusses der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei vom 5. September 1870, daß die deutschen Arbeiter öffentliche Kundgebungen für einen ehrenvollen Frieden mit Frankreich und gegen die Annexion Elsaß-Lothringens abhalten sollten, schrieben Marx und Engels P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (wie Anm. 43), S. 580. MEW. Bd. 32, Berlin 1974, S. 151. 75 MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 229 (Brief an Engels vom 20. Juni 1866). In einer Resolution des Generalrats vom 17. Juni 1866 hatte man sich auf den ‚faulen‘ Kompromiß verständigt, den Ausbruch militärischer Konflikte den jeweiligen Regierungen anzulasten. 76 [Aufzeichnung einer Rede von Karl Marx…] (wie Anm. 72), S. 530. 77 Karl Marx: [Rede auf der Feier zum siebenten Jahrestag der Internationalen Arbeiterassoziation am 25. September 1871 in London], in: MEW. Bd. 17, Berlin 1973, S. 433 (Hervorhebung von mir). 73 74

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an den Ausschuß. Der Ausschuß übernahm Wendungen aus diesem Brief in seinen Aufruf: „Nehmen sie [die deutschen Sieger, H.K.] Elsaß und Lothringen, so wird Frankreich mit Rußland Deutschland bekriegen.“78 Zwei Tage später wurden die Unterzeichner des Aufrufs, darunter Johann Jacoby aus Königsberg, verhaftet und auf die Festung Lötzen gebracht. Der preußische König Wilhelm I. wurde am 18. Januar 1871 in Versailles zum Deutschen Kaiser ernannt, was als eine bewußte Demütigung der grande nation Frankreich inszeniert wurde, um sich an Napoleon I. zu rächen. Zwei Tage vorher hatte Marx an den Redakteur der Daily News geschrieben: „Frankreich – und seine Sache ist glücklicherweise weit davon entfernt, verzweifelt zu sein – kämpft im Augenblick nicht für seine eigene nationale Unabhängigkeit, sondern für die Freiheit Deutschlands und Europas.“79 Die gespannte politische und militärische Lage in Europa machte es für den die Tagesereignisse kommentierenden Marx nahezu unmöglich, den Überblick zu behalten und die europäischen wie weltpolitischen Ereignisse zutreffend einzuordnen. Marx hatte etwa zweieinhalb Jahre vorher, am 10. September 1868 an Georg Eccarius und Friedrich Leßner in Brüssel geschrieben, „daß ein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland ein Bürgerkrieg ist, ruinierend für beide Länder, und ruinierend für Europa überhaupt“.80 Nach dem Krieg hatte die deutsche Regierung Frankreich die Zahlung von Kriegsschulden in Höhe von fünf Milliarden Francs (F) in Form von 4,25 Mio. F Wechseln, 273 bzw. 239 Mio. F Gold bzw. Silber, 105 Mio. Mark für die Ausgaben deutscher Truppen während der Okkupation sowie 325 Mio. F für die abgetretene Ostbahn aufgezwungen. Dieses Geld floß durch verschiedene Kanäle in die deutsche Wirtschaft, z. B. durch die Reorganisation des Landheeres, durch Festungsbau und durch verzinsliche Darlehen; außerdem wurden Kriegsanleihen in Staatspapieren, Eisenbahnobligationen oder Pfandbriefen angelegt. Der große Verlierer war Frankreich, das allerdings die letzte Rate der Kriegsentschädigung bereits am 5. September 1873 zurückzahlte, wohl auch deshalb, weil erst dann das französische Territorium von deutschen Truppen endgültig geräumt wurde. Aber auch Deutschland wurde wenige Jahre später von der sogenannten Gründerkrise heimgesucht, der ein ungeheurer Börsenboom von Aktienunternehmen vorausgegangen war und durch die sich Marx und Engels in ihrer Krisentheorie bestätigt fühlen konnten. Der Aufstand der französischen Kommunarden in Paris bedeutete Karl Marx/Friedrich Engels: [Brief an den Ausschuß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei], in: MEW. Bd. 17, Berlin 1973, S. 269. Geschrieben zwischen dem 22. und 30. August 1870. Sie fuhren dort mit ihrer fehlerhaften Einschätzung fort und glaubten: „Schließen sie einen ehrenvollen Frieden mit Frankreich, so wird jener Krieg Europa von der moskowitischen Diktatur emanzipieren, Preußen in Deutschland aufgehen machen, dem westlichen Kontinent friedliche Entwicklung erlauben, endlich der russischen sozialen Revolution, deren Elemente nur eines solchen Stoßes von außen zur Entwicklung bedürfen, zum Durchbruch helfen, also auch dem russischen Volke zugute kommen.“ 79 Karl Marx: Die Preß- und Redefreiheit in Deutschland, in: MEW. Bd. 17, Berlin 1973, S. 285. (Erschienen in The Daily News am 19. Januar 1871). 80 MEW. Bd. 32, Berlin 1974, S. 558. 78

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allerdings scheinbar die großartige endgültige Bestätigung der marxistischen Revolutionstheorie. Nach der deprimierenden französischen Niederlage sollten nämlich einige Tausend Aufständische in Paris ihre welthistorische Aufgabe erfüllen, wie Marx in einem Brief an Ludwig Kugelmann vom 17. April 1871 triumphierend mitteilte: „Der Kampf der Arbeiterklasse mit der Kapitalistenklasse und ihrem Staat ist durch den Pariser Kampf in eine neue Phase getreten.“81 Der Aufstand vom 18. März bis 28. Mai 1871 wurde von wenigen französischen Arbeitern, aber überwiegend kleinbürgerlichen Handwerkern und sozialistischen Intellektuellen gegen die von der deutschen Armee eingeschlossene französische Hauptstadt, aus der die Regierung geflohen war, durchgeführt. Er begann, nachdem französische Truppen vergeblich versucht hatten, Paris zu erobern und ein aus Wahlen hervorgegangenes Zentralkomitee der Nationalgarde die politische Macht an sich riß. Die Pariser Kommune gegen die republikanische Regierung kam für Marx und Engels sehr überraschend, d. h. sie hatten sie überhaupt nicht vorausgesehen. In einem Brief vom 6. April 1871 an Wilhelm Liebknecht schrieb Marx sogar, daß die Kommune wahrscheinlich unterliegen werde, „weil sie törichterweise den Bürgerkrieg nicht eröffnen wollten“.82 Am 29. Mai dieses Jahres wurde die Kommune von den Truppen des Chefs der Exekutivgewalt, Adolphe Thiers (1797 – 1877), in einem grausamen Blutbad niedergeschlagen, indem Barrikade für Barrikade zerstört wurde. Die 20.000 Kommunarden, die von Regierungstruppen mit rücksichtsloser Brutalität getötet wurden sowie die etwa gleichgroße Zahl von in überseeischen Strafkolonien Verbannten, lösten bei Marx kein menschliches Bedauern aus. In seiner Schrift Der Bürgerkrieg in Frankreich vom 30. Mai 1871 interpretierte er diesen Aufstand gemäß seiner politischen Revolutionstheorie um und feierte die Kommune als ruhmvolles Signal einer kommunistischen Gesellschaft: „Das Paris der Arbeiter, mit seiner Kommune, wird ewig gefeiert werden als der ruhmvolle Vorbote einer neuen Gesellschaft. Seine Märtyrer sind eingeschreint in dem großen Herzen der Arbeiterklasse. Seine Vertilger hat die Geschichte schon jetzt an jenen Schandpfahl genagelt, von dem sie zu erlösen alle Gebete ihrer Pfaffen ohnmächtig sind.“83 Einen solchen Ruhmestempel für die Aufständischen zu errichten bzw. den französischen Truppen solche Höllenqualen anzudrohen, mußte der marxistischen Nachwelt wie eine revolutionäre Offenbarung in den Ohren klingen. Am 1. Jahrestag des Kommuneaufstandes, am 18. März 1872, wollte Marx noch MEW. Bd. 33, Berlin 1973, S. 209. Ebd., S. 200 (Hervorhebung im Original). 83 Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW. Bd. 17, Berlin 1973, S. 362. Für Marx war die Kommune eine ausdehnungsfähige, politische Regierungsform, die er wohl auch deswegen so schätzte, weil sie in ihrem ersten Dekret die Enteignung sämtlicher Kirchen forderte: „Ihr wahres Geheimnis war dies: Sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.“ (S. 342. Hervorhebung im Original). 81

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einmal die „drohende Armee des Weltproletariats“,84 die nur in seiner Phantasie existierte, aufmarschieren lassen und betrachtete „die ruhmreiche Bewegung des 18. März als Morgenröte der großen sozialen Revolution, die die Menschen für immer vom Klassenregime befreien wird“. Eigentlich bedürfen solche märchenhaften Interpretationen keiner besonderen Widerlegung, auch wenn Werner Blumenberg dazu kritisch angemerkt hat: „Die Verherrlichung der Kommune, die Schöpfung des Kommune-Mythos, in den Hauptthesen des Kommunistischen Manifestes aufgenommen wurden, ist vor allem Marx’ Werk.“85 Marx war dogmatisch fasziniert und eingefangen von der irrealen Möglichkeit, das kapitalistische System zu vernichten und schreckte deshalb auch nicht, wie seine kommunistischen Nachfolger, vor absurden Konstruktionen zurück. Noch fünf Jahre vor der friedlichen Revolution in der DDR wollte man ostdeutsche Bürger vom dem humanistischen Gehalt der Marxschen Theorie überzeugen, weil die eigenen Prognosen so kläglich versagt hatten: „Marx’ wissenschaftliche Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft und in die historische Rolle der Arbeiterklasse ermöglichte es ihm bekanntlich, wichtige Prognosen über die Grundtendenz der Entwicklung der kommunistischen Gesellschaft aufzustellen, Prognosen, die wir heute immer wieder zur Grundlage unserer Theorie und Praxis nehmen.“86 Bei den angeblich um maximale Gewinne streitenden Kapitalisten, die ja die Hauptfeinde darstellten, war für Marx die Sache ohnehin klar: „Je ein Kapitalist schlägt viele tot,“87 weshalb nach einer gewissen Zeit nur noch ein paar Dutzend Unternehmer übrig blieben; die ja ohnehin nicht mehr viel Widerstand leisten könnten. Ein bekannter Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft und Mitbegründer des Ordoliberalismus der Freiburger Schule, Franz Böhm (1895 – 1977), kommentierte diese Marxsche Aussage etwas ironisch. Er drehte den Gedanken einfach um und unterstellte ihm revolutionäres Potential: „Diesen paar Dutzend würden dann die Millionen der Enterbten mit einem leichten und eleganten revolutionären Hebeldruck die in ihren Händen massierte Macht entwinden können mitsamt dem ganzen politischen Überbau einer sog. parlamentarischen Demokratie.“88 Und Max Weber sagte in einem Vortrag in Wien am 13. Juni 1918 vor österreichischen Offizieren: „Die Eliminierung der Kapitalschwachen vollzieht sich in der Form ihrer Unterwerfung unter Finanzierungskapital, Kartell- oder Trustorganisationen.“89 Wie sollten denn die armen, ausgebeuteten Arbeiter mit dieser revolutionär eroberten politischen Macht, wenn sie ihnen überhaupt in die Hände fallen konnte, umgehen und sie behaupten? Sie hatten ja von ihren marxistischen Führern nicht einmal 84 Karl Marx: Resolutionen der Feier zu Ehren des Jahresstags der Pariser Kommune, in: MEW. Bd. 18, Berlin 1971, S. 56. Dort auch das nächste Zitat. 85 Werner Blumenberg: Karl Marx (1963), Reinbek bei Hamburg 1968, S. 141. 86 Martina Thom: Karl Marx und der reale Humanismus, in: Informationsbulletin. Aus dem philosophischen Leben der DDR, Jg. 20, Heft 3, 1984, S. 17. 87 K. Marx: Das Kapital, 1. Bd. (wie Anm. 41), S. 790. 88 Franz Böhm: Die Aufgaben der freien Marktwirtschaft, München 1951, S. 23. 89 Max Weber: Der Sozialismus, Weinheim 1995, S. 98.

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gelernt, wie man die politische Macht organisieren und sie verteidigen könnte, abgesehen von der vagen Aussage einer ‚Diktatur des Proletariats‘ und der harmlosen Drohung mit einer Arbeiterarmee. Die ökonomische Realität war aber Mitte des 19. Jahrhunderts keineswegs so einfach, um die feudale in die kapitalistische Produktion einfach umzuwandeln, selbst wenn man treibhausartigen Dünger besessen hätte. Feudale Strukturen überlagerten noch lange die industriellen und die kapitalistischen bzw. politischen Eliten waren nicht einfach bereit, ihre Macht an die ‚Diktatur‘ der Arbeiterklasse abzutreten. Auf der Londoner Konferenz der Internationalen Arbeiterassoziation vom 17. bis 23. September 1871 im Artisans’ Club drangen Marx und Engels darauf, daß die Arbeiterklasse sich als politische Partei konstituiere, weil sie einer „zügellosen Reaktion gegenübersteht, welches jedes Emanzipationsstreben der Arbeiter schamlos niederdrückt und durch rohe Gewalt den Klassenunterschied und die darauf gegründete politische Herrschaft der besitzenden Klassen zu verewigen sucht“.90 Die politische Arbeiterpartei sei notwendig „für den Triumph der sozialen Revolution und ihres Endziels – Abschaffung der Klassen“, doch damit war ja keine Taktik bereitgestellt, wie man den Klassenkrieg siegreich beenden könnte. Als z. B. während der beginnenden Novemberrevolution 1918, nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, Arbeiter- und Soldatenräte gebildet wurden, um in Deutschland die politische Herrschaft zu übernehmen, konnten sich nicht einmal führende Sozialisten und Kommunisten auf ein einheitliches Vorgehen einigen, wie hätten es dann die Arbeiter zustande bringen sollen, von denen Millionen auf den Schlachtfeldern gekämpft hatten. Die neue Schicht des Unternehmertums, die sich von Handwerker- zu Managementunternehmern wandelte und immer stärker von Eigentümer- zu Aktienunternehmen umgewandelt wurde, war aber nicht nur für Marxisten ein Buch mit sieben Siegeln. Der englische Pazifist und linke Philosoph Bertrand Russell schrieb 1938 über die angeblich unbegrenzte Macht von Unternehmern im ausbeuterischen Kapitalismus: „Grundbesitzer und Kapitalisten sind ohne Arbeiter hilflos, und Streiks, wenn sie nur von genügender Entschlossenheit und Breite sind, 90 Karl Marx/Friedrich Engels: Beschlüsse der Delegiertenkonferenz der Internationalen Arbeiterassoziation, abgehalten zu London vom 17. bis 23. September 1871, in: MEW. Bd. 17, Berlin 1973, S. 422. Dort auch das nächste Zitat (Hervorhebung im Original). In einer Rede auf dieser Konferenz am 21. September stimmte Marx für den Vorschlag des französischen Sozialisten Édouard Vaillant (1840 – 1915), der Mitglied der Pariser Kommune und später Mitbegründer der Sozialistischen Partei Frankreichs gewesen war, nicht mit den Gewerkschaften bzw. Trade Unions zusammenzuarbeiten: „Wir müssen den Regierungen erklären: wir wissen, daß ihr die bewaffnete Macht seid, die gegen die Proletarier gerichtet ist; wir werden auf friedlichem Wege gegen euch vorgehen, wo uns das möglich sein wird, und mit den Waffen, wenn es notwendig werden sollte.“ ([Aufzeichnung einer Rede von Karl Marx über die politische Aktion der Arbeiterklasse], in ebd., S. 652). In einem Brief an Ludwig Kugelmann in Hannover vom 18. Mai 1874 empfahl Marx den englischen Arbeitern, „sich vor allem ihre jetzigen Führer [der Gewerkschaften, H.K.] vom Leib“ zu schaffen (MEW. Bd. 33, Berlin 1973, S. 628).

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können der Arbeiterschaft einen Anteil an der wirtschaftlichen Macht sichern.“91 Dies war bereits eine weiterentwickelte Form des Kapitalismus, in dem Arbeiter durch Bildung von Gewerkschaften z. B. Lohnforderungen durch Streiks gegenüber Unternehmern durchsetzen konnten. Doch noch um 1900 konstatierte Arthur Shadwell bei deutschen und amerikanischen Unternehmern eine ausgeprägte Abneigung gegenüber Arbeiterverbindungen, „die Arbeitgeber hassen und fürchten die Gewerkschaften“,92 während man sich in England damit arrangiert habe und nur einige britische Unternehmer ihnen „Verringerung der Produktion, Widerstand gegen Maschinen, Einmischung in die Verwaltung, Eingriff in den ‚freien‘ Arbeitsvertrag und Stiftung von Unfrieden“ vorhielten. In einem Punkt können wir allerdings Marx zustimmen, auch wenn sich darin überhaupt keine menschliche Anteilnahme ausdrückt: Um historische Entwicklungen bzw. politische Übergänge drastisch abzukürzen, kann ein Mittel, nämlich revolutionäre oder totalitäre Gewalt anzuwenden, zum Erfolg führen, aber mit welchen menschlichen Folgen? Bis auf die friedliche Revolution 1989 waren die meisten Revolutionen der Weltgeschichte durch ein hohes Gewaltpotential mit oft Tausenden von Toten als Folge solcher Umsturzversuche geprägt und Marx war sich dessen vollständig bewußt, denn er hatte das Guillotineregime Maximilien de Robespierres genau studiert. Schon 1844 formulierte er in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten den entfremdeten Gedanken, daß nicht Theorie sondern Handeln das eigentliche Anliegen bei der Verwirklichung des Kommunismus sei: „Um den Gedanken des Privateigentums aufzuheben, dazu reicht der gedachte Kommunismus vollständig aus. Um das wirkliche Privateigentum aufzuheben, dazu gehört eine wirkliche kommunistische Aktion.“93 Allerdings können solche Revolutionsphantasien und andere Verdammungsurteile gegenüber dem kapitalistischen System dieses unbarmherzigen Revolutionärs keineswegs die Ansicht rechtfertigen, „Marx war kein Moralist“.94 Marx’ Schriften triefen von moralischen Urteilen wie Unwerturteilen und seine Nachfolger haben ihre ätzende Kritik an dem Kapitalismus munter fortgesetzt. Noch 1979, d. h. 10 Jahre vor ihrem ökonomischen Zusammenbruch, wurde in der DDR die längst auf dem vermoderten Misthaufen der kommunistischen Geschichte gelandete Ansicht vertreten, daß aufgrund objektiver Bedingungen eine sozialistische Revolution bevorstünde: „Die Vertiefung des kapitalistischen Grundwiderspruchs führt gerade durch die dem staatsmonopolistischen Kapitalismus mögliche Vergesellschaftung der Produktion und durch die Entwicklung der Produktivkräfte zur vollständigen materiellen Vorbereitung des Sozialismus.“95 Bertrand Russell: Macht (1947), Wien 1973, S. 110. A. Shadwell: England, Deutschland und Amerika (wie Anm. 23), S. 509. Dort auch das nächste Zitat. 93 Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW. Ergänzungsband. 1. Teil, Berlin 1977, S. 553 (Hervorhebungen im Original). 94 Rolf Hosfeld: Karl Marx, München/Zürich 2010, S. 178. 95 Dieter Klein: Allgemeine Krise und staatsmonopolistischer Kapitalismus (1974). 2. Aufl. Berlin 1979, S. 136 (Hervorhebung von mir). 91

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D. Die Fallstricke der klassenlosen Gesellschaft Marx war ein unverbesserlicher Revolutionsfanatiker, der seine rücksichtslosen Gewaltphantasien der ganzen kapitalistischen Welt verkünden wollte, damit sie ihrem unausweichlichen Schicksal in die Augen sähe und erkennen könne, was ihr bevorstehe. Bei dieser allseitigen Gewaltorgie der kapitalistischen Sklaverei muß es nämlich offenbar zur planmäßigen Ausbeutung der Erde kommen, müssen alle Völker im Netz des Weltmarktes verschlungen werden, damit der internationale Charakter des kapitalistischen Systems seine eigentliche Fratze enthüllt. Doch was, wenn das kapitalistische Industriesystem sich immer weiter in Europa und Übersee ausbreitete, ohne daß es zu einer Revolution oder einem gesellschaftlichen Zusammenbruch des Kapitalismus käme? Was dann an dessen Stelle träte, darüber läßt uns Marx weitgehend im Unklaren, umso gewisser ist er über das unausweichliche Schicksal des Kapitalismus: „Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinigten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“96 Diese organisierte, aber ausgebeutete Arbeiterklasse soll den wenigen noch verbliebenen Ausbeutern das Privateigentum aus den Händen reißen, so wie die schlesischen Weber (vergeblich) versucht haben, die Fabriken ihrer ‚Sklavenhalter‘ zu zerstören? Diese harschen Urteile Marx’ über die ausbeuterische Kapitalistenklasse stehen im krassen Widerspruch zu der Ansicht, daß „in der Ablehnung aller ethischen Raisonnements die spezifische Eigenart des Marx’schen Denkens“97 liege. Vor allem aber waren diese Marxschen Ausbeuterphantasien ein realitätsverweigernder Hohn auf die tatsächlichen ökonomischen Verhältnisse, in denen sich nicht nur die Zahl der ‚Kapitalmagnaten‘ laufend vergrößerte, sondern Monopole immer größere Teile der Produktion an sich rissen. Doch es geht ja vor allem um die Arbeiterklasse und ihre Fähigkeit, das ausbeuterische kapitalistische System zu beseitigen, was Marx umtrieb und ihn zu schwindelerregenden Theorien anregte. Im Jahr 1874/75 erläuterte er in seiner Auseinandersetzung mit Michail Bakunin, der ja schon Schriften von Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel ins Russische übersetzt hatK. Marx: Das Kapital, 1. Bd. (wie Anm. 41), S. 790 f. So Werner Sombart: Das Lebenswerk von Karl Marx, Jena 1909, S. 24. Sombart glaubte, daß Marx nicht die großen Leidenschaften der Menschen anstacheln wollte, sondern sein ‚Ideal‘ sei „ein schemenhafter, blutleerer Dogmatismus an Stelle blühender, hinreißender, lebendiger Begeisterung“ (S. 15) gewesen. 96

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te, wie die verbündete Arbeiterklasse den kapitalistischen Feind endgültig von dieser Erde verschwinden lassen kann: „Solange die andren Klassen, speziell die kapitalistische noch existiert, solange das Proletariat mit ihr kämpft …, muß es gewaltsame Mittel anwenden, daher Regierungsmittel; ist es selbst noch Klasse, und sind die ökonomischen Bedingungen, worauf der Klassenkampf beruht und die Existenz der Klassen, noch nicht verschwunden und müssen gewaltsam aus dem Weg geräumt oder umgewandelt werden, ihr Umwandlungsprozeß gewaltsam beschleunigt werden“,98 so ist das Zerstörungswerk noch nicht vollendet. Die internationale Arbeiterklasse benötige also nicht nur militärische Gewaltmittel, sondern auch unendliche Geduld, denn es bedarf ja keiner allzu großen Phantasie sich vorzustellen, daß die Kapitalmagnaten und die kapitalistischen Regierungen sich ihre Reichtümer nicht einfach aus der Hand schlagen lassen bzw. den Arbeitern friedlich die politische Macht überlassen. Marx kannte kein Pardon und wollte außer dem kapitalistischen System die veralteten politischen Strukturen ebenfalls in den Abgrund jagen. In einem Brief an Friedrich Adolph Sorge vom 4. August 1874 glaubte Marx, daß die Bismarcksche Politik seinen Ideen zuarbeite und Europa bald eine Revolution erlebe: „Die allgemeinen europäischen Zustände sind derart, daß sie mehr und mehr zu einem allgemeinen europäischen Krieg drängen. Wir müssen da durchgehn, bevor an irgendeine entscheidende äußere Wirksamkeit der europäischen Arbeiterklasse zu denken ist.“99 Im Gegensatz zu den anarchistischen Vorstellungen Bakunins und seiner Anhänger, die gegen Gewaltherrschaft, Kapitalismus, Leibeigenschaft in Rußland und staatlichen Zentralismus kämpften, sollte eine soziale Revolution nämlich auch den bürgerlichen Staat zum Verschwinden bringen, weil erst damit jegliche Klassenherrschaft beseitigt sei! Genau dieses Rezept propagierte die Rote Armee Fraktion Ende der 1960er Jahre in ihrem Kampf gegen die bundesrepublikanische Demokratie und gegen die Kapitalistenklasse, nämlich tödliche Gewalt anzuwenden, weil die Regierung mit den gleichen Mitteln kämpfe und anders nicht besiegt werden könne. Wenn nicht Marx, dann war Che Guevara das revolutionäre Vorbild, weil eine Klassenkampftheorie ein wirkungsvolles Freund-Feind-Bild zur Verfügung stellte, mit dem man eine demokratische Gesellschaft als Anhängsel einer Kapitalistenklasse an den Pranger stellen konnte, die die angeblichen Interessen der Arbeiter verraten habe. Es ist also nicht nur charakteristisch für die ideologische Verblendung von Marx und seiner Fixierung auf eine soziale Arbeiterrevolution, daß er nicht sehen bzw. akzeptieren wollte, daß die Französische Revolution, die Revolutionen 1830 und 1848 zuerst in Frankreich stattfanden, d. h. in einem Staat, dessen ökonomische Entwicklung relativ rückständig war, aber in dem das größte bürgerliche Reservoir für revolutionäre Aktivitäten entstehen konnte. Dagegen erlebte der damals weltweit fortgeschrittenste kapitalistische Staat, nämlich Großbritannien, die friedlichste Entwicklung aller industrialisierenden Nationen und setzte gravierende Reformen 98 K. Marx: [Konspekt von Bakunins Buch „Staatlichkeit und Anarchie“], in: MEW. Bd. 18, Berlin 1971 , S. 630 (Hervorhebung im Original). 99 MEW. Bd. 33, Berlin 1973, S. 635 (Hervorhebung im Original).

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seines Industriesystems durch, von denen gerade die Arbeiterklasse langfristig mehr profitierte als von einer vollständigen Zerstörung des Kapitalismus und den Aufbau eines kommunistisch-zentralistischen Staates. Doch Marx vertrat noch im Jahr 1870 die illusionäre Auffassung: „England, als Metropole des Kapitals, als bis jetzt den Weltmarkt beherrschende Macht, ist einstweilen das wichtigste Land für die Arbeiterrevolution, dazu das einzige Land, wo die materiellen Bedingungen dieser Revolution bis zu einem gewissen Reifegrad entwickelt sind.“100 Natürlich waren die französischen Revolutionen für marxistische Ideologen keine Vorbilder für ihre ‚soziale‘ Revolution, obwohl durch sie monarchische Herrscherhäuser gestürzt und die politische Herrschaft in andere Hände übergeben worden waren. Zur damaligen Zeit, d. h. Ende des 18. Jahrhunderts, war ja noch überwiegend in Europa, außer in Großbritannien, der Feudalismus vorherrschend, d. h. die kapitalistische Produktion mit ihren umwälzenden Maschineneinsatz war erst in Ansätzen ausgebildet und ein ‚ausgebeutetes‘ Arbeiterheer in Fabriken war weitgehend unbekannt. Die Große Französische Revolution von 1789 war deshalb für Marx und Engels in ihrer über ein halbes Jahrhundert später erschienenen Schrift Die heilige Familie nur ein von der Bourgeoisie inszeniertes Ereignis, das für die massenhafte Bevölkerung „nicht sein eigentümliches revolutionäres Prinzip“101 darstellte, das es lediglich mit einem scheinbaren Aufstand und einem vorübergehenden Enthusiasmus verbinden konnte. Die eigentliche Industrialisierung mit allen von Marx und Engels kritisierten Eigenschaften setzte sich erst im größeren Maßstab im 19. Jahrhundert durch und breitete sich danach in den USA, Kanada, Australien und Japan sowie im 20. Jahrhundert in vielen anderen südamerikanischen und asiatischen Staaten aus. Revolution als Kampf der Arbeiter gegen ein verhaßtes kapitalistisches System ist eine spezielle Erfindung von Marx und Engels, aber wenn in marxistisch-kommunistischen Staaten Arbeiter gegen die allmächtige Partei aufbegehrten, wurden sie zu „Konterrevolutionären“ gestempelt, verfolgt und nicht selten ermordet. Die angeblich revolutionären Arbeitermassen im 19. Jahrhundert waren durch ihren unablässigen Kampf mit der kapitalistischen Klasse durch eine erstarkende Gewerkschaftsbewegung selbstbewußter geworden und ließen sich nur durch echte Revolutionäre, wie etwa Wladimir Iljitsch Lenin, ins antikapitalistische Bockshorn jagen. Noch 1892, als ein allgemeiner Wirtschaftssaufschwung bevorstand, war Engels davon überzeugt, daß die Achillesferse der kapitalistischen Produktion in einem fortwährend zunehmenden Wachstum bestünde, das in einer ökonomischen Sackgasse enden müsse: „Die kapitalistische Produktion kann nicht stabil werden, sie muß wachsen und sich ausdehnen, oder sie muß sterben.“102 Sie ist aber seitdem weiter und weiter in einem unvorstellbaren 100 MEW. Bd. 32, Berlin 1974, S. 669 (Hervorhebung im Original. Brief an Sigfrid Meyer und August Vogt in New York vom 6. April 1870). 101 Friedrich Engels/Karl Marx: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (1845), in: MEW. Bd. 2, Berlin 1970, S. 86. 102 F. Engels: Die Lage (wie Anm. 37), S. 647 (Hervorhebung im Original). Vorwort zur 2. deutschen Auflage.

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Ausmaß gewachsen, so daß heute fast die gesamte Erde davon überzogen ist; zwar nicht überall zum materiellen Vorteil der arbeitenden Menschen – aber ihr Tod ist noch nicht in Sichtweite! Die eigentliche sozialistische Revolution und die entscheidende Rolle der Volksmassen bei dieser historischen Vernichtung des Kapitalismus wurden von den Heroen des ‚wissenschaftlichen‘ Sozialismus allerdings mit kryptischen Andeutungen umschrieben: „Mit der Gründlichkeit der geschichtlichen Aktion wird also der Umfang der Masse zunehmen, deren Aktion sie ist. In der kritischen Geschichte, nach welcher es sich bei geschichtlichen Aktionen nicht um die agierenden Massen, nicht um die empirische Handlung noch um das empirische Interesse dieser Handlung, sondern ‚in ihnen‘ vielmehr ‚um eine Idee handelt‘, muß sich die Sache allerdings anders zutragen.“103 Sollte damit etwa gemeint sein, daß die empirische Praxis mit der philosophischen Idee unvereinbar ist? Äußerten sich in ‚geschichtlichen Aktionen‘ dahinterstehende Ideen oder Weltanschauungen, die sich in der Realität anders zutragen? Das von Marx und Engels ungelöste Problem, ob eine historische Vorbestimmtheit oder die internationalen Arbeitermassen die entscheidenden Akteure des kapitalistischen Untergangs sein sollen, muß einer wissenschaftlichen Lösung oder Erklärung zugeführt werden. Denn entweder vertraut man auf einen Hegelschen ‚Weltgeist‘, der wie ein göttliches Schicksal in die Geschicke der Menschen eingreift oder man versucht eine Massenbewegung aufzubauen, die eine Revolution mit militärischer Gewalt durchführt. Von einer wechselseitigen Bedingtheit beider Phänomene zu träumen, kann nur als unwissenschaftlich angesehen werden, weil das Schicksal nicht überprüft werden kann, während der Erfolg oder Mißerfolg einer Revolution leicht festzustellen ist. Fest steht allerdings, daß aus solchen Marxschen Anweisungen bzw. Interpretationen die weltverbrüderten Arbeiter wenig konkrete Aktionspläne entnehmen konnten, wie sie ihre materiellen Bedrückungen verringern sollten und mußten eher fürchten, daß eine revolutionäre Aktion ihr unverschuldetes Los noch verschlechterte. Was der politische Anthropologe Ludwig Woltmann (1871 – 1907) über Marx’ Zusammenbruchtheorie geschrieben hat, könnte man auf dieses revolutionäre Prinzip übertragen: „War es auf der einen Seite die Überschätzung der technischen Revolutionen, so hat andererseits der Schematismus der Hegelschen Dialektik seinen Teil zu den Formulierungen der Zusammenbruchstheorie beigetragen und Marx zu einer nebulosen Ideologie verleitet.“104 Der ökonomische Materialismus kann nicht einmal den nicht einlösbaren Anspruch auf eine wissenschaftliche Hypothese erheben, weil er dem historischen Prozeß zuwiderläuft und sich weigert, Prüfkriterien zur Messung seiner Validität aufzustellen. Der Historische Materialismus wurde dagegen vom Marxismus-Leninismus als eine Gesellschafts- und Geschichtstheorie angesehen, die die Triebkräfte des Geschichtsprozesses, d. h. die Struktur- und Entwicklungsgesetze der menschlichen 103 F. Engels/K. Marx: Die heilige Familie (wie Anm. 101), S. 86 (Hervorhebungen im Original). 104 Ludwig Woltmann: Der historische Materialismus, Düsseldorf 1900, S. 423.

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Gesellschaft, enthüllt und damit eine wissenschaftliche und objektive Weltanschauung begründete, die biologische und physiologische Ursachen des menschlichen Lebens aufdecken könne. Obwohl ihm dies in keiner Periode seiner theoretischen oder praktischen Existenz gelungen ist, werden ihm auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg olympische Lorbeerkränze aufgesetzt: „Ist doch der dialektische und historische Materialismus jene Weltanschauung, in der Fortschritt und rationell erkennbare Gesetzmäßigkeit der Geschichte in der höchsten Form zum Ausdruck kommen, die einzige Weltanschauung, die Fortschrittlichkeit und Vernünftigkeit konsequent philosophisch begründen kann.“105 Noch im Untergangsjahr des osteuropäischen Kommunismus 1989 schrieb ein Forschungsbereichsleiter an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED in (Ost-) Berlin, daß der Marxismus-Leninismus vor der Aufgabe stehe, „die neue Gesellschaft zu gestalten und die wissenschaftlich-technische Revolution zum Wohl der werktätigen Menschen zu meistern“.106 Allerdings sind nicht nur die theoretischen Schwächen dieses soziologischen Modells eklatant, sondern es wird eine ökonomische Struktur in der historischen Entwicklung der Menschheit unterstellt, die mit der historischen Realität unvereinbar ist: „In letzter Instanz liegt der ganzen Geschichte und allen einigermaßen bedeutenden Veränderungen der gesellschaftlichen Erscheinungen die Entwicklung der materiellen Produktivkräfte zugrunde.“107 Welche Gesellschaftsform seit dem Neolithikum – der urgemeinschaftlichen Produktionsweise, als Jäger und Sammler zum ersten Mal seßhaft wurden und Familiengemeinschaften auf der Grundlage eines familialen Organisationsprinzips errichteten – wir auch betrachten, eine ausschließlich ökonomisch bestimmte Gesellschaft können wir in der Weltgeschichte nicht dingfest machen.108 Je näher wir uns an den modernen Industriekapitalismus heranbewegen, d. h. spätestens seit der Etablierung von weltweiten Handelsverbindungen in der Kolonialzeit seit dem 17. Jahrhundert, umso ausgeprägter differenzieren sich soziale, rechtliche, kulturelle und ökonomische Systeme, die vor allem geprägt sind von politischen Machtrivalitäten zwischen unterschiedlichen religiösen und weltlichen Instanzen. Die marxistische Vorstellung, daß eine Gesellschaft auch nur überwiegend geprägt wird von Produktionsverhältnissen, d. h. zum Beispiel, daß im Feudalismus einfachere Maschinen eingesetzt werden als im Kapitalismus, weil auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der materiellen Produktivkräfte entsprechende Produktionsverhältnisse vorhanden sein müßten, verkennt etwa die grundlegende Bedeutung freiheitserweiternder Gesetze wie das Handelsrecht, das dem ökonomiGeorg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft (1954), Neuwied/Berlin 1962, S. 500. Eberhard Fromm: Marx – von rechts gelesen, Berlin 1989, S. 151. 107 Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, hrsg. von Wolfgang Eichhorn I u. a., Berlin 1969, S. 187 (Hervorhebung im Original). 108 Über das marxistisch-leninistische Periodisierungsschema von Urgesellschaft, Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus und Kommunismus informiert ausführlich Reimer Hansen: Die Periodisierung der Geschichte bei Karl Marx und Friedrich Engels, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, hrsg. von Hans-Joachim Torke, Berlin 1993, S. 52 ff. 105

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schen Imperialismus Fesseln anlegte, ganz abgesehen von den zerstörerischen Einflüssen von Kriegen oder Kreuzzügen. Marx’ Widerspruchsthese zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ist deshalb eine sehr eindimensionale Sichtweise gesellschaftlicher Verhältnisse: „Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“109 Die ökonomische Struktur einer Gesellschaft wird eher geprägt durch politische Akteure, die genug Macht besitzen, um ökonomische Veränderungen entweder zu unterdrücken oder ihnen freien Lauf zu lassen. Eine ökonomische Eindimensionalität historischer Gesellschaftsformationen, d. h. ein determinierter Entwicklungsprozeß, ist deshalb häufiger die Ausnahme als die Regel. Die unbestreitbare historische Widerlegung des mit objektiver Gesetzmäßigkeit postulierten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus/Kommunismus ist nur ein, allerdings ein schlagendes Beispiel für den gescheiterten historischen Materialismus. Wir müssen uns den oben geschilderten Sachverhalt der Enteignung der ‚kapitalistischen Ausbeuter‘ noch einmal ins Gedächtnis zurückrufen, um seine ganze Haltlosigkeit erkennen zu können, denn das moderne Industriesystem war der einzige Ausweg aus einer schon vorhandenen Katastrophe. Im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert begann nämlich eine sogenannte Bevölkerungsexplosion – wie wir sie in Entwicklungsländern seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts kennen –, d. h. eine Bevölkerungszunahme ungekannten Ausmaßes. Sie führte zu Hungersnöten, weil die Menschen nicht mehr durch die Landwirtschaft ernährt werden konnten und keine andere Beschäftigung für Millionen von Menschen vorhanden war. Die vorindustrielle Periode in Europa war durchzogen nicht nur von verheerenden Kriegen, sondern auch von Epidemien und Hungersnöten aufgrund von Ernteausfällen, die Tausenden das Leben kosteten, weil es keine wirksamen Schutzmaßnahmen gab; weder durch Nahrungsmittelzufuhren noch durch medizinische Behandlungen. Die Menschen wurden einfach ihrem tödlichen Schicksal überlassen und ob die religiöse Ideologie, daß ihnen im Jenseits ein besseres Los beschieden sei, wie dies Martin Luther den getöteten Bauern im Bauernkrieg 1525 versprach, sie über ihr fürchterliches Leid hinwegtröstete, kann bezweifelt werden. Die durch neue Technologien hervorgerufene Industriebeschäftigung war neben der Auswanderung ein Ventil für die dem Tod geweihten Menschen. Und obwohl die Industriearbeit in den Anfängen menschenunwürdig war, bedeutete sie die einzige Möglichkeit zum Überleben für große Teile der Bevölkerung in europäischen Staaten. Dieses System durch eine Revolution zu beseitigen, hätte ähnliche Folgen nach sich gezogen wie wir sie heute in unterwickelten Staaten kennen, d. h. ständige Überlebenskämpfe, Hungersnöte und die ständigen Versuche lebensrettender Flucht vor kriegerischen Auseinandersetzungen. Das endzeitlich-apokalyptische Gesellschaftsbild von Marx ist allerdings keine Beschreibung des zukünftigen Zu109 Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: MEW. Bd. 13, Berlin 1975, S. 9 (Vorwort).

D. Die Fallstricke der klassenlosen Gesellschaft

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sammenbruchs von unterentwickelten Staaten oder der Weltuntergang, wie man glauben könnte und wie er für den 21. Dezember 2012 vorausgesagt worden war. Es ist die schicksalhafte Zukunft aller hochindustriellen kapitalistischen Systeme, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft“!110 Wenn diese Beschreibung jemals der Realität entsprochen hätte, dann muß man fragen, wieso in diesen kapitalistischen Staaten seit 250 Jahren ein so großer Wohlstand trotz einer Zunahme von sozialer Ungleichheit erzeugt werden konnte? In fast allen industrialisierenden Staaten sind die sozialen Leistungen an die arbeitende Bevölkerung seit dem späten 19. Jahrhundert massiv ausgebaut und ein regelrechter Sozialstaat errichtet worden. Aber heute versucht selbst Papst Franziskus die wirtschaftliche Entwicklung in einem so trüben und wenig differenzierten Licht darzustellen, als ob es seit dem Industrialisierungsbeginn keinerlei materielle und freiheitliche Fortschritte für Millionen von Bürgern gegeben hätte: „Niemals haben wir unser gemeinsames Haus so schlecht behandelt und verletzt wie in den letzten beiden Jahrhunderten.“111 Selbst wenn dies ausschließlich auf die Umwelt bezogen wäre, stimmt diese Einschätzung nicht, denn im frühen 19. Jahrhundert sind die Flüsse von Industrieabfällen verseucht, Menschen von giftigen Abgasen in Fabriken getötet und die Luft mit Schwefel und Kohlenmonoxiden so verunreinigt worden, daß bis weit ins 20. Jahrhundert hinein massive Maßnahmen gegen diese Umweltsünden ergriffen werden mußten und ergriffen wurden. Fragen müssen wir allerdings auch, ob das eine menschliche Einstellung ist, wenn man bereit ist, Millionen Menschenleben zu opfern, um ein System zu beseitigen, das in den 150 Jahren nach Erscheinen von Marx’ Kapital zumindest in den europäischen Staaten einen materiellen Lebensstandard erzeugt hat, der jahrtausendelang unvorstellbar war?112 Politik war damals wie heute der schwierige Versuch, durch eine ausgewogene Wirtschaftspolitik die materielle Lage der Staatsbürger zu verbessern. Aber wenn noch so intelligente Denker Revolution predigen, sollte man sie mit den gewollten und ungewollten Folgen konfrontieren, die gerade arbeitende Menschen durch einen grundlegenden Wechsel des Regierungssystems erleiden müssen und die in den seltensten Fällen ihren Wohlstand vergrößert haben. Es gibt ja zum Vergleich marxistisch-kommunistische Systeme, wie das von Jossif Wissarionowitsch Stalin (1879 – 1953), der als Generalsekretär der Kommunistischen Partei Rußlands seit den 1920er Jahren in seiner blutigen ‚Säuberung‘ K. Marx: Das Kapital, 1. Bd. (wie Anm. 41), S. 15. Wie man da noch behaupten kann, die Marxsche „Geschichtsphilosophie [soll] die Perspektive auf eine positivere Zukunft aufzeigen“ (so J. Rohbeck: Marx (wie Anm. 13), S. 105), bleibt mir unverständlich. 111 Papst Franziskus: Laudato si‘, Leipzig 2015, S. 44. Man muß es leider so drastisch formulieren: Aus weitgehender Unkenntnis der wirklichen Zusammenhänge wird nicht nur die „Verherrlichung der Technokratie“ (S. 93) unterstellt und kritisiert, sondern daß Mensch und Natur zu irgendeiner Zeit in einem harmonischen Verhältnis gestanden hätten, während die jetzigen technologischen Eingriffe ein nie gekanntes zerstörerisches Potential besäßen: „Deswegen haben der Mensch und die Dinge aufgehört, sich freundschaftlich die Hand zu reichen, und sind dazu übergegangen, feindselig einander gegenüber zu stehen.“ (S. 84). 112 Vgl. Hubert Kiesewetter: Das einzigartige Europa, Stuttgart 2006, S. 106 ff. 110

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zeigen wollte, was man dem Kapitalismus entgegensetzen kann. Allerdings wird von ihm wie in einem wirkungsgeschichtlichen Nirwana behauptet, daß er „den schon nicht mehr marxistischen Leninismus in den antimarxistischen Stalinismus umwandelte“,113 so als hätten Lenin und Stalin nie Marx und Engels gelesen und ihre Politik auf deren Gedankengebäude aufgebaut. Es existieren ja heute noch in westeuropäischen Staaten kommunistische Parteien, die Marx’ Lehre verbreiten und ihren Anhängern glauben machen wollen, mit der politischen Umsetzung dieser Ideologie könne man den materiellen Wohlstand von Arbeitern oder Angestellten verbessern und ein freieres Leben führen. Allerdings muß man schon zynischer Marxist sein, um zu behaupten, diese stalinistischen Massenmorde könnten zum Teil auf die „Feindseligkeit des kapitalistischen Westens“114 zurückgeführt werden, der während dieser Zeit genug eigene Krisen zu bewältigen hatte, z. B. die Weltwirtschaftskrise seit 1929 mit dem anschließenden Aufstieg der Nationalsozialisten zur politischen Macht. Im 21. Jahrhundert wird es offenbar wieder zur Mode, selbst bei Bischöfen und Päpsten, den Kapitalismus als ein menschenfeindliches System anzuprangern, weil man nicht weiß oder wissen will, daß kapitalistische Börsenspekulationen mit dem Industriekapitalismus soviel zu tun haben wie Hexenverbrennungen oder Kreuzzüge mit der christlichen Botschaft.

E. Die kommunistischen Widersacher im Londoner Exil Zurück zu den angeblich menschlichen Ansichten der Heroen des ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘, die sich immer tiefer in ihren Revolutionsglauben verstrickten, weil sich die zivilisierte Welt um sie herum gerade entgegen ihren historischen Voraussagen entwickelte. Deshalb lag es nahe, Sündenböcke zu finden oder zu erfinden, wenn man schon nicht eine Revolutionsarmee von Arbeitern aufstellen konnte, die sich des Eigentums der Kapitalisten und der bürgerlichen Gesellschaft bemächtigten. Im Jahr 1847 gründeten Marx und Engels in Brüssel den Bund der Kommunisten als Nachfolge des Bundes der Gerechten, um die schriftstellerische Arbeit in der Gelehrtenstube zu verlassen und in die aktuelle europäische Politik hineinzuwirken. Diese stand inmitten einer scharfen Wirtschaftskrise unter allseitigem Beschuß und konnte durch revolutionäre Aktivitäten möglicherweise kommunistisch unterwandert werden. Die belgische Regierung hatte Marx ja jede innenpolitische Tätigkeit untersagt, weshalb es nahe lag, sich einer Rückzugsstrategie zu bedienen, um überhaupt eine politische Wirkung entfalten zu können. Der 113 Wolfgang Wippermann: Der Wiedergänger, Wien 2008, S. 82 f. So einfach kann ein Problem ‚gelöst‘ werden, indem die selbsternannten Nachfolger zu Renegaten erklärt werden, doch dann stellt sich erneut die Frage, was stärker deformiert wird: Der Marxsche Revolutionsfanatismus oder das Stalinsche Terrorsystem? 114 Terry Eagleton: Warum Marx recht hat, Berlin 2012, S. 27. Diese Absurdität wird noch weiter getrieben: „Diese Feindseligkeit zwang der Sowjetunion auch ein Wettrüsten auf, das ihre ohnehin schwächelnde Wirtschaft noch mehr belastete und schließlich in den Zusammenbruch trieb.“ (Ebd.).

E. Die kommunistischen Widersacher im Londoner Exil

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Bund hatte anfänglich allerdings nur 17 Mitglieder, darunter den Lyriker Ferdinand Freiligrath (1810 – 1876), den uns bereits bekannten Moses Hess, den Bruder von Jenny Marx, Edgar von Westphalen (1819 – 1890), den vormaligen Königlich Preußischen Artillerieleutnant Joseph Weydemeyer (1818 – 1866) aus Münster und andere heute unbekannte Literaten. Politik im eigentlichen und im übertragenen Sinn konnte man mit einem so inhomogen zusammengewürfelten Haufen kaum machen, aber der darbende Marx übte damit wenigstens eine ‚sinnvolle‘ Tätigkeit aus. Es verwundert unter diesen Umständen nicht, daß ein politischer Erfolg des Bundes ausblieb, worauf Marx ihn im Juni 1848 wieder auflöste, aber einige Gruppen blieben bestehen, vor allem in London. Ohnehin war der Juni 1848 für Marx und Engels von historischer Bedeutung, denn vom 23. bis 26. Juni war Paris Schauplatz eines bewaffneten Aufstandes, der allerdings schnell niedergeschlagen wurde. Am 29. Juni 1848 erschien in der Neuen Rheinischen Zeitung ein Artikel, der den fanatisierten Kampf der Pariser Arbeiter gegen die Bourgeoisie zu glorifizieren versuchte: „Die Tapferkeit, mit der die Arbeiter sich geschlagen haben, ist wahrhaft wunderbar. Dreißig- bis vierzigtausend Arbeiter, die sich drei volle Tage halten gegen mehr als achtzigtausend Mann Soldaten und hunderttausend Mann Nationalgarde, gegen Kartätschen, Granaten und Brandraketen, gegen die noble Kriegserfahrung von Generälen, die sich nicht scheuen, algierische Mittel anzuwenden! Sie sind erdrückt und großenteils niedergemetzelt worden. Ihre Toten werden nicht die Ehren erwiesen werden, wie den Toten des Juli [29. Juli 1830, H.K.] und des Februar [24. Februar 1848, H.K.]; aber die Geschichte wird ihnen einen ganz andern Platz anweisen, den Opfern der ersten entscheidenden Feldschlacht des Proletariats.“115 Diese Lobeshymnen auf das unsterbliche, revolutionäre Proletariat wurden während der Revolutionszeit 1848/49 in der Neuen Rheinischen Zeitung in Köln unentwegt gesungen, während die staatliche europäische Reaktion mit höhnischem Spott überzogen wurde: „Aber die Plebejer, vom Hunger zerrissen, von der Presse geschmäht, von den Ärzten verlassen, von den Honetten Diebe gescholten, Brandstifter, Galeerensklaven, ihre Weiber und Kinder in noch grenzenloseres Elend gestürzt, ihre besten Lebenden über die See deportiert – ihnen den Lorbeer um die drohend finstere Stirn zu winden, das ist das Vorrecht, das ist das Recht der demokratischen Presse.“116 Nach dem revolutionären Desaster einer Arbeiterbewegung 1848/49 und der Wiederherstellung reaktionärer europäischer Regierungen mag Marx es begrüßt haben, seinem deutschen Vaterland den Rücken kehren zu können. Die britische Hauptstadt sollte schließlich zum endgültigen Refugium des Weltrevolutionärs werden und seinen Weltruhm begründen, auch wenn er für die Engländer und die englische Industrie kein Verständnis aufbrachte. Doch selbst dort kam es bald zwischen dem Nassauer Karl Schapper und Johann August Ernst Willich von der Insel Rügen, den seine Freunde wegen seiner Gesinnung und seiner feuerroten Haare Karl Marx/Friedrich Engels: Der 25. Juni, in: MEW. Bd. 5, Berlin 1969, S. 132. Karl Marx/Friedrich Engels: Die Junirevolution, in ebd., S. 137 (Hervorhebungen im Original. Artikel vom 29. Juni 1848). 115 116

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„Der Rote“ nannten, auf der einen und Karl Marx und Friedrich Engels auf der anderen Seite zu heftigen Auseinandersetzungen. Sie drehten sich um die politischen Zwecke des Bundes der Kommunisten, worüber keine Einigung erzielt werden konnte, worauf Marx eigenmächtig die Zentrale nach Köln verlegte. „Die Auseinandersetzungen der beiden Fraktionen des Kommunistenbundes war zu einem Machtkampf zweier voneinander getrennter Führungscliquen herabgesunken“117 und nicht mehr zu überbrücken. Dabei hatte Engels als Willichs Adjutant im badisch-pfälzischen Aufstand mitgekämpft, der die Festung Landau belagerte, bevor das Freikorps bzw. die Freischärler nach der Niederlage gegen preußische Husaren am 12. Juli 1849 in die Schweiz flohen; Engels schrieb noch Anfang 1850 über die badisch-pfälzische Armee: „Die entschiedensten Kommunisten waren die couragiertesten Soldaten.“118 Der endgültige Bruch zwischen den Fraktionen Schapper/Willich, die möglichst bald den revolutionärer Kampf wieder aufnehmen, und Marx/Engels, die weiterhin große Arbeitermassen auf die Revolution vorbereiten wollten, wurde auf der Sitzung der Zentralbehörde vom 15. September 1850 vollzogen. Der Präsident Karl Marx warf den Vertretern einer baldigen Herrschaftsübernahme vor: „An die Stelle der universellen Anschauung des ‚Manifestes‘ ist die deutsche nationale getreten und dem Nationalgefühl der deutschen Handwerker geschmeichelt. Statt der materialistischen Anschauung des ‚Manifestes‘ ist die idealistische hervorgehoben worden. Statt der wirklichen Verhältnisse der Wille als Hauptsache in der Revolution hervorgehoben worden. Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkrieg durchzumachen, um die Verhältnisse zu ändern, um euch selbst zur Herrschaft zu befähigen, ist statt dessen gesagt worden: Wir müssen gleich zur Herrschaft kommen, oder wir können uns schlafen legen.“119 Bis zu einem halben Jahrhundert Bürgerkrieg, das war ein Zeitraum, den Marx längst nicht und nicht einmal Engels erleben würde, wenn sie nicht schon vorher dessen Opfer geworden wären! Marx wollte keineswegs auf eine Revolution verzichten, die ja ohnehin wegen der krisenhaften Entwicklung des Kapitalismus eintreten müsse, sondern er versuchte den revolutionären Prozeß möglichst präzise zu steuern. Weil die Gruppe Schapper/Willich sich diesem Ultimatum nicht zu beugen bereit war, erklärten Marx und seine Anhänger – so wechselte z. B. Gottlieb L. Stechan, allerdings erst am 8. Januar 1852, von der Schapper/Willichschen zur Marx/Engelsschen Fraktion – zwei Tage später ihren Austritt aus dem Londoner Deutschen Bildungsverein für Arbeiter sowie am 11. November 1850 den Ausschluß der ‚Abtrünnigen‘ aus der Kölner Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten. Die Lage in der preußischen Hauptstadt, die man gerne von London aus beeinflußt hätte, war besonders prekär für kommunistische Aktivitäten, weswegen Johann Heinrich Georg Bürgers am 27. Dezember 1850 aus Köln an den aus Mühlheim am Rhein stammenden Wolfgang Schieder: Karl Marx als Politiker, München/Zürich 1991, S. 63. Friedrich Engels: Die deutsche Reichsverfassungskampagne, in: MEW. Bd. 7, Berlin 1969, S. 185. 119 MEW. Bd. 8, Berlin 1972, S. 588 (Hervorhebungen im Original). 117

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Schneidergesellen Peter Nothjung, der Mitglied des Bundes der Kommunisten war, in Berlin schrieb: „In Berlin hat sich, wie wir erfahren haben, eine antikommunistische Propaganda gebildet, die hauptsächlich von den Leuten der ehemaligen Abendpost ausgeht. Sie suchen unter den Arbeitern die Ansicht zu verbreiten, daß die Kommunisten den Zwangstaat wollten, die Vernichtung aller persönlichen Freiheit und derlei Unsinn, wie ihn die Cölnische Zeitung nicht besser debitiren konnte. Dabei spiegeln sie den Arbeitern vor, daß sie nur durch sich selbst zur Herrschaft gelangen könnten, daß es sich vor allem darum handle, das Kapital, d. h. das Bourgeois-Kapital zu vermehren. Es ist also dringend nöthig dieser Clique auf die Spur zu kommen. Sie sollen schon großen Einfluß haben, namentlich über den Kleinbürgern.“120 Die preußische Polizei blieb jedoch gegenüber diesen Aktivitäten nicht untätig und fand bei einem Tischlermeister aus Hannover, Gottlieb Ludwig Stechan, wie bei Nothjung im Mai 1851 geheime Papiere einer angeblichen politischen Verschwörung, worauf beide verhaftet wurden. Stechan war Redakteur der Zeitschrift Arbeiterhalle und im Vorstand verschiedener Arbeitervereine, was ihn für die Polizei besonders verdächtig machte. Wegen eines Artikels von Heinrich Feibel in dieser Zeitschrift wurde am 1. Mai 1851 von der Polizei eine Visitation und Untersuchungen vorgenommen und Stechan am 11. Juli des gleichen Jahres verhaftet, konnte aber aus dem Gefängnis fliehen, weswegen er seit dem 10. September 1851 vom Stadtgericht Hannover steckbrieflich gesucht wurde. „Stechan spielt unter den Führern des Kommunismus durch seine Energie und einen gewissen Grad von Bildung eine bedeutende Rolle.“121 Er gründete zusammen mit dem Tischlergesellen Georg Lochner aus Kirchehrenbach in der Nähe des bayerischen Zitiert von Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen des neunzehnten Jahrhunderts (1853), Berlin 1976, S. 105. Im 2. Teil dieses Polizeiberichts (1854) wurde u. a. über Bürgers angeführt: „1848 betheiligte er sich eine Zeit lang an der Redaction der Neuen Rheinischen Zeitung, war Mitglied des Arbeitervereins zu Cöln, präsidirte am 13. September 1848 der Volks-Versammlung auf dem Frankenplatze, wo ein Sicherheitsausschuß gewählt wurde, war selbst Mitglied dieses Sicherheitsausschusses und wie überhaupt, so namentlich in den am 20. und 25. September 1848 im Eiserschen Lokale abgehaltenen Versammlungen Hauptredner.“ (S. 36, Hervorhebung im Original). Und über Nothjung wird berichtet: „Im Frühjahr 1849 betheiligte er sich an dem Aufstande in Elberfeld und war dort vom 17. Mai 1849 bis 9. Mai 1850 dieserhalb verhaftet. Nach seiner Entlassung kehrte er nach Cöln zurück und wurde daselbst im Arbeiter-Bildungsvereine zum Comité-Mitgliede und stellvertretenden Präsidenten gewählt.“ … „Außerdem ist nach dem bei Nothjung gefundenen Briefe [Alexander] Schimmelpfennigs [von der Oye] aus Paris vom 13. April 1851 anzunehmen, daß sich Nothjung in Berlin auch mit der Verbreitung der bekannten Schimmelpfennig-Willichschen Ansprache an die preußischen Officiere befaßt hat. Am 8. Mai 1851 reiste er von Berlin nach Leipzig ab, wo er [Georg Heinrich] Martius gesprochen und am 10ten ejusd. wegen ungenügender Legitimation verhaftet und nach den bei ihm gefundenen Papieren als einer der 4 Emissaire des Communistenbundes zu Cöln (vergl. Ansprache vom 1. Dezember 1850) entlarvt wurde.“ (Ebd., S. 90 und S. 91. Hervorhebungen im Original). 121 Ebd. (1853), S. 128. Stechan konnte allerdings am 10. September 1851 aus dem Gefängnis fliehen und nach London reisen. 120

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7. Kap.: Die politische Lösung: Revolution, Diktatur, Kommunismus

Forchheim Anfang 1852 den Londoner Arbeiterverein neu, auch wenn merkwürdige Gerüchte über ihn auftauchten: „Im Sommer 1852 soll Stechan periodisch verrückt gewesen sein und die Absicht gehabt haben, nach Amerika auszuwandern; doch ist er fortwährend in London. Dort beschäftigte er sich auch sehr mit dem in England 1853 stattfindenden Arbeitseinstellungen, lieferte darüber unter seinem Namen sowohl im October als Dezember 1853 ausführliche Aufsätze in der Menschingschen ‚Volkszeitung‘, schon nach der Fassung offenbar in der Absicht, um die deutschen Arbeiter zur Nachahmung zu vermögen.“122 Die heftige Auseinandersetzung zwischen den beiden verfeindeten Lagern artete in einen verbissenen Kampf um die politische Deutungshoheit aus, auch wenn es hin und wieder Vermittlungsversuche gab. Die Partei Willich veröffentlichte beispielsweise im ersten Quartal 1851 eine ‚Ansprache‘ an ihre Getreuen, in der es u. a. hieß: „Unsere erbittertsten Feinde hier sind unstreitig die Marx-Engelsche Clique. Selbst unfähig, das Geringste zu organisiren, oder etwas praktisches durchzuführen, scheint ihre Aufgabe darin zu bestehen, jeder Organisation, jeder Ausführung hindernd in den Weg zu treten. Wir würden diese Leute gar nicht mehr erwähnen, wenn uns nicht von verschiedenen Seiten die Nachricht zugegangen wäre, daß sie unverschämt genug sind, uns als abtrünnige Kommunisten, als Ueberläufer in das Lager des Kleinbürgerthums zu verschreien.“123 Die Situation der verfeindeten Lager blieb einige Jahre in der Schwebe und weder die eine noch die andere Seite konnte sich als Sieger fühlen. Der Kölner Kommunistenprozeß begann am 4. Oktober 1852 und elf angeblich kommunistische Verschwörer wurden vor dem Kölner Assisenhof angeklagt, weil die Polizei Umsturzversuche vermutete: „Die Mitglieder des Cölner Kommunistenbundes haben sich übrigens keineswegs nur ausschließlich mit Verbreitung kommunistischer Ideen beschäftigt, sondern sie haben ihren weit verzweigten und einflußreichen Verschwörungs-Organismus auch vielfach zur Beförderung anderer revolutionärer Tendenzen gebraucht.“124 Der Prozeß war auf verschwörerische Anweisung Friedrich Wilhelms IV. in Gang gesetzt worden, der bereits am 11. November 1850 in einem Brief an Ministerpräsident Otto Theodor Frh. von Manteuffel (1805 – 1882) eine Verschwörungstheorie der Kommunisten angeprangert hatte. Marx spielte dabei nur indirekt eine Rolle, obwohl er unter falschem Namen den Geheimdienstchef Wilhelm Stieber im Mai 1851 in dessen Londoner Wohnung für seine Schrift Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln aufgesucht und ausgehorcht hatte.125 Diese Schrift wurde von Jakob Schabelitz in Basel in einer Ebd. (1854), S. 124 f. (Hervorhebungen im Original). Die ganze ‚Ansprache‘ ist abgedruckt in ebd. (1853), S. 271 – 282, Zitat S. 276. 124 Ebd., S. 129. 125 Vgl. [Karl Marx]: Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln (1853), in: MEW. Bd. 8, Berlin 1972, S. 409 ff. Am 7. Dezember 1852 sandte er an Adolf Cluß in Washington, D.C., das Manuskript der Enthüllungen mit der Bitte an seine amerikanischen Freunde, es in den USA drucken zu lassen, was tatsächlich gelang, und der Bemerkung: „Ihr werdet den Humor der Broschüre zu schätzen wissen, wenn Ihr erwägt, daß ihr Verfasser 122

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Auflage von 2.000 Exemplaren gedruckt, aber an der deutsch-badischen Grenze beschlagnahmt. In seiner Verteidigungsrede im Kommunistenprozeß am 4./5. November 1852 sagte Heinrich Bürgers: „Eine Revolution, die man als reine Eventualität dem Zufall oder der Initiative der direkt interessierten Partei überläßt, das ist die Art, wie der Bund sie vorbereitet; keine, auch nicht die leiseste Andeutung über die Ausführung des Kampfes, keinerlei Erklärung über die Mittel, absoluter Mangel an aller Disposition, aller Disziplin, aller kampffähigen Organisation – das ist die Art, wie der Bund sie leitet… Das ist die Arbeiterrevolution, welche den Umsturz der Gesellschaft, allgemeine Trümmerhaufen zum schreckenvollen Hintergrunde hat.“126 Am 12. November 1852 wurden in Köln vier Angeklagte freigesprochen – nämlich Roland Daniels, Johann Ludwig Albert Ehrhard, Abraham Jacoby und Johann Jakob Klein – sowie sieben Angeklagte schuldig gesprochen. Der Armenarzt Dr. Roland Daniels (1819 – 1855) starb an den Folgen der Untersuchungshaft bzw. an Tuberkulose. Sie wurden wegen aufrührerischen und umstürzlerischen Aktivitäten gegen die preußische Regierung zu drei bis sechs Jahren Festungshaft verurteilt, „wobei Soldaten das Gerichtsgebäude gegen den Ansturm einer wütenden Menschenmenge verteidigen mußten“.127 Diese Niederlage der deutschen revolutionären Bewegung führte wohl dazu, daß sich der Bund fünf Jahre nach seiner Gründung endgültig auflöste, auch deswegen, weil die ‚Herrschaft des Proletariats‘ und der Untergang des Kapitalismus in weite Ferne gerückt waren. Marx schrieb am 19. November 1852 an Engels in Manchester: „Der Bund hier hat sich vergangnen Mittwoch auf meinen Antrag hin aufgelöst und die Fortdauer des Bundes auch auf dem Kontinent für nicht mehr zeitgemäß erklärt.“128 Der erwähnte Artillerieleutnant Joseph Weydemeyer, „der intelligenteste und zuverlässigste der Vertrauensmänner in Deutschland“,129 spielte bei den Marxschen Intrigen gegen Freund und Feind eine weitere unrühmliche Rolle, denn er wollte sich nicht als revolutionäres Zugpferd instrumentalisieren lassen, obwohl er Marx sehr bewunderte. Nach 15jähriger Offizierslaufbahn sollte er zum Hauptmann befördert werden, als man entdeckte, daß er sich kommunistisch betätigte und für die Trier’sche Zeitung sozialistische Artikel schrieb, weswegen er seinen Abschied vom Militärdienst nehmen mußte und danach den Beruf eines Geometers ausübte. Kommunismus war für die christlichen deutschen Politiker schlimmer als der Teufel in Uniform, denn im kommunistischen Hintergrund lauerte das furchterregende Gespenst der Revolution, das man auch mit einem Exorzisten nicht durch Mangel an hinreichender Hintern- und Fußbedeckung so gut wie interniert ist und außerdem wirklich widrige Misère über seine Familie jeden Augenblick hereinbrechen zu sehen bedroht war und ist.“ (MEW. Bd. 28, Berlin 1973, S. 560. Hervorhebung im Original). 126 Zitiert in: Der Bund der Kommunisten. Bd. 3: 1851 – 1852, Berlin 1984, S. 230 (Hervorhebungen im Original). 127 Jonathan Sperber: Karl Marx, München 2013, S. 291. 128 MEW. Bd. 28, Berlin 1973, S. 195 (Hervorhebungen im Original). 129 W. Blumenberg: Karl Marx (wie Anm. 85), S. 66.

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vertreiben konnte. Wie aber entwickelte sich denn die Zusammenarbeit dieser ungleichen Charaktere? Auf einer Reise traf Weydemeyer in Brüssel mit seinem alten Bekannten Engels zusammen, die ja beide eine militärische Karriere durchlaufen hatten, und erbot sich, beiden behilflich zu sein, was auch gleich begonnen werden konnte. Marx und Engels hatten nämlich eine zweibändige Deutsche Ideologie130 geschrieben, in der sie die deutschen Philosophen Bruno Bauer, Ludwig Feuerbach und Max Stirner sowie einige Spielarten des Sozialismus in weitschweifigen Ausführungen kritisch sezierten. Weydemeyer bot seine Hilfe an, seinen Kontakt zu den sozialistischen Kaufleuten, dem Eisengießereibesitzer Julius Meyer und dem Leinengroßhändler Rudolph Rempel, in Westfalen zu nutzen. Mit deren finanzieller Unterstützung könnte man einen sozialistischen Verlag gründen, in dem nicht nur dieses Werk, sondern auch andere sozialistische Literatur erscheinen sollte. Dies war zwar ein durchaus bürgerlicher Plan, doch Marx und Engels waren (fast) alle Mittel willkommen, wenn sie damit nur dem angestrebten Ziel eines Umsturzes des kapitalistischen Systems näher kamen. Denn ehe man die unterdrückten Arbeiter für eine Revolution begeistern konnte, sollte ein ideologisches Gedankengebäude errichtet werden, mit dem alle skeptischen Zweifler überzeugt würden. Die Deutsche Ideologie war dafür wohl nicht die geeignete Lektüre, aber manchmal überfällt sogar berufsmäßige Revolutionäre eine intellektuelle Eitelkeit, die sie unter hochtönenden Phrasen verstecken wollen. Die Unternehmer Meyer und Rempel waren selbst schriftstellerisch tätig und, so war der strategische Plan, Marx sollte die redaktionelle Leitung der zukünftigen Veröffentlichungen übernehmen, die regelmäßig erscheinen sollten, wodurch ihm ein Einkommen gewährt werden konnte. Außerdem hatten diese Möchtegernsozialisten zur rascheren Verbreitung kommunistischer Ideen die von Moses Hess betriebene Gründung der Zeitschrift Westphälisches Dampfboot, das von dem Publizisten Otto Lüning (1818 – 1868) von 1845 bis 1848 herausgegeben wurde, unterstützt, für die Marx und Engels gelegentlich Beiträge lieferten. Die politischen Widrigkeiten, die darin bestanden, daß Marx nicht nur seine Zugehörigkeit zum preußischen Staat aufgekündigt hatte, sondern wahrscheinlich auch bei einer Einreise verhaftet worden wäre, wurden allerdings nicht bedacht und berücksichtigt. Weydemeyer setzte sich dafür ein, daß die Deutsche Ideologie die erste Veröffentlichung in diesem Verlag sein sollte, um aller Welt zu zeigen, welche herausragenden politischen Philosophen Marx und Engels doch waren und welchen hanebüchenen Unsinn ihre sozialistischen Konkurrenten verzapften. Die Ausführungen in der Deutschen Ideologie sind allerdings so abstrakt und unsystematisch, daß die beiden Kaufleute, deren Geschäfte angeblich erhebliche Verluste gemacht hatten, in einem Brief an Marx vom 13. Juli 1846 die Finanzierung ablehnten. So werden in diesem Buch etwa solche Allgemeinplätze verbreitet wie: „Für die Philosophen ist es eine der schwierigsten Aufgaben, aus der Welt des Gedankens in die wirkliche Welt herabzusteigen. Die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens ist die Sprache. Wie die Philosophen das Denken verselbständigt haben, so mußten sie 130

Vgl. K. Marx/F. Engels: Die deutsche Ideologie (wie Anm. 6).

E. Die kommunistischen Widersacher im Londoner Exil

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die Sprache zu einem eignen Reich verselbständigen. Dies ist das Geheimnis der philosophischen Sprache, worin die Gedanken als Worte einen eignen Inhalt haben. Das Problem, aus der Welt der Gedanken in die wirkliche Welt herabzusteigen, verwandelt sich in das Problem, aus der Sprache ins Leben herabzusteigen.“131 Am 28. Dezember 1846 schrieb Marx ernüchtert und enttäuscht an Pawel Wassiljewitsch Annenkow in Paris über das Buch: „Sie können sich nicht vorstellen, auf welche Schwierigkeiten eine solche Veröffentlichung in Deutschland stößt, einesteils von seiten der Polizei, anderenteils von seiten der Verleger, die ja selbst die interessierten Vertreter all der Richtungen sind, die ich angreife.“132 Wir können heute viel mehr Verständnis für die Haltung der beiden westfälischen Unternehmer aufbringen, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß damals keine Druckkostenzuschüsse für Veröffentlichungen verlangt wurden, sondern die Autoren manchmal sogar Vorschüsse erhielten, wenn der Verleger oder der Autor ein einträgliches Geschäft witterten. Marx hat bei seinen Publikationen Vorschüsse verlangt, ohne seine vertraglich niedergelegten Verpflichtungen gegenüber den Verlegern einzuhalten. Obwohl sich die beiden Autoren Marx und Engels mehrmals um die Veröffentlichung dieses Buches bei verschiedenen deutschen Verlagen bemühten, wurde es erst 1932 durch das Marx-Engels-Lenin-Institut in Moskau in deutscher Sprache herausgebracht. Ganz offensichtlich war es also kein Publikationsprojekt, mit der ein deutscher Verlag einen Gewinn hätte erzielen können und die westfälischen Unternehmer waren nicht so uneinsichtig, wie Marx und Engels sie hinstellten. Der treue Adlatus Weydemeyer startete gleich nach der Ablehnung der Veröffentlichung eine neue Geldsammlung für den darbenden Marx in Brüssel, aber selbst damit konnte er sich keinerlei Sympathien mehr zurückgewinnen, denn Engels schrieb am 19. August 1846 an Marx: „Weyd[emeyer], dieser Lump, hatte einen westfälisch tränenvollen Brief an B[ernay]s geschrieben, worin die Edlen M[eyer] und R[empel] als Märtyrer der guten Sache dargestellt, die gern ihr Alles geopfert, die wir aber mit Verachtung zurückgestoßen hätten usw.“.133 Auf Johann Wolfgang von Goethes Sentenz „Nur die Lumpe sind bescheiden“ wollte Engels wohl nicht anspielen, obwohl sich Weydemeyer redlich bemüht hatte und weiterhin bemühte. Und als sei dies nicht genug, legte er in einem weiteren Brief an Marx vom 18. September 1846 noch einmal nach: „Der süße Kohl Weyd[emeyer] ist rührend. Der Kerl erklärt erst, ein Manifest abfassen zu wollen, worin er uns für Lumpen erklärt, und wünscht dann, das möge keine persönlichen Differenzen absetzen. So was ist selbst in Deutschland nur an der hannöversch-preußischen Grenze möglich. Daß Dein Geldpech noch immer anhält, ist schändlich.134 Weydemeyer, der in Frankfurt am Main als Redakteur der demokratischen Norddeutschen Zeitung tätig war und dessen Mitgliedschaft im Kommunistenbund entdeckt wurde, worauf man ihn polizeilich verfolgte und aus der Mainmetropole Frankfurt auswies, emi131 132 133 134

Ebd., S. 432 (Hervorhebung im Original). MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 462. Ebd., S. 32. Ebd., S. 47.

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7. Kap.: Die politische Lösung: Revolution, Diktatur, Kommunismus

grierte am 29. September 1851 zusammen mit seiner Frau Louise Weydemeyer von Le Havre in die USA. Er gab im Januar 1852 in New York eine kommunistische Wochenzeitschrift Der Revolutionär heraus, die allerdings wegen Geld- und Lesermangel nach wenigen Monaten wieder eingestellt wurde. Marx hatte den letzten Abschnitt von Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte am 25. März 1852 zur Veröffentlichung nach New York geschickt, aber er konnte nicht mehr gedruckt werden, da die Zeitschrift bald darauf ihr Erscheinen einstellte.

F. Der Krieg gegen Hermann Kriege Manche marxistische Autoren wollen den Eindruck erwecken, als seien diese persönlichen Denunziationen nur gelegentliche verbale Entgleisungen von Marx und Engels, die ihnen im ‚Eifer des Gefechts‘ unterlaufen seien, aber tatsächlich war es eine gezielte Strategie, politische Konkurrenten zu vernichten. Deswegen seien hier noch ein paar Beispiele angeführt. Ähnlich bzw. aus menschlicher Sicht noch schlimmer wie Weydemeyer erging es dem Journalisten Hermann Kriege (1820 – 1850), der Mitglied des Bundes der Gerechten wurde. Er hatte Marx 1845 in Brüssel kennengelernt und war im Herbst dieses Jahres nach New York ausgewandert. Dort wollte er in der von ihm mit Unterstützung deutscher emigrierter Arbeiter gegründeten deutschen Wochenzeitung Der Volks-Tribun – die vom 5. Januar bis 31. Dezember 1846 erschien – die Mitglieder des amerikanischen Nationalen Reformverbandes in den USA vom Kommunismus überzeugen. In dem preußischen Polizeibericht des Jahres 1854 wurde lediglich über ihn vermerkt, er „war Redacteur einer Zeitschrift: ‚der Volkstribun. Organ des jungen Amerika‘, welche 1846 in New-York erschien und den Zwecken der in den 40er Jahren in Nord-Amerika gegründeten deutschen communistisch-socialistischen Vereine diente“.135 Eigentlich wäre ja ein solches uneigennütziges Vorhaben eines 25jährigen Mannes selbst für überzeugte Kommunisten höchst lobenswert gewesen, nicht nur deswegen, weil Marx ja selbst in seinem Schreiben an den Trierer Oberbürgermeister seinen wohl nicht ernst gemeinten Wunsch geäußert hatte, in die USA auszuwandern. Obwohl dieses Unterfangen einer kommunistischen Infiltration in den freiheitlichen USA wenige Anhänger finden konnte, wurde es von einigen deutschen Kommunisten gutgeheißen, weil man dadurch zeigen konnte, daß kommunistische Ideen nicht nur auf Europa beschränkt blieben. Selbst Engels schrieb noch am 22. Februar 1845 an Marx über Kriege, dessen Zeitschriftenbeiträge noch nicht bekannt waren: „Der Kerl ist ein famoser Agitator.“136 Am 11. Mai 1846 wurde jedoch in Brüssel von dem dort ansässigen kommunistischen Korrespondenz-Komitee ein „Zirkular gegen Kriege“137 beschlossen, 135

Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen (1854) (wie Anm. 120),

S. 70. 136 137

MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 19. Vgl. K. Marx/F. Engels: [Zirkular gegen Kriege] (wie Anm. 32), S. 3 – 17.

F. Der Krieg gegen Hermann Kriege

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das Kriege auf heftigste Weise angriff und dann noch von ihm verlangte, dieses Zirkular in seiner Zeitung abzudrucken. Man mache sich einmal bewußt, welche ungeheure Zumutung diese Forderung darstellte, denn das Komitee hätte ja nicht über den Großen Teich segeln können, um Kriege dazu zu zwingen, das Zirkular in seiner Zeitschrift abzudrucken. Marx und Engels waren die haßerfüllten Feuerköpfe, wenn es darum ging, einen unbequemen Mitstreiter bloßzustellen und zu denunzieren. Lediglich der Magdeburger Schneidergeselle Wilhelm Weitling (1808 – 1871) brachte den Mut auf und stimmte dagegen. Weitling war ja bereits 1843 wegen politischer Verfolgung in der Schweiz in die USA ausgewandert, aber nach Deutschland zurückgekehrt und ging nach der Revolution 1848/49 noch einmal in die USA, um dort (vergeblich) eine kommunistische Kolonie aufzubauen. Eigenständiges Denken oder vielleicht sogar kritische Stellungnahmen gegenüber kommunistischen ‚Wahrheiten‘ mußten rigoros bekämpft werden, auch wenn sie in wohlwollender Absicht verfaßt worden waren. Weitling hatte nicht nur argumentiert, daß der Volks-Tribun ein den amerikanischen Verhältnissen angepaßtes kommunistisches Organ sei, sondern daß die kommunistische Partei genügend Feinde in Europa habe und sie deswegen nicht auch noch gegen Kriege in den USA vorgehen müsse; doch Marx blieb unversöhnlich. Kriege wie Wilhelm Weitling, der sich nach 1849 von Marx abgewandt hatte, stellten eigentlich überhaupt keine Gefahr für die ideologische Vormachtstellung von Marx und Engels dar, sondern waren eher idealistische Zeitgenossen, die mit den damaligen sozialen und politischen Zuständen unzufrieden waren. Der ‚Schneiderkommunismus‘ Weitlings, der 1871 in New York verstorben ist, verband christliche Motive mit sozialen bzw. sozialistischen Forderungen, doch vor allem wurde er mit seinen Schriften Die Menschheit, wie sie ist und sein sollte (1838), Garantien der Harmonie und Freiheit (1842) und Das Evangelium des armen Sünders (1845) bekannt. Daraufhin begann Weitling eine ‚kommunistische‘ Agitation, doch seine Ideen von einem zentralistischen kommunistischen Staat, an dessen Spitze drei durch Preisarbeiten ausgewählte Philosophen stehen sollten, sind wie die Vorstellungen Krieges phantastische Spinnereien, aber keine radikalen oder gar revolutionären Programme. Das hinderte die Revolutionäre nicht, massiv gegen sie vorzugehen, weil sie angeblich den wahren Kommunismus verrieten und ihre Gemütsschwärmerei Arbeiter demoralisieren könne. Die Kritik in diesem Zirkular, das sie nach der späteren, 1885 niedergeschriebenen Aussage Engels „an unsre Freunde und Korrespondenten in die Welt sandten“,138 richtete sich darauf, daß die von Kriege in seinem Volks-Tribun vertretene Tendenz „nicht kommunistisch“139 sei, daß er eine „phantastische Gemütsschwärmerei“, die „im höchsten Grade demoralisierend auf die Arbeiter wirken“ müsse, predige. 138 Friedrich Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, in: MEW. Bd. 21, Berlin 1973, S. 213. Das Zirkular habe seine Wirkung nicht verfehlt: „Kriege verschwand von der Bundesbühne.“ (Ebd.). 139 K. Marx/F. Engels: [Zirkular gegen Kriege] (wie Anm. 32), S. 3. Dort auch die nächsten Zitate.

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7. Kap.: Die politische Lösung: Revolution, Diktatur, Kommunismus

Ob möglicherweise amerikanische Arbeiter durch emotionale Appelle eher angesprochen wurden als durch unterkühlte Argumente, denn die Aufbruchsstimmung einer jungen Nation war in den USA noch sehr lebendig, scheint das Korrespondenz-Komitee nicht bedacht zu haben. Es spricht einiges dafür, daß Weitling dagegen stimmte, weil er die amerikanische Gefühlslage kennengelernt hatte und wußte, daß die amerikanische Mentalität anders war als die deutsche oder europäische. Eine Nation, die sich gegen die Kolonialmacht England erfolgreich zur Wehr gesetzt und seine Unabhängigkeit erkämpft hatte und frei war von den sozialen Fesseln einer feudalistischen Tradition, reagierte anders als die jahrhundertealten europäischen Nationen. Keine dieser Überlegungen fand sich auch nur ansatzweise in dem „Zirkular gegen Kriege“, sondern als sei der Vorwurf einer ‚demoralisierenden phantastischen Gemütsschwärmerei‘ noch nicht genug an persönlicher Denunziation, heißt es unter Nr. 2: „Die kindisch-pomphafte Weise, in der Kriege diese Tendenz vertritt, ist im höchsten Grade kompromittierend für die kommunistische Partei in Europa sowohl als in Amerika, insofern er für den literarischen Repräsentanten des deutschen Kommunismus in New York gilt.“ Und selbst wenn dem so gewesen wäre, was weder Marx noch Engels wissen konnten, dann wäre es ausreichend gewesen, wenn man Krieges ‚phantastische Gemütsschwärmerei‘ auf sich beruhen ließ. Das Zirkular versuchte jedoch Kriege als einen kindischen Gemütsapostel darzustellen, der von den eigentlichen Zielen des Kommunismus nichts wüßte und dem man deshalb eigentlich verbieten müßte, sich noch Kommunist zu nennen. Außerdem glaubte man, mit dem Manifest das Patent auf den Kommunismus erworben zu haben. Wenn kommunistische Ideen in den USA, die ja während dieser Zeit eine rapide Industrialisierung in Gang setzten, verbreitet werden sollten, dann konnte man dies ja nicht ‚Trotteln‘ wie Kriege und Weitling überlassen. Diese mußten sich erst einmal den wahren Kommunismus aneignen, ehe sie im Namen des Marxschen Kommunismus agieren könnten. Auf den nächsten Seiten des Zirkulars wurden die vorher erschienenen Artikel im Volks-Tribun höhnisch kommentiert und ihnen unterstellt, daß „Kommunismus in Liebesduselei“ verwandelt würde, daß „metaphysische Fanfaronnaden“ geblasen bzw. „religiöse Tändeleien“ ausgeführt würden. Und wenn Kriege etwas metaphysisch den Geist der Gemeinschaft beschwor, kritisierten seine anscheinend echt kommunistischen Widersacher: „Hier predigt also Kriege im Namen des Kommunismus die alte religiöse und deutsch-philosophische Phantasie, die dem Kommunismus direkt widerspricht.“140 Mit dieser Marxschen Überzeugung kann kaum in Einklang gebracht werden, daß Marx nach Friedrich Dürrenmatt ein unbewußter Metaphysiker gewesen sein soll: „Er war kein Revolutionär, das war Lenin, Marx war ein Religionsstifter.“141 Die erschreckende Rigorosität dieses Angriffes auf einen überzeugten kommunistiEbd., S. 12 (Hervorhebungen im Original). Friedrich Dürrenmatt: Menschheit im Universum der Katastrophen. Der Marxismus, die Furcht und der Tod – Was die Welt Gorbatschow verdankt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 10. Samstag, den 12. Januar 1991, S. 2. Dürrenmatt überhöhte Marx’ jüdische 140 141

G. Die menschliche Selbstentfremdung und das Privateigentum

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schen Mitläufer kann vor allem damit erklärt werden, daß ein fanatischer Haß auf jede religiöse Regung die eigentliche Triebfeder unseres Revolutionsextremisten war. Die richtige, allerdings auch nicht sehr konkrete Definition von ‚Kommunismus‘ als universelle Entwicklung der Produktivkräfte lautete in der Deutschen Ideologie folgendermaßen: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“142

G. Die menschliche Selbstentfremdung und das Privateigentum Die Entfremdung in der industriellen Arbeit, d. h. die mentale Umstellung von einem natürlichen Arbeitsablauf zu einer fremdgesteuerten Tätigkeit, ist eine gravierende Erscheinung im kapitalistischen Produktionsprozeß. Deswegen erscheint es verständlich, daß Marx sie als ein belastendes Element für die Industriearbeiter in Augenschein nahm und ihr hier ein paar Gedanken gewidmet werden sollen. Bereits viele Jahre vor seiner Auseinandersetzung mit Kriege und Weitling, 1844, hatte Marx versucht, die menschliche Selbstentfremdung durch eine Rückkehr des Menschen zu einer natürlichen Lebensweise ohne Privateigentum aufzuheben und den erstrebenswerten Kommunismus auf den Begriff zu bringen: „Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen den Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.“143 Welche bombastische begriffliche Sprache, die wohl diejenigen betören sollte, denen die Lösung der realen Probleme nicht sehr am Herzen lag. Es läßt sich nämlich durchaus bestreiten, ob das Verschwinden des Privateigentums für die Betroffenen, die Arbeiter, etwas Positives darstellt. Denn ohne Herkunft, von der er sich ja gänzlich losgesagt hatte, mit der Aussage: „Karl Marx war ein Jude, der kam, das auserwählte Volk, das Proletariat, zu erlösen.“ (Ebd.). 142 K. Marx/F. Engels: Die deutsche Ideologie (wie Anm. 6), S. 35 (Hervorhebungen im Original). 143 K. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (wie Anm. 93), S. 536 (Hervorhebungen im Original).

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7. Kap.: Die politische Lösung: Revolution, Diktatur, Kommunismus

Privateigentum, d. h. auch ohne subjektive Verfügungsgewalt über Dinge, die man sich entweder redlich erworben oder die man von geliebten Menschen geschenkt bekommen hat, kann der Grad der Entfremdung steigen statt zurückgehen. Der Besitz von Eigentum ist ein sichtbares Zeichen für privaten Erfolg und kann den Menschen ein größeres Selbstbewußtsein vermitteln, weil sie sich nicht mehr völlig abhängig fühlen vom Lohn ihres Arbeitgebers. Die individuelle Person mag ohne Privateigentum ein erfülltes Leben führen können, doch der private Lebensgenuß wird für viele Menschen steigen, wenn sie über private Güter verfügen und darüber disponieren dürfen. Der menschliche Mensch wie der menschliche Politiker zeigt sein wahres ‚Wesen‘ nicht in eindrucksvollen verbalen Bekenntnissen zu einer positiven Aufhebung der Selbstentfremdung, die psychologisch eine sehr private Empfindung darstellt, sondern vor allem darin, wie sein Handeln und Tun diese hehren Ziele verwirklicht; und daran mangelte es bei Marx auf der ganzen Linie. Schon 1955 schrieb Hans Albert in seiner Kritik einer platonisierenden bzw. hegelianisierenden Nationalökonomie: „Wer seine Vorschläge für die Gestaltung des sozialen Lebens bekannt geben will, ist nicht gezwungen, sich über das ‚Wesen‘ der ihn interessierenden Dinge auszusprechen.“144 Das unaufgelöste Rätsel der Geschichte besteht deshalb darin, Theorie und Praxis nicht zu weit auseinanderdriften zu lassen, weil man sich dadurch so weit von der Realität entfernt, daß Humanismus = Menschenverachtung zu werden droht. Menschliche Selbstentfremdung findet nach Marx bei der Analyse von Kapital und Arbeit durch die industrielle Arbeitsteilung sowohl in der besitzenden als auch in der proletarischen Klasse statt. Erstere benutze diese Entfremdung für ihre eigene Macht, während das Proletariat durch sie vernichtet würde, weshalb der Arbeiter zur elendsten Ware herabsinke. Was der Arbeiter produziert, sei es nun ein Tuch, eine Schraube, ein Stück Blech oder eine Tasse, ist nicht, wie man annehmen könnte, eine selbstgefertigte Ware, die irgendwo verkauft werden kann, sondern nach Marx ein geheimnisvolles Teil der Sachenwelt, mit der die Menschenwelt entwertet wird. „Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber.“145 Ein Industriearbeiter aus dem 19. Jahrhundert, wenn er so etwas überhaupt verstanden hätte, müßte sich in ein philosophisches Gruselkabinett versetzt gefühlt haben, denn die Vergegenständlichung der Arbeit in einem Produkt wäre ihm weder als Verlust oder Knechtschaft des Gegenstandes noch „die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung“146 erschienen. Alle diese kryptischen Bemerkungen Marx’ sollen dem Zweck dienen, die Berufsarbeit im schlechtesten Licht darzustellen, sie mit den Makeln der Ausbeutung, der Unterdrückung und des Hungertodes zu befrachten. Gelegentlich werden auch Banalitäten eingestreut 144 Hans Albert: Nationalökonomie als Soziologie der kommerziellen Beziehungen, Tübingen 2014, S. 5. 145 K. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (wie Anm. 93), S. 511 (Hervorhebungen im Original). 146 Ebd., S. 512. Dort auch das nächste Zitat (Hervorhebungen im Original).

G. Die menschliche Selbstentfremdung und das Privateigentum

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als Sinngebung einer physischen Subsistenz, wie: „Der Arbeiter kann nichts schaffen ohne die Natur, ohne die sinnliche Außenwelt.“ Die Knechtschaft dieser Arbeiter soll allein darin bestehen, daß ein Arbeiter Arbeit und Subsistenzmittel erhält, „daß er als physisches Subjekt existieren kann“.147 Man könnte annehmen, daß die Arbeiterklasse wie Marx oder Richard Wagner durch Mäzene eine arbeitslose Existenz finanziert bekommen, um ein würdiges Leben führen zu können. Eine unentfremdete Existenz ohne Arbeit, finanziert durch Renditen von Kapitalisten oder durch ererbtes Kapital in unbegrenzter Menge – könnte darin ein verschwiegenes Ideal von Marx gelegen haben? Es ist naiv zu glauben, daß wir jemals eine Gesellschaft errichten können, die soviel arbeitslosen Profit abwirft, daß wir nur noch unseren Vergnügungen oder Weltreisen nachgehen können, selbst wenn die Dienstleistungsgesellschaft die meisten produktiven Tätigkeiten abgelöst hat. Durch den Mehrwert, den die Kapitalisten den Arbeitern abpressen, das wollen Marxisten glauben machen, können sich die einen Paläste, die anderen gar nichts leisten; sie bleiben proletarische Sklaven einer kapitalistischen Ausbeutung: „Das Privateigentum ergibt sich also durch die Analyse aus dem Begriff der entäußerten Arbeit, d. i. des entäußerten Menschen, der entfremdeten Arbeit, des entfremdeten Lebens, des entfremdeten Menschen.“148 Wenn entfremdete Arbeit wirklich die ökonomische Ursache von Privateigentum darstellte, wie Marx behauptete, dann wären Banker und Finanzspekulanten die ärmsten Schlucker, von allem Hab und Gut entäußert! Noch nach dem Ersten Weltkrieg behauptete der Soziologe und Ökonom Franz Oppenheimer (1864 – 1943), der ausbeuterische Kapitalismus, die Klassengesellschaft, müsse endlich verschwinden: „Das Ziel des Strebens, die Rettung der Menschheit, kann daher nur sein die vom Mehrwert befreite und daher klassenlose Gesellschaft der Zukunft: der Sozialismus.“149 Die Geschichtlichkeit der Entfremdung können wir bis auf den homo sapiens zurückverfolgen, denn sobald sich der Mensch mit unterschiedlichen Anforderungen der Natur und des Geistes konfrontiert sieht, erlebt er mehr oder weniger stark eine psychische Distanz zu den ihn umgebenden Objekten. ‚Entfremdung‘ ist demnach eine menschliche Kategorie, die den inneren Abstand zu einer Sache bezeichnet, von der man sich abgelöst, entfernt, getrennt oder sich ihr entgegengestellt hat, was von materiellen Gegenständen bis zu religiösen oder transzendenten Erscheinungen reichen kann. Sich von etwas entäußern, sei es Geld oder Sachwerte, kann ebenso zu einer Entfremdung führen wie das Ausgeschlossensein aus einer Gemeinschaft oder Gruppe, zu der man eine emotionale Bindung aufgebaut hat. Marx dagegen bezog Entfremdung auf ökonomische Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft, auf historisch entstandene Besitzverhältnisse einer gesellschaftlichen Produktion, weil die Kontrolle über die Prozesse des arbeitenEbd., S. 513 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 520 (Hervorhebungen im Original). 149 Franz Oppenheimer: Die soziale Forderung der Stunde, Leipzig 1919, S. 3 (im Original teilweise hervorgehoben). 147

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7. Kap.: Die politische Lösung: Revolution, Diktatur, Kommunismus

den Menschen verloren gegangen sei sowie bürgerliche Gesellschaft und Staat sich getrennt hätten. In der modernen Arbeit, die ursprünglich Aneignung der sinnlichen Außenwelt gewesen sei, träten die Produkte dem Arbeiter als fremde Gegenstände gegenüber, die seine Unmittelbarkeit zur Natur zerstörten. Die moderne Nationalökonomie schaffe somit eine fremde bzw. entfremdete Gegenständlichkeit des Arbeiters zu seinem Produkt, das der Kapitalist sich aneigne. Arbeit, auch an Maschinen, die selbst in den frühen Phasen der Industrialisierung zur Selbstverwirklichung beitragen konnte und keineswegs nur Zwangsarbeit darstellte, wurde für Marx zu einem barbarischen Akt: „Sie produziert Paläste, aber Höhlen für den Arbeiter. Sie produziert Schönheit, aber Verkrüppelung für den Arbeiter.“150 So kann das System der industriellen Arbeitsteilung, das überhaupt erst ermöglichte, die Arbeiter von physisch unerträglichen Belastungen zu befreien, als Unterdrükkungssystem bezeichnet werden. Erstaunlich ist jedoch die Folgerung, daß durch die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln im klassenlosen Kommunismus nach Marx auch die Entfremdung aufgehoben wird, weil der Mensch, d. h. der Arbeiter, wieder zu einem gesellschaftlichen Menschen werde. Dieser geschichtsphilosophische und anthropologische Rahmen erklärt wenig bis gar nichts über industrielle Tätigkeiten, sondern beläßt es bei unpräzisen Andeutungen über Produktionsvorgänge, die eine physische und geistige Verelendung des Proletariats nach sich ziehen sollen. So zutreffend es ist, daß industrielle Arbeit eine unnatürliche Beschäftigung zur Bestreitung des Lebensunterhaltes darstellt, so falsch ist es, daß der erzwungene, tierische Charakter der Industriearbeit wesentlich verschieden sei von einer schöpferischen Arbeit, z. B. eines selbständigen Handwerkers. „Marx wußte nichts, oder wollte nichts wissen von der von aller Besitzgier unabhängigen Macht gewisser menschlicher Affekte, Emotionen, Triebe.“151 Das wahre Gattungsleben erschöpft sich nicht im industriell-entfremdeten Menschen, sondern die Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit der Arbeit kann dem Selbständigen ebenso zur unerträglichen Qual werden wie dem angeblich entblößten und verkrüppelten Arbeiter. Nicht der Klassengegensatz von Kapital und Arbeit führte zur menschlichen Selbstentfremdung, sondern das Fehlen von genügend Privatkapital in den Händen von Arbeitern in den ersten Perioden des Industriekapitalismus verhinderte ein menschenwürdiges Leben. Und in staatlich gelenkten, kommunistischen Wirtschaften wurde den Arbeitern nicht nur die freie Berufswahl bzw. der Berufswechsel verweigert, sondern Menschen in Beschäftigungsverhältnisse gezwungen, die ihren Neigungen widersprachen, weshalb sie sich noch entfremdeter fühlen mußten. Noch einige Worte zur Marxschen Forderung nach ‚Aufhebung des Privateigentums‘, die sich vordergründig als Mittel zur Befreiung von menschlicher Selbstentfremdung präsentiert, aber in Wirklichkeit nur ein versteckter Angriff auf ein emanzipiertes Leben sein soll. Fast jeder Arbeiter im 19. Jahrhundert war stolz, wenn er für sich und seine Familie Privateigentum erwerben konnte, auch 150 151

K. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (wie Anm. 93), S. 513. Arnold Künzli: Karl Marx, Wien/Frankfurt/Zürich 1966, S. 11.

G. Die menschliche Selbstentfremdung und das Privateigentum

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wenn es nur ein paar Hundert Mark auf dem Sparbuch gewesen sind, und hätte dafür die kommunistische Ideologie einer Nichtentfremdung ohne jeglichen Besitz gerne an einen rostigen Nagel gehängt. Diesen eklatanten Widerspruch zwischen einem ärmlichen und ausgebeuteten Arbeiterleben mit Hungerlöhnen und der glorreichen Aussicht auf ein ‚Reich der Freiheit‘ nach einer siegreichen Revolution konnte kein Marxist und schon gar nicht der staatsmonopolistische Marxismus aus der Welt räumen. Denn es ist höchst fraglich, ob diese Marxsche Begriffsbestimmung des ‚Kommunismus‘, wenn sie bereits 1844 statt 1932 veröffentlicht worden wäre, den Industriearbeitern eine ‚wahrhafte Auflösung‘ ihres Konfliktes mit den Unternehmern bzw. Kapitalisten ermöglicht bzw. ihre Situation erleichtert hätte. Ganz abgesehen davon, daß der Anarchismus mit seinem radikalen Lust- statt Leistungsprinzip eine Alternative präsentierte, die arbeitsunwilligen Menschen viel verlockender erscheinen mußte. Doch diese Gedanken einer definitiven Lösung des historischen Rätsels des unlösbaren Widerstreits zwischen Natur und Vernunft des Menschen haben Generationen von marxistischen und kommunistischen Adepten in ihrem verzweifelten Kampf gegen die kapitalistischen Ausbeuter vorangetrieben und deshalb trägt Marx eine historische Verantwortung an der politischen Verwirklichung von Leninismus und Stalinismus.152 Marxismus als weitgehende „Form einer Zwangsneurose“153 kann deshalb dessen politische Intentionen und die realen kommunistischen Gesellschaften nicht adäquat erklären und findet keine passendere Bezeichnung für den Stalinismus als eine „reaktionäre Erscheinung“. Wenn ideologische Vordenker eines Gedankengebäudes, das unter anderen historischen und politischen Verhältnissen für die entsprechenden Zwecke abgewandelt wird, keinerlei Verantwortung mehr dafür tragen sollen, dann wird unsere gesamte Kultur- und Zivilisationsgeschichte infrage gestellt. Denn unsere demokratischen Wertvorstellungen basieren ja auf solchen Vordenkern, wie zum Beispiel Immanuel Kant oder Bertha von Suttner, auch wenn ihnen unser demokratisches System völlig fremd gewesen wäre. Der Revolutionsfanatismus von Marx hat dagegen eine menschenverachtende Politik hoffähig gemacht – und daran soll er völlig unschuldig sein? Die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) begannen in dieser Zeit, als Hermann Kriege dort kommunistische Ideen verbreiten wollte, ihr riesiges Territorium industriell zu erschließen, indem sie den Wilden Westen mit Eisenbahnlinien durchzogen und neue Städte anlegen ließen. Dadurch stiegen sie in wenigen Jahrzehnten zum gefürchteten Konkurrenten der führenden europäischen Industrienationen, Belgien, Deutschland und Großbritannien auf, was bereits auf der ersten Weltausstellung im Londoner Chrystal Palace 1851 zu erahnen war. Der Aufruf von Kriege, daß reiche deutsche Kaufleute in den USA hungernden Familien eine Arbeit verschaffen sollten – was das materielle Elend ja verringert hätte –, be-

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Dies wird rigoros geleugnet von W. Wippermann: Der Wiedergänger (wie Anm. 113),

S. 7 ff. 153

A. Künzli: Karl Marx (wie Anm. 151), S. 16. Dort auch das nächste Zitat.

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7. Kap.: Die politische Lösung: Revolution, Diktatur, Kommunismus

zeichneten Marx und Engels als einen „infamen und ekelhaften Servilismus“,154 der „Wollust der Kriecherei und die Selbstverachtung predigt“ sowie die „Religion des unendlichen Erbarmens“. Nein, Erbarmen oder Mitleid oder Menschlichkeit kann man von revolutionären Kommunisten nicht erwarten, da alles, was auch nur in die Nähe einer christlichen Ethik angesiedelt ist, als verderbenbringendes Opium angesehen wird. Ob in der christlichen Botschaft der aufopfernden Hinwendung zu den Armen und Bedürftigen nicht auch ein revolutionärer Impuls gegen die unablässige Anhäufung von Reichtum steckt, einen solchen Gedanken dürfen atheistische Marxisten nicht einmal andenken, geschweige denn aussprechen. Den verachteten Kapitalisten auch nur in kleinster Weise entgegenzukommen, wenn sie sich bereit erklärten, hungernden Arbeitern zu helfen, erschien den Revolutionsfanatikern wie ein ekelhafter Verrat an der gerechten Sache, die sich ja naturnotwendig durchsetzen würde. Kriege hätte sich den wahren Kommunismus aneignen sollen, wenn er es überhaupt wagte, seine Stimme zu erheben, denn dieser habe die endgültige Vernichtung des Kapitalismus auf seine Fahnen geschrieben, aber stattdessen geriere sich Kriege als sentimentaler Liebesapostel: „Als echter Prophet und Liebesoffenbarer spricht er die ganze hysterische Gereiztheit einer geprellten schönen Seele über die Spötter, die Ungläubigen und die Menschen der alten Welt aus, die sich nicht durch seine süße Liebeswärme in ‚selige Himmelsbewohner‘ umzaubern lassen.“155 Eine echte Revolution vernichtet eben nicht nur den ausbeuterischen Kapitalismus, sondern auch gleichzeitig alle religiösen Barmherzigkeitsforderungen, selbst wenn sie sich auf einen christlichen ‚Kommunismus‘ berufen. Marx und Engels kamen in ihrer furiosen Kampfeslust, die ohne jede Rücksicht auf persönliche Empfindlichkeiten angebliche Feinde nur vernichten wollte, zu dem nicht gerade humanen Schluß: „Diese feige, heuchlerische Darstellung des Kommunismus nicht als ‚Zerstörung‘, sondern als ‚Erfüllung‘, der bestehenden schlechten Verhältnisse und der Illusionen, die sich die Bourgeois darüber machen, geht durch alle Nummern des ‚Volks-Tribunen‘.“156 Welchen illusionären Vorstellungen sie selbst über die bestehenden Verhältnisse anhingen, darüber brauchen sich gesetzmäßige Zertrümmerer der gesellschaftlichen Zustände keine Gedanken zu machen. Denn sie werden ja von der historischen Entwicklung gerechtfertigt, so wie Hegel den ‚Weltgeist‘ erfand, um die grausamen Handlungen bzw. Kriege von brutalen Machthabern zu rechtfertigen und sie einer überweltlichen Macht zuzuschreiben. Dieser gehörig abgekanzelte Kriege kehrte im Revolutionsjahr 1848 in seine Heimat zurück, wo er zum Mitglied des Zentralausschusses der Demokraten Deutschlands gewählt wurde, ging aber nach der Revolution wieder in die USA, wo 154 K. Marx/F. Engels: [Zirkular gegen Kriege] (wie Anm. 32), S. 15. Dort auch die nächsten Zitate. 155 Ebd., S. 17. 156 Ebd., S. 7. Oder später: „Nachdem so die revolutionäre kommunistische Bewegung in das ‚Suchen‘ nach dem heiligen Geist und dem heiligen Abendmahl verwandelt ist, kann Kriege natürlich auch behaupten, daß dieser Geist ‚nur erkannt zu sein braucht, um alle Menschen in Liebe zu verbinden‘.“ (S. 11, Hervorhebung im Original).

H. Die Grundsätze des Kommunismus

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er bald darauf starb, ohne auch nur den leisesten Hauch einer Anerkennung seiner kommunistischen ‚Brüder‘ verspürt zu haben. Scheinbar begründet werden diese intoleranten Verleumdungen früherer Weg- und Gesinnungsgefährten von Marx mit dem haltlosen Argument: „Nur durch die äußerste Grobheit kann man sich diese Narren vom Leib halten.“157 Was dieses Verhalten allerdings mit Menschlichkeit bzw. einer Verwirklichung von Freiheit zu tun haben soll, können wohl nur diejenigen vertreten, die Marx gegen jegliche Angriffe auf seine menschliche Integrität verteidigen wollen, doch bereits damals wurde Marx der „Proletarische Diktator“158 genannt. Der Historiker und Soziologe Alfred von Martin (1882 – 1979) urteilte in einem Vortrag der Berliner RIAS-Funk-Universität vom 7. November 1950 über Marx, daß er „in allem Wesentlichen nicht von der Humanitätsidee geprägt und bestimmt erscheint“159 und eben nicht aufklärerisches Gedankengut vertreten hat. Die tolerante Diskussion unterschiedlicher Standpunkte ist in der Wissenschaft die grundlegende Voraussetzung jeden Erkenntnisfortschritts, wie in der Politik nur die ständige Suche nach Kompromissen angemessene Lösungen ermöglicht. Für Marx und Engels war jedoch kein Zweifel daran möglich, daß der weltweite Sieg des revolutionären Kommunismus und damit die Herrschaft des Proletariats unaufhaltsam eintreten würden, weshalb Rücksichtnahme reine Zeitverschwendung war.

H. Die Grundsätze des Kommunismus Kommunistische Ideen und Gedankengebäude waren seit den 1830er Jahren in einigen europäischen Staaten – ganz besonders im revolutionären Frankreich – im Umlauf und Marx sowie Engels wollten ihre ökonomische Konzeption der Geschichte von anderen Autoren abgrenzen. In der Deutschen Ideologie versuchten sie deshalb ihren Kommunismus als eine wirkliche Bewegung zu charakterisieren, die den damaligen Zustand der kapitalistischen Gesellschaft aufhebe: „Der Kommunismus unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, daß er die Grundlage aller bisherigen Produktions- und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft. Seine Einrichtung ist daher wesentlich ökonomisch, die materielle Herstellung der Bedingungen dieser Vereinigung; sie macht die vorhandenen Bedingungen zu Bedingungen der Vereinigung. Das Bestehende, was der Kommunismus schafft, ist eben die wirkliche Basis zur 157 Brief von Karl Marx an Georg Herwegh vom 8. August 1847, in: MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 466. 158 Vgl. Edward Hallet Carr: Karl Marx (1934), London 1938, S. 60, der diesen Ausdruck Pawel W. Annenkow zuschrieb. 159 Alfred von Martin: Mensch und Gesellschaft bei Karl Marx, in: Vorträge der RIAS-Funk-Universität, 1950, S. 1. „Als Schöpfer einer revolutionären Weltidee und als Kämpfer für sie ist Marx Religionsstifter und politischer Willensmensch in einem.“ (S. 4).

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7. Kap.: Die politische Lösung: Revolution, Diktatur, Kommunismus

Unmöglichmachung alles von den Individuen unabhängig Bestehenden, sofern dies Bestehende dennoch nichts als ein Produkt des bisherigen Verkehrs der Individuen selbst ist. Die Kommunisten behandeln also praktisch die durch die bisherige Produktion und Verkehr erzeugten Bedingungen als unorganische, ohne indes sich einzubilden, es sei der Plan oder die Bestimmung der bisherigen Generationen gewesen, ihnen Material zu liefern, und ohne zu glauben, daß diese Bedingungen für die sie schaffenden Individuen unorganisch waren.“160 Aus diesen wortreichen Überlegungen kann lediglich geschlossen werden, daß eine Umwälzung der bisherigen ökonomischen Verhältnisse angestrebt wurde; wie sie konkret aussehen könnte, welche Institutionen notwendig seien, um der ‚Macht der vereinigten Individuen‘ zum politischen Erfolg zu verhelfen, verbleibt im verbalen Nebel einer angeblich höchst produktiven, beliebige Tätigkeiten ausübenden kommunistischen Gesellschaft. Indem die Proletarier ihre bisherigen Existenzbedingungen ganz im vieldeutigen Sinne Hegels „aufheben“ und den Staat umstürzen, soll ihre Persönlichkeit zur Reife gelangen – welch absurde Illusion! Friedrich Engels hat 1847 Grundsätze des Kommunismus161 – die erstmalig 1913 von Eduard Bernstein veröffentlicht wurden162 – in einem Programmentwurf für den Bund der Kommunisten als ein vorläufiges Programm der proletarischen Partei formuliert. Darin sollte „die Lehre von den Bedingungen der Befreiung des K. Marx/F. Engels: Die deutsche Ideologie (wie Anm. 6), S. 70 f. Vgl. F. Engels: Grundsätze (wie Anm. 34), S. 361 – 380. Die „Grundsätze“ behandelten folgende 25 Fragen (die Fragen 9, 22 und 23 wurden nicht beantwortet) mehr oder weniger ausführlich: 1. Was ist der Kommunismus? 2. Was ist das Proletariat? 3. Es hat also nicht immer Proletarier gegeben? 4. Wie ist das Proletariat entstanden? 5. Unter welchen Bedingungen findet dieser Verkauf der Arbeit der Proletarier an die Bourgeoisie statt? 6. Welche Arbeiterklassen gab es vor der industriellen Revolution? 7. Wodurch unterscheidet sich der Proletarier vom Sklaven? 8. Wodurch unterscheidet sich der Proletarier vom Leibeigenen? 9. Wodurch unterscheidet sich der Proletarier vom Handwerker? 10. Wodurch unterscheidet sich der Proletarier vom Manufakturarbeiter? 11. Was waren die nächsten Folgen der industriellen Revolution und der Scheidung der Gesellschaft in Bourgeois und Proletarier? 12. Was waren die weiteren Folgen der industriellen Revolution? 13. Was folgt aus diesen sich regelmäßig wiederholenden Handelskrisen? 14. Welcher Art wird diese neue Gesellschaftsordnung sein müssen? 15. Die Abschaffung des Privateigentums war also früher nicht möglich? 16. Wird die Aufhebung des Privateigentums auf friedlichem Wege möglich sein? 17. Wird die Abschaffung des Privateigentums mit Einem Schlage möglich sein? 18. Welchen Entwicklungsgang wird diese Revolution nehmen? 19. Wird diese Revolution in einem einzigen Lande allein vor sich gehen können? 20. Was werden die Folgen der schließlichen Beseitigung des Privateigentums sein? 21. Welchen Einfluß wird die kommunistische Gesellschaftsordnung auf die Familie ausüben? 22. Wie wird die kommunistische Organisation sich zu den bestehenden Nationalitäten verhalten? 23. Wie wird sie sich zu den bestehenden Religionen verhalten? 24. Wie unterscheiden sich die Kommunisten von den Sozialisten? 25. Wie verhalten sich die Kommunisten zu den übrigen politischen Parteien unsrer Zeit? 162 Vgl. Hermann Bollnow: Engels’ Auffassung von Revolution und Entwicklung in seinen „Grundsätzen des Kommunismus“ (1847), in: Marxismusstudien, Tübingen 1954, S. 82. 160 161

H. Die Grundsätze des Kommunismus

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Proletariats“163 umrissen werden. Auch Engels ging davon aus, daß die großen Kapitalisten durch die kapitalintensive Produktion mit Maschinen die ganze Wirtschaft sowie die politische Macht an sich gerissen haben, d. h. das Handwerk und die Manufaktur allmählich verdrängt und „gänzlich zerstört“164 würden. Ganz im Gegensatz zu dieser Auffassung hat sich jedoch ein großer Teil des Handwerks im 19. Jahrhundert an den Produktionsprozeß angepaßt und während unproduktive ältere Handwerker vom Markt verdrängt wurden und verschwanden, etablierten sich neben traditionellen Handwerksberufen neue Tätigkeiten, die teilweise die Industrieproduktion ergänzten bzw. ihr zuarbeiteten, wie Spengler, Klempner oder Sattler. Es war also keineswegs so, „daß in den zivilisierten Ländern fast alle Arbeitszweige fabrikmäßig betrieben“165 wurden, sondern das Handwerk bewahrte seinen ‚goldenen Boden’ neben der Industrie und hat ihn bis heute ausgebaut. Eine solche Engelsche Ideologie kann nur dann in den luftleeren Raum gestellt werden, wenn man die realitätsfremde Dichotomie von Kapitalisten und Proletarier aufrechterhalten möchte, durch die alle anderen Klassen und Berufsgruppen aufgrund des Systems der freien Konkurrenz verschlungen worden sein sollten. Ist man erst einmal bei einem solchen selbstvernichtenden Klassengegensatz in Industriestaaten angelangt, dann ist es beinahe naturgegeben, daß dies „in allen anderen Ländern Revolutionen nach sich ziehen muß, welche früher oder später ebenfalls die Befreiung der dortigen Arbeiter herbeiführen“.166 Diese ‚Befreiung‘ wird angeblich durch die Abschaffung des Privateigentums, die Einführung einer klassenlosen Gesellschaft, d. h. mit anderen Worten durch den glückserfüllten Kommunismus erreicht, wodurch alles Elend beseitigt und eine vollständige Freiheit erlangt sein soll. Jürgen Habermas nannte dies „die neue Form derivierter Privatautonomie“,167 weil die Gesellschaftsbürger nun in einer von ökonomischen Funktionen losgelösten Intimsphäre lebten, doch tatsächlich war es ein totalitäres Gesellschaftssystem, in dem es nur noch eine ‚Öffentlichkeit‘ gab – die der kommunistischen Partei. Die neue kommunistische Gesellschaftsordnung hebt nach Engels alle Konkurrenz in der Industrie auf, indem die „Produktionszweige durch die ganze Gesellschaft, d. h. für gemeinschaftliche Rechnung, nach gemeinschaftlichem Plan und unter Beteiligung aller Mitglieder der Gesellschaft“168 betrieben werden. Welch eine romantische Idee – die allerdings allen ökonomischen Gesetzen und wirtschaftlichen Zwängen zuwiderläuft –, daß durch revolutionäre Abschaffung des Privateigentums „die gemeinsame Benutzung aller Produktionsinstrumente und die Verteilung aller Produkte nach gemeinsamer Übereinkunft oder die F. Engels: Grundsätze (wie Anm. 34), S. 363. Ebd., S. 367. 165 Ebd., S. 364. 166 Ebd., S. 367. 167 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962). 4. Aufl. Neuwied/Berlin 1969, S. 143. 168 F. Engels: Grundsätze (wie Anm. 34), S. 370. 163

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sogenannte Gütergemeinschaft“169 erreicht werden könne. Der Kommunismus ist also eigentlich eine ökonomische Farce und keine gesellschaftliche Ordnung, die den Arbeitern mehr Freiheit oder Selbstverwirklichung und schon gar nicht größeren Wohlstand als im Kapitalismus garantiert. Marxisten haben über ein Jahrhundert davon geträumt, eine solche Gesellschaftsordnung nach dem Untergang des Kapitalismus zu errichten, auch dann noch, wenn eine „demokratische Staatsverfassung“170 hergestellt würde. Engels setzte auf moralische Appelle, die eine schönere Zukunft in einem kommunistischen Nirwana versprachen und dessen Anhänger, die Kommunisten, neben der Abwehr von kapitalistischen Verschwörungen das historische Schicksal an ihrer Seite glaubten: „Sie sehen aber auch, daß die Entwicklung des Proletariats in fast allen zivilisierten Ländern gewaltsam unterdrückt und daß hierdurch von den Gegnern der Kommunisten auf eine Revolution mit aller Macht hingearbeitet wird. Wird hierdurch das unterdrückte Proletariat zuletzt in eine Revolution hineingejagt, so werden wir Kommunisten dann ebensogut mit der Tat wie jetzt mit dem Wort die Sache des Proletariats verteidigen.“171 Es ist das gleiche revolutionäre Schema wie bei Marx; die unschuldige Arbeiterklasse muß revolutionäre Gewalt gegen Grundeigentümer und Fabrikanten etc. anwenden, d. h. die ganze bisherige Gesellschaft vernichten, um Frieden sowie Freiheit zu erlangen und sich aus dem sklavenähnlichen, unerträglichen Arbeitszwang zu befreien. Wie in einem alladinischen Wunderland soll der Kommunismus die Bedürfnisse aller befriedigen, die umfassenden Fähigkeiten sämtlicher Bürger entwickeln, durch industrielle Erziehung und Wechsel der Tätigkeiten die bisherige Arbeitsteilung beseitigen sowie alle teilhaben lassen an den, offenbar ohne Arbeitsmühen, erzeugten Genüssen, ohne Unterschiede zwischen Stadt und Land! Umwälzende historische Ereignisse beeinflussen natürlich die aktuelle Sicht der Dinge, weswegen es verständlich erscheint, solche Ereignisse in sein eigenes Weltbild zu integrieren, wenn sie sich anpassen lassen. Am 24. Februar 1848 begann mit der Erstürmung des Palais Royal in Paris die nächste große französische Revolution, die Europa erschüttern sollte und für Marx mit mathematischer Gewißheit das endgültige Ende des kapitalistischen Systems einleitete. Dies war etwas mehr als einen Monat, nachdem Marx und Engels das Kommunistische Manifest vollendet hatten und weniger als zwei Wochen, nachdem Marx’ Mutter 6.000 Francs seines Erbes an ihn hatte auszahlen lassen. Ob allerdings die unkritische Aussage gerechtfertigt ist: „Das Kommunistische Manifest ist eine der hinreißendsten Ebd., S. 370 f. Ebd., S. 372 (Hervorhebung im Original). Eine demokratische Gesellschaft hat nach Engels so auszusehen: „Die Demokratie würde dem Proletariat ganz nutzlos sein, wenn sie nicht sofort als Mittel zur Durchsetzung weiterer, direkt das Privateigentum angreifender und die Existenz des Proletariats sicherstellender Maßregeln benutzt würde.“ (S. 373). Engels führt auf S. 373 f. zwölf Maßregeln an, die nicht demokratisch, sondern totalitär sind. 171 Ebd., S. 372. 169 170

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politischen Kampfschriften der Weltgeschichte“,172 scheint mir aufgrund seines zerstörerischen revolutionären Impetus höchst fragwürdig zu sein. Hatte bereits die Revolution 1789 die französische Monarchie wie durch einen revolutionären Wirbelsturm hinweggefegt, so müßte doch der 1848er-Aufstand erheblich größere politische Verwüstungen anrichten, denn nun hatte sich ja ein kapitalistisches Unternehmertum sowohl in Großbritannien als auch in einigen europäischen Staaten sowie eine ‚unterdrückte‘ Arbeiterklasse etabliert. Von vielleicht geringerer welthistorischer Bedeutung, wenn auch für Marx’ Lebenslauf fundamental und umstürzend, war das Erscheinen eines belgischen Polizeikommissars am 3. März 1848 bei der Familie Marx mit der Anweisung, daß sie Belgien innerhalb von 24 Stunden zu verlassen habe. Karl und Jenny Marx wurden um 1 Uhr nachts auf die Brüsseler Präfektur gebracht und dort einige Stunden festgehalten, um wegen eventuellen Verstrickungen in aufrührerische Aktivitäten vernommen zu werden, weil man möglicherweise befürchtete, daß sie in die revolutionären Aufstände verwickelt waren. Das war ja keineswegs unbegründet, denn Marx und Engels entfalteten in Brüssel vielfältige geheimbündlerische Aktivitäten. Und der gleiche Marx, der in seiner sozialen bzw. sozialistischen Revolution den gewaltsamen Tod von Millionen unschuldiger Menschen in Kauf nahm, regte sich nun entsetzlich auf über die belgische Regierung und ihr „reaktionäres Wüten“, über die „Brutalitäten, die ich erlitten habe“ bei dieser „skandalösen Angelegenheit“.173 Leopold Schwarzschild, der distanzierte Analytiker von Marx’ Biographie, kommentierte dies etwas spöttisch und ironisch: „Ein Abgrund von charakteristisch bourgeoiser Brutalität war enthüllt worden. Sechs Stunden unlegitimierter Haft! Wie notwendig es war, daß dieses System der Gewalt und der Greuel von der Humanität des Kommunismus ersetzt wurde!“174 Marx flüchtete nach Paris, weil Ferdinand Flocon (1800 – 1866), Gründungsmitglied der Provisorischen Regierung der Zweiten Republik, ihn zwei Tage vor seiner Ausweisung aufgefordert hatte, nach Paris zurückzukehren, wo am 11. März die neue Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten eröffnet und Marx als Präsident eingesetzt wurde. Flocon hatte am 1. März 1848 im Namen des französischen Volkes an Marx geschrieben: „Der Boden der französischen Republik ist eine Freistätte für alle Freunde der Freiheit. Tyrannenmacht hat Sie verbannt, das freie Frankreich öffnet Ihnen seine Tore wieder.“175 Fast gleichzeitig mit der französischen Revolution erschien das Manifest und wurde als die herausragende Kampf- und Programmschrift der neuen kommunistischen Partei angesehen, mit dem „dem Märchen vom Gespenst des Kommunismus

172 So Iring Fetscher: Das Buch der Revolutionen. 125 Jahre Kommunistisches Manifest, in: Die Zeit, Nr. 10. 2. März 1973. 173 Karl Marx: [Brief an den Redakteur der Zeitung „La Réforme“] vom 8. März 1848, in: MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 536 f. 174 Leopold. Schwarzschild: Der rote Preuße, Stuttgart 1954, S. 193. 175 Zitiert von Karl Marx: Herr Vogt, in: MEW. Bd. 14, Berlin 1974, S. 676.

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ein Manifest der Partei“176 entgegengesetzt werden sollte. Allerdings existierte eine Kommunistische Partei noch in keinem der industrialisierenden Staaten Europas und schon gar nicht in den USA, wo der Sozialismus ohnehin einen schweren Stand hatte; aber der französische Kommunist Étienne Cabet (1788 – 1856) hatte 1841 ein Credo Communiste veröffentlicht. Das Manifest enthält die immer wieder als Leitpostulat aller kommunistischen Ideologen propagierte internationale Aufforderung an alle Parteien in den europäischen Staaten: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“177 Erstaunlich ist allerdings, daß noch 2012 dieses ideologische Konstrukt ‚Kommunismus‘, der so viel entsetzliches Leiden über Millionen von Menschen gebracht hat, weiterhin das marxistische Unterbewußtsein von Marxinterpreten beeinflußt: „So wäre auch der Kommunismus nicht das Ende der Geschichte, Plattform linearen Fortschreitens, sondern nur der Anfang dann von den Menschen in höherem Grade selbst zu machender und zu verantwortender Geschichte.“178 Dieses Bewußtsein von einem gemeinsamen Schicksal war aber erst möglich geworden, nachdem der Feudalismus des Mittelalters mit seinem zünftlerischen Gepräge, mit seinen das ganze Leben der in ein soziales Korsett gezwängten Landarbeiter beherrschenden Abhängigkeiten, durch die moderne bürgerliche Gesellschaft abgelöst worden war. Deren Institutionen ermöglichten eine relativ freie Entfaltungsmöglichkeit der Individuen in einer revolutionären bzw. zerstörerischen Produktionsweise, d. h. an die Stelle der handwerklichen Manufaktur trat die moderne große Industrie mit ihren rigorosen Arbeitszwängen. Marx und Engels stellten dagegen die von ihnen korrekt geschilderte historische Entwicklung vom Feudalismus zum Kapitalismus bei der damaligen Situation der Industrie, im Jahr 1848, völlig einseitig dar, auch wenn sie die außergewöhnlichen Leistungen, die Technik und Industrie in kurzer Zeit vollbracht hatten, durchaus anerkannten: „An die Stelle des industriellen Mittelstandes traten die industriellen Millionäre, die Chefs ganzer industrieller Armeen, die modernen Bourgeois,“179 die an die Stelle „der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt“180 haben. Der ‚industrielle Mittelstand‘ waren die Handwerker, die aber keineswegs durch 176 K. Marx/F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (wie Anm. 3), S. 461. Fritz J. Raddatz: Karl Marx (1975). 2. Aufl. München 1978, S. 102 f., schreibt: „Die rund 9600 Wörter des ‚Kommunistischen Manifests‘ werden eine stärkere Wirkung haben als alle Gebete, Gebote und Gesetze je zuvor, als das Vaterunser mit seinen 56 Wörtern, die zehn Gebote mit ihren 297 Wörtern und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mit ihren 300 Wörtern.“ (Hervorhebung im Original). 177 K. Marx/F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (wie Anm. 3), sowohl auf dem Deckblatt als auch am Ende der Abhandlung, S. 493. 178 Andreas Arndt: Karl Marx (1985). 2. Aufl. Berlin 2012, S. 214. 179 K. Marx/F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (wie Anm. 3), S. 463. Und die zerstörende Bourgeoisie „hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt“ (S. 464 f.). 180 Ebd., S. 465.

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die Industrie verdrängt wurden, sondern von denen einige wegen unzeitgemäßer Produktion aufgeben mußten, während neue Handwerksberufe eine ergänzende Funktion ausübten – doch die meisten traditionellen Handwerke, wie Bäcker, Mauer, Schreiner, Schlosser etc., blieben erhalten. Mit der Eroberung aller Weltteile, mit der Ausbeutung des Weltmarktes, mit der fortwährenden Umwälzung der Produktion hat nach Marx und Engels die Bourgeoisie „massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen“181 und damit ihre ökonomische und politische Herrschaft etabliert. Dies ist eine durchaus zutreffende, wenn auch übertriebene Schilderung des neuen Phänomens der maschinengetriebenen Fabriken, aber keineswegs war damit die Übernahme der politischen Herrschaft verbunden, auch wenn das Märchen vom „Nachtwächterstaat“ im 19. Jahrhundert immer noch durch die Literatur geistert. Es ist bei dieser Interpretation einer angeblichen Kapitalistenherrschaft wenig beachtet worden, daß in der Mitte des 19. Jahrhunderts außer in Großbritannien weit über die Hälfte aller Arbeiter in den europäischen Staaten in der Landwirtschaft tätig waren, die ja auch für Marx und Engels für eine Revolution höchstens als Mitläufer in Frage kamen. Im Achtzehnten Brumaire behauptete er sogar von den französischen Bauern: „Sie finden also ihren natürlichen Verbündeten und Führer in dem städtischen Proletariat, dessen Aufgabe der Umsturz der bürgerlichen Ordnung ist.“182 In Preußen hatte man zwar bereits seit den Napoleonischen Kriegen mit Agrarreformen begonnen, d. h. die abhängigen Bauern wurden allmählich von den feudalen Fesseln befreit, aber in anderen deutschen Staaten zog sich die sogenannte Bauernbefreiung über ein halbes Jahrhundert hin, weil die adeligen Großgrundbesitzer auf ihre jahrhundertealten Rechtsansprüche nicht verzichten wollten. Die Marxschen Floskeln, daß sich international alle industriellen Arbeiter verbünden sollten und die Landwirte in einer 2. Auflage des Bauernkrieges von 1525 die Revolution unterstützten,183 waren deshalb nicht nur naiv und maßlos übertrieben, sondern sie verdeckten geschickt die eigentliche Absicht. Diese bestand darin, daß sich die unter dem gleichen Schicksal leidenden Arbeiter gegen den ausbeuterischen Kapitalismus zusammenrotten müßten, um ihn in einem revolutionären Aufstand zu zerstören. Wir haben ja bereits darauf hingewiesen, daß aufgrund der „Unentrinnbarkeit des geschichtlichen SelbstzerstörungsEbd., S. 467. Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW. Bd. 8, Berlin 1972, S. 202 (Hervorhebung im Original). Wegen Marx’ Ideologie von der „Zertrümmerung der Staatsmaschine“ konnte er nicht einmal den konservativen, staatserhaltenden Charakter der Bauern erkennen: „Mit der Verzweiflung an der napoleonischen Restauration scheidet der französische Bauer von dem Glauben an seine Parzelle, stürzt das ganze auf diese Parzelle aufgeführte Staatsgebäude zusammen und erhält die proletarische Revolution das [!] Chor, ohne das ihr Sologesang in allen Bauernnationen zum Sterbegesang wird.“ (Beide Zitate in ebd., S. 204, Anm. 1. Hervorhebung im Original). 183 In einem Brief an Engels vom 16. April 1856 schrieb Marx: „The whole thing in Germany wird abhängen von der Möglichkeit, to back the Proletarian revolution by some second edition of the Peasants‘ war.“ (MEW. Bd. 29, Berlin 1973, S. 47). 181

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prozesses“184 eine Revolution eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre, wenn man nur lange genug darauf wartete, daß das ganze System selbst kollabierte. Der solidarisierende Rückgriff auf die internationale Arbeiterschaft enthielt jedoch ein wesentlich wirkungsvolleres Mobilisierungspotential als ein vager Verweis auf historische Gesetzmäßigkeiten, auch wenn die nationalen ökonomischen Rivalitäten mehrmals zu Handelskriegen oder zur Errichtung von Zollbarrieren führten. Eine Phalanx von weltweit mobilisierten Arbeitermassen mußte selbstverständlich auf die Kapitalisten einen furchterregenden Eindruck machen, denn wenn sie eine Revolution entfachten, würde sich kein Rad mehr drehen und keine Maschine mehr in den Fabriken produzieren können. Dieser emotionale Aufruf zur internationalen Solidarität war jedoch ein rein taktisches Instrument, denn als Otto von Bismarck mit seinem nationalistischen Krieg gegen Frankreich die Gründung des Deutschen Reiches vorbereitete, schrieb Marx am 20. Juli 1870 an Engels: „Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so die Zentralisation der state power nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse. Das deutsche Übergewicht würde ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen, und man hat bloß die Bewegung von 1866 bis jetzt in beiden Ländern zu vergleichen, um zu sehn, daß die deutsche Arbeiterklasse theoretisch und organisatorisch der französischen überlegen ist. Ihr Übergewicht auf dem Welttheater über die französische wäre zugleich das Übergewicht unsrer Theorie über die Proudhons etc.“185 Da war er also, der eigentliche Feind, der den Marxisten als Konkurrenten bei der Mobilisierung der Arbeiterschaft entgegentreten könnte – Proudhon und die Proudhonisten. Marx’ Ausruf „Je ne sui pas un Marxist“ richtete sich nämlich gegen seine französischen Widersacher, die sich als die wahren Marxisten bezeichneten! Es ist ja nicht zu leugnen, daß der europäische Kolonialismus in Südamerika, Asien oder Afrika Völker unterdrückt und ausgebeutet hat, daß die katholische Kirche in ihrem Wahn, die Christianisierung weltweit durchzuführen, mitschuldig am Tod von Millionen Menschen geworden ist, und daß führende imperialistische Staaten durch brutale Kriege das menschliche Ansehen Europas massiv untergraben haben. In dieser Hinsicht haben Marx und Engels bereits früh eine Entwicklung erkannt, die der industrielle Nachzügler Deutschland Anfang der 1880er Jahre vorangetrieben hat, ohne die entsprechenden Mittel, d. h. eine große zivile und militärische Flotte oder riesige Kolonien, zu besitzen. Doch ein kausales Verhältnis zwischen Eroberungen und ökonomischer Herrschaft existiert nicht, wie an dem rapiden Aufstieg des deutschen Industriesystems leicht nachzuweisen ist, das ohne profitable Kolonien in den Jahrzehnten nach der Reichsgründung 1870/71 aufgrund neuer Technologien und wissenschaftlicher Verfahren auf den Gebieten Maschinenbau, Eisen- und Stahlindustrie sowie Elektro- und Chemieindustrie alle europäischen Konkurrenten mit riesigen Kolonien übertrumpfte. Der Kolonialimperialismus mag Großbritannien als Absatzmarkt genützt haben, aber 184 185

So F. Böhm: Die Aufgaben (wie Anm. 88), S. 14. MEW. Bd. 33, Berlin 1973, S. 5 (Hervorhebung im Original).

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ebenso unbestreitbar ist, daß die ‚Werkstatt der Welt‘, England, aufgrund seiner ungeheuren weltweiten Absatzmärkte in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts den technologischen Anschluß an die aufsteigenden, hochtechnologisierten Industrienationen, vor allem Deutschland und die USA, verloren hat. Die Kritik von Marx am Kolonialimperialismus Englands, Spaniens oder Frankreichs richtete sich nicht darauf, ob diese Staaten durch ihre Kolonien wirkliche ökonomische Vorteile erlangt hatten, sondern umgekehrt wurde von ihm behauptet, daß englische Kolonien „das organische Ergebnis des gesamten Produktionssystems sind“.186 Marx ging es also bei seiner Kolonialkritik nicht um eine wissenschaftliche, d. h. abwägende und ausgewogene, Analyse der vorhandenen Fakten, sondern um die Propaganda für seine soziale Revolution, denn wenn sie verwirklicht sei, würde „der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte“.187 Die Inder könnten die Früchte eines neuen Gesellschaftssystems nur dann ernten, wenn die herrschenden Klassen in Großbritannien durch das Industrieproletariat verdrängt seien! Marx’ Anliegen war also zu keiner Zeit die Errichtung eines wissenschaftlichen Theoriengebäudes, das ökonomische oder historische Entwicklungen erklären wollte, sondern eine harsche Verurteilung aller kapitalistischer Entwicklungen und Fehlentwicklungen, ob es nun die hochtechnisierte Produktion oder die britische Herrschaft in Indien war: „Die tiefe Heuchelei der bürgerlichen Zivilisation und die von ihr nicht zu trennende Barbarei liegen unverschleiert vor unseren Augen, sobald wir den Blick von ihrer Heimat, in der sie unter respektablen Formen auftreten, nach den Kolonien wenden, wo sie sich in ihrer ganzen Nacktheit zeigen.“188 Aus Engels’ Schrift Die Lage der arbeitenden Klasse in England von 1845 hatte Marx gelernt, wie fortschrittlich die englische Industrie seit den 1780er Jahren geworden war, doch seine Begeisterung für eine revolutionäre Bewegung trübte ihm den Blick für die erhebliche Reformfähigkeit kapitalistischer Gesellschaften, was in einem Artikel vom 1. Januar 1849 in der Neuen Rheinischen Zeitung deutlich zum Ausdruck kam: „Das Land aber, das ganze Nationen in seine Proletarier verwandelt, das mit seinen Riesenarmen die ganze Welt umspannt hält, das mit seinem Gelde schon einmal die Kosten der europäischen Restauration bestritten hat, in dessen eigenem Schoße die Klassengegensätze sich zur ausgeprägtesten, schamlosesten Form fortgetrieben haben – England scheint der Fels, an dem die Revolutionswogen scheitern, das die neue Gesellschaft schon im Mutterschoße aushungert. England beherrscht den Weltmarkt. Eine Umwälzung der nationalökonomischen Verhältnisse in jedem Lande des europäischen Kontinents ohne England, ist der Sturm in einem Glase Wasser. Die Verhältnisse der Industrie und des Handels innerhalb jeder Nation sind beherrscht durch ihren Verkehr mit an186 Karl Marx: Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien, in: MEW. Bd. 9, Berlin 1970, S. 225. 187 Ebd., S. 226. 188 Ebd., S. 225.

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dern Nationen, sind bedingt durch ihr Verhältnis zum Weltmarkt. England aber beherrscht den Weltmarkt, und die Bourgeoisie beherrscht England.“189 Nicht nur aus heutiger wirtschaftshistorischer Sicht, sondern bereits einigen Ökonomen der damaligen Zeit war durchaus bewußt, daß das industrielle Wachstum Englands als ökonomischer Vorreiter für europäische Nachfolgestaaten angesehen wurde, das man auf irgendeine Weise nachahmen wollte.190 Sobald man allerdings mit der Durchführung dieser Planes begann, stellte man bald fest, daß entweder die entsprechenden ökonomischen Voraussetzungen fehlten oder daß sich die Absatzmärkte nicht mehr nach dem englischen Modell erschließen ließen. Komparative Kostenvorteile für Industrieprodukte konnte der industrielle Vorreiter für sich ausnutzen, weswegen England bis in die 1840er Jahre ein Ausfuhrverbot von Maschinen aufrechterhielt und eine Auswanderung von Fachkräften zu verhindern versuchte sowie mit hohen Strafen belegte, auch wenn die europäischen Konkurrenten das Abwerbeverbot solcher Fachkräfte mit korrupten Angeboten unterliefen. In einer späteren Phase der Industrialisierung benötigte man fast in jedem europäischen Staat andere Faktoren und andere Methoden als England, um die Wachstumskräfte im eigenen Land entfalten zu können, damit der ökonomische Take-Off nicht in einer Sackgasse endete. Marx hingegen wußte, da sich in England 1848 keine politische Revolution ereignet hatte, die Befreiung Europas müsse deshalb sowohl durch den Sturz des feudalen Absolutismus als auch durch eine „siegreiche Erhebung der französischen Arbeiterklasse“191 erfochten werden. Seine vergebliche Hoffnung auf die britische Chartistenpartei, die eventuell eine englische revolutionäre Arbeiterbewegung organisieren könne, erwies sich ebenso utopisch und illusionär wie seine Hoffnung auf einen Weltkrieg, durch den die kapitalistischen Unterdrücker ausgerottet würden. Sehen so Zukunftshoffnungen aus, wenn man sich eigentlich eingestehen müßte, daß die Konterrevolutionäre eine europäische Grabesruhe militärisch durchgesetzt hatten, die die Chance auf eine soziale Revolution in absehbarer Zeit gegen Null tendieren ließ? Der Austromarxist Rudolf Hilferding neigte im Ersten Weltkrieg zu einer realistischeren Betrachtungsweise, weil er in den konterrevolutionären Wirkungen der Arbeiterbewegung eine Schwächung des revolutionären Kapitalismus erkannte: „Aus dem Kapitalismus des Kindermords und Hungertodes hat die Arbeiterbewegung in unablässigen politischen und gewerkschaftlichen Kämpfen einen Kapitalismus gemacht, dem die Verwirklichung seiner schlimmsten Verelendungstendenzen unmöglich wurde, und sie hat ihn so vor einer Revolution verzweifelter (aber auch tiefstehender und unkultivierter) Massen bewahrt.“192 189 Karl Marx/Friedrich Engels: Die revolutionäre Bewegung, in: MEW. Bd. 6, Berlin 1968, S. 149 (Hervorhebung im Original). 190 Vgl. Hubert Kiesewetter: Aspekte der industriellen Rivalität zwischen England und Deutschland im 19. Jahrhundert (1815 – 1914), in: Struktur und Dimension, hrsg. von Hans-Jürgen Gerhard. Bd. 2, Stuttgart 1997, S. 31 ff. 191 K. Marx/F. Engels: Die revolutionäre Bewegung (wie Anm. 189), S. 150. 192 R. Hilferding: Arbeitsgemeinschaft der Klassen? (wie Anm. 61), S. 322.

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Revolution und nichts als Revolution sei unsere Devise, so könnte man das ideologische Programm von Marx und Engels überschreiben, dem sie ihr ganzes Leben erfolglos nachjagten und das sie an Generationen von Marxisten weitergaben. Bei unseren Überlegungen über die unausweichliche Revolution stellt sich jedoch die drängende Frage: Kann denn eine solch mächtige ökonomische und politische Machtclique jemals gestürzt oder vertrieben werden? Es hat ja z. B. mehrere Jahrhunderte gedauert, ehe sich die Kolonien seit den 1950er Jahren aus den Klauen ihrer Unterdrücker befreien konnten, doch die meisten von ihnen waren bis heute nicht in der Lage, eine funktionierende Ökonomie, geschweige denn einen Wohlfahrtsstaat aufbauen zu können. Die kausalen Ursachen dafür liegen jedoch nicht in der kolonialen Ausbeutung, auch wenn das unmenschliche Vorgehen der Kolonialherren nicht beschönigt werden kann, sondern in äußerst ungünstigen klimatischen und politischen Voraussetzungen für gewerbliche und landwirtschaftliche Fortschritte.193 Wenn wir jedoch das revolutionäre Schicksal moderner Industriestaaten betrachten, dann sagen unsere Heroen zu ihrem voraussehbaren Untergang ja, denn „die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier“.194 Diese ausgebeuteten Arbeiter, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, die allen ökonomischen Wechselfällen ausgesetzt sind, die mit ihrer Hände Arbeit keine Familie ernähren können und in den Fabriken „bloßes Zubehör der Maschine“ sind, die „als gemeine Industriesoldaten unter die Aufsicht einer vollständigen Hierarchie von Unteroffizieren und Offizieren gestellt“195 werden, sie sollen die mächtige Bourgeoisie ausrotten? Wie kann dies jemals bewerkstelligt werden? Marx und Engels, wir haben es schon einige Male gehört, sind in ihren Mitteln, die sie den ausgebeuteten Arbeitern anempfehlen, nicht zimperlich, weil sie überhaupt nicht an einer besseren Lage der Arbeiter interessiert waren, sondern diese lediglich als taktische Waffe ansahen. Wenn nämlich erst einmal ihr Wunschtraum erfüllt sein wird und keine kapitalistischen Ausbeutungssysteme auf der Welt mehr existieren, dann verwandelt sich wie in Tausend und einer Nacht das Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit, dann hat der Kommunismus eine klassenlose Gesellschaft geschaffen.

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Vgl. Hubert Kiesewetter: Überwindung der Armut in der Dritten Welt, St. Katharinen

2002. 194 K. Marx/F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (wie Anm. 3), S. 468 (Hervorhebung im Original). Dort auch das nächste Zitat. Oder: Die Bourgeoisie „produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“ (S. 474). 195 Ebd., S. 469.

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7. Kap.: Die politische Lösung: Revolution, Diktatur, Kommunismus

I. Die Arbeiterklasse als Revolutionslokomotive Manche Leser mögen glauben, die Arbeiterklasse als taktisches Instrument sei eine bösartige oder gar verleumderische Idee von mir, die ich Marx unterstelle, um seinen Revolutionsfanatismus in einem trüberen Licht darzustellen. Doch bereits der Naturwissenschaftler Karl Vogt (1817 – 1895), den Marx als „preußischer Hofnarr“196 titulierte, hat nach einem Gespräch mit Marx um 1850 etwas niedergeschrieben, was ich ausführlicher zitieren möchte, weil er kurz nach Erscheinen des Manifests auch dessen üblen Charakter treffend und ohne übelwollende Tendenz wiedergibt: „Wir tranken zuerst Porto, dann Claret d. h. rothen Bordeau, dann Champagner. Nach dem Rothwein war er vollständig besoffen. Das war mir sehr erwünscht, denn er wurde offenherziger, als er sonst vielleicht gewesen wäre. Ich erhielt Gewissheit über Manches, was mir sonst nur Vermuthung geblieben wäre. Trotz diesem Zustande beherrschte er bis ans Ende die Unterhaltung. Er hat mir den Eindruck nicht nur einer seltenen geistigen Ueberlegenheit, sondern auch einer bedeutenden Persönlichkeit gemacht. Hätte er ebensoviel Herz wie Verstand, ebensoviel Liebe wie Hass, dann würde ich für ihn durchs Feuer gehen, trotzdem dass er mir seine vollständigste Geringachtung nicht nur verschiedentlich angedeutet, sondern zuletzt ganz unumwunden ausgesprochen hat … Aber ich habe die Ueberzeugung, dass der gefährlichste persönlichste Ehrgeiz in ihm alles Gute zerfressen hat. Er lacht über die Narren, welche ihm seinen Proletarier-Katechismus [das Kommunistische Manifest, H.K.] nachbeten, so gut wie über die Communisten à la Willich [August von Willich (1810 – 1878), ehemaliger preußischer Leutnant und Mitglied des Bundes der Kommunisten sowie Führer eines Freikorps im badischpfälzischen Aufstand 1849, als Friedrich Engels sein Adjutant war, H.K.197], so gut wie über die Bourgeois. Die einzigen, die er achtet, sind ihm die Aristokraten, die reinen und die es mit Bewusstsein sind. Um sie von der Herrschaft zu verdrängen, brauche er eine Kraft, die er allein in den Proletariern findet, deshalb hat er sein System auf sie zugeschnitten.“198 Vogt steht mit dieser pointierten Einschätzung von Marx’ Charaktereigenschaften ja keineswegs allein, weshalb es fraglich erscheint, Person und Werk einfach zu trennen, wenn es darum geht, wie groß die Wahrheitsgehalte von Marx’ Aussagen sein können. Unter Marxisten war es üblich, MEW. Bd. 29, Berlin 1973, S. 426 (Brief an Engels vom 22. April 1859). Der preußische Polizeibericht (Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen (wie Anm. 120), S. 140) schrieb über den Kommandanten der badischen Volkswehr Willich. Er „empfing als Militair-Commissair von dem Central-Ausschusse zu Neustadt 500 Fl. [Gulden] und von der provisorischen Regierung 3.000 Fl., unterstützte die Betreibung des Zwangsanlehens persönlich durch Androhung des Standrechts und erpreßte so namentlich 2.650 Fl., schickte in renitente Gemeinden Executionstruppen, welche Steuern erheben und Pferde wegnehmen mußten, ertheilte Vollmacht zur Beraubung der Steuerkasse, erließ Requisitionen aller Art und leitete das Gefecht bei Reimthal“, wofür er zu einer sechsjährigen Zuchthausstrafe verurteilt wurde. 198 Carl Vogt: Mein Prozess gegen die Allgemeine Zeitung, Genf 1859, S. 151 f. (Hervorhebungen im Original). 196

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solche Charakterisierungen als überwollende Tendenz oder als eine Neidgebärde hinzustellen, doch Vogt gab ja lediglich einen Eindruck wieder, den er bei einem Treffen mit Marx gewonnen hatte. Karl Marx wollte und konnte eine solche Charakterisierung bzw. Kritik an seiner Person nicht auf sich sitzen lassen bzw. mußte sie mit seiner spitzen Feder bekämpfen und veröffentlichte im darauffolgenden Jahr, 1860, eine umfangreiche Broschüre mit einem schlichten Titel: Herr Vogt.199 Vorher, am 6. Februar 1860, hatte er bereits an zwei deutsche Zeitungen, die Berliner Volks-Zeitung und die Hamburger Reform eine Erklärung gesandt, daß er gegen die Berliner National-Zeitung bzw. deren leitenden Redakteur Dr. Friedrich Zabel eine Verleumdungsklage einreichen würde. Und zwar wegen deren Leitartikel über Vogts Schrift Mein Prozeß gegen die Allgemeine Zeitung, die allerdings am 5. Oktober diesen Jahres vom Königl. Preuß. Obertribunal in Berlin wegen fehlendem öffentlichen Interesse abgelehnt wurde. Doch weil Vogts „resümiertes Machwerk“200 ihm „eine Reihe infamierender Handlungen“ vorgeworfen habe, müsse er diese jetzt literarisch widerlegen und bekämpfen. Marx führte allerdings noch andere Motive an, weswegen er auf Vogts ‚Jagdgeschichten‘ und ‚Lügenmärchen‘ ausführlich eingehen müsse, nämlich wegen des Triumphgeschreis der deutschen liberalen Presse über diese angeblichen Enthüllungen. Nach Marx wurde die revolutionäre Propaganda der Proletarier vom „grausame(n) Land-Vogt [dies ist eine namentliche Anspielung auf den mittelalterlichen Landvogt, H.K.] zum Verbrechen“201 gestempelt, weil der „feiste Schlingel“202 Vogt gegenüber dem Bund der Kommunisten sowieso nur „Polizei-Kauderwelsch“ hervorbringe. Und während Wilhelm Liebknecht Anfang 1850 als Präsident des Genfer Arbeitervereins kommunistische Ideen verbreiten wollte, verkürzten sich die künftigen Reichsposten die harten Nächte des Exils durch „Lügen, Schwänke, Zoten und Aufschneidereien Karls des Kühnen“203 – das ist Karl Vogt! Schon als Redakteur der Neuen Rheinischen Zeitung in Köln hatte Marx in einem Artikel vom 17. März 1849 die Anhänger des Frankfurter Münzvereins davor gewarnt, was aus ihrer sozialen Republik wohl würde, wenn Vogt „verfehlter 199 Vgl. Karl Marx: Herr Vogt, in: MEW. Bd. 14, Berlin 1974, S. 383 – 686. Ludwig Bamberger: Erinnerungen, Berlin 1899, S. 403, schrieb über dieses Marxsche Buch: „Es ist in der Manier von des Autors übrigen Schriften mit einem unsagbaren Aufwand von mit den Haaren herbeigezogenen Citaten angefüllt, welche bestimmt sind, durch stupendes Wissen zu blenden. Altdeutsch und Mittelhochdeutsch, Nibelungen, Tristan, Minnesänger, lateinisch, griechisch, spanisch, italienisch, englisch, Poesie und Prosa, alles aufeinandergehäuft, um den Leser mit Ehrfurcht zu erfüllen.“ Dagegen äußerte sich der Marxist Eduard Bernstein: Ferdinand Lassalle, Berlin 1919, S. 75, zu Marx’ Schrift folgendermaßen: „Jedenfalls ist der ‚Herr Vogt‘ ein äußerst instruktives Buch zum Verständnis der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts; dieses Pamphlet enthält eine Fülle von geschichtlichem Material, das zu einem ganzen Dutzend Abhandlungen ausreichen würde.“ 200 K. Marx: Herr Vogt (wie Anm. 199), S. 385. Dort auch das nächste Zitat. 201 Ebd., S. 409. 202 Ebd., S. 410. Dort auch das nächste Zitat. 203 Ebd., S. 411.

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Reichsbarrot des deutschen Reichs Bonaparte wird“.204 Über ein Jahrzehnt später rechtfertigte sich Marx in diesem Pamphlet von über 300 Seiten gegenüber den „Vogtschen Infamien“205 und dessen Genfer Schwefelbande, deren Verschwörungen nach Marx „Vogtsche Erfindungen und Lügen“206 gewesen seien. „Vielleicht auch ist Karl Vogt dem Schwefel abhold, weil er kein Pulver riechen kann … Oder sollte den Vogt sein zoologisches Gewissen daran erinnert haben, daß Schwefel der Tod der Krätzmilbe, also ganz und gar zuwider den Krätzmilben, die mehrmals die Haut gewechselt haben?“207 Diese Anschuldigungen wurden nach dem Austritt von Marx und Engels aus dem Deutschen Bildungsverein für Arbeiter in London am 17. September 1850, dem Kölner Kommunistenprozeß vom 4. Oktober bis 12. November 1852, bei dem sich Marx mit seinen Enthüllungen so stark engagierte, der Auflösung des Bundes der Kommunisten am 17. November 1852 und vier Jahre vor der Gründung der I. Internationale am 28. September 1864 in London, erhoben. Marx gefiel sich des öfteren in einer blumigen Sprache, die auch nicht vor Obzönitäten zurückschreckte, wenn er z. B. das Vogtsche Buch beschrieb und karikierte: „Er detailliert daher, spinnt aus, kleckst, fleckst, färbt, schmiert, hantiert, entwickelt, verwickelt, motiviert, dichtet, fa del cul trombetta, und so scheint die Falstaffsche Seele überall durch die angeblichen Tatsachen, die er durch seine eigne Erzählung unbewußt wieder in ihr ursprüngliches Nichts auflöst.“208 Und wozu sollten alle diese Tiraden gegen Vogt dienen, die so gar nichts mit den vielbeschworenen Arbeiterschicksalen zu tun haben? Und ist dies etwa eine Erklärung oder Aufklärung, warum Vogt sich so kritisch zu Marx geäußert hatte? Man kann eigentlich nur Ludwig Bamberger, dem Mitbegründer und Aufsichtsrat (von 1870 bis 1872) der Deutschen Bank zustimmen, daß ein solches „Intriganten- und Sophisten-Genie“209 wie Marx selten auf der wissenschaftlichen Bühne der Weltgeschichte erschienen ist. Sehen wir uns doch einmal an, wie das Proletariat in die Lage kommen kann, die Bourgeoisie hinwegzufegen und sowohl die wirtschaftliche als auch die politische Macht in die eigenen Hände zu nehmen. Für diejenigen Arbeiter, die sich einer solchen revolutionären Kampagne nicht anschließen wollten, prägte Marx den denunzierenden Begriff „Lumpenproletariat“, „diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft“.210 Angeblich vernichten diese außer Rand und 204 Karl Marx: Der Frankfurter Münzverein und die „Neue Rheinische Zeitung“, in: MEW. Bd. 6, Berlin 1969, S. 358. 205 K. Marx: Herr Vogt (wie Anm. 199), S. 629. 206 Ebd., S. 642. 207 Ebd., S. 394 (Hervorhebungen im Original). Franz Mehring: Karl Marx (1918). 5. Aufl. Berlin 1983, S. 302, schrieb über diese unappetitliche Polemik: „Noch in den Tagen des Sozialistengesetzes haben so anspruchsvolle Schriftsteller wie Bamberger und Treitschke die ‚Schwefelbande‘ Vogts gegen die deutsche Sozialdemokratie aufmarschieren lassen“. 208 K. Marx: Herr Vogt (wie Anm. 199), S. 633. 209 L. Bamberger: Erinnerungen (wie Anm. 199), S. 403. 210 K. Marx/F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (wie Anm. 3), S. 472.

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Band geratenen Arbeiter „die fremden konkurrierenden Waren, sie zerschlagen die Maschinen, sie stecken die Fabriken in Brand“,211 und schließlich organisieren sie „den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung“.212 Der sogenannte Luddismus, d. h. die Zerstörung von Maschinen und Fabriken durch Handwerker, war in der englischen Frühindustrialisierung weit verbreitet, wurde aber von den staatlichen Behörden streng bestraft und verfolgt. Das ist der anscheinend unvermeidliche Klassenkampf der unterdrückten gegen die herrschende Klasse und so verwandelt sich das Proletariat in „eine wirklich revolutionäre Klasse“213 mit revolutionären Führern oder eigentlich mit einem Diktator. Die Kommunisten vertreten offenbar die Interessen des gesamten Proletariats, aber die Mittel dazu sind unmenschlich und mörderisch, nämlich „Sturz der Bourgeoisieherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat“214 und „Aufhebung des Privateigentums“.215 Der sowjetische Kommunismus hat alle diese gewalttätigen Phasen in seiner langen Geschichte durchlaufen und weil nach Marx und Engels die kommunistische Revolution, die Arbeiterrevolution, die radikalste Abrechnung „vermittelst despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht“216 ist, kann sie nur durchgeführt werden durch die „Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie“.217 Marxistische und nichtmarxistische Denker haben deshalb vermutet, Marx und Engels hätten 1848 irgendetwas mit Demokratie im Sinn gehabt, doch war dies lediglich eine begriffliche Finte, denn Demokratien sind friedlich, antirevolutionär und wollen keineswegs das Eigentum beseitigen. Die Beseitigung des Eigentums bzw. die Verstaatlichung der Produktionsmittel war das oberste Ziel einer kommunistischen Revolution und der Diktator Lenin hat diese Strategie konsequent verfolgt und wenn es jemals demokratische Ansätze in Rußland nach 1917 gegeben hat, sie systematisch zerstört. Wenige Jahre vorher, 1843, hatte Marx noch die kryptische Auffassung vertreten, die sich mit echter Demokratie überhaupt nicht vereinbaren läßt: „Die Demokratie ist die Wahrheit der Monarchie, die Monarchie ist nicht die Wahrheit der Demokratie. Die Monarchie ist notwendig Demokratie als Inkonsequenz gegen sich selbst, das monarchische Moment ist keine Inkonsequenz in der Demokratie.“218 Neuerdings kommt man in Ebd., S. 470. Ebd., S. 493. 213 Ebd., S. 472. 214 Ebd., S. 474. 215 Ebd., S. 475. 216 Ebd., S. 481. Dort auch das nächste Zitat (Hervorhebung von mir). 217 Auch der bedeutende Ökonom Wilhelm Roscher: Politik (1892). 3. Aufl. Stuttgart/ Berlin 1908, S. 13, glaubte: „Die Demokratie artet zuletzt aus: der Mittelstand, auf dem sie beruhte, schmilzt von oben und unten her immer enger zusammen; das Volk spaltet sich in einen Gegensatz überreicher Kapitalisten und gänzlich vermögensloser Arbeiter.“ 218 Karl Marx: Kritik des Hegelschen Staatsrechts (1843), in: MEW. Bd. 1, Berlin 1970, S. 230. 211

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apologetischer Absicht und in einem ähnlichen Hegelschen Jargon zu der weitreichenden Erkenntnis, daß sich „das Aufhebungsmodell der Revolution historisch als illusionär erwiesen“219 habe. In den Jahren 1816/17 war über ganz Europa eine fürchterliche Erntekrise hereingebrochen, bei der Tausende von Menschen verhungerten, die jedoch keine revolutionäre Bewegung auslöste, weil es für die betroffenen Menschen ums nackte Überleben ging.220 Die Ursachen dieser Hungersnot glichen zwar der nach 1844, auf die eine Revolution folgte, nämlich „der wirkliche geringe Vorrath, oder gar wahre Mangel an Getreidefrucht, die in den stark bevölkerten, außerdeutschen, und süd- und westdeutschen Ländern, und namentlich in den Gebürgsgegenden, theils durch mehrjährige schlechte oder doch sehr mittelmäßige Ärndten entstanden“.221 Doch die politische Situation war unmittelbar nach den Napoleonischen Kriegen und der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongreß so fragil, nachdem Hunderttausende auf den Schlachtfeldern getötet worden waren, daß eventuelle Aufstände leicht niedergeschlagen werden konnten. In der verworrenen Lage des Revolutionsjahres 1848, das in vielen deutschen Territorien von den erheblichen Nachwirkungen der Agrarkrise ab 1844 geprägt war und vor allem die Handwerker mobilisierte, die einen Angriff auf die Zunftprivilegien abwehren wollten, konnte man trotzdem nicht nur Revolution predigen, wenn man Arbeiter auf seine Seite ziehen wollte. Die Zahl der arbeitenden Menschen in deutschen Industriebetrieben war nicht nur gering, sondern es gab noch keine Zusammenballungen von Tausenden von Arbeitern in einem Unternehmen, wie es in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts weitverbreitet war und deshalb auch keine bewußten Erfahrungen eines gemeinsamen Arbeiterelends. Im Manifest heißt es allerdings ziemlich naiv und sentimental: „Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.“222 So als ob ein sklavenähnliches Dasein überall anzutreffen gewesen wäre und der Wunsch, die Ketten zu sprengen, d. h. einen gewaltsamen Umsturz durchzuführen, ohne ein schreckliches Blutvergießen und Blutbad vonstatten gehen könnte, das auf beiden Seiten Hunderte oder gar Tausende von Toten fordern kann. Friedliebende Demokratie und zerstörerische Revolution sind deshalb miteinander gänzlich unvereinbar, denn sie gehen von völlig anderen Voraussetzungen aus, wie Weggefährten von Marx und Engels klar erkannten, ihm aber vergeblich klarzumachen versuchten. Noch war Marx in Brüssel, wo die Association démocratique am 27. Februar 1848 den Stadtrat aufforderte, Streitkräfte aufzustellen und die Arbeiter zu bewaffnen, damit die französische Revolution sich auch auf belgischem Boden ausbreiten konnte. „Marx, der nur wenige Wochen

J. Rohbeck: Marx (wie Anm. 13), S. 64. Vgl. John D. Post: The Last Great Subsistance Crisis in the Western World, Baltimore/London 1977. 221 Friedrich Benedict Weber: Bemerkungen über verschiedene Gegenstände der Landwirthschaft, Leipzig 1819, S. 323 f. (Hervorhebung im Original). 222 K. Marx/F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (wie Anm. 3), S. 493. 219

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vorher seine väterliche Erbschaft erhalten hatte, spendete eine beträchtliche Summe zum Ankauf von Waffen.“223 Später in Köln behauptete Marx in der Neuen Rheinischen Zeitung (NRZ) vom 12. November 1848 unverdrossen, obwohl die revolutionären Aufstände in einigen europäischen Staaten – in Wien etwa hatten bewaffnete Truppen den Aufstand am 31. Oktober niedergeschlagen und einen Tag später wehte eine schwarzgelbe Fahne am Stephansdom – bereits durch militärische Truppen brutal unterdrückt worden waren: „Die europäische Revolution beschreibt einen Kreislauf. In Italien begann sie, in Paris nahm sie einen europäischen Charakter an, in Wien war der erste Widerschlag der Februarrevolution, in Berlin der Widerschlag der Wiener Revolution. In Italien, zu Neapel, führte die europäische Kontrerevolution ihren ersten Schlag, in Paris – die Junitage – nahm sie einen europäischen Charakter an, in Wien war der erste Widerschlag der Juni-Kontrerevolution, in Berlin vollendet sie sich und kompromittiert sie sich. Von Paris aus wird der gallische Hahn noch einmal Europa wachkrähen.“224 Und selbst als für Marx offensichtlich wurde, daß eine siegreiche Arbeiterrevolution in kurzer Zeit wohl kaum noch zu erreichen war, versuchte er am 10. Dezember 1848 in der NRZ seinen Lesern eine Interpretation nahezubringen, die ganz seiner dialektischen Denkweise entsprach und der historischen Situation direkt widersprach: „Die Geschichte des preußischen Bürgertums, wie überhaupt des deutschen Bürgertums von März bis Dezember, beweist, daß in Deutschland eine rein bürgerliche Revolution und die Gründung der Bourgeoisherrschaft unter der Form der konstitutionellen Monarchie unmöglich, daß nur die feudale absolutistische Kontrerevolution möglich ist oder die sozialrepublikanische Revolution.“225 Als Friedrich Wilhelm IV. mit königlichem Edikt vom 9. November 1848 die Nationalversammlung von Berlin in die Provinzhauptstadt Brandenburg verlegen wollte, empfahl Marx in seiner Hilflosigkeit dem Volk die Steuerverweigerung. Vom 19. November bis 17. Dezember 1848 stand auf der ersten Seite der Neuen Rheinischen Zeitung in Großschrift: Keine Steuern mehr!!! Der Versammlung gab er den zwiespältigen Rat: „Vor allem mußte sie die Minister als Hochverräter verhaften lassen, als Hochverräter gegen die Volkssouveränetät. Sie mußte jeden Beamten, der andern Befehlen als ihren Befehlen gehorcht, in die Acht erklären, für vogelfrei.“226 P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (wie Anm. 43), S. 204. Karl Marx: Die Kontrerevolution in Berlin, in: MEW. Bd. 6, Berlin 1968, S. 9 f. (Hervorhebungen im Original). 225 Karl Marx/Friedrich Engels: Die Bourgeoisie und die Kontrerevolution, in: MEW. Bd. 6, Berlin 1968, S. 124 (Hervorhebungen im Original). Oder am 24. Dezember 1848 in Nr. 177 der NRZ: „Die Hauptfrucht der revolutionären Bewegung von 1848 ist nicht das, was die Völker gewonnen, sondern das, was sie verloren haben – der Verlust der Illusionen.“ (Karl Marx: Die preußische Kontrerevolution und der preußische Richterstand, in ebd., S. 138. Hervorhebung im Original). 226 Karl Marx/Friedrich Engels: Die Kontrerevolution in Berlin, in: MEW. Bd. 6, Berlin 1968, S. 8 (Hervorhebungen im Original. NRZ Nr. 141 vom 12. November 1848). 223

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Allerdings gab es zunehmend mehr Weggefährten von Marx und Engels, die sich von deren Revolutionsfanatismus abwandten, weil sie erkennen mußten, daß damit die materielle Lage der arbeitenden Menschen nicht um einen Deut verbessert, sondern sie vielmehr in ein noch größeres Unglück gestürzt würden. Der sozialistische Arzt Dr. Andreas Gottschalk, Mitglied der Kölner Sektion des Bundes der Kommunisten, stand dem Kölner Arbeiterverein vor, der unter dem Motto „Freiheit, Brüderlichkeit, Arbeit“ eine Zeitung herausgab und in dem Marx vom 16. Oktober 1848 an kurzfristig Präsident war. Als Armenarzt war Gottschalk bei Arbeitern sehr beliebt, er wurde jedoch am 3. Juli 1848 verhaftet und wandte sich am 25. Februar 1849 in einem scharfen Artikel gegen Marx, in dem er den Gedanken der vollständigen Nutzlosigkeit einer Revolution eindrucksvoll ausdrückte: „Wozu aber eine Revolution, wozu sollen wir Männer des Proletariats, unser Blut verspritzen, müßten wir wirklich, wie Sie, Herr Prediger uns verkünden, um der Hölle des Mittelalters zu entgehen, uns freiwillig in das Fegfeuer einer dekrepiden [zerplatzenden] Kapitalherrschaft stürzen, um von dort in den nebelhaften Himmel Ihres ‚kommunistischen Glaubensbekenntnisses‘ zu gelangen.“227 Deutlicher hätte man den Revolutionsfanatikern kaum sagen können, daß Menschlichkeit nicht darin besteht, Menschen für ein unerreichbares Ziel aufzuopfern und dem Tod preiszugeben. Fanatismus und Dogmatismus kennen kein Erbarmen, weswegen Engels wenig später, am 1. April 1849 in der Neuen Rheinischen Zeitung, den Aufständischen in Piemont, die von österreichischen Truppen besiegt worden waren, einen Guerillakrieg von Che Guevaras Ausmaßen empfahl, bei dem jedes Mittel der Vernichtung gerechtfertigt wurde: „Ein Volk, das sich seine Unabhängigkeit erobern will, darf sich nicht auf die gewöhnlichen Kriegsmittel beschränken. Aufstand in Masse, Revolutionskrieg, Guerillas überall, das ist das einzige Mittel, wodurch ein kleines Volk mit einem großen fertig werden, wodurch eine minder starke Armee in den Stand gesetzt werden kann, der stärkeren und besser organisierten zu widerstehen.“228 Etwa einen Monat später, am 11. Mai 1849, reiste Engels mit einigen revolutionär gesinnten Personen in seine Heimatstadt Elberfeld, aber sein Kommando über den Barrikadenbau und die Artillerie der Aufständischen dauerte nicht lange, denn drei Tage später verließ er die Stadt wieder. Der Sicherheits-Ausschuß der Stadt Elberfeld hatte an diesem Tag, den 14. Mai, eine Bekanntmachung herausgegeben, in der es unter Punkt 2) hieß: „Der Bürger Friedrich Engels von Barmen zuletzt in Cöln wohnhaft, wird unter voller Anerkennung seiner bisherigen, in hiesiger Stadt bewiesenen Thätigkeit ersucht, das Weichbild der städtischen Gemeinde noch heute zu verlassen, da seine Anwesenheit zu Mißverständnissen über den Charakter der Bewegung Anlaß geben könnte.“229 227 Zitiert von Hans Stein: Der Kölner Arbeiterverein (1921). Neudruck Glashütten im Taunus 1972, S. 96. 228 Friedrich Engels: Die Niederlage der Piemontesen, in: MEW. Bd. 6, Berlin 1968, S. 387 (Hervorhebung im Original). 229 Abgedruckt in: Karl Marx und Friedrich Engels (1978). 3. Aufl. Berlin 1983, S. 123.

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Illusionen von einem erreichbaren Paradies auf Erden sind in der Menschheitsgeschichte seit Platon öfter verbreitet worden, aber ihre politische Realisierung endete meist in Unterdrückungssystemen, weil sich paradiesische Zustände ohne Gewaltanwendung gegen kritische Geister nicht durchsetzen lassen und eine vollkommene Harmonie eben nur im Himmel möglich wäre. Die Durchsetzung demokratischer Strukturen ist deswegen eine schwierige Gratwanderung zwischen politischen Entscheidungen und deren Akzeptanz durch die Staatsbürger, wobei eine Revolution meistens mehr zerstört als zur Freiheit beiträgt – und die Ausnahme 1989 bestätigt eben nicht die Regel. Der Ruf nach gelebter Demokratie im Deutschland des Jahres 1848/49, die die Verfassungsgebende Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche vergeblich zu errichten versuchte, war vor allem der sehnliche Wunsch nach individueller Freiheit, Verfassung, Parlament, Pressefreiheit, allgemeines Wahlrecht, kurz nach einem bürgerlichen Parteienstaat, den Marx und Engels gerade vernichten wollten. Was sie von dieser Nationalversammlung, der „Frankfurter Schwatzbude“ (W. I. Lenin), hielten, die an einer „eigentümlich germanischen Krankheit“230 leide, weil sie in einer Stadt abgehalten würde, wo es keine große revolutionäre Bevölkerung gäbe, drückten Marx und Engels in einem Artikel der Neuen Rheinischen Zeitung vom 7. Juni 1848 unmißverständlich aus: „Eine konstituierende Nationalversammlung muß vor allem eine aktive, revolutionär-aktive Versammlung sein. Die Versammlung in Frankfurt macht parlamentarische Schulübungen und läßt die Regierungen handeln. Gesetzt, es gelänge diesem gelehrten Konzil nach allerreifster Überlegung, die beste Tagesordnung und die beste Verfassung auszuklügeln, was nutzt die beste Tagesordnung und die beste Verfassung, wenn die Regierungen unterdes die Bajonette auf die Tagesordnung gesetzt?“ In dem damals führenden Industriestaat England war die Arbeiterschaft ohnehin davon überzeugt, daß nicht eine Revolution, sondern weitere politische und ökonomische Reformen, die seit 1832 vorangetrieben wurden, ihre materielle Lage verbessern könnte. Die Demokratisierungsforderungen des Frankfurter Parlaments, die in einer Verfassung für ganz Deutschland niedergeschrieben worden waren, betrachteten die Vorreiter einer proletarischen Diktatur als arbeiterfeindliche Auswüchse einer kapitalistischen Ausbeuterklasse. Sie kamen damit Otto von Bismarck bedenklich nahe, der in einer Rede gegen die Aufhebung des Belagerungszustandes in Berlin vom 21. März 1849 erklärt hatte: „Die ungezügelte Preßfreiheit und das Versammlungsrecht ohne Kontrole [!] sind antizipierte Bruchstücke eines zukünftigen Rechtszustandes, Bruchstücke, welche, wo ihnen die Ergänzung durch Repressivgesetze fehlt, jede Regierung zu einem fortwährenden Kriegsfuß gegen den Aufruhr nötigen.“231 Der Bund der Kommunisten hatte ganz andere Ziele, er wollte alle feudalen Landgüter, Banken, Bergwerke, alle Transportmittel etc. 230 Karl Marx/Friedrich Engels: Programme der radikal-demokratischen Partei und der Linken zu Frankfurt, in: MEW. Bd. 5, Berlin 1969, S. 40. Dort auch das nächste Zitat (Hervorhebung im Original). 231 Fürst Bismarcks gesammelte Reden. Bd. I, Berlin 1895, S. 12 f.

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verstaatlichen – wie dies ja später die sich auf Marx berufenden Kommunisten in der UdSSR und der DDR getan haben – und eine allgemeine Volksbewaffnung durchführen, denn die „Armeen sind in Zukunft zugleich Arbeiterarmeen“.232 Mit dieser Forderung wurde die Illusion genährt, daß Arbeiter unter Waffen friedlicher seien als Soldaten unter Waffen und sich durch eine zerstörerische Revolution einen ‚Staat der Freiheit‘ errichten könnten. Marx war tatsächlich alles andere als ein friedliebender Mensch, der Mitgefühl mit dem leidenden Proletariat aufbringen konnte und seine Klassenkampfideologie kannte nur Gewalt gegen Gewalt. „Es waren ihm die weichlichen und süßlichen Gefühle zuwider, die etwa von einem Fourier als Zukunftsstaat ein Paradies von einem wollüstigen und ausschweifenden Luxus erträumen ließ.“233 Diese radikale Verstaatlichungsorgie bei gleichzeitiger Abschaffung alles Privateigentums wurde damit begründet, daß „die Millionen, die bisher in Deutschland von einer kleinen Zahl ausgebeutet wurden und die man weiter in der Unterdrückung zu erhalten suchen wird, zu ihrem Recht“234 kommen und die politische Herrschaft übernehmen sollen. Eine solche humanitär verbrämte Illusion kann nur aufrechterhalten werden, wenn man felsenfest und rücksichtslos vom Untergang des Kapitalismus überzeugt ist und den unrealistischen Glauben verbreitet: „Die Nationalisierung des Grund und Bodens wird eine vollkommene Änderung in den Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital mit sich bringen und schließlich die gesamte kapitalistische Produktion beseitigen, sowohl in der Industrie wie in der Landwirtschaft.“235 Das Ziel der gesamten ökonomischen Bewegung des 19. Jahrhunderts sollte die vollständige Verstaatlichung sein, als deren Folge wie aus einem Deus ex machina die alleinseligmachende und glückserfüllte Gesellschaft hervorgehen würde: „Die nationale Zentralisation der Produktionsmittel wird die natürliche Basis einer Gesellschaft werden, die sich aus Assoziationen freier und gleichgestellter, nach einem gemeinsamen und rationellen Plan bewußt tätiger Produzenten zusammensetzt.“236 Ein kurzer Blick zurück in die ökonomische Geschichte des Merkantilismus und Absolutismus hätte die beiden Verstaatlichungsfanatiker darüber belehren können, daß staatlicher Zentralismus die wirtschaftlichen Grundlagen schwächt und nicht stärkt. Englands ökonomischer Liberalismus im 18. Jahrhundert hatte ja gerade bewiesen, welche Dynamik ein laissez-faireKapitalismus auslösen kann. Ein freiheitliches System, das den Individuen die Möglichkeit eröffnete, ihre eigenen Vorstellungen von ökonomischer Vernunft zu 232 Karl Marx/Friedrich Engels: Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland (1848), in: MEW. Bd. 5, Berlin 1969, S. 3. 233 Michael Freund: Propheten der Revolution, Bremen 1970, S. 164 f. 234 K. Marx/F. Engels: Forderungen (wie Anm. 232), S. 4 f. 235 Karl Marx: Über die Nationalisierung des Grund und Bodens, in: MEW. Bd. 18, Berlin 1971, S. 62. Dort auch das nächste Zitat (Hervorhebung im Original). 236 Erstaunlich ist deshalb die Einschätzung von T. Petersen/M. Faber: Karl Marx (wie Anm. 1), S. 256, über Marx: „Er plädiert nicht für eine Verstaatlichung aller oder auch nur einiger Unternehmen.“

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verwirklichen, ist während des Industrialisierungszeitalters nicht nur von Marxisten abgelehnt worden. „Der Communismus ist die Philosophie des Proletariats, während Gewerbefreiheit und Gütertheilung die Philosophie der Geldaristokratie sind.“237 Es hat ja immer wieder im 19. und 20. Jahrhundert Forderungen nach Verstaatlichung der Schlüsselindustrien gegeben, um angeblich das Monopol der Kapitalisten auf Maximalgewinne zu brechen, aber wo dies tatsächlich durchgeführt wurde, hat die Arbeiterschaft nicht davon profitiert. Denn der Staat verfolgt noch andere Interessen als rein ökonomische und fällt politische Entscheidungen, die nicht an den Bedürfnissen von Millionen von Konsumenten orientiert sind bzw. sie in ihrer Vielfältigkeit nicht befriedigen kann. Die herrschende proletarische Klasse war nach Ansicht von Marx aber nichts anderes als die Diktatur des Proletariats – ein Begriff, den Marx und Engels später von dem französischen Sozialisten Louis Auguste Blanqui (1805 – 1881) übernommen haben und der wirklich überhaupt nichts mit Demokratie zu tun hat, sondern staatlicher Zentralismus bedeutet. Schon in Engels Brief an Marx in Köln vom 25. April 1848 kommt diese Strategie, Arbeiter als taktisches Mittel einzusetzen, deutlich zum Ausdruck: „Wenn ein einziges Exemplar unsrer 17 Punkte [das waren die kurz zuvor veröffentlichten Forderungen der Kommunistischen Partei, H.K.] hier verbreitet würde, so wär‘ hier alles verloren für uns. Die Stimmung bei den Bourgeois ist wirklich niederträchtig. Die Arbeiter fangen an, sich etwas zu regen, noch sehr roh, aber massenhaft.“238 Und Marx schrieb aus London an Engels in Manchester am 13. Juli 1851, daß ihre Ansprache an den Bund „nichts als ein Kriegsplan gegen die Demokratie“239 gewesen sei, d. h. die Demokratie müsse bekämpft werden. Die unter westlichen Forschern oft geäußerte Auffassung, Karl Marx habe sich zu irgendeiner Zeit seines Lebens für Demokratie oder demokratische Strukturen eingesetzt oder sogar, daß er „zeit seines Lebens ein leidenschaftlicher Fürsprecher der Demokratie war“,240 ist ein beschönigendes Märchen ohne irgendeinen realistischen Gehalt. Er hat zwar häufig das Wort ‚Demokratie‘ benutzt, doch wie in der Athener ‚Demokratie‘ waren die von ihm gewünschten Organisationsformen im heutigen Sinn so undemokratisch wie das Sklavenwesen im Athener Stadtstaat.241 Gleichgültig, ob wir von einem liberalen oder sozialistischen Demokratieverständnis ausgehen, wenn man wie Marx demokratische Institutionen als politischen Überbau ablehnt, der durch eine Soziale Revolution vernichtet werden soll, kann man nicht mehr glaubhaft von einer ‚Demokratie‘ sprechen, die zum individuellen 237

Aus Anlaß der Fabrikemeuten, in: Deutsche Vierteljahrs Schrift, IV. Heft, 1844,

S. 404. MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 126. Ebd., S. 278. 240 So Marco Iorio: Einführung in die Theorien von Karl Marx, Berlin/Boston 2012, S. 218 f. 241 Vgl. Hubert Kiesewetter: Kritik der modernen Demokratie, Hildesheim/Zürich/New York 2011, S. 22 ff. 238 239

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Schutz von Menschenrechten existiert. Schon in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 hatte Marx keinen begründeten Zweifel daran gelassen, daß eine revolutionäre Umwälzung des kapitalistischen Systems eine gesellschaftliche Philanthropie des Kommunismus darstelle: „Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc. sind nur besondre Weisen der Produktion und fallen unter ihr allgemeines Gesetz. Die positive Aufhebung des Privateigentums, als die Aneignung des menschlichen Lebens, ist daher die positive Aufhebung aller Entfremdung, also die Rückkehr des Menschen aus Religion, Familie, Staat etc. in sein menschliches, d. h. gesellschaftliches Dasein.“242 Die englischen Verhältnisse während seines fast 35jährigen Aufenthaltes in London hätten ihm verdeutlichen können, wozu ein parlamentarisches System in der Lage ist und die amerikanische Demokratie wurde ja seit der Verfassung von 1776 zum Vorbild für viele europäische Demokraten. Noch vier Jahrzehnte nach diesem Briefwechsel, als Marx bereits gestorben war, bekannte sich Friedrich Engels in einem Brief vom 27. Januar 1887 an Florence Kelley-Wischnewetzky in New York, zu dieser hinterhältigen Strategie einer Ausnutzung hochgeschätzter demokratischer Werte: „Als wir [Marx und Engels, die gerade vorher die kommunistische Revolution propagiert hatten, H.K.] im Frühjahr 1848 nach Deutschland zurückkehrten, schlossen wie uns der demokratischen Partei an, als dem einzig möglichen Mittel, das Ohr der Arbeiterklasse zu gewinnen“.243 Jedes taktische Mittel zur Entfesselung einer Revolution war ihnen recht, um die Arbeiter auf ihre Seite zu locken und den abgrundtiefen Haß auf die Kapitalistenklasse zu schüren. Wie die menschliche Seite dieser ‚demokratischen‘ Proletarierdiktatur noch im 20. Jahrhundert ausgesehen hat, kann an den Schießbefehlen gegenüber flüchtenden Arbeitern der Deutschen Demokratischen Republik leicht nachgeprüft werden. Dort wurde noch 1977 behauptet, daß die Beschäftigung mit Marx und dem Marxismus in der BRD „in den Dienst des Kreuzzuges gegen den Kommunismus“244 gestellt worden sei. Die ständigen Beschwörungen von Friedenspolitik und Völkerverständigung in der DDR waren wie bei Marx Feigenblätter für ein brutales Vorgehen gegen Kritiker und Abweichler des Staatsmonopols, das solche totalitären Formen annahm, daß von den Staatsbürgern nicht einmal das universelle Menschenrecht auf freie Wahl des Wohnsitzes in Anspruch genommen werden konnte, ohne sich der tödlichen Gefahr auszusetzen, an der Grenze oder in den Gewässern zum Westen wie ein Stück Vieh getötet zu werden. Als der ökonomische Niedergang der sozialistischen Staaten bereits offenkundig war, 1975, schrieben Mitarbeiter des Berliner Zentralinstituts für Wirtschaftswissenschaften, daß die Ausbeutungsformen der Kapitalverwertung in westlichen, imperialistischen Demokratien sich ständig vertieften und erweiterten sowie das Monopolkapital der Arbeiter242 Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (wie Anm. 93), S. 537 (Hervorhebungen im Original). 243 MEW. Bd. 36, Berlin 1973, S. 598. 244 Unbewältigte Vergangenheit, hrsg. von Gerhard Lozek u. a. 3. Aufl., Berlin 1977, S. 545.

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klasse feindlich gegenüberstünde, obwohl sie genau wußten, wie ihre Regierung die sogenannten Staatsfeinde behandelte. Durch diese Entwicklungen würde zwar „die revolutionäre Ablösung des kapitalistischen Ausbeutungssystems“245 verhindert, aber der weltweite Sieg des Kommunismus könne dadurch nicht aufgehalten werden: „Der BRD-Kapitalismus stößt bei der Entwicklung der Produktivkräfte sowie der Eigentums- und Produktionsverhältnisse, bei der Gestaltung seiner Herrschaftsstrukturen und der Formen der Kapitalmachtausübung beständig auf die Schranken des Sozialismus im Weltmaßstab.“246 Karl Marx schrieb ein Jahrhundert vorher, 1875, in seinem Angriff auf das Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die lange revolutionäre Parolen auf ihre Fahnen setzte: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nicht andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“247 Das war er also, der kommunistische Staat, der auf den Fundamenten einer Diktatur ruhte, in der die alleinseeligmachende Partei die politische Macht des vorgeschobenen Proletariats einnahm und die scheinheilige Revolution in Permanenz aufrechterhielt. Es bedarf schon einer raffinierten dialektischen Verdrehungsmethode, wenn man aus dieser eigentlich ziemlich eindeutigen Marxschen Aussage wie Karl Kautsky den Schluß ziehen zu können glaubt: „Die Diktatur des Proletariats war ihm ein Zustand, der bei überwiegendem Proletariat aus der reinen Demokratie notwendig hervorgeht.“248 Wie die kommunistische Gesellschaft nach langen Geburtswehen aus dem untergehenden kapitalistischen System hervorgehen und in eine ökonomisch-gesellschaftlich hochstehende Kulturentwicklung einmünden soll, das hat Marx in der Kritik des Gothaer Programms wenigstens andeutungsweise beschrieben. Gegenüber dem ‚veralteten Phrasenkram‘ der Sozialdemokratischen Partei setzte er eine angeblich befreite Arbeiterdiktatur, in der die kapitalistischen 245 Rudi Gündel u. a.: Zur Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (1967), Berlin 1975, S. VI. 246 Ebd., S. IV. 247 Karl Marx: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (1875), in: MEW. Bd. 19, Berlin 1974, S. 28 (Hervorhebung im Original). Schon in einem Dokument zur „Weltgesellschaft der revolutionären Kommunisten“ vom April 1850 lautete der Art. 1: „Das Ziel der Assoziation ist der Sturz aller privilegierten Klassen, ihre Unterwerfung unter die Diktatur des Proletarier, in welcher die Revolution in Permanenz erhalten wird bis zur Verwirklichung des Kommunismus, der die letzte Organisationsform der menschlichen Familie sein wird.“ (MEW. Bd. 7, Berlin 1969, S. 553). 248 Karl Kautsky: Die Diktatur des Proletariats (1918), Berlin 1990, S. 32. In einem Brief von Marx an seine Tochter Jenny Longuet in Argenteuil vom 11. April 1881 gab er folgende Charakterisierung von Kautsky ab: „Er ist eine Mittelmäßigkeit, von kleinen Gesichtspunkten, überweis (erst 26 Jahre), Besserwisser, in einer gewissen Art fleißig, macht sich viel mit Statistik zu schaffen, liest aber wenig Gescheites heraus, gehört von Natur zum Stamm der Philister, im übrigen in seiner Art ein anständiger Mensch, ich wälze ihn möglichst auf amigo Engels ab.“ (MEW. Bd. 35, Berlin 1973, S. 178).

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7. Kap.: Die politische Lösung: Revolution, Diktatur, Kommunismus

Mißstände scheinbar aufgehoben bzw. verschwunden sind: „In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“249 Wenn die Sozialdemokratie nicht in der Lage sei, ein Programm zur vollständigen Vernichtung des Kapitalismus aufzustellen, dann besitze sie keine Existenzberechtigung und könne sich auch gleich dem Bismarckschen Obrigkeitsstaat unterordnen: „Das ganze Programm, trotz alles demokratischen Geklingels, ist durch und durch vom Untertanenglauben der Lassalleschen Sekte an den Staat verpestet oder, was nicht besser, vom demokratischen Wunderglauben, oder vielmehr ist es ein Kompromiß zwischen diesen zwei Sorten, dem Sozialismus gleich fernen, Wunderglauben“.250 Über 100 Jahre später wurden in der DDR diese Andeutungen einer kommunistischen Gesellschaftsformation als das non plus ultra von Marx’ Revolutionserkenntnis gepriesen: „Die Kritik des Gothaer Programms gehört zu den wichtigsten programmatischen Schriften des wissenschaftlichen Kommunismus.“251 Jahrzehntelang hat die kommunistische Ideologie ihren fähigen, aber bedürfnislosen Staatsbürgern vorgegaukelt, daß diese kommunistische Gesellschaft die höchste Kulturstufe der Weltgeschichte erreicht habe, obwohl sie ihnen nicht die einfachsten Menschenrechte gewährte und sie brutal ermordete, wenn sie das ‚Reich der Freiheit‘ verlassen wollten.

K. Marx: Randglossen (wie Anm. 247), S. 21. Ebd., S. 31. 251 Geschichte (wie Anm. 10), S. 21. Die Stellungnahmen dazu von Marx und Engels zwischen 1875 und 1891 sind abgedruckt in: Reader zur Auseinandersetzung um die Kritik von Karl Marx und Friedrich Engels am Gothaer Programm, hrsg. von Stefan Engel und Monika Gärtner-Engel, Essen 2014. 249

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8. Kapitel

London und der Sieg der Revolution 8. Kap.: London und der Sieg der Revolution 8. Kap.: London und der Sieg der Revolution

Die Hälfte seines Lebens verbrachte Marx in London, der damals größten Industrie-, Banken- und Handelsmetropole der Welt, in der er als überwiegend deutsch schreibender Emigrant seine bedeutendsten wissenschaftlichen Werke verfaßte und weiter politische Agitationen vorantrieb. Es erscheint mir deshalb höchst fraglich zu behaupten: „Um 1849 waren die psychologisch interessantesten Jahre seiner geistigen Entwicklung vorüber: danach war er seelisch und geistig fertig und veränderte sich kaum mehr.“1 Nach seinem Tod am 14. März 1883 im Haus 41 Maitlandpark Road wurde er neben seiner Frau Jenny auf dem Friedhof im Londoner Stadtteil Highgate begraben und sein lebenslanger Freund Friedrich Engels hielt in englischer Sprache eine Abschiedsrede, in der er betonte, „Marx war vor allem Revolutionär“.2 Seine marxistischen Nachfahren in westlichen Demokratien konnten sich dieser Meinung selten anschließen, sondern stilisierten Marx zum bewunderten Theoretiker der kapitalistischen Wirtschaft, dem man bis heute mit großer Verehrung begegnen müsse. Marx war zwar nach seiner Ausreise aus Frankreich bzw. Paris am 24. August 1849 zusammen mit Sebastian Seiler – der 1839 in Zürich eine Schrift Geheime Mittheilungen aus den Zeiten des französischen Kaiserreichs veröffentlicht hatte – und Karl Blind nicht als englischer Staatsbürger in Großbritannien aufgenommen worden. Doch die lange Leidens- und Arbeitszeit in dieser Hauptstadt einer Weltmacht hatte bei ihm tiefe Spuren hinterlassen. Es erscheint mir deshalb übertrieben zu behaupten, daß Marx bei seinem Tod „ein vergessener Mann“3 gewesen sei, auch wenn seine Bekanntheit in der angelsächsischen Welt eigentlich erst nach der englischen Übersetzung der drei Bände von Das Kapital in den Jahren 1887 und 1907 richtig einsetzte. In diesem ersten Industriestaat der Menschheitsgeschichte, der Werkstatt der Welt, hatten politische Ökonomen wie Adam Smith, Thomas R. Malthus, David Ricardo oder John St. Mill seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts versucht, diese grundlegenden Veränderungen der Arbeitswelt theoretisch zu analysieren und Vorschläge für ökonomische und politische Reformen zu machen, ohne die die ökonomischen Theorien von Marx nicht verstanden werden können. Die Chartistenbewegung, zumindest ihr linker Flügel, war seit den 1830er Jahren in kommunistischer Manier für die englischen Arbeiter aktiv gewesen, doch Isaiah Berlin: Karl Marx, München 1959, S. 25. Friedrich Engels: Das Begräbnis von Karl Marx, in: MEW. Bd. 19, Berlin 1974, S. 336. 3 C. Northcote Parkinson: Good-bye, Karl Marx (1970). 2. Aufl. Hamburg 1970, S. 65. Dort heißt es weiter, ohne irgendeine Spezifizierung: „Karl Marx war, wenn man sich seinen Lebensweg vor Augen hält, ein gescheiterter Mann.“ 1

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8. Kap.: London und der Sieg der Revolution

den Höhepunkt ihrer politischen Aktivitäten hatten sie bei der Ankunft von Marx in London bereits überschritten, obwohl sie revolutionäre Maßnahmen der Arbeiterschaft propagierten, von denen einige teilweise vom britischen Parlament angenommen wurden. Die Reformfreudigkeit des englischen Parlaments, auch gegenüber Arbeiterfragen, machte revolutionäre Aktivitäten obsolet, weswegen die Chartisten ihre stattliche Anhängerschaft verloren. Man könnte sich deshalb fragen, was Marx (und Engels) mit dem historischen Materialismus bewirken wollten, für wen die Lehre vom Klassenkampf und der welthistorischen, revolutionären Mission des Proletariats eigentlich gedacht sein sollte. Jedem nüchternen Beobachter der englischen Verhältnisse Mitte des 19. Jahrhunderts war klar, daß England ein denkbar ungeeigneter Boden für eine Revolution sein mußte, daß die sozialen und politischen Reformen der britischen Monarchie eine unumkehrbare Stufe erreicht hatten, die zwar verzögert, aber nicht mehr rückgängig gemacht werden konnten. Die Weltrevolutionäre mußten deshalb die Weltrevolution an ihre Fahnen heften, sie mußten eine imaginäre internationale Arbeiterbewegung konstruieren, die in einer zerstörerischen Revolution alle kapitalistischen Systeme in den Abgrund reißen und die klassenlose Gesellschaft errichten sollte. Schon vor ihrer Emigration nach England, am 1. Januar 1849, hatten sie in der Neuen Rheinischen Zeitung geschrieben, daß die Befreiung Europas nur durch eine siegreiche Erhebung der französischen Arbeiterklasse und der Sturz „der industriellen und kommerziellen Weltherrschaft Großbritanniens“4 nur durch einen Weltkrieg durchgeführt werden könne: „England wird wie zu Napoleons Zeit an der Spitze der kontrerevolutionären Armeen stehen, aber durch den Krieg selbst an die Spitze der revolutionären Bewegung geworfen werden und seine Schuld gegen die Revolution des 18. Jahrhunderts einlösen … Weltkrieg – das ist die Inhaltsanzeige des Jahres 1849.“ Das reaktionäre England sollte also durch einen Weltkrieg aus seiner angeblich revolutionären Lethargie herausgerissen werden und der Kapitalismus in einer Revolution untergehen – basta! Zwar war bereits der Deutsche Arbeiterverein in Paris verboten worden und auch das danach errichtete Flüchtlingskomitee konnte den revolutionären Schwung nicht mehr in Gang setzen, obwohl dieses am 24. Mai 1849 eine Proklamation an die Demokraten Deutschlands erließ. Hirngespinste sind jedoch durch widerlegende Tatsachen nicht aufzulösen. Mitte April 1850 wurde durch Marx und Engels in London von Vertretern des Bundes der Kommunisten, linker Chartisten und emigrierter Blanquisten eine „Weltgesellschaft der revolutionären Kommunisten“ ins Leben gerufen, deren Artikel 1 lautet: „Das Ziel der Assoziation ist der Sturz aller privilegierten Klassen, ihre Unterwerfung unter die Diktatur der Proletarier, in welcher die Revolution in Permanenz erhalten wird bis zur Verwirklichung des Kommunismus, der die letzte Organisationsform der menschlichen Familie sein wird.“5 In den Nachwehen der sogenannten Studentenrevolution konnte man behaupten, Marx’ permanente Revolution „wäre 4 Karl Marx/Friedrich Engels: Die revolutionäre Bewegung, in: MEW. Bd. 6, Berlin 1968, S. 150. Dort auch das nächste Zitat (Fettdruck im Original). 5 Zitiert in: MEW. Bd. 7, Berlin 1969, S. 553.

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heute genauer als gesteuerte, gezielte Geschichts-Evolution zu bezeichnen“.6 Und Frank Deppe glaubt noch 2015, daß die ‚Revolution in Permanenz‘ „sprachlich ein Zugeständnis an die ultralinke Fraktion“7 deutscher Emigranten in London gewesen sei, doch dagegen spricht die mehrmalige Wiederholung dieser Formel in späteren Schriften. Eine solche Strategie mutet uns heute, trotz Welteroberungsfantasien des Islamischen Staates oder dem Heiligen Krieg arabischer Terroristen, so konkret und belastbar an wie eine Seifenblase. Trotzdem wurde sie von Marx und Engels und vielen Nachfolgern verfolgt und mit einer messianischen Glaubensüberzeugung vertreten, die uns erschaudern läßt. Es wäre eigentlich unter Berücksichtigung der überragenden ökonomischen Stellung Englands leicht gewesen zu erkennen, daß eine Ausdehnung der Industrieproduktion und des Handels in einem Staatswesen, das seit Jahrhunderten durch massive ökonomische und politische Veränderungen geprägt worden war, die Revolutionsneigung von Arbeitern verringerte statt erhöhte. Denn es war ja unübersehbar, daß der Industriekapitalismus – gleichgültig ob durch Kolonialimperialismus oder nicht – in der Lage war, einen Reichtumszuwachs zu erzeugen, wie er in der Weltgeschichte einmalig war, auch wenn die Arbeiter (noch) nicht daran teilhatten. Marx’ und Engels’ dogmatische Verblendungen waren jedoch so weit fortgeschritten, daß sie nur noch wirtschaftliche Krisen heraufziehen sahen, die das revolutionäre Ende der kapitalistischen Gesellschaft herbeiführen müßten: „Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen miteinander in Widerspruch geraten … Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.“8 Woher nahmen sie denn diese unhinterfragte Gewißheit, wo gerade die englischen Zustände seit einem dreiviertel Jahrhundert zweifelsfrei zeigten, daß sich Konjunktur und Krise fast regelmäßig abwechselten und eben keine Revolution folgte?

A. Wie die Realität im fremden Land verdreht werden kann Die Revolutionsfanatiker konnten trotz des vielbeachteten Manifests weder in Belgien, in Frankreich, in Großbritannien oder in Deutschland die beabsichtigte Zerstörung des kapitalistischen Systems durch die Industriearbeiter erreichen. 6 So Wilhelm Höck: Linke Schminke. Die „repressive Gesellschaft“ wie das „falsche Bewußtsein“ müssen auch in Frage gestellt werden dürfen“, in: Die Zeit, Nr. 7. 18. Februar 1972. 7 Frank Deppe: Demokratie und Sozialismus, in Joachim Hirsch u. a. (Hg.): Der Staat der Bürgerlichen Gesellschaft. 2. Aufl. Baden-Baden 2015, S. 49. 8 Karl Marx/Friedrich Engels: Revue. Mai bis Oktober [1850], in: MEW. Bd. 7, Berlin 1969, S. 440 (Hervorhebungen im Original).

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Schon deswegen nicht, weil z. B. im zollvereinten Deutschland, wo eine Vielzahl größerer und kleinerer Staaten erst am Anfang der Industrialisierung standen, die Industrie- gegenüber den Landarbeitern noch eine erhebliche Minderheit darstellten. Während in Frankreich das morsche, überlebte Königtum für ein paar Jahre durch eine Republik ersetzt werden konnte, war die preußische oder österreichische Monarchie trotz der schwachen Herrscher Ferdinand I. und Friedrich Wilhelm IV. wegen alten feudalen und religiösen Eliten militärisch und politisch stark genug verankert. Gerade in Österreich, wo der verhaßte Klemens Wenzel Fürst von Metternich (1773 – 1859) eine reaktionäre Politik bis zu seinem Sturz am 13. März 1848 mit fast unbeschränkten Vollmachten durchsetzte, wurden die revolutionären Aufstände nach einer Phase der Destabilisierung brutal niedergeschlagen. Marx schleuderte gerade in London seine aufgestaute Wut gegen Freund und Feind hinaus, denn die Geschichte wollte sich gar nicht seinem Revolutionsenthusiasmus unterordnen. Doch ob man ihn wegen dieser Streitereien als „ein Genie der Verunglimpfung“9 bezeichnen soll, scheint mir eher zweifelhaft. In seinem deutschen Heimatland waren nicht nur die Arbeiter schlafmützig, sondern auch Männer wie Adolf Kolping (1813 – 1865) gar nicht an revolutionären Aktionen interessiert; seine Gesellenvereine boten soziale Geborgenheit und sittlich-religiösen Halt auf christlicher Basis, die etwas von der psychologischen Entfremdung in der Arbeitswelt abbauen wollten. Außerdem erhöhte sich mit den Agrarreformen der Strom der arbeitslosen Landarbeiter in die Industriezentren, d. h. die industrielle Reservearmee wurde nicht nur durch das ‚Kapital‘, sondern in dieser Zeit durch die großen Verschiebungen in der landwirtschaftlichen Arbeiterbevölkerung ausgelöst. Im März 1848 agitierte Marx gleich wieder in Paris, wohin er nach seiner Ausweisung aus Brüssel geflohen war, weil einige selbsternannte Revolutionäre ihm in die Quere kamen und ihm die ideologische Vorherrschaft streitig machen wollten. Die von Georg Friedrich Herwegh und Adalbert von Bornstedt aus 1.000 Handwerkern gebildete bewaffnete Deutsche Legion, für die sich auch Karl Schapper und Georg Weerth von der Deutschen Demokratischen Gesellschaft ausgesprochen hatten, wollte Marx von ihrem revolutionären Marsch nach Deutschland abhalten. Marx und der inzwischen ebenfalls aus Brüssel eingetroffene Engels wollten die Handwerker von dieser „Revolutionsspielerei“ bewahren und gründeten einen demokratischen Klub, den Klub der deutschen Arbeiter am 8./9. März 1848, der im Pariser Café Picard tagte, während sie von der Legion wenig hielten: „Mitten in die damalige Gärung Deutschlands eine Invasion hineintragen,“ schrieb Engels 1885, „die die Revolution zwangsmäßig von außen importieren sollte, das hieß der Revolution in Deutschland selbst ein Bein stellen, die Regierungen stärken und die Legionäre selbst – dafür bürgte Lamartine – den deutschen Truppen wehrlos in die Hände liefern.“10 Beide Vorstellungen, die von einer durch Handwerker 9 So Michael Freund: Propheten der Revolution, Bremen 1970, S. 172 (Hervorhebung von mir). 10 Friedrich Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, in: MEW. Bd. 21, Berlin 1973, S. 218.

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beschleunigten Revolution wie die von einer durch Arbeitermassen ausgelösten Umwälzung des Ausbeutersystems, entsprachen so wenig den realpolitischen Verhältnissen, daß man eigentlich von Realitätsverlust der Initiatoren sprechen muß. Trotzdem marschierte die Deutsche Legion Richtung Deutschland, begleitet von Herwegh „als politischer Berater“11 und unterstützt durch die provisorische französische Regierung, die Marschquartiere und eine Marschzulage von 50 Centimes pro Tag bereitstellte; allerdings endete dieses Revolutionsstück bei Dossenbach im Kreis Lörrach, weil die Legion in einem Gefecht am 27. April 1848 geschlagen wurde. Marx und Engels gründeten also in Paris einen kommunistischen Klub und versuchten deutsche Handwerker und Arbeiter davon zu überzeugen, einzeln nach Deutschland zurückzukehren und sich dort in die revolutionäre Bewegung einzureihen. Doch eine proletarische Revolution benötigte eine revolutionäre Partei, die den Klassenkampf der Arbeiter ausfechten könnte, aber nicht vereinzelte wilde Handwerkerrevolutionäre. Also ging Marx nach dem ziemlich beschaulichen Köln, wo er mit Engels am 11. April eintraf und eine politische Tageszeitung herausgab. Weil in der Rheinprovinz 1848 der Code Napoléon galt, d. h. noch Pressefreiheit gab, und es revolutionär gärte, wurde Marx vom Kölner Stadtrat das Niederlassungsrecht gewährt, obwohl er aus dem preußischen Staatsverband ausgetreten war, und er zog mit seiner Familie in eine Wohnung in der Cäcilienstraße 7. Zuerst beteiligte er sich an der Gründung der Kölner Demokratischen Gesellschaft, während er gleichzeitig als Chefredakteur die Neue Rheinische Zeitung (NRZ) als „Organ der Demokratie“ ins Leben rief, die vom 1. Juni 1848 bis 18. Mai 1849 mit einer kurzen Unterbrechung wegen des Belagerungszustandes erschien. Nach Onckens beschönigender Ansicht war sie „das einzige Organ großen Stils, das die Anfänge der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung mit unerbittlicher Konsequenz und wildestem Fanatismus vertreten hat“,12 obwohl sie eigentlich den Bund der Kommunisten repräsentieren sollte. Zur Redaktion der NRZ gehörten ebenfalls Heinrich Bürgers, Ernst Dronke, Friedrich Engels, Ferdinand Freiligrath, Georg Weerth, Ferdinand Wolff und Wilhelm Wolff. Weerth erlag am 30. Juli 1856 in Kuba dem tropischen Fieber! In dieser mit Aktien finanzierten NRZ, die etwa eine Auflage von 5.000 Exemplaren hatte, veröffentlichte Marx während der elf Monate ihres Erscheinens 80 kommentierende Artikel über die politischen Verhältnisse.13 Selbstverständlich war das Zeitungsprojekt nicht die einzige Aktivität von Marx und Engels in Köln, denn es war ihnen natürlich klar, daß nur mit Zeitungsartikeln keine Revolution erfolgreich durchgeführt werden konnte. Mit ihnen waren eine Reihe anderer Mitglieder der Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten an den Rhein gepilgert, wie Stephan Born, Karl Schapper und eben Wilhelm Wolff, der 11 Stephan Born: Erinnerungen eines Achtundvierzigers (1898), Berlin/Bonn 1978, S. 57. „Die Unternehmer des Zuges brauchten einen bekannten und populären Namen und dazu mußte derjenige des mit Lorbeer geschmückten Dichters ihnen dienen.“ (S. 57 f.). 12 Hermann Oncken: Lassalle (1904). 4. Aufl. Stuttgart/Berlin 1923, S. 86. 13 Vgl. Wolfgang Wippermann: Der Wiedergänger, Wien 2008, S. 30 f.

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allgemein ‚Lupus‘ genannt wurde, die in verschiedenen deutschen Städten, nämlich in Berlin, in Nassau und in Breslau, eine Arbeiterrevolution vorbereiten sollten. Wenn nicht jetzt, wann sollte dann die Gelegenheit ergriffen werden, die Revolutionsträume aus dem Manifest in die politische Realität umzusetzen. Und hatte man nicht vor kurzem behauptet, daß in Deutschland am ehesten eine Arbeiterrevolution durchgeführt werden könnte? Der unerfüllte Traum von einer Massenbewegung der Arbeiterklasse gegen das mächtiger werdende kapitalistische System spukte weiter in den rauchenden Köpfen der Revolutionsenthusiasten. Das echte historische Verständnis der politischen Möglichkeiten, dessen Mangel Marx und Engels ihren Widersachern oft genug ankreideten, fehlte aber vor allem den Weltrevolutionären! Am 25. April 1848 schrieb Engels aus Barmen an Marx in Köln, daß er bei verschiedenen Personen kein Geld für die NRZ auftreiben konnte und selbst sein Vater hielte schon die Kölner Zeitung für einen „Ausbund von Wühlerei, und statt 1000 Talern schickte er und lieber 1000 Kartätschen auf den Hals“.14 „Was tun?“ heißt eine Schrift von Lenin und die gleiche Frage stellte sich nun den Frankreichflüchtlingen in der Domstadt Köln. Wie Demokratie mit Revolution vereinbart werden könnte, ohne gesetzmäßig aufeinander zu folgen, wie dies Kautsky ersann, darüber konnte Marx sich während dieser revolutionären Periode auch in Köln keine tiefschürfenden Gedanken machen, denn nun nahm ihn die Redaktionsarbeit wieder ganz gefangen. Die wirkungsmächtigen demokratischen Strömungen und demokratischen Vereine konnten von Marx und Engels allerdings nicht einfach ignoriert werden, weswegen sie eine taktische, opportunistische Strategie verfolgten, die in ihrer Zeitung beides einschloß: Revolution und (Schein-) Demokratie mit der Fahnenaufschrift: „Es konnte nur die der Demokratie sein, aber die einer Demokratie, die überall den spezifisch proletarischen Charakter im einzelnen hervorhob, den sie noch nicht ein für allemal aufs Banner schreiben konnte.“15 In dieser Zeitung, die neben der kommentierenden Berichterstattung der turbulenten Ereignisse der Revolutionszeit vor allem den revolutionären Elan in der Arbeiterschaft wachrufen wollte, finden wir in der ersten Zeit trotzdem keine kommunistisch-revolutionären Artikel. Marx wiegte sich wohl immer noch in der illusionären Hoffnung, daß die preußische Regierung seinem wiederholten Antrag auf Einbürgerung stattgeben würde, allerdings vergeblich, denn am 3. August 1848 wurde ein entsprechender Antrag von der rheinischen Provinzialregierung abgelehnt. (Selbst als er im August 1874 in einem Gesuch an den britischen Innenminister Robert Lowe, Viscount of Sherbrooke (1811 – 1892) versuchte, die englische Staatsbürgerschaft zu erwerben, wurde ihm dies wegen fehlender Loyalität verweigert). Marx mußte sich vielmehr auf polizeiliche Ermittlungen einstellen, und am 6. Juli 1848 wurde Marx als Chefredakteur und Hermann Korff als verantwortlicher Verleger vor den Untersuchungsrichter wegen eines Artikels „Verhaftungen“ in der NRZ zitiert, in dem es zum MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 125. Friedrich Engels: Marx und die „Neue Rheinische Zeitung“ 1848/49, in: MEW. Bd. 21, Berlin 1973, S. 18. 14

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Schluß hieß: „Das Ministerium der Tat erkennt die Revolution im Prinzip an, um in der Praxis die Kontrerevolution zu vollziehen.“16 Der Druckereibesitzer Wilhelm Clouth sowie Setzer und Redakteure der Zeitung wurden vernommen, die Ablehnung von Marx’ Bürgerrecht durch die preußische Bezirksregierung wurde vom Ministerium des Innern am 12. September 1848 bestätigt. Am 25. September waren weitere Verhaftungen durch die Kölner Polizei vorgenommen und der Belagerungszustand ausgerufen worden sowie andere Personen wurden in Prozesse verwickelt, doch am 7. Februar 1849 erfolgte ein Freispruch vor einem Geschworenengericht. Das war genau zwei Tage nach den Wahlen zur Zweiten Kammer des preußischen Landtags, der allerdings am 27. April 1849 aufgelöst wurde, weil er sich für die Annahme der Reichsverfassung der Frankfurter Nationalversammlung ausgesprochen hatte. Die Lage blieb weiterhin äußerst unsicher, auch wenn Marx während dieser Zeit kein einziges Mal im Gefängnis landete, sondern in weiteren Prozessen seine Überzeugung kundtat: „Vollständiger Sieg der Kontrerevolution oder neue siegreiche Revolution“.17 Ein Beamter der preußischen Regierung in Köln teilte Marx am 11. Mai 1849 mit, daß die Neue Rheinische Zeitung, der er als Chefredakteur und wesentlicher Finanzier bzw. Aktionär vorstand, wegen „Aufreizung zur Verachtung der bestehenden Regierung, zum gewaltsamen Umsturz und zur Einführung der sozialen Republik“18 ihr Erscheinen einstellen müsse und Marx, der sein Gastrecht „so schmählich verletzt“, Preußen „binnen 24 Stunden zu verlassen“ habe. Das Rumpfparlament der Frankfurter Nationalversammlung war gerade dabei, sich nach Stuttgart zurückzuziehen, wo es endgültig von württembergischen Truppen aufgelöst wurde. Schließlich hatte Friedrich Wilhelm IV. die Entgegennahme der Kaiserkrone aus den Händen des gewählten demokratischen Parlaments mit den Worten abgelehnt, es sei das „eiserne Halsband der Knechtschaft“,19 wodurch er zum Leibeigenen gemacht würde. Es war nach Paris und Brüssel das dritte Mal, daß Marx wegen revolutionärem Aufrührertum ausgewiesen wurde, aber nun war es seine deutsche Heimat, von dessen Arbeitern er ein gewaltiges Engagement erwartete, die er verlassen sollte und die er nur noch wenige Male in seinem Leben besuchen konnte. In Köln war er innerhalb eines Zeitraums von sieben Jahren mit zwei Rheinischen Zeitungen gescheitert und nun auch mit einer alles vernichtenden Revolution. Man kann sich unschwer vorstellen, in welche Rage ihn diese Ausweisung aus Preußen versetzen mußte, aber was hatte dies mit der deutschen Gesellschaft zu tun? Marx antwortete auf diesen Regierungsbeschluß in der letzten roten Ausgabe der NRZ vom Karl Marx/Friedrich Engels: Verhaftungen, in: MEW. Bd. 5, Berlin 1969, S. 168. Karl Marx/Friedrich Engels: Der Prozeß gegen den Rheinischen Kreisausschuß der Demokraten [Verteidigungsrede von Karl Marx], in: MEW. Bd. 6, Berlin 1968, S. 257 (Hervorhebungen im Original. NRZ Nr. 231 vom 25. Februar 1849). 18 Zitiert in: MEW. Bd. 6, Berlin 1968, S. 503. Dort auch die beiden nächsten Zitate. 19 Zitiert von Werner Ziegenfuß: Die bürgerliche Welt, Berlin 1949, S. 191. In einem Brief an Ernst Moritz Arndt. 16 17

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19. Mai 1849, die in 20.000 Exemplaren gedruckt wurde, mit der Wiederholung eines früheren Artikels, um zu zeigen, daß er den angeblichen Kannibalismus der Konterrevolution schon lange bekämpft habe. Er vertrat die Ansicht, „daß es nur ein Mittel gibt, die mörderischen Todeswehn der alten Gesellschaft, die heutigen Geburtswehn der neuen Gesellschaft abzukürzen, zu vereinfachen, zu konzentrieren, nur ein Mittel – den revolutionären Terrorismus“.20 In völliger Verkennung der politischen Verhältnisse der von preußischen Truppen niedergeschlagenen revolutionären Aufstände und in der gewohnten emotionalen Emphase behauptete Marx: „Wir haben die revolutionäre Ehre unsers heimischen Bodens gerettet.“21 Besteht darin „die Marxsche Utopie einer humanen und herrschaftsfreien Gesellschaft“,22 die moderne Autoren der Marx-Renaissance dem Historiker und Philosophen gerne andichten möchten, daß man zerstörerischen Terrorismus propagiert? Nach den gescheiterten revolutionären Aufständen in allen Bundesstaaten Deutschlands, der militärischen Vertreibung der Nationalversammlung aus Frankfurt und nach den enttäuschenden Erfahrungen mit den deutschen Arbeitern, die sich gar nicht mit ihrer kommunistischen Mission anfreunden wollten, wurde Marx aus Preußen ausgewiesen, weil er seit seinem Brüsseler Austrittsantrag kein preußischer Staatsbürger mehr war und auch nie mehr werden sollte. Was blieb ihm eigentlich noch an realistischen Lebenschancen übrig? Die akademische Karriere war gescheitert, als Zeitschriften- oder Zeitungsredakteur hatte er Schiffbruch erlitten, die vielversprechende Revolution, mit der er und Engels später ihre Wunschvorstellungen eines Millionärsdasein verknüpften, war durch die Bajonette erzkonservativer und arbeiterfeindlicher Regierungen zerstört worden und in vielen europäischen Staaten kehrte Grabesruhe ein. Marx suchte nach kurzem Aufenthalt in Paris, wo er unter dem Namen Ramboz in der Rue de Lille wohnte, seit Ende August 1849 Zuflucht in London, was Engels, der die englischen Verhältnisse gut kannte, ihm ja schon lange vorher ‚angedroht‘ hatte. Von einem intelligenten, die Realität oder den Materialismus akzeptierenden Menschen könnte man annehmen, daß derartige Enttäuschungen seiner revolutionären Erwartungen ihn auf den Boden der Tatsachen zurückführen würden, doch Marx konnte auch in London nicht aus seiner revolutionären Haut schlüpfen bzw. Revolution schien in sein Gehirn eingeschweißt. Wir nähern uns allmählich einer Lebensphase von Marx, die seinen weltweiten Ruf als unbeugsamer Revolutionär begründen sollte, die aber vor allem deshalb besonders interessant ist, weil sie sich bis zu seinem Tod fast ausschließlich in London abspielte. London war die Hauptstadt des Imperiums, das alle kapitalistischen Merkmale an sich trug, die Marx durch eine Arbeiterrevolution vernichten wollte, die ihn aber trotz seines Zerstörungsfanatismus in ihren Mauern tolerierte. Marx’ brutale Aufforderung zu einem Bürgerkrieg – wie er ja bereits in den Tagen nach 20 21 22

MEW. Bd. 6, Berlin 1968, S. 505 (Hervorhebungen im Original). Ebd., S. 506. W. Wippermann: Der Wiedergänger (wie Anm. 13), S. 133.

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dem 23. Juni 1848 in Paris mit Tausenden von Toten ausgefochten worden war – konnte allerdings den kommunistischen Revolutionären nicht genügen. Denn sie wollten ja das gesamte kapitalistische System in allen Staaten vernichten, wo sich das Industriesystem ausgebreitet hatte; das wurden nicht nur in Europa immer mehr. Ihr unerschütterlicher Irrglaube bestand in einer sozialen Revolution, d. h. der endgültigen Beseitigung des verhaßten Kapitalismus und aller seiner Vertreter, das dann durch etwas ersetzt werden sollte, was selbst in den umfangreichen Werken von Marx und Engels nur als unerreichbare theoretische Nebelschwaden auftaucht. Im letzten Artikel in der NRZ wollte Marx jedoch noch einmal zeigen, mit welcher terroristischen Rigorosität er dieses System zu bekämpfen beabsichtigte, ja wenn, wenn das unterdrückte und ausgebeutete Proletariat nur seinen diktatorischen Anweisungen folgte: „Wir sind rücksichtslos, wir verlangen keine Rücksicht von euch. Wenn die Reihe an uns kömmt, wir werden den Terrorismus nicht beschönigen. Aber die royalistischen Terroristen, die Terroristen von Gottes- und Rechts-Gnaden, in der Praxis sind sie brutal, verächtlich, gemein, in der Theorie feig, versteckt, doppelzüngig, in beiden Beziehungen ehrlos.“23 Besteht etwa in diesem terroristischen Programm „die reale Freiheit aller Menschen“, wie der Münchener Kardinal Reinhard Marx sie bei seinem Namensvetter vermutet? Wir müssen uns ernstlich fragen, ob wir es mit unserer moralischen Einstellung vereinbaren können, die rücksichtslose Aufforderung zu einem solchen brutalen Vorgehen zu tolerieren, das einem unübertroffenen Revolutionsfanatismus gleicht, selbst wenn wir davon überzeugt sind, daß dessen Realisierungschancen gleich Null sind. Engels beschrieb das Ende der Neuen Rheinischen Zeitung, die „die Fahne des zertretenen Proletariats hochgehalten hatte“,24 1884 in einem rosigeren militärischen Licht: „Wir mußten unsere Festung übergeben, aber wir zogen ab mit Waffen und Bagage, mit klingendem Spiel und mit der fliegenden Fahne der letzten, roten, Nummer, in der wir die Kölner Arbeiter vor hoffnungslosen Putschen warnten“.25 Jedem vernünftigen Menschen, wenn er mit aufmerksamen Sinnen die politische Entwicklung beobachtete, war Mitte 1849 sonnenklar, daß die restaurativen Kräfte mit ihrer militärischen Übermacht die revolutionären Aufstände entscheidend niederschlagen würden, nachdem Preußen und Österreich sich dazu entschlossen hatten, zur Niederschlagung der Aufständischen Militär einzusetzen. Es MEW. Bd. 6, Berlin 1968, S. 505 (Hervorhebungen im Original). Nathaniel Weyl: Karl Marx, New York 1979, S. 26, äußerte sich erstaunt darüber, daß Millionen Menschen Marx als einen Menschenfreund ansähen und schreibt: „Yet, the real, historic, living Marx was a man who glorified war. He dreamed of total wars, conducted by entire peoples under arms, lasting for decades and generations, wars that would shatter capitalist civilization and steel the proletariat for the ruthless exercise of dictatorial power. The real Marx was hag-ridden by racial prejudices. His demonic visions of a future totalitarian inferno were aspects of his destructive personality.“ 24 Friedrich Engels: Marx und die „Neue Rheinische Zeitung“ 1848 – 49, in: MEW. Bd. 21, Berlin 1973, S. 22. 25 Ebd., S. 23. 23

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war klar, daß der Versuch einer Rückkehr zu den alten Zuständen angestrebt wurde, die kaum noch und wenn doch, höchstens marginal, revidierbar waren. Nur Marx und Engels hofften vier Tage nach dem erfolglosen Sturm von Handwerkern und Arbeitern auf das Berliner Zeughaus und nachdem die Anführer des Zeughaussturmes zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren, in einem Artikel in der Neuen Rheinischen Zeitung vom 18. Juni 1848 auf ein Zukunftswunder: „Noch aber ist die Bastille nicht gestürmt … Der Zar wird die deutsche Revolution retten, indem er sie zentralisieren wird.“26 Stephan Born, der als Vertreter des Handwerkervereins zusammen mit der Bürgerwehr vor dem Zeughaus Wache hielt und den Plünderern die erbeuteten Waffen abnahm, „darunter auch neuerfundene Zündnadelgewehre“,27 hatte während des nächtlichen Heimgangs den erhärteten Verdacht, „daß ich hier einem von der Reaktion ausgeheckten und in Szene gesetzten politischen Schachzug beigewohnt hatte“. Dieser Verdacht wurde später durch den Historiker Adolph Schmidt, der über Dokumente des Bürgerwehrkommandanten Otto Rimpler verfügte, erhärtet. Dagegen wich das ungeheure Ausmaß der ideologischen Verblendung einer bevorstehenden Revolution, die das verhaßte System hinwegfegen würde, auch in Paris nicht von Marx, der zwar die schamlose „royalistische Reaktion“28 in der französischen Hauptstadt beklagte, aber trotzdem glaubte, es stünde „ein kolossaler Ausbruch des Revolutionskraters nie näher bevor als jetzt zu Paris“. Selbst wenn die 1848er Revolution eine größere Umsturzwelle in europäischen Staaten auslöste wie die von 1830, so war sie gegenüber der Großen Revolution von 1789 doch nur ein milder Abklatsch, ohne daß eine europäische Monarchie hinweggefegt worden wäre. Marx und Engels konnten sich aber auch noch am 14. September 1848 nicht von der illusionären Vorstellung lösen, daß sie auf „revolutionären Boden“29 stünden und nur die konterrevolutionäre Kamarilla von Adel, Bürokratie und Militär für eine gewisse Zeit den Sieg der Arbeiter, die Errichtung einer echten revolutionären Macht, verhindern könnten: „Jeder provisorische Staatszustand nach einer Revolution erfordert eine Diktatur, und zwar eine energische Diktatur.“ (Auch die Nationalsozialisten bezeichneten die Machtübernahme am 30. Januar 1933 als ‚Revolution‘, aber die Diktatur, die sie anschließend errichteten, war nicht nur ‚energisch‘, sondern totalitär). In Frankreich wurde zwar nach dem Sturm auf das Palais Royal die Zweite Republik ausgerufen und Nationalwerkstätten errichtet, um das ‚Recht auf Arbeit‘ durchzusetzen, aber mit der republikanischen Verfassung vom 4. November 1848 wurden die Arbeiterrechte wieder eingeschränkt und an die Spitze der Exekutive ein Präsident gewählt. Ein Jahr später gewann Charles Louis Napoléon Bonaparte diese Wahl, der sich ein Jahr nach der Auflösung der 26 Karl Marx/Friedrich Engels: Die Vereinbarungsversammlung vom 15. Juni, in: MEW. Bd. 5, Berlin 1969, S. 79 (Hervorhebung im Original). 27 S. Born: Erinnerungen (wie Anm. 11), S. 74. Dort auch das nächste Zitat. 28 MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 137. Dort auch das nächste Zitat. 29 Karl Marx/Friedrich Engels: Die Krisis und die Kontrerevolution, in: MEW. Bd. 5, Berlin 1969, S. 402 (Hervorhebung im Original). Dort auch das nächste Zitat.

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Nationalversammlung am 2. Dezember 1852 zum Kaiser erklären ließ und damit alle revolutionären Ansätze im Keim erstickte. Während die Große Revolution die französische Monarchie für mehrere Jahrzehnte niedergerungen hatte, betrug die Übergangsfrist für einen französischen Monarchen nach 1848 gerade einmal etwas mehr als vier Jahre. Wie aber standen die Revolutionäre zur 1848er Revolution? Marx z. B. kam die realistische Gefahr, daß in einer neuen Revolution auch einige Revolutionäre wie er selbst ihr Leben lassen müssen, offenbar nicht in den Sinn, obwohl im Juni 1848 in Paris ein Arbeiteraufstand blutig niedergeschlagen wurde. Diese Gefahr war ihm in seiner terroristischen Rücksichtslosigkeit wohl auch ziemlich egal. Engels kommentierte den vergeblichen Sturm auf das Zeughaus in Berlin am 14. Juni 1848 folgendermaßen: „Die Berliner Linke benimmt sich überhaupt immer feiger, immer zweideutiger. Diese Herren, die bei den Wahlen das Volk exploitiert haben, wo waren sie in der Nacht vom 14. Juni, als das Volk aus bloßer Ratlosigkeit die gewonnenen Vorteile bald wieder fahren ließ, als nur ein Führer fehlte, um den Sieg vollständig zu machen?“30 Wir müssen dabei berücksichtigen, daß das vaterländische Heroenpathos, für die eigene Nation oder für eine revolutionäre Idee zu sterben, im 19. Jahrhundert sehr viel stärker ausgeprägt war als heute. Das ritterliche Duell mit tödlichem Ausgang, das Marx ja in seiner Kölner Studentenzeit wahrscheinlich mitgemacht hatte, wurde im 19. Jahrhundert als eine Frage der männlichen Ehre hochstilisiert und der vielgerühmte Arbeiterführer Ferdinand Lassalle verlor 1864 dabei sein Leben. Erst einige Zeit nach der gescheiterten Revolution 1848/49 besannen sich Marx und Engels auf eine neue revolutionäre Strategie, nämlich die Revolution in Permanenz, wie sie ja ein Jahrhundert später auch in der Sowjetunion durch Leo Trotzki und in der DDR durch das Politbüro permanent beschworen wurde. Der revolutionäre Prozeß sollte so lange andauern, bis alle besitzenden und alle herrschenden Klassen von der ökonomischen und politischen Macht vollständig verdrängt sind und die gesamte Staatsgewalt in den Händen des Proletariats ruht: „Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen.“31 Die ‚permanente Revolution‘ war in den ersten Jahren in London ein geschicktes Ausweichmanöver, um die revolutionsfreudigen Anhänger damit zu vertrösten, daß bürgerliche und proletarische Revolution in manchen Geschichtsepochen zusammenfallen könnten: „Wenn die deutschen Arbeiter nicht zur Herrschaft und Durchführung ihrer Klasseninteressen kommen können, ohne eine längere revolutionäre Entwicklung ganz durchzumachen, so haben sie diesmal wenigstens die Gewißheit, daß der erste Akt dieses bevorste30 Friedrich Engels: Die Vereinbarungssitzung vom 17. Juni, in: MEW. Bd. 5, Berlin 1969, S. 89 (Artikel in der NRZ Nr. 20 vom 20. Juni 1848). 31 Karl Marx/Friedrich Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, in: MEW. Bd. 7, Berlin 1969, S. 248.

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henden revolutionären Schauspiels mit dem direkten Siege ihrer eigenen Klasse in Frankreich zusammenfällt und dadurch sehr beschleunigt wird.“32 In einem revolutionären Zeitalter, in dem innerhalb von sieben Jahrzehnten in Europa nicht nur mehrere Revolutionen, sondern auch Kriege stattfanden, kann eine solche Revolutionseuphorie vielleicht nachempfunden werden, aber wieso Millionen Marxisten sich von einer permanenten Revolution existentielle Vorteile erhofften, ist unverständlich und unerklärlich. Wenn wir den ersten Satz von Marx’ Schrift Die Klassenkämpfe in Frankreich – geschrieben 1850, aber erst 1895 in der Ausgabe von Engels vollständig veröffentlicht – lesen, könnte man annehmen, Marx habe die militärische Übermacht der revolutionsfeindlichen europäischen Regierungen nach den revolutionären Aufständen 1848/49 eingesehen: „Mit Ausnahme einiger weniger Kapitel trägt jeder bedeutende Abschnitt der Revolutionsannalen vom 1848 bis 1849 die Überschrift: Niederlage der Revolution!“33 Doch der folgende Abschnitt belehrt uns darüber, wie man ein politisches Scheitern auch verstehen und interpretieren kann: „Was in diesen Niederlagen erlag, war nicht die Revolution. Es waren die vorrevolutionären traditionellen Anhängsel, Resultate gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich noch nicht zu scharfen Klassengegensätzen zugespitzt hatten – Personen, Illusionen, Vorstellungen, Projekte, wovon die revolutionäre Partei vor der Februarrevolution nicht frei war, wovon nicht der Februarsieg, sondern nur eine Reihe von Niederlagen sie befreien konnte.“ Weil die Revolution totgeschossen wurde, könnte man etwas ironisch formulieren, lebt die Revolution munter weiter – „Und wir rufen: Die Revolution ist tot! – Es lebe die Revolution!“34 Denn die siegreiche Konterrevolution habe den revolutionären Fortschritt einer entstehenden, mit allem traditionellen Ballast beladenen revolutionären Partei erst ermöglicht und wurde damit zum „Treibhaus der Revolution“.35 Die Hegelsche Logik oder die logischen Purzelbäume, die Marx vorführte oder uns abverlangt, können nur diejenigen als bare Münze ansehen, die bereit sind zu glauben, daß man terroristische Gewalt nur mit terroristischer Gegengewalt besiegen könne oder daß eine wegen traditioneller Anhängsel in einem Krieg besiegte Nation sich nur aus dieser Niederlage befreien könnte, wenn sie diesen siegreichen Staat in einer revolutionären Aktion vernichtet – und dieses Vorgehen nannte Marx und die Marxisten Fortschritt! Die erschreckende Unfähigkeit, die nüchternen Tatsachen in das ideologische Kalkül miteinzubeziehen, zeigte sich in dieser neuerlichen Flucht vor der widerborstigen Realität, die auch dadurch ausgelöst wurde, daß die Londoner Zentralbehörde am 15. September 1850 den Bund der Kommunisten in zwei verfeindete Lager aufspaltete. Diese Spaltung führte zwei Jahre später zum Exodus, aber damit war keineswegs die Geschichte an ein Ende gekommen, wie dies Francis Ebd., S. 253 f. Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: MEW. Bd. 7, Berlin 1969, S. 11. Dort auch das nächste Zitat (Hervorhebungen im Original). 34 Ebd., S. 34 (Hervorhebung im Original). 35 Ebd., S. 94 (Hervorhebung im Original). 32 33

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Fukujama noch 1992 beschwor. Marx ließ sich nicht so schnell von widerlegenden Tatsachen beeindrucken, sondern hielt unverbrüchlich an seinen ideologischen Vorstellungen fest, weil er davon überzeugt war, daß die Arbeiter sich nicht von den bürgerlichen Demokraten oder der bürgerlichen Demokratie „betrügen“ ließen, sondern die siegreiche Revolution bald durchgeführt werden könnte: „Es versteht sich, daß bei den bevorstehenden blutigen Konflikten, wie bei allen früheren, die Arbeiter durch ihren Mut, ihre Entschiedenheit und Aufopferung hauptsächlich den Sieg werden zu erkämpfen haben.“36 Schon bald nach seiner abenteuerlichen Flucht aus Köln nach Paris über Baden und die Pfalz, wo noch einzelne Aufstände Ende Mai 1849 stattgefunden hatten, an denen sich Friedrich Engels beteiligte, schrieb Marx am 7. Juni von dort an Engels in Kaiserslautern: „Ich komme mit der ganzen revolutionären Partei zusammen und werde in einigen Tagen sämtliche Revolutionsjournale zu meiner Verfügung haben.“37 Die kleine wie die große Realität schien Marx völlig abhanden gekommen zu sein, gleichgültig ob es sich um Revolution oder um Klassenkämpfe handelte. Die Menschheitsgeschichte etwa als eine Aneinanderreihung von Klassenkämpfen zu interpretieren, die sich dann nach einer erfolgreichen Revolution in eine klassenlose Gesellschaft auflösen, ähnelt dem Glauben an das Horoskop oder an übernatürliche Kräfte, die Menschen ja ebenfalls zu irrationalen Handlungen verleiten und die durch eine rationale Analyse selten verändert werden können. Weil die demokratischen Kleinbürger eine Revolution wie die von 1848 möglichst schnell beenden wollten, ist es nach Marx und Engels ihre Aufgabe, „die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit fortgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat“.38 Revolution in Permanenz ist jedoch eine solche begriffliche Paradoxie, daß man bei nüchterner Betrachtung nur zu dem Schluß gelangen kann, realitätsblinder Dogmatismus hat Marx’ Denken vernebelt. Doch selbst hervorragende Wissenschaftler, wie der deutsch-jüdische Gelehrte Franz Oppenheimer, der erste deutsche Ordinarius für Soziologie (1919 – 1929) in Frankfurt am Main, dessen Schriften 1933 in Deutschland verboten wurden, wollen Marx vor den offensichtlichen Einseitigkeiten und Verdrehungen in Schutz nehmen: „Er war ein viel zu grosses Ingenium, um dogmatisch-verbohrt an seinen eigenen Formeln zu kleben.“39 Diese Londoner Illusion kann teilweise damit erklärt werden, daß Marx in der Zentralbehörde keine führende Stellung einnahm und auch nicht bereit war, einen Kompromiß einzugehen und mit seinen Gegnern eine Verhandlungslösung anzuK. Marx/F. Engels: Ansprache der Zentralbehörde (wie Anm. 31), S. 249. MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 137 (Hervorhebung im Original). 38 K. Marx/F. Engels: Ansprache der Zentralbehörde (wie Anm. 31), S. 248. 39 So in einer Rezension des Buches von Eduard Bernstein: Zur Geschichte und Theorie des Socialismus, Bern/Berlin 1901, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft, IV. Jg., 1901, S. 210. 36 37

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streben. Der uneingestandene Anschein, daß er mit seiner Revolutionstheorie gescheitert war, mag ebenfalls zu seiner unversöhnlichen Stimmung beigetragen haben. Er war ja schon in Deutschland wegen seiner revolutionären Phantasien selbst bei wohlwollenden Mitstreitern in die Kritik geraten und die politischen Organe hätten ihn sicher gerne in ein Zuchthaus eingesperrt und damit mundtot gemacht. Die heftigen Auseinandersetzungen mit den früheren Weggefährten konnte auch durch leidenschaftliche Appelle an die revolutionären Arbeiter nicht geschlichtet werden. Konrad Bernhard Schramm aus Crefeld war im Juni 1846 aus der Garnison in Deutz, wo er seinen Militärdienst ableisten sollte, in die USA geflohen und als amerikanischer Bürger zurückgekehrt. Während der Revolution in Köln wurde er verhaftet und zu zwei Jahren Festungshaft in Jülich verurteilt, von wo er am 8. September 1849 nach London floh. Trotzdem forderte er August Willich sogar zum Duell heraus, das in Antwerpen mit einer Verwundung Schramms endete. Das Resultat war, daß die beiden Fraktionen des Bundes der Kommunisten unversöhnlich auseinander gingen und sich endgültig trennten, was Marx ebenfalls belastet haben kann.40 Am 27. Juni 1851 schrieb Marx an Joseph Weydemeyer in Frankfurt a. M. über Willich: „Der Kerl ist ein Schmarotzer der gemeinsten Sorte – alles natürlich unter patriotischen Vorwänden.“41 Marx’ persönliche Wut kann man vielleicht noch nachvollziehen, doch wie konnten Tausende von gebildeten Marxisten daran glauben, daß jegliche Konkurrenz unter den Arbeitern durch eine Beseitigung der herrschenden Klasse von der Staatsgewalt verschwinden würde? Sie hätten von dem Weggefährten von Marx, dem englischen Ökonomen und Sozialwissenschaftler John Stuart Mill (1806 – 1873), der eine Reihe von französischen wie englischen Betriebsgenossenschaften in den 1840er Jahren beschreibt, die die Arbeiter neben einem angemessenen Lohn am Gewinn beteiligten, lernen können: „Mit sittlichen Anschauungen, die in mancher Beziehung der bestehenden Gesellschaftsverfassung weit voraus sind, haben die Sozialisten im allgemeinen sehr verwirrte und falsche Anschauungen über das tatsächliche Wirken dieser Gesellschaft verbunden; und einer ihrer größten Irrtümer ist nach meiner Auffassung, daß sie der Konkurrenz alle wirtschaftlichen Übel der heutigen Zeit zur Last legen.“42 Der Volksmund sagt, Not lehre beten, aber da atheistische Ideologen damit nichts anfangen können, mußten sie sich darauf verlegen, den himmlischen Traum vom proletarischen Paradies weltweiter Staatsgewalt möglichst umfassend zu propagieren, um die endgültige Herrschaft zu übernehmen. Das war das ideologische Ausführlich beschrieben von David McLellan: Karl Marx, München 1974, S. 269 ff. MEW. Bd. 17, Berlin 1973, S. 559 (Hervorhebung im Original). Und nachdem er Weydemeyer mitgeteilt hatte, daß er sich während der Woche meistens von morgens 9 bis abends 7 Uhr im Britischen Museum mit ökonomischen und politischen Material herumschlage, legte er nach: „Es ist ja alles so einfach, pflegte der wackre Willich mir zu sagen. Alles so einfach! In diesen wüsten Köpfen. – Höchst einfache Kerls!“ (S. 560, Hervorhebung im Original). Später rächte er sich an Willich mit einem im Januar 1854 in New York erschienenen Schriftchen Der Ritter vom edelmüthigen Bewußtsein (vgl. MEW. Bd. 9, Berlin 1970, S. 491 – 518). 42 John Stuart Mill: Grundsätze der politischen Ökonomie. II. Bd., Jena 1921, S. 451. 40 41

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Programm im Londoner Exil. Die politische Realität in der französischen Hauptstadt nach Ende der revolutionären Aufstände war jedoch viel prosaischer, denn die Pariser Polizei entdeckte bald Marx’ kommunistische Umtriebe und sandte ihm am 16. August 1849 einen Ausweisungsbefehl und die unabänderliche Anordnung zu, seinen Wohnsitz nach Vannes in der Bretagne zu verlegen, worauf Marx am 23. August an Engels schrieb: „Ich bin nach dem Departement Morbihan verwiesen, den Pontinischen Sümpfen der Bretagne. Du begreifst, daß ich auf diesen verkleideten Mordversuch nicht eingehe. Ich verlasse also Frankreich.“43 Ganz so dramatisch war die Angelegenheit nun doch nicht, denn die französische Polizei in Paris stellte Marx einen Tag später einen Reisepaß aus, damit er das Land ohne irgendwelche Belästigung verlassen konnte. In London versuchte Marx mit anderen früheren deutschen Mitgliedern der Zentralbehörde, wie Johann Georg Eccarius, Karl Pfänder, Karl Schapper, Konrad Schramm, August Willich und natürlich Friedrich Engels, den Bund der Kommunisten zu reorganisieren, denn die Revolution war ja in ihren Köpfen keineswegs beendet. Noch bei der Analyse des deutsch-französischen Krieges 1870/71 konnte sich Marx nicht von der Illusion befreien, daß englische, französische und deutsche Arbeiter sich brüderlich die Hand reichten und „die Allianz der Arbeiter aller Länder schließlich den Krieg ausrotten wird“.44 Dabei war es doch offensichtlich, daß die nationalistische Ideologie deutscher, chauvinistischer Militaristen auch die Arbeiterschaft erfaßt hatte und der brudermörderische Kampf nicht durch wohlklingende Appelle von Frieden und Freundschaft beendet werden konnte. Die kriegsbereite, klassenlose Gesellschaft, ob in der UdSSR, in der DDR, in Nordkorea oder in Vietnam, hat eben nicht bewiesen, „daß, im Gegensatz zur alten Gesellschaft mit ihrem ökonomischen Elend und ihrem politischen Wahnwitz, eine neue Gesellschaft entsteht, deren internationales Prinzip der Friede sein wird, weil bei jeder Nation dasselbe Prinzip herrscht – die Arbeit!“

B. Der darbende Marx und seine Geldnot Das industrialisierte und zentralistische England, der in Politik und Ökonomie am weitesten fortgeschrittene europäische Staat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war von der französischen Revolution völlig unberührt geblieben, aber es war liberal genug, neben Hunderten von anderen Emigranten den beiden größten Revolutionären und Terroristen Asyl zu gewähren. Solange die Emigranten sich an die britischen Gesetze hielten und keine strafrechtlichen Vergehen begingen, wurden sie in dieser Kapitalistenhochburg geduldet und konnten sogar englische Staatsbürger werden. Kaum war Marx in London eingetroffen, brauchte er Geld – obwohl er Engels geschrieben hatte, „in London werden wir Geschäfte machen“ –, MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 142. Karl Marx: Erste Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg, in: MEW. Bd. 17, Berlin 1973, S. 7. Dort auch das nächste Zitat (Hervorhebungen im Original). 43

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denn er hatte kein Einkommen und kein Vermögen, das er verschwenden konnte. Die Geschäftemacherei bezog sich natürlich nicht auf finanzielle Einkünfte durch eine solide Berufstätigkeit, sondern auf das eigenartige Verhältnis zwischen dem Geldgeber Engels – der am 11. September 1849 eine Ausreisegenehmigung in der Schweiz erhalten hatte und von Genua nach London mit dem Schiff übersetzte – und dem Theoriegeber Marx, das bis zu dessen Tod anhielt. Das Erbkapital aus dem Grundstück in Trier, das seine Mutter für ihn verkauft hatte, war der sprichwörtliche Tropfen auf einen heißen Stein, aber er war bald verdampft, weil Marx sich eine vornehmere Unterkunft mietete. Am 5. September 1849 schrieb Marx an Ferdinand Freiligrath in Köln, der ihm 100 Francs geschickt hatte: „Ich bin nun wirklich in einer schwierigen Lage. Meine Frau ist hochschwanger, den 15ten muß sie von Paris fort, und ich weiß nicht, wie ich die zu ihrer Abreise und zur hiesigen Ansiedlung nötigen Gelder auftreiben soll.“45 In dieser krisenhaften Situation kam es Marx gelegen, daß ein junger Anwalt, Ferdinand Lassalle (1825 – 1864), der in Paris, wo er 1845 seinen Namen von Lasal zu Lassalle französierte, die sozialistischen Ideen von Louis Blanc kennengelernt hatte, für Marx Geld sammelte. Lassalle wurde 1854 dadurch sehr bekannt, daß er den Scheidungsprozeß von Sophie Gräfin von Hatzfeldt, die er 1846 in Breslau kennengelernt hatte, nach mehrjährigen Gerichtsverhandlungen durch mehrere Instanzen erfolgreich abschloß und daraufhin eine Rente von der Gräfin erhielt. An der Revolution von 1848/49 war er nur am Rande beteiligt, denn er mußte ein halbes Jahr im Gefängnis wegen seiner revolutionären Aktivitäten absitzen und danach führte er insgesamt in acht Jahren 36 Prozesse für die Gräfin. Eigentlich wird die Sammeltätigkeit für einen armen Menschen, hier von Lassalle für Marx, durch eine christliche Einstellung hervorgerufen, aber in diesem Fall ging es weniger um Armut, sondern um die Aufrechterhaltung eines bestimmten Lebensstandards. Denn die Familie Marx sollte vom Vermieter ihrer Wohnung in London gepfändet werden, worauf Konrad Schramm, Mitglied des deutschen Bildungsvereins für Arbeiter in London, die Mietzahlung vorschoß. Am 28. Dezember 1850 erklärten Konrad Schramm, Wilhelm Liebknecht und Ferdinand Wolff ihren Austritt aus der Londoner Sektion des Bundes der Kommunisten, aber am 5. Januar 1851 distanzierte sich Wolff wieder von diesem Schritt; allerdings war daraufhin das Verhältnis Marx zu Schramm ziemlich gestört. Dies geht deutlich aus einem Brief an Engels vom 31. Juli 1851 hervor, wo Marx behauptete, Schramm habe „in jeder, der hundsföttischsten Weise gegen uns integriert, gelogen usw.“46 Friedrich Engels sah sich ebenfalls wegen der finanziellen Notlage von Marx genötigt – nach sechsjährigem „Berufsleben“ als Revolutionär auf europäischer Bühne –, wieder in das Zweiggeschäft seines Vaters Ermen & Engels in Manchester einzusteigen, um sich und die Marxsche Familie finanziell über Wasser halten zu können. Zwar schrieb ihm sein Vater, er „verbrauche viel zuviel Geld und müsse mit £ 150 auskommen. Ich werde mir diese lächerliche Zumutung natürlich nicht 45 46

MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 512. Ebd., S. 292.

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gefallen lassen, um so weniger, als sie mit der Drohung begleitet ist, nötigenfalls die Ermens anzuweisen, mir nicht mehr als diese Summe auszuzahlen.“47 Am 31. August 1864, dem Todestag Lassalles, war Engels zum Teilhaber der Fabrik seines Vaters in Manchester ernannt worden, was zweifellos eine Anerkennung seiner unternehmerischen Fähigkeiten bedeutete, ihm aber eine größere Verantwortung für das Unternehmen aufbürdete sowie weniger Zeit für seine kommunistischen Aktivitäten ließ. Es war ihm klar, daß er in dieser Stellung für sozialistische oder kommunistische Arbeiter ein rotes Tuch sein mußte, weshalb er am 13. Februar 1865 an Marx schrieb: „Paß auf, die Knoten [das waren die Arbeiter, H.K.] werden sagen, was will der Engels, was hat der die ganze Zeit getan, wie kann der in unsrem Namen sprechen und uns sagen, was wir tun sollen, der Kerl sitzt in Manchester und exploitiert die Arbeiter usw. Das ist mir nun zwar total Wurst, aber das kommt sicher, und das haben wir dem Baron Itzig [Lassalle. Wahrscheinlich stammt diese Bezeichnung von dem Hofjuden und Bankier Isaak Daniel Itzig (1750 – 1806), H.K.] zu verdanken.“48 Was dies konkret bedeutete, werden wir bald hören, aber die Lassallesche Mischung aus erfolgreichem Juden und begeisterndem Arbeiterführer war für die marxistischen Dogmatiker nicht nur ein rotes Tuch, sondern verleitete sie zu einer menschlich erbärmlichen Einstellung. Das vordringliche Anliegen Engels’ bestand damals vor allem darin, Marx mit soviel Geld zu versorgen, daß er nicht verhungern mußte; der Jude Lassalle wollte oder konnte dies nicht übernehmen. Dagegen behauptete der Mitautor des 1875 veröffentlichten Gothaer Programms der Sozialdemokraten und späterer Revisionist Eduard Bernstein (1850 – 1932), der 1901 nach Aufhebung des Haftbefehls durch Reichskanzler Bernhard von Bülow aus dem Londoner Exil nach Deutschland zurückkehrte, „daß das Bewußtsein, von jüdischer Herkunft zu sein, Lassalle eingestandenermaßen noch in vorgeschrittenen Jahren peinlich war“49 und daß es ihm nie gelang, sich über sein Judentum hinwegzusetzen, weswegen er einen „trotzigen Fanatismus des Widerstandes“50 entwickelt habe. Diese Ansicht ist schon deswegen unbegründet, weil sich in der Nachrevolutionszeit in ganz Deutschland Emanzipationsbemühungen ausbreiteten und Lassalle sich wie viele andere Juden hätte taufen lassen können, wenn er mit seiner Religion nicht mehr einverstanden gewesen wäre. Engels wollte sich eigentlich gar nicht stark in der Zweigfirma seiner Vaters in Manchester engagieren und versuchte deshalb, möglichst bald aus der Firma auszusteigen, um sich ganz dem revolutionären Kampf für die wurstigen Knoten zu widmen, was allerdings noch einige Jahre dauerte. Das hatte vor allem materielle Gründe, d. h. das unbefriedigende finanzielle Auskommen Marx’ und seine ständigen Geldnöte. Engels’ dauernde Bereitschaft, Marx finanziell zu unterstützen, 47 Engels an Marx am 8. September 1851, in ebd., S. 336. Er müsse sich aber etwas einschränken, „da ich summa summarum hier schon £ 230 vermöbelt habe und bis zum November, wo ich ein Jahr hier bin, diese Summe nicht zu sehr steigern darf“ (ebd.). 48 MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 69. 49 Eduard Bernstein: Ferdinand Lassalle, Berlin 1919, S. 28 f. 50 Ebd., S. 29.

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war zwar als Teilhaber der Firma gestiegen, aber seine schriftstellerische Tätigkeit als kommunistischer Agitator war eingeschränkt, was ihn psychisch schwer belastete, wenigstens mehr als die kritischen Ansichten von Arbeitern, die ihn als einen Vertreter des verdammten Kapitals beschimpften. Nach Engels Ansicht waren die finanziellen Kalamitäten von Marx nur vorübergehend, weil die publizierte Revolutionstheorie bald üppige Einkünfte abwerfen müßte, die Marx’ Geldsorgen beseitigten. Er glaubte irrigerweise, daß die Honorare aus dem Verkauf von Marx’ Kapital alle Geldnöte zum Verschwinden bringen könnten und wenn nicht, dann wäre ja noch die bevorstehende Revolution, die „allen Finanzprojekten ein Ende macht“! Was man sich darunter vorzustellen hat, bleibt unklar, aber man könnte ja vermuten, daß bei einem Zusammenbruch der gesamten Gesellschaft wenigstens die Vermögen der Kapitalisten unter den Revolutionären aufgeteilt werden könnten, wenn nicht sogar die Banken ausgeplündert würden. Engels beklagte sich bei Marx über seine psychischen Befindlichkeiten in aller Offenheit: „Ich sehne mich nach nichts mehr, als nach Erlösung von diesem hündischen Commerce, der mich mit seiner Zeitverschwendung vollständig demoralisiert. Solange ich da drin bin, bin ich zu nichts fähig, besonders seitdem ich Prinzipal bin, ist das viel schlimmer geworden, wegen der größeren Verantwortlichkeit. Wenn es nicht wegen der vermehrten Einkünfte wäre, möchte ich wahrhaftig lieber wieder Kommis sein.“51 Doch Marx konnte ihm ja kaum raten, seine Stellung aufzugeben und die Zahlungen an ihn einzustellen, da er dann kaum noch eine Familie hätte ernähren können, ganz abgesehen davon, daß seine ökonomischen Studien hätten abgebrochen werden müssen. Unter diesen Umständen wäre er entweder darauf angewiesen gewesen, sich einen eigenen Beruf zu suchen, der ihm einen Mehrwert auszahlte, oder bei solidarischen Kommunisten um Geld zu betteln. Eines steht jedoch fest: Marx waren die Ansichten der Arbeiter völlig gleichgültig und unbedeutend, ebenso wie Engels: „Was die deutschen Knoten angeht, so mögen sie schreien, soviel sie wollen.“52 Die vielgepriesene Menschlichkeit von Marx, seine Arbeitersolidarität, sein angeblich unablässiger Kampf gegen die Ungerechtigkeiten eines ausbeuterischen Industriesystems, erweist sich bei einem konkreten Lackmustest als eine taktische Fälschung. Marxisten in kommunistischen, aber auch in kapitalistischen Staaten haben das Märchen vom arbeiterfreundlichen, bescheidenen Marx weltweit zu verbreiten versucht, doch es ist nichts anderes als eine plumpe Verdummung: „Unversöhnlich gegen ideologische Gegner, die unverbesserlichen Wirrköpfe und Sektierer sarkastisch verspottend, war Marx immer einfach, freundlich und aufmerksam gegenüber den der Sache der Arbeiterklasse treu ergebenen Revolutionären, gegenüber den Arbeitern.“53 Das eigentümliche Verhältnis zwischen diesen beiden Revolutionären beschränkte sich nicht nur auf finanzielle Aspekte, sondern Engels war gewillt, einen erheblichen schriftstellerischen Beitrag zum Kommunismus zu leisten, auch wenn 51 52 53

Brief an Marx vom 22. April 1867, in: MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 29. Brief an Engels vom 18. Februar 1865, in ebd., S. 77. P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (1973). 7. Aufl. Berlin 1984, S. 187.

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er Marx zu jeder Zeit als die geistige Führerpersönlichkeit anerkannte. Deshalb stieg ganz offensichtlich Engels Bereitschaft, die unternehmerische Tätigkeit an den Nagel zu hängen, mit jedem Tag, nachdem er fast zwanzig Jahre im Familienunternehmen tätig gewesen war. Als Gottfried Ermen ihm anbot, zum Ablauf des Vertrags am 30. Juni 1869 aus dem Geschäft auszusteigen und ihn mit einem großzügigen finanziellen Angebot abzufinden, wenn er sich bereit erklärte, fünf Jahre lang keine Konkurrenzfirma zu eröffnen, schrieb Engels am 29. November 1868 an Marx: „Kannst Du mit £ 350 für die gewöhnlichen regelmäßigen Bedürfnisse im Jahr auskommen (wobei ich Extrakosten durch Krankheit und unvorhergesehene Ereignisse ausschließe), d. h. so, daß Du dabei keine Schulden zu machen brauchst … Was nach obigen 5 – 6 Jahren geschehen wird, ist mir freilich selbst noch nicht klar. Wenn alles so bleibt, wie es jetzt ist, würde ich dann allerdings nicht mehr imstande sein, Dir jährlich £ 350 oder gar mehr zu überweisen, aber immer noch mindestens £ 150.“54 Ein solcher Betrag war eine Summe, die die Arbeitereinkünfte um ein Vielfaches übertraf und Marx eigentlich ein sorgenfreies Leben ohne zusätzliche Einnahmen hätte ermöglichen sollen, wenn er in finanziellen Dingen besser gehaushaltet hätte. „An Hand der Korrespondenz hat man errechnet, daß er während der Jahre 1865 – 1869 von Engels 1.862 Pfund erhielt.“55 Damals war der erste Band des Marxschen Hauptwerks, Das Kapital, bereits erschienen, aber die Verkäufe waren in den ersten Jahren nach der Veröffentlichung so schleppend, daß keine Tantiemen anfielen und alle Hoffnungen auf ein einträgliches Einkommen begraben werden mußten. Was aber waren seine Einkünfte in den beiden Jahrzehnten seit der 1848er Revolution? Marx verdiente 1851 in London gar nichts, erst 1852 wurde er Korrespondent der New York Daily Tribune, die zwei seiner Artikel – die zuerst fast alle von Engels geschrieben wurden – pro Woche drucken wollte, was ihm höchstens 100 £ pro Jahr einbrachte. Aber er hatte „während der letzten Jahre mehr als 350 £ gebraucht“,56 d. h. er lebte weit über seine Verhältnisse und verbrauchte das Vielfache eines gewöhnlichen Arbeiters. Auf Dauer konnten die Artikel für eine New Yorker Zeitung Marx jedoch nicht befriedigen, nicht nur, weil sie ihn von seinen ökonomischen Studien abhielten, und er spielte öfter mit dem Gedanken, der New York Daily Tribune zu kündigen, die keineswegs alle seiner Artikel abdruckte, weil einige ihr zu extrem waren. Am 23. Januar 1857 schrieb er wutentbrannt an Engels, daß er am liebsten Dr. Abraham Jacoby kontaktieren würde, um bei der New York Times anzuheuern: „Es ist in der Tat ekelhaft, daß man verdammt ist, es als ein Glück zu betrachten, wenn ein solches Löschpapier einen mit in sein Boot aufnimmt. Knochen stampfen, mahlen und Suppe draus kochen wie die Paupers im Workhaus, darauf reduziert sich die politische Arbeit, zu der man reichlich in solchem concern verdammt ist. Als Esel bin ich mir zugleich bewußt, nicht grade in dieser letzten Zeit, aber während Jah-

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MEW. Bd. 32, Berlin 1974, S. 215 f. (Hervorhebung im Original). D. McLellan: Karl Marx (wie Anm. 40), S. 381. Brief an Engels vom 30. November 1868, in: MEW. Bd. 32, Berlin 1974, S. 217.

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ren, den Burschen zuviel für ihr Geld geliefert zu haben.“57 Dieser in Hartum bei Minden geborene Jacoby hatte von 1848 bis 1851 in Göttingen, Bonn und Berlin Medizin studiert und wurde am 12. Mai 1852 wegen hochverräterischen Komplotts in Köln unter Anklage gestellt, aber freigesprochen und ging einige Jahre danach in die USA. „Auf Grund eines unterm 14. Mai 1851 von Berlin aus an Bürgers geschriebenen Briefes wurden bei ihm in Berlin und bei zwei jungen Mädchen, den Schwestern Fanny und Sophie Meyer in Minden, mit denen er während der letzten Jahre correspondirt hatte, Haussuchungen vorgenommen und an beiden Orten Briefe und Papiere in Beschlag genommen, welche ihn der Betheiligung am Communistenbunde verdächtig machten.“58 Es ist erstaunlich, daß Marx trotz dieser anhaltenden finanziellen Kalamitäten nicht nur an seinem Revolutionsfanatismus festhielt, sondern fest auf die Spendenbereitschaft seines verantwortungsbeladenen Freundes vertraute, der ihm ja etliche Male mitgeteilt hatte, daß sein Vater seine Ausgabenfreude negativ beurteilte. Am 31. März 1851 schrieb Marx erneut an Engels, er habe „keinen farthing [ein Viertelpenny, H.K.] im Haus, um so mehr Rechnungen dagegen von dem kleinen commerce, Metzger, Bäcker and so forth“.59 Marx befleißigte sich zwar nicht des luxuriösen Lebensstils von Richard Wagner, der bis zur Liaison mit seinem übersprudelnden Gönner, dem Bayernkönig Ludwig II., ja ebenfalls weitgehend auf Pump lebte, aber in ärmlichen Verhältnissen hauste er bestimmt nicht. Die Einstellung von Künstlern und Wissenschaftlern, auf Kosten anderer zu leben, wirft ein bezeichnendes Licht auf deren Gerechtigkeitssinn; bei Marx kommt hinzu, daß er auch nicht davor zurückschreckte, bei seinen finanziellen Streifzügen ‚ausgebeutete‘ Arbeiter anzupumpen. Engels, der Marx bis zu dessen Tod ununterbrochen Geld und Wein zusandte, war die briefliche Anlaufstelle der vielen finanziellen Klagen, die keineswegs nur den nötigsten Lebensunterhalt betrafen. In dem oben erwähnten Schreiben von Ende März 1851 hieß es dann weiter: „Du weißt, daß ich am 23. März 31 £ 10 sh. an den alten Bamberger und am 16. 10 £ an den Juden Stiebel zu zahlen hatte, alles auf kursierende Wechsel. Ich hatte erst bei meiner Schwiegermutter durch Jenny direkt anfragen lassen … Dann schrieb ich an meine Mutter, drohte ihr, Wechsel auf sie zu ziehn und im Nichtzahlungsfall nach Preußen zu gehn und mich einsperren zu lassen.“60 Diese unverhohlene Drohung gegenüber seiner ungeliebten Mutter, daß sie bei seiner anschließenden Verhaftung mit dem rufschädigenden sozialen Makel eines kriminellen Sohnes leben müsse, hatte keine Wirkung, da Henriette Marx nicht mehr MEW. Bd. 29, Berlin 1973, S. 102. Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen des neunzehnten Jahrhunderts (1854), Berlin 1976, S. 61 (Hervorhebungen im Original). 59 MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 227. 60 Ebd., S. 226. Später heißt es: „Du wirst zugeben, daß diese Gesamtscheiße passablement angenehm ist und daß ich bis an die Wirbelspitze meines Schädels im kleinbürgerlichen Dreck stecke. Und dabei hat man noch die Arbeiter exploitiert! und strebt nach der Diktatur!“ (S. 227). 57

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so wohlhabend war, um ihrem Sohn finanziell unter die Arme greifen zu können. Vielleicht wußte sie auch, daß Marx vorläufig nicht mehr nach Preußen einreisen durfte bzw. ausgewiesen worden war. Eine Diskussion darüber, ob außergewöhnliche Theoretiker das Recht beanspruchen können, von den Einnahmen anderer Menschen ihren Unterhalt zu bestreiten, kann hier nicht geführt werden, doch in unserem Fall muß es zu denken geben, daß Marx offenbar seine finanzielle Lage nie mit der von Industriearbeitern verglichen hat, die unbezweifelbar sehr viel elender gelebt haben als ihr Revolutionsführer. Der finanzielle Adressat Engels, angeblich einer „der Hauptarchitekten des Weltkommunismus“,61 muß mit einer Engelsgeduld ausgestattet gewesen sein, denn mit diesen Bettelbriefen ging es Jahr für Jahr weiter, etwa im Brief an Engels vom 27. Februar 1852, in dem Marx seinem Gönner mitteilte, daß „ich aus Mangel an den im Pfandhaus untergebrachten Röcken nicht mehr ausgehe und aus Mangel an Kredit kein Fleisch mehr essen kann. Das alles ist nun Scheiße, aber ich fürchte, daß der Dreck einmal mit Skandal endet.“62 Welcher Skandal damit gemeint war, geht aus dem Briefwechsel nicht hervor, aber vielleicht spielte Marx auf die über zehn Jahre spätere Bemerkung seiner Frau an, daß sie mit ihren Kindern am Liebsten im Grab läge.63 Oder am 8. September 1852 an Engels in Manchester: „Meine Frau ist krank, Jennychen ist krank, Lenchen hat eine Art Nervenfieber. Den Doktor kann und konnte ich nicht rufen, weil ich kein Geld für Medizin habe. Seit 8 – 10 Tagen habe ich die family mit Brot und Kartoffeln durchgefüttert, von denen es noch fraglich ist, ob ich sie heute auftreiben kann.“64 Zweifellos lebten Marx mit Frau und Kindern nicht in Saus und Braus, doch er muß sich fragen lassen, warum er diesen Zustand nicht ändern wollte bzw. warum er gegenüber Geldgebern unerhörte Anklagen erhob, daß sie ihm nicht noch mehr Geld überlassen haben. Betrachtet man allerdings Marx’ ‚Einnahmen‘ und Ausgaben genauer, dann kommt man zu dem Ergebnis, „daß die Misere weniger aus tatsächlicher bitterer Armut herrührte als vielmehr aus dem Bestreben, den äußeren Schein bürgerlicher Respektabilität zu wahren, sowie aus einem Unvermögen, haushälterisch mit Geld umzugehen“.65 Ein Grund dafür war die andauernde Realitätsverweigerung, die auf eine Empfehlung an Engels hinauslief, dieser sollte militärische Artikel an die Londoner Presse schicken, weil er damit soviel verdiene wie beim Manchestergeschäft! Tristram Hunt: Friedrich Engels, Berlin 2012, S. 8. MEW. Bd. 28, Berlin 1973, S. 30. 63 Am 18. Juni 1862 schrieb Marx an Engels: „Meine Frau sagt mir jeden Tag, sie wünschte, sie läge mit den Kindern im Grab, und ich kann es ihr wahrlich nicht verdenken, denn die Demütigungen, Qualen und Schrecken, die in dieser Situation durchzumachen sind, sind in der Tat unbeschreiblich. Die 50 £ sind, wie Du weißt, für Schulden ausgegeben worden, von denen nicht die Hälfte damit bezahlt werden konnte.“ (MEW. Bd. 30, Berlin 1972, S. 248). 64 MEW. Bd. 28, Berlin 1973, S. 138. 65 D. McLellan: Karl Marx (wie Anm. 40), S. 280. 61

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Solche undurchdachten und unrealisierbaren Vorschläge entwickelte Marx häufiger, vielleicht um von seiner finanziellen Misere abzulenken. „Hätten wir beide“, heißt es in einem Brief an Engels vom 14. Dezember 1853, „Du und ich, zur rechten Zeit in London das englische Korrespondenzgeschäft angefangen, so säßest Du nicht in Manchester, comptoirgequält, und ich nicht schuldengequält.“66 Und während dieser mageren Zeit finden wir auch das ehrliche Bekenntnis, das Marx etwas peinlich gewesen zu sein scheint, weil er ahnte, daß dies seine Glaubwürdigkeit in Frage stellte: „Endlich, in den letzten 8 – 10 Tagen, habe ich einige Schilling und Pence, was mir das Fatalste ist, aber es war nötig, um nicht zu verrecken, von Knoten [das waren die ausgebeuteten Arbeiter, H.K.] gepumpt.“67 Erst als Jennys Mutter 1856 gestorben war und 120 Pfund Erbschaft ausgezahlt wurden, konnten die Marx aus ihrer Zweizimmerwohnung in 28, Dean Street, Soho, in ein geräumiges Häuschen in 9, Grafton Terrace, Maitland Park, umziehen. Aber die finanziellen Kalamitäten waren damit nicht beseitigt, denn schon am 20. Januar 1857 schrieb Marx an Engels: „Ich weiß absolut nicht, was ich anfangen soll, und bin in der Tat in einer verzweifelteren Situation als vor 5 Jahren. Ich glaubte die Quintessenz des Drecks verschluckt zu haben. Mais non. Dabei ist das schlimmste, daß diese Krise nicht temporär ist. Ich sehe nicht, wie ich mich herausarbeiten soll.“68 Es sind diese verschiedenen Beispiele von Marx’ Bettelbriefen hier angeführt worden, um noch einmal auf die ungeheure Diskrepanz zwischen dem Revolutionsfanatismus und der täglichen Existenznot aufmerksam zu machen, die teilweise dramatische Ausmaße annahm und viele seiner Freunde dazu ermuntere, Geldsammlungen zu starten bzw. zu organisieren. Was könnte man unter solchen widrigen Umständen von einem Menschen erwarten, der völlig auf finanzielle Unterstützung seiner Mitbürger und Mitkämpfer angewiesen ist? Etwas mehr Menschlichkeit, mehr Toleranz, mehr Verständnis für die Nöte seiner sozialistischen Mitstreiter? Oder eine intellektuelle Reflexion auf die tatsächlichen politischen und ökonomischen Verhältnisse, unter denen eine solche Lebensweise geduldet und toleriert wurde? Intensiveres Studium der ökonomischen Entwicklung der europäischen Gesellschaften seit dem Mittelalter bzw. der Frühen Neuzeit? Genau das Gegenteil trat bei Marx ein, er wurde verbitterter, hysterischer und aggressiver, klagte außer Engels viele seiner langjährigen kommunistischen Freunde einer hinterhältigen Verschwörung gegen ihn an, obwohl die meisten davon ihm wohlgesonnen waren und ihm in seiner schwierigen Lage helfen wollten. TiefenMEW. Bd. 28, Berlin 1973, S. 315 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 129. 68 MEW. Bd. 29, Berlin 1973, S. 97. Am 9. Mai 1864 war Wilhelm Wolff, erst 54 Jahre alt, in Manchester gestorben, der Marx in seinem Testament zum Haupterben eingesetzt hatte, weswegen Marx ihm wohl den 1. Band vom Kapital widmete. Marx war wenige Tage vor Wolffs Tod nach Manchester gefahren und schrieb an Jenny in London am 9. Mai: „Mit ihm ist einer unserer wenigen Freunde und Mitkämpfer hin.“ (MEW. Bd. 30, Berlin 1972, S. 655). Engels übernahm die Testamentsvollstreckung und teilte Marx am 11. März 1865 mit, daß an ihn 824.14.9 £ ausgezahlt würden. (Vgl. MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 97). Marx zog daraufhin mit seiner Familie in ein neues Haus, No. 1, Modenas Villas. 66 67

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psychologisch mag es dafür eine Erklärung geben, nämlich daß seine frustrierende Lebenssituation ohne eigene Einkünfte und ohne äußerliche Anerkennung seiner Schriftstellerei ihn psychisch schwer belastete, aber selbst dann wäre ja eine andere kompensatorische Verarbeitung möglich gewesen als die penetrante Forderung nach einer zerstörerischen Revolution. An einigen wenigen Beispielen soll gezeigt werden, daß Marx und Engels nicht nur in ihren politischen und ökonomischen Theorien, sondern auch in ihrem persönlichen Umgang jede Menschlichkeit vermissen ließen, die sie offenbar aufgrund ihrer historischen Bestimmung nicht mehr für nötig erachteten. Wenn manche Autoren glauben machen wollen, der menschliche Charakter und die wissenschaftliche Analyse könnten unabhängig voneinander existieren und das eine nicht das andere beeinflussen, so müssen sie sich fragen lassen, ob auch bei schizophrenen Menschen ihre Halluzinationen oder andere geistigen Störungen nicht mehr auftreten, wenn sie sich mit logischen Gedankengängen beschäftigen. Bevor ich auf kommunistische Weggefährten zu sprechen komme, soll kurz auf eine Begebenheit hingewiesen werden, die ein bitteres Schlaglicht auf das freundschaftliche Verhältnis zwischen den beiden Heroen des ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘ wirft. Denn selbst Engels, der von der theoretischen Genialität seines kommunistischen Mitstreiters felsenfest überzeugt war und zu Marx’ Lebzeiten erhebliche Opfer brachte, damit Marx in relativer Ruhe seine ökonomischen Theorien ausarbeiten konnte, wurde von dieser rücksichtslosen Haltung Marx’ nicht verschont. Schon Ende der 1840er Jahre hatte der zum Jähzorn neigende Marx Engels, so Stephan Born, „in meiner Gegenwart einen Elberfelder Gassenjungen gescholten und darauf die Tür hinter sich zugeschlagen“,69 aber Engels hatte ihm dies nicht nachgetragen. Als die langjährige Lebensgefährtin von Engels, Mary Burns, gestorben war, wegen deren geringer Bildung – sie war eine irische Arbeiterin, die in einer Baumwollfabrik als Spinnerin tätig und fast zwei Jahrzehnte Engels Lebensgefährtin war – er einigen Spott über sich ergehen lassen mußte, schrieb er am 7. Januar 1863 aus Manchester an Marx: „Lieber Mohr, Mary ist tot. Gestern Abend legte sie sich früh zu Bett, als Lizzy [Burns] sich gegen 12 Uhr schlafen legen wollte, war sie schon gestorben. Ganz plötzlich, Herzleiden oder Schlagfluß. Ich erfuhr es erst heute morgen, am Montag abend war sie noch ganz wohl. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie mir zumute ist. Das arme Mädchen hat mich mit ihrem ganzen Herzen geliebt.“70 Dieses emotionale Bekenntnis enthält die tröstliche Botschaft, daß auch fanatische Revolutionäre in ihrem Gefühlshaushalt nicht ganz ohne menschliche Zuneigung und Liebesbezeugungen auskommen können und menschlichen Trost benötigen, wenn sie einen geliebten Menschen verloren haben. Marx antwortete auf diesen freundschaftlichen Gefühlsausbruch einen Tag später mit einem kurzen Satz: „Die Nachricht vom Tode der Mary hat mich ebenso sehr überrascht als bestürzt. Sie war sehr gutmütig, witzig und hing fest an Dir.“71 69 70 71

S. Born: Erinnerungen (wie Anm. 11), S. 103. MEW. Bd. 30, Berlin 1972, S. 309. Ebd., S. 310 (Brief vom 8. Januar 1863 aus London). Dort auch die nächsten Zitate.

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Aber danach lamentierte er fast eine Seite lang über seine vergeblichen Versuche, „in Frankreich und Deutschland Geld aufzutreiben“ und „daß wir nichts mehr kreditiert erhalten“, was zwar scheußlich egoistisch von ihm sei, aber auch homöopathisch: „Ein Unheil zerstreut über das andre.“ Aber sein geldgebender Freund und kommunistischer Mitautor hatte ja etwas Mitgefühl über den Verlust seiner geliebten Mary erwartet. Auch Jenny Marx, die oft mit Engels korrespondierte, wollte kein Wort der mitfühlenden Anteilnahme an Engels schreiben; ob ihre adelige Herkunft das Zusammenleben mit einer einfachen Arbeiterin mißbilligte? Engels wartete bis zum 13. Januar, ehe er sich aufraffte, zu antworten, da „mein eignes Pech und Deine frostige Auffassung desselben“72 ihm den Hals zugeschnürt hätten: „Alle meine Freunde, einschließlich Philisterbekannte, haben mir bei dieser Gelegenheit, die mir wahrhaftig nahe genug gehen mußte, mehr Teilnahme und Freundschaft erwiesen, als ich erwarten konnte. Du fandest den Moment passend, die Überlegenheit Deiner kühlen Denkungsart geltend zu machen.“ Marx entschuldigte sich zwar in einem Brief vom 24. Januar 1863 bei Engels wegen seines Zynismus, ließ aber seiner Herzlosigkeit gegenüber anderen freien Lauf. Dazu drei Beispiele.

C. Die „Scheißkerle“ Gottfried Kinkel und Ferdinand Freiligrath Der Dichter Gottfried Kinkel (1815 – 1882), der sich schon während der 1848er Aufstände revolutionär gebärdet hatte, wurde am 29. Juni 1849 verwundet, dann gefangen genommen und von einem Kriegsgericht in Rastatt, wo die letzte Schlacht der badischen Revolutionstruppen gegen preußisches Militär stattgefunden hatte, auf Anweisung des preußischen Königs zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt. Diese Kämpfe hatten das politische Ziel, die Anerkennung der Reichsverfassung in Südwestdeutschland durchzusetzen, doch bekanntlich konnte die Reichsverfassung nicht in Kraft treten, weil das preußische Militär siegreich blieb. Die Rigorosität der preußischen Regierung geht auch daraus hervor, daß Kinkel „auf besondere königliche Anordnung ins Zuchthaus gesteckt und mit Wollspulen beschäftigt wurde“,73 was er als sehr demütigend empfand. Der Student Carl Schurz (1829 – 1906) aus Liblar – der im amerikanischen Bürgerkrieg eine bis heute in den USA unvergessene Rolle bei der Bekämpfung der Sklaverei spielte und später amerikanischer Innenminister wurde – hatte Kinkel am 7. November 1850 auf abenteuerliche Weise aus der Festungshaft in Spandau befreit. Schon während seiner Studienzeit in Bonn hatte Schurz am Siegburger Zug teilgenommen und war wegen seiner Beteiligung an den revolutionären Kämpfen in Baden von dem preußischen Prokurator seit 4. Juni 1849 steckbrieflich gesucht worden, war in die Schweiz (Zürich) geflüchtet und von dort heimlich nach Bonn zurückgekehrt. Kinkels Frau Johanna, die sich liebevoll um ihren Mann kümmerte, hatte ihn inständig 72 73

Ebd., S. 312. Dort auch das nächste Zitat. Ludwig Bamberger: Erinnerungen, Berlin 1899, S. 531.

C. Die „Scheißkerle“ Gottfried Kinkel und Ferdinand Freiligrath

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um die Befreiung ihres eingesperrten Mannes gebeten, worauf Schurz in seinem jugendlichen Übermut diese Tat beging, indem er einen Wächter bestach und Kinkel wohlbehalten nach England brachte.74 Dieses kapitalistischste Land der damaligen Welt brachte soviel liberale Toleranz auch gegenüber Revolutionären auf, daß man erstaunt sein kann, warum Marx diese politische Liberalität überhaupt nicht registriert hat bzw. eine Ausbeutergesellschaft vermutete, die nichts Anderes im Schilde führte als den Arbeiter den Mehrwert ihrer Arbeit abzupressen und sie dem kläglichen Untergang preiszugeben. Der ernüchterte Kinkel, dessen revolutionärer Impetus ihn in eine so mißliche Lage gebracht hatte, daß er offenbar vorläufig allen politischen Aktivitäten abschwor, schloß sich in London nicht dem kommunistischen Bund an, sondern verdiente seinen Lebensunterhalt, indem er an Kinder- und Mädchenschulen unterrichtete, bevor er im September 1851 kurzfristig in die USA ausreiste. Damit handelte er sich freilich den revolutionären Haß von Marx ein, der niemand neben sich dulden wollte, der früher kommunistische Überzeugungen vertreten hatte, nun aber zu dem Entschluß gelangt war, seinen eigenen Weg ohne revolutionäre Umsturzgedanken weiterzuverfolgen. Der Kinkelsche Lebensretter Schurz, der Marx 1848 in Köln kennengelernt hatte, äußerte sich später über ihn folgendermaßen, was die oben zitierten Aussagen anderer Augenzeugen bestätigt: „Was Marx sagte, war in der Tat gehaltreich, logisch und klar. Aber niemals habe ich einen Menschen gesehen von so verletzender, unerträglicher Arroganz des Auftretens. Keiner Meinung, die von der seinigen wesentlich abwich, gewährte er die Ehre einer einigermaßen respektvollen Erwägung. Jeden, der ihm widersprach, behandelte er mit kaum verhüllter Verachtung. Jedes ihm mißliebige Argument beantwortete er entweder mit beißendem Spott über die bemitleidenswerte Unwissenheit oder mit ehrenrühriger Verdächtigung der Motive dessen, der es vorgebracht.“75 Was muß in einem Menschen vorgehen bzw. welche psychischen Verletzungen versuchte Marx zu kompensieren, wenn er nicht einmal in der Lage war, mit an der Revolution unbeteiligten Personen ein vernünftiges Gespräch zu führen und ihnen den menschlichen Respekt entgegenzubringen, der eine Grundvoraussetzung jeder rationalen Diskussion ist. In diesen revolutionären Zeiten konnte die preußische Staatsmacht nicht untätig bleiben, denn mit der von Carl Schurz raffiniert eingefädelten Gefängnisflucht Kinkels waren nicht nur der preußische König und seine politische Polizei blamiert, sondern es wurde umgehend verlangt, daß ein Prozeß gegen die Hintermänner dieser unglaublichen Verschwörung eingeleitet würde, die die staatliche Autorität eines der mächtigsten europäischen Herrscherhäuser untergraben hatten; eine Reihe von Kölner Sympathisanten wurden tatsächlich verurteilt. Über Kinkel wäre wahrscheinlich die Todesstrafe verhängt worden, weil die preußische Politik eine solche Schmach nicht ohne das äußerste Strafmaß hingenommen hätte, wie auch schon einige Barrikadenkämpfer der Revolution von 1848/49 zum Tod verurteilt 74 75

Vgl. ausführlich dazu Carl Schurz: Lebenserinnerungen, Zürich 1988, S. 196 ff. Ebd., S. 110 f.

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worden waren. Üblicherweise hätte man gegenüber diesem gescheiterten Revolutionär, der offenbar nur noch in Ruhe weiterleben wollte, etwas Mitleid erwarten können, denn er hatte ja schon Einiges während seines Rastatter Prozesses erdulden müssen. Die Preußenhasser Marx und Engels nahmen allerdings eine 1850 erschienene Selbstbiographie Kinkels, Wahrheit ohne Dichtung, zum geeigneten Anlaß, um mit ihm und anderen gründlich abzurechnen, weil Kinkel ihren irrationalen Kommunismus nicht mehr teilte.76 Sie warfen Kinkel vor, er sei „vom Embryo an ein großer Mann“77 gewesen, bei dem die „trivialsten Dinge, wie sie allen trivialen Leuten vorkommen“, zu bedeutenden Ereignissen werden, zu „verhängnisvollen Weltbegebenheiten“, d. h. Kinkel sei „kurz, die ganze testamentarische Erscheinung des Propheten Elias“.78 Dies war eine verunglimpfende Anspielung darauf, daß Kinkel Theologie studiert, bevor er sich mit kommunistischen Ideen angefreundet hatte, weshalb er angeblich „zum Heiland und Welterlöser berufen war“,79 aber gleichzeitig bezeichneten sie ihn als einen „heuchlerischen Pfaffen“.80 An diesem abtrünnigen Kommunisten konnten Marx und Engels ihren aufgestauten atheistischen Ekel auslassen, dem Marx ja bereits anonym gegenüber der preußischen Regierung in der Rheinischen Zeitung freien Lauf gelassen hatte. Nicht nur der predigende Theologe Kinkel, der längst seine theologischen Ansichten zugunsten atheistischer Vorstellungen aufgegeben hatte, wurde durch den zynischen Kakao gezogen, sondern das Christentum habe „in Deutschland eine Reihe von deklamatorischen Pfaffen zutage gefördert, deren letzte Ausläufer naturgemäß in die Demokratie führen mußten“.81 Die ausgesprochene Absurdität eines solchen Gedankengangs geht schon daraus hervor, daß das Christentum der damaligen Zeit demokratischen Strömungen durchaus feindlich gegenüberstand, was in vielen Lehrschreiben der katholischen Kirche nachgelesen werden kann. Marx und Engels wollten unter keinen Umständen eine gedankliche Verbindung zwischen revolutionären und demokratischen Aktivitäten akzeptieren, denn damit hätten sie ja eingeräumt, daß die vollständige Vernichtung des kapitalistischen Systems, dessen Abschaffung der amerikanische Journalist und Mitbegründer der Zeitschrift Monthly Review Leo Huberman (1903 – 1968) „das wichtigste Grundprinzip der Utopisten“82 nannte, einen Teilbereich, eben die Demokratie, davon ausgenommen sei. Eine zerstörerische Revolution der internationalen Arbeiterklasse muß jedoch alles hinwegfegen, was in der bürgerlichen Gesellschaft vorhanden gewesen ist. Gottfried Kinkels Engagement bei der republikanischen 76 Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels: [Die großen Männer des Exils], in: MEW. Bd. 8, Berlin 1972, S. 233 – 335. 77 Ebd., S. 236. Dort auch die nächsten Zitate. 78 Ebd., S. 237. 79 Ebd., S. 238. 80 Ebd., S. 242. 81 Ebd., S. 249 (Hervorhebung im Original). 82 Leo Huberman: Kapital und Proletariat, Gießen 1975, S. 279.

C. Die „Scheißkerle“ Gottfried Kinkel und Ferdinand Freiligrath

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Partei und seine Teilnahme am Sturm der Bonner Demokraten auf das Zeughaus in Siegburg am 10. Mai 1849 war für Marx und Engels deshalb nichts weniger als verachtenswert, denn darin enthüllte sich „der ganze kontrerevolutionäre Demokrat“,83 der in antirevolutionärer Manier „zuerst demokratisch-konstitutionell, sodann demokratisch-republikanisch“84 wurde. Das waren demokratische Verhaltensweisen, mit denen die marxistischen Revolutionäre nicht das Geringste zu tun haben wollten. Demokratie, Republik und Verfassung wurden als die übelsten Auswüchse einer Überbautheorie angesehen, die durch die soziale Revolution ebenso zerstört werden müßten wie der gesamte Kapitalismus und die Kapitalisten. Und natürlich wurde Kinkels persönlicher Einsatz bei der badischen Revolutionsarmee, wo er von einer Kugel getroffen und verwundet wurde, mit bitterem Hohn bedacht: „Bei Rastatt aber sollte dieser lautere Zeuge für Wahrheit und Recht jene Prüfung bestehn, aus der er seitdem als Märtyrer unter der Bewunderung des ganzen deutschen Volkes unbefleckt hervorgegangen ist.“85 Seine Verhaftung eröffnete nach Marx und Engels für Kinkel einen neuen Lebensabschnitt, „der zugleich Epoche macht in der Entwicklungsgeschichte des deutschen Spießbürgertums“,86 eine Einschätzung, die durch Kinkels Festungshaft überhaupt nicht gerechtfertigt ist. Fast könnte man annehmen, als hätte unterdrückter Neid auf den angesehenen Kinkel den verhinderten Revolutionären die Feder geführt. Politische Systeme, die die kommunistische Ideologie zur wesentlichen Grundlage ihrer Herrschaft benutzt haben, haben von ihren Vordenkern gelernt, wie man mit abtrünnigen ehemaligen Gefolgsleuten verfahren sollte; z. B. der Stalinismus. Für Marx und Engels war nämlich die unmenschliche Abrechnung mit dem ehemaligen Mitstreiter noch nicht dadurch beendet, daß sie ihm heuchlerisches Pfaffentum und kriecherisches Spießbürgertum unterstellten, sondern sie griffen auch seine mutige Stellungnahme vor dem Rastatter Kriegsgericht an, von dem er zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden war. Das Kriegsgericht, so heißt es in dem Pamphlet „Die großen Männer des Exils“ – das über ein Jahrhundert später als „eine glänzende politische Satire auf die deutschen kleinbürgerlichen Emigrantenkreise zu Beginn der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts“87 bezeichnet wurde –, habe Kinkel die Gelegenheit gegeben, sich „wieder in einem jener rührenden Appelle an die Tränendrüsen seines Auditoriums zu versuchen, worin er früher schon als Hülfsprediger in Köln so erfolgreich gewesen war“.88 Es ist die gleiche alberne Masche, die schon gegenüber Hermann Kriege angewandt wurde, nämlich Emotionen und Gefühle als eines Revolutionärs unwürdig hinzustellen, obwohl gerade Marx in seinen unwürdigen Verdammungsurteilen jede nüchterne Distanz vermissen ließ und natürlich eine Revolution ohne überschäumende Haßgefühle 83 84 85 86 87 88

K. Marx/F. Engels: [Die großen Männer des Exils] (wie Anm. 76), S. 253. Ebd., S. 255. Ebd., S. 260. Ebd., S. 261. N. P. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (wie Anm. 53), S. 319. K. Marx/F. Engels: [Die großen Männer des Exils] (wie Anm. 76), S. 261.

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nicht durchgeführt werden kann. Kinkel hatte vor dem Kriegsgericht in Rastatt am 4. August 1849 eine Verteidigungsrede gehalten, die zwei bzw. drei Tage später in der Berliner Abend-Post abgedruckt wurde, weil sie die aufrechte Haltung dieses tapferen Kämpfers für Gerechtigkeit widerspiegelte. Marx und Engels kommentierten diese Rede unter vergnüglichem Verzicht „auf die wohlfeile demokratische Popularität“89 u. a. so: „Wir wissen im voraus, daß wir die allgemeine Entrüstung der sentimentalen Schwindler und demokratischen Deklamatoren hervorrufen werden, indem wir diese Rede des ‚gefangenen‘ Kinkel unsrer Partei denunzieren. Dies ist uns vollständig gleichgültig.“ Diese demonstrierte Gleichgültigkeit zeigt in aller Schärfe, welche äußerst geringe Wertschätzung diese beiden Denker einem Menschen entgegenbrachten, der ja eigentlich für die kommunistische Sache gekämpft hatte. Gottfried Kinkel ließ sich von diesen taktlosen Auslassungen seiner früheren Weggenossen offenbar nicht allzu sehr beeinträchtigen, auch wenn er vielleicht den ideologischen Bruch mit den Weltrevolutionären bedauerte, mit denen er ja lange gemeinsam gekämpft hatte. In der Londoner Emigration fand er schließlich Kontakt zu Charles Dickens, veröffentlichte Artikel in der Wochenschrift Der Kosmos und hielt Vorlesungen, beteiligte sich aber nicht an der intensiven Vorbereitung einer umstürzenden sozialen Revolution, weshalb Marx und Engels sarkastisch über ihn schrieben: „Je mehr dieser Menschenkehricht durch eigne Impotenz wie durch die bestehenden Verhältnisse außerstand gesetzt war, irgend etwas Wirkliches zu tun, desto eifriger mußte jene resultatlose Scheintätigkeit betrieben werden, deren eingebildete Handlungen, eingebildete Parteien, eingebildete Kämpfe und eingebildete Interessen von den Beteiligten so pomphaft ausposaunt worden sind.“90 Kinkels mutige Einsätze bei revolutionären Aufständen 1848 und 1849 hätten solche Vorwürfe eigentlich ausschließen müssen, denn es war eine ‚Tätigkeit‘, bei der er sein Leben aufs Spiel setzte und anders als die ‚Schreiberlinge‘ Marx und Engels ins Gefängnis geworfen wurde. Und solche haßerfüllten Sudeleien sollen keine Empörung und Entrüstung hervorrufen, nur weil diese unsentimentalen Denunziationen von selbsternannten Revolutionären stammen, die das historische Recht für sich reklamieren, die ewigen Gesetze des Geschichtsverlaufs erkannt zu haben? Die Logik ist das Organon der Kritik, doch Kritik zur reinen Selbstbefriedigung kann nicht mit gleichen moralischen Maßstäben behandelt werden wie bewußte Denunziation und menschenverachtende Abkanzelung. Franz Mehring (1846 – 1919) hat als führendes Mitglied des im Ersten Weltkrieg gegründeten Spartakusbundes, aus dem am 30. Dezember 1918 die Deutsche Kommunistische Partei hervorging, etwa ein Jahr vor seinem Tod volles Verständnis für den Widerwillen von Marx und Engels gegenüber Kinkel geäußert: „Dergleichen spießbürgerliche Spektakelstücke sind ihnen immer unausstehlich gewesen.“91 Aber es war nicht nur 89 Karl Marx/Friedrich Engels: Gottfried Kinkel (1850), in: MEW. Bd. 7, Berlin 1969, S. 299. Dort auch das nächste Zitat. 90 K. Marx/F. Engels: [Die großen Männer des Exils] (wie Anm. 76), S. 267. 91 Franz Mehring: Karl Marx (1918). 5. Aufl. Berlin 1983, S. 207.

C. Die „Scheißkerle“ Gottfried Kinkel und Ferdinand Freiligrath

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Kinkel, der eigentlich ganz unspektakulär agierte, der den ‚heiligen Zorn‘ dieser beiden Heroen des wissenschaftlichen Kommunismus hervorrief, sondern alle diejenigen, die den humanitären Mut aufbrachten, sich mit Kinkel zu solidarisieren. Als z. B. Ferdinand Freiligrath, langjähriger Freund und Weggenosse von Marx sowie Redakteur der Neuen Rheinischen Zeitung in Köln bis 1849, zusammen mit Kinkel als Redner der Hundertjahrfeier des Geburtstages von Friedrich Schiller am 10. November 1859 angekündigt wurden, wollte Marx mit allen Mitteln verhindern, daß beide zusammen auftraten. Freiligrath war bereits 1848 wegen seines Gedichts Die Todten an die Lebenden verhaftet, aber vom Gericht freigesprochen worden und 1851 nach England emigriert, wo er seit 1856 Direktor einer Filiale der Schweizer Generalbank (der Banque Générale Suisse in Genf) in London wurde. Dabei hatte Marx am 16. Januar 1852 in einem Brief an Joseph Weydemeyer in New York Freiligrath noch als liebenswürdigsten und anspruchslosesten Privatmann geschildert: „Er ist ein wirklicher Revolutionär und ein durch und durch ehrlicher Mann, ein Lob, das ich wenigen zuteilen möchte.“92 Ein Banker als Repräsentant der Kapitalistenklasse und ein Dickensverehrer gemeinsam auf einer Schillerfeier mußten jedoch einen Revolutionsfanatiker zur stahlschmelzenden Weißglut treiben, auch wenn er keineswegs festgemauert in der Erden war, da von ihnen ja nichts anderes zu erwarten war als spießbürgerliche Konterrevolution. Marx war zwar (noch) kein politischer Diktator, der die Diktatur des Proletariats als rettenden Anker vor der kapitalistischen Flut empfahl, aber er nahm nicht die geringste Rücksicht auf eigenständige Entscheidungen von angeblichen Freunden, die ihren eigenen Willen durchsetzen wollten. In einem emotionalen Appell beschwor Marx nicht nur Freiligrath, auf diese elende geistige Verbrüderung mit diesem unwürdigen Kinkel zu verzichten, sondern zog in seinen Briefen an Engels unflätig und menschenverachtend über ihn her. Aber der deutsche Poet Freiligrath, „der dicke Philister“,93 lehnte dieses hanebüchene Ansinnen von Marx, nicht mit Kinkel bei der Hundertjahrfeier aufzutreten, kategorisch ab, worauf Marx ihm unterstellte, daß er „öffentlich Arm in Arm mit unsren Feinden geht“.94 Auch Engels hielt es für angemessen, daß Freiligrath eine ernste Züchtigung verdiene, noch ehe die „Schillerschmiere“95 bzw. ihre Nachwehen vorbei seien: „Diese Poeteneitelkeit und Literatenzudringlichkeit, verbunden mit Pantoffelkriecherei, ist wirklich zu arg, und dabei schreibt ihm die 92 MEW. Bd. 28, Berlin 1973, S. 475. In einem Polizeibericht aus dem Jahr 1854 heißt es über diesen Detmolder Literaten: „Freiligrath wird seit 14. August 1851 vom königl. preuß. Ober-Procurator in Cöln wegen Theilnahme am hochverrätherischen Complotte steckbrieflich verfolgt und wurde wegen dieses Vergehens unter 12. Mai 1852 in contumatiam unter Anklage gestellt.“ (Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen (wie Anm. 58), S. 49. Hervorhebung im Original). 93 So Marx in einem Brief an Engels vom 3. November 1859, in: MEW. Bd. 29, Berlin 1973, S. 499. 94 Ebd., S. 501. 95 Ebd., S. 502. Dort auch das nächste Zitat (Brief an Marx vom 4. November 1859).

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‚Augsburger‘ politische Tugend zu!“ Es erscheint mir als eine sehr vordergründige Entschuldigung dieser menschenverachtenden Haltung Engels’, daß er sich von der Schillerfeier fernhielt, „weil die persönliche Reklamesucht und Wichtigtuerei Kinkels, Freiligraths und noch anderer Koryphäen der Flüchtlingsgesellschaft ihn abstießen“.96 Wer nicht mein Freund ist, der muß mein Feind sein; diese SchwarzWeiß-Logik ist die typische Verfahrensweise in totalitären Regimen und hat Millionen Menschen das Leben gekostet, weil man ihnen unterstellte, gemeinsame Sache mit den vernichtungswürdigen Feinden zu machen. Schon vorher, in einem Brief an Engels vom 7. Juni 1859, hatte Marx Freiligrath massiv angegriffen, weil er nicht bereit war, sich von Kinkel zu distanzieren: „Unter uns gesagt, ein Scheißkerl“.97 Diese menschenverachtende Verhaltensweise ist schon früh kritisiert worden, etwa von Pierre Ramus alias Rudolf Großmann, der 1906 unter diesem Pseudonym schrieb, daß in Marx’ Briefen die „vorwiegende Bosheit, Heimtücke und – es giebt kein anderes Wort – entsetzliche Ehrlosigkeit dem Gegner gegenüber“98 unverzeihlich sei. Marx hätte sich anläßlich der Schillerfeier 1859 auf Schillers Ballade Ring des Polykrates berufen können, wo es in Strophe 16 heißt „Mein Freund kannst du nicht weiter sein“, doch Freiligrath hatte ohnehin schon einige Schicksalsschläge zu verkraften und echte Freunde dringend nötig. Er mußte etwa zur gleichen Zeit einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen, denn seine Frau Johanna war am 15. November 1858 aus dem Fenster gestürzt und gestorben; ob es Selbstmord war oder ein Unglücksfall blieb unklar und ungeklärt. Der Auftritt mit Kinkel auf der Jahrhundertfeier war wohl eine angenehme Ablenkung von dem Schmerz, auf so tragische Weise seine Frau verloren zu haben. Aber der Revolutionär Marx kannte kein menschliches Mitleid, nicht einmal gegenüber einem so loyalen Freund, der für ihn immer wieder Geld beschafft hatte, sondern schrieb am 16. April 1860 an Engels: „Es ist mir ‚öklig‘, mit dem Burschen zusammenzukommen, und doch muß in den Apfel gebissen werden. Schon aus Politik nach unsern wechselseitigen Freundschaftsversicherungen.“99 Diese taktische Einstellung sowohl gegenüber politischen Entscheidungen wie gegenüber Menschen in seinem Umfeld zieht sich durch fast alle Schriften von Marx und erweckt bei nüchterner Betrachtung den Eindruck, daß es ihm niemals um wissenschaftliche Wahrheit gegangen ist, sondern vor allem um rücksichtslose Attacke gegen alle, die sich seinen Ansichten nicht unterwarfen bzw. unterwerfen wollten. Und obwohl dieser polemische, unmenschliche Ton das ganze Marxsche Werk durchzieht – wenn er nicht schwierige ökonomische Theorien von zeitgenössischen Ökonomen behandelte –, wollen uns moderne Apologeten von Marx weismachen: „Die Polemik ist grundsätzlich nicht nur die Schlechtmacherei, für die sie meist gehalten wird, sondern eine besondere Gustav Mayer: Friedrich Engels. 2. Bd., Haag 1934, S. 106. MEW. Bd. 29, Berlin 1973, S. 448. 98 Pierre Ramus: Kritische Beiträge zur Charakteristik von Karl Marx, Berlin 1906, S. 7 (Hervorhebungen im Original). 99 MEW. Bd. 30, Berlin 1972, S. 47. 96

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stilistische Arbeitsweise, die sich durch Komik auszeichnet, und die sich der Bösartigkeit oder Ehrabschneidung in erster Linie zum Zweck der Unversöhnlichkeit bedient.“100 Hier wird sachliche Kritik mit ehrabschneidender Polemik verwechselt, die tatsächlich rücksichtslos und bösartig ist. Eine unversöhnliche Polemik ist jedoch weit entfernt von einer verbalen Stilübung, sondern praktiziert ganz bewußt eine bösartige Tendenz, weil sie dem Angegriffenen keine Chance einräumt, seine korrigierenden Argumente entgegenzustellen. Der Leser möge anhand der ausgewählten Beispiele selbst entscheiden, ob bei Marx die Komik oder die Bösartigkeit obsiegte.

D. Der Kampf mit dem „jüdischen Nigger“ Ferdinand Lassalle Neben diesen angeblichen Freunden und Mitstreitern gab es auch noch diesen zweifellos eitlen, extravaganten und machtbewußten Ferdinand Lassalle in Düsseldorf, Sohn eines reichen jüdischen Seidenhändlers, Heymann (Chaim) Lasal, aus Breslau, der sich 1848 der radikalen Bürgerwehr angeschlossen hatte und für die Einführung einer demokratischen Verfassung auf nationaler Basis eingetreten war, was Marx’ ‚Internationalismus‘ entgegengesetzt war. Wir haben ja schon Marx’ bösartige Schelte von Demokratie und Verfassung kennengelernt und können deswegen schon ahnen, wie er gegenüber einem Juden, der unter der deutschen Arbeiterschaft Anhänger für seine Ansichten rekrutieren wollte und rekrutierte, auftreten würde. Diese Person muß trotz ähnlicher Überzeugungen für Marx wie ein rotes Tuch für einen spanischen Stier gewirkt haben, denn Lassalle war ein verbindlicher, höflicher Mensch, der sogar solidarische Gleichheit in einer zukünftigen demokratischen Gesellschaft forderte, die er über mächtige Arbeitervereine zu erreichen hoffte. Es ist deshalb wenig plausibel, daß das persönlich-politische Verhältnis zu ihm „eines der kompliziertesten psychologischen Probleme in Marx’ Leben“101 darstellte. Vielmehr sah Marx in Lassalle einen politischen Rivalen und ideologischen Gegner, den er mit menschenunwürdigen Mitteln bekämpfen wollte, weil er zum führenden Agitator einer deutschen Arbeiterpartei aufgestiegen war. Lassalle war schon wegen einer aufreizend-beleidigenden Rede gegen einen General-Procurator am 22. November 1848 in Neuß zu sechs Monaten Haft verurteilt worden und wegen seiner Inhaftierung mußte er die Mitarbeit an Marx’ Neuen Rheinischen Zeitung aufgeben, die ja in ihrer letzten Ausgabe vom 18. Mai 1849 zum „Weltkrieg“ aufgerufen hatte. „Schwerer aber als die Haft ertrug er die Entfernung von dem Schauplatz der Tat, während mit dem Frühjahr die Dinge auf die letzte Kraftanstrengung der Revolution lostrieben. Voll leidenschaftlicher Hoffnung sehnte er sich nach dieser Wendung.“102 100 101 102

Denis Mäder: Fortschritt bei Marx, Berlin 2010, S. 273. Werner Blumenberg: Karl Marx (1962), Reinbek bei Hamburg 1968, S. 126. H. Oncken: Lassalle (wie Anm. 12), S. 90.

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Etwa zur gleichen Zeit, am 11. April 1849, versuchte der Kölner Arbeiterverein, ohne Marx dabei einzubeziehen, alle rheinischen Arbeitervereine zusammenzuschließen, denn dieser Aufruf wurde nicht in Marx’ Zeitung, sondern in der Neuen Kölnischen Zeitung veröffentlicht, was Marx als einen Affront ansehen konnte. Die unversöhnliche Rivalität zwischen Marx und Lassalle schlummerte vermutlich in Marx’ Antisemitismus, aber war noch nicht zu einem Bruderkrieg ausgebrochen. Lassalle ließ sich nämlich trotz seiner Verurteilung und Haftstrafe nicht davon abhalten, nach seiner Entlassung auf Arbeiterversammlungen wieder zu sprechen und seine Ideen über eine kommunistische Gesellschaft sowie einer Verbesserung der Lage der Arbeiter vorzutragen. In einem Brief an Marx vom 24. Juni 1852 sah er die Arbeiterklasse drauf und dran, „die politische Windstille benutzend, sich in ihr Inwendiges einzuleben, sich ihren inneren Begriff zum Bewußtsein zu bringen und sich dadurch zu festigen“.103 Nichts vom Klassenkampf oder revolutionärer Energie, sondern die klare Erkenntnis, daß die Arbeiter sich erst einmal mit den widrigen Verhältnissen arrangieren müßten, um ihren Klassenbegriff zu erfassen und die Konsequenz daraus zu ziehen, „daß die nächste Revolution in der Arbeiterklasse ein weit kompakteres und bewußteres Material vorfindet als die zerfahrenen Elemente, mit denen im J[ahr] 1848 eine Arbeiterpartei improvisiert werden mußte“.104 Marx muß über diesen revolutionsfeindlichen Standpunkt empört gewesen sein und seine polemischen Ausfälle gegenüber Lassalle angestachelt haben. Ein deutscher Sozialist, Friedrich Albert Lange, schrieb dagegen 1865 über ihn: „Lassalles Vorzüge und Fehler lassen sich fast alle aus einem einzigen Princip ableiten: er ist Philosoph, und zwar Hegelianer.“105 Und der Berliner Hof- und Domprediger Adolf Stoecker (1835 – 1909) verstieg sich in einer Rede vom 19. September 1879 vor der Christlich-sozialen Arbeiterpartei zu dem antisemitischen Ausspruch: „Es ist wahr, die Juden haben durch Marx und Lassalle dafür gesorgt, daß sie auch in der Socialdemokratie ihre Freunde haben; die Nihilisten in Rußland sind zum Theil Juden.“106 Mit dem auf dem Höhepunkt seines Wirkens 8.000 Mitglieder zählenden Kölner Arbeiterverein (KAV), der am 13. April 1848 von dem Kölner Armenarzt Andreas Gottschalk gegründet worden war, wollte Marx anfänglich ohnehin wenig zu tun haben, da einige von ihnen „allen Ernstes die Eisenbahn und die Dampfschiffe auf dem Rhein abschaffen wollten, weil diese in ihren Augen konterrevolutionär waren“.107 Solche spinnigen Ideen finden wir öfter in fanatischen Kreisen, die ihre Zitiert in: Der Bund der Kommunisten. Bd. 3: 1851 – 1852, Berlin 1984, S. 167. Ebd., S. 168. „Irre ich mich nicht“, so hieß es dort weiter, „so wird grade während dieser scheinbaren Todesstille die wirkliche deutsche Arbeiterpartei geboren.“ 105 Friedrich Albert Lange: Die Arbeiterfrage (1865). Nachdruck Duisburg 1975, S. 147 (Hervorhebungen im Original). „Von dem hohlen Phrasengeklingel so mancher Hegelianer war Lassalle übrigens gänzlich frei“ (S. 148). 106 Adolf Stöcker: Das moderne Judenthum in Deutschland, Berlin 1880, S. 17 (Hervorhebungen im Original). 107 W. Wippermann: Der Wiedergänger (wie Anm. 13), S. 30. 103

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Vorstellungen auf Bereiche übertragen, ohne sich über deren logische Inkonsequenz Gedanken zu machen. Aber Gottschalk war zwar ein radikaler, aber auch ganz vernünftiger Zeitgenosse, der allerdings die Herkunft des Aktienkapitals für die Neue Rheinische Zeitung heftig kritisierte, weil er befürchtete, Marx habe sich damit der ‚Geldaristokratie‘ ausgeliefert. Gottschalk wurde nach dem 3. Juli 1848 zusammen mit Friedrich Anneke wegen ihrer Propaganda für eine demokratische Republik verhaftet, aber vom Strafgericht freigesprochen, worauf er nach Paris ins Exil ging. Ziel des Kölner Vereins war, daß Arbeiter durch Einrichtung von Schiedsgerichten stärker an betrieblichen Entscheidungen beteiligt werden sollten, ihnen eine gerechte soziale Absicherung zukäme sowie wirksame Arbeiterschutzgesetze verabschiedet würden. Alle diese Maßnahmen sollten dazu beitragen, eine spürbare Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter zu erreichen. Lassalle konnte sich mit diesen Forderungen solidarisieren, aber als Karl Marx am 22. Oktober 1848 zum Präsidenten des KAV ernannt wurde, hatte sich dieser bereits in ein revolutionäres Fahrwasser begeben. Daraus konnte ihn Karl Schapper als neuer Präsident Ende Februar 1849 auch nicht mehr herausführen, sodaß er sich bald nach seiner Umbenennung als Arbeiterbildungsverein im Oktober 1849 ohne besonderen Beschluß auflöste. Im marxistischen Unrechtsstaat DDR wurde der Kölner Arbeiterverein zur bedeutendsten Organisation der deutschen Arbeiterbewegung im Revolutionsjahr hochgejubelt: „Die einjährige Geschichte des Kölner Arbeitervereins verdeutlicht, was die Kommunisten in dem Revolutionsjahr getan haben, um die Arbeiterklasse, dessen Klasseninteressen damals wie heute mit den Grundinteressen der Nation übereinstimmen, zu befähigen, an die Spitze aller demokratischen Kräfte zu treten.“108 Lassalle widmete sich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis philosophischen Studien und nach den gewonnenen Prozessen für die Gräfin Hatzfeldt 1854, wofür er eine Jahresrente von 4.000 Taler erhielt, ging er drei Jahre später nach Berlin. Dort wurde er trotz seiner staatsfeindlichen Aktivitäten wegen einer persönlichen Beziehung zu Alexander von Humboldt, der mit dem preußischen König verkehrte, von den Behörden geduldet, um sein zweibändiges Werk Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos109 fertigzustellen. Das Werk erschien gedruckt 1858, aber als Jude war ihm die akademische Laufbahn verschlossen, weil die Emanzipation jüdischer Mitbürger in Deutschland nur sehr allmählich voranschritt und erst kurz vor der Reichsgründung in der Verfassung des Norddeutschen Bundes rechtlich fixiert wurde. Die baldige Fertigstellung dieses Werkes teilte er seinem Freund Marx mit, weil sich Marx ja ebenfalls intensiv für seine Dissertation mit antiken Philosophen beschäftigt hatte. Außerdem gehörte Lassalle zu den finanziellen Förderern von Marx und hatte für ihn schon früher

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Gebhard Becker: Karl Marx und Friedrich Engels in Köln 1848 – 1849, Berlin 1963,

S. 280. 109 Vgl. Ferdinand Lassalle: Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos (1858). 2 Bände in 1 Band. Nachdruck Hildesheim/New York 1973.

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Geld zum Überleben gesammelt; zu Neujahr 1858 ließ er ihm zusätzlich 30 £ zukommen. Dieses Buch von Lassalle hatte überhaupt nichts mit sozialistischen oder kommunistischen Ideen zu tun. Heraklit von Ephesos (550 – 480 v. Chr.) war ein antiker Philosoph, von dem uns nur wenige Fragmente überliefert sind, die so schwierig verstanden werden können, daß man ihn schon zu seinen Lebzeiten den ‚Dunklen‘ nannte. Auch ließ diese Veröffentlichung nicht erahnen, daß dieser junge Jurist, der zwar 1848 revolutionär aufgetreten war, aber vor allem wegen seiner erfolgreichen Prozeßführung in dem Ehescheidungsverfahren der Sophie Gräfin von Hatzfeldt im Rheinland bekannt wurde, in Kürze zu einem führenden Arbeiterführer aufsteigen und mit den Londoner bzw. Manchester Revolutionären in Konkurrenz treten könnte. Er hatte sich ja einen recht zweifellhaften Ruf wegen möglicher Anstiftung zu einem Kassettendiebstahl, die angeblich entscheidende Dokumente zugunsten der Gräfin Hatzfeldt enthalten sollte, im Herbst 1846 bei der Maitresse des Grafen Hatzfeldt erworben. Der Diebstahl, der nicht zu dem erwarteten Ergebnis führte, weil die Kassette keine Dokumente enthielt, wurde ausgeführt von Arnold Mendelssohn und Alexander Oppenheim, weswegen diese zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurden. Noch am 22. April 1849 schrieb der mit Lassalle befreundete Arnold Mendelssohn aus dem Gefängnis an seinen Vater Nathan, „daß ich in derlei Intriguen wahrscheinlich nie in Conflict mit den Cassetten fremder Damen gekommen wäre, wenn ich in meiner Weise fortgefahren hätte, Socialismus zu studieren [den er während seines Parisaufenthalts durch Proudhon kennengelernt hatte, H.K.] und zu treiben, die Revolution vorzubereiten und durchzuführen“.110 Lassalle geriet ja erst später in einen politischen Widerspruch zu Marx, weil er die Eigentumsrechte lediglich beschneiden wollte und allgemeines sowie gleiches Wahlrecht forderte. Trotzdem schrieb Marx an Engels am 8. Mai 1857 wegen Lassalles Brief, der sein Buch ankündigte: „Wie soll ich es mit dem Kerl halten? Antworten oder nicht? Die komische Eitelkeit des Burschen, der mit Gewalt berühmt werden will und ohne allen Anlaß 75 Bogen über griechische Philosophie schreibt, wird Dich amüsieren.“111 Engels antwortete drei Tage später, als er den Brief von Lassalle zurückschickte: „Dorch und dorch der läppische Jüd. Es werden schöne Geschichten sein, die er zusammengeschrieben hat … Daß nichts an dem Kerl ist, das wissen wir freilich, es ist aber schwer, einen positiven Grund zu finden, woraufhin mit ihm direkt brechen“.112 110 Zitiert in: Bankiers, Künstler und Gelehrte, hrsg. von Felix Gilbert, Tübingen 1975, S. 158. 111 MEW. Bd. 29, Berlin 1973, S. 132. 112 Ebd., S. 134. Schon am 7. März 1856 hatte Engels an Marx über Lassalle geschrieben: „Er war immer ein Mensch, dem man höllisch aufpassen mußte, als echter Jud von der slawischen Grenze war er immer auf dem Sprunge, unter Parteivorwänden jeden für seine Privatzwecke zu exploitieren. Denn diese Sucht, sich in die vornehme Welt einzudrängen, de parvenir, wenn auch nur zum Schein, den schmierigen Breslauer Jud mit allerhand Pomade und Schminke zu übertünchen, waren immer widerwärtig.“ (Ebd., S. 31).

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Eigentlich hätte man erwarten können, daß Marx sich für dieses Thema interessierte, denn seine gründlichen Kenntnisse der antiken Philosophie und seine vielfältigen Studien zur Vorsokratik setzten eine Offenheit für diese Fragen voraus oder ließen sie zumindest vermuten. Doch nachdem er das Buch erhalten hatte, bezeichnete er es in einem Brief an Engels vom 1. Februar 1858 als „ein sehr läppisches Machwerk … Man sieht, wie sonderbar grauß der Kerl sich selbst in diesem philologischen Flitterstaat erscheint“.113 Dagegen schrieb Marx am 31. Mai 1858 an Lassalle: „Ich habe während meiner Leidenszeit Deinen ‚Herakleitos‘ durchstudiert und finde die Wiederherstellung des Systems aus den zerstreuten Reliquien meisterhaft, wie mich nicht minder der Scharfsinn in der Polemik angesprochen. Was ich auszusetzen habe, ist hauptsächlich nur formell.“114 Wir können vermuten, daß Marx die beiden Bände über die Philosophie des Heraklit entweder gar nicht ganz gelesen hat und deswegen ein so zwiespältiges Urteil abgab, oder sein inzwischen zu einem Widerwillen gesteigerte Wut auf Lassalle ihm Zornesworte in die Finger diktierte. Was Lassalle an inhaltlichen Ergebnissen in dieser umfangreichen Untersuchung zu Tage gefördert hatte, war Marx offenbar so egal wie seine persönliche Beziehung zu diesem eigenartigen Denker. Der politische Opportunismus von Marx ist uns ja schon einige Male aufgefallen, aber gegenüber dem reichen Juden Lassalle kam eine persönliche Aversion hinzu, die Marx nicht daran hinderte, mit ihm zusammen politische Vorhaben zu diskutieren. Marx verbrachte nämlich ab 17. März 1861 mehrere Wochen bis zum 12. April in Lassalles Wohnung in Berlin, weil für die Flüchtlinge der Revolutionsjahre eine preußische Amnestie erlassen worden war. Während dieser Zeit wurden einige gemeinsame Projekte, wie eine neue Zeitung oder eine verstärkte Parteiarbeit besprochen, aber vor allem große Empfänge abgehalten. Marx hatte am 7. März 1861 von Holland aus an Lassalle geschrieben: „Ich bezwecke, wie ich Dir schon früher schrieb, von hier nach Berlin zu kommen, um mit Dir persönlich über etwaige gemeinschaftliche literarisch-politische Unternehmungen zu sprechen, namentlich aber auch, um Dich wiederzusehn.“115 In Holland hatte er seinen geldgebenden Onkel Lion Philips besucht und berichtete Engels am 7. Mai 1861: „Meinem Onkel habe ich zunächst 160 £ abgepreßt, so daß wir den größten Teil unsrer Schulden abzahlen konnten.“116 Gegenüber Lassalle vermittelte Marx also den Anschein, als ob er das gegenseitige freundschaftliche Verhältnis vertiefen und gemeinsame Projekte vorantreiben wollte. Wir wissen nicht genau, was Marx mit Lassalle in Berlin besprochen hat, doch nach seiner Rückkehr nach London schrieb Marx am 10. Mai an Engels unzensiert: „Apropos. Lassalle-Lazarus … Lazarus, der Aussätzige, ist also der Urtyp des Juden und Lazarus-Lassalle. Nur ist

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Ebd., S. 274. Ebd., S. 561. Ebd., S. 587. MEW. Bd. 30, Berlin 1972, S. 161.

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unserm Lazarus der Aussatz ins Hirn geschlagen. Seine Krankheit war ursprünglich schlecht kurierte sekundäre Syphilis.“117 Ob es in Berlin zu persönlichen Auseinandersetzungen gekommen ist, wissen wir ebenfalls nicht, aber eine unversöhnliche Verwerfung scheint unwahrscheinlich, wenn wir das spätere Verhalten von Lassalle betrachten, der weiterhin bis zu seinem Tod Agitationsschriften an Marx sandte. Lassalle bemühte sich 1861 sogar beim Berliner Polizeipräsidenten Konstantin Frh. von Zedlitz-Neukirch und beim preußischen Innenminister Maximilian Graf von Schwerin-Putzar, für Marx das Staatsbürgerrecht wiederzuerlangen – allerdings vergeblich. Auch finanziell half Lassalle Marx aus, denn als er im Juli 1862 nach London kam und Marx besuchte, wahrscheinlich auch dessen elende finanzielle Situation erlebte, gab er ihm 15 £ in bar und 60 £ in Form eines Wechsels, was nicht auf eine persönliche Verstimmung hindeutet. Doch Marx schüttete in einem Brief an Engels vom 30. Juli 1862 seinen abgrundtiefen Haß über Lassalle aus: „Der jüdische Nigger Lassalle, der glücklicherweise Ende dieser Woche abreist, hat glücklich wieder 5000 Taler in einer falschen Spekulation verloren. Der Kerl würde eher das Geld in den Dreck werfen, als es einem ‚Freunde‘ pumpen, selbst wenn ihm Zinsen und Kapital garantiert würden. Dabei geht er von der Ansicht aus, daß er als jüdischer Baron oder baronisierter (wahrscheinlich durch die Gräfin) Jude leben muß.“118 Diese Charakterisierung vermittelt den Eindruck, daß es zwischen Marx und Lassalle zu einer unversöhnlichen Feindschaft gekommen ist, die ausschließlich von Marx ausging, der in diesem Brief ebenfalls schrieb: „Nun, diese Verbindung von Judentum und Germanentum mit der negerhaften Grundsubstanz müssen ein sonderbares Produkt hervorbringen. Die Zudringlichkeit des Burschen ist auch niggerhaft.“119 Wenn deshalb Eduard Bernstein in seiner Lassalle-Biographie schrieb, ein Bruch zwischen beiden „hat nie stattgefunden“,120 so ist dies lediglich der durchsichtige Versuch, Marx von einer moralischen Verfehlung reinzuwaschen. Erst nach 1895, dem Todesjahr von Engels, distanzierte sich Bernstein von Theorien Marx’, vor allem der Krisen-, Konzentrations- und Zusammenbruchtheorie, und bezeichnete z. B. 1898 die „Diktatur des Proletariats“ als eine überholte Phrase. In der Wissenschafts- bzw. Ideologiegeschichte finden wir eigentümliche persönliche Beziehungen, die von enger Freundschaft zwischen an gleichen Projekten arbeitenden Wissenschaftlern zeugen, wie etwa Otto Hahn und Lise Meitner, als auch menschliche Tragödien, wie die antisemitische ‚Freundschaft‘ zwischen Richard Wagner und Hermann Levi, den Wagner auf ähnliche Weise abkanzel-

Ebd., S. 165. Ebd., S. 257. 119 Ebd., S. 259. 120 E. Bernstein: Ferdinand Lassalle (wie Anm. 49). S. 177. Bernstein versuchte diese Marxsche Haßorgie mit einer grundsätzlichen Verschiedenheit der beiderseitigen Standpunkte zu verdecken: „Bald nachdem Lassalle im Herbst 1862 nach Berlin zurückgekehrt war, schlief die Korrespondenz gänzlich ein.“ (Ebd.). Wir wissen, weshalb! 117

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te wie Marx Lassalle.121 Sowohl Marx als auch Engels wären Lassalle für dessen unermüdlichen Einsatz für die sozialistische Sache eigentlich zu großem Dank verpflichtet gewesen, doch sie sahen in ihm nur den gefährlichen Konkurrenten und den läppischen Juden. Denn Lassalle hatte sich z. B. mit Erfolg bemüht, für Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie einen Verleger, Franz Gustav Duncker (1822 – 1888) in Berlin, zu finden, der auf Drängen von Lassalle ein außergewöhnlich großzügiges Honorar zu zahlen bereit war, was selbst der bitterböse Autor anerkennen mußte: „Nur dem außerordentlichen Eifer und Überredungstalent von Lassalle ist es gelungen, Duncker zu diesem Schritt zu bewegen.“122 Der Vertrag mit dem Verlag Franz Duncker wurde im März 1858 unterschrieben und Marx sollte ein Teilmanuskript im Mai liefern, aber der säumige Marx ließ selbst den renommierten Verlag zappeln, obwohl er behauptet hatte, daß er in ungefähr vier Wochen fertig sei. Er lieferte erst am 26. Januar 1859 zwei Kapitel an den Verleger sowie am 23. Februar das Vorwort, der zu diesem Zeitpunkt keine Druckmaschinen mehr frei hatte und seine sonstigen Veröffentlichungen wohl nicht wegen eines wenig bekannten Autors zurückziehen wollte. Also verdächtigte Marx Lassalle, das Erscheinen seines Werkes verhindern zu wollen und stattdessen sein Pamphlet Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens, das er als „ein enormous blunder“123 bezeichnete, drucken zu lassen. Marx hatte Duncker schon in einem Brief an Lassalle vom 28. März 1859 angeklagt, einen „Wetzlarkanzleiverschleppungsstil“124 zu praktizieren; eine Anspielung auf das Reichskammergericht in Wetzlar, das von 1693 bis 1806 Länderstreitigkeiten im Heiligen Römischen Reich bearbeitete. Dieser absurde Vorwurf einer Publikationsverhinderung oder -verzögerung, den er ja leicht durch eine schriftliche Anfrage bei seinem ‚Freund‘ oder bei Franz Duncker selbst hätte aufklären können, läßt sich nur damit erklären, daß dessen Urheber die verlegerische Realität völlig aus den Augen verloren hatte und sich als der unübertreffliche Schriftsteller stilisierte. Was ist denn ein ‚jüdischer Nigger‘ gegenüber einem weltbekannten Revolutionär, der ja in Kürze die kapitalistischen Staaten mit Hilfe von Millionen von unterdrückten Arbeitern in die Luft sprengen will? Marx schrieb deswegen am 25. Mai 1859 an Engels über Lassalle: „Aber der verfluchte eitle Narr hat das Embargo verordnet, damit die Aufmerksamkeit Publici nicht geteilt würde. Duncker, der Schweinhund, aber ist seelenvergnügt, daß er neuen Vorwand hat, die Zahlung meines Honorars aufzuschieben. Ich vergesse dem Jüdchen diesen Streich nicht.“125 War dies Größenwahn oder Realitätsverlust? Doch die hingeschleuderte Drohung, daß er Lassalle bis zu dessen Tod und darüber hinaus nichts verzeihen und vergeben konnte, hielt Marx wortwörtlich ein. Vgl. Hubert Kiesewetter: Von Richard Wagner zu Adolf Hitler, Berlin 2015, S. 96 ff. Brief von Marx an Joseph Weydemeyer vom 1. Februar 1859, in: MEW. Bd. 29, Berlin 1973, S. 572. 123 Ebd., S. 432 (Brief von Marx an Engels vom 18. Mai 1859). 124 Ebd., S. 586. 125 Ebd., S. 442. 121

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Der italienische Krieg folgte einer österreichfeindlichen Ansprache Napoleons III. vom 1. Januar 1859, der gegen eine Abtretung von Nizza und Savoyen einer italienischen Staatseinheit unter Einschluß des österreichischen Norditaliens oder doch zumindest einer Unabhängigkeit Italiens zustimmen wollte. Die Lombardei und Venetien sollten Sardinien zugeschlagen werden, um ein oberitalienisches Königreich zu gründen, worauf sich Österreich bzw. die österreichische Regierung in seiner territorialen Souveränität bedroht fühlte. Dadurch glaubte die Wiener Doppelmonarchie, sie müsse die militärische Aufrüstung vorantreiben, obwohl England und Rußland auf einem europäischen Kongreß zwischen Österreich, Italien und Frankreich vermitteln wollten. Der österreichische Kaiser stellte jedoch am 23. April in Turin ein Ultimatum und als dieses von Sardinien-Piemont und Frankreich abgelehnt wurde, marschierten sechs Tage später österreichische Truppen in Sardinien ein und begannen einen Krieg. In der Entscheidungsschlacht bei Solferino am 24. Juni 1859 unterlagen die Österreicher und mußten schließlich in einem Friedensvertrag vom 10. November in Zürich der Gründung eines italienischen Bundes zustimmen. In Deutschland entfachten diese Auseinandersetzungen erneut den alten Streit um eine kleindeutsche Lösung der Reichsfrage unter Führung Preußens oder eine großdeutsche Lösung durch eine staatliche Verbindung mit Österreich. Lassalle stellte sich in seiner Schrift eindeutig auf den kleindeutschen Standpunkt und sprach sich gegen einen militärischen Beistandspakt Preußens mit Österreich aus; er bevorzugte ein machtpolitisches Pokerspiel zur Gründung eines (klein)deutschen Reiches. Deswegen wurde ihm noch 1919 von Eduard Bernstein vorgehalten: „Lassalle war eben bei all seinem theoretischen Radikalismus in der Praxis noch ziemlich stark im Preußentum stecken geblieben.“126 Es verhielt sich aber eher so, daß Lassalle in diesem Krieg die Lebensinteressen des deutschen Volkes berührt sah und forderte, wenn Napoleon III. die geographische Karte im südlichen Europa veränderte, dann solle Preußen dies im Norden mit SchleswigHolstein tun und es Dänemark entreißen. (Eine ähnliche Ansicht vertrat Friedrich Engels in seiner 1859 anonym erschienenen Broschüre Po und Rhein, deren Publikation ebenfalls von Lassalle bei Franz Duncker vermittelt worden war).127 In der Gasteiner Konvention vom 14. August 1865 hatten Preußen und Österreich vereinbart, daß Schleswig vom preußischen, Holstein vom österreichischen Staat verwaltet werden sollte, während Lauenburg ganz an Preußen fiel, wofür Österreich mit 2,5 Mio. Talern entschädigt wurde. Für Marx war Lassalles Schrift ein erneuter und willkommener Anlaß, seinen Standpunkt diesem entgegenzuschleudern: „Von Männern, die schon vor 1848 miteinander darin übereinstimmten, die Unabhängigkeit Polens, Ungarns und Italiens nicht nur als ein Recht dieser Länder, sondern auch als das Interesse Deutschlands und Europas zu vertreten, wurden ganz entgegengesetzte Ansichten aufgestellt über die Taktik, die Deutschland bei Gelegenheit des italienischen Kriegs von 1859 Louis Bonaparte gegenüber auszuführen habe. Dieser Gegensatz der Ansichten entsprang aus gegensätzlichen Urteilen über tat126 127

E. Bernstein: Ferdinand Lassalle (wie Anm. 49), S. 71. Vgl. Friedrich Engels: Po und Rhein, in: MEW. Bd. 13, Berlin 1975, S. 225 ff.

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sächliche Voraussetzungen, über die zu entscheiden einer spätern Zeit vorbehalten bleibt.“128 Die Idee, daß das bonapartistische System sich auf europäische Staaten ausbreiten könnte und dann durch eine Revolution auch die deutsche Bourgeoisie hinwegfegen würde, entsprang dem revolutionären Wunschdenken Marx’ und Engels’, hatte aber keine realpolitische Grundlage. „Bismarck war viel zu sehr royalistischer Junker, um je zu einem Usurpator wie Napoleon III. werden zu können.“129 Nach diesen Anschuldigungen kann man sich kaum noch vorstellen, daß Marx bereit gewesen wäre, mit Lassalle gemeinsame Sache zu machen und ihn als wirkungsvollen Mitstreiter für eine Mobilisierung der Arbeiterklasse anzuerkennen. Dies sollte in den kommenden Jahrzehnten gravierende Folgen für das sozialistische Programm nach sich ziehen, auch wenn diese Folgen hier nicht behandelt werden sollen. Leo Kofler allerdings glaubte, was dem englischen Staatsmann Benjamin Disraeli (1804 – 1881) tiefster Ernst gewesen sei, nämlich eine reaktionäre Politik, sei bei Lassalle zur bloßen Taktik mutiert, „die allerdings darauf hinauslief, die Weltgeschichte hinters Licht zu führen. Dieser Illusion wegen hat Marx in privaten Äußerungen bittere Kritik an Lassalle geübt.“130 Lassalle, ein mitreißender Redner und geschickter Agitator, glaubte dagegen im Sinne von Marx und Engels zu handeln, wenn er als Pendant zur Fortschrittspartei eine demokratische Partei gründete, die sich um die soziale Frage, d. h. vor allem um die Nöte der Arbeiter, kümmern sollte. Für ihn waren die revolutionären Drohungen des Kommunistischen Manifests eher begeisterungsfähige verbale Attacken auf das herrschende Besitzbürgertum, die in der politischen Realität ja ohnehin nicht durchzusetzen waren. Allerdings beabsichtigte er als theoretischer Kopf das kühne Vorhaben zu verwirklichen, nach seiner Studie über Heraklit eine kritische Abhandlung über politische Ökonomie zu schreiben, die allerdings nicht fertiggestellt wurde, weil er ein zweibändiges Werk System der erworbenen Rechte131 schrieb, was den Alleszerstörer Marx selbst auf eine belanglose Fußnote hin allergisch reagieren ließ. Marx schrieb am 1. Februar 1858 an Friedrich Engels in Manchester: „Ich sehe aus dieser einen Note, daß der Kerl vorhat, die politische Ökonomie hegelsch vorzutragen in seinem 2ten großen opus. Er wird zu seinem Schaden kennenlernen, daß es ein ganz andres Ding ist, durch Kritik eine Wissenschaft erst auf den Punkt bringen, um sie dialektisch darstellen zu können, oder ein abstraktes, fertiges System der Logik auf Ahnungen eben eines solchen Systems anzuwenden.“132 Damit konnte eigentlich nur gemeint sein, daß Marx Lassalle nicht zutraute, eine politische Ökonomie nach dialektischen Prinzipien verfassen zu können, d. h. auf 128 Karl Marx: Herr Vogt, in: MEW. Bd. 14, Berlin 1974, S. 386 f. (Hervorhebungen im Original). 129 Heinrich August Winkler: Die unwiederholbare Revolution, in: Marxismus, hrsg. von Volker Gerhardt, Magdeburg 2001, S. 27. 130 Leo Kofler: Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (1948). 3. Aufl. Neuwied/ Berlin 1966, S. 587. So verdrehen Marxisten leicht nachprüfbare historische Fakten. 131 Vgl. Ferdinand Lassalle: Das System der erworbenen Rechte. 2 Bde., Leipzig 1861. 132 MEW. Bd. 29, Berlin 1973, S. 275.

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den Punkt zu bringen, weshalb er ihm gerne geraten hätte, darauf vollständig zu verzichten, weil nur er die Hegelsche ‚Wissenschaft‘ verstanden habe. Andreas Arndt dagegen kommentiert diese Briefstelle folgendermaßen: „Marx wollte Lassalle im Interesse einer wissenschaftlichen Ausrichtung der Arbeiterpartei wohl zuvorkommen, zumal er begründet vermuten konnte, Lassalle werde seine Ökonomie ‚Hegelsch‘ vortragen.“133 Dabei hatte Lassalle wenige Wochen nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis an Marx schon am 12. Mai 1851 aus Düsseldorf geschrieben: „Dagegen höre ich, daß Deine Nationalökonomie nun endlich das Licht der Welt erblickt. Drei dicke Bände auf einmal! Ich bin heißhungrig darauf, on ne peut plus. Um so mehr, als ich seit einem Jahre die von mir im Drange der Praxis drei Jahre lang ziemlich liegen gelassenen ökonomischen Studien wieder mit Eifer aufgenommen habe.“134 Die reformerisch ausgerichtete Arbeiterpartei, die Lassalle in den 1860er Jahren mitbegründet hatte, entwickelte sich für Marx zur größten Gefahr bei einer Verwirklichung der umwälzenden Revolution, gleichgültig, ob sie wissenschaftlich oder politisch ausgerichtet war. Lassalle ließ sich von diesen theoretischen Querelen, wenigstens was seine äußerlichen Gepflogenheiten anbelangte, ebenso wenig beeinflussen wie von den erzkonservativen Politikern und wollte vor allem die Arbeiter mobilisieren, um damit größeren Druck auf die preußische und eventuell deutsche Politik ausüben zu können. Sein begeisterndes Redetalent und seine ausgesprochene Fähigkeit, schwierige Sachverhalte allgemeinverständlich vorzutragen, erhöhten seine Popularität bei den Arbeitern und natürlich auch sein Selbstbewußtsein. Als der ‚Marxist‘ Lassalle am 12. April 1862 auf einer großen Arbeiterversammlung einen Vortrag über seine Vorstellungen zur Lösung der sozialen Frage hielt, wurde er wegen Gefährdung des öffentlichen Friedens bzw. „Aufreizung der besitzlosen Klassen zu Haß und Verachtung gegen die Besitzenden“ am 4. November desselben Jahres beim Berliner Stadtgericht angeklagt. Am 16. Januar 1863 wurde der Prozeß in erster Instanz verhandelt und Lassalle zu vier Monaten Gefängnis verurteilt, aber in zweiter Instanz freigesprochen. Denn es war ja gar nicht zu verheimlichen, daß er nicht den Umsturz des gesamten Systems forderte, sondern konkrete Reformen für die materielle Besserstellung der Arbeiter durchsetzen wollte. „Er appellierte und hatte wenigstens den Erfolg, daß das Kammergericht die Gefängnisstrafe in eine verhältnismäßig unerhebliche Geldstrafe umwandelte.“135 Die vermittelnde Position zwischen zerstörerischer Revolution und lebensverbessernden Reformen wurde Andreas Arndt: Karl Marx (1985). 2. Aufl. Berlin 2012, S. 128. Der Briefwechsel zwischen Lassalle und Marx, hrsg. von Gustav Mayer (1922). Neudruck Osnabrück 1967, S. 28. Und später heißt es in diesem Brief, nachdem Lassalle Marx’ Schrift gegen Proudhon Misère de la Philosophie sehr gelobt hat, obwohl ökonomische Kategorien darin eine geringe Rolle spielten, während er Ricardos Grundrententheorie für „die gewaltigste kommunistische Tat“ (S. 29) für unverzichtbar hielt: „Aber gerade darum eben verlangt es mich so, das dreibändige Ungeheuer des Sozialist gewordenen Ricardo, des Ökonom gewordenen Hegel – denn dieses beides mußt und wirst Du vereinigen – auf meinem Studiertisch zu sehen.“ (Ebd.). 135 E. Bernstein: Ferdinand Lassalle (wie Anm. 49), S. 170 f. 133

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von verschiedenen Seiten, die sich für eine Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter einsetzten, immer mehr anerkannt und unterstützt. Entgegen den einseitigen Vorstellungen von Marx und Engels wurden bürgerliche Kreise von den elenden Lebensbedingungen vieler Arbeiter aufgerüttelt und versuchten Lösungen für die gravierendsten Probleme umzusetzen. Es war nämlich allen vernünftigen Beobachtern nicht verborgen geblieben, daß die massenhafte Beschäftigung von Arbeitern in Fabriken zu sozialen Problemen geführt hatte, die nicht mehr durch eine konservativ-rückwärtsgewandte Politik zu lösen waren. Etwa einen Monat nach diesem Vortrag wurde Lassalle vom Arbeiterkomitee in Leipzig aufgefordert, einen allgemeinen deutschen Arbeiterkongreß einzuberufen, worauf er mit einer Broschüre antwortete, in der er sein sozialistisches Programm von der Beteiligung der Arbeiter an der Produktion sowie von Produktivgenossenschaften, die staatlich gefördert werden sollten, entwickelte. Am 23. Mai 1863 wurde in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein mit 600 Mitgliedern und in Anwesenheit von Delegierten aus elf Städten – nämlich Barmen, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt am Main, Hamburg, Harburg, Köln, Leipzig, Mainz und Solingen – gegründet, der mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts die Arbeiter als staatliche Macht einsetzen wollte, und Lassalle mit einer Gegenstimme zum Präsidenten gewählt. Dieser Arbeiterverein war ein Vorläufer der Sozialistischen Arbeiterpartei bzw. der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die 1875 bzw. 1890 gegründet wurden und lange Zeit marxistische Positionen vertraten. Generell war den beiden Londoner Revolutionären die deutsche Sozialdemokratie noch viel zu stark vom Lassalleanismus infiziert und zu wenig vom revolutionären Vernichtungsgeist gegen den Kapitalismus durchdrungen. Wilhelm Liebknecht z. B., der zusammen mit August Bebel auf dem Eisenacher Kongreß vom 7. bis 9. August 1869 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gründete und später zu einem der eifrigsten Verfechter der marxistischen Orthodoxie emporstieg, wurde von Marx nicht gerade freundlich beurteilt. Am 24. Oktober 1868 schrieb er an Engels über Liebknecht: „Dieses Vieh scheint ganz verrückt.“ Und am 10. August 1869: „Das Vieh glaubt an den zukünftigen ‚Staat der Demokratie‘! Unterderhand ist das bald das konstitutionelle England, bald die bürgerlichen Vereinigten Staaten, bald die elende Schweiz. Von revolutionärer Politik hat ‚es‘ keine Ahnung.“136 Engels kommentierte das Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, das am 25. Mai 1875 auf dem Gothaer Vereinigungskongreß einstimmig angenommen wurde, in einem Brief an Wilhelm Bracke in Braunschweig vom 11. Oktober 1875 als ein Sammelsurium von „Lassalleschen Phrasen und Stichwörtern“137 und einer „Reihe vulgärdemokratischer Forderungen“, das niemals hätte angenommen werden dürfen. Marx und Engels hätten es vorgezogen, darüber zu schweigen, weil man es nicht in eine fremde Sprache übersetzen könne, denn es enthalte „hand-

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MEW. Bd. 32, Berlin 1974, S. 189 und S. 360 (Hervorhebung und Fettdruck im Ori-

ginal). 137

MEW. Bd. 34, Berlin 1974, S. 155. Dort auch das nächste Zitat.

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greiflich verrücktes Zeug“,138 dem man keinen kommunistischen Sinn unterzuschieben gezwungen wäre: „Eine Anzahl kommunistisch sinnvoller Sätze, meist dem ‚Manifest‘ entlehnt, aber so umredigiert, daß sie, bei Lichte betrachtet, samt und sonders haarsträubenden Blödsinn enthalten“. Trotzdem wurde noch 100 Jahre später die Auffassung vertreten: „Die Verkündung des Eisenacher Programms und die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bedeuteten einen großen Sieg der Ideen des wissenschaftlichen Kommunismus.“139 Auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat lange Zeit in der Bundesrepublik die herausragende Bedeutung von Marx und Engels als Gründungsväter ihrer Partei betont, statt sich kritisch mit deren revolutionären Programmen auseinanderzusetzen. Zurück zu den wirkungsvollen Aktivitäten Lassalles, die von revolutionären Marxisten noch 1983 nur mit tiefster Verachtung bedacht wurden: „Er gaukelte den Arbeitern das idealistische Phantom eines unabhängig von den Klassen existierenden sittlich bestimmten Staates vor, nährte Illusionen über den Parlamentarismus, sprach von Klassenversöhnung und opferte unabdingbare Prinzipien der proletarischen Sache durch kompromißbereite Verhandlungen auf.“140 Das Arbeiterkomitee der Leipziger ‚Demokraten‘, angeregt durch den Berliner Fortschrittsabgeordneten Ludwig Löwe, richtete an Lassalle folgendes Schreiben: „Sehr geehrter Herr! Ihre Broschüre: ‚Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes‘ ist hier überall von den Arbeitern mit großem Beifall aufgenommen worden und das Zentralkomitee hat sich in Ihrem Sinne in der Arbeiterzeitung ausgesprochen. Andrerseits sind von verschiedenen Seiten sehr ernstliche Bedenken ausgesprochen worden, ob die von Schulze-Delitzsch empfohlenen Assoziationen der großen Mehrzahl der Arbeiter, die gar nichts besitzt, genügend helfen können, ob namentlich durch dieselben die Stellung der Arbeiter im Staat in der Art verändert werden kann, wie es notwendig erscheinen muß. Das Zentralkomitee hat in der Arbeiterzeitung (Nr. 6) hierüber seine Ansichten ausgesprochen; es ist der Überzeugung, daß das Assoziationswesen unter unsern jetzigen Verhältnissen nicht genug leisten könne. – Da nun aber aller Orten die Ideen von Schulze-Delitzsch als maßgebend für den Arbeiterstand, unter dem wir die gedrückteste Klasse des Volkes verstehen, empfohlen werden, und da doch wohl noch andere Mittel und Wege, als die von Schulze-Delitzsch vorgeschlagenen, denkbar wären, um die Ziele der Arbeiterbewegung: Verbesserung der Lage der Arbeiter in politischer, materieller und geistiger Beziehung zu erreichen, so hat das Zentralkomitee in seiner Sitzung vom 10. Februar cr. einstimmig beschlossen: Ebd., S. 156. Dort auch das nächste Zitat. P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (wie Anm. 53), S. 586. Dagegen schreibt Hans Jürgen Krysmanski: Die letzte Reise des Karl Marx, Frankfurt am Main 2014, S. 96: „Die parteipolitische Bodenhaftung war bei Marx – anders als bei Engels – am Schluss nur noch gering.“ 140 So Thomas Höhle in seinem „Vorwort“ zu F. Mehring: Karl Marx (wie Anm. 91), S. 16 *. 138 139

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Sie zu ersuchen, in irgendeiner Ihnen passend erscheinenden Form Ihre Ansichten über die Arbeiterbewegung und über die Mittel, deren dieselbe sich zu bedienen hat, sowie besonders auch über den Wert der Assoziationen für die ganz unbemittelte Volksklasse, auszusprechen. Wir legen den größten Wert auf Ihre Ansichten, welche Sie in der angeführten Broschüre ausgesprochen haben, und werden deshalb auch Ihre ferneren Mitteilungen vollkommen zu würdigen wissen. Wir ersuchen Sie schließlich nur noch um möglichst baldige Erfüllung unserer Bitte, da uns viel daran liegt, die Entwicklung der Arbeiterbewegung zu beschleunigen. – Mit Gruß und Handschlag! Leipzig, 11. Februar 63. Für das Zentralkomitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses Otto Dammer.“141 Dieser Brief war der direkte Auslöser für Lassalles Broschüre Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig142 vom 1. März 1863, in 12.000 Exemplaren gedruckt und zum Preis von einem Silbergroschen für jeden Arbeiter erschwinglich. Dieses Schreiben war so gänzlich den revolutionären Vorstellungen Marx’ entgegengesetzt, daß man erstaunt sein muß, daß Mitglieder des Arbeiterkongresses sowohl Lassallesche als auch Marxsche Positionen vertraten. Darin sprach Lassalle sich erneut für Staatshilfe als das einzig wirksame Mittel aus, um demokratische Forderungen für die Arbeiterklasse, wie Freizügigkeit und Gewerbefreiheit durchzusetzen, was in Produktivgenossenschaften mit Staatskredit verwirklicht werden sollte. „Dieses Programm“, heißt es in einer russischen Marx-Biographie, „eröffnete der Arbeiterklasse keinerlei revolutionäre Aussichten und säte in ihren Reihen die Illusion, daß der Sozialismus ohne Klassenkampf erreichbar sei.“143 Auch der mit Lassalle sympathisierende Friedrich Albert Lange befürchtete schon 1865, daß bei Produktivassoziationen mit Staatskredit „diejenigen Arbeiter, welche davon der Natur ihrer Beschäftigung nach keinen Gebrauch machen können, Knechte, Gepäckträger, Tagelöhner für verschiedene Arbeiten, Handlanger u. s. w. eine Stufe tiefer sinken und den fünften Stand ausmachen werden“.144 Allerdings vertrat Lassalle in Anlehnung an den englischen Ökonomen David Ricardo (1772 – 1823) eine Theorie, daß der Arbeitslohn nicht wirklich steigen könne, weil aufgrund von Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften die Lohnhöhen nur geringen Schwankungen ausgesetzt seien und nannte dies das eherne ökonomische Gesetz. Nicht revolutionärer Umsturz, sondern die staatlich geförderte Unternehmensteilhabe mit einem angemessenen Arbeitsertrag zum Bestreiten des notwendigen Lebensunterhalts setzte Lassalle auf die politische Tagesordnung, was man nicht durch Zitiert von E. Bernstein: Ferdinand Lassalle (wie Anm. 49), S. 191 – 193. Eduard Bernstein, der vieles an Lassalle kritisierte, schrieb über diese Broschüre: „Die Schrift war wirklich ein agitatorisches Meisterwerk, sachlich und doch nicht trocken, beredt, ohne ins Phrasenhafte zu verfallen, voller Wärme und zugleich mit scharfer Logik geschrieben.“ (Ebd., S. 235). 143 P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (wie Anm. 53), S. 467. 144 F. A. Lange: Die Arbeiterfrage (wie Anm. 105), S. 149. Lassalle hatte die Arbeiterklasse als Vierten Stand bezeichnet. 141

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Konsumvereine erreichen könne. Die Begründung dafür war, daß ein höherer Lohn wegen der damit verbundenen Zunahme der Arbeiterbevölkerung aufgrund des ehernen Lohngesetzes wieder auf seinen früheren Stand herabgedrückt würde. Ganz dezidiert erklärte er in dem Antwortschreiben, daß nicht Kommunismus oder Sozialismus, sondern individuelle Freiheit, individuelle Arbeitsvergütung und individuelle Lebensweise die eigentlichen Ziele der arbeitenden Klassen sein müßten. Wir brauchen nur ein paar Sätze aus dem Werk von Ricardo von 1823 zu zitieren, um zu erkennen, daß Marx’ und Lassalles (falsche) ‚Lohntheorie‘ auf diesen Ökonomen zurückgehen: „Beim natürlichen Fortschreiten der Gesellschaft wird der Arbeitslohn, insofern er durch Angebot und Nachfrage bestimmt wird, eine sinkende Tendenz haben; denn das Angebot von Arbeitern wird im gleichen Maße, die Nachfrage nach ihnen jedoch in einem geringeren weiter steigen. Wenn der Lohn z. B. durch eine jährliche Kapitalszunahme zum Satze von 2 % reguliert wäre, so würde er, wenn es sich nur zum Satze von 1 ½ % ansammelte, heruntergehen. Er würde noch tiefer sinken, falls das Kapital nur zum Satze von 1 % oder ½ % wüchse, und würde weiter fallen, bis das Kapital stationär geworden wäre; in welchem Falle auch der Lohn stationär geworden wäre und gerade hinreichen würde, die Zahl der vorhandenen Bevölkerung aufrecht zu erhalten.“145 In einem sich durch neue Produkte, neue Erfindungen, neue Maschinen und neue industrielle Organisationsformen ständig verändernden Wirtschaftssystem gibt es kein ‚natürliches Fortschreiten der Gesellschaft‘, sondern der Arbeitslohn wird nicht nur durch Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch durch eine bessere Absatzstrategie oder höhere Produktivität beeinflußt. Unter dem von Ricardo als einzigem Faktor angenommenen Rückgang einer Kapitalinvestition müßte freilich auch der Lohn sinken oder sogar stationär werden, aber bei einer Ausdehnung der Produktpalette, bei einer Erschließung neuer Absatzmärkte oder bei einer Erhöhung der Konsumnachfrage wegen günstigerer Preise sind die Löhne selbst bei steigender Bevölkerung und ausbleibenden Krisen gestiegen. Einige Bemerkungen zu diesem Arbeitermanifest146 können eventuell die Unterschiede verdeutlichen, die zwischen Marx’ und Lassalles Ansichten über die politische Aufgabe der Arbeiterbewegung bestanden. Lassalle ging es tatsächlich um die zu ergreifenden Mittel zur „Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes in politischer, materieller und geistiger Beziehung“,147 um „das Elend von Arbeiterindividuen erträglicher zu machen“,148 auch wenn er sich über die mögliche Durchsetzbarkeit Illusionen hingab. Die zu bildenden Assoziationen und die legitimen Interessen können nach Lassalle nur im Rahmen der „politischen Freiheit“149 145

David Ricardo: Grundsätze der Volkswirtschaft und Besteuerung. 3. Aufl. Jena 1923,

S. 89. 146 Abgedruckt in Ferdinand Lassalle: Reden und Schriften, hrsg. von Friedrich Jenaczek, München 1970, S. 170 – 201. 147 Ebd., S. 170. 148 Ebd., S. 175 (Hervorhebung im Original). 149 Ebd., S. 171 (Hervorhebung im Original).

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errichtet bzw. verwirklicht werden. Sie unterschieden sich erheblich von den Schulze-Delitzschen Vorschuß- und Kreditvereinen sowie den Rohstoff- und Konsumvereinen, die zur Unterstützung handwerklicher Kleinbetriebe und nicht der Arbeiterschaft errichtet worden waren. Deswegen lehnte Lassalle es ab, daß eine deutsche Arbeiterpartei sich bei ihren Strategien an die preußische Fortschrittspartei anlehnte, die an der preußischen Verfassung festhalte und deshalb nicht das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht einfordere, weswegen sie unfähig sei, „die geringste reelle Entwicklung der Freiheitsinteressen herbeizuführen“.150 Der Arbeiterstand muß sich nach Lassalle als selbständige politische Partei konstituieren und als solche in der gesetzgebenden Körperschaft Deutschlands vertreten sein, wofür eine „friedliche und gesetzliche Agitation“151 mit einem politischen Programm durchgeführt werden müsse. Wir ersehen aus diesen wenigen Aussagen Lassalles in dem Antwortschreiben an das Zentralkomitee des deutschen Arbeiterkongresses in Leipzig, daß er sich mit Marx’ Revolutionsenthusiasmus weder anfreunden konnte noch ihm eine politische Chance einräumte, eine Verbesserung der Lage der Arbeiter zu erreichen. Allerdings konnte sich auch Lassalle nicht von illusionären Vorstellungen befreien, die in der politischen Realität der Bismarckzeit im luftleeren Raum schwebten, doch es scheint mir maßlos übertrieben zu behaupten, Lassalles Theorie enthalte „Elemente, die mit späteren totalitären Strömungen vergleichbar sind“.152 Einer dieser illusionären Vorschläge Lassalles bestand darin, die Arbeiter durch freiwillige Assoziationen, die durch den Staat gefördert werden sollten, zu Unternehmern zu machen, weil damit das eherne Lohngesetz beseitigt würde und die Arbeiterunternehmer einen ‚gerechten‘ Lohn erhielten. Illusionär war dieser Vorschlag vor allem deswegen, weil die meisten Arbeiter weder den inneren Antrieb verspürten noch die organisatorischen Fähigkeiten besaßen, die ökonomischen Risiken und physischen Belastungen einer Unternehmensgründung auf sich zu nehmen. Außerdem grenzte sich Lassalle damit von den Kreditgenossenschaften Hermann Schulze-Delitzsch’ (1808 – 1883) ab – ein „niemals extremer Stimmführer der Demokratie in den parlamentarischen Kämpfen“153 1848/49. Schulze hatte zur Lösung der sozialen Frage zuerst in seiner Vaterstadt Delitzsch sowohl einen Rohstoffverein sowie einen Vorschußverein, dann 1859 den Allgemeinen Verband der deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften gegründet, der nicht nur sehr erfolgreich war, sondern auch auf jegliche Staatshilfe verzichtete. Lassalle kritisierte in seinem Antwortschreiben ausführlich das Genossenschaftswesen auf der Basis der Selbsthilfe, weil er glaubte, daß die eigentliche Assoziation der ärmeren Klassen der Staat sei, obwohl eine Arbeiterpartei ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen müsse, um sich aus dem Niedriglohndilemma zu befreien: „Wenn Ebd., S. 173 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 174. 152 Hans Mommsen: Die geschichtliche Bedeutung Ferdinand Lassalles, in ders.: Arbeiterbewegung und Nationale Frage, Göttingen 1979, S. 174. 153 F. A. Lange: Die Arbeiterfrage (wie Anm. 105), S. 138. 150 151

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der Arbeiterstand sein eigner Unternehmer ist, so fällt jene Scheidung zwischen Arbeitslohn und Unternehmergewinn und mit ihr der bloße Arbeitslohn überhaupt fort, und an seine Stelle tritt als Vergeltung der Arbeit: der Arbeitsertrag!“154 Es soll hier nicht im einzelnen dargelegt und begründet werden, warum diese Vorstellung ebenso unrealistisch ist wie Marx’ Revolutionstheorie einer international zusammengeschweißten Arbeiterklasse. Es mag ausreichen, den unüberbrückbaren Gegensatz zu Marx’ Zusammenbruchtheorie des Kapitalismus, dem eine klassenlose Gesellschaft nachfolgen sollte, in einem Zitat zu verdeutlichen: „Nichts ist weiter entfernt von dem sogenannten Sozialismus und Kommunismus als die Forderung, bei welcher die arbeitenden Klassen ganz wie heut ihre individuelle Freiheit, individuelle Lebensweise und individuelle Arbeitsvergütung beibehalten und zu dem Staat in keiner andern Beziehung stehen, als daß ihnen durch ihn das erforderliche Kapital resp. der erforderliche Kredit zu ihrer Assoziation vermittelt wird. Das aber ist gerade die Aufgabe und Bestimmung des Staates, die großen Kulturfortschritte der Menschheit zu erleichtern und zu vermitteln. Das ist sein Beruf.“155 Den Staat sah Lassalle nicht als ‚Überbau‘ eines von ökonomischen Gesetzen bestimmten kapitalistischen Wirtschaftssystems, sondern als den kulturellen Förderer menschlicher Fortschritte, dessen Aufgaben weit über eine reine finanzielle Förderung von Kreditgenossenschaften hinausgehen sollten. Noch 1892 schrieb der Sozialdemokrat, Reichstagsabgeordnete und Redakteur der Zeitschrift Volkswille in Hannover – seit 1902 war er Mitarbeiter für Die Neue Zeit und Vorsitzender des Vereins Arbeiterpresse –, Emanuel Wurm (1857 – 1920), mit stolzgeschwellter Brust über Lassalle: „Vergeblich hat Ferdinand Lassalle nicht gesprochen! Schon ist der Kern der deutschen Arbeiterschaft zum Bewußtsein erwacht und weiß, daß und was er zu fordern hat. Schon zählen wir nach Hundertausenden Diejenigen, welche aufgerüttelt sind aus dem dumpfen Wahn, daß sie zum Leiden, zur Knechtschaft geboren!“156 Die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften hatten während dieser Zeit einen so großen Zulauf, daß sie den Unternehmern mit einer Arbeitermacht durch das Bundeslied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, das von Georg Herwegh 1863 gedichtet wurde, drohen konnten. Die zehnte Strophe davon lautet: „ Mann der Arbeit, aufgewacht! Und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still, Wenn dein starker Arm es will.“ Das ungewöhnliche Ende des kurzen Lebens des Juden Lassalle, in dessen Elternhaus nach Franz Mehring „der fade Dunst des polnischen Judentums geherrscht“157 habe, wirft die Frage auf, wie sich der deutsche Kommunismus bzw. Sozialismus unter seiner Führung weiterentwickelt und ob nicht der Lassalleanis154

F. Lassalle: Reden und Schriften (wie Anm. 146), S. 188 (Hervorhebungen im Ori-

ginal). Ebd., S. 189 f. (Hervorhebungen im Original). Emanuel Wurm: Die Lebenshaltung der deutschen Arbeiter, Dresden 1892, S. 4 (Hervorhebungen im Original). 157 F. Mehring: Karl Marx (wie Anm. 91), S. 184. 155

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mus statt des Marxismus die Oberhand gewonnen hätte? Denn der Marxismus war immer eine politische Ideologie, die die Massen zu begeistern versuchte, die sich aber um die konkreten Lebensnöte und emotionalen Bedürfnisse der einfachen Arbeiter wenig kümmerte, weil nur die Massenbewegung zum Sieg führen könne. Lassalle wäre möglicherweise zu einem der führenden sozialdemokratischen Strategen während des Deutschen Kaiserreichs emporgestiegen, d. h. der Kommunismus wäre in der Sozialdemokratie eine Randerscheinung geblieben. Doch seine agitatorische Tätigkeit für diesen Verein endete abrupt und so spektakulär, daß dieses tragische Ende einer europäischen Sensation gleichkam. Er hatte sich nämlich in die Tochter eines bayerischen Diplomaten verliebt, angeblich unsterblich, aber da Unsterblichkeit den Göttern vorbehalten ist, endete seine unglückliche Liebe an den Folgen des irrationalen Ehrenkodex der damaligen Zeit. Der Vater dieser hübschen Helene von Dönniges vermutete wahrscheinlich zu Recht, daß Lassalle ein sexuelles Verhältnis mit ihr gehabt hatte, weil seine Tochter, die bereits verlobt war, Lassalle unbedingt heiraten wollte, was er mit aller Macht zu verhindern trachtete. Wie bei dem Widerstand der Familie von Westphalen gegenüber dem jungen Karl Marx und seiner Verbindung mit der Tochter Jenny von Westphalen, war der 1862 in den erblichen Freiherrenstand erhobene und zum Schweizer Gesandten ernannte Historiker Franz Alexander Friedrich Wilhelm von Dönniges (1814 – 1872) nicht bereit, in die Ehe seiner 18jährigen Tochter mit einem Sozialisten und Juden einzuwilligen. Die Auseinandersetzung eskalierte und Lassalle forderte im Überschwang der Gefühle den Vater zu einem Pistolenduell, was er eigentlich schon der Tochter zuliebe unterlassen haben müßte, doch Liebe macht ja angeblich blind. Es ist ohnehin unbegreiflich, welcher Liebesteufel den vielumschwärmten Arbeiterführer Lassalle dazu bewogen hat, sich in ein so riskantes Abenteuer mit tödlichem Ausgang zu begeben, aber offenbar war er ganz von Sinnen. Er schaltete nicht nur den bayerischen Ministerpräsidenten und Außenminister Karl Frh. von Schrenck (1806 – 1884) in dieser Angelegenheit ein, der ein Schreiben an den Vater von Helene von Dönniges richtete, in dem er erklärte, daß sie nach bayerischer Gesetzeslage alt genug sei, um auf eine väterliche Heiratserlaubnis verzichten zu können. Sondern Lassalle erklärte sich auch gegenüber dem Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel Frh. von Ketteler (1811 – 1877) bereit, zum Katholizismus überzutreten, wenn dieser bei dem in der Schweiz lebenden Diplomaten Dönniges erfolgreich Fürsprache für ihn einlegte! Außerdem nutzte er seine Bekanntschaft mit Hans von Bülow, um diesen in einem langen Brief aufzufordern, „Ihren mächtigen Freund“158 Richard Wagner dazu zu bringen, bei dem bayerischen König Ludwig II. vorzusprechen, damit dieser auf Herrn von Dönniges in Lassalles Sinne einwirke! Der Diplomat Dönniges ließ sich auf alle diese zwielichtigen Händel nicht ein und verweigerte jegliches Zusammentreffen mit Lassalle oder den Austausch von Argumenten wegen der Heiratserlaubnis für seine Tochter. An dessen Stelle kam allerdings der Verlobte Janko von Rakowitz zum Duell am 28. August 1864 und feuerte einen Schuß ab, an dessen Folgen Lassalle drei Tage später in Genf im 158

Briefe an Hans von Bülow von Ferdinand Lassalle, Dresden/Leipzig 1885, S. 64.

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Alter von 39 Jahren starb. Eduard Bernstein kommentierte diese gefühlsmäßige Inkonsequenz des Heroen der Arbeiterbewegung süffisant: „Wer sich den Bojaren Janko von Rakowitza im Duell gegenüberstellte, das war nicht der Sozialist Lassalle, sondern der verjunkerte Kaufmannssohn Lassalle, und wenn mit dem letzteren auch der erstere, der Sozialist, im Duell erschossen wurde, so sühnte er damit die Schuld, daß er jenem die Macht über sich eingeräumt hatte.“159 Noch 1978 konnte man sich in einer Geschichte der SED nicht mit Lassalle aussöhnen und unterstellte ihm, er habe „nichtmarxistische Auffassungen, durch die er die sich formierende Arbeiterbewegung desorientierte“,160 vertreten. Wer unglücklicher war, Helene von Dönniges wegen des plötzlichen Verlustes ihres Geliebten oder die Arbeiter wegen des endgültigen Todes eines mitreißenden Redners, ist historisch nicht mehr zu eruieren. Etwas mehr als ein Jahr nach seiner Wahl zum Präsidenten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins war dieser Hoffnungsträger der sozialistischen Bewegung tot, aber die historische Ironie verträgt es, daß Bernhard Becker und Johann Baptist von Schweitzer durch die Vermittlung von Wilhelm Liebknecht, der 1862 von London nach Deutschland zurückgekehrt war, Marx die Präsidentschaftsnachfolge der Arbeiterpartei antrugen. Liebknecht war dazu von dem ebenfalls aus der Emigration zurückgekehrten Bismarckanhänger August Braß (1818 – 1876) aufgefordert worden, der die Norddeutsche Allgemeine Zeitung gründete und Liebknecht als Redakteur einstellte, was Liebknecht aber nicht lange aushielt. Doch abgesehen davon, daß Marx sich wohl wegen seinen intensiven Studien im Londoner British Museum für sein Hauptwerk, Das Kapital, nicht mehr gerne nach Deutschland zurückgekehrt wäre, hätte er seine Präsidentschaft in der Arbeiterpartei wegen interner Differenzen nicht lange ausgeübt. Am 6. Juli 1868 wurde Marx eine offizielle Einladung als Ehrengast der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADA) unter Vorsitz J. B. von Schweitzers in Hamburg übermittelt, doch Marx zog es vor, in London zu bleiben, obwohl der Braunschweiger Verleger Wilhelm Bracke auf der Generalversammlung von 22. bis 28. August über das Kapital referierte. Marx wußte wohl, daß August Bebel am 5. September 1868 einen Vereinstag des Verbandes Deutscher Arbeitervereine plante, der sich an die IAA anlehnte und den ADA ablehnte.161 159 E. Bernstein: Ferdinand Lassalle (wie Anm. 49), S. 293. Gustav Landauer: Sein Lebenswerk in Briefen. 1. Bd., Frankfurt am Main 1929, S. 440, schrieb über die in meinem Vorwort erwähnten Eingriffe von Eduard Bernstein in den Briefwechsel zwischen Marx und Engels: „Die Partei wollte ihn ganz sekretieren; es hat jahrelange Kämpfe gekostet; und nun wird er nur gereinigt von allen Stellen, die Anstoß erregen könnten, herausgegeben.“ (Brief an Ludwig Berndl vom 9. August 1913). 160 Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1978, S. 16. 161 Am 16. September 1868 löste die Leipziger Polizei den ADA auf, der sich jedoch am 10. Oktober dieses Jahres unter Leitung von J. B. von Schweitzer in Berlin unter dem gleichen Namen wiederbegründete. Über den Berliner Kongreß schrieb Marx am 13. Oktober an Schweitzer: „Sie müßten sich also mit den Führern außerhalb des Lassalleschen Kreises verständigen, gemeinsam mit ihnen den Plan ausarbeiten und den Kongreß berufen. Statt

D. Der Kampf mit dem „jüdischen Nigger“ Ferdinand Lassalle

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Dieses plötzliche Ableben eines der größten Arbeiterführer war jedenfalls so sensationell, daß selbst Marx an Engels schrieb, es sei schwierig „zu glauben, daß so ein geräuschvoller, stirring, pushing Mensch nun maustot ist und altogether das Maul halten muß“.162 Diese Äußerung reiht sich zwar in die vorher zitierten abwertenden Beurteilungen ein, aber sie zeigt doch deutlich, daß Marx sich bewußt war, welche bedeutende Persönlichkeit in einem jungen Alter die politische Bühne verlassen mußte, auch wenn er die eigentlichen Fähigkeiten Lassalles nicht erkannte bzw. wahrhaben wollte. Auch Engels beurteilte Lassalles Bemühen um die deutsche Arbeiterschaft in einem Brief an Marx vom 27. Januar 1865 negativ, wahrscheinlich weil er Geheimverhandlungen mit Otto von Bismarck geführt hatte, um diesen vom allgemeinen Wahlrecht und/oder der staatlichen Unterstützung von Konsumvereinen zu überzeugen. „Subjektiv mag seine Eitelkeit ihm die Sache plausibel vorgestellt haben, objektiv war es eine Schufterei, ein Verrat der ganzen Arbeiterbewegung an die Preußen.“163 Generationen von marxistischen Denkern haben entweder diese negativen Charakterisierungen übernommen oder sie konnten sich von einer zwiespältigen Beurteilung dieses bedeutenden Arbeiterführers nicht freimachen. Die unversöhnliche Rivalität bestand zwischen Marx und Lassalle auch noch nach dessen Tod, weil Marx in der Arbeiterpartei lediglich einen Steigbügelhalter für reaktionäre Tendenzen der Bismarckära erkennen konnte, was er in einem Brief vom 13. Februar 1865 an Johann Baptist von Schweitzer unmißverständlich ausdrückte: „Daß die Enttäuschung über Lassalles unselige Illusion eines sozialistischen Eingreifens einer preußischen Regierung kommen wird, ist über allen Zweifel erhaben. Die Logik der Dinge wird sprechen. Aber die Ehre der Arbeiterpartei erheischt, daß sie solche Trugbilder zurückweist, selbst bevor deren Hohlheit an der Erfahrung geplatzt ist. Die Arbeiterklasse ist revolutionär oder sie ist nichts.“164 Noch rücksichtsloser schilderte Marx sein (Nicht-)Verhältnis zu Lassalle in einem Brief vom 23. Februar desselben Jahres an Ludwig Kugelmann dessen ließen Sie nur die Alternative, offen sich Ihnen anzuschließen oder Front gegen Sie zu machen.“ (MEW. Bd. 32, Berlin 1974, S. 570. Hervorhebungen im Original). 162 Brief an Engels vom 7. September 1864, in: MEW. Bd. 30, Berlin 1972, S. 432. 163 MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 45 f. Nachdem er am 3. September 1864 eine telegraphische Nachricht vom Tod Lassalles durch Marx erhalten hatte, schrieb er einen Tag später in einem versöhnlicheren Ton: „Du kannst Dir denken, wie mich die Nachricht überraschte. Lassalle mag sonst gewesen sein, persönlich, literarisch, wissenschaftlich, wer er war, aber politisch war er sicher einer der bedeutendsten Kerle in Deutschland. Er war für uns gegenwärtig ein sehr unsichrer Freund, zukünftig ein ziemlich sichrer Feind, aber einerlei, es trifft einen doch hart, wenn man sieht, wie Deutschland alle einigermaßen tüchtigen Leute der extremen Partei kaputtmacht. Welcher Jubel wird unter den Fabrikanten und unter den Fortschrittsschweinhunden herrschen, L[assalle] war doch der einzige Kerl in Deutschland selbst, vor dem sie Angst hatten.“ (MEW. Bd. 30, Berlin 1972, S. 429). 164 MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 446 (Erste Hervorhebung im Original, zweite von mir). Schon am 22. Dezember 1864 hatte Marx an Carl Siebel in Elberfeld geschrieben: „Du verstehst, daß der Beitritt des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, nur für den Anfang,

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8. Kap.: London und der Sieg der Revolution

in Hannover, in dem er zwar dessen agitatorische Verdienste anerkannte, weil er sich früher als Anhänger von Marx’ kommunistischer Partei erklärt habe, aber danach sei er zum ‚Arbeiterdiktator‘ geworden: „Während seiner Agitation war unser Verhältnis suspendiert, 1. wegen der selbstlobhudelnden Renommisterei, womit er zugleich den schamlosesten Plagiarismus an meinen etc. Schriften verband; 2. weil ich seine politische Taktik verdammte; 3. weil ich ihm schon vor Eröffnung seiner Agitation hier in London ausführlich erklärt und ‚bewiesen‘ hatte, daß unmittelbar sozialistisches Eingreifen eines ‚StaatsPreußen‘ Unsinn sei.“165 Zwei extreme und prestigesüchtige Denker, deren Wege sich für eine kurze Zeit gekreuzt hatten, waren in ihren politischen Ansichten so verschieden, daß das gleiche politische Ziel zu ganz verschiedenen Lösungen führen mußte. Lassalle, der revolutionäre Aktionen der Arbeiterklasse nicht als eigentliche Triebkraft zur Lösung der sozialen Frage ansah, aber die Beteiligung der Arbeiter an den Produktionsgewinnen sowie ein allgemeines und gleiches Wahlrecht forderte, zog sich deshalb auch nach seinem Tod noch den vernichtenden Zorn von Marx zu, der am 3. Februar 1865 an Engels schrieb: „Es ist nichts zu machen mit dem Arbeiterverein, wie Baron Itzig [das war Lassalle, H.K.] ihn versucht hat. Je rascher er aufgelöst wird, um so besser.“166 Wir müssen uns einmal klar machen, was diese Aussage für die sozialistische Bewegung bedeutete: Der berühmteste Vordenker von Sozialismus und Kommunismus wollte mit einem Arbeiterverein nichts, aber auch gar nichts zu tun haben, denn er kümmerte sich nicht um das Los der Arbeiter, sondern um seine Revolution bzw. den Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft. Mit anderen Worten: „In dem Kopf des Sozialisten Marx reifte der Plan, die erste sozialistische Arbeiterpartei der Welt zu ruinieren.“167 Die ungeheuren Lobeshymnen auf den arbeiterfreundlichen Marx erweisen sich in der politischen Auseinandersetzung mit einem ernstzunehmenden Rivalen als null und nichtig, denn wo sollte denn der revolutionäre Elan geweckt werden, wenn nicht in der organisierten Arbeiterklasse?

unsren hiesigen Gegnern gegenüber gebraucht wird. Später muß das ganze Institut dieses Vereins, als auf falscher Basis ruhend, gesprengt werden.“ (Ebd., S. 437). 165 Ebd., S. 451 (Hervorhebungen und Fettdruck im Original). 166 Ebd., S. 52. 167 Leopold Schwarzschild: Der rote Preuße, Stuttgart 1954, S. 331.

9. Kapitel

Die endgültige Vernichtung des kapitalistischen Systems 9. Kap.: Die endgültige Vernichtung des kapitalistischen Systems 9. Kap.: Die endgültige Vernichtung des kapitalistischen Systems

Marx hatte in verschiedenen Schriften vor dem Kapital bereits seiner festen Überzeugung Ausdruck verliehen, daß revolutionäre Umwälzungen durch eine internationale Arbeiterbewegung nicht lange auf sich warten ließen. Denn die Ausbeutung des Proletariats durch den Kapitalismus schreite voran und habe inzwischen ein solches Ausmaß angenommen, daß dieses System nicht mehr gerettet werden könne; außerdem bedingten historische Entwicklungsgesetze ohnehin den Untergang dieses Gesellschaftssystems. Die unauflösliche Abhängigkeit von staatstragenden Politikern von den ökonomischen, klassenbedingten Interessen müsse notwendigerweise zu einem revolutionären Urknall führen, da Revolutionen „die Lokomotiven der Geschichte“1 seien und den Arbeiterzug in den sicheren Hafen der klassenlosen Gesellschaft hineinzögen. Wenn also solche Revolutionen unvermeidbar sind und die eigentlichen Triebkräfte des gesellschaftlichen Fortschritts darstellen, dann muß es ja wohl auch möglich sein, vorherzusagen, wann die Bedingungen erfüllt sind, daß eine Arbeiterrevolution den endgültigen Sieg über die Kapitalistenklasse erringen kann. Schließlich hat ja auch Isaac Newton mit seiner Gravitationstheorie vorausgesehen, daß noch nicht entdeckte Planeten sich auf einer elliptischen Bahn bewegen müssen. Wir haben bereits erörtert, daß die Vorstellungen von Marx und Engels, die Arbeiterklasse könne der Hauptträger der revolutionären Bewegungen sein, mit den tatsächlichen Bedingungen arbeitender Menschen in kapitalistischen Systemen nicht vereinbar ist. Aber auch eine diktatorische Partei – mit Ausnahme der Bolschewiki in Rußland, denen es in der Revolution an Parteistrukturen fehlte – hat in keiner Periode der modernen Geschichte die Möglichkeit erlangt, durch Revolution oder Krieg eine existierende Gesellschaftsklasse völlig auszulöschen. Die siegreiche Vernichtungsschlacht bzw. die revolutionären Kampfparolen existierten vor allem in der Ideologie von Marx und den Marxisten, was sie nicht menschlicher macht und sie lautete: „Sturz der Bourgeoisie! Diktatur der Arbeiterklasse!“2 Dieser revolutionäre Sozialismus, der Kommunismus, der angeblich die Arbeiter aus ihrem sklavenhalterischen Joch befreien und erlösen soll, hat nach Marx folgendes Aussehen: „Dieser Sozialismus ist die Permanenzerklärung der Revolution, die Klassendiktatur des Proletariats als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt, zur Abschaffung sämt1 Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: MEW. Bd. 7, Berlin 1969, S. 85 (Hervorhebung im Original). 2 Ebd., S. 33 (Hervorhebung im Original).

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9. Kap.: Die endgültige Vernichtung des kapitalistischen Systems

licher Produktionsverhältnisse, worauf sie beruhen, zur Abschaffung sämtlicher gesellschaftlichen Beziehungen, die diesen Produktionsverhältnissen entsprechen, zur Umwälzung sämtlicher Ideen, die aus diesen gesellschaftlichen Beziehungen hervorgehen.“3 Revolution in Permanenz, Diktatur einer Arbeiterpartei, Abschaffung von Standesunterschieden sowie die Indieluftsprengung der Produktionsverhältnisse etc. – man kann nicht gerade behaupten, dies sei ein bescheidenes Programm. Es bleibt jedoch ein erstaunliches Faktum, daß eine solche grobschlächtige Reduzierung der außerordentlichen Mannigfaltigkeit der Geschichte und Ökonomie so viele Anhänger gefunden hat und nur wenige Denker, wie Arthur Mülberger, eine kritische Einstellung dazu fanden: „Diese Einengung geht so weit, dass ihm schliesslich ein einzelnes Organ dieser Entwicklung, das moderne Proletariat, als ihr ausschliesslicher Träger und als Demiurg der Welt erscheint.“4 Nehmen wir einmal an, diese marxistische Wunschvorstellung sei in einem kapitalistischen Staat, in Deutschland, England, Frankreich oder den USA, in irgendeiner Form verwirklicht worden, vielleicht durch eine Bewaffnung der Arbeiter durch das Militär. Und malen uns die ökonomischen und sozialen Folgen aus, die damit verbunden gewesen wären, dann können wir uns unschwer vorstellen, daß dadurch völkermordähnliche Zustände heraufbeschworen worden wären. Und wie hätte die Gesellschaft ausgesehen, deren ökonomische und organisatorische, rechtliche und soziale Grundlagen zerstört wurden? Das Resultat wäre eine anarchistische Gesellschaft, in der sich das Recht des Stärkeren durchsetzt und in der tatsächlich der Mensch des Menschen Wolf wäre und keinerlei Freiheit existierte. Zwar gibt es Denker, die glauben: „Leben wir doch in einer planlosen, anarchistischen Gesellschaft!“5 Doch die kapitalistischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts waren alles andere als anarchistisch und eine Revolution nach 1849 lag nicht nur außerhalb ihrer Vorstellungen, sondern wäre ihren Ordnungssystemen vollständig zuwidergelaufen. Die marxistischen Revolutionshoffnungen in kapitalistischen Staaten waren reine Hirngespinste, selbst wenn sie durch jede kleinere oder größere ökonomischen Krise bei ihren Anhängern Auftrieb erhielten. Als sich z. B. die erste sogenannte Weltwirtschaftskrise6 von 1857, die eigentlich eine Handelskrise war mit einem enormen Rückgang der Getreidepreise, von den USA nach England und auf den europäischen Kontinent ausbreitete, jubelte Marx in einem Brief an Engels vom 13. November 1857: „So sehr ich selbst in financial distress, habe ich seit 1849 nicht so cosy gefühlt als bei diesem outbreak.“7 Zwei Tage nach Marx’ Brief antwortete Engels, daß ihm ähnlich zumute sei und er sich „enorm fidel“8 fühle, nachdem der Schwindel in New York zusammengebrochen sei: „Der Ebd., S. 89 f. (Hervorhebungen im Original). Arthur Mülberger: P. J. Proudhon, Stuttgart 1899, S. 193. 5 Franz Mehring: Karl Marx (1918). 5. Aufl. Berlin 1983, S. 379. 6 Vgl. Hans Rosenberg: Die Weltwirtschaftskrise (1934). 2. Aufl. Göttingen 1974, S. 105 ff. 7 MEW. Bd. 29, Berlin 1973, S. 207. 8 Ebd., S. 211. 3

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A. Die Internationale und die Industrialisierung

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bürgerliche Dreck der letzten sieben Jahre hatte sich doch einigermaßen an mich gehängt, jetzt wird er abgewaschen, ich werde wieder ein andrer Kerl. Die Krisis wird mir körperlich ebenso wohltun wie ein Seebad, das merk’ ich jetzt schon.“9 Jedes unbedeutende oder ansehnliche Anzeichen einer krisenhaften Entwicklung des kapitalistischen Systems wurde von Marx und Engels zum Anlaß genommen, um revolutionäre Funken sprühen zu sehen, die hoffentlich bald einen weltweiten revolutionären Brand auslösen sollten.

A. Die Internationale und die Industrialisierung Der Marxsche Rigorismus und Fanatismus kannte nur ein lohnenswertes Ziel, für das alle vorhandenen Kräfte eingesetzt werden mußten, nämlich die endgültige Vernichtung des kapitalistischen Systems weltweit. Mit dem Austausch des vielverwendeten Begriffs „Bourgeoisie“ durch „Kapitalismus“ bzw. „kapitalistisches System“ war Marx eine zündende Idee gekommen, denn nun konnte man ein ganzes staatliches Gebäude angreifen und nicht nur eine ‚Klasse‘, die es so in Reinformat niemals gegeben hatte. Selbst wenn Marx den Begriff ‚Kapitalismus‘ selten benutzte, so richteten sich seine zentralen Angriffe auf genau dieses System, dem er unterstellte, die Arbeiterklasse lediglich zu seinen eigenen Vorteilen auszubeuten, indem es immer mehr Mehrwert aus ihm herauspreßte. Außerdem blieb im Marxschen Jargon ziemlich unklar, warum die französische Bezeichnung für Bürgertum viel mit dem kapitalistischen System zu tun haben sollte. Dieses System beruhte nach Marx ja auf dem einträglichen Zusammenspiel von Politik und Industrie, wodurch die Arbeiter maßlos ausgebeutet wurden, während ‚Bürger‘ eher eine allgemeine Bezeichnung für die Bewohner eines Territoriums im Unterschied zum Adel darstellte, z. B. als Stadtbürger. Die begriffliche Fixierung auf ‚Kapitalismus‘ bzw. kapitalistisches System machte es nun auch eher möglich, den Umsturz der gesamten industriellen Gesellschaft durch eine soziale Revolution vorauszusagen – falsche Voraussagen ziehen sich durch das ganze Werk von Marx und Engels! Dazu bot sich viele Jahre nach den revolutionären Erhebungen von 1848 nach dem 18. Februar 1863 eine Gelegenheit, als auf der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses die liberale Mehrheit die reaktionäre Politik der preußischen Regierung in der polnischen Frage verurteilte. Marx war sich wegen dieser außenpolitischen Spannungen wieder einmal sicher: „Wir werden bald Revolution haben.“10 Es ist erstaunlich, daß dieses realitätsverleugnende Wunschdenken von Marxisten und Kommunisten seinem Erfinder nicht angelastet wurde, obwohl die Revolutionsbereitschaft der arbeitenden Klasse in allen Industriestaaten ständig abnahm und Gewerkschaften eine Reformpolitik betrieben, die durch Streiks und Aussperrungen die Lohnerhöhungsfrage ins Zentrum von Arbeiterforderungen stellte. Vor allem das hochindustrialisierte England, wo das kapitalistisch-indu9 10

Ebd., S. 211 f. Brief an Engels vom 21. Februar 1863, in: MEW. Bd. 30, Berlin 1972, S. 333.

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9. Kap.: Die endgültige Vernichtung des kapitalistischen Systems

strielle System fast seit einem Jahrhundert bestand und wo Marx sich tagtäglich über dessen Fortschritte informieren konnte, hatte längst mit durchgreifenden Reformen begonnen. Auch in Deutschland beschloß der Textilarbeiter-Kongreß 1886 in § 1 der Verbandsstatuten den Satz aufzunehmen: „Gleiche Löhne für gleiche Leistungen!“ Diese intensiven Studien der gravierenden Veränderungen ökonomischer und sozialer Verhältnisse durch die Industrialisierung hatten bei Marx das analytische Bewußtsein geschärft, wie revolutionär die moderne Industrie bzw. das Kapital die traditionellen Grundfesten der alten Gesellschaften umwälzte. In den Grundrissen vom Ende der 1850er Jahre mühte er sich redlich darum, diese Entwicklungen theoretisch einzufangen: „Das Kapital treibt dieser seiner Tendenz nach ebensosehr hinaus über nationale Schranken und Vorurteile, wie über Naturvergötterung, und überlieferte, in bestimmten Grenzen selbstgenügsam eingepfählte Befriedigung vorhandner Bedürfnisse und Reproduktion alter Lebensweise. Es ist destruktiv gegen alles dies und beständig revolutionierend, alle Schranken niederreißend, die die Entwicklung der Produktivkräfte, die Erweiterung der Bedürfnisse, die Mannigfaltigkeit der Produktion und der Exploitation und den Austausch der Natur- und Geisteskräfte hemmen.“11 Diese umwälzende Funktion des modernen Kapitalismus war keineswegs eine neue oder überraschende Erkenntnis von Marx, sondern seit Adam Smith in vielfältigen ökonomischen Schriften dargelegt worden – höchstens die Hegelsche Diktion war originärer Marx. Auch die daran anschließende Idee, daß die kapitalistische Produktion widersprüchlich sei bzw. begrenzt ist, war Gemeingut französischer und englischer Ökonomen. Lediglich Marx’ unumstößliche Behauptung, daß auf einer gewissen Entwicklungsstufe das ‚Kapital‘ „zu seiner Aufhebung durch es selbst hintreiben“12 müßte, war seine eigene Überzeugung. Wir müssen uns bei wissenschaftlichen Analysen allerdings fragen, was Prognosen wert sein können, die so unbestimmt formuliert sind, daß sie jederzeit und niemals eintreffen können, weil ‚Aufhebung‘ auf ganz verschiedene Weise interpretiert werden kann. Es war und ist ja ein beliebtes Gesellschaftsspiel, die Zukunft aus dem Kaffeesatz, der Glaskugel oder den Neujahrswünschen herauszulesen, aber bei nüchterner Betrachtung können wir ihnen keinen großen Wahrheits- oder Realitätsgehalt zubilligen. Der Revolutionär Marx war jedoch derart fixiert auf eine Zerstörung aller unternehmerischen Produktionsstätten, daß er die konkreten Veränderungen nicht sehen wollte und seine gedanklichen Anstrengungen lediglich darauf richtete, wie die Arbeiterklasse revolutionär ausgerichtet werden konnte. Um überhaupt noch politischen Einfluß auf die sich rasant verändernden ökonomischen Verhältnisse ausüben zu können, mußte eine organisatorische Struktur geschaffen werden, dies war Marx trotz seiner fanatischen Ideologie vollkommen klar, obwohl er darin keine führende Rolle spielen sollte. Nachdem am 28. September 1864 in London 11 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt am Main o. J. (1967), S. 313. 12 Ebd., S. 314.

A. Die Internationale und die Industrialisierung

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die Internationale Arbeiter Association (IAA), die sogenannte I. Internationale, ohne seine direkte Mitwirkung gegründet worden war, schrieb Marx eine Adresse an die Arbeiterklassen.13 Die IAA hieß ursprünglich Working Men’s International Association, in der sich sozialistische bis anarchistische Gruppierungen aus 13 europäischen Staaten und den USA zusammengeschlossen hatten. Marx war von dem englischen Gewerkschaftsführer William Randal Cremer zur Gründungsversammlung der Arbeiterassoziation eingeladen worden und brachte den Schneider Johann Georg Eccarius mit, der als Repräsentant der deutschen Arbeiterschaft auf der Versammlung sprechen durfte.14 Die Adresse war von Marx zuerst in englischer Sprache verfaßt worden und wurde am 27. Oktober 1864 der Zentralkommission vorgelegt, die über deren Annahme oder Ablehnung zu entscheiden hatte. Sie erschien auf Deutsch in der Zeitschrift Der Social-Demokrat in Berlin vom 21. und 23. Dezember 1864, doch in dieser Adresse kamen die Begriffe Sozialismus und Kommunismus nicht ein einziges Mal vor. Als anzustrebendes Ziel wurde die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse beschworen und die Zehnstundenbill als großer praktischer Erfolg gelobt. Diese vorsichtigen Formulierungen geschahen wohl sowohl aus Rücksicht gegenüber seinen englischen Gewerkschaftlern als auch aus überlegter Kalkulation, nicht zu voreilig mit seinen ideologischen Vorstellungen vorzupreschen. Am 29. November 1864 etwa teilte Marx Joseph Weydemeyer im amerikanischen St. Louis mit, daß er dem Internationalen Arbeiterkomité einige Bedeutung beimesse und zwar aus folgenden Gründen: „Die englischen Mitglieder desselben bestehn nämlich meist aus den Chefs der hiesigen Trade-Unions, also den wirklichen Arbeiterkönigen von London, denselben Leuten, die dem Garibaldi den Riesenempfang bereiteten und die durch das Monstermeeting in St. James‘ Hall (unter Brights Vorsitz) Palmerston verhinderten, den Krieg gegen die United States zu erklären, was er auf dem Punkt stand zu tun. Von seiten der Franzosen sind die 13 Vgl. Karl Marx: Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation, gegründet am 28. September 1864 in öffentlicher Versammlung in St. Martin’s Hall, Long Acre, in London, in: MEW. Bd. 16, Berlin 1973, S. 5 – 13. Ja sogar der internationalen Arbeitersolidarität schwor Marx in gewisser Weise ab, um „bürgerlich-philanthropische Salbader und ein paar trockne politische Ökonomen“ (ebd., S. 12) anzuklagen, daß sie das Kooperativsystem als Ketzerei der Sozialisten abgetan hätten: „Um die arbeitenden Massen zu befreien, bedarf das Kooperativsystem der Entwicklung auf nationaler Stufenleiter und der Förderung durch nationale Mittel“ (ebd., Hervorhebungen von mir). 14 Sein Bruder war Johann Friedrich Eccarius, ebenfalls Schneidergeselle aus Friedrichsroda in Sachsen-Gotha, über den es in einem Polizeibericht von 1854 heißt: „Er war seit 1847 in Hamburg in Arbeit, kam dort im Mai 1851 wegen Verdachts der Theilnahme am Kommunistenbunde in Haft, weil [Hermann Wilhelm] Haupt angegeben, daß er eine von Bürgers erhaltene Ansprache des Bundes von Eccarius habe abschreiben lassen. Gegen Ende 1851 wurde ihm der erlittene Arrest als Strafe angerechnet, er von Hamburg weg- und in die Heimath gewiesen, wird sich statt dessen nach London gewandt haben, da er unter den ersten Mitgliedern des im Anfange 1852 von Stechan constituirten dortigen s. g. neuen Arbeiter-Vereins genannt ist.“ (Wermuth/Stieber: Die Communistischen-Verschwörungen des neunzehnten Jahrhunderts (1854), Berlin 1976, S. 43 (Hervorhebungen im Original).

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9. Kap.: Die endgültige Vernichtung des kapitalistischen Systems

Mitglieder unbedeutend, aber sie sind die direkten Organe der leitenden ‚Arbeiter‘ zu Paris. Ebenso besteht Verbindung mit den italienischen Vereinen, die kürzlich ihren Kongreß in Naples hielten. Obgleich ich jahrelang systematisch alle Teilnahme an allen ‚Organisationen‘ etc. ablehnte, so akzeptiere ich diesmal, weil es sich um eine Geschichte handelte, wo es möglich ist, bedeutend zu wirken.“15 Der parteipolitische Hintergrund dieser Taktik war eindeutig, denn wenn Marx und Engels überhaupt einen internationalen Einfluß auf Arbeiterorganisationen haben wollten, dann mußten sie sich wenigstens zeitweise mit deren Zielen solidarisieren, weil sie sonst gleich abgelehnt worden wären. Im Rückblick von etwa 1877 charakterisierte Engels diese Arbeiterassoziation so, daß sie „den internationalen Charakter der sozialistischen Bewegung sowohl den Arbeitern selbst wie den Bourgeois und den Regierungen sozusagen leiblich vorführen sollte – dem Proletariat zur Ermutigung und Stärkung, seinen Feinden zum Schrecken“.16 Nachdem ihr dies jedoch im marxistischen Sinne nicht gelungen war, erhielt sie die Funktion eines politischen Spielballs, den man überall hinschießen konnte, um einen vernichtenden Treffer zu landen. Die Zeitschrift Sozial-Demokrat, dessen Miteigentümer und Redakteur Johann Baptist von Schweitzer als Nachfolger von Ferdinand Lassalle und Bernhard Becker Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins war und die Zeitschrift ab 15. Dezember 1864 in Berlin herausgab, wurde von Marx und Engels mit steigendem Mißtrauen betrachtet. Dieses Mißtrauen haben wir ja schon bei Lassalle gesehen und Schweitzer wollte sich ebenfalls den Diktaten und Anweisungen von Marx nicht einfach unterwerfen. Schweitzer schrieb an Marx am 15. Februar 1865: „Wenn Sie mir, wie im letzten Schreiben, über theoretische Fragen Aufklärung geben wollen, so werde ich solche Belehrung von Ihrer Seite immer dankbar entgegennehmen. Was aber die praktischen Fragen momentaner Taktik betrifft, so bitte ich Sie zu bedenken, daß, um diese Dinge zu beurteilen, man im Mittelpunkt der Bewegung stehen muß.“17 Eine solche selbstbewußte Anmaßung eines für sie unbedeutenden Juristen und Journalisten konnten die Weltrevolutionäre Marx und Engels natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Sie schickten deshalb drei Tage später eine Erklärung an die Redaktion des Sozial-Demokraten, in der sie ihre Mitarbeit aufkündigten mit dem Argument: „Sie [Marx und Engels, H.K.] forderten aber wiederholt, daß dem Ministerium und der feudal-absolutistischen Partei gegenüber eine wenigstens ebenso kühne Sprache geführt werde als gegenüber den Fortschrittlern.“18 Dagegen bemängelte Franz Mehring zwar einige Fehler bei Schweitzer, aber er bescheinigte ihm auch „eine kluge und konsequente Politik, die durchaus nur auf die Interessen der Arbeiterklasse abzielte und unmöglich von Bismarck oder welchen Reaktionären sonst immer diktiert sein konnte“.19 15 16 17 18 19

MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 428 (Hervorhebungen im Original). Friedrich Engels: Karl Marx, in: MEW. Bd. 19, Berlin 1974, S. 100 f. Zitiert in: MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 625, Anm. 104. Ebd., S. 77. F. Mehring: Karl Marx (wie Anm. 5), S. 336.

A. Die Internationale und die Industrialisierung

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Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, 1919, als der Sozialdemokrat Friedrich Ebert zum deutschen Reichspräsidenten gewählt wurde, aber sich auch eine Kommunistische Partei Deutschlands Hoffnungen auf die Errichtung eines sowjetischen Systems auf deutschen Boden machte, sprach Eduard Bernstein von der „Schweitzerischen Diktatur“.20 Außerdem beschuldigte er diesen, obwohl er angeblich der begabteste Nachfolger Lassalles gewesen sei, die arbeitenden Massen irregeführt zu haben, denn er habe „mit den preußischen Hof-Sozialdemagogen geliebäugelt“ und sei deshalb in die gleichen, bedenklichsten Fehler Lassalles verfallen: „Ob I. B. von Schweitzer je ein Regierungsagent im buchstäblichen Sinne dieses Wortes war, scheint mir sehr zweifelhaft; kein Zweifel aber kann bestehen, daß seine Politik zeitweise der eines Regierungsagenten nahekam.“ Noch nachträglich wurden die organisatorischen Verdienste eines überzeugten Sozialisten in ein zwielichtiges Licht gestellt, so als habe Schweitzer mit der reaktionär-preußischen Regierung unter einer Decke gesteckt. Die Sozialdemokratie war also drauf und dran, sich selber zu zerfleischen und die feige Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht bestärkten die Kommunisten in ihrer Überzeugung, daß auch die Sozialdemokratische Partei auf der Seite der kapitalistischen Ausbeuter stünden und mit diesen vernichtet werden sollte. Dabei klangen doch die „Provisorischen Statuten“, die Marx ausgearbeitet und auf der Sitzung des Provisorischen Komitees der Arbeiterassoziation am 18. Oktober 1864 vorgelegt hatte, in den Ohren deutscher Sozialisten oder Sozialdemokraten durchaus akzeptabel. Sie forderten nämlich, „daß die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muß, daß der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte und Monopole ist, sondern für gleiche Rechte und Pflichten und für die Vernichtung aller Klassenherrschaft“.21 Marx wollte außerdem durch die Vermeidung der Begriffe Sozialismus bzw. Kommunismus sowie das Eingehen auf konkrete Arbeiterforderungen die unterschiedlichen Gruppierungen der IAA besänftigen. Denn der Industriekapitalismus hatte sich noch keineswegs in allen diesen Staaten, die sich zur IAA zusammengeschlossen hatten, durchgesetzt. Aber als sehr glaubwürdig kann diese Haltung nicht angesehen werden, sondern sie ist eher vieldeutiger Ausdruck seines taktischen Opportunismus. Als Mitglied des Generalrats der IAA verfaßte Marx zusätzlich Manifeste und Resolutionen, auch war er dessen Sekretär für Deutschland, doch seine machtpolitische Stellung war eingeschränkt, weil in der Internationale verschiedene Richtungen anzutreffen waren, von Utopisten über Revolutionäre bis zu Anarchisten. Er war sich vollständig über diese schwankende Haltung bewußt, die seinem sonstigen Naturell diametral entgegengesetzt war, und äußerte sich dazu gegenüber Briefpartnern. An Friedrich Engels schrieb Marx am 4. November 1864 über diese mit angeblich großem Enthusiasmus vom Generalkomitee 20 Eduard Bernstein: Ferdinand Lassalle, Berlin 1919, S. 302. Dort auch die beiden nächsten Zitate. 21 Karl Marx: Provisorische Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation, in: MEW. Bd. 16, Berlin 1973, S. 14.

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9. Kap.: Die endgültige Vernichtung des kapitalistischen Systems

angenommene Adresse: „Es war sehr schwierig, die Sache so zu halten, daß unsre Ansicht in einer Form erschien, die sie dem jetzigen Standpunkt der Arbeiterbewegung acceptable machte… Es bedarf Zeit, bis die wiedererwachte Bewegung die alte Kühnheit der Sprache erlaubt.“22 Wie sollten denn die ‚Geburtswehen‘ einer unmittelbar bevorstehenden Revolution abgekürzt werden, wenn die eigentlichen Träger dieser Revolution, die arbeitenden Klassen, nicht mit ideologischen Mitteln darauf vorbereitet wurden? Der eklatante Widerspruch zwischen historischer Notwendigkeit und taktischen Maßnahmen zur Durchführung einer Revolution mußte jedem kritischen Betrachter dieser marxistischen Ideologie in die Augen springen. Für den großen Kongreß der Internationalen Arbeiterassoziation vom 2. bis 7. September 1872 im Café Schryver in der Lombardstraat 109 in Den Haag, an dem 65 Delegierte aus 15 Staaten teilnahmen, schrieb Marx eine kühnere Rede, in der er „die Weltherrschaft des Proletariats“23 herbeiwünschte, wofür er den Rest seines Lebens kämpfen wolle: „Der Arbeiter muß eines Tages die politische Gewalt ergreifen, um die neue Organisation der Arbeit aufzubauen; er muß die alte Politik, die die alten Institutionen aufrechterhält, umstürzen, wenn er nicht, wie die alten Christen, die das vernachlässigt und verachtet haben, des Himmelreichs auf Erden verlustig gehen will.“24 Neben konzeptionellen Widersprüchen offenbarte sich in der Marxschen Strategie eine ständig vergrößernde Distanz zu den realen Verhältnissen, vor allem in seinem Gastgeberland England, aber auch zu Deutschland, das ihm aus dem Blick geraten war. Dort entstanden in einigen Regionen mächtige Industriekomplexe, wie z. B. im Ruhrgebiet mit seiner Verzahnung von Kohlen- und Stahlindustrie. Während sich zu dieser Zeit in allen industrialisierenden Staaten die materielle Lage der Arbeiter nach den elenden Verhältnissen des Frühkapitalismus allmählich verbesserte – im englischen Parlament wurde schon am 8. Juni 1847 ein Gesetz über einen zehnstündigen Arbeitstag von Jugendlichen und Arbeiterinnen verabschiedet –, war Marx von dem Hungertod der ganzen Arbeiterklasse überzeugt: „Und so ist es jetzt in allen Ländern Europas eine Wahrheit, erwiesen für jeden vorurteilsfreien Geist und nur geleugnet durch die interessiert klugen Prediger eines Narrenparadieses, daß keine Entwicklung der Maschinerie, keine chemische Entdeckung, keine Anwendung der Wissenschaft auf die Produktion, keine Verbesserung der Kommunikationsmittel, keine neuen Kolonien, keine Auswanderung, keine Eröffnung von Märkten, kein Freihandel, noch alle diese Dinge zusammengenommen das Elend der arbeitenden Massen beseitigen können, sondern daß vielmehr umgekehrt, auf der gegenwärtigen Grundlage, jede frische Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit dahin streben muß, die sozialen Kontraste zu vertiefen und den sozialen Gegensatz zuzuspitzen.“25 Das war wohl eindeutig! Es ist deshalb eine verharmlosende Ansicht, daß die Produktivkräfte reif sein müßten, 22 23 24 25

MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 16. Karl Marx: [Rede über den Haager Kongreß], in: MEW. Bd. 18, Berlin 1971, S. 161. Ebd., S. 160. K. Marx: Inauguraladresse (wie Anm. 13), S. 9.

A. Die Internationale und die Industrialisierung

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um eine vernichtende Revolution auszuführen, und darin „die Quelle der Stärke aller unterdrückten Klassen der Geschichte“26 läge. Dahrendorf versuchte anders als Marx der Revolutionstheorie ihren unmenschlichen Stachel zu nehmen, doch Revolution bedeutete Gewalt, darüber war sich Marx vollkommen im Klaren und hat es öfter betont. Diese unerhörten, ganz vorurteilsbeladenen Behauptungen, die moralischen Abscheu erzeugen sollten, waren so weit von den tatsächlichen Verhältnissen entfernt, daß Marx ihre Unhaltbarkeit ganz sicher erkannt hat. Doch sein Revolutionsparadies versprach endgültige Rettung aus allen Lebensnöten, eben das ‚Reich der Freiheit‘. Mit zunehmender ‚Entwicklung der Maschinerie‘, des Maschinenbaus und der Chemieindustrie, dem Produktenhandel auf internationalen Märkten etc., öffnete sich ganz im Gegensatz zu Marx’ Prognose die materielle Schere zwischen den führenden und den nachhinkenden europäischen Industriestaaten immer weiter, d. h. die englischen und deutschen Arbeiter waren durchschnittlich besser gestellt als die französischen oder spanischen Arbeiter. Realistische Vergleiche zwischen industrialisierenden Staaten in der westlichen Hemisphäre im 19. Jahrhundert zeigen unzweideutig, daß das Industriesystem erheblich dazu beitrug, nach einer sehr schwierigen Übergangsphase von etwa einem halben Jahrhundert materielle Verbesserungen herbeizuführen und den arbeitenden Menschen eine menschenwürdige Perspektive aufzuzeigen. Die sozialen Gegensätze verschärften sich nicht, sondern wurden gemildert, auch wenn die Einkommensschere weit auseinanderklaffte, nicht nur zwischen Kapitalisten und Arbeitern, sondern auch zwischen Akademikern und Handwerkern. Mit anderen Worten: Marx und Engels waren überhaupt nicht interessiert an den Veränderungen in der Arbeitswelt oder an der schrittweisen Verbesserung der materiellen Lage des arbeitenden Volkes, sondern in ihrer ideologischen Verblendung verdrehten sie die historische Realität. Sie behaupteten unbeirrt, die immer noch unwürdige Situation der industriellen Arbeiterschaft müßte zwangsläufig dazu führen, daß den Landeigentümern und Kapitalisten vorgeworfen würde, diese würden „ihre politischen Privilegien stets gebrauchen zur Verteidigung und zur Verewigung ihrer ökonomischen Monopole“.27 Ganz im Gegenteil war die Industrialisierung im 19. Jahrhundert wesentlich davon geprägt, dem freien Wettbewerb, dem ökonomischen Liberalismus, zum Durchbruch zu verhelfen, auch wenn die negativen Folgen einer zunehmenden Monopolisierung und Globalisierung noch nicht erkannt oder bekämpft wurden. Als z. B. im Deutschen Reich die Bismarckschen Sozialgesetze der 1880er Jahre als erster Industriestaat weltweit staatliche Eingriffe in den Unternehmen durchsetzten, um die Arbeiter sozial besser abzusichern, gab es einen unüberhörbaren Aufschrei der Befürworter einer liberalkapitalistischen Wirtschaft. Aber den sogenannten Kathedersozialismus einiger deutscher Ökonomen, wie Wilhelm Roscher oder Adolph Wagner, die im Verein für Socialpolitik

26 Ralf Dahrendorf: Karl Marx und die Theorie des sozialen Wandels, in ders.: Pfade aus Utopia, München 1968, S. 284. 27 K. Marx: Inauguraladresse (wie Anm. 13), S. 12. Dort auch das nächste Zitat.

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9. Kap.: Die endgültige Vernichtung des kapitalistischen Systems

für staatliche Eingriffe in die Wirtschaft plädierten, wollten Marx und Engels nicht akzeptieren. Diese reformerischen Bemühungen interessierten Marx wenig, denn damit die ausgebeutete Arbeiterklasse die politische Macht überhaupt revolutionär erobern kann, mußte man sich nicht nur eines realpolitischen Opportunismus bedienen. Die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse war nach Marx ihre „große Pflicht“, wie er in seiner Inauguraladresse der Internationalen ArbeiterAssoziation am 28. September 1864 verkündete. Daneben könne die Internationale Arbeiter-Association eine nützliche Rolle als Steigbügelhalter spielen, wie der realitätsblinde Marx am 11. September 1867 an Engels schrieb: „Und bei der nächsten Revolution, die vielleicht viel näher ist, als es aussieht, haben wir (d. h. Du und ich) diese mächtige engine in unsrer Hand.“28 Und dann könnte es sofort losgehen mit der Vernichtung des kapitalistischen Systems, wenn es nicht längst schon an seinen eigenen Widersprüchen zusammengebrochen sei. Am 23. November 1871, also etwa vier Jahre später, hatte Marx an Friedrich Bolte in New York geschrieben: „Die Internationale wurde gestiftet, um die wirkliche Organisation der Arbeiterklasse für den Kampf an die Stelle der sozialistischen oder halbsozialistischen Sekten zu setzen.“29 Nachdem auf dem Kongreß der I. Internationale in Den Haag vom 2. bis 7. September 1872 offenbar wurde, daß das revolutionäre Ziel mit der IAA nicht zu erreichen war, wandten Marx und Engels den taktischen Kniff an, daß der Sitz des Generalrates nach New York verlegt wurde. Marx hatte am 21. Juni 1872 an Friedrich Adolph Sorge in Hoboken (USA), der 1876 zusammen mit Joseph Patrick MacDonnell und Otto Weydemeyer eine amerikanische Arbeiterpartei mitbegründete, die ein Jahr später in eine nichtrevolutionäre Sozialistische Arbeiterpartei Nordamerikas umbenannt wurde, geschrieben: „Auf diesem Kongreß handelt es sich um Leben oder Tod der Internationalen.“30 Mit 26 zu 23 Stimmen bei neun Enthaltungen wurde die Verlegung nach New York auf dem Kongreß beschlossen; die französischen Delegierten protestierten energisch dagegen, einige Blanquisten verließen wegen dieser Verlegung der Internationale über den Atlantischen Ozean den Kongreß und selbst Franz Mehring räumte ein, daß es dem Generalrat in New York nicht gelang, „feste Wurzeln im amerikanischen Boden zu schlagen“.31 Der angebliche Grund dafür war, daß englische, gewerkschaftliche Reformer, anarchistische Bakunisten, deren Allianz-Führer aus der Internationalen ausgeschlossen wurden, sowie französische Blanquisten 28 MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 342 f. (Hervorhebungen im Original). Vier Jahre später hatte sich auch bei Marx Ernüchterung breitgemacht, denn er schrieb am 23. November 1871 an Friedrich Bolte in New York, die Geschichte der Internationale sei „ein fortwährender Kampf des Generalsrats gegen die Sekten und Amateurversuche, die sich gegen die wirkliche Bewegung der Arbeiterklasse innerhalb der Internationalen selbst zu behaupten suchten“, gewesen. (MEW. Bd. 33, Berlin 1973, S. 328 f. Hervorhebung im Original). 29 MEW. Bd. 33, Berlin 1973, S. 328 (Hervorhebung im Original). 30 Ebd., S. 491 (Hervorhebung im Original). 31 F. Mehring: Karl Marx (wie Anm. 5), S. 496.

A. Die Internationale und die Industrialisierung

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sich dem diktatorischen Regime nicht länger unterwerfen wollten, was gleichbedeutend war mit einer fast geräuschlosen Auflösung dieser Arbeiterorganisation. Als die Zweite Internationale im Juli 1889 in Paris gegründet wurde, war Marx schon sechs Jahre tot. In einem Nachhutgefecht einen Tag nach Ende des Haager Kongresses hielt Marx am 8. September in Amsterdam aufgrund einer Einladung des holländischen Föderalrats eine Rede, in der er die Forderung wiederholte, „die alte, zusammenbrechende Gesellschaft [d. h. den Kapitalismus, H.K.] auf dem politischen wie auf dem sozialen Boden zu bekämpfen“,32 um die Weltherrschaft des Proletariats herbeizuführen. Am 15. Juli 1876 wurde auf einer Konferenz in Philadelphia die IAA offiziell aufgelöst, nachdem bereits Ende 1873 die nationalen Organisationen ihre Tätigkeit eingestellt hatten. Es war offensichtlich geworden, daß die Internationale den revolutionären Ansichten von Marx und Engels zuwiderlief; deshalb war sie unnütz und mußte rechtzeitig, bevor sie sich in Europa zu einer schlagkräftigen Arbeiterorganisation entwickeln konnte, abgewickelt werden. Von kommunistischen Autoren wurde die neunjährige, von politischen Zweideutigkeiten geprägte Tätigkeit von Marx für die IAA jedoch ideologisch überhöht: „Durch das Wirken von Marx als dem Führer der Internationalen Arbeiterassoziation wurde bei der Heranführung der werktätigen Massen an die großen Ideen des wissenschaftlichen Kommunismus ein gewaltiger Schritt nach vorn getan.“33 Man könnte daraus fast den Eindruck gewinnen, als seien die amerikanischen Arbeiter durch die IAA zum Kommunismus bekehrt worden, während tatsächlich in den USA der Sozialismus eine marginale Rolle spielte. Der Kommunismus hat ja ohnehin in den westlichen Industriestaaten nie richtig Fuß gefaßt, entweder weil die religiösen Einflüsse im 19. Jahrhundert noch zu wirkungsmächtig waren oder weil die Max Webersche Rationalität bzw. Verweltlichung zu weit fortgeschritten war, um eine extreme Ideologie attraktiv zu machen. Die weitere Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft selbst in dem industriellen Spätstarter Deutschland verlief überhaupt nicht gemäß den festgefügten Prognosen der Marxisten. Man kann eher mit dem kommunistischen Anarchisten Gustav Landauer (1870 – 1919) – der am 2. Mai 1919 nach der Verhaftung wegen seiner Beteiligung an der bayerischen Räterepublik von Polizisten im Zuchthaus München-Stadelheim ermordet wurde – annehmen, daß eine Tendenz dieses Wirtschaftssystems darin bestand: „Immer mehr Luxusprodukte und immer weniger notwendige Produkte auf den Markt zu bringen, dadurch werden die notwendigen Produkte immer teuerer und die Luxusprodukte, besonders die Schund-Luxusartikel für den Arbeiter immer billiger; die

32 Karl Marx: [Rede über den Haager Kongreß], in: MEW. Bd. 18, Berlin 1971, S. 159. Zwar gäbe es in manchen Staaten, wie in England, in den USA und vielleicht auch in Holland Institutionen, Sitten und Traditionen, die dazu führen könnten, daß die dortigen Arbeiter auf einem friedlichen Weg ihr Ziel erreichten, doch in den meisten kontinentalen Staaten gelte, daß „der Hebel unserer Revolutionen die Gewalt sein muß; die Gewalt ist es, an die man eines Tages appellieren muß, um die Herrschaft der Arbeit zu errichten“ (ebd., S. 160). 33 P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (1973). 7. Aufl. Berlin 1984, S. 665.

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Löhne der in diesen Luxusindustrien beschäftigten Arbeiter immer höher und die Möglichkeit, das Notwendigste zu erwerben, trotzdem immer geringer“.34

B. Die hindernißreiche Veröffentlichung von Das Kapital Die ‚Welt‘ wartete aber nicht nur auf eine Internationale Arbeitergesellschaft, sondern auf das langersehnte Propagandawerk, in dem alle Fragen beantwortet und alle Probleme gelöst sein sollten. Nach 23 Jahren mehr oder weniger intensiver Arbeit, vor allem in der wundervollen Bibliothek des British Museum, hatte Marx im Frühjahr 1867 wenigstens den 1. Band seines Hauptwerks, Das Kapital,35 die Bibel der Arbeiterklasse, wie es häufig genannt wurde, fertiggestellt. Marx hatte 1845 einen Vertrag über ein zweibändiges ökonomisches Buch, das Kritik der Politik und Nationalökonomie betitelt sein sollte, der „ganzen ökonomischen Scheiße“ bzw. das „,verdammte‘ Buch“, mit dem Leske Verlag in Darmstadt geschlossen und 1.500 Francs Vorschuß erhalten.36 Wegen Bedenken der preußischen Regierung hatte der Verleger offenbar darauf gedrungen, daß Marx kein rein politisches, sondern dem Standard der ‚Wissenschaftlichkeit‘ entsprechendes Buch abliefere, worauf Marx antwortete – obwohl im Vertrag „nichts über die mehr oder minder revolutionäre Form meiner Schrift verabredet war“37 –, das Buch sei wissenschaftlich, „aber nicht wissenschaftlich im Sinne der preußischen Regierung etc.“ In diesem vierseitigen Brief vom 1. August 1846 an den Verleger Carl Friedrich Julius Leske beschönigte Marx seinen Vertragsbruch mit unterschiedlichen Argumenten, aber er versprach auch: „Die Umarbeitung des ersten Bandes wird zum Druck fertig sein Ende November. Der 2te Band, der mehr historisch ist, kann rasch folgen.“38 Doch die verschiedenen Ortswechsel, mehrere Krankheiten von Marx, seiner Frau und den Kindern, die unterschiedlichen politischen Aktivitäten sowie die schwierige ökonomische Materie verzögerten die Fertigstellung dieses Werkes um mehr als zwei Jahrzehnte. Der Verleger Leske wollte in seinem Antwortschreiben vom 19. September 1846 wegen der strengen Zensur und politischer Nachforschungen 34 Gustav Landauer: Sein Lebensgang in Briefen. 1. Bd., Frankfurt am Main 1929, S. 307 (Brief an Julius Bab vom 14. März 1910). 35 Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. 1. Band (1867), Berlin 1962 (MEW. Bd. 23). 802 Seiten Text. Der 2. Band erschien zuerst 1885 (MEW. Bd. 24, Berlin 1964). 518 Seiten Text, der 3. Band 1894 (MEW. Bd. 25, Berlin 1966). 893 Seiten Text. Die beiden letzten Bände wurden von Friedrich Engels aufgrund des handschriftlichen Nachlasses von Marx in redigierter Form herausgegeben. 36 Die Ausdrücke „der ganzen ökonomischen Scheiße“ und „,verdammtes‘ Buch“ finden sich in Briefen an Friedrich Engels vom 2. April 1851 (MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 228) und vom 13. Februar 1866 (MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 178). 37 MEW. Bd. 27, Berlin 1973, S. 447 (Hervorhebung im Original). Dort auch das nächste Zitat. 38 Ebd., S. 450 (Hervorhebung im Original).

B. Die hindernißreiche Veröffentlichung von Das Kapital

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durch die preußische Regierung auf die Publikation von Marx’ Nationalökonomie verzichten, doch das ‚verdammte‘ Buch war ja noch längst nicht fertig und konnte deshalb auch nicht gedruckt werden. Schon am 20. Januar 1845 hatte Engels aus Barmen an Marx in Paris geschrieben: „Mach, daß Du mit Deinem nationalökonomischen Buch fertig wirst, wenn Du selbst auch mit vielem unzufrieden bleiben solltest, es ist einerlei, die Gemüter sind reif, und wir müssen das Eisen schmieden, weil es warm ist … Jetzt ist aber hohe Zeit. Darum mach, daß Du vor April fertig wirst, mach’s wie ich, setz Dir eine Zeit, bis wohin Du positiv fertig sein willst, und sorge für einen baldigen Druck.“39 Immer neue Pläne auf politischem Gebiet, immer neue Veröffentlichungen für verschiedene Organisationen verzögerten die Publikation von Marx’ Hauptwerk für einen langen, über 20jährigen Zeitraum. Währenddessen war Marx keineswegs untätig, sondern stellte mit Engels z. B. Die deutsche Ideologie fertig, wie er dem Verleger mitteilte: „Es schien mir nämlich sehr wichtig, eine polemische Schrift gegen die deutsche Philosophie und gegen den seitherigen deutschen Sozialismus meiner p o sit ive n Entwicklung vorherzuschicken. Es ist dies notwendig, um das Publikum auf den Standpunkt meiner Ökonomie, welche schnurstracks der bisherigen deutschen Wissenschaft sich gegenüberstellt, vorzubereiten.“40 Das war eine leicht durchschaubare Ausrede, denn die Deutsche Ideologie ist inhaltlich vom Kapital so weit entfernt wie die schwarzen Löcher von Gasballons. Während die erste Schrift eine harsche Abrechnung mit philosophischen Schriftstellern darstellte, ist das Kapital eine weitschweifige Auseinandersetzung mit ökonomischen Theorien und Marx’ Kritik derselben. Am 30. April 1867 schrieb Marx aus Hannover an Sigrid Meyer in New York etwas ehrlicher, auch wenn diese Aussage übertrieben ist: „Ich mußte also jeden arbeitsfähigen Moment benutzen, um mein Werk fertigzumachen, dem ich Gesundheit, Lebensglück und Familie geopfert habe.“41 Zwar erschien von dem dreibändig geplanten Werk nur ein Buch zu Marx’ Lebzeiten, aber es war ja mit 800 Seiten nicht gerade eine schnell oder einfach zu lesende Lektüre, worauf Rezensenten bald hinwiesen. Marx war 1867 felsenfest davon überzeugt, daß dieses Buch keine ‚ökonomische Scheiße‘ sei, sondern die endgültige Wahrheit über die historischen Gesetze des kapitalistischen Systems offenbare und alle sonstigen ökonomischen Theorien von Adam Smith über Davis Ricardo bis John Stuart Mill über den Haufen werfe. Lange genug hatte er ja daran gearbeitet, daß er nun endlich, nach Fertigstellung wenigstens des 1. Bandes, von einer unübertroffenen wissenschaftlichen Leistung beseelt war. Aber die „breimäuligen Faselhänse der deutschen Vulgärökonomie“42 39 Ebd., S. 16 (Hervorhebungen im Original). Damit war zwar nicht das Kapital gemeint, sondern Marx’ geplante zweibändige Abhandlung Kritik der Politik und Nationalökonomie, doch bei vielen Publikationen trieb Engels Marx zur Eile an. 40 Ebd., S. 448 f. (Hervorhebungen und Sperrung im Original). 41 MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 542 (Fettdruck im Original). 42 K. Marx: Das Kapital, 1. Bd. (wie Anm. 35), S. 22, Anm. 1. Dort auch das nächste Zitat.

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wagten es zu kritisieren, obwohl nach Marx niemand die literarischen Mängel „strenger beurteilen [kann] als ich selbst“. Aber es erschienen auch eine Reihe positiver Rezensionen, die teilweise von Friedrich Engels bzw. nach seinen Vorlagen angefertigt worden waren. Rationale Kritik an der christlichen Bibel wird ja in manchen religiösen Kreisen heute noch als eine Gotteslästerung angesehen, aber die ‚Bibel der Arbeiterklasse‘ blieb über 120 Jahre lang das unwidersprochene Credo kapitalismusfeindlicher Kommunisten, auch wenn Dutzende von Ökonomen haarscharf analysiert hatten, daß die meisten Theorien von Marx unhaltbar waren. Für Marx war diese erste Situation eines gescheiterten Publikationsvorhabens seines Hauptwerks in Jahr 1846 erleichternd und bedrückend zugleich, denn er ahnte wohl, daß er seinen eigenen Anforderungen nicht gerecht werden und er nun in relativer Ruhe daran weiterarbeiten konnte. Nach über zwei Jahrzehnten unerfülltem Verlagsvertrag mit dem Leske Verlag mußte sich Marx einen neuen Verlag suchen, den er auch fand. Der Verlag Otto Meißner in Hamburg hatte sich bereit erklärt, mit Marx einen neuen Verlagsvertrag, allerdings über drei Bände vom Kapital, abzuschließen und ihm für die 1.000 Exemplare des 1. Bandes 60 £ Vorschuß zu zahlen, worauf Marx unterzeichnete. Wie gesagt, Marx muß bewußt gewesen sein, daß sein gesundheitlicher Zustand und sein zeitlicher Arbeitseinsatz nicht mehr ausreichten, um die drei Bände dieses monumentalen Werkes abzuschließen. Doch er benötigte dringend den Vorschuß, da er ja ständig unter Geldnot litt, obwohl Engels ihm weiterhin Geld überwies und Kisten von Wein schickte, damit sein Freund wenigstens einige Sorgen darin ertränken konnte. Außerdem war klar, daß Friedrich Engels alles daran setzen würde, damit das Lebenswerk seines Freundes der staunenden Nachwelt in gedruckter Form übergeben wurde und in den zwei Jahrzehnten nach Marx’ Tod einen ungeheuren Arbeitseinsatz dafür aufbrachte. Etwa zwei Jahre vorher, am 31. Juli 1865 – im gleichen Jahr wurde er als einer „der bedeutendsten deutschen Sozialisten“43 bezeichnet –, hatte Marx seinem Freund noch im überschwänglichen Optimismus geschrieben: „Ich kann mich aber nicht entschließen, irgend etwas wegzuschicken, bevor das Ganze vor mir liegt. Whatever shortcomings they may have, das ist der Vorzug meiner Schriften, daß sie ein artistisches Ganzes sind, und das ist nur erreichbar mit meiner Weise, sie nie drucken zu lassen, bevor sie ganz vor mir liegen.“44 Auch dies war zweckoptimistischer Teil von Marx’ Übertreibungen, die auch nicht vor seinen eigenen Publikationen Halt machten. Er behauptete sogar, daß er sich mit der „Jacob Grimmschen Methode“ niemals anfreunden könne, d. h. wie Jacob und Wilhelm Grimm ihr Deutsches Wörterbuch nur Band für Band herauszugeben, doch selbst dies war ihm nicht vergönnt. In diesen umfangreichen Bänden entfaltet Marx in fast unverdaulicher Langatmigkeit seine ökonomischen Theorien bzw. feiert „die Hegelsche Dialektik zum 43 So Friedrich Albert Lange: Die Arbeiterfrage (1865). Nachdruck Duisburg 1975, S. 112. 44 MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 132 (Hervorhebung im Original). Dort auch das nächste Zitat.

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Erstaunen Europas nach langem Schlafe eine unerwartete Auferstehung“.45 Es ist eine „Hegelsche Schrulle“,46 auf der Marx den zwangsweisen Untergang des Kapitalismus sowie den kommunistischen Zukunftsstaat aufbaute. Außerdem strotzen Marx’ Auseinandersetzungen mit seinen ökonomischen Vorläufern von einem wahren Wust von empirischem Material und seitenlangen Zitaten, deren methodologische Unhaltbarkeit schon bald nach der Veröffentlichung erkannt und kritisiert wurde.47 Marx war besonders stolz auf die massenhaften von ihm zitierten amtlichen Berichte zur Lage der Kapitalistenklasse, die kein Gelehrter beanstandet hätte. Doch Lujo Brentano erkannte schon 1872 den eigentlichen Grund dafür darin, „daß englischen Gelehrten das Buch von Marx bisher unbekannt ist, da es selbst diejenigen, welche Deutsch verstehen, wegen der verhegelten Sprechweise nicht zu lesen vermögen; deutsche Gelehrte aber nicht in der Lage sind, die Marx’schen Angaben zu kontrolliren“.48 Ich möchte hier keineswegs eine halbwegs stimmige Interpretation der Marxschen Theorien vorlegen, sondern lediglich mit ein paar Bemerkungen auf seine inhumane Einstellung gegenüber seinen wichtigsten Kronzeugen, den Arbeitern, und auf seinen Revolutionsfanatismus auch in diesem Werk eingehen. Denn Marx’ angebliches lebenslanges Eintreten für die unterdrückten und ausgebeuteten (Industrie-)Arbeiter ist zu einer stereotypen Phrase geronnen, die gar nicht berücksichtigt, daß es ihm vorrangig darum ging, das Industriesystem zu zerstören. Allein die Marxsche Verelendungstheorie, nach der die arbeitenden Menschen im Kapitalismus immer ärmer und abhängiger würden, hat sich als ein solcher Irrglauben erwiesen, daß wir diese theoretischen Hirngespinste nicht zu ernst nehmen sollten. Während nämlich in der ersten Periode der Industrialisierung noch ungelernte, niedrig bezahlte Arbeiter eingestellt wurden, verlangte die stärkere Technisierung der Produktion gut ausgebildete und qualifizierte Facharbeiter, die mit Hilfe von Gewerkschaften auch höhere Löhne erstritten. Anstatt sie verelenden zu lassen, gewährten die Kapitalisten vielen Arbeitern höhere Löhne, geringere Arbeitszeiten, mehr Freizeit und soziale Annehmlichkeiten. Wir sollten eher vorsichtig und etwas mißtrauisch sein gegenüber Denkern, die für sich öfter einen Wahrheitsanspruch reklamieren, während sie ihren Gegnern unterstellen, vom Pfaffenopium vernebelt zu sein und deswegen voreingenommen und bürgerlich angekränkelt. Wie gegenüber seinen angeblichen Freunden, so hatte Marx nämlich auch gegenüber dem Verleger Meißner mit falschen Karten gespielt, 45 So Wilhelm Böhmert: Die Socialdemokratie und die Landfrage, in: Der Arbeiterfreund, 33. Jg., 1895, S. 472. Marx’ Bonmot, Hegel sei zu seiner Zeit ein ‚toter Hund‘, stimmte allerdings mit der historischen Wirklichkeit nicht überein. Vgl. dazu Hubert Kiesewetter: Von Hegel zu Hitler (1974). 2. Aufl. Frankfurt am Main 1995, S. 155 ff. 46 W. Böhmert: Die Socialdemokratie (wie Anm. 45), S. 475. 47 Vgl. dazu etwa Julius Wolf: Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung, Stuttgart 1892, S. 125 ff. Dazu die entsprechende Interpretation in Hubert Kiesewetter: Julius Wolf 1862 – 1937, Stuttgart 2008, S. 112 ff. 48 Lujo Brentano: Meine Polemik mit Karl Marx (1890). Reprint London 1976, S. 14, Anm. * (Artikel in Concordia. Zeitschrift für die Arbeiterfrage, Nr. 28. Berlin, den 11. Juli 1872).

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denn statt mit drei Bänden war er nur mit dem Manuskript des 1. Bandes nach Hamburg gereist, worauf Meißner ziemlich abweisend reagierte und gar nichts von Marx veröffentlichen wollte. Lassalle konnte nun nicht mehr als verhindernder Sündenbock an den verlegerischen Pranger gestellt und denunziert werden, denn er war seit drei Jahren tot. Engels traf in seinem Brief an Marx vom 27. April 1867 den Nagel wohl nur teilweise auf den Kopf, wenn er aufmunternd darauf hinwies, daß die Fertigstellung dieses Buches seinen Freund psychisch niedergedrückt und zu seinem Pech beigetragen habe: „Dies ewig unfertige Ding drückte Dich körperlich, geistig und finanziell zu Boden, und ich kann sehr gut begreifen, daß Du jetzt, nach Abschüttelung dieses Alps, Dir wie ein ganz andrer Kerl vorkommst, besonders da die Welt, sobald Du nur erst wieder einmal hineinkommst, auch nicht so trübselig aussieht wie vorher.“49 Marx mußte erst einmal lernen, daß es sich eben als eine andere Situation erweist, ob man aus der distanzierten Schreibtischperspektive seiner ungezügelten Wut auf das kapitalistische System freien Lauf läßt oder sein eigenes Publikationsvorhaben bei einem Verlagskapitalisten verwirklichen möchte. Unter diesen Umständen versicherte Marx seinem Verleger offenbar glaubwürdig die baldige Lieferung der anderen beiden Bände und schrieb an Engels: „Endlich verlangt Meißner den 2. Band für spätestens Ende Herbst. Die Schanzerei muß also sobald als möglich beginnen, indem namentlich für die Kapitel über Kredit- und Grundeigentum viel neues Material seit der Abfassung des Manuskripts geliefert worden ist. Im Winter soll der dritte Band fertig werden, so daß bis nächstes Frühjahr das ganze opus abgeschüttelt.“50 Ob Marx ernstlich daran glaubte, diese ungeheure ‚Schanzerei‘ in dieser kurzen Zeitspanne bewältigen zu können, ist unbedeutend gegenüber der Tatsache, daß eigentlich nur ein Band Marx’ Überlegungen authentisch wiedergibt, weil Engels Tausende von Notizen und unfertige Darlegungen zusammenfügte und ergänzte. Eigentlich müßte der 2. und 3. Band vom Kapital als Autoren sowohl den Namen von Marx als auch den von Engels tragen, denn Engels investierte ein ungeheures Arbeitspensum in die endgültige Fertigstellung dieser Werke. Ganz abgesehen davon, daß wohl niemand außer ihm die Handschriften von Marx hätte entziffern können. Trotzdem war seine ehrfurchtsvolle Bewunderung von Marx’ theoretischer Leistung so groß, daß er auf seinen Namen als Autor verzichtete. Vielleicht war auch Marx gegenüber Engels so unbeugsam und unbelehrbar, daß dieser lieber seinen Frieden mit dem ‚Diktator‘ machen wollte. Als Marx in Hannover bei Ludwig Kugelmann die Fahnenabzüge des ersten Bandes durchsah, schrieb er am 19. April 1867 an Johann Philipp Becker in Genf über sein Buch: „Es ist sicher das furchtbarste Missile, das den Bürgern (Grundeigentümer eingeschlossen) noch an

49 MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 292. In gewohnter Fehleinschätzung der realen Verhältnisse antwortete Marx am 7. Mai 1867: „Ich hoffe und glaube zuversichtlich, nach Jahresfrist soweit ein gemachter Mann zu sein, daß ich von Grund auf meine ökonomischen Verhältnisse reformieren und endlich wieder auf eignen Füßen stehn kann.“ (Ebd., S. 296). 50 Ebd., S. 296 (Brief vom 7. Mai 1867).

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den Kopf geschleudert worden ist.“51 Wenigstens darin gab es mit Engels nicht den geringsten Dissens. Es dauerte jedoch noch 18 bzw. 27 Jahre, bevor die beiden weiteren Bände des Kapital das veröffentlichte Licht der Welt erblickten, lange nachdem Marx am 14. März 1883 gestorben war, während der 1. Band am 14. September 1867 in einer Auflage von 1.000 Exemplaren erschien.52 Wie aber ließ sich mit tausenden von gedruckten Seiten das kapitalistische System vernichten? Karl Marx bot dafür unterschiedliche Strategien an, die je nach ökonomischer Situation unterschiedlich aussahen, denn während seiner intensiven ökonomischen Studien in der Londoner Bibliothek war ihm natürlich aufgefallen, daß England mit seinem riesigen Kolonialreich über ganz andere Absatzmärkte verfügte als z. B. Deutschland (noch) ohne Kolonien. Zwar hatte England nach 1786 die ökonomisch aufstrebenste Kolonie, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika, in einem mörderischen Befreiungskrieg verloren, aber Kanada, Australien oder Indien waren weiterhin riesige Absatzmärkte, die massenhaft englische Produkte aufnahmen. Außerdem war Großbritannien ein zentralistisch regierter Staat mit einer ungeheuren Handelsflotte, die fast die ganzen Weltmeere beherrschte, während es in Deutschland Dutzende von kleinsten, mittleren und relativ großen Staaten gab, die keineswegs alle in der Lage waren, eine Industrialisierung in Gang zu setzen, weil ihnen die finanziellen Mittel dazu fehlten. Ökonomen seit Adam Smith’ Wohlstand der Nationen (1776) neigen dazu, Industrialisierung nur unter der Lupe von Nationalstaaten zu betrachten, doch gerade Deutschland ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, daß es lange vor der Reichsgründung von 1870/71 Staaten gab, die unter ganz anderen Bedingungen als England eine erfolgreiche Industrialisierung durchführten. Der preußisch-österreichische Krieg von 1866 eröffnete Otto von Bismarck die Chance, durch die Gründung des Norddeutschen Bundes – der norddeutsche Reichstag wurde am 24. Februar 1867 in Berlin eröffnet – die nationale Einigung vorzubereiten, doch selbst das Deutsche Reich war kein zentralistischer Ebd., S. 541. Der Arzt Ludwig Kugelmann aus Hannover hatte sich angeboten, eine Rezension des Kapital „in einer politischen Zeitschrift“ zu veröffentlichen. Daraufhin bat Marx Engels in einem Brief vom 10. Oktober 1867, diesem zu schreiben: „Du mußt ihm ans Herz legen, daß alles aufs ‚Lärmemachen‘ ankommt, viel mehr als auf das Wie oder die Gründlichkeit.“ (Ebd., S. 360). Engels hatte einen Monat vorher, am 11. September, Marx vorgeschlagen: „Was meinst Du, soll ich, um die Sache in Zug zu bringen, das Ding vom bürgerlichen Standpunkt angreifen? Meißner oder Siebel brächten das schon in ein Blatt.“ (Ebd., S. 345). Mit dem ‚Ding‘ war Marx’ Kapital gemeint und Engels fand es eventuell verkaufsfördernd, wenn er das Buch heftig kritisierte. Und dann Engels zweiter Anlauf am 13. Oktober: „Ich habe dem K[ugelmann] zwei Artikel von verschiednen Standpunkten über das Buch geschrieben und zugeschickt; ich denke, sie sind so, daß fast jede Zeitung sie nehmen kann, und danach kann er dann andre machen.“ (Ebd., S. 362). Alle diese opportunistischen Bemühungen halfen wenig bis gar nichts, selbst die realisierte Drohung von Engels, „ich werde die Artikel selbst schreiben müssen“ (Brief an Marx vom 5. November 1867, in ebd., S. 377). Dies tat er auch und verfaßte unter verschiedenen Pseudonymen Rezensionen von Marx’ Buch, doch im ersten Jahr nach Erscheinen des Kapital waren gerade einmal 200 Exemplare verkauft worden. 51

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Staat wie England oder Frankreich, sondern ein Bundesstaat mit weitgehenden Befugnissen der Einzelstaaten. Für Marx war dieser föderalistische Nationalstaat nichts anderes als „mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus“,53 d. h. eigentlich gar kein richtiger Staat. Die noch übriggebliebenen 25 deutschen Einzelstaaten – nach dem Wiener Kongreß 1815 waren es ohne Österreich 38 deutsche Staaten im Deutschen Bund, die sich durch Aussterben der Fürstenlinien bzw. Annexion durch Preußen auf 25 reduzierten – beschritten sehr unterschiedliche Wege zur Industrialisierung. Einige konnten die ökonomische Schwelle zum Industriestaat bis zum Ersten Weltkrieg gar nicht überschreiten, weil sie so klein waren, daß sie gar keine finanziellen Mittel für eine Industrieförderung aufbringen konnten bzw. wollten.54 Das nach 1815 lediglich etwa 15.000 km2 große Königreich Sachsen war der erste deutsche Industriestaat, der das ökonomische Wachstumsmodell des englischen Vorreiters nachahmen wollte und erfolgreich war, obwohl die entsprechenden Faktoren dafür sich von England grundlegend unterschieden.55 Die meisten deutschen Staaten, außer Bayern, Preußen und Württemberg, waren zu klein, um eine gesamtstaatliche Industrialisierung in Gang setzen zu können, keiner verfügte über Kolonien, weshalb die deutsche Industrialisierung ganz im Gegensatz zur englischen wesentlich ein regionales Phänomen darstellte – selbst im gebietsmäßig relativ großen Preußen gab es industriell fortschrittliche und rückständige Regionen bzw. Provinzen. Die Schlüsse, die Marx aus den unterschiedlichen Entwicklungen in verschiedenen Industriestaaten zog – die kleinräumigen, faktoriellen Sonderbedingungen in den Dutzenden von deutschen Bundesstaaten nahm er überhaupt nicht zur Kenntnis –, waren nicht nur einseitig, sondern ideologiegetränkt, denn sie berücksichtigten nicht oder unzureichend die positiven oder negativen Faktoren in einzelnen Regionen. Kommen wir zur Frage des Klassenbewußtseins der deutschen Arbeiter zurück, wie es Marx darstellte, um seine soziale Revolution gegen das kapitalistische System durchführen zu können. Wenn z. B. nach den revolutionären Versuchen von 1848/49 „das deutsche Proletariat bereits ein viel entschiedneres theoretisches Klassenbewußtsein besaß als die deutsche Bourgeoisie“,56 dann war es offenbar nicht sehr schwierig, daß es auch eine praktische Revolution durchführen könnte. Ausgebeutete Arbeiter, so die fehlerhafte Analyse von Marx und Engels, seien prädestiniert und fühlten sich berufen, die Fesseln ihres Arbeiterelends durch einen Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft zu sprengen. Das ‚deutsche Proletariat‘ 53 Karl Marx: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, in: MEW. Bd. 19, Berlin 1974, S. 29. 54 Vgl. Hubert Kiesewetter: Industrielle Revolution in Deutschland, Stuttgart 2004, S. 283 ff. 55 Vgl. Hubert Kiesewetter: Die Industrialisierung Sachsens, Stuttgart 2007. 56 Karl Marx: Das Kapital. 1. Bd., nach der 4. Auflage von 1890, in: MEW. Bd. 23, Berlin 1962. (Nachwort zur 2. Auflage 1873, S. 21).

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vor der intensiven gewerkschaftlichen Indoktrination in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts war jedoch so zersplittert in unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen und unterschiedlichen Arbeitsformen, an deren ungewohnte Zeitmaße und Arbeitsrhythmen es sich erst allmählich gewöhnen mußte, daß von ‚Klassenbewußtsein‘ keine Rede sein konnte. Fabrikarbeiter in der frühen Industrialisierungsperiode bestanden aus einer bunten und heterogen zusammengesetzten Mischung von Handwerkern, Ackerknechten, Bediensteten aus der Hausindustrie, sogenannte Heimgewerbetreibende, und vorher Beschäftigungslosen, die selten eine spezifische Qualifikation für die entsprechenden industriellen Tätigkeiten mitbrachten und sich erst ganz allmählich an eine strenge Arbeitsdisziplin gewöhnen mußten. Frauen, die überwiegend in der Textilindustrie beschäftigt wurden, standen, wenn sie verheiratet waren, unter einem unvorstellbaren psychischen und physischen Druck. Nicht nur wegen der Erziehung von sechs bis zwölf Kindern, was keine Seltenheit war, neben Beruf und Hausarbeit ohne Waschmaschine, Kühlschrank oder Staubsauger, sondern wegen dramatischen Belastungen bei den vielen Geburten, die sie oft nicht überlebten. Männliche Arbeiter versuchten auf andere Weise, sich von den Arbeitsbelastungen abzuwenden. Nicht nur das Phänomen des Blauen Montags, d. h. des Fernbleibens von der Arbeit wegen zu starken Alkoholgenusses am Wochenende, weil damals üblicherweise freitags der Wochenlohn ausbezahlt wurde, ist dafür eine treffende Form des Frustabbaus. Werner Sombart zitierte eine Studie über Organisationsbestrebungen der Arbeiter in deutschen Unternehmen von 1905, in der festgestellt wurde: „Viele Arbeiter finden sich veranlaßt, nur vier, manche sogar, wie es heißt, nur drei Tage jeder Woche in ihrem Beruf tätig zu sein, eine Sitte, die sich bei näherer Betrachtung nicht allein als eine dem Hang der menschlichen Natur zu beschaulichem Müßiggange (!) oder dem patriotischen Streben nach einem Anteil an der öffentlichen Politik (!) entspringende offenbart, sondern auch als tiefgewurzelt in den sozialen Verirrungen, die Deutschlands Arbeiterklasse nicht fremd geblieben sind.“57 Nach allem, was wir von der Arbeitergeschichte im 19. Jahrhundert wissen, von der relativ niedrigen Bezahlung, von den straffen Arbeitsnormen oder von der dürftigen Lebenshaltung in Arbeiterfamilien, kann eigentlich nur eine ganz geringe Zahl von Arbeitern eine solche Arbeitsverweigerung praktiziert haben. Die industriellen Arbeitermassen, die in Deutschland die Zahl der landwirtschaftlich Beschäftigten erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert quantitativ übertrafen, waren sozial wie funktional höchst differenziert, d. h. sie verfügten über ganz unterschiedliche Berufsqualifikationen, gehörten verschiedenen Religionen an und waren auch durch ihre geographische Herkunft mental anders geprägt. Vielen von ihnen war der Arbeitsrhythmus der Fabrik fremd, sie fühlten sich von der monotonen und ungeselligen Fabrikarbeit abgestoßen und ihr physischer und gesundheitlicher Zustand erwies sich für die körperlich anstrengenden Arbeiten, schon gar nicht in der Schwerindustrie, als ungeeignet. Doch selbst viele Jahre 57 Werner Sombart: Die Arbeiterverhältnisse im Zeitalter des Frühkapitalismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 44, 1917/18, S. 28.

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nach Gründung des Deutschen Reiches, als Marx und Engels vollständig davon überzeugt waren, daß das Proletariat sich international zum Sturz des kapitalistischen Systems zusammenrotten würde, war die deutsche Arbeiterschaft noch immer in der Minderheit. Nach der deutschen Gewerbestatistik des Jahres 1875 waren 48 % der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt, 25 % der männlichen und 20,5 % der weiblichen Bevölkerung in der Industrie, elf Prozent persönliche Dienstleistungen von Frauen und sieben Prozent von Männern, 4,5 % bei den Eisenbahnen, der Post, in Gasthöfen etc., 3,5 % im Handel und Verkehr, je zwei Prozent in Erziehung und Unterricht etc. sowie in der Armee und Flotte. Von allen Beschäftigten waren in diesem Jahr 5,5 % weibliche und 3,5 % männliche Berufstätige arbeitslos. „Für die Industrie würde also nur etwa der vierte Theil des deutschen Volkes und etwa 10 Millionen Menschen übrig bleiben, wobei die Familien der Industriellen und Arbeiter schon miteingerechnet sind.“58 Schon 1856 wies der sächsische Fabrikant Heinrich Jacob Bodemer (1800 – 1883) – der 1841 in seiner Baumwolldruckerei in Großenhain auf eigene Rechnung eine Fabrikschule eingerichtet hatte – auf die schwierige Situation von Frauen mit ihrer Doppelbelastung von harter Arbeit und mühseligem Haushalt hin, die durch eine Revolution überhaupt nicht befriedigend gelöst werden konnte: „Wer dagegen die Überzeugung von einer ganz andern volkswirthschaftlichen Zukunft hegt, wer der Meinung ist, daß die ökonomisch-verschwenderische Einzelkocherei und Wascherei mehr und mehr in öffentliche Speisehäuser und Waschanstalten sich verwandeln, daß man den die etwaigen Schattenseiten weit überwiegenden Nutzen der Kinderbewahranstalten und Kindergärten immer besser anerkennen und das Spinnen und Stricken der Frauen, ist sonst kein Nebenzweck damit verbunden, künftig noch mehr als es jetzt bereits geschieht, dem Müßiggange ziemlich gleich erachten werde, der kann nur wünschen, daß der Durchbruch der Emanzipation der weiblichen Intelligenz von dem Zwange der Erwerbslosigkeit möglichst befördert und daß dieser Zuwachs an materieller Wohlfahrt den mittleren Ständen auch in Deutschland recht bald zu Theil werden möge. In der Kapitalisirung der höhern Arbeitsbefähigung der Frauen liegt nicht nur ein sehr bedeutender volkswirthschaftlicher Gewinn und sie verhütet nicht nur das in den Ländern des Gewerbszwanges so zahlreiche weibliche Proletariat, sondern sie ist auch von dem unschätzbaren Vorteil begleitet, daß die Ehen weit vorsichtiger geschlossen und mit durchschnittlich weniger Kindern gesegnet werden, wie solches sich ohne weitern Commentar aus den Verhältnissen von selbst begreift.“59 Hier äußerte sich ein Unternehmer, der anders als Marx die industriellen Verhältnisse aus eigener Anschauung genau kannte und bereits 1826 zusammen mit seinem Vater die Baumwollmanufaktur in Naundorf bei Großenhain geleitet hatte, die anschließend zur 58 Georg Hirth: Die Lebensbedingungen der deutschen Industrie sonst und jetzt, in: Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik, Jg. 1877, S. 778. 59 Heinrich Bodemer: Die Industrielle Revolution mit besonderer Berücksichtigung auf die erzgebirgischen Erwerbsverhältnisse, Dresden 1856, S. 94 f.

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maschinell-fabrikatorischen Produktion überging. Bodemer wußte ebenfalls, was die 1861 in Sachsen eingeführte Gewerbefreiheit für den industriellen Fortschritt bedeutete, und versuchte durch die Errichtung von Sonntags- und Fabrikschulen, daß die Arbeiter sich einen höheren Bildungsgrad aneignen und dadurch eventuell auch besser bezahlte Tätigkeiten übernehmen konnten. Die Anlaufperiode der deutschen Industrialisierung bis zur Reichsgründung 1870/71 war vor allem geprägt durch eine fast unüberschaubare Heterogenität zwischen bereits industrialisierten Regionen, Städten, in denen Fabriken errichtet worden waren sowie weitgehend landwirtschaftlich geprägten Gebieten, in denen erst allmählich oder gar nicht bis zum Ersten Weltkrieg ökonomisch-industrielle Inseln entstanden. Die einzelnen deutschen Staaten waren voneinander fast so abgeschlossen wie von anderen europäischen Staaten und nicht nur Bayern und Preußen waren einander spinnefeind, wovon sich bis heute der Ausdruck ‚Saupreußen‘ erhalten hat. In dem ersten deutschen Industriestaat Sachsen wollte man mit den preußischen Nachbarn möglichst wenig verkehren, denn schon im Siebenjährigen Krieg, 1860, wurde Dresden von Friedrich II. ziemlich verwüstet, d. h. die Frauenkirche lag ebenso in Schutt und Asche, wie im Februar 1945. Nach dem Wiener Kongreß, 1815, mußte das stolze Königreich Sachsen, weil sein König Kaiser Napoleon I. in falscher Loyalität die Treue gehalten hatte, mehr als die Hälfte seines Territoriums an Preußen abtreten, wo es als Provinz Sachsen in den preußischen Staatsverband integriert wurde. Zwar gab es eine große Arbeiterwanderung von östlichen Regionen, vor allem aus Oberschlesien, in das arbeitersuchende Ruhrgebiet im Steinkohlenbergbau, aber ein schicksalhaftes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelte sich dadurch nicht, da die polnisch sprechenden Ruhrkumpels sich erst einmal an ihr neues Milieu gewöhnen mußten. Offenbar bedurfte es der zerstörerischen Kritik eines Marx, um der Arbeiterklasse, „deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und die schließliche Abschaffung der Klassen ist“,60 zum Sieg zu verhelfen; um etwas ironisch zu sein. Ziemlich enthüllend ist allerdings, daß Marx mit ‚kapitalistischer Produktionsweise‘ gänzlich von dem damals üblichen Sprachgebrauch abwich; „er vermehrt die mit diesem vieldeutigen Worte verbundene Begriffsverwirrung vielmehr noch dadurch, daß er von Kapital in einem völlig anderen Sinne spricht“.61 Was allerdings die Industriearbeiter betraf, so blieb den ausgebeuteten und unterdrückten Arbeitern ja scheinbar nichts anderes übrig, als sich aus dem „Sumpf der Verzweiflung einer dauernden und chronischen Depression“62 am eigenen Schopf herauszuziehen, wie der Baron von Münchhausen, doch nun mit einer Revolution statt mit einem Ritt auf einer Kanonenkugel. Die revolutionären Ansätze 1848/49 waren bekanntlich vom preußischen und österreichischen Militär brutal niedergeschlagen worden, und viele Arbeiter versuchten sich durch Auswanderung in die USA nicht K. Marx: Das Kapital, 1. Bd. (wie Anm. 56), S. 22. Richard Passow: „Kapitalismus“ (1918). 2. Aufl. Jena 1927, S. 79. 62 Friedrich Engels: Vorwort zur englischen Ausgabe des 1. Bandes vom Kapital vom 5. November 1886, in: MEW. Bd. 23 (wie Anm. 56), S. 40. 60 61

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nur dem politischen Druck zu entziehen, sondern auch ihre materielle Lage nach der bedrückenden Agrar- und Gewerbekrise Mitte der 1840er Jahre zu verbessern. Die industriellen Veränderungen in technischer und wissenschaftlicher Hinsicht in fast allen Industriebranchen und die Verbesserungen der materiellen Lage eines großen Teils der Arbeiterschaft in den nächsten 50 Jahren widerlegten zwar die düsteren Prognosen Marx’ und Engels’ vollständig, aber sie konnten eingefleischte Marxisten nicht davon überzeugen, daß das kapitalistische System reformfähig war und einige gravierende Mängel in der Arbeitswelt behoben wurden: „Daß die Anhäufung von Menschenmassen [in Berlin z. B. drängten sich um 1900 25.000 Personen auf einen km 2 Fläche, H.K.] auf einer Stelle unbedingt nothwendig wäre, wird Niemand behaupten wollen. Die Industrie wie die gesammte Kultur würden sich noch besser entwickeln können, wenn die Überfüllung vermieden und Jedem genügend Platz zum Athmen gegönnt wäre. Es ist nur eine Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems, das auf Menschenwohl und Menschenleben keine Rücksicht nimmt, wenn allen Erfahrungen der Gesundheitslehre zum Hohn Menschenmassen in Fabrikräumen und Wohnungen zusammengepfercht werden, die weder die genügende Menge Luft noch dieselbe in genügender Reinheit bieten. Nur die mit der kapitalistischen Produktionsweise verbundene Ausbeutung der Arbeiterklasse ist schuld daran, daß der Arbeiter, so wenig wie er sich genügend pflanzliche und thierische Nahrungsmittel kaufen kann, so wenig auch die erforderliche Luftmenge in seiner Wohnung und Werkstatt erhält.“63 Abgesehen davon, daß zu dieser Zeit fast flächendeckende Vorschriften über ausreichende Belüftung in den Fabriken und Sicherheitsvorkehrungen gegen Unfälle eingeführt waren, die durch Gewerbeaufsichtsbeamte kontrolliert wurden, entspricht diese einseitige Verurteilung des kapitalistischen Systems überhaupt nicht den Prioritäten vieler Menschen in der damaligen Arbeitswelt. In die pulsierenden Großstädte zu ziehen, bedeutete nicht nur einen erheblichen Anreiz für Dienstmädchen, die dort leichter einen Mann ‚fürs Leben‘ zu finden hofften, sondern auch für junge Männer, die dem landwirtschaftlichen Trott entfliehen wollten, auch wenn sie die Risiken einer fabrikatorischen Tätigkeit selten bei ihrer Entscheidung, Arbeit in einem großen Unternehmen zu finden, berücksichtigten. Eine sozialkritische Einstellung gegenüber dem ‚ausschweifenden‘ Leben in Großstädten war seit den Schriften des Kulturhistorikers Wilhelm Heinrich Riehl (1825 – 1897) in intellektuellen Kreisen weit verbreitet.64

Emanuel Wurm: Die Lebenshaltung der deutschen Arbeiter, Dresden 1892, S. 41 f. Vgl. Wilhelm Heinrich Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 1851; ders.: Land und Leute, Stuttgart 1854; ders.: Die Familie, Stuttgart 1854. 63

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C. Die Reformen des Kapitalismus im 19. Jahrhundert Waren die Anfänge des Industriesystems noch geprägt von langen Arbeitszeiten, unhygienischen Zuständen in den Fabrikgebäuden oder einer unverantwortlichen Kinderarbeit, so waren weltliche und kirchliche Institutionen darum bemüht, wenigstens die schlimmsten Auswüchse der Fabrikarbeit zu beseitigen bzw. zu mildern, d. h. ‚chronisch‘ waren lediglich die undifferenzierten Anklagen, je weiter wir uns dem Ende dieses Jahrhunderts nähern. Das industrielle Wachstum der modernen Industrie wäre schnell an seine produktiven Grenzen gestoßen, wenn man dauerhaft den Arbeitern einen finanziellen Zuwachs bei ihrer Entlohnung verweigert hätte, denn das Ventil der Auswanderung, vor allem in die USA, blieb fast das ganze 19. Jahrhundert offen und wurde von Hunderttausenden Deutschen, neben Millionen von anderen Europäern, genutzt. Engels glaubte noch fast zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung vom Kapital, es müßten in Kontinentaleuropa „die Arbeitslosen die Geduld verlieren und ihr Schicksal in ihre eignen Hände nehmen“,65 d. h. den Kapitalismus durch eine gewaltsame Revolution vernichten, während „England das einzige Land ist, wo die unvermeidliche soziale Revolution gänzlich mit friedlichen und gesetzlichen Mitteln durchgeführt werden könnte“. Dabei richteten sich die Hoffnungen und Erwartungen der meisten Industriearbeiter auf ganz andere Ziele, nämlich auf höhere Löhne, auf mehr Freizeit, bessere Bildung, gesündere Ernährung oder medizinische Versorgung. Etwa zur gleichen Zeit wie Engels stellte einer der bedeutendsten Ökonomen des 19. Jahrhunderts, Wilhelm Roscher (1817 – 1894), fest: „Die absolut größere Productivität und Entwicklungsfähigkeit der Fabrik macht es wenigstens möglich, den Fabrikarbeitern einen höhern Lohn zu gewähren, als den Hausindustriellen; und wirklich finden wir die schreiendsten Beispiele von Arbeiterelend gerade in gesunkenen Hausmanufacturzweigen.“66 Engels hatte inzwischen auch bemerkt – obwohl er in seiner Hörigkeit gegenüber Marx nicht bereit war, sich aus dem Dilemma von Reform und Revolution zu lösen –, daß in England das kapitalistische System seit den 1830er Jahren ohne jede revolutionäre Bewegung sich unaufhörlich reformiert hatte! Der konservative britische Premierminister Sir Robert Peel (1788 – 1850) setzte Mitte der 1840er Jahre den 10-Stundentag sowie ein staatliches Armenrecht durch und die Errichtung eines Public Health Board wurde vom englischen Parlament genehmigt. In Preußen forderte eine Kabinettsorder vom 13. November 1843, verwahrloste Kinder, bei denen die nötige Aufsicht nicht vorhanden war, sowie Arme,

F. Engels: Vorwort (wie Anm. 62), S. 40. Dort auch das nächste Zitat. Wilhelm Roscher: Nationalökonomik des Handels und Gewerbefleißes. 2. Aufl. Stuttgart 1881, S. 545. Roscher wies darauf hin, daß Arbeiter in der Hausindustrie den lohndrückenden Auswirkungen von schlechten Konjunkturen viel stärker ausgesetzt waren als Fabrikarbeiter: „So kann auch die Ueberarbeitung der Kinder, wenn sie eingerissen ist, in der Hausindustrie viel schwerer durch öffentliche Meinung und Staatspolizei wieder abgeschafft werden, als namentlich in der sehr großen, deshalb sehr notorischen und wirksamer zu regelnden Fabrik.“ (Ebd.). 65

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die durch Krankheit oder durch andere Unglücksfälle in Not geraten seien, durch lokale Hilfsmaßnahmen zu unterstützen. Marx entwickelte 1867 im Kapital ein anderes Szenario und ging davon aus, daß sich die Länge des Arbeitstages innerhalb physischer und sozialer Schranken bewege, d. h. zwischen acht und achtzehn Stunden, was von den Arbeitern nicht akzeptiert würde und deshalb zur Revolution führen müsse. Aber der achtstündige Arbeitstag war 1867 längst zum Programm englischer Gewerkschaften erhoben worden und in allen Industriestaaten wurden Maßnahmen ergriffen, die Arbeitszeit gesetzlich zu reduzieren und die Kinderarbeit nach und nach abzuschaffen; in Preußen bereits durch ein (noch unvollkommenes) Gesetz 1839. Der deutsche Ökonom Lujo Brentano (1844 – 1931) konstatierte bereits 1890, daß die Lebenshaltung der (englischen) Arbeiter in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts entsetzlich war, aber daß „heute die Lage der englischen Arbeiterklasse, insoweit sie organisirt ist, eine außerordentlich günstige“67 sei, was auch für den Großteil deutscher Arbeiter zutraf. Während die von Engels vielgerühmten Handweber zeitweise 16 bis 18 Stunden täglich arbeiteten, ist mir für das Jahr 1867 kein einziges deutsches Fabrikunternehmern bekannt, in dem die Arbeiter mehr als zwölf Stunden pro Tag arbeiten mußten. Der sächsische Industrielle und Schriftsteller Friedrich Georg Wieck (1800 – 1860) vertrat ein Jahr nach diesem Gesetz die eigentümliche Auffassung, daß jedem Arbeiter freistünde, seine Tagesarbeit nach Belieben auszudehnen: „Die deutsche Gesetzgebung hat weiser als die gerühmte freie englische es vermieden, die Arbeitszeit zu normiren, die nur das Resultat freier Vereinbarung sein kann und selbst die Wohlfahrtspolizei wird im Vertrauen auf den wackern Geist der deutschen Fabrikanten nicht nöthig haben, gegen Ueberbeschäftigung der Kinder in den Fabriken ‚Factory bills‘ zu promulgiren, die, wie alle Gesetze, die nicht gehalten werden können, das Uebel ärger machen.“68 Es waren solche frühindustriellen Unternehmer mit ihren ‚Herr-im-Hause‘-Standpunkten, die den Marxisten genügend Vorwände lieferten, daß Kapitalisten nichts als Ausbeutung ihrer Arbeiter im Sinn hätten, um möglichst viel Mehrwert aus ihnen herauszupressen; aber repräsentativ war Wieck nicht einmal für das sächsische Unternehmertum. In Deutschland kämpften sozialdemokratische Parteien und Gewerkschaften seit den 1860er Jahren verstärkt um eine Reduzierung der Arbeitszeit und bedrängten auf öffentlichen Versammlungen die Unternehmer, eine Einschränkung der Arbeitszeiten zu akzeptieren. Staatliche Stellen verhinderten durch Gesetze die schlimmsten Auswüchse eines industriekapitalistischen Liberalismus, finanzierten Enqueten über die Lage von Arbeitern in verschiedenen Branchen und wurden dabei unterstützt von Professoren, die sich den Schimpfnamen „Kathedersozialisten“ gefallen lassen mußten. Bereits am 6. Januar 1866 wurde in Mannheim die Gesellschaft zur Überwachung und Versicherung von Dampfkesseln gegründet, um die verheerenden Folgen von Dampfkesselexplosionen für 67 68

L. Brentano: Meine Polemik mit Karl Marx (wie Anm. 48), S. 6. Friedrich Georg Wieck: Industrielle Zustände Sachsens, Chemnitz 1840, S. 82.

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das Leben von Arbeitern einzudämmen und schließlich zu verhindern. Die von Marx verteufelten Unternehmer blieben keineswegs untätig. Dazu nur ein Beispiel aus Nürnberg, wo die Maschinenbau-Actiengesellschaft von Theodor Frh. von Cramer-Klett (1817 – 1884) den Forderungen zuvorkam und am 28. Oktober 1871 nach Absprache mit den Werkmeistern den zehnstündigen Arbeitstag ohne Lohnreduktion einführte sowie Überstunden mit 25 % Lohnvergütung bezahlte. Auch in der deutschen Baumwollindustrie, wo früher tägliche Arbeitszeiten von 13 Stunden keine Seltenheit waren, drängte man während dieser Zeit auf eine Arbeitszeitreduzierung: „Anfang 1871 führten die Hofer Betriebe, nachdem die südbayerischen Betriebe 1869/70 vorangegangen waren, den 12-Stundentag ein. In den Färbereien, die noch 2 je halbstündige Zwischenpausen hatten, wurde zeitweise effektiv nur noch 10 Stunden gearbeitet.“69 Solche Regelungen wurden in Arbeitsordnungen festgehalten, die bis zum Ersten Weltkrieg die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit in den meisten Unternehmen auf zehn Stunden senkten. In einer Baumwollspinnerei stellte man die Arbeiter vor die Wahl, zwischen einer Arbeitszeitverkürzung und einer fünfprozentigen Lohnerhöhung zu wählen; worauf die Arbeiterschaft sich für den höheren Lohn aussprach. Dagegen glaubte der Ökonom Friedrich Albert Lange im Jahr 1865, wenn es Arbeitern gelänge, bei guter Beschäftigungslage sich in einer solchen Lebensweise einzurichten, würden sie den Versuchen, ihren Lebensstandard zu reduzieren, Widerstand entgegensetzen. Allerdings: „Wo eine zufällige Conjunktur plötzlich hohe Löhne hervorruft, welche den Leuten wie ein Lotteriegewinn zufallen und ebenso wieder verschwinden, da entsteht gewöhnlich Ausgelassenheit, Demoralisation und nachher doppeltes Elend.“70 Marx’ Vorstellung, der unternehmerische Kapitalist beute die Arbeitskraft seiner Arbeiter weit über die Grenzen, was diese an Arbeitslohn erhielten und des menschlich Möglichen hinaus aus, weswegen sich die Arbeiter in die Sklaverei verkaufen müßten, entsprach nicht mehr der konkreten historischen Realität. Es war im ganzen 19. Jahrhundert aber so, daß der Arbeitslohn „im Mittelpunkte der weitaus meisten Kämpfe und Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“71 stand, die nicht durch eine Klassenkampftheorie, sondern durch mühsame Aushandlungen gemildert werden konnten. Trotzdem unterstellte Marx dem Unternehmer: „Als Kapitalist ist er nur personifiziertes Kapital. Seine Seele ist die Kapitalseele. Das Kapital hat aber einen einzigen Lebenstrieb, den Trieb, sich zu verwerten, Mehrwert zu schaffen, mit seinem konstanten Teil, den Produktionsmitteln, die größtmögliche Masse Mehrarbeit einzusaugen … Konsumiert der 69 Karl Schmid: Die Entwicklung der Hofer Baumwoll-Industrie 1432 – 1913, Leipzig/ Erlangen 1913, S. 72. 70 F. A. Lange: Die Arbeiterfrage (wie Anm. 43), S. 93 f. Lange vertrat jedoch wegen Änderungen bei der Nachfrage von Industrieprodukten auch die halbwegs unternehmerfreundliche Ansicht: „Allein dieser ganze Widerstand hat gegen die Uebermacht des Kapitals doch nur eine sehr beschränkte Wirkung.“ (S. 94). 71 Walther Pupke: Die Lohnstatistik in Deutschland, Diss. Halle-Wittenberg 1907, S. 6.

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Arbeiter seine disponible Zeit für sich selbst, so bestiehlt er den Kapitalisten.“72 Alleine die Annahme, Kapitalist sei gleich Kapitalist, d. h. bei allen Unternehmern sei der gleiche Trieb nach unablässiger Vergrößerung von Mehrwert anzutreffen, verfälscht die ökonomische Realität fundamental und verrührt ganz unterschiedliche Unternehmensstrategien zu einem Einheitsbrei. Aber auch die undifferenzierten Behauptungen, daß die durchschnittlichen Arbeitslöhne zu gering seien, um davon existieren zu können, geben uns keinen Aufschluß über das Existenzminimum von Arbeitern, da bei Löhnen wenigstens unterschieden werden muß zwischen Erwerbsklassen, Männer und Frauen, Berufskategorien, Altersklassen, Regionen, Unternehmen sowie Konsum- und Produktionsverhältnissen. Die größte Zahl von Unternehmern wie die staatlichen Instanzen, die einschränkende Fabrikgesetze erließen, waren gar nicht daran interessiert, sich nach einem maßlosen ‚WerwolfsHeißhunger nach Mehrarbeit‘ zu übergeben. Denn eine derartige Ausdehnung des Normalarbeitstages hätte sowohl die Produktivität der Arbeiter als auch ihre ohnehin kurze Lebensdauer gesenkt, wodurch staatliche Hinterbliebenenrente und die Suche nach Fachkräften nötig geworden wären. Es ist deshalb beim schwierigen Kampf um die Länge des Arbeitstages eine unzutreffende Einsicht von Marx, „daß es weder ökonomische noch rechtliche Gesetze gibt, die die Länge des Arbeitstages beschränken, der Arbeitstag daher allein Gegenstand des Kampfes zwischen Unternehmer- und Arbeiterschaft sein kann“.73 Nicht der angeblich unüberwindbare Klassengegensatz ist die eigentliche Triebfeder für eine verkürzte Arbeitszeit, sondern der gesellschaftliche Wunsch nach einer besseren Lebensqualität für die arbeitende Bevölkerung, die ja große Teile des Wohlstands schuf. Eine organisierte Arbeiterschaft für den angestrebten achtstündigen Normalarbeitstag wäre also gar nicht unbedingt erforderlich gewesen – ganz im Gegensatz zu den von Gewerkschaften durchgesetzten Lohnerhöhungen –, weil schon gesellschaftliche Kräfte aus eigenem Interesse darauf hinarbeiteten, d. h. eine maßlose Ausbeutung der Arbeitskraft gar nicht durchgeführt werden konnte. Ein Jahr vor der Veröffentlichung des 1. Bandes vom Kapital schrieb Ernst Engel sehr viel realistischer: „Alle diejenigen, welche sich mit Untersuchungen über den Preis der Arbeit beschäftigen, haben es zur Genüge empfunden, wie schwierig es ist, aus der Summe Geld, die man Lohn oder Gehalt nennt, das abzusondern, was in der That und Wahrheit solcher ist. Und selbst wenn dies gelungen, hat man in den seltesten Fällen einen normalen Arbeitslohn herausgeschält, sondern einen von günstigen und ungünstigen Coeffizienten und dem Verhältniß der Arbeit zu ihrem Stoff beeinflußten.“74 Der sowjetische Regierungschef Nikita Sergejewitsch Chruschtschow (1894 – 1971) verniedlichte ein Jahrhundert später die ausbeuteri72 K. Marx: Das Kapital, 1. Bd. (wie Anm. 35), S. 247. „Aber in seinem maßlos blinden Trieb, seinem Werwolfs-Heißhunger nach Mehrarbeit, überrennt das Kapital nicht nur die moralischen, sondern auch die rein physischen Maximalschranken des Arbeitstags.“ (S. 280, Hervorhebung von mir). 73 Christian Iber: Grundzüge der Marx’schen Kapitalismustheorie, Berlin 2005, S. 154. 74 Ernst Engel: Der Preis der Arbeit, Berlin 1866, S. 17 (Hervorhebungen im Original).

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sche Kritik von Marx am Lohnsystem des Kapitalismus, wenn er sich dadurch an seine und seines Vaters Arbeit in der Grube erinnerte und schrieb: „Es war, als habe er seine Gesetze nach eingehender Beobachtung unseres Arbeitslebens dort gefunden und daraufhin wissenschaftlich bewiesen, daß die Arbeiter sich von der kapitalistischen Sklaverei befreien müssen, und dargelegt, warum und wie sie die sozialistische Gesellschaft erbauen sollen.“75 Der ökonomische und politische Kampf, den Marx der internationalen Arbeiterklasse empfahl, richtete sich überwiegend auf Vernichtung des Kapitals, nicht auf Zugeständnisse bei der Länge der Arbeitszeit und der Höhe des Arbeitslohns. Außerdem müssen wir ja berücksichtigen, daß der Arbeiter als Verkäufer seiner Arbeitskraft „in einer kommerziellen Nebenrolle, deren Ausfüllung einen ganz geringen Bruchteil seiner Zeit beansprucht“,76 im Wirtschaftsgeschehen auftritt, auch wenn die Ferienzeit und das Freizeitangebot im 19. und 21. Jahrhundert sich fundamental unterscheiden. Marx antikapitalistische Behauptungen haben mit einer sachlichen Beurteilung der industriellen Produktion so gut wie gar nichts zu tun und dienen lediglich der Anstachelung eines Revolutionsgeistes, wie schon Lujo Brentano 1872 klar erkannt hat: „Um die hierzu nöthige Revolution zu ermöglichen, wird den Arbeitern als erste Pflicht der Haß gegen alle andern Gesellschaftsklassen gepredigt.“77 Das sind alles haarsträubende Übertreibungen, denn obwohl viele Unternehmer den ‚Herrim-Hause‘-Standpunkt vertraten und ihren Arbeitern z. B. vorschrieben, welche Zeitungen sie lesen oder welchen Vereinen sie angehören durften, waren sie bei guten Konjunkturen auf sie angewiesen. Deshalb wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermehrt Kranken- und Sterbekassen oder Arbeitersiedlungen errichtet, um die Arbeiterschaft an die Firmen zu binden; selbst wenn man einräumen kann, daß diese Maßnahmen die freie Arbeitsplatzwahl einschränkte. Im (Erz- oder Kohlen-)Bergbau, wo das Risiko, durch Schlagende Wetter bzw. Explosionen tödlich zu verunglücken, viel höher lag als in Fabriken, hatte man schon Jahrhunderte vorher durch Sterbe- und Witwenkassen eine gewisse Linderung eingeführt, auch wenn dies keineswegs ausreichend war, um das Todesrisiko auszuschließen. Ein 75

Chruschtschow erinnert sich, hrsg. von Strobe Talbott, Reinbek bei Hamburg 1971,

S. 40. 76 Hans Albert: Nationalökonomie als Soziologie der kommerziellen Beziehungen, Tübingen 2014, S. 105 (Hervorhebung im Original). 77 L. Brentano: Meine Polemik mit Karl Marx (wie Anm. 48), S. 16. Dort heißt es weiter: „Zu demselben Zwecke wird auch in der Darstellung der englischen Fabrikgesetzgebung von Karl Marx des muthigen Widerstands zahlreicher Aerzte, Staatsmänner und Menschenfreunde aller Stände gegen die Ausbeutung der Fabrikarbeiter, der unermüdlichen Arbeit des ersten Sir Robert Peel, des Kaufmanns Nathaniel Gould, des Tories Oastler, Sadler und Shaftesbury, der radikalen Fabrikanten Fielden und Brotherton, der Geistlichen Bull und Stephens, des menschenfreundlichen Spinners John Wood aus Bradford, und wie die übrigen Vorkämpfer und Förderer der Arbeitsgesetzgebung alle hießen, ferner die Bemühungen Walters, des Eigenthümers der Times, der Reden Macaulay’s oder der 922 Petitionen von Fabrikanten für das Zehnstundengesetz mit keiner Silbe der Anerkennung gedacht.“ (Hervorhebung im Original).

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solcher ‚Diebstahl‘ des Arbeiters an dem Kapitalisten, wie ihn Marx unterstellte, kann natürlich nicht toleriert werden, ganz abgesehen davon, daß die ununterbrochene Konkurrenz der Kapitalisten untereinander die Sache noch verschlimmerte, denn nun mußte ja nach Marx immer größerer Mehrwert, d. h. Gewinn, aus den Arbeitern herausgepreßt werden. Der Teufelskreis von ausbeutendem Unternehmer und verhungerndem Arbeiter konnte nicht durch eine Revolution zerschlagen werden, sondern durch gewerkschaftliche und staatliche Anstrengungen, die materielle Lage der Arbeiter entweder durch Lohnerhöhungen oder durch einschränkende Fabrikgesetze etc. zu verbessern. Der angeblich so gute Kenner der industriellen Verhältnisse in England und den USA interpretierte aus reinem Kapitalistenhaß so arbeiterfreundliche Unternehmer wie Robert Owen falsch oder blendete Cyrus McCormick und viele andere seiner Zeit einfach aus, weil sie nicht in sein Ausbeuterschema paßten. Friedrich Engels erkannte im englischen Fabrikgesetz von 1833 lediglich den Versuch, „daß die brutale Gewinnsucht der Bourgeoisie eine heuchlerische, zivilisierte Form annahm, daß die Fabrikanten, durch den Arm des Gesetzes von allzu krassen Niederträchtigkeiten abgehalten, desto mehr scheinbaren Grund haben, ihre erlogene Humanität selbstgefällig auszukramen“.78 Dabei wurde durch das Gesetz Kinderarbeit unter neun Jahren verboten, die Arbeitszeit von Kindern auf 48 Stunden wöchentlich begrenzt oder die Nachtarbeit von Jugendlichen unter 18 Jahren ausgeschlossen sowie Fabrikärzte und -inspektoren eingeführt. Nicht nur im Bergbau, sondern auch in Industriebetrieben, gab es seit den späten 1840er Jahren neben den Löhnen verschiedene Formen der Gewinnbeteiligung, die den Arbeitern die produktive Genugtuung gaben, an dem Unternehmen verantwortlich beteiligt zu sein. Noch 1845 hatte sich Heinrich Bodemer über die Gewinnbeteiligung von Arbeitern sehr skeptisch geäußert, wenn sie nicht gleichzeitig an den Verlusten beteiligt würden, denn in diesem Vorschlag „weht zwar ein höchst gesetzerfinderischer Geist, doch möchten die humanen Vorschläge vorerst an sich selbst das Beispiel geben, daß er auch wirklich durchführbar sei“.79 Auch wurde während dieser Zeit vor allem für Deutschland befürchtet, daß wegen der großen Bevölkerungszunahme es zu einem Überangebot an Arbeitskräften kommen müsse und dadurch die Löhne herabgedrückt würden: „Es wird gewuchert, es wird leichtes Geld ausgegeben, es wird Waare dem Arbeiter abgeschunden, wie es in Frankreich, Österreich und England nicht Statt findet, aber kein Gesetz, keine Strafe, kein Aufruhr, keine Drohung, selbst die allermächtige Presse nicht, wird das zähneflätschende Gespenst des niedrigsten Geizes, der gemeinsten Gewinnsucht, so lang noch seine Existenz möglich ist, zurücktreiben, eben so wenig wie die Masse durch Gesetze auf den erhabenen Standpunct des guten Menschen, der Selbstverläugnung zu Gunsten der leidenden Brüder zu bringen ist.“80 30 Jahre 78 Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: MEW. Bd. 2, Berlin 1970, S. 394. 79 Heinrich Bodemer: Über die Zustände der arbeitenden Klassen, Grimma 1845, S. 13 f. 80 Gustav Dörstling: Die Arbeitsgeber und die Löhne der Arbeiter, Chemnitz 1847, S. 13 f. (Hervorhebungen im Original).

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später konnte Victor Böhmert bereits konstatieren, daß die Beteiligung von Arbeitnehmern sowohl am Reingewinn als auch am Eigentum von Industrieunternehmen „als ein wirksames Mittel zur Erhaltung bez. Wiederherstellung des socialen Friedens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und zur Verbesserung der wirthschaftlichen Lage der letztern angesehen“81 und in Deutschland, Österreich, Schweiz, Frankreich, Belgien, England, Nordamerika und skandinavischen Staaten praktiziert würde. Die Stagnationstheorie des Amerikaners Alvin H. Hansen Mitte des 20. Jahrhunderts, nach der der Kapitalismus wegen Marktsättigung, Absatzschwund und zunehmender Arbeitslosigkeit immer geringere Löhne zu zahlen in der Lage sei, hat sich ebenfalls als falsch erwiesen, weil sie die Krisen für permanent erklärte. Nicht nur das industrielle Innovationspotential oder die Dynamik von neuen Erfindungen zur Ausweitung der Konsumentenbedürfnisse hat das unternehmerische Verhalten in einer Konkurrenzgesellschaft geprägt, sondern auch die Bereitschaft der Konsumenten, sich Waren oder Luxusgüter anzuschaffen, die für den täglichen Bedarf nicht unbedingt erforderlich sind. Außerdem richteten immer mehr Unternehmen Kantinen und Badehäuser ein oder ließen Arbeiterwohnungen errichten, in denen den Beschäftigten günstige Mieten angeboten wurden, damit sie in der Nähe ihrer Arbeitsstätte wohnen konnten. Meistens entstammten diese Maßnahmen nicht einem rein altruistisches Trieb, sondern wollten die Arbeiter an den Betrieb binden, um qualifizierte Arbeitskräfte nicht an einen Konkurrenzbetrieb zu verlieren. Doch viele Unternehmer spendeten zum Teil auch hohe Beträge an Witwen- und Waisenkassen, an Sportvereine oder Wohltätigkeitsorganisationen bzw. organisierten Betriebsausflüge auf Kosten des Unternehmens oder ehrten langjährige Betriebsangehörige mit Preisen und Geschenken. Es ist ja wohl keine allzu tiefschürfende ökonomische Erkenntnis, daß Privatunternehmen ohne Gewinn, von dem sie einen Teil in produktivere Maschinen oder effektivere Organisationsstrukturen investieren müssen, nicht lange überleben können und bankrott gehen bzw. vom Markt verdrängt werden, obwohl die oberste Grenze des sogenannten Maximalgewinns noch von keinem Ökonomen berechnet werden konnte. Marx verdrehte z. B. die Forderung nach einem Achtstundenarbeitstag zu einem ausbeuterischen Hirngespinst der Kapitalisten, die über ein Monopol an Produktionsmitteln verfügten und deshalb gegenüber den Arbeitern zu keinen Zugeständnissen bereit seien, was leicht zu widerlegen ist. Das ungleiche Resultat konnte deshalb für Marx nur lauten: „Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt.“82 Doch Gewaltanwendung war das seltenste Mittel, das zur Disziplinierung der Arbeiterschaft angewendet wurde, schon deshalb, weil andere Formen der Bestrafung, wie Lohnabzug oder Aussperrung, viel wirkungsvoller waren. Wenn deutsche Unternehmer ihre Arbeiter tatsächlich auf diese Weise ausgebeutet hätten, d. h. bis zu achtzehn Stunden Arbeitszeit pro Tag die Regel gewesen wäre, dann wären ihre Fabrikhallen bald leer gewesen, denn 81 Victor Böhmert: Beiträge zur Lohnstatistik, in: Zeitschrift des K. Sächsischen Statistischen Bureau’s, XXI. Jg., 1875, S. 120. 82 K. Marx: Das Kapital, 1. Bd. (wie Anm. 35), S. 249.

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die Arbeiterwanderungen von Stadt zu Stadt und von Region zu Region waren ein prägendes Merkmal des Industriezeitalters.83 Trotzdem trafen die Einsichten und Analysen sozialistischer Denker über das industrielle System manchmal auch auf eine richtig eingeschätzte Entwicklung, denn warum sollten Revolutionsfanatiker bei ihren intensiven Studien bzw. ökonomischen Grabungen nicht gelegentlich auf eine Gold- bzw. Silberader stoßen. Marx und die Marxisten erkannten z. B. bereits, daß die kapitalistische Produktionsweise die Weltwirtschaft beherrschen wird, wie wir dies ja heute in großen Teilen der Welt durch die ökonomische Globalisierung mit allen ihren negativen Auswirkungen erleben. Was heute als Globalisierung in aller Munde ist, war spätestens seit dem 18. Jahrhundert durch weltweite Handelsbeziehungen in Gang gesetzt worden, auch wenn die Zahl der beteiligten Staaten und die tatsächlichen Umsätze geringer waren als heute. Doch schon Marx zog daraus den falschen Schluß, daß nicht nur die „zukünftige Verfaulung der Menschheit“84 das Resultat sein würde, sondern es werde „den barbarischen Greueln der Sklaverei, Leibeigenschaft usw. der zivilisierte Greuel der Überarbeit aufgepfropft“.85 Nicht nur die Arbeitszeit ist in allen industrialisierenden Staaten auf lange Sicht kontinuierlich zurückgegangen und durch zunehmende Freizeit sowie Urlaub sind die Belastungen des Arbeitsstresses reduziert worden, sondern wenn man mit ‚Verfaulung der Menschheit‘ einen Rückgang des allgemeinen Wohlstands assoziiert, dann ist die Menschheit nicht nur immer gesünder geworden, sondern die Lebenserwartung ist, mit Ausnahme von Kriegszeiten, in industrialisierten Staaten ständig gestiegen. Konkrete Aussagen über die durchschnittliche Länge der Arbeitszeit gerade in der Periode 1842 bis 1867 zu machen, die Marx vor allem im Blick hatte, ist ungeheuer kompliziert, denn sie war von Region zu Region und von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich sowie abhängig von kontinuierlichen oder diskontinuierlichen Auftragseingängen und vom Absatz der Produkte, weil es überregionale Regelungen noch nicht gab. Es wurden in marxistischen Studien Arbeitszeiten bis zu 21 Stunden täglich genannt, doch diese kurzfristigen Maximalzeiten, auch wenn sie in der Sekundärliteratur häufig kolportiert werden, sind extreme Ausnahmen, die von der Forschung nicht bestätigt werden.86 Die kontinuierliche Reduzierung der Arbeitszeit auf einen maximalen Zehnstundentag bedeutete gleichzeitig, neben anderen Faktoren, wie bessere medizinische Versorgung sowie gesündere Ernährung und mehr erholsame Freizeit, eine Verlängerung der Lebenszeit für die meisten Arbeiter. Während die Lebenserwartung von Deutschen, d. h. die Zeitspanne von Geburt bis zum Tod, im 83 Vgl. Hubert Kiesewetter: Regionale Lohndisparitäten und innerdeutsche Wanderungen im Kaiserreich, in Jürgen Bergmann u. a.: Regionen im historischen Vergleich, Opladen 1989, S. 161 ff. 84 K. Marx: Das Kapital, 1. Bd. (wie Anm. 35), S. 285. 85 Ebd., S. 250. 86 Vgl. Günter Kirchhain: Das Wachstum der deutschen Baumwollindustrie im 19. Jahrhundert, Diss. Uni. Münster 1973, S. 76 ff., wo einige Tabellen von Löhnen angeführt werden und die unterschiedliche Lohnentwicklung in dieser Branche diskutiert wird.

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19. Jahrhundert – vor allem wegen der hohen Kindersterblichkeit, die die durchschnittliche Lebenserwartung drastisch reduzierte – nicht wesentlich über 50 Jahre anstieg, ist es heute keine Seltenheit, daß Menschen 100 und mehr Jahre alt werden, aber auch, daß körperliche oder geistige Krankheiten im Alter zunehmen. Auch die Beseitigung der Maschinensklaverei oder der ungeheuren physischen Belastungen am Arbeitsplatz sind durch maschinelle Produktion, durch Fließbandarbeit oder durch Roboter erheblich reduziert worden. Dadurch wurden die Menschen vielleicht psychisch stärker belastet, aber die körperlichen Anstrengungen sind drastisch abgebaut worden. Die meisten Menschen unserer heutigen Wohlstandsgesellschaften, wo steigendes Übergewicht und Fettleibigkeit zu einem drängenden gesundheitlichen Problem werden, können sich gar keine Vorstellung mehr davon machen, unter welchen gravierenden Belastungen Familien im 19. Jahrhundert sowohl in der Arbeit als auch in der ‚Freizeit‘ leben mußten. Ihnen ist aber auch selten bewußt, daß das weltweite kapitalistische Industriesystem wesentlich zur Durchsetzung eines Massenkonsums auf breiter Basis beigetragen hat und beklagen oft nur die negativen Auswirkungen dieses revolutionären Umwälzungsprozesses. Betrachten wir kurz einen arbeitenden Normalbürger aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, so können wir für die meisten Fälle ausschließen, daß er seinen armseligen Lebensstandard mit dem Wohlhabender, Unternehmern oder Adeligen verglich, um ihn daran anzugleichen, sondern die Vergleichsmaßstäbe stammten eher aus dem Verwandten- oder Familienkreis bzw. mit Arbeitskollegen. Die meisten Arbeiter wußten auch nicht, welche konkreten Lebensverhältnisse in benachbarten Staaten herrschten oder, wenn sie in Industriestädten lebten, welches Auskommen Landarbeiter hatten; noch weniger kannten sie die Zustände aus früheren Jahrhunderten. Ihre Vergleiche waren deshalb im Unterschied zu unseren heutigen weltweiten Informationssystemen auf einen kleinen Ausschnitt ihrer unmittelbaren Umgebung beschränkt oder auf Zeitungslektüre, die sich keineswegs alle Arbeiter zeitlich oder finanziell leisten konnten. Dies bedeutete aber nicht unbedingt, daß sie keine Vorstellungen von den nötigen Lebensbedingungen besaßen und nicht abschätzen konnten, welche Vorteile höhere Löhne oder geringere Arbeitszeiten für ihren Lebensgenuß haben würden. Und ganz sicher registrierten sie die Fortschritte auf medizinischen und technischen Gebieten, entweder weil bestimmte Krankheiten zum erstenmal behandelt werden konnten, weil (Arbeiter-)Bildungsvereine sie etwa auf die gesundheitlichen Gefahren von Alkoholmißbrauch – der übermäßige Konsum von billigem, selbstgebrauten Kartoffelschnaps bedeutete ein erhebliches Gesundheitsrisiko – aufmerksam machten oder weil sie Verwandtenbesuche mit der Eisenbahn durchführen konnten. Sozialdemokratische Versammlungen versuchten mit Bildungsveranstaltungen Menschen anzusprechen und Sport- oder Musikvereine eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung anzubieten. Diese Zusammenhänge wurden von Ferdinand Lassalle im Unterschied zu Karl Marx schon in seinem Offenen Antwortschreiben vom 1. März 1863 klar erkannt: „Alles menschliche Leiden und Entbehren hängt also nur von dem Verhältnis der Befriedigungsmittel zu den in derselben Zeit bereits vorhandenen Bedürfnissen und Lebensgewohnheiten ab. Alles menschliche Leiden und Entbehren und alle mensch-

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lichen Befriedigungen, also jede menschliche Lage bemißt sich somit nur durch den Vergleich mit der Lage, in welche sich andere derselben Zeit in bezug auf die gewohnheitsmäßigen Lebensbedürfnisse derselben befinden. Jede Lage einer Klasse bemißt sich somit immer nur durch ihr Verhältnis zu der Lage der andern Klasse in derselben Zeit.“87 Auch wenn die Zahl der Mitglieder einer ‚Klasse‘ viel zu umfangreich und heterogen für solche Vergleiche ist, die sich wohl auf eine sehr viel kleinere Zahl von Personen bzw. Familienangehörige beschränkt hat, so ist die Idee von Lassalles Wohlstandsvergleich für das ganze 19. Jahrhundert zutreffend. Es ist wenig bekannt, daß in deutschen Staaten schon über zwei Jahrzehnte vor dem Erscheinen des 1. Bandes des Kapital nicht nur Organisationen zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen gegründet wurden, wie der Central-Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen 1844 in Berlin, der gegen das soziale Elend massiv ankämpfte und in Veröffentlichungen auf die elende Lage Unterprivilegierter hinwies.88 Doch für die Bekämpfung sozialer Mißstände durch bürgerliche Kreise hatten Marx und Engels 1848 nur höhnischen Spott übrig, denn dadurch würde lediglich der „Bestand der bürgerlichen Gesellschaft“89 und damit das kapitalistische System gesichert. Zu diesen konservativen Vertretern von sozialen Reformen gehörten: „Ökonomisten, Philanthropen, Humanitäre, Verbesserer der Lage der arbeitenden Klassen, Wohltätigkeitsorganisierer, Abschaffer der Tierquälerei, Mäßigkeitsvereinsstifter, Winkelreformer der buntscheckigsten Art.“ Dies war eine bewußte Denunziation von Organisationen, die auf bescheidene Weise zur Verbesserung der Lebensverhältnisse arbeitender Menschen beitragen wollten, aber nicht eine zerstörerische Revolution für sinnvoll hielten. Es ist erstaunlich, daß gerade aus dem bürgerlichen Lager, nämlich Vertreter des Handwerks, sich dem marxistischen Klassenstandpunkt näherten, auch wenn dies Marx und Engels nicht für möglich gehalten hätten. In den durch schlechte Ernten ausgelösten Krisenjahren nach 1845 glaubten z. B. Innungsmeister aus Crimmitschau ähnlich wie Marx, durch die Einführung der Gewerbefreiheit würden „die Habe, Gut und Blut von Millionen auf’s Spiel“ gesetzt und übrig blieben nur zwei Klassen, „der an Baarmitteln reiche Fabricant und der Lohnarbeiter, der von der Gnade des reichen Fabrikbesitzers lebt und abhängig ist“.90 Der mentale Bruch von einer im natürlichen Rhythmus ablaufenden Landwirtschaft oder dem Handwerk mit seinen Zunftregeln zu einer von Zeitintervallen geprägten Industriearbeit war so gravierend, daß viele dadurch den Untergang des zivilisierten Menschheit heraufziehen sahen. In derselben Zeit warnten hochgebildete Ingenieure und Bürokraten z. B. 87 Ferdinand Lassalle: Reden und Schriften, hrsg. von Friedrich Jenaczek, München 1970, S. 185 (Hervorhebungen im Original). 88 Vgl. Nora Stiebel: Der „Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen im vormärzlichen Preußen“, Diss. Uni. Heidelberg 1922, S. 60 ff. 89 Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW. Bd. 4, Berlin 1971, S. 488. Dort auch das nächste Zitat. 90 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden: Ministerium des Innern, Nr. 2336a, Blatt 170. Beide Zitate.

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davor, daß bei einer Eisenbahnfahrt, wenn die Geschwindigkeit des Zuges 25 km pro Stunde überschritte, das Gehirn durch die Fliehkraft zusammengedrückt würde und die Eisenbahnreisenden elendig zugrunde gingen. Wir können uns heute kaum mehr vorstellen, welche mentalen Einschnitte die relativ schnelle Umstellung von der Land- auf die Fabrikarbeit bedeutete, denn Ruhepausen wie bei der Feldarbeit waren unter dem Zeitdiktat der industriellen Produktion nicht mehr möglich, d. h. die psychische Beanspruchung wuchs und viele Menschen versuchten sich durch vermehrten Konsum von Bier oder selbstgebrautem Kartoffelschnaps abzureagieren oder zu betäuben. Die arbeitsbedingten Umbrüche der Fabrikproduktion beschäftigten deshalb nicht nur die Politik, die mit teilweise unwirksamen Gesetzen und Vorschriften steuernd einzugreifen versuchten, sondern auch wohlhabende Bürger, Wissenschaftler und Theologen, die gerade in Krisenzeiten umfangreiche Hilfsmaßnahmen vorschlugen bzw. finanzierten, um die hohen Sterberaten besonders bei Agrar- und Wirtschafstkrisen von Kindern und Erwachsenen zu senken. Außerdem kümmerten sich Kolpingvereine um die materiellen und seelischen Sorgen und Nöte von Arbeitern und von staatlichen Behörden eingesetzte Kommissionen machten den Regierungen Vorschläge, wie diese materiellen und gesundheitlichen Probleme reduziert werden könnten. Alle diese konkreten Bemühungen um die allmähliche Verbesserung der Lage der Arbeiter interessierten Marx bei seinem haßerfüllten Kampf gegen das kapitalistische System überhaupt nicht und er hielt es nicht für wert, darauf näher einzugehen und ihre Wirkungen zu analysieren. Er wollte nur zeigen, daß die Unternehmer ihre Arbeitnehmer ausbeuteten und unterdrückten, dem Hungertod und der Selbstvernichtung preisgaben und außerdem eine industrielle Reservearmee schufen: „Die industrielle Reservearmee drückt während der Perioden der Stagnation und mittleren Prosperität auf die aktive Arbeiterarmee und hält ihre Ansprüche während der Periode der Überproduktion und des Paroxysmus im Zaum.“91 Natürlich führte in Zeiten einer Absatzflaute bzw. einer Konjunkturkrise die steigende Arbeitslosigkeit dazu, daß Arbeitslöhne zurückgingen und der Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt zunahm. Selbst im 21. Jahrhundert mit den umfassenden staatlichen Steuerungs- und Umverteilungsinstrumenten kann Arbeitslosigkeit nicht vollständig verhindert werden, doch im 19. Jahrhundert gab es weder Arbeitslosenversicherungen, Sozialhilfe noch Mindestlohn. Die Europäische Union kann auch heute nicht behaupten, daß eine Jugendarbeitslosigkeit, die mehr als ein Drittel der betroffenen Arbeitssuchenden zwischen 18 und 25 Jahren betrifft, keine Blamage für die verantwortlichen Politiker wie die Unternehmer bzw. Manager sei. Und von Marx wurde gar nicht berücksichtigt, daß in der maschinenlosen ‚Hausindustrie‘, in der das variable statt des stehenden Kapitals vorherrschte, eine Reservearmee gang und gäbe war, „wie es die Heimarbeitsenqueten überall beweisen“.92 K. Marx: Das Kapital, 1. Bd. (wie Anm. 35), S. 668. Eberhard Gothein: Die Reservearmee des Kapitals, Heidelberg 1913, S. 6. Gothein schrieb über die damals gerade in Deutschland sehr verbreitete Heimarbeit: „Ja die Unkontrollierbarkeit und Unübersichtlichkeit der vorhandenen oder möglicherweise herbeizu91

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Die Krisenanfälligkeit kapitalistischer Wirtschaften, ja der fast regelmäßige Wechsel von Konjunktur und Krise erzeugte bei vielen Ökonomen die (falsche) Vorstellung, daß dieses System an unausgenutzten Produktivkräften scheitern müsse: „Der Kapitalismus bildet eine ebenso vorübergehende Phase der Entwickelung der menschlichen Wirtschaft wie jene Wirtschaftsformen, die dem Kapitalismus vorangegangen sind, jetzt aber schon der Geschichte angehören.“93 Das Fabriksystem großer Unternehmen war trotz aller seiner Mängel gegenüber der sogenannten Hausindustrie eine Oase der Verrechtlichung, wie folgende Schilderung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts verdeutlicht: „Das Trucksystem [d. h. die Arbeiter erhielten keine volle Entlohnung, sondern Lohnersatzleistungen wie Naturalien etc., H.K.] in seiner schmutzigsten Form, die Auslohnung mit leichtem Gold oder mit Agioabzügen, mit langen Papieren oder hoher Discontberechnung u.s.w. wird in großen Fabrik-Etablissements seltener wie in kleinen, und in allen Ländern Europas in der Fabrikindustrie ungleich seltener gefunden als in der Hausindustrie.“94 Was Marx nachweisen und allen Arbeitern eintrichtern wollte, war ein sogenanntes Akkumulationsgesetz des Kapitals, das „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“95 sei, d. h. die Mehrwert produzierenden Arbeiter erzeugen durch die Erweiterung des Produktionsumfangs eine Kapitalanhäufung in den Händen der Kapitalisten, die die Arbeiter durch fortschreitende Produktionstechnik immer weiter ausbeuten, um eine höhere Mehrwertrate zu erzielen. Ein längeres Zitat soll zeigen, warum Marx der sogenannten Ausbeuterklasse Luxus, Schmarotzertum, Anhäufung großer Reichtümer und völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem Lumpenproletariat – Arbeitsunfähige, Verkommene, Verlumpte, Waisen- und Pauperkinder – nachweisen möchte, um sein ‚Gesetz‘ zu verifizieren: „Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt, wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je größer aber die Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Übervölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual ziehenden Arbeitskräfte ist ihr eigentlicher Krebsschaden, der sich auch mit Tarifen und Mindeststücklöhnen, so wünschenswert diese sonst sind, nicht heben läßt.“ (S. 6 f.) 93 Michael von Tugan-Baranowsky: Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England, Jena 1901, S. 425. 94 Beiträge zur Gewerbegeographie und Gewerbestatistik des Königreichs Sachsen, in: Zeitschrift des Statistischen Bureaus des Königlich Sächsischen Ministeriums des Innern, II. Jg., 1856, S. 42. Bereits in einer Studie über Kinderarbeit vom Dezember 1840 heißt es: „Wo nicht eine wahrhafte Erleichterung für die Arbeiter daraus hervorgeht, ist das Auslohnen mit Waaren jedoch schwerlich zu wünschen.“ (M. Carnot: Bericht an den Herrn Minister des Ackerbaues und des Handels, in: Mittheilungen des Industrie-Vereins für das Königreich Sachsen. Lief. I, 1841, S. 19, Anm. *). 95 K. Marx: Das Kapital, 1. Bd. (wie Anm. 35), S. 788.

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steht. Je größer endlich die Lazarusschicht der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation.“96 Dieses ‚Gesetz‘ zeichnet sich eher durch eine ‚absolute‘ Fehleinschätzung aus und erklärt weder theoretisch noch praktisch antagonistische Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit. Denn so richtig es war und ist, daß in Wirtschaftskrisen die Arbeitslosigkeit ansteigt und die unbeschäftigten Menschen im 19. Jahrhundert Armut erleiden mußten, so falsch war und ist es, daß eine wachsende Wirtschaft, eine Vermehrung vom Umsatz und Produktion die industrielle Reservearmee vergrößerte. Wir besitzen zwar für das 19. Jahrhundert keine statistischen Erhebungen über Arbeitslosenzahlen in den einzelnen Industriebranchen, doch Schätzungen weisen eindeutig darauf hin, daß der Konjunkturverlauf dazu geführt hat, daß Arbeiterüberschuß ebenso wie Arbeitermangel aufgetreten sind. In allen Industriestaaten des 19. und 20. Jahrhunderts hat die umfängliche Ausdehnung der Produktion und des Handels, von wissenschaftlichen und technischen Neuerungen und Erfindungen, unter normalen Bedingungen, d. h. nicht in Kriegen, dazu geführt, daß die Arbeitslosigkeit rückgängig war und die beschäftigten Arbeiter neben den florierenden Unternehmern ebenfalls ein Mehrstück des Kapitalkuchens erhielten und nicht „das Invalidenhaus der aktiven Arbeiterarmee“97 bildeten.

D. Die unleugbaren Mängel des Kapitalismus Es kann hier nicht darum gehen, die einzelnen Mißstände des kapitalistischen Systems darzustellen, sondern an einem Beispiel soll verdeutlicht werden, vor welchen Herausforderungen staatliche wie nichtstaatliche Instanzen standen, um wenigstens einen gravierenden gesundheitlichen Mangel in der Arbeiterbevölkerung zu bekämpfen bzw. zu beseitigen. Die Mängel des Kapitalismus waren nicht nur zahlreich, sondern sie forderten auch Staaten wie Vereine dazu heraus, Mittel zu ihrem Verschwinden zu ersinnen und auszuprobieren. Im Todesjahr von Marx, am 29. März 1883, wurde in Kassel ein Deutscher Verein zur Bekämpfung des Missbrauchs geistiger Getränke gegründet, weil man in den vorhergehenden Jahrzehnten festgestellt hatte, daß die verschiedentlichen Appelle für eine gesündere Ernährung bei den Industriearbeitern, die ja ohnehin keine große Auswahl hatten, auf wenig Resonanz gestoßen waren. Etwa ein Jahrzehnt später argumentierte der marxistische Sozialdemokrat Emanuel Wurm gegen die Ansicht Leopold von Rankes, daß die übliche Kost bayerischer Landbewohner mit Kartoffeln, Mehlspeisen, Fett und Sauerkraut reichlich und ausreichend sei: „Abgesehen davon, daß Ebd., S. 673 f. (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 673. Es ist deshalb eine Fehleinschätzung, wenn Ulrike Herrmann: Der Sieg des Kapitals (2013). 2. Aufl. München/Berlin 2015, S. 17, glaubt, daß Marx und Engels das kapitalistische System und seine Wachstumsdynamik nicht abgelehnt haben: „Sie begrüßten das entfesselte Wachstum.“ Sie ‚begrüßten‘ höchstens die durch den Kapitalismus entfesselten Arbeitermassen, die ihn in einer Revolution zerstören sollten. 96

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diese Kost durchaus nicht rationell ist, ist sie auch nicht billig, und infolgedessen verschwindet sie auch in Bayern immer mehr und mehr. Mit der Industrie zieht die Kartoffel und der Schnaps in die bayerischen Berge und ‚verpreußt‘ sie mehr als alle kannegießernden Partikularisten ahnen. Der bayerische Arbeiter ist ebenso schlecht genährt wie der norddeutsche, und seine ‚herkulische Muskelkraft‘ schwindet von Jahr zu Jahr.“98 Diese Ansicht war zwar übertrieben, doch mit einer weiten Verbreitung von Kartoffeln verbreiteten sich auch die kommerziellen und privaten Brennereien von Kartoffelschnaps, der leicht hergestellt werden konnte. Man mußte viele Menschen erst einmal davon überzeugen, daß der verbreiteten These von der nährenden Wirkung des Alkohols, der als „ein wesentlicher Beitrag zur Beschaffung lebendiger Kräfte im Organismus“99 angesehen wurde, begründete Zweifel entgegengebracht werden müssen. Der österreichische Arzt Michael Puff (um 1400 – 1473), Dekan der medizinischen Fakultät der Universität Wien, soll Mitte des 15. Jahrhunderts behauptet haben: „Wer alle morgen trinckt gepranten win ain halbe löfel vol, der wirt nymer krank.“ Im 19. Jahrhundert konnte man solche naiven Ansichten unter Medizinern nicht mehr vertreten, weil die Medizin und die ‚Ernährungswissenschaft‘ erhebliche Fortschritte vorweisen konnten, sondern mußte vor den gesundheitsschädlichen Auswirkungen von übermäßigen Alkoholverzehr warnen. So schrieb der preußische Sanitätsrat Abraham A. Baer: „Der Alkohol ist kein Nahrungsmittel in dem Sinne, dass er Ausdauer zur Arbeit giebt, Kraft und Gesundheit erhalten kann, er ist vielmehr das Gegentheil von allem diesem, denn er zerstört den Körper und vernichtet seine Gesundheit.“100 Der Erlanger Physiologe Isidor Rosenthal z. B. kam in seiner Schrift Bier und Branntwein zu dem Ergebnis, daß mäßiger Alkoholgenuß bei einer wirklich nahrhaften Kost nützlich und notwendig sein kann, aber er warnte auch vor übermäßigem Alkoholkonsum, weil dann die günstige Wirkung ausbleibe: „Der gewohnheitsmässige Genuss von Alkohol ist von den schlimmsten Folgen für die Gesundheit begleitet, ganz abgesehen von dem moralischen und wirtschaftlichen Schaden, den er nach sich zieht.“101 Unter Arbeitern war der ‚Genuß‘ von alkoholischen Getränken weit verbreitet, aber das eigentliche Problem bestand nicht in dem gelegentlichen Konsum von Bier und Wein, sondern in der Einnahme von hochprozentigem ‚Fusel‘, d. h. von Schnaps, der wegen seines üblicherweise hohen Marktpreises selbst gebrannt wurde und deshalb oft gesundheitsschädlich war. Untersuchungen hatten den „Enfluß des 98 E. Wurm: Die Lebenshaltung der deutschen Arbeiter (wie Anm. 63), S. 64 (Hervorhebungen im Original). Dort heißt es später nicht ganz zutreffend: „Schlechte Löhne bedingen schlechte Ernährung, und als Folge des letzteren kommt die Branntweinpest und die Volksverdummung.“ (S. 79). 99 Siegfried Wolffberg: Ueber den Nährwerth des Alkohols, Bonn 1883, S. 8 (Hervorhebung im Original). 100 Abraham Adolf Baer: Der Alcoholismus, Berlin 1878, S. 11. 101 Isidor Rosenthal: Bier und Branntwein und ihre Bedeutung für die Volksgesundheit, Berlin 1881, S. 50 (Im Original fett gedruckt).

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chronischen Alkoholismus auf die Descendenz“102 von Kindern bestätigt, d. h. vor allem Idiotie, Imbezillität und Epilepsie sowie den Umstand, daß Kinder von Trinkern wieder Trinker werden. Man mußte allerdings auch auf abschreckende Beispiele hinweisen, um den Arbeitern, die sich ja noch längst keine gesunde Ernährung leisten konnten, drastisch vor Augen zu führen, welche verheerenden Folgen ein andauernder Alkohol- und vor allem Schnapskonsum auf ihre ohnehin geringe Lebenserwartung hatte und haben mußte. Rosenthal schilderte ungeschminkt solche Wirkungen von übermäßigem Branntweinkonsum, der gewöhnlich um 40 Prozent Alkohol enthielt, wohl vor allem, um durch eine drastische Schilderung abzuschrecken: „Die Leber ist anfangs vergrössert, sehr blutreich, wird dann fettig, zuletzt bindegewebig entartet (cirrhotisch). Dadurch entstehen Störungen im Pfortaderkreislauf, Blutungen und Bauchwassersucht (Ascites), Kehlkopf, Luftröhre, Lungen sind oft katarrhalisch, zu Entzündungen sehr geneigt, die Lungenentzündungen sind bei Trinkern besonders gefährlich.“103 Es sind hier einige Beispiele von Alkoholmißbrauch von Arbeitern kurz angeführt worden, weil im 19. Jahrhundert in ganz Europa nicht nur private und öffentliche Branntweinbrennereien auf der Basis von Kartoffeln und Getreide weit verbreitet waren, sondern weil es ebenfalls massive Kampagnen gegen gesundheitsschädliche Ernährung gab und amerikanische wie englische Mäßigungsgesellschaften regen Zulauf hatten. Emanuel Wurm beschwor sogar die Hausfrauen zu erkennen, wie sie vom kapitalistischen System betrogen würden, weswegen sie am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung mitwirken sollten: „Mögen besonders die Frauen, welche meinen, daß die Politik in ihrer Küche nichts zu thun habe, ersehen, wie die Wohlfahrt der Nation von der Ernährung abhängt, wie Gesundheit und Leben fast ausschließlich bedingt sind durch das, was in der Küche bereitet wird, und welch hohen Tribut an indirekten Steuern und Zöllen die ohnehin Mangel leidenden Arbeiter einem Staatswesen darbringen müssen, das für ihre berechtigten Ansprüche ein Jahrzehnt lang nichts Anderes kannte als die Peitsche der Ausnahmegesetze, und jetzt mit den breiten Bettelsuppen oberflächlichster Sozialreformen den knurrenden Magen des Volkes zu beschwichtigen hofft.“104 Der Marxismus hatte sich also auf verschiedene Gebiete ausgebreitet und es ging wie bei Marx nicht nur um eine kritische Analyse des entstehenden Industriesystems und seiner ökonomischen Folgen in europäischen Staaten, sondern um die Suche nach wirkungsvollen Strategien und Mitteln, wie man dieses System erst herabwürdigen und dann endgültig beseitigen könnte. Um dieses moralische Unwerturteil gegenüber der Kapitalistenklasse zu untermauern, bediente sich Marx schaudererregender Verdrehungen, die mit der Arbeits- und Lebenswelt der Industriearbeiter im 19. Jahrhundert nichts zu tun hatten, während der Alkoholmißbrauch ein gravierendes Problem war: „Den gesunden Schlaf zur Sammlung, Erneurung und Erfrischung Zeitschrift für Socialwissenschaft, X. Jg., 1907, S. 250 (Hervorhebung im Original). I. Rosenthal: Bier und Branntwein (wie Anm. 101), S. 27 f. 104 E. Wurm: Die Lebenshaltung der deutschen Arbeiter (wie Anm. 63), S. 134 (Hervorhebungen im Original). 102 103

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der Lebenskraft reduziert es [das Kapital, H.K.] auf soviel Stunden Erstarrung, als die Wiederbelebung eines absolut erschöpften Organismus unentbehrlich macht. Statt daß die normale Erhaltung der Arbeitskraft hier die Schranke des Arbeitstags, bestimmt umgekehrt die größte täglich mögliche Verausgabung der Arbeitskraft, wie krankhaft gewaltsam und peinlich auch immer, die Schranke für die Rastzeit des Arbeiters. Das Kapital fragt nicht nach der Lebensdauer der Arbeitskraft. Was es interessiert, ist einzig und allein das Maximum von Arbeitskraft, das in einem Arbeitstag flüssig gemacht werden kann.“105 Diese schaurige Schilderung der industriellen Arbeitsverhältnisse soll in uns einen empörenden Schauer der Entrüstung hervorrufen, aber sie ist schon deshalb unrealistisch, weil die Wenigsten längerfristig ein ‚Maximum von Arbeitskraft‘ aufgebracht haben könnten, ohne durch Krankheit auszufallen. Denn die körperlichen Anstrengungen der meisten damaligen Fabrikarbeiten sind gar nicht mehr zu vergleichen mit unseren heutigen maschinengesteuerten Fabriktätigkeiten. Die Reduzierung von Maschinenarbeit in engen, schlechtbelüfteten Räumen mit Transmissionsrädern, die eine ungeheuren Lärm verursachten, bedeutete für Arbeiter eine Arbeitserleichterung, die wir uns heute kaum noch vorstellen können. Vielleicht kann der Vergleich vom Wäschewaschen in einem Bottich und mit einer vollautomatischen Waschmaschine etwas verdeutlichen, welche unterschiedlichen Anforderungen an die Menschen im 19. Jahrhundert gestellt wurden. Wenn die damaligen Unternehmer so gehandelt hätten, wie Marx es ihnen unterstellte, dann wären sie sehr bald von der harten Konkurrenz verdrängt worden, denn ohne eine motivierte Arbeiterschaft, die hochwertige Produkte herstellte, hätten keine Gewinne erwirtschaftet werden können. Zweifellos gab es Unternehmer, wie etwa den sächsischen Textilfabrikanten Heinrich Bodemer, die zwar die Bedürftigkeit vieler Industriearbeiter anerkannten und Maßnahmen zur Verbesserung von deren materiellen Lage durchführten, aber vielen von ihnen wenig Chancen einräumten, diesen elenden Zustand zu überwinden; aber sie waren wahrscheinlich in der Minderheit. Den Hilfsvereinen unterstellte Bodemer, daß sie bei Arbeitern Hoffnungen weckten, die niemals erfüllt werden könnten, weshalb gewaltiger Unmut über enttäuschte Erwartungen folgten, denn „der faule, der lüderliche und bornirte Mensch wird es freilich niemals weder zu Ersparnissen noch zu Besitzthum bringen können“.106 Dies ist sozusagen eine Umkehrung der marxistischen Anschuldigungen gegenüber dem kapitalistischen Ausbeutungssystem, indem den Arbeitern eine Mitschuld an ihrer traurigen Lage aufgebürdet wird, weil sie faul, liederlich und borniert seien. Doch eine umfangreiche Erhebung von Haushaltungsbudgets durch viele deutsche statistische Ämter Anfang des 20. Jahrhunderts ergab, daß 105 K. Marx: Das Kapital, 1. Bd. (wie Anm. 35), S. 280 f. „Die kapitalistische Produktion … produziert die vorzeitige Erschöpfung und Abtötung der Arbeitskraft selbst.“ (S. 281). 106 H. Bodemer: Über die Zustände (wie Anm. 79), S. 13. Die in geschlossenen Fabriken beschäftigten Arbeiter seien keineswegs in einem so mangelhaften, elenden und hilflosen Zustand, wie dies „von den Verkündern eines sinnlosen Communismus in’s Blaue hinein angenommen und behauptet wird“ (S. 16).

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auch Arbeiterfamilien seit langem sparen konnten, wenn auch in geringerem Maße als andere Berufsgruppen: „Für Ersparnisse weisen die Privatangestellten mit 71,20 M oder 3,0 % [ihres jährlichen Einkommens, H.K.] den größten, die Arbeiter ohne nähere Bezeichnung mit 0,76 % den kleinsten Betrag auf.“107 Von der Diergardt’schen Fabrik für Webwaren in Viersen bei Gladbach wird berichtet, daß schon Mitte der 1860er Jahre Arbeiter so viel erspart hatten, daß sie sich ein eigenes Haus kaufen konnten, „darunter sind manche im Werthe von 2.000 Thaler und darüber“.108 Nicht nur den Arbeitsprozeß, sondern auch die Arbeitsorganisation unterzog Marx einer rigorosen Kritik, denn die meisten Arbeiter verdingten sich in Fabriken und die Heimarbeit war zwar in einigen Gewerbesparten häufiger anzutreffen, doch sie ähnelte mehr handwerklichen Tätigkeiten als maschineller Fabrikarbeit. Der unternehmerische Despotismus verwirklichte sich nach Marx, der gerne militärische und gewaltsame Assoziationen benutzte, auch im gesellschaftlichen Arbeitsablauf, obwohl damit nur schwer erklärt werden kann, wie es dann zu diesen enormen Produktionssteigerungen in der Industrie kommen konnte: „Wie eine Armee militärischer, bedarf eine unter dem Kommando desselben Kapitals zusammenwirkende Arbeitermasse industrieller Oberoffiziere (Dirigenten, managers) und Unteroffiziere (Arbeitssaufseher, foremen, overlookers, contre-maîtres), die während des Arbeitsprozesses im Namen des Kapitals kommandieren.“109 Nun ist es ja selbst während meiner Lehrlingsausbildung als Maschinenschlosser von 1954 bis 1957 wirklich vorgekommen, daß ein militärischer Ton von Meistern oder Lehrgesellen gegenüber den Lehrlingen üblich war, aber sie haben nicht im ‚Namen des Kapitals‘ kommandiert, sondern viel eher deswegen, weil ihnen eine souveräne Autorität fehlte, die sie mit dem Kommandoton überspielen wollten. Eine kapitalistische Arbeiterarmee, die vielleicht im gleichen Stechschritt Produkte fabriziert, ist so absurd wie die Vorstellung, daß in einer Munitionsfabrik die Arbeitsaufseher ihre Untergebenen in die Luft sprengen, damit sie mehr produzieren. Marxisten können aufgrund der dialektischen Methode solche Verbesserungen leicht hinweginterpretieren, indem sie den reformwilligen Staat als Handlanger 107 Erhebung von Wirtschaftsrechnungen minderbemittelter Familien im Deutschen Reiche (1909). Nachdruck Berlin/Bonn 1981, S. 57 * (Hervorhebung im Original). Abgesehen davon, daß die Ersparnisse meistens nicht genau angegeben wurden, kam der Umstand hinzu, daß Arbeiterfamilien eher Geld für Notfälle zurücklegten als es auf das Sparbuch einzuzahlen. Das Statistische Reichsamt führte dies darauf zurück, „daß das gleiche Einkommen, das für den Arbeiter nach seinen ganzen Gewohnheiten und Ansprüchen, sowie im Vergleiche zu seinen Berufsgenossen sich als ein hohes darstellt, vom mittleren Beamten oder Lehrer als ein niedriges empfunden wird“ (S. 65 *). 108 Karl Brämer: Des Freiherrn von Diergardt Maßregeln zu Förderung der arbeitenden Klassen, in: Der Arbeiterfreund. Zeitschrift des Centralvereins in Preußen für das Wohl der arbeitenden Klassen, 5. Jg., 1867, S. 186. 109 K. Marx: Das Kapital, 1. Bd. (wie Anm. 35), S. 351. Oder: „Der Oberbefehl in der Industrie wird Attribut des Kapitals, wie zur Feudalzeit der Oberbefehl im Krieg und Gericht Attribut des Grundeigentums war.“ (S. 352).

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kapitalistischer Interessen darstellen, durch die die wahren ausbeuterischen Formen nur verschleiert werden sollen. Was sich auch immer im Industriesystem zugunsten der Arbeiterklasse geändert hat, die Dialektik ermöglicht eine raffinierte Uminterpretation, denn wenn etwa die Arbeiter gesünder und länger leben oder sich ihre Arbeitszeit enorm verkürzt hat und sie mehr Freizeit haben, so kann diese größere Widerstandfähigkeit des Proletariats zu einer noch größeren Ausbeutung beitragen und die Herrschaft des Kapitals verfestigen. Für Marxisten gilt deshalb unumstößlich: „Der Kapitalismus ist das Böse schlechthin, der Sozialismus die Verheißung des Guten.“110 Ideelle Gesamtkapitalisten (F. Engels) wollen die Arbeiter nur entrechten und erniedrigen, gleichgültig, ob in allen industrialisierenden Staaten in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts Gesetze zur allmählichen Eindämmung der fabrikatorischen Auswüchse eines liberalkapitalistischen Systems erlassen wurden, d. h. die Arbeitszeit wurde reduziert, die Kinderarbeit eingeschränkt, die Löhne erhöht und Fabrikinspektoren kontrollierten die Einhaltung von Sicherheitsvorschriften. Um nur ein einziges Beispiel von Lohnerhöhungen anzuführen. Die Arbeiter von Krupp in Essen hatten 1871 einen durchschnittlichen Tageslohn von 3,03 Mark, der sich bis 1906 auf 5,35 Mark erhöhte.111 Es gab immer noch viel zu viele Tote durch Maschinenunfälle, die den betroffenen Familien nicht nur den Vater und Ernährer raubten, sondern dem Betrieb oft auch unersetzbare Mitarbeiter. Im Deutschen Kaiserreich, das durch die Zusammenarbeit von Technik und Wissenschaft England industriell überholte, wurde in den 1880er Jahren ein Sozialversicherungssystem eingeführt, das durch Krankenversicherung (1883), Unfallversicherung (1884) und Alters- sowie Invalidenversicherung (1889) wenigstens die größten Lebensrisiken abmilderte.112 Damit war eine Altersarmut zwar nicht ausgeschlossen, aber es war ein staatlicher Anfang gemacht, die Risiken im Arbeitsalltag zu vermindern, das in allen Industriestaaten nach und nach nachgeahmt wurde. Es erscheint mir deshalb eine höchst fragwürdige Auffassung zu sein, Marx habe „den Alltag des Menschen für die Wissenschaft entdeckt“,113 denn englische und französische Wissenschaftler, die den menschlichen Alltag untersuchten, gab es viele seit dem industrieschwangeren 18. Jahrhundert. Bereits 1866 hatte der bedeutende Ökonom und Statistiker Ernst Engel (1821 – 1896) eine Versicherung vorgeschlagen, die häufige Ausfälle von Arbeitsmöglichkeiten durch Betriebsstörungen durch Zuschüsse von den Ar110 Kurt Sontheimer: Marx als Allheilmittel. Über seine Anziehungskraft auf die Neue Linke, in: Die Zeit, Nr. 16. Freitag, den 13. April 1973. 111 Vgl. Rene Kuczynski: Die Entwicklung der gewerblichen Löhne seit der Begründung des Deutschen Reiches, Berlin 1909, S. 89. Kuczynski präsentierte eine Tabelle mit jährlichen Angaben der Stundenlöhne von 1871 bis 1906. In einer Münchener Lokomotivfabrik stieg der durchschnittliche Jahresverdienst der Arbeiter sogar von 740 Mark (1871) auf 1.252 Mark (1906). (Vgl. ebd., S. 92). 112 Vgl. H. Kiesewetter: Industrielle Revolution in Deutschland (wie Anm. 54), S. 92 ff. 113 So Edith Eucken-Erdsiek: Die Entdeckung des Alltäglichen. Karl Marx oder der Irrtum, das Wesen des Menschen sei Produktion, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 35. Samstag, den 10. Februar 1979.

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beitgebern ausgleichen könnte: „Beliefe sich jene stille Zeit auf 2 Monate im Jahre (man rechnet nämlich in vielen Geschäftszweigen das Jahr nur zu 10 Arbeitsmonaten), so dürfte die Versicherung eines wöchentlichen Krisengeldes von 2 Thlrn. [Talern] ungefähr 1 Thlr. monatlich oder mit 12 Thlr. jährlich zu erzielen sein.“114 Nur eine Dämonisierung der Maschinenproduktion ermöglichte es Marx, eine negative Maschinenmystik zu konstruieren, von der man sich heute noch abgestoßen fühlen kann. Maschinenarbeit erleichterte ja die Handarbeit in vielen Produktionsbereichen wesentlich, ganz abgesehen davon, daß in Klein- und Handwerksbetrieben die wegen Explosionsgefahr gefürchtete Dampfmaschine ersetzt werden konnte. Eine Kostprobe dieser Dämonisierung aus dem Kapital: „Als gegliedertes System von Arbeitsmaschinen, die ihre Bewegung nur vermittelst der Transmissionsmaschinerie von einem zentralen Automaten empfangen, besitzt der Maschinenbetrieb seine entwickeltste Gestalt. An die Stelle der einzelnen Maschine tritt hier ein mechanisches Ungeheuer, dessen Leib ganze Fabrikgebäude füllt, und dessen dämonische Kraft, erst versteckt durch die fast feierlich gemeßne Bewegung seiner Riesenglieder, im fieberhaft tollen Wirbeltanz seiner zahllosen eigentlichen Arbeitsorgane ausbricht.“115 Wer einmal ein solches ohrenbetäubendes Transmissionssystem mit seinen ineinander verschlungenen Lederriemen, die über unzählige Räder laufen, erlebt hat, wird es vielleicht nicht schön finden, aber abschreckend oder furchterregend ist es auch nicht. Marx dienten diese unheimlichen Schilderungen nur zu dem Zweck, das Industriesystem in Verruf zu bringen und die Kapitalisten als sklavenhalterische Ausbeuter zu denunzieren. Viele deutsche Unternehmer in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts errichteten jedoch trotz eines autoritären und menschenunwürdigen ‚Herr im Hause‘-Standpunktes Arbeiter- oder Betriebskrankenkassen, bauten Arbeiterwohnungen, Kantinen und Waschhäuser oder zweigten von ihren Gewinnen bestimmte Anteile für Unterstützungen von in Not geratene Mitarbeitern ab. In ihrem gönnerhaften Gehabe veranstalteten sie Betriebsfeste, ehrten lange beschäftigte Mitarbeiter oder unternahmen mit den Belegschaften Ausflüge, um sie noch fester an den Betrieb zu binden, ganz abgesehen davon, daß sie private Vereine und Organisationen finanziell unterstützten. Diese unterschiedlichen Erleichterungen in der harten Arbeitsfron waren weit davon entfernt, den Beschäftigten einen halbwegs angemessenen Lebensstandard zu sichern, doch sie rechtfertigen keineswegs wahllos Verdammungsurteile des kapitalistischen Systems. Dessen menschliche Fortschritte können erst erkannt werden, wenn man sie mit dem unglaublichen Elend der vorindustriellen Zeit vergleicht, wo bei regelmäßig auftretenden Erntekrisen Tausende verhungerten oder durch Seuchen dahingerafft wurden. Man weiß deshalb nicht, worüber man sich mehr wundern soll, über die ideologische Realitätsblindheit von Marx und Engels oder über die ihrer antikapitalistischen Heerschar von Epigonen, die bis heute ihren gutgläubigen Anhängern weißmachen wollen, daß Marx auf der Seite der Arbeiter gestanden habe. Gegenüber dogmatischer Blindheit kann allerdings weder ein gu114 115

E. Engel: Der Preis der Arbeit (wie Anm. 74), S. 43. K. Marx: Das Kapital, 1. Bd. (wie Anm. 35), S. 402.

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tes Argument noch eine widerspenstige Realität etwas ausrichten, wie wir dies bei allen kommunistischen und marxistischen Herrschaftssystemen erlebt haben, die seit 1989 erst durch eine friedliche Revolution beseitigt werden konnten. Das drängendste Problem des Industriekapitalismus im 19. Jahrhundert war die Soziale Frage oder Arbeiterfrage, weil sich Tausende von Arbeitern in Fabriken zusammendrängten und die bedrängte Wohnsituation in großstädtischen Arbeitersiedlungen zu hygienisch und moralisch unhaltbaren Zuständen führte. Die Entlohnung war zu gering, um menschenwürdig leben zu können. Um einigermaßen die Ausgaben finanzieren zu können, wurden Zimmer in Mietshäusern stundenweise an Schlafbedürftige vermietet, was nicht selten zu sexuellen Übergriffen führte, die ein normales Zusammenleben völlig zerrüttete. Eine akzeptable Lösung dieses Problems, d. h. der materiellen Besserstellung der überwiegend schlechtbezahlten Arbeiter, war neben der hohen Kindersterblichkeit, dem Wohnungselend und der ungesunden Ernährung die größte soziale Herausforderung industrialisierender Staaten während vieler Jahrzehnte. Eine Möglichkeit, in der rentenlosen Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben nicht in vollständige Armut abzusinken, war der Spargedanke, der in diesem Jahrhundert von breiten Bevölkerungsschichten aufgegriffen und umgesetzt wurde, womit wenigstens ein geringes Kapital im Alter zur Verfügung stand.116 In fast ganz Europa, d. h. in jeder größeren und kleineren Stadt einer Industrieregion, wurden Sparkassen errichtet und Schulkinder mit Pfennigsparen an diese Form der Kapitalbildung herangeführt. Sparen bedeutet jedoch ebenfalls eine Vorstufe zur Bildung von Privateigentum, wodurch Arbeiter sich aus dem Teufelskreis eines Hungerzyklus befreien konnten, auch wenn das Ersparte selten größere Anschaffungen ermöglichte. Die Attraktivität des Sparens war so groß – viele Sparkassen erlaubten nur Minderbemittelten, ihre Spargroschen zinsgünstig bei ihnen anzulegen oder setzten einen Höchstbetrag der Spareinlagen fest, um Wohlhabende abzuschrecken –, daß sich der Spargedanke in Windeseile über ganz Europa und nach Übersee ausbreitete.117 Diese Sparneigung von Arbeitern wurde von sozialistischen Schriftstellern im 19. Jahrhundert nicht generell geleugnet, auch wenn sie in der Mitte des Jahrhunderts nur in außergewöhnlichen Fällen für möglich gehalten wurde. „Männer, welche lebhaft von einer Idee ergriffen sind, sind oft eines unglaublichen Grades von Entbehrungen und Anstrengungen fähig, für welche sie durch die Hoffnung auf das endliche Ziel ihrer Bemühungen belohnt werden.“118 Marx kümmerte sich um solche angeblich unbedeutende Anlageformen überhaupt nicht, sondern präsentierte im Kapital seine dialektische Sicht einer Vernichtung von Privateigentum: „Die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten 116 Vgl. Hubert Kiesewetter: Der historische Beitrag der Sparkassen zur Regionalentwicklung, in: Wenn’s um die Region geht… Sparkasse, Stuttgart 2009, S. 48 – 83. 117 Vgl. Statistique Internationale des Caisses d‘Épargne, Rom 1876. 118 F. A. Lange: Die Arbeiterfrage (wie Anm. 43), S. 85.

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Privateigentums [d. h. der enteigneten Kapitalisten, H.K.]. Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel.“119 Die philosophischen Höhenflüge von Negation zu Negation brauchen sich um die erbärmlichen Niederungen eines entsagungsvollen Arbeiterlebens, das geprägt ist von täglichen Überlebensstrategien und der kleinen Freude über winzige materielle Verbesserungen, nicht zu kümmern, denn es geht ja um den weltgeschichtlichen Nachweis der zwangsläufigen Vernichtung des Kapitalismus. Vom wissenschaftlichen Standpunkt sind diese dialektischen Konstruktionen jedoch erklärungsarm, denn sie unterscheiden nicht deutlich genug zwischen zufälligen Entwicklungen, unumstößlichen Gesetzen und wahrscheinlichen Tendenzen. Im 9. Kapitel des 3. Bandes vom Kapital über Profitrate und Produktionspreise bediente sich Marx einer solchen unklaren Ausdrucksweise: „Es ist überhaupt bei der ganzen kapitalistischen Produktion immer nur in einer sehr verwickelten und annähernden Weise, als nie festzustellender Durchschnitt ewiger Schwankungen, daß sich das allgemeine Gesetz als die beherrschende Tendenz durchsetzt.“120 Hauptsache war, das kapitalistische System endgültig zu vernichten, wozu alle Mittel recht waren, auch wenn sie bei den betroffenen Menschen das existenzielle Elend ungeheuer vergrößerten. Das größte Problem bzw. der gravierendste Mangel des Industriekapitalismus im 19. Jahrhundert war die Entlohnung oder um genauer zu sein, der völlige Ausfall von Lohn- oder Ersatzzahlungen wie Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe während den Perioden der Nichtbeschäftigung. Friedrich Albert Lange formulierte 1865 drastisch, was passierte, wenn die Löhne auf ein Minimum herabgedrückt wurden oder ganz entfielen: „Das Mittel aber, durch welches der Arbeiter dann einen so unüberwindbaren Widerstand leistet, ist sehr einfach: er stirbt nämlich.“121 Zwar war die Entlohnung meistens unzureichend für ein auskömmliches Leben, doch bei Arbeitslosigkeit waren die Betroffenen auf Armenhilfe oder auf Betteln angewiesen. Anders als in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, für die wir in vorhergehenden Kapiteln schon einige Angaben über Löhne und die Lebenshaltung von Arbeiterfamilien wiedergegeben haben, drang diese Frage seit den 1870er Jahren stärker ins Bewußtsein staatlicher Stellen und in den statistischen Fokus der ökonomischen Wissenschaft. Die vorher in keinem Industriestaat durchgeführte Bismarcksche Sozialgesetzgebung seit 1883, so unzureichend sie auch war, ist dafür ebenso ein anschauliches Beispiel wie der 1872 gegründete Verein für Socialpolitik sozialengagierter Professoren, die zumindest Enqueten über die arbeitende Bevölkerung anregten. Wir können deshalb zwar nicht auf ein repräsentatives bzw. flächendeckendes Material zur Lebenshaltung von Arbeitern zurückgreifen, aber 119 120 121

K. Marx: Das Kapital, 1. Bd. (wie Anm. 35), S. 791. Karl Marx: Das Kapital. 3. Bd., Berlin 1966, S. 171. F. A. Lange: Die Arbeiterfrage (wie Anm. 43), S. 95 (Hervorhebung im Original).

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die vorhandenen Untersuchungen reichen aus, um die negativen Prognosen von Marx und Engels widerlegen zu können. Damit wird auch die Ansicht von Piketty, zumindest für Deutschland, das von Piketty, wahrscheinlich wegen fehlender Sprachkenntnisse, stiefmütterlich und unzureichend behandelt wird, fraglich, daß vor dem Ersten Weltkrieg „keine strukturelle Verringerung der Ungleichheiten“122 stattgefunden habe. Die kursorische Betrachtung einiger Normalbudgets von Arbeiterhaushalten in den 1880er Jahren zeigen allerdings, daß die Entlohnung weiterhin zu gering war, um ein unbeschwertes Leben führen zu können, doch gegenüber den erbärmlichen Löhnen der Frühindustrialisierung hatte sich, auch im Hinblick auf die Kaufkraft, einiges gebessert: „Ein Eisenhobler der sächsischen Maschinenfabrik, 34 Jahre alt, dessen Familie aus vier Köpfen besteht, nämlich nebst ihm aus seiner 60jährigen Mutter, seiner 25jährigen Frau und einem Kinde von 1 Jahre, gibt das jährliche Gesammteinkommen der Familie auf 1.600 Mark an und zwar muß die Frau durch ihre Arbeit hierzu mit beitragen. Die wöchentlichen Ausgaben des Haushaltes für Nahrungsmittel berechnet unser Eisenhobler folgendermaßen: 3 Brode à 68 Pfg., 2 Mark 4 Pfg., 4 Stücken Butter à 75 Pfg., 3 Mark, Fleisch 2 Mark, Kaffee 50 Pfg., Zucker für das Kind 1 Mark, Milch 1 Mark 20 Pfg., Seife 1 Mark, Spiritus 50 Pfg., Sonstiges 1 Mark 50 Pfg., Gemüse 60 Pfg., Frühstück 1 Mark 5 Pfg., somit wöchentlich 14 Mark 39 Pfg., oder jährlich 748 Mark 28 Pfg.“123 Neben diesen Ausgaben für Grundnahrungsmittel kamen noch eine ganze Reihe von anderen Bedürfnissen, die frühere Arbeiterfamilien sich von ihrem Einkommen gar nicht leisten konnten, hinzu. Jährlich verbrauchte diese Eisenhoblerfamilie 208 Mark an Taschengeld, 175 Mark an Miete und Steuern, 100 Mark für Kleidung, 96 Mark 56 Pfennig für Hilfskassen, 52 Mark für Schuhe, 50 Mark für Petroleum, 45 Mark für Kohlen und Holz, 40 Mark für Spareinlagen, je 30 Mark für Wäsche und Bildung, 25 Mark für Arztkosten und Medizin, je 20 Mark für Zigaretten und Bier. Wenn die Angaben korrekt sind, dann betrugen die jährlichen Gesamtausgaben dieser Familie 1.639 Mark und 84 Pfennige, d. h. es ergibt sich ein Jahresdefizit von 39 Mark und 84 Pfennige, was fast genau dem Sparbetrag entspricht. Ein Eisendreher in derselben Fabrik, „24 Jahre alt, dessen Frau 25 Jahre zählt, und ihm verdienen hilft, bringt es hierdurch zu einem Familieneinkommen von 1200 Mark; Kinder sind nicht vorhanden. Nach der Schätzung jenes Mannes betragen die jährlichen Ausgaben des Haushaltes für Nahrung 600 Mark, Kleidung 100 Mark, Heizung und Beleuchtung 40 Mark, Wohnungsmiethe 90 Mark, Vergnügungs- und Bildungsaufwand 80 Mark, Steuern 27 Mark, Hilfscassenbeiträge 15 Mark, Sonstiges 150 Mark, zusammen 1102 Mark.“ Die Richtigkeit der Angaben vorausgesetzt, war dieser Eisendreher in der Lage, jährlich fast 100 Mark zurückThomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert (2014). 5. Aufl. München 2015, S. 22. Carl von Scherzer: Rückblicke auf die wirthschaftlichen Verhältnisse Sachsens im Jahre 1883, Wien 1884, S. 25. Dort auch die beiden nächsten Zitate. Der Ökonom Heinrich Fränkel hatte sächsische Industriezentren bereist und aufgrund eines speziellen Fragebogens diese Daten erhoben. 122 123

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zulegen bzw. zu sparen, weil er noch keine Kinder hatte, die seine Ausgaben erhöht hätten. Ein in dem gleichen Betrieb beschäftigter, verheirateter und kinderloser Handarbeiter verdiente zusammen mit seiner Frau lediglich 880 Mark jährlich, während seine Ausgaben für Nahrung, Kleidung, Wohnung, Heizung, Steuern etc. über 889 Mark lagen, d. h. sich ein jährliches Defizit von 18 Mark und 40 Pfennig ergab. Ein Monteur in der Chemnitzer Werkzeugmaschinenfabrik, „welcher 35 Jahre alt ist und den Lebensunterhalt seiner Familie (Frau von 32, drei Kinder von 9, 7, 5 ½ Jahren) selbst erschwingt, steht sich jährlich auf 1800 Mark. Davon braucht er für Nahrung 1025 Mark, Kleidung 225 Mark, Heizung und Beleuchtung 70 Mark, Wohnungsmiethe 204 Mark, Vergnügungs- und Bildungsaufwand 160 Mark, Steuern 60 Mark, Hilfscassenbeiträge 16 Mark, Sonstiges 20 Mark“. Auch diese Familie konnte trotz drei Kindern bei angenommenen Gesamtausgaben von 1.785 Mark jährlich einen kleinen Betrag zurücklegen bzw. sparen. Ein im Büro dieses Unternehmens beschäftigter 43jähriger Expedient bezifferte sein jährliches Einkommen auf 1.350 Mark, „von demselben muss eine Familie auskommen, zu welcher außer ihm selbst seine 40 Jahre alte Frau und drei Kinder von 17, 10 und 8 Jahren gehören. Die jährlichen Ausgaben des Haushaltes gibt der genannte folgendermaßen an: für Nahrung 900 Mark, Kleidung 90 Mark, Heizung und Beleuchtung 60 Mark, Wohnungsmiethe 138 Mark, Vergnügungs- und Bildungsaufwand 60 Mark, Steuern 46 Mark, Hilfscassenbeiträge 7 Mark“.124 Bei jährlichen Ausgaben von 1.301 Mark verblieben dieser Familie 49 Mark an Rücklagen. Ein 39 Jahre alter Fabrikschlosser in der Sächsischen Webstuhlfabrik mit einer 33jährigen Frau verdiente jährlich 1.000 Mark. „Seine Ausgaben betragen für Nahrung 500 Mark, Kleidung 100 Mark, Heizung und Beleuchtung 40 Mark, Wohnungsmiethe 144 Mark, Vergnügungs- und Bildungsaufwand 80 Mark, Steuern 50 Mark, Hilfscassenbeiträge 34 Mark, zusammen 948 Mark. Die übrigen ca. 50 Mark werden erspart.“ Ein 46jähriger Textilarbeiter, der selbständig in seinem Haus für eine kleine mechanische Weberei arbeitete und zu dessen Familie eine gleichaltrige Frau und drei Kinder im Alter von 20, 16 und 10 Jahren gehörten, soll hier zum Vergleich angeführt werden. „Alle arbeiten mit und so erreicht man durchschnittlich ein jährliches Gesammteinkommen von 1350 Mark. Für die Ausgaben macht dieser Weber folgende Ansätze: Nahrung 750 Mark, Kleidung 100 Mark, Heizung und Beleuchtung 70 Mark, Wohungsmiethe 135 Mark, Vergnügungs- und Bildungsaufwand 60 Mark, Steuern 12 Mark, Hilfscassenbeiträge 15 Mark 50 Pfg., Spareinlagen 50 Mark, zusammen 1190 Mark 50 Pfg.“ Diese wenigen Beispiele von Einnahme- und Ausgabebudgets zeigen eindeutig, daß die materielle Lage von Familien in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Beruf, der Kinderzahl, den Nebeneinkommen sowie der vorausschauenden Organisation der Ausgaben während des Arbeitslebens wesentlich abhing und nur schwer auf einen einheitlichen Nenner gebracht werden kann. Nichts wirkte gravierender auf die Existenzmöglichkeit einer Arbeiterfamilie als lange Arbeitslosigkeit, wenn eventuell auch Frau und Kinder keine Beschäftigung fanden und damit das 124

Ebd., S. 26. Dort auch die beiden nächsten Zitate (Hervorhebung im Original).

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9. Kap.: Die endgültige Vernichtung des kapitalistischen Systems

Einkommen gegen Null sank; dann blieb das Betteln oder die Almosen der letzte Lebensstrohhalm. Wir müssen aber auch konstatieren, daß die Lebenshaltung am Ende des 19. Jahrhunderts sich fundamental von der von Arbeitern ein halbes Jahrhundert früher unterschied, wo der Arbeitslohn manchmal nicht einmal ausreichte, um Brot, Kartoffeln, Salz, Seife und ein wenig Butter einzukaufen; Geld für andere Bedürfnisse konnte nicht erwirtschaftet werden. Selbst ein Weber, der 1827 zusammen mit seiner Frau arbeitete, hatte weder Geld für kulturelle Ausgaben noch für neue Kleidung übrig. „Wollen sie sich dergleichen erzeugen, so arbeiten beide Personen ganze Nächte hindurch schon bei den langen Tagen, um ein Stück Kattun einen oder 1 ½ Tag früher fertig zu bringen. Sollte das [!] Arbeitslohn noch tiefer sinken: so würde ein Familienvater, zumal wenn Krankheiten einreißen sollten, nicht bestehen können, selbst bei noch wohlfeilerem Brode.“125 Diese Überarbeitung bis an die Grenzen der physischen Belastbarkeit mußte auf Dauer zu gesundheitlichen Schäden führen, doch darüber konnten solche Familien nicht nachdenken, selbst wenn ihre theoretische Möglichkeit, durch Mehrarbeit sich ein zusätzliches Einkommen zu schaffen, sie scheinbar gegenüber schlechtbezahlten Fabrikarbeitern bevorteilte. Gleichzeitig veränderten sich die qualitativen Anforderungen für selbstgewebte Waren in einem Ausmaß – weil die englischen Maschinenwebereien eine höhere Qualität zu günstigeren Preisen anbieten konnten –, daß eigenständige Weber in immer größere Abhängigkeiten von ihren Auftraggebern gerieten. „Die früher selbstständigen Webermeister sind zu Lohnarbeitern heruntergesunken, und nur wenige, die bunte Waare weben, haben sich selbstständig erhalten.“126 Solche kümmerlichen Lebensperioden waren in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Seltenheit; sie haben aber zu Unrecht einen ausbeuterischen Schatten auch auf die spätere Industrialisierung geworfen. Den damaligen Arbeitern blieb nichts anderes übrig, als sich eine Nebenarbeit zu suchen – was bei der hohen Arbeitsbelastung und wegen geringer Angebote meist aussichtslos war –, Schulden zu machen oder betteln zu gehen, was in vielen Städten verboten war, bzw. auszuwandern.

125 Staatswirthschaftliche Bemerkungen, in: Die Biene. Wöchentliche Mittheilungen für Sachsen und angrenzende Länder, I. Jg., Nr. 37. 16. September 1827, S. 293. 126 Ebd., S. 294. Gerade die selbständigen Webermeister, z. B. ein Weber aus Wildenfels im sächsischen Erzgebirge, verdienten um 1827 so wenig, nämlich in guten Zeiten etwa 19 Groschen (gr.) wöchentlich bei zum Überleben notwendigen Ausgaben von 16 gr. 9 Pfennig (pf.), daß sie eine besser bezahlte Fabrikarbeit wohl vorgezogen hätten; aber es gab sie damals nicht oder nur selten. „Diese 16 gr. 9 pf. theilen sich folgendergestalt ein: Es wird gebraucht für zwei Personen wöchentlich für Lebensmittel, weil sie kein Zugemüse sich erzeugen können, 11 gr. für Brod, 3 gr. 6 Mäßchen Erdäpfel, 1 gr. für Salz und Seife, 1 gr. 9 pf. für ½ Pfd. Butter = 16 gr. 9 pf. Summe. Es erhellt hieraus, daß bei so einem bürgerlichen Lebensunterhalte für zwei Personen nichts zu Kleidungsstücken übrig bleibt.“ (Ebd., S. 293).

10. Kapitel

Die Marxbeschöniger: Beispiel Ernst Bloch 10. Kap.: Die Marxbeschöniger: Beispiel Ernst Bloch 10. Kap.: Die Marxbeschöniger: Beispiel Ernst Bloch

Nicht erst die politische Durchsetzung eines kommunistischen Herrschaftssystems in Rußland auf der ideologischen Grundlage des Marxismus hat dazu geführt, das Gedankengebäude von Marx und Engels mit dem wissenschaftlichen Glorienschein der unerreichten Revolutionäre zu schmücken. Man attestierte Marx einen unschätzbaren theoretischen Beitrag zum Marxismus – nämlich „der marxistischen Philosophie und des wissenschaftlichen Kommunismus“.1 Es wäre m. E. angemessener, wenn man mit Karl Poppers Elend des Historizismus2 das angeblich Wissenschaftliche in diesem Konzept als historizistisch, d. h. als eine Pseudogesetzmäßigkeit, bezeichnete. Es scheint in der menschlichen Natur eine Neigung verwurzelt, persönliche Vorbilder, sei es in der Politik, Kultur, Musik, Wissenschaft oder Religion, überhöhen zu wollen und ihre menschlichen Fehler und Schwächen entweder zu verdrängen oder zu verharmlosen, obwohl ständig beteuert wird, daß jedem Menschen die gleiche Würde zusteht. Dabei hatte Marx scheinbar bescheiden an Wilhelm Liebknecht in Leipzig am 21. November 1865 geschrieben: „Was Deinen Bericht angeht, so konnte ich ihn der Konferenz [der Internationalen Arbeiterassoziation, die vom 25. bis 29. September in London stattfand, H.K.] nicht vorlegen, weil darin zu oft von mir die Rede war.“3 Nicht Bescheidenheit, sondern die nüchterne Überlegung, daß Marx’ ideologische Stellung in dieser Assoziation keineswegs unumstritten war, war der eigentliche Grund für diese Bemerkung. Da es mir in diesem Buch nicht darum gegangen ist, ein vollständiges Bild von Marx und dem Marxismus zu zeichnen, sondern an dem Phänomen ‚Kapitalismus‘ zu verdeutlichen, wie abgrundtiefer Haß auf dieses System die wissenschaftlichen und menschlichen Maßstäbe aushebeln kann, so kommt es mir auch nicht darauf an, die beschönigenden Interpretationen des Marxschen Werkes umfassend zu dokumentieren. Ich möchte vielmehr auf drei Beschönigungsstränge hinweisen, die untereinander viele Brüche aufweisen, denen aber ein wesentliches Element gemeinsam ist: Nämlich die weitgehend unkritische, dogmatische Übernahme von revolutionären Gedanken und politischen Forderungen eines Autors, Karl Marx, die zu ihrer Zeit längst überholt waren, aber einen gemeinsamen Feind kannten, den angeblich ausbeuterischen Kapitalismus!

P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (1973). 7. Aufl. Berlin 1984, S. 537. Vgl. Karl R. Popper: Das Elend der Historizismus (1965). 7. Aufl. Tübingen 2003, S. 94 ff. 3 MEW. Bd. 31, Berlin 1974, S. 638. 1

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10. Kap.: Die Marxbeschöniger: Beispiel Ernst Bloch

1. gehört zu ihnen eine umfangreiche Gruppe von Autoren im 19. Jahrhundert, die entweder selbst Marxisten waren oder die den Marxismus als zutreffende Analyse des kapitalistischen Gesellschaftssystems ansahen, wie z. B. Wilhelm Liebknecht, August Bebel, Werner Sombart oder Rosa Luxemburg. Sie haben die Marxschen Gedanken, die ohnehin vielen Veränderungen unterlagen, nicht identisch übernommen, aber sie haben sich anregen lassen entweder von dem revolutionären Geist oder von der unbarmherzigen Kapitalismuskritik von Marx und Engels, die wir ja schon zur Genüge kennengelernt haben; 2. Politiker, die entweder vor ihrer politischen Karriere die Schriften von Marx und Engels gelesen hatten oder sich danach dazu in eigenen Veröffentlichungen äußerten, um ihre totalitäre Politik, für die Marx und Engels keinen exakten Organisationsplan ausgearbeitet hatten, zu rechtfertigen und zu begründen, wie z. B. Wladimir Iljitsch Lenin, Jossif Wissarionowitsch Stalin, Mao Tse-tung oder Walter Ulbricht. Es ist von modernen Marxverstehern oft die Ansicht vertreten worden, daß diese Diktatoren Marx mißverstanden oder umgedeutet haben, doch solche Entschuldigungen werden meistens dann vorgetragen, wenn man ein ‚Vorbild‘ von moralischen Vorwürfen reinwaschen möchte und sich weigert, die politische Wirkungsgeschichte zu verfolgen; 3. Marxisten nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich nach Nationalsozialismus, Faschismus und Stalinschem Kommunismus nicht eindeutig für eine parlamentarische Demokratie entscheiden konnten oder wollten, sondern einer von unverwirklichbaren Illusionen eines ‚Reiches der Freiheit‘ in einer klassenlosen Gesellschaft schwärmten, wie Herbert Marcuse, Che Guevara, Rudi Dutschke, Frantz Fanon, Jean-Paul Satre oder Eric J. Hobsbawm. Sie haben Marx und Engels oft wie einen Steinbruch benutzt, um sich die Aspekte herauszuschlagen, die ihren eigenen Intentionen am geeignetsten erschienen und sind vor groben Umdeutungen nicht zurückgeschreckt. Als Beispiel für einen Marxbeschöniger der letzten Kategorie habe ich Ernst Bloch ausgewählt, weil er nach seiner Emigration in die USA von 1938 bis 1948 in der Deutschen Demokratischen Republik zwölf Jahre lang Philosophie in Leipzig lehrte, bevor er in die Bundesrepublik übersiedelte, ohne seine marxistischen Überzeugungen abzulegen. Mit Franz Mehring könnte man diese Legendenbildungen eines vielbewunderten Autors als „Anfälle des Marxpfaffentums“4 bezeichnen.

A. Marx’ Menschlichkeit Der Philosoph Ernst Bloch (1885 – 1977) – „der Marxist als Metaphysiker: die Materie spiritualisierend, dem Geist auf die Füße verhelfend“5 – hat im Jahr 1968 einen Band mit verschiedenen Auszügen aus einigen seiner Schriften unter dem Franz Mehring: Karl Marx (1918). 5. Aufl. Berlin 1983, S. 8. So Walter Jens: Ein Segel in einer anderen Welt. Rede auf Ernst Bloch, in: Die Zeit, Nr. 34. 12. August 1977, S. 32 (Rede zur Beerdigung Ernst Blochs in Tübingen am 9. August 1977). 4

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Titel Karl Marx und die Menschlichkeit veröffentlicht.6 Es scheint mir deshalb gerechtfertigt, einige Gedanken zu den Ausführungen Blochs zu diesem Thema hier anzufügen, da ich ja zu zeigen versuchte, daß menschliche Regungen bei Marx durch seinen Revolutionsfanatismus fast vollständig verdrängt wurden. Was Bloch allerdings über Marx’ Menschlichkeit zusammengeschrieben hat, ist an philosophischer Spitzfindigkeit, „an allen Sophistereien und Tiefstapeleien des imperialistischen Zeitalters“7 bzw. „an philosophische(r) Windbeutelei“8 fast nicht zu überbieten bzw. zu toppen. In der DDR, wo Bloch bis 1961 lebte, waren die Lehren Marx’ fast unangreifbare Wahrheiten, die man nur auf die Gefahr hin, berufliche Nachteile zu erleiden, in Frage stellen durfte, wie dies Wolf Biermann oder Rudolf Bahro schmerzlich erleben mußten. Es ist eine schwere Hypothek der deutschen Philosophie bis heute, daß sie nicht der klaren Sprache von Arthur Schopenhauer oder Karl R. Popper gefolgt ist, sondern sich an dem sprachlichen Wust von Georg Wilhelm Friedrich Hegel orientiert hat, weshalb viele Leser bewunderten sprachlichen ‚Tiefsinn‘ mit der mühsamen Suche nach der Wahrheit verwechseln.9 Doch möglichste Klarheit der Sprache ist im wissenschaftlichen Diskurs schon deshalb eine unverzichtbare Forderung, weil wir alle wissen und täglich erfahren, daß sprachliche Mißverständnisse überall auftreten und nur teilweise dadurch vermieden werden können, wenn wir uns einer verständlichen Ausdrucksweise bedienen. Bloch stellte Marx gar nicht in die Tradition eines Philosophenkönigs wie Hegel, dessen Werk „als besonders abstraktes Denkerleben“10 charakterisiert worden sei, weil er sich gerühmt habe, „die Theorie sei das Seligste und unter dem Guten das Beste“.11 Wissenschaftliche Theorien sind allerdings zuallererst einmal Erklärungssysteme, die das Funktionieren eines Sachverhalts, wie z. B. Alle Planeten kreisen auf elliptischen Bahnen, beschreiben, aber keine Werturteile über das Seligste oder das Beste abgeben oder verbreiten sollen. Hegel hätte allerdings richtig eingesehen, „die Praxis selber droht in der abgehobenen Autarkie der Praxis zu

6 Vgl. Ernst Bloch: Karl Marx und die Menschlichkeit. Utopische Phantasie und Weltveränderung (1968), München 1969. Der eigentliche Titel stammt aus Blochs Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung. Vgl. ders.: Das Prinzip Hoffnung (1959). 3. Bd.: Kapitel 43 – 55, Frankfurt am Main 1967, S. 1602 – 1628: Karl Marx und die Menschlichkeit; Stoff der Hoffnung. 7 E. Bloch: Karl Marx und die Menschlichkeit (wie Anm. 6), S. 15. Diese Aussage ist auf Karl Jaspers gemünzt. Man könnte Blochs angeblichen Materialismus auch als einen „Idealismus der gerissenen Arroganz“ (ebd.) bezeichnen. 8 Ebd., S. 109. 9 Arthur Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral, in ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. VI, Zürich 1977, S. 185, schrieb über Johann Gottlieb Fichte: „Hinter welche Floskeln doch so ein Windbeutel seine Rathlosigkeit versteckt!“ 10 E. Bloch: Karl Marx und die Menschlichkeit (wie Anm. 6), S. 7. 11 Ebd., S. 8. Es verwundert deshalb nicht, daß Bloch dem Begriffsfetischismus das Wort redete: „Das reine Leben des Begriffs zeigt, wo immer es Hegel darauf ankommt, einen praktischen Ausgang.“ (Ebd.).

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erlöschen“,12 was nach Bloch soviel heißt, zur Abstraktion überzugehen, wodurch ein von der Wirklichkeit abgetrennter Wille Leerlauf sei. Was dieser sprachliche und gedankliche Leerlauf allerdings mit konkreter Praxis, mit der Überwindung abstrakter Gedankengänge oder gar mit Materialismus zu tun hat, versuchte Bloch so zu erklären: Der mittelalterliche Bauer oder Handwerker – bekanntlich arbeiteten bis zum 19. Jahrhundert die überwiegende Zahl der Menschen in europäischen Staaten als Landwirte oder (städtische) Handwerker und nicht als (Industrie-) Arbeiter, denn es gab ja noch keine Fabriken – hätte nach Hegel „nicht im versinnlichten Material der Pflicht schlechthin, sondern in einem ganz besonderen“ gearbeitet, was immer man sich darunter auch vorstellen mag. Bekanntlich waren die Handwerker überwiegend in städtischen Zünften organisiert, die ihnen nicht nur vorschrieben, welche Regeln sie zu befolgen hatten, z. B. der Wanderzwang von Gesellen oder die Eintrittsbarrieren für eine Meisterstelle, sondern auch streng darüber wachten und eventuell dagegen prozessierten, wenn andere Handwerker in ihr Handwerk ,pfuschten‘, d. h. wenn ein Schlüsselmacher es z. B. wagte, zusätzlich ein Schloß für seinen Schlüssel herzustellen oder anzubringen! Eine solche „Arbeits-Beziehung“13 hatte überhaupt nichts mit den von schrecklichen Hungersnöten begleiteten, millionenfach Leben vernichtenden Seuchen und sklavenähnlichen Untertänigkeitsverhältnissen der mittelalterlichen Arbeitsverhältnisse zu tun, wo die Landarbeiter keine Arbeiter im heutigen Sinn waren, sondern eher eingepferchte Leibeigene und Untertanen. Es hat auch nichts zu tun mit einer menschlichen Betrachtungsweise, wenn diese erniedrigenden Lebensumstände als dialektische Bewegung, „als echte Arbeitsbewegung zwischen Mensch und Gegenstand und als Rückwirkung des bearbeiteten Gegenstands auf den Menschen“ charakterisiert werden. Die sozialen Unterschiede waren zwischen den regional verschiedenen rechtlichen Regelungen für die Bauern so groß, daß sich zwischen Mensch und Gegenstand (der Landwirtschaft) riesige Klüfte bildeten, die mit einer wie auch immer gearteten ‚Autarkie des Praxis‘ überhaupt nicht erfaßt werden können. Damit verniedlicht man wie Friedrich Engels in seiner Lage der arbeitenden Klasse in England das unglaubliche Elend, unter denen diese Menschen jahrhundertelang zu leiden hatten, um es in ein dialektisches Korsett zu zwingen. Was hat dies aber alles mit Marx und seiner Menschlichkeit zu tun, von der wir ja bereits einige abgründige Kostproben getestet haben? Bloch glaubte, daß Marx’ 3. These über Ludwig Feuerbach: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß … Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden“,14 folEbd., S. 10 (Hervorhebung im Original). Dort auch das nächste Zitat. Ebd., S. 11 (Hervorhebung im Original). Dort auch das nächste Zitat. 14 Karl Marx: [Thesen über Feuerbach], in: MEW. Bd. 3, S. 5 f. Von Bloch nicht korrekt zitiert, der später behauptete: „So führt M ARX vom generell-idealen Menschen, über blo12 13

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genden Hintergrund aufweise. Das wechselseitige Arbeitsverhältnis sei von Marx in Hegels vielleicht unverständlichstem und abstraktestem Werk, der Phänomenologie des Geistes,15 entdeckt und sichtbar gemacht worden. Marx sei in Berlin „von der Idee zum Bedürfnis und seinen gesellschaftlichen Umtrieben, von den Bewegungen des Kopfes zu den wirklichen, die aus dem wirtschaftlichen Interesse entspringen“,16 gekommen. In Wirklichkeit war es eher umgekehrt, denn Marx hat sich in Berlin durch seine Bekanntschaft mit einigen Junghegelianern in den Hegelianismus vertieft und seine Dissertation ist zwar getränkt von atheistischen Vorstellungen, aber wirtschaftliche Zusammenhänge in der Gesellschaft waren ihm weitgehend noch fremd. Es ist schon etwas merkwürdig, daß Bloch seine Leser glauben machen will, es äußere sich etwa konkret gewordene Dialektik sowie sämtliche Hoffnungen, im Unterschied zu den abstrakten Utopisten, „im Elend nicht nur das Elend zu sehen, sondern ebenso den Wendepunkt“. Wenn wir etwas Konkretes aus der ‚Idee zum Bedürfnis und seinen gesellschaftlichen Umtrieben‘ etc. herausfiltern können, dann nicht viel mehr, als die banale Aussage, daß die Theorie in Praxis übergehen kann, was allerdings noch weit entfernt ist von einer revolutionären Praxis. Marx’ ‚revolutionäre Praxis‘ ist eigentlich ganz einfach ohne eine verbale Verhüllungsstrategie zu verstehen, denn sie sagt ganz offen, was sie will, nämlich durch eine Revolution das kapitalistische System zerstören und es durch die ‚Diktatur des Proletariats‘ ersetzen. Bloch wandelte an anderer Stelle Marx’ Revolutionsforderung dahingehend ab, daß staatliche Gewalt einen Gegenpol haben müsse: „Wenn dagegen die Unterdrückten zu einer hochverursachten Notwehr greifen, dann nennen das die Herrschenden Gewalt, mit heuchlerischer Entrüstung und lauter bombardierter Bergpredigt.“17 Menschen bzw. Arbeiter sind dabei lediglich das notwendige Kanonenfutter, denn zu Marx’ Zeiten kannte man ja noch keine (Atom-)Bombe, mit der man die Kapitalistenclique einfach auslöschen oder von der Erde in Millionen Lichtjahre entfernten Galaxien hinauskatapultieren konnte. Wir haben bereits gehört, mit welcher verächtlichen Überheblichkeit Marx und Engels das Proletariat beurteilten, und bei Marx könnte man die Vermutung haben, daß er wie Hegel menschliche Tatsachen gar nicht anerkannte, „sie sind ihm nur Momente von Prozessen“,18 die bedeutungslos sind. Allerdings unterscheiden sich Prozesse von Momenten durch die Unterschiedlichkeit ihrer Dauer, d. h. das Proletariat unterliegt prozessualen ßen Individuen, auf den Boden der wirklichen Menschheit und möglichen Menschlichkeit.“ (S. 93). 15 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: Werke 3, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970. 16 E. Bloch: Karl Marx und die Menschlichkeit (wie Anm. 6), S. 39. Dort auch das nächste Zitat. 17 Ernst Bloch: Marx als Denker der Revolution, in: Marx und die Revolution, Frankfurt am Main 1970, S. 9 f. 18 E. Bloch: Karl Marx und die Menschlichkeit (wie Anm. 6), S. 42. Dort auch das nächste Zitat.

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Vorgängen und der Hegelsche Jargon ist nichts weiter als verschleierter sprachlicher Unsinn eines philosophischen Flugsands. Wenn der „wirtschaftende gesellschaftliche Mensch“ Marx befragen könnte, wie er sein Leben auf eine friedlichmenschliche Weise gestalten sollte, dann erhielte er tatsächlich die deprimierende Antwort, daß dies in einer „von Klassenkämpfen durchtobte[n]“19 Welt eben nicht möglich sei, da die ökonomische Geschichte es so gewollt habe und erst eine Revolution ihn befreien könnte. Daraus folgerte Marx mit einer analytischen Rasierklingenschärfe, daß das kapitalistische System durch eine Revolution in eine klassenlose Gesellschaft umgewandelt werden müsse, deren tatsächliche Realisierung allerdings ein Buch mit sieben Siegeln bleibt und offenbar lediglich als phantastische Hoffnung einiger unbelehrbarer Marxisten weiterlebt. Nicht einmal spontane revolutionäre Aktionen erlaubte der ‚Diktator‘ Marx seinen unterdrückten und ausgebeuteten Arbeitern, sondern nur eine Massenbewegung könne den Kapitalismus beseitigen, wie seine Stellungnahme auf einer Sitzung des Bundes der Kommunisten zeigte: „Das Proletariat, käme es zur Herrschaft, würde nicht direkt proletarische, sondern kleinbürgerliche Maßregeln ergreifen. Unsere Partei kann erst zur Regierung kommen, wenn die Verhältnisse es erlauben, ihre Ansicht durchzuführen.“20 Betrachten wir allerdings die konkrete Praxis marxistischer bzw. kommunistischer Regime, dann erkennen wir schnell, daß es nur eine einzige Klasse gibt, nämlich die alleinseligmachende, ‚unsere‘ Partei, die Menschen unterdrückt, deportiert oder umbringt. Wir haben an vielen Beispielen gezeigt, daß der leidende Mensch in seiner konkreten Arbeitswelt Marx überhaupt nicht interessiert hat, sondern nur der Massenmensch als revolutionärer Teil des Proletariats, eine Interpretation, die von Bloch etwas verklausuliert bestätigt wird: „Um die Welt, mit dem Menschen als Stück der Welt und in der Welt, dermaßen zu bewegen, muß sie für MARX sein, was sie ist: materieller Prozeß.“21 Nach der angeblich so mitfühlenden Auffassung von Bloch gibt es inhaltlich gefüllte Gleichheit und Brüderlichkeit nur als sozialistische, ansonsten sei sie formal, denn als überzeugter Kommunist besteht das praktische Hauptziel aller sozialistischen Bestrebungen darin, die humane kapitalistische Gesellschaft zu beseitigen und sie durch ein zwangloses Zusammenleben gleicher Geschöpfe zu ersetzen. Die gleichen und brüderlichen Menschen als kommunistische Geschöpfe können für sich beanspruchen, eine höhere Weihe durch ihre ‚wissenschaftlichen‘ Vordenker erhalten zu haben, weswegen sie sich um die kapitalistischen Mitläufer nicht mehr zu kümmern brauchen. Auch Rudi Dutschke drückte eine marxistische Überlegenheit gegenüber den uneinsichtigen Geschöpfen des Kapitalismus aus, die erst einmal über ihre eigenen Erkenntnismöglichkeiten belehrt werden müßten: „Der wichtigste Charakterzug der kapitalistischen Gesellschaft für eine Analyse, die diese Wirklichkeit unter dem Aspekt ihrer revolutionären Veränderbarkeit betrachEbd., S. 43. Sitzung der Zentralbehörde vom 15. September 1850, in: MEW. Bd. 8, Berlin 1972, S. 600 (Hervorhebung im Original). 21 E. Bloch: Karl Marx und die Menschlichkeit (wie Anm. 6), S. 44. 19

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tet, ist, daß die Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht adäquat erkennen können.“22 In einer kapitalistischen Gesellschaft sind die Menschen also geistig vernebelt und können erst durch eine vernichtende Revolution ihrer wahren Bestimmung zugeführt werden. Nun kennen wir ja einige sozialistische Gesellschaften, z. B. die UdSSR, China, Nordkorea oder die DDR, auch wenn die meisten allmählich im revolutionären Nebel der vergangenen Geschichte versinken und bei vielen Menschen nur noch schemenhaft in Erinnerung bleiben. Doch Gleichheit oder Gerechtigkeit gab und gibt es dort nur sehr eingeschränkt in der Arbeitswelt, dagegen Brüderlichkeit nur im Sinne von Kain und Abel, wenn wir uns daran erinnern, daß sowjetische Panzer 1956 in Ungarn oder 1968 in der Tschechoslowakei ihre sozialistischen ‚Brüder‘ erschossen, weil sie eine andere Gesellschaft anstrebten. Die chinesische Regierung hat 1959 die Aufständischen in Tibet, die das internationale Recht auf Selbstbestimmung einforderten, mit militärischer Gewalt niedergeschlagen; wieviel Menschen in Nordkorea umgebracht werden, bleibt ein strenggehütetes Geheimnis. Es kann m. E. für freiheitlich gesinnte Menschen wenig Zweifel darüber geben, daß kommunistische Systeme wenig Spielraum gewähren für eine selbstbestimmte Freiheit oder ein selbstbestimmtes Leben und als Ersatz Gleichheit im Arbeitsprozeß anbieten. Mir ist keine Untersuchung bekannt, ob die Garantie auf einen Arbeitsplatz in sozialistischen Gesellschaften, wenn man sich staatskonform verhält, von den betroffenen Menschen höher eingeschätzt wird als das Risiko von Arbeitslosigkeit. Die Forderung nach demokratischer Gleichheit vor dem Gesetz – wie sie seit Generationen von bürgerlichen Denkern in demokratischen Verfassungen verankert werden sollte – ist nach Bloch allerdings nur eingeschränkt gültig und anwendbar. Und bei der Brüderlichkeit, die ja christlichen Ursprungs ist, weiß der Atheist Bloch, „daß die Wölfe nicht zu ihr gehören“,23 womit gemeint sein könnte, daß die kapitalistischen Wölfe im Schafspelz auftreten. In einer nichtsozialistischen und wolflosen bürgerlichen Gesellschaft, in der der Mensch bei Strafe seines Untergangs „dem anderen sein Feind sein muß“,24 ist für menschenfreundliche Sozialisten oder Kommunisten ohnehin alles klar: „Die bürgerliche Lebensweise ist mehr als je so beschaffen, daß der Große den Kleinen anfällt, abwürgt, frißt“.25 Auf diese kannibalische Weise verkörperte sich in den Hirnen deutscher Philosophen das menschliche Verhältnis zwischen Unternehmern (den Großen) und Arbeitern (den Kleinen) – und das nennen sie Menschlichkeit! Wie ‚humaner‘ erscheint dagegen die Revolution, in der ja angeblich nur diejenigen ihren Kopf verlieren, die ohnehin dem historischen Untergang geweiht sind. Auch der polnische Philosoph Adam Schaff will den angeblich unterdrückten Arbeitern die betörende Anziehungskraft der Marxschen Ideologie schmackhaft machen: „Der Marxismus ist 22 Rudi Dutschke: Die Widersprüche des Spätkapitalismus, in Uwe Bergmann u. a.: Rebellion der Studenten, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 34. 23 E. Bloch: Karl Marx und die Menschlichkeit (wie Anm. 6), S. 59. 24 Ebd., S. 62. 25 Ebd., S. 59.

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Humanismus; ist radikaler Humanismus, der mit seiner theoretischen Konsequenz und seiner organischen Verbundenheit mit der Praxis, dem Handeln, alle seine gegenwärtigen Konkurrenten übertrifft.“26 Der kriegerische Klassenkampf kann in dieser dialektischen Form sogar eine marxistische ‚Brüderlichkeit‘ einschließen, denn einer seiner wichtigsten Funktionen bestehe darin, „alle künftigen Kriege ursächlich zu verhindern“,27 was tatsächlich einem vielbeschworenen Pazifismus entspricht, der aber in kommunistischen Staaten selten anzutreffen ist. Auch Marx hat die Gewalt in allen Lebenslagen beschworen, weil eben die kapitalistische Ausbeutung nicht anders beseitigt werden könne und Arbeiterarmeen gefordert, die den bürgerlichen Armeen überlegen sind. Die mörderischen Kriege der Sowjetunion gegen die Tschechoslowakei, gegen Afghanistan oder Tschetschenien müssen deshalb von Blochianern als brüderlicher Freiheitskampf uminterpretiert werden, da es bei ihnen lediglich darum gegangen sei, die Konterrevolutionäre auszuschalten, die ein friedliches Zusammenleben verhinderten und untergrüben. In sowjetischer Lesart wird aus diesem Unterdrükkungs- und Gulagsystem ein Staat der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, des Friedens und des Glückes: „Marx und Engels hoben den tiefen Humanismus in sämtlichen menschlichen Beziehungen im Kommunismus hervor.“28 Nicht einmal die Bundesrepublik Deutschland war nach der Hitlerdiktatur, durch die nach 1939 die verheerendsten Kriege mit 60 Millionen Toten entfesselt wurden, in der Lage, eine pazifistische Politik durchzusetzen, entweder weil sie im Kalten Krieg unter zu starkem Druck der NATO stand, aufzurüsten, oder weil sie selbst in der Adenauerära daran interessiert war, den Westmächten ihre Solidarität zu demonstrieren, gegen die ‚Mächte des Bösen‘ wehrhaft zu sein. Aber wie lassen sich diese pazifistischen Ideen vereinbaren mit den kapitalistischen Interessen, die nur soziale Ungleichheiten produzieren und die arbeitenden Menschen unterdrücken? Offenbar nur, weil es im Kapitalismus nach Marx wie nach Bloch Klassengegensätze gibt, die dadurch überwunden werden können, daß die vollständige Abschaffung der Klassen gefordert und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft vorangetrieben wird! Wie diese Diktaturen in Wirklichkeit ausgesehen haben und organisiert waren, darüber wird von den Marxbeschönigern der Mantel des Schweigens gehüllt und kann bald nur noch in wissenschaftlichen Werken nachgelesen werden. Der realhistorische Kommunismus in der Sowjetunion war allerdings ebenso kriegslüstern und totalitär wie der Nationalsozialismus und nach dem angeblichen Ende der Geschichte scheint es ungeheurer Anstrengungen zu bedürfen, um ehemalige kommunistische Staaten in demokratische Gesellschaften mit garantierten Menschenrechten zu überführen.

26 Adam Schaff: Marxismus und das menschliche Individuum, Wien/Frankfurt/Zürich 1965, S. 221 (Hervorhebung im Original). 27 E. Bloch: Karl Marx und die Menschlichkeit (wie Anm. 6), S. 65. 28 P. N. Fedossejew (Leiter): Karl Marx (1973). 7. Aufl. Berlin 1984, S. 199.

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B. Der moderne Kapitalismus Von Marxisten wird häufig unterstellt, der Kapitalismus sei eine unveränderliche Form der industriellen Produktion, die immer die gleichen Merkmale aufweise und sich nur graduell unterscheide, weshalb er notwendigerweise untergehen müsse, auch wenn er durch den ökonomischen Imperialismus und Kolonialismus sich noch eine kleine Verschnaufpause verschafft habe. Doch die inhärente Stärke des ‚Kapitalismus‘ besteht gerade darin, daß er sich aufgrund von ‚Selbstheilungskräften‘ an die ökonomischen Erfordernisse anpaßt und damit die Wohlstandsbasis breiter Bevölkerungsschichten verbreitert, selbst wenn fehlende politische Regelungen dazu führen können, daß er ausartet, wie wir dies bei der bankengesteuerten Börsen- und Spekulationskrise 2008 erlebt haben. Die oft geäußerte Ansicht, diese Finanz- und Bankenkrise bestätige Marx’ Prognosen von einem endgültigen Zusammenbruch des (Turbo-)Kapitalismus, muß entgegengehalten werden, daß sie nicht die Stärken, „sondern im Gegenteil die Schwächen der marxschen Analyse offenlegt“.29 Denn gerade die amerikanische Politik war wesentlich für diese in der Krise nichtrückzahlbaren Schuldverschreibungen verantwortlich, weil die Sicherung der Kredite nur mit den Immobilien und nicht anderen Vermögenswerten im US-Haftungsrecht ausreichend geregelt war. Die autonome Politik und nicht der ausbeuterische (Banken-)Kapitalismus hat den Beinahekollaps des Bankensystems ermöglicht und dann mit Milliardenkrediten verhindert. Den Kapitalismus gibt es nicht und hat es niemals gegeben, aber seit der Antike haben sich kapitalistische Formen der Geldleihe, der Warenproduktion und des internationalen Handels in verschiedenen Regionen der Welt ausgebreitet, wie etwa der Agrar-, der Banken-, der Beute-, der Finanz-, der Handels-, der Industrie-, der Kaufmanns-, der Manager-, der Monopol- oder der Unternehmerkapitalismus, um nur einige in alphabetischer Reihenfolge zu nennen. Wenn Marx annahm, daß es im Kapitalismus eine allgemeine Tendenz zur Konzentration und zum Monopol gäbe, d. h. das konstante (Maschinen, Gebäude etc.) verglichen mit dem variablen (Löhne) Kapital stetig zunehme, und dies unvermeidlich zu dessen Zusammenbruch führen müsse, dann überbetonte er einen Aspekt, die Kapitalkonzentration, die über längere Zeit empirisch so nicht nachgewiesen werden kann. Die gegenwärtig bedenklichste Form ist die ökonomische Globalisierung von Großkonzernen, die von nationalen Parlamenten nicht mehr kontrolliert werden können und deren Umsätze ein Ausmaß erreicht haben, daß Korruption und Bestechung gang und gäbe geworden sind, ohne daß die nationalen Regierungen wirkungsvolle Mittel dagegen ergreifen können. Heute versuchen Marxisten das angeblich unvermeidliche Ende dieses ganzen Systems mit allen seinen Schwächen in 29 Thomas Petersen/Malte Faber: Karl Marx und die Philosophie der Wirtschaft (2013). 2. Aufl. Freiburg/München 2014, S. 243. Dort heißt es später: „Aus dem marxschen Ansatz ergibt sich weder eine solide Strategie, wie die Krisen der kapitalistischen Wirtschaft und ihres Finanzsektors überwunden werden können, noch leistet dieser Ansatz eine adäquate Diagnose.“ (S. 252).

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einer kryptischen Ausdrucksweise zu umschreiben, die nicht ein einziges konkretes Problem benennt: „Die Endlichkeit des Kapitalismus als einer nur historischen Weise der Produktion wird von Marx doppelt nachgewiesen: erstens in der Grenze, die durch die Bedingungen seines Werdens markiert ist; zweitens in der Grenze, auf die das Kapital in der ihm eigentümlichen Dynamik stößt, nämlich Schranke seiner selbst zu sein und darin zugleich die materiellen Bedingungen einer anderen Produktionsweise hervorzubringen und die Historizität des Kapitalverhältnisses und die realen Möglichkeiten seiner Auflösung bewußt zu machen.“30 Es fällt solchen marxistischen Ideologen schwer einzuräumen, daß es gerade die veränderbaren kapitalistischen Strukturen waren, die den materiellen Sieg über die kommunistischen Staatswirtschaften errungen haben, die auch wegen ökonomischer Ineffektivität zugrunde gegangen sind. Mit den Slogans „Jedem das Seine“ oder „Der Sozialismus wird siegen“ läßt sich kein effektives Wirtschaftssystem errichten oder aufrechterhalten, weswegen diese zentralistisch gelenkten Ökonomien zusammenbrechen mußten, selbst wenn die frustrierten Bürger keine friedliche Revolution durchgeführt hätten. Die ökonomische Ineffektivität zentralverwalteter Wirtschaftssysteme konnte auch dann nicht behoben werden, wenn benachbarte Staaten, wie die BRD gegenüber der DDR, milliardenschwere Subventionen in Form von Zollvergünstigungen, Transitvereinbarungen, Barüberweisungen oder Krediten aufbrachten. Während die bürgerliche Klasse nach der Französischen Revolution 1789 eine „egoistische Triebkraft der industriellen Produktion“31 darstellte, wiesen Marx und Engels nach Bloch „auf den vollen Erfolg dieser Revolution hin, als der Emanzipation des Bourgeois und der damals ökonomisch notwendigen Profitwirtschaft“.32 Diese war in englischen Regionen anzutreffen, aber das überwiegend landwirtschaftliche Frankreich hatte sie noch gar nicht erreicht. Es wird bei solchen Vergleichen nicht nur viel zu wenig berücksichtigt, daß die hehren revolutionären Forderungen nach „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ schnell im massenhaften Blut der Guillotine eines Maximilien de Robespierre u. a. und danach in den Napoleonischen Kriegen versanken, sondern daß es gerade das antirevolutionäre England war, das zur vielbeneideten Wohlstandsnation der industriellen Produktion aufstieg, während Frankreich relativ ökonomisch zurückfiel. Der in jahrhundertelangen Auseinandersetzungen mit der Krone erkämpfte englische Parlamentarismus war nicht nur wesentliche Grundlage einer allgemeinen Emanzipation von feudalen Fesseln, sondern die Freiheit des Individuums ermöglichte ökonomische Umwälzungen, weil z. B. Erfinder aufgrund eines Patentrechts von ihren technischen Neuerungen finanziell profitieren konnten. Von Marxisten erfährt man viel über die arbeitsbedingten Bedrängnisse von Arbeitern, aber wenig bzw. gar nichts über „den Ruhm der großen Ingenieure als Wohlthäter der Menschheit“33 und der Andreas Arndt: Karl Marx (1985). 2. Aufl. Berlin 2012, S. 211. E. Bloch: Karl Marx und die Menschlichkeit (wie Anm. 6), S. 71. 32 Ebd., S. 72. 33 So Herman Grothe: Bilder und Studien zur Geschichte der Industrie und des Maschinenwesens, Berlin 1870, S. 37. 30 31

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Maschinenindustrie als Vorreiter von erleichterten Arbeitsbedingungen. Auch hart umkämpfte Menschenrechte sind nach Ansicht von revolutionären Marxisten lediglich sogenannte bürgerliche Freiheiten, d. h. eigentlich nichts anderes als die unmenschliche Sklaverei der bürgerlichen Gesellschaft, „vollendete Knechtschaft und Unmenschlichkeit“, wie Marx dies 1845 in der Heiligen Familie formulierte. Der ökonomischen Seite dieser Menschenrechte wurde deswegen so wenig Aufmerksamkeit zuteil, weil die Überbautheorie völlig einseitig vom Primat der Ökonomie ausging und politische Veränderungen nur in Abhängigkeit vom Wirtschaftssystem analysierte. Wer sich von einer solchen ausbeuterischen Klassengesellschaft emanzipieren wollte – die sogar die Freiheit des Eigentums auf ihre Fahnen geschrieben hatte! –, dem empfahl Marx den klassenkämpferischen Kommunismus, in dem auch nach Bloch „Ausbeutung und Unterdrückung der Werktätigen verschwunden sind“!34 Es bedarf offenbar einer verblendenden Ideologie marxistischer Provenienz, wenn man dieser zerstörenden Klassenkampftheorie auch nur den Hauch einer menschlichen Freiheit abgewinnen zu können glaubt und wenn man behauptet, die soziale Revolution sei der proletarische Sprung ins „Reich der Freiheit“.35 Das sowjetische „Reich der Freiheit“, dem Ernst Bloch in seinen kryptischen Beschreibungen offenbar nachtrauerte, ist von Alexander Solschenizyn in seinem dreibändigen Werk Archipel GULAG über die kommunistischen Verfolgungen von 1918 bis 1956 mit solcher bedrückenden Eindringlichkeit geschildert worden, daß es keiner weiteren Belege bedarf, um zu wissen, wohin die kommunistische Revolution geführt hat.36 Konkrete, nachprüfbare Fakten bedeuten für einen hegelianisierenden Philosophen jedoch lediglich unliebsame Störfeuer eines falschen Bewußtseins, die man mit marxistischem Wortgeklingel schnell löschen kann. Bereits der Marxist Wladimir Iljitsch Lenin (1870 – 1924) hatte in seiner Schrift Was tun? von 1902 das totalitäre Konzept einer revolutionären Kaderpartei für ein befehlsempfangendes Proletariat entwickelt und nach der gewaltsamen Übernahme der bolschewistischen Herrschaft am 25. Oktober 1917 rief er die Diktatur des Proletariats aus, was vor allem eine rücksichtslose Verfolgung aller politischen Gegner, den Roten Terror, bedeutete. Die marxistische Theorie bildete die ideologische Grundlage dieses mörderischen Vorgehens, auch wenn sie unter der Bezeichnung Marxismus-Leninismus den veränderten Verhältnissen angepaßt wurde, aber immer noch als „zunehmende Deformierung der Marxschen Theorie“37 angesehen wird. Die phantastische Idee einer kommunistischen Gesellschaft verwirklichte der Marxismus-Leninismus als sein politisches Programm, während der frühe Kommunismus viel skeptischer eingeschätzt wurde: „Nie wird die communistische Theorie die Massen in Bewegung setzen. Dies wird immer nur der Hunger E. Bloch: Karl Marx und die Menschlichkeit (wie Anm. 6), S. 74. Ebd., S. 75. 36 Vgl. auch Stéphane Courtois u. a.: Das Schwarzbuch des Kommunismus. 4. Aufl. München/Zürich 1998, für eine international vergleichende Perspektive. 37 Wolfgang Wippermann: Der Wiedergänger, Wien 2008, S. 56. 34 35

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thun und nur so weit, bis dieser Hunger einfach gestillt ist.“38 Es ist an dieser Stelle auch zu fragen, was die Marxsche Kritik an menschlicher Selbstentfremdung mit echter Menschlichkeit als einer Kategorie der verständnisvollen Hinwendung zum Nächsten zu tun hat, denn ‚Entfremdung‘ bedeutet für Marx zuallererst eine ökonomische Distanz von der Arbeitstätigkeit, zur Arbeit als Ware. Wenn die industrielle Tätigkeit von Arbeitern darauf reduziert wird, daß das Produkt der Arbeit vom Kapitalbesitzer ‚entfremdet‘ wird, weil er das Mehrprodukt (die Differenz zwischen Produktions- und Verkaufswert) für sich beansprucht und sich dadurch fremde Arbeit aneigne, dann ist dies reiner Ökonomismus, d. h. eine zynische Verdammungsstrategie des Kapitalismus, aber keineswegs eine ‚Theorie der Entfremdung‘. Es wäre ja eine schöne Idee, wenn alle Menschen Unternehmer werden könnten, die Millionen von Mehrwertdollars in ihre Taschen steckten – aber wie hoch ist die Verwirklichungschance dieser Idee? Auch die theoretische und praktische Unhaltbarkeit der Arbeitswertlehre, nach der von den Arbeitsprodukten nichts übrigbleibt als eine „gespenstige Gegenständlichkeit, eine bloße Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit“,39 mit ihrer übermäßigen Konzentration auf die manuelle Herstellung von Produkten und die weitgehende Vernachlässigung von technischem Know-how, d. h. dem Einsatz neuer Maschinen und Verfahren, ist so gründlich erforscht worden, daß wir nicht mehr darauf einzugehen brauchen. Die unmenschlichen Verdammungsurteile von Marx – wie wir sie an verschiedenen Beispielen gezeigt haben – lassen sich also recht gut mit dem zerstörerischen Klassenhaß verbinden, wie auch Bloch feststellte: „Die Entfremdung freilich umfaßte beide: die Ausbeuterklasse wie die der Ausgebeuteten, vor allem im Kapitalismus, als der stärksten Form dieser Selbstentäußerung, Verobjektivierung.“40 Es ist eine realitätsverleugnende Illusion zu glauben, daß in unserem ganzen Arbeitsleben die ‚reale Aufhebung der Selbstentfremdung‘ möglich sei, denn viele berufliche Tätigkeiten dienen den arbeitenden Menschen vor allem zum Lebenserhalt, weil ihnen ein idealer Beruf aus verschiedensten Gründen verwehrt blieb. Wenn im kapitalistischen System sowohl die leitenden Unternehmer wie die unterdrückten Arbeiter entfremdet gewesen sein sollen, dann hat dieser Begriff als kennzeichnende Unterscheidung seinen Sinn verloren und wir könnten ebenso behaupten, daß Menschen ‚ausgebeutet‘ werden, wenn ihnen Steuern von ihrem Lohn abgezogen bzw. einbehalten werden. An einer anderen Stelle versucht Bloch mit schönklingenden Worten die aufnahmebereiten Geister zu verwirren: „Eben deshalb hebt der neue, der proletarische Standpunkt den Wertbegriff Humanismus so wenig auf, daß er ihn praktisch überhaupt erst nach Hause kommen läßt; und je wissenschaftlicher der Sozialismus, desto konkreter hat er gerade die Sorge um den

38 Aus Anlaß der Fabrikemeuten, in: Deutsche Vierteljahrs Schrift, IV. Heft, 1844, S. 376. 39 Karl Marx: Das Kapital. 1. Bd. (MEW, Bd. 23), Berlin 1962, S. 52. 40 E. Bloch: Karl Marx und die Menschlichkeit (wie Anm. 6), S. 79.

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Menschen im Mittelpunkt, die reale Aufhebung seiner Selbstentfremdung im Ziel.“41 ‚Entfremdung‘ in der Arbeitswelt und fehlende Menschlichkeit können aber nicht deckungsgleich sein, schon deswegen nicht, weil es zu allen Zeiten in der industriellen Produktion, aber ganz besonders heute neben einer ‚entfremdeten‘ Arbeit weite Bereiche privaten Lebens gibt, die menschlich ausgestaltet werden können. Wir sollten Denker wie Bloch fragen, was daran humanistisch bzw. human sein soll, wenn man die geschundenen proletarischen Industriearbeiter als aufopferungswillige Lämmer einer in den glorreichen Kommunismus führenden sozialen Revolution abschlachten läßt. Rechtfertigende Argumente, warum bei den Säuberungsaktionen der kommunistischen Stalinära Millionen Menschen umgebracht wurden, kann wohl nur eine materialistisch-dialektische Philosophie ergründen und erkennen, aber nicht der gesunde Menschenverstand. Der immer wieder erhobene Vorwurf, die kapitalistische Gesellschaft sei ein entfremdendes Ausbeutungssystem der herrschenden Klasse, die nur materiellen Profit und gegenseitigen ökonomischen Mord der Kapitalisten untereinander kenne, war bereits beim Erscheinen des 1. Bandes des Kapital eine reine Chimäre. In jeder menschlichen Gesellschaft gibt es Personen, die sich auf Kosten anderer bereichern und nur ein freiheitliches Rechtssystem mit einklagbaren Grundrechten kann dafür sorgen, daß sich die kapitalistischen Auswüchse in Grenzen halten; ganz abschaffen kann man sie wohl niemals, aber man kann sie einer gesetzlichen Kontrolle unterwerfen. Wenn noch ein Jahrhundert nach Marx’ Fehleinschätzungen von Bloch behauptet wird, die kapitalistische Gesellschaft sei in Individuen atomisiert gewesen, und darüber hätte sich ein „Abstrakt-Genus, Abstrakt-Ideal von Menschheit, Menschlichkeit“42 erhoben, so ist dies nichts weiter als realitätsferne Ideologie. Die durch den Kommunismus angeblich aufgehobene, anarchistische und kapitalistische Gesellschaft erwies sich gegenüber den marxistischen Unterdrückungssystemen als immer stärkere Zufluchtsstätte, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichte. Revolution und Menschlichkeit können schon deshalb nicht auf einen praktischen Nenner gebracht werden, weil in revolutionären Aktionen davon ausgegangen wird, daß Menschen umkommen oder umgebracht werden, während menschliche Handlungen gerade dazu dienen sollen, möglichst wenig psychische und physische Schäden zu verursachen bzw. sie zu vermeiden. Der historisch-dialektische Materialismus eines Marx oder Bloch hält menschliche Gefühle oder subjektive Werthaltungen nicht für schätzenswert, sondern sieht alles Leben durchwebt von ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, die den Weg weisen zur revolutionären Praxis und die jeder akzeptieren bzw. verinnerlichen muß, der die marxistische ‚Freiheit‘ erringen möchte. Diese kollektivistische Einebnung individueller Präferenzen hat dazu geführt, daß im Kommunismus die alleinseligmachende Partei die volle Wahrheit für sich beanspruchte und daraus das unmenschliche Recht ableitete, jeden Abweichler Ebd., S. 93 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 92. Damit verträgt sich zweifellos die „Absage an jeden Rest bürgerlicher Demokratie, mit der Gewinnung des proletarisch-revolutionären Standpunkts, mit der Schöpfung des dialektisch-historischen Materialismus“ (ebd., S. 92 f.). 41

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zu verfolgen und unschädlich zu machen. „Ohne Parteiung in der Liebe, mit ebenso konkretem Haßpohl, gibt es keine echte Liebe; ohne Parteilichkeit des revolutionären Klassenstandpunkts gibt es nur noch Idealismus nach rückwärts statt Praxis nach vorwärts.“43 Der leidende Mensch mit seinem angepredigten Atheismus und seiner unsäglich universellen Liebe wird dadurch herabgewürdigt zu einem praktisch-ökonomischen Werkzeug eines unausweichlichen Schicksals des historisch notwendigen Klassenkampfes. Es ist deshalb nur konsequent, wenn Bloch die angebliche Menschenliebe im Sozialismus als eine „gefährliche Verblasenheit“44 charakterisiert und verurteilt. „Doch wenn schon das Salz dumm werden kann, wie sehr erst der Zucker, und wenn schon Gefühlschristen im Defaitismus bleiben, wie sehr erst Gefühlssozialisten, im pharisäischen Verrat.“ Und da Bloch glaubte, daß die völlige Aufhebung der menschlichen Selbstentfremdung „mit dem letzten Akt des [totalitären, H.K.] Kommunismus“45 zusammenfällt, gaukelte er sich damit ein ‚Reich der Freiheit‘ vor. Dieses Reich ist inzwischen im Nirwana versunken, doch offenbar gibt es noch immer Marx- bzw. Marxismusgläubige, die in ihrer überschäumenden Phantasie ein solches Unterdrückungssystem als einen letzten Akt der historischen Gerechtigkeit herbeisehnen. Wir haben schon gehört, daß die unermeßlichen und unvorstellbaren Unmenschlichkeiten der stalinistischen ‚Säuberungen‘, die millionenfachen Morde eines auf den Lehren von Marx, Engels und Lenin gegründeten Gulag-Systems den nationalsozialistischen Greueltaten gegenüber der eigenen Bevölkerung in nichts nachstanden. Beide Systeme nahmen für sich in Anspruch, aus einer Revolution hervorgegangen zu sein, auch wenn die russische Revolution ganz im Gegensatz zu Marx’ Prognose nur von einer arbeitenden Minorität der Bolschewiki getragen wurde. Selbstverständlich übersteigt der Holocaust an Millionen von Juden und jüdischstämmigen Deutschen alle menschlichen Vorstellungen und ließ den Nationalsozialismus zum brutalsten Mordsystem der Weltgeschichte werden, aber deswegen dürfen wir nicht unsere kritische Sonde vor den Massenmorden des Kommunismus ausschalten. Marx und Engels vertraten am 10. Jahrestag des Kommuneaufstandes für Rußland die Hoffnung, daß die Versammlung russischer Revolutionäre in London „wenn auch vielleicht nach langen und heftigen Kämpfen, schließlich und mit Sicherheit zur Errichtung einer russischen Kommune führen muß“,46 die das zaristische System hinwegfegte. Gegenüber den Mordorgien in der Ebd., S. 104 (Hervorhebung im Original). Dort auch die beiden nächsten Zitate. Mit ‚gefährlicher Verblasenheit‘ ist nach Bloch Marx’ Kritik an Ludwig Feuerbach gemeint. 45 Ebd., S. 112. Aber nicht nur er, sondern auch diejenigen, die das freiheitsberaubende Elend marxistischer Systeme genau kennen müßten, gaukeln dieses Hegelsche Hirngespinst ihren Lesern vor. So schreibt A. Arndt: Karl Marx (wie Anm. 30), S. 213: „Der wahre Reichtum und das Reich der Freiheit einer kommunistischen Produktionsweise würde sich nach Marx an dem Reichtum an frei disponibler Zeit für die gesellschaftlichen Individuen, der Minimierung der notwendigen Arbeit bemessen.“ 46 Karl Marx/Friedrich Engels: An den Vorsitzenden des Slawischen Meetings, einberufen am 21. März 1881 zum Jahrestag der Pariser Kommune, in: MEW. Bd. 19, Berlin 1974, S. 244. 43

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marxistischen Sowjetunion wird oft der Schleier des Schweigens gehüllt, und diese Vorgänge werden auch von Bloch rücksichtslos verkehrt in eine Zukunftswissenschaft der Wirklichkeit, die mit wissenschaftlicher Redlichkeit nicht das Geringste zu tun hat: „Erst der Horizont der Zukunft, wie ihn der Marxismus bezieht, mit dem der Vergangenheit als Vorraum, gibt der Wirklichkeit ihre reelle Dimension.“47 Wir können uns vor den Ende der 1980er Jahre revoltierenden Menschen im Ostblock nur voll Ehrfurcht verneigen, daß sie den ungeheuren Mut aufbrachten, auf friedliche Weise und ohne zerstörerische Absicht, aufgrund von Demonstrationen durchzusetzen, daß eine solche revolutionäre Zukunft nun wohl endgültig der Vergangenheit angehört. Wahrscheinlich haben sie aber nicht gewußt, daß die Marxsche ‚Menschlichkeit‘ den archimedischen Punkt gefunden zu haben vorgab, durch den man die gesamte Weltgeschichte mit Hilfe einer proletarischen Revolution aus den Angeln schleudern wollte, auch wenn Millionen arbeitender Menschen dabei zu Grunde gingen. Marx war von der illusionären Hoffnung erfüllt, die absolute Wahrheit des ökonomischen Lebens der Menschheit entdeckt zu haben und leitete daraus das unmenschliche Recht ab, die ‚kapitalistisch-bürgerlichen‘ Gegenmächte, die angeblich nur eine jahrtausendealte Versklavung kannten, zu zerstören.

C. Die enttäuschten Hoffnungen 70 Jahre lang, also ganze zwei Generationen, haben die sowjetischen Herrscher den auf ihrem Territorium lebenden Menschen die Ideologie eingetrichtert, daß sie in einem besseren, gerechteren und humaneren System lebten als die ‚Ausgebeuteten‘ des kapitalistischen Westens mit ihren Demokratien. Was aber hat intelligente Menschen „zur roten Fahne“48 geführt, die angeblich ein Symbol für die menschliche Bereitschaft sein soll, den Unterdrückten und Ausgebeuteten zu helfen? Eine solche Frage muß immer wieder neu gestellt werden, denn wir erleben es ja in vielen politischen Systemen und in unterschiedlichen Religionsgemeinschaften, daß Menschen von gefühlsgetränkten Appellen so stark beeinflußt werden, daß sie bereit sind, andere Menschen zu verfolgen und umzubringen. Der 20ste Jahrestag der Ermordung von fast einer Million Tutsi durch Hutu-Extremisten in Ruanda am 6. April 2014 hat uns daran erinnert, wie anfällig Menschen gegenüber unmenschlicher Propaganda sind. Für Bloch ist jedoch ziemlich eindeutig, was den arbeitenden Menschen zum „Klassenverrat an den Wohlgeborenen“49 geführt hat. „Es gehört also mindestens ein Zusammenwirken von Gemüt, Gewissen und vor allem Erkenntnis dazu, um sozialistisches Bewußtsein gegen das eigene bisherige gesellschaftliche Sein abzuheben.“ Aber ein noch so starkes sozialistisches Bewußtsein gibt nicht die geringste Garantie dafür, daß überzeugte Sozialisten einen 47 E. Bloch: Karl Marx und die Menschlichkeit (wie Anm. 6), S. 116 (Hervorhebung im Original). 48 Ebd., S. 119. 49 Ebd., S. 120. Dort auch das nächste Zitat (Hervorhebung im Original).

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menschlichen Charakter haben und ihr Gewissen zusammen mit der Erkenntnis sie auf einen Weg führt, der Leiden vermeiden hilft. Die revolutionär-sozialistischkommunistische Klasse ging und geht in der Sowjetunion, in der DDR, in Nordkorea, in Kuba oder in China ebenso brutal und menschenverachtend vor wie die schlimmsten Diktatoren in totalitären Regimen, ohne gemütskrank zu werden. Angesichts der oben geschilderten Unmenschlichkeiten von Marx zu behaupten, daß er „ein allzu sicheres Vorbild des roten Intelligenzwegs darstellt: es ist die sich tätig begreifende Menschlichkeit“,50 erscheint mir als eine bewußte Verdummungsstrategie sozialistischer Adepten. Der marxistische Klassenhaß kannte kein christliches Erbarmen, sondern er abstrahierte aus dem scheinbar unausweichlichen Los der Erniedrigten und Unterdrückten das moralische Recht, die kapitalistische Ausbeuterklasse zu vernichten und auszurotten. Es ist leicht, ‚Menschlichkeit‘ im Mund zu führen oder aufs Papier zu bringen, aber schwer, überprüfbare Kriterien dafür aufzustellen, auf welche Weise man Menschen psychisch oder physisch verletzen darf, ohne als unmenschlich zu gelten und ihre Würde zu untergraben. Ich möchte die Leser dieser Abhandlung, wenn sie rationalen Argumenten eine Bedeutung beimessen, darum bitten, sich noch einmal daran zu erinnern, mit welcher unmenschlichen und rücksichtslosen Grausamkeit Marx manche seiner besten Freunde behandelt hat, mit welcher verachtenden Geringschätzung er und Engels den Arbeitern gegenübergetreten sind, um sich der verleumderischen Tragweite der Blochschen Aussage bewußt zu werden: „Die Menschlichkeit von MARX, die den geringsten von seinen Brüdern zugewandte, bewährt sich darin, eben die Geringheit, die entstandene Nullität der meisten seiner Brüder aus dem Fundament zu begreifen, um sie so aus dem Fundament zu beheben.“51 Wenn man mit Blochs Träumen von der Wirklichkeit „den historischen Materialismus von Marx großartig ergänzt und weiterentwickelt“,52 dann will man von einer konkreten, traumatischen Realität wenig wissen und muß sie mit theoretischen Phrasen umhüllen und verhüllen. Dieses angebliche menschliche Fundament ist so tragfähig wie eine Seifenblase, doch davon abgesehen ist erstaunlich, daß man auf einem solchen Bodensatz des dialektischen Materialismus eine Philosophie der Hoffnung aufzubauen wagt, die wissenschaftliche Wahrheit mit Füßen tritt. Es geht hier nicht darum, einem Denker wie Bloch historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sondern um die Frage, ob man unter dem Vorwand der Aufhebung menschlicher Entfremdung unbestreitbare Tatsachen hinweginterpretiert und den falschen Eindruck erwecken darf, daß Marx sich den geringsten Ebd., S. 121 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 122. Man muß schon sehr dem marxistischen „Utopie-Ideologie-Gemenge“ (ebd., S. 133) verfallen sein, wenn man 1968 noch behauptet: „Der Marxismus, in allen seinen Analysen der kälteste Detektiv, nimmt aber das Märchen ernst, den Traum vom goldenen Zeitalter praktisch; wirkliches Soll und Haben wirklicher Hoffnung geht an“ (S. 135, Hervorhebungen im Original). 52 Herbert Schack: Marx – Mao – Neomarxismus (1969). 2. Aufl. Frankfurt am Main 1971, S. 20. 50 51

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seiner Brüder zugewandt habe. Das ist eine historische Lüge und sie sollte auch mit aller Deutlichkeit so benannt werden, weil gerade in kommunistischen Systemen viele Menschen darauf gehofft haben, gerechter und menschenwürdiger behandelt zu werden als sie dies vom Nationalsozialismus oder Faschismus her kannten. Noch heute wird in Rußland durch Wladimir Putin ein chauvinistischer Nationalismus als Ideologie verbreitet und propagiert, weil eine politische Verwirklichung menschlicher Bedürfnisse schwierige Kompromisse zwischen unterschiedlichen Interessen erfordert, die nicht durch einsame Entscheidungen eines Diktators erreicht werden können. Wir sollten uns noch einmal daran erinnern, was die eigentliche Stoßrichtung von Marx’ revolutionärer Kapitalismuskritik war, wenn wir nicht die beschönigende Ansicht vertreten wollen, man müsse sie als „Forderung nach universeller Achtung der Menschenwürde und als Realisierung der Menschenrechte verstehen“.53 Der wahre Feind sind nicht die materiellen Ungerechtigkeiten einer umwälzenden Industrialisierung, die bedenkliche Wohlstandsschere zwischen Armen und Reichen, sondern für Marxisten der Kapitalismus, dem der Marxismus den „Kampf gegen die kapitalistisch kulminierende Entmenschlichung bis zu ihrer völligen Aufhebung“54 angesagt hat. Es wird von Marxisten entweder übergangen oder geleugnet, daß dieser Kapitalismus die im 19. Jahrhundert entstandenen unvorstellbaren Wohlstandsgesellschaften trotz unleugbarer Probleme ermöglicht und durchgesetzt hat. Armut ist ja kein Phänomen des kapitalistischen Zeitalters, sondern spätestens seit dem Mittelalter eine ständig auftretende Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, weil z. B. Bettler in den Städten von der Armenpolizei verfolgt, bestraft und ausgewiesen wurden. Im Jahr 1827 meldete z. B. der Danziger Regierungspräsident, daß unter der Landbevölkerung Unruhen ausbrächen, weil die Agrarreformen die Bauernfamilien verarmen ließen. Bei großer Kinderzahl oder bei schlechten Ernten gerieten die Kleinbauern bei ihrer Ernährung schnell unter das Existenzminimum und würden von Hunger bedroht mit gravierenden Folgen: „Hier lag, wie die Behörden regelmäßig vermelden, die nie versiegende Quelle der ansteigenden Verbrechen: der alltägliche Forstfrevel, die von den ihrer Gemeinheitsanteile Entblößten nicht als Unrecht begriffen werden konnten, der Brandstiftungen – durch Jugendliche, aus Rache oder um in den Genuß der Versicherungsprämien zu gelangen –, der Diebstähle, um überleben zu können, – alles Symptome einer sozialen Krankheit bis hin zur Selbstvernichtung, angefangen bei den Kinderselbstmorden.“55 Es ist durchaus berechtigt, gegenüber den menschlichen Auswüchsen der kapitalistischen Industrialisierung heftige Kritik zu üben, denn wir sind auch heute noch weit entfernt von einer Gleichbehandlung in der Arbeitswelt, von gleichen 53 Georg Lohmann: Marxens Kapitalismuskritik an menschenunwürdigen Verhältnissen, in Rahel Jaeggi/Daniel Loick (Hg.): Karl Marx, Berlin 2013, S. 70. 54 E. Bloch: Karl Marx und die Menschlichkeit (wie Anm. 6), S. 122. 55 Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 1967, S. 505 f.

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Löhnen für gleiche Arbeit bei gleichen Voraussetzungen, doch diesem System ein marxistisches Ideal gegenüberzustellen, das gar nicht verwirklicht werden kann und wo es in die Praxis umgesetzt wurde, zu den größten Ungerechtigkeiten und Unterdrückungsmethoden geführt hat, ist unredlich und unehrlich sowie Vertrauen zerstörend. Bloch hielt jedoch noch 150 Jahre nach Marx’ Geburt an der verzweifelten Illusion einer revolutionären Umwälzung fest, weil sich angeblich die ökonomischen Ausbeutungsstrukturen des Kapitalismus nicht verändert hätten: „Originärer Marxismus jedenfalls enthält noch in seiner Vergangenheit so viel unabgegoltene Zukunft, als stünde das, was er unter Weltverbesserung meint, in unserer so reizend zustandegebrachten Welt immer noch bevor.“56 Theoretisierende Sozialwissenschaftler stehen oft vor dem Problem, daß sie die Verhältnisse der Arbeitswelt gar nicht kennen, die sie analysieren. Und viele Denker konnten und können sich nicht aus der begrifflichen Falle befreien, in die sie durch betörende Gedankengebäude hineingeraten sind, weil sie nicht die ‚Probe aufs Exempel‘ machen, d. h. danach fragen, wie der reale Kommunismus den Menschen ihre Freiheits- und Selbstverwirklichungsrechte entzogen hat. Dazu ein Beispiel: Der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer (1908 – 1993) z. B., der als Mitglied der Bekennenden Kirche aufgrund der Barmer Theologischen Erklärung vom 31. Mai 1934 staatliche Übergriffe auf die evangelische Kirche und die Rassenpolitik des NS-Regimes ablehnte, konnte sich vier Jahrzehnte später nicht aus der marxistischen Ideologie einer befreiten Arbeiterschaft in einer klassenlosen Gesellschaft lösen: „Wenn nach Marx die Menschlichkeit aller, auch der Kapitalisten, durch die kapitalistische Produktionsweise verkrüppelt wird, so gilt heute erst recht, daß die Befreiung von ihr eine Befreiung aller sein wird.“57 Doch Marx hatte nicht die menschliche Behandlung der Menschen im Kapitalismus im Blick, sondern nur die Befreiung dieser Menschen durch eine Revolution, die dieses System samt ihrer Bewohner zerstört hätte. Es muß deshalb mit aller Deutlichkeit gesagt und niedergeschrieben werden: Nicht politische oder soziale Reformen standen auf der Agenda von Marx und den Marxisten, sondern die revolutionäre Vernichtung eines Systems, das sich noch gar nicht richtig etabliert hatte und ständigen Veränderungen unterworfen war und sie selbst vorantrieb. Der Kapitalismus im 19. Jahrhundert hatte reichlich politische und ökonomische Hürden zu überwinden, was ihm nur teilweise gelungen ist, aber gerade die Klassengegensätze sind durch ein durchlässigeres soziales System mit beruflichen Aufstiegschancen auch für männliche wie weibliche Arbeiterkinder gemildert worden. Nicht nur die Schul- und Universitätsausbildung wurde allen Schichten ermöglicht sowie die Schulpflicht gesetzlich eingeführt, sondern die Analphabetenrate wurde während des 19. Jahrhunderts drastisch gesenkt. Auch auf sozialen Gebieten fanden gravierende Veränderungen statt, selbst wenn nicht alle Gruppen davon profitierten. Wir brauchen uns nur ein wenig zu verdeutli56 Ernst Bloch: Aufrechter Gang, konkrete Utopie. Zum 150. Geburtstag von Karl Marx, in: Die Zeit, Nr. 19. Freitag, den 10. Mai 1968, S. 21. 57 Helmut Gollwitzer: Die kapitalistische Revolution, München 1974, S. 11.

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chen, was es bedeutete, daß in Berlin zwischen 1855 und 1898 die Beteiligung von Arbeiterinnen an der Prostitution von 71 auf 43 % gesunken war, während die Beteiligung von Dienstmädchen als Prostituierte im gleichen Zeitraum von sieben auf 51 % gestiegen ist.58 Dann können wir verstehen, daß nicht Klassengegensätze die entscheidende Rolle spielten, sondern daß die unveränderte preußische Gesindeordnung von 1815 weibliche Dienstboten zu Opfern unbefriedigter Sexualgelüste von Berliner Männern, oft preußischen Grenadieren, machte. Der eigentliche Grund dafür war die unverhältnismäßig schlechte Bezahlung von weiblichen wie männlichen Bediensteten. Männliche Dienstboten erhielten in den Dörfern im Jahr 1850 einen Jahreslohn von 92,96 Mark und in den Städten 129,92; Dienstmädchen im gleichen Jahr 44,80 Mark in den Dörfern und 53,76 Mark in den Städten. Zwar erhöhte sich der Jahreslohn für Dienstboten bis 1885 auf 182,56 Mark (Dörfer) bzw. 250,88 Mark (Städte), doch lagen dieser Verdienste weit unter den Löhnen sowohl von ungelernten wie gelernten Arbeiter/innen und selbst freie Kost und Logis konnte diese Verdienstlücke keineswegs verringern.59 Auch wenn die heutige Jugend keine eigenen Vorstellungen mehr davon besitzt, wie ihre Groß- und Urgroßeltern gelebt haben, Bloch konnte sich sicher noch daran erinnern, unter welchen erniedrigenden Bedingungen Menschen im 19. Jahrhundert in Bergwerken, in Maschinenfabriken oder an Hochöfen, ja selbst in der Landwirtschaft, gearbeitet und ihr dürftiges Leben ertragen haben. Es war der durch den Kapitalismus hervorgerufene technische Fortschritt, der viele Arbeitserleichterungen sowie eine ungeheure Zunahme der Produktivität ermöglichte, die dazu beitrugen, daß Menschen nach einem langwierig erkämpften Urlaubsanspruch ihre Freizeit nicht nur zur Regeneration von Arbeitsstreß, sondern auch zu Freizeitvergnügungen und Urlaubsreisen nutzen konnten und können. Die von Marxisten lancierte Vorstellung, wir könnten gesellschaftliche Veränderungen durchführen ohne irgendwelche negativen Folgen, vernachlässigt die menschliche Erkenntnis, daß jede Veränderung ihren Preis hat. Der Kapitalismus bzw. die Gewinnchancen durch neue Produkte haben ebenfalls dazu beigetragen, unser tägliches Leben durch den Einsatz von Waschmaschinen, Kühlschränke, Autos oder Handys zu erleichtern, auch wenn wir nicht die Augen davor verschließen dürfen, daß technischer Fortschritt problemfrei zu haben wäre. Alle diese zwiespältigen Folgen des Kapitalismus der letzten 250 Jahre scheinen für Bloch unbedeutend, weil sie ganz unspektakulär und ohne revolutionäres Getöse in den Alltag der arbeitenden Menschen eindrangen und eindringen. Für ihn besteht das Blochsche ‚Prinzip Hoffnung‘ darin, durch mörderischen Klassenkampf Menschlichkeit zu befördern, doch die konkreten Nöte von Menschen sind wenig präsent. Ist es nicht eher so, daß der revolutionäre Marxismus die menschliche Selbstentfremdung dazu benutzt hat, um eine totalitäre Macht – eben die Diktatur des Proletariats, diese Zentralkategorie der marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie – zu etablieren, in der Vgl. Zeitschrift für Socialwissenschaft, IV. Jg., 1901, S. 132. Vgl. Der Arbeiterfreund. Zeitschrift des Centralvereins in Preußen für das Wohl der arbeitenden Klasse, 27. Jg., 1889, S. 357. 58 59

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die „marxistische Menschlichkeit“60 das verwirrende Feigenblatt für größte Unmenschlichkeiten darstellte? Ernst Bloch, der Nationalpreisträger der DDR 1955 und nach seiner Zwangsemeritierung in die BRD Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels 1967, lieferte m. E. in seinem Buch und mit seiner Forderung „eines sich endlich unentfremdeten Christentums“61 wenig überzeugende Argumente. Aus dieser Forderung geht weder klar hervor, ob er einen christlich angehauchten Atheismus oder ein arisches Christentum meint – wie es der Rassist Houston Stewart Chamberlain propagierte – noch welche sachliche Begründung es für die These gibt: „Das Erzhumanistische sozialer Revolution hebt die Decke der Selbstentfremdung von der gesamten Menschheit schließlich weg.“62 Es ist der gleiche Revolutionsfanatismus wie bei Marx; nur die ideologische Verpackung ist subtiler und sprachlich so seidenweich verpackt, daß manche daraus eine friedliche Einstellung herausgelesen haben. Vielleicht liegt darin die geheime Anziehungskraft des Marxismus auf Theologen, daß durch ein unentfremdetes Christentum die gesamte Menschheit in eine gottgegebene Menschlichkeit überführt werden könnte, für die eine konkrete Verantwortung durch die handelnden Instanzen nicht mehr übernommen zu werden braucht. Allerdings scheint mir der kapitalistische Preis, der dafür gezahlt werden muß, viel zu hoch, nämlich eine zunehmende Distanzierung von den wirklichen Problemen gläubiger Menschen, die durch eine vage Hoffnung auf ein ewiges Leben nicht gelöst werden. Wir müssen unser eigenes menschliches Kreuz tragen, d. h. wir dürfen die Verantwortlichkeit für unser Handeln nicht delegieren an historische Gesetzmäßigkeiten oder an einen göttlichen Heilsplan, sondern die beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen unserer Entscheidungen vernünftig abwägen. Die ‚soziale Revolution‘ war in den Augen von Marx und den Marxisten ein brutales Instrument zur völligen Vernichtung des kapitalistischen Feindes, ein mörderischer Krieg der internationalen Arbeiterklasse gegen das eingebildete Phänomen eines ausbeuterischen Kapitalismus. Heute wissen wir mit großer Deutlichkeit, daß die marxistischen Herrschaftssysteme in ihrer unmenschlichen Behandlung von Gegnern des Marxschen ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘ nicht viel humaner waren als faschistische oder totalitäre Regierungen, aber den idealistischen Glorienschein noch immer aufgesetzt bekommen. Hoffnung auf ein besseres, schöneres und gerechteres Leben ist eine andauernde Triebkraft menschlichen Handelns, selbst wenn vielfältige Rückschläge auftreten und wir selten vollkommen glücklich sein können. Das ‚Streben nach Glück‘, wie es in der amerikanischen Verfassung verankert wurde, ist in einer demokratischen Gesellschaft ein rein privates Anliegen und sollte niemals Ziel einer staatlichen Politik sein, denn ‚Glück‘ bedeutet für Menschen etwas sehr Verschiedenes und sollte nicht von oben oktroyiert werden. Es ist gar nicht einzusehen, warum menschliche 60 61 62

E. Bloch: Karl Marx und die Menschlichkeit (wie Anm. 6), S. 122. Ebd., S. 148. Ebd., S. 122.

C. Die enttäuschten Hoffnungen

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Hoffnung und nüchterne Vernunft nicht vollständig ohne marxistische Ideologie eine bessere Zukunft gestalten können, wenn wir bereit sind, tolerante Kompromisse einzugehen und nicht alles auf eine revolutionäre Karte zu setzen. Ein friedliches Zusammenleben von Menschen, das zeigen die unendlichen Flüchtlingsströme aus außereuropäischen Kriegsgebieten nach dem kapitalistischen Europa, scheint heute ein so hohes Gut, daß selbst das eigene Leben dafür eingesetzt wird. Wir selbst müssen unsere Probleme erkennen und versuchen, eine angemessene Lösung dafür zu finden; ein problemverdüsterndes Vertrauen auf göttliche Hilfe wird dabei für rationale Menschen ebenso zu enttäuschter Ernüchterung führen wie alle Heilsversprechen pseudoreligiöser Gemeinschaften. Diese dienten und dienen meistens dazu, die konkrete Verantwortung für unsere oft fehlerhaften Handlungen abzuwälzen oder anders ausgedrückt, das menschliche Kreuz nicht tragen zu wollen, das uns von unserer menschlichen Unvollkommenheit auferlegt ist. Leiden und Schmerzen gehören zur menschlichen Existenz wie Glück und Liebe, doch nur wenige Menschen sind in der Lage, die negativen Aspekte auch noch im hohen Alter auszublenden. Die Erkenntnis unserer menschlichen Endlichkeit bzw. die Sicherheit, daß wir sterben müssen, mag ein schmerzlicher Vorgang sein, doch sie kann uns auch offener werden lassen für die Nöte und Beschwerden anderer. Der aufrechte Gang Immanuel Kants, dessen humaner Imperativ darin besteht, den anderen zu achten und zu respektieren bzw. die aufklärerische Idee, das jeder von uns seines eigenen Glückes Schmied ist, konnte einen Marxverehrer wie Bloch nicht beeindrucken: „Die Vernunft kann nicht blühen ohne Hoffnung, die Hoffnung nicht sprechen ohne Vernunft, beides in marxistischer Einheit – andere Wissenschaft hat keine Zukunft, andere Zukunft keine Wissenschaft.“63 Ein solches extremes, einseitiges Urteil gleicht einem religiösen Dogma, etwa der Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubensfragen, denn in beiden Fällen werden gegenteilige Ansichten für alle Zeiten ausgeschlossen, weil sie ‚keine Zukunft‘ haben. Welche unendlichen Leiden die ‚marxistische Einheit‘ über Millionen von Menschen gebracht hat, das wollte der Philosoph Bloch in seiner Studierstube nicht sehen, weil es seine Vernunft vor die entscheidende Frage gestellt hätte, wie abstrakte Theorie und konkrete Praxis sich miteinander vereinbaren lassen? Wir sollten uns unseren wissenschaftlichen Optimismus und unsere Fähigkeit zur Lösung von schwierigen Problemen nicht dadurch beeinträchtigen lassen, daß wir solche dogmatischen Scheingewißheiten ernst nehmen bzw. ‚auf den Leim‘ gehen, denn alle Menschen sind fehlbar, seien sie Marxisten oder Päpste. Eine gerechtere Welt kann nicht durch Revolutionen oder Kriege aufgebaut werden, sondern durch permanente Reformen, die die veränderten Bedingungen eines industriellen Wettlaufs von Nationen einbeziehen und von politischen Akteuren, die sich ihrer Verantwortung gegenüber den benachteiligten Menschen bewußt bleiben. Wenn wir echte Menschlichkeit 63 Ebd., S. 132 (Hervorhebung von mir). Dieser unwissenschaftliche Dogmatismus der reinen, unbezweifelbaren marxistischen Lehre ist der größte Feind jeder kritisch-rationalen Wissenschaft.

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10. Kap.: Die Marxbeschöniger: Beispiel Ernst Bloch

im Zusammenleben von friedliebenden Völkern erreichen wollen, dann gibt es nur einen Weg: Die Errichtung und Ausbreitung parlamentarischer Demokratien auf der Grundlage freiheitlicher Verfassungen.64

64 Vgl. Hubert Kiesewetter: Kritik der modernen Demokratie, Hildesheim/Zürich/New York 2011.

11. Kapitel

Resümee 11. Kap.: Resümee 11. Kap.: Resümee

Soziale Revolution und Zerstörung des kapitalistischen Systems, darin verbrüderten sich die beiden Kommunisten; und Marx’ eigentliche Intentionen und bombastisch falsche Theorien entsprangen nicht einem humanistischen oder freiheitlichen Impuls, sondern bestanden zeitlebens darin, seine konkreten und abstrakten Feinde, ob dies nun ehemalige Freunde, Unternehmer oder das kapitalistische System war, zu vernichten. Revolution und nochmals Revolution war das unablässige Credo des Politikers Marx, der diese Ideologie an viele seiner Anhänger weitergegeben hat, von denen einige historische Umstände vorfanden, in denen sie den Marxschen Revolutionsfanatismus in die konkrete Praxis umsetzen konnten. „Weder Engels noch Marx kann man vernünftigerweise die Schuld an Verbrechen geben, die Generationen nach ihnen verübt wurden, auch wenn sich die Täter auf sie berufen.“1 Doch sie tragen wegen ihrer maßlosen Intoleranz und ihrer fanatischen Gewaltbereitschaft eine historische Mitschuld an kommunistischen Verbrechen, die in ihrem Namen und auf der Grundlage ihrer Ideologie begangen wurden. Der bis zum Volksaufstand vom 17. Juni 1953 leitende Funktionär in der kommunistischen Jugendbewegung in der DDR und Mitglied der KPD, Günter Bartsch (1927 – 2006), der sich nach der Niederschlagung des Aufstandes durch sowjetische Panzer vom Kommunismus abwandte, schrieb: „Marx hat großen Anteil am Aufblühen der sozialistischen Bewegung, an ihrer organisatorischen Ausbreitung, geistigen Festigung und internationalen Verbindung gehabt. Die Schriften von Marx, auch das Kommunistische Manifest, halfen nicht nur dem Kommunismus, seinen Einfluß auszudehnen, sondern haben mit der Zeit auch zur Anwerbung Hunderttausender von Sozialisten geführt, die bei gleichzeitiger Ablehnung des Kommunismus viele Gedanken von Marx als richtig und treffend empfanden.“2 Der marxistische Sozialist ist gegenüber einem gewöhnlichen demokratischen Staatsbürger dadurch bevorteilt, daß sein Handeln nach Marx auf einem weltgeschichtlichen Gesetz beruht, das der Geschichte immanent ist, d. h. er braucht die siegreiche Entwicklung über den Kapitalismus nur geduldig abzuwarten. Was Hegel aus seinem philosophischen Zylinderhut als „Weltgeist“ hervorgezaubert hat, dies kehrte bei dem Hegelianer Marx als „geschichtliche Notwendigkeit“ wieder und die ‚wissenschaftliche‘ Hauptaufgabe bestand darin, diese scheinbaren Gesetzmäßigkeiten zu entdecken und der Welt zu präsentieren. Man könnte eine Vielzahl weiterer Marxisten und Nichtmarxisten anführen, die sich zwar in ihren Interpretationen des Marxschen Tristram Hunt: Friedrich Engels, Berlin 2012, S. 481. Günter Bartsch: Kommunismus, Sozialismus und Karl Marx. 3. Aufl. Bonn 1969, S. 119. 1

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11. Kap.: Resümee

Werkes zum Teil erheblich unterscheiden, doch nur ausnahmsweise bestreiten würden, daß der sowjetische Kommunismus Leninscher Prägung fundamental auf den verschiedenen Theorien und Anweisungen von Marx und Engels beruhte. Marx hat sein ganzes Leben lang einer Revolutionsillusion angehangen, weswegen es wenig aussagekräftig ist, zu behaupten: „Das Ausbleiben der seit 1848 immer wieder vergeblich erhofften Revolution verschaffte Marx die Zeit, um seinen dialektischen Scharfsinn auf die verstehende Nachkonstruktion der Struktur- und Bewegungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft zu konzentrieren.“3 Natürlich hat er in seinem Londoner Exil im British Museum intensiv an der Ausarbeitung des Kapital und anderen Veröffentlichungen gearbeitet, aber den Eindruck zu erwecken, daß damit sein sehnlichster Wunsch nach einer von der internationalen Arbeiterklasse getragenen Weltrevolution in den Hintergrund getreten sei, kann verglichen werden mit der kommunistischen Ideologie, daß es eigentlich eine Revolution in Permanenz geben müsse, die den gesamten Weltkapitalismus vernichtet, um eine klassenlose Gesellschaft aus dem Nichts entstehen zu lassen. Lange genug hat diese marxistische Ideologie ihr politisches Unwesen getrieben; es wird Zeit, daß wir uns endgültig von ihr emanzipieren und uns nicht mehr durch tiefgründiges Wortgeklingel und extensive Interpretationen überrumpeln und übertölpeln lassen. Nicht der vielgescholtene Kapitalismus, sondern der marxistische Kommunismus hat sich als das eigentliche Ausbeutersystem erwiesen, dem wir endgültig nach seinem Untergang ein ‚Lebe wohl‘ nachrufen sollten. Dies gilt ganz besonders in Demokratien oder offenen Gesellschaften, in denen rechte oder linke Ideologien ersetzt werden sollten durch unablässige Bemühungen, politische Lösungen für konkrete Probleme zu finden und den Bürgern nicht vorzugaukeln, daß ein historisches Schicksal ihnen eine besondere Rolle zugewiesen habe. Diese Ideen haben Marx und Engels ununterbrochen verbreitet, um die angebliche Objektivität ihres ‚wissenschaftlichen Materialismus‘ zu untermauern. Wissenschaftlich ist ein ‚Materialismus‘ aber erst dann, wenn er die faktischen Widerlegungen einer historischen Realität so ernst nimmt, daß er bereit ist, seine Theorien zu revidieren oder aufzugeben. Dies war weder bei Marx noch bei Engels jemals der Fall, sondern sie haben ihre angeblichen Erkenntnisse mit einer rigorosen und dogmatischen Gewißheit hinausposaunt und nicht den geringsten Zweifel daran gelassen, daß eine rationale Kritik daran nur bürgerlichen Fehleinschätzungen entsprungen sein kann. Auf dieselbe Weise sind kommunistische Regierungen gegen Konterrevolutionäre vorgegangen mit dem allerdings fatalen Unterschied, daß sie über die entsprechenden Machtmittel verfügten, um Abweichler kaltzustellen oder umzubringen. Linker wie rechter Totalitarismus kann niemals zu einem gerechten, die materiellen Bedürfnisse der arbeitenden Menschen berücksichtigenden Gesellschaftssystem führen, denn die politische Macht in den Händen einer einzigen Partei, der Diktatur des Proletariats, führte und führt zu Machtmißbrauch und Unterdrückung. Gerade in Deutschland gab es nach dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein totalitäres System, das Marxismus, Judentum und Kapitalismus 3

Iring Fetscher: Der Marxismus, München 1967, S. 37 f.

11. Kap.: Resümee

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als die größten Feinde des echten Deutschtums angesehen hat und sich in seiner rechthaberischen Ideologie nur wenig vom Marxismus unterschied. „Der verlogene, verfälschte Sozialismus, Marxismus genannt, mußte überwunden werden, um dem echt deutschen Sozialismus die Bahn freizumachen.“4 Gott sei Dank ist dieser nationalsozialistische Wahnsinn, das Hitlerregime, besiegt und überwunden worden, doch wir sollten nicht vergessen, daß Marxismus und Nationalsozialismus auf ähnlichen vernichtungswütigen Ideologien beruhen. Wenn allerdings der CDU-Politiker Heiner Geißler noch 2005 behauptete: „Der Kapitalismus ist genau so falsch wie der Kommunismus“, dann darf man wohl fragen, was die Politik aus der Geschichte gelernt hat. Marx und der Marxismus hat sowohl in der Wissenschaft als in der Politik tiefe menschliche Spuren und Wunden hinterlassen, die nicht so leicht zugeschüttet werden können bzw. verheilen. Der Versuch Rußlands, nach der Auflösung der kommunistischen Sowjetunion eine demokratische Entwicklung in Gang zu setzen, ist auch daran gescheitert, daß ein großer Teil der Bevölkerung jahrzehntelang in einer Freund-Feind-Ideologie erzogen worden war, die nationale Größe, militärische Stärke und eine politisch durchsetzungsstarke Führerpersönlichkeit als wichtiger einschätzen als ein friedliches Zusammenleben mit den abtrünnigen Sowjetrepubliken. Lenin und Stalin waren überzeugte Marxisten und auch Wladimir Putin ist zumindest während seiner politischen Karriere in der UdSSR marxistisch indoktriniert worden, d. h. Marx steht am Anfang und am Ende. In der ganzen Wissenschaftsgeschichte seit der Frühen Neuzeit gibt es wohl keinen ähnlichen Fall von einer ungeheuren geistigen Potenz, die gepaart ist mit zerstörender Vernichtungswut und abgrundtiefem Haß gegenüber realen und imaginierten Gegnern wie Marx. Ob seine Charakterisierung als „eines humanitär und edelgesonnenen Idealisten“5 der historischen Wirklichkeit und der Person von Karl Marx entspricht, muß nach allem, was hier anhand der Äußerungen von Marx geschildert worden ist, mehr als bezweifelt werden; ich halte sie für eine grobe Fehldeutung. Tatsächlich müssen wir die Verdrehungen und Beschönigungen der Äußerungen dieses selbsternannten Revolutionärs, der seine ungeheure Arbeitskraft aus diesem Fanatismus gezogen hat, aufdecken und zurückweisen. Marx’ Dialektik überspielte einige Schwachstellen seines Revolutionsfanatismus, aber sie kann nicht aus der Welt schaffen, daß ihm eine reformerische Politik zutiefst zuwider war, die er rigoros bekämpfte und verurteilte, weil es für ihn nur ein Alles oder Nichts geben konnte. Übrigens brauchen wir in der Wissenschaft wie auch in der Politik mehr Realisten als Idealisten, um erkennen zu können, worin die eigentlichen menschlichen Probleme bestehen und wie wir dafür sachadäquate Lösungen erarbeiten können. Die marxistische ‚Wissenschaft‘ hat in vielen klugen Köpfen über ein Jahrhundert Georg Schott: Das Vermächtnis H. St. Chamberlains, Stuttgart 1940, S. 64. Fritz J. Raddatz: Karl Marx (1975). 2. Aufl. München 1978, S. 205. Raddatz sieht in Marx’ Kapital „neben der Motorik des humanitären Appells auch die Dialektik eines theoretischen Exerzitiums“ (S. 309) angelegt. 4

5

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lang ein theoretisches Unheil angerichtet, das noch heute zu der Ansicht führt, Marx verteidigte „die großen bürgerlichen Ideale von Freiheit, Vernunft und Fortschritt“.6 Das ist nicht nur eine unerhörte Verfälschung von Marx, sondern eine empörende Verhöhnung demokratischer Staaten, denn eine freiheitliche, vernünftige und fortschrittliche Gesellschaft benötigt keine revolutionären Phantasien und erst recht keine Revolutionen. Wenn die Periode seit den 1960er Jahren wirklich als „eine neue Epoche in der Entwicklung des an Marx anknüpfenden Denkens betrachtet werden“7 kann, in der es möglich wurde, ein durch den Stalinismus „weitgehend blockiertes innovatives Theoriepotential freizusetzen“, dann kann man nur noch konstatieren, daß sich das theoretische Erkenntnisvermögen dieser Interpreten wenig entwickelt hat. Denn trotz der totalitären Herrschaft Stalins, der in den 1930er Jahren „mit seinem irrationalen Massenterror als absolute und totale Negation aller Grundwerte der Demokratie und Humanität, ja als Todfeind eines jedweden Sozialismus“8 wütete und Millionen seiner Landsleute umbringen ließ, wurde der Marxismus als Parteidoktrin sowohl in der UdSSR als auch in anderen kommunistischen Staaten bis zur Zeitenwende 1989 beibehalten. In der sprachlichen Heimat von Marxisten und Weggefährten Marx’ und Engels’ im 19. Jahrhundert, wie August Bebel (1840 – 1913), Eduard Bernstein (1850 – 1932), Karl Kautsky (1854 – 1938), Wilhelm Liebknecht (1826 – 1900) oder Franz Mehring (1846 – 1919), wurde ein Jahr vor dem Tod Stalins am 5. März 1953 ein Lied bzw. Gedicht des Nationalpreisträgers Erich Weinert zur deutsch-sowjetischen Freundschaft abgedruckt, in dem die tiefe Verbundenheit mit der glorreichen Tradition des Marxismus-Leninismus beschworen wurde: „Deutsches Volk, dir reicht die Hände Das Sowjetvolk wie ein Freund. Das von Henkern uns befreite, Steht uns brüderlich zur Seite, Schützend uns vor neuem Feind. Mächtig brausen die Betriebe, Unser Feld gibt dreifach Brot, weil wir vom Sowjetvolk lernten, Neu zu planen, neu zu ernten. Wissenschaft vertrieb die Not. Schließen wir den Bund des Lebens Gegen Krieg und Völkerhaß! Steht der Weltfeind auch in Waffen, Stalin hilft uns Frieden schaffen, Und auf Stalin ist Verlaß. Gruß dir unterm roten Sterne, 6 7 8

Terry Eagleton: Warum Marx recht hat, Berlin 2012, S. 257. Jan Hoff: Marx global, Berlin 2009, S. 297. Dort auch das nächste Zitat. Ossip K. Flechtheim: Weltkommunismus im Wandel, Köln 1965, S. 8.

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Friedensland, Freundesland! Hör den Dank aus unserem Liede! Deutschlands Freiheit, Deutschlands Friede Ruhn in Stalins Freundeshand.“9

Wenn immer wieder der Eindruck erweckt wird, daß Marx (und Engels) mit diesem Personenkult in totalitären kommunistischen Systemen gar nicht in Verbindung gebracht werden könnten, weil sie in der Tradition des aufgeklärten Individualismus stünden, dann sollten sich solche Autoren einmal fragen, welche Transmissionsmöglichkeiten zwischen einem Gedankengebäude und dessen politischer Verwirklichung vorhanden sind und ergriffen werden können. Gewalt, Umsturz und Revolution waren und sind die unaufhebbaren Fundamente der marxistischen Ideologie. Das einfache Gedankenexperiment, welches Staatsmodell wohl in marxistisch-kommunistischen Herrschaftssystemen verwirklicht worden wäre, wenn Marx und der Marxismus niemals existiert hätten, kann uns bereits verdeutlichen, daß die gerne benützte Ausrede, Marx trüge für diese Systeme keine Verantwortung, wenig Plausibilität erheischen kann. Doch abgesehen von diesen kontrafaktischen Überlegungen sind sowohl die theoretische wie die politische Entwicklung des Marxismus-Leninismus zu einem freiheitsfeindlichen Staatsmodell ohne die antikapitalistischen Schriften und politischen Aktivitäten von Karl Marx und Friedrich Engels überhaupt nicht denkbar, die nicht den Individualismus, sondern den Kollektivismus an ihre revolutionäre Fahne hefteten. Sie haben zwar kein ausgearbeitetes Staatsmodell entworfen, das man als Blaupause für eine Diktatur verwenden könnte, aber was sie über eine kommunistische Gesellschaft, über Verstaatlichungen, Parteienherrschaft, Diktatur des Proletariats oder militärische Arbeiterheere geschrieben haben, wurde zum politischen Fundament von Leninismus und Stalinismus. Wir brauchen gar nicht auf die Tausende von (teilweise widersprüchlichen) Interpretationen von Intellektuellen oder Politikern einzugehen, um plausibel zu machen, daß Marx eine weltweite Bewegung eines verheerenden Kampfes gegen ‚kapitalistische Ausbeutung‘ in Gang gesetzt hat bzw. daß die kommunistischen Staaten ihre menschenverachtende Ideologie auf das Marxsche Gedankengebäude aufbauten. Zum 100. Todestag von Karl Marx, am 14. März 1983, gaben die Institute für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED und beim ZK der KPdSU einen Band von Kondolenzschreiben und Nekrologen der beiden Vordenker der proletarischen Weltanschauung heraus und betonten: „Die Klassiker des MarxismusLeninismus rüsteten die Arbeiterklasse mit der Wissenschaft vom Kampf für ihre soziale Befreiung und vom Aufbau des Sozialismus und Kommunismus aus. Sie schufen so die notwendigen theoretischen Voraussetzungen dafür, daß die Arbeiterklasse ihre welthistorische Mission erfaßte und sie inzwischen in verschiedenen Regionen unseres Planeten verwirklichte.“10 Man kann dies leichtfertig als eine 9 10

Zitiert in: Freundschaft der Tat, Berlin 1952, S. 7. Ihre Namen leben durch die Jahrhunderte fort, Berlin 1983, S. 6.

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kommunistische Propaganda abtun, doch man kann mit nur geringer Glaubwürdigkeit behaupten, daß diese mit Hunderten von Wissenschaftlern ausgestatteten Institute die politischen Anliegen der Heroen des Historischen Materialismus völlig mißverstanden und verfälscht haben. Heute, wo nicht nur die unvorstellbaren Verbrechen im Dritten Reich, sondern auch die in kommunistischen Staaten nicht mehr verschwiegen werden können bzw. aufgedeckt worden sind, ist es für viele Autoren beschämend, jahrzehntelang marxistische Theorien vertreten zu haben, deren menschenverachtende Inhalte nicht mehr geleugnet werden können. Sie flüchten sich deshalb verständlicherweise, auch wenn dies mit wissenschaftlicher Redlichkeit wenig gemein hat, in Interpretationskonstruktionen, die Marx in einem möglichst günstigen Licht erscheinen lassen, ohne seine politischen Wirkungen zu thematisieren. Das war im 19. Jahrhundert sowohl unter seinen Gegnern als auch seinen Anhängern noch ganz anders. Die Charakterisierung durch seinen Mitarbeiter und verantwortlichen Redakteur der Rheinischen Zeitung, wenn Marx in Trier weilte, Karl Heinzen, scheint mir den wirklichen Marx eher zu treffen als alle nachträglichen Beschönigungen seiner Schüler und sozialistischen Adepten bzw. von bekennenden Marxisten. Neben verschiedenen Unstimmigkeiten über die redaktionelle Ausrichtung der Zeitung, die zwischen beiden ausgetragen wurden, wollte Marx Heinzen für eine Intrige benutzen, um „vom Kosmos für die gefährlichste Feder des Universums gehalten zu werden“.11 Dies entsprach ganz der Marxschen Selbsteinschätzung und wurde ihm öfter auch von anderen Weggefährten bescheinigt. Heinzen sollte einen gefälschten Bericht über Marx’ Tätigkeit bei der Rheinischen Zeitung schreiben, weigerte sich aber, dies zu tun, worauf er sich Marx’ Zorn einhandelte: „Eine gelungene Intrigue oder ein wirksamer Angriff gegen einen Schriftsteller und Politiker, den er als Rivalen ansieht, gilt ihm mehr, als jedes siegreiche Prinzip, und die größte Freude, die dieser bübische Egoist in der Welt kennt, ist die Schadenfreude.“12 Nach Arthur Schopenhauer ist Schadenfreude ein eindeutiges Zeichen dafür, daß kein Mitleid vorhanden ist und man nicht Schaden von seinem Nächsten abwenden will. Die Heinzensche Beurteilung der charakterlichen Eigenschaften von Marx, den er ja Anfang der 1840er Jahre gut kennengelernt hatte, lautete: „Ich hielt daher in der That große Stücke auf ihn und hätte in meinem jungfräulichen Schriftstellerenthusiasmus sein bester Freund werden können, wenn ich nicht herausgebracht hätte, daß er ein unzuverlässiger Egoist und lügnerischer Intrigueant war, der keine Uebereinstimmung von Gesinnungen und kein aufrichtiges Wohlwollen an eine fremde Persönlichkeit attachiren konnte, sondern der Andere nur auszubeuten suchte und fast noch mehr von gemeinem Neid gegen fremde Leistungen, als von eigenem Ehrgeiz beherrscht wurde.“13 Solche Einschätzungen werden von Marxisten natürlich nicht zitiert, weil sie eventuell die moralische Integrität und damit die theoretische Überzeugungskraft des großen Idols des Marxismus beschädigen 11 12 13

K. Heinzen: Erlebtes. II. Theil, Boston 1874, S. 431. Ebd., S. 441. Ebd., S. 425 f.

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könnten. Aber kritische Denker müssen nach einer Antwort auf die drängende Frage suchen, warum ein Mensch wie Marx keinerlei menschliche Rücksichten kannte gegenüber seinen treuesten Weggefährten, obwohl er doch ein liebenswerter Vater und ein verständnisvoller Ehemann gewesen sein soll. Die theoretische Einzigartigkeit dieses jahrzehntelangen verbissenen Kampfes gegen eine tatsächliche Welt, die sich im vollständigen Gegensatz zu Marx’ (und Engels’) Theorien entwickelte, kann m. E. nur durch einen menschenfeindlichen Dogmatismus und revolutionären Fanatismus erklärt werden. Trotzdem gibt es Historiker, die dies nicht Marx anlasten, sondern einer „völlig dogmatische(n) Interpretation durch die Parteiideologen“.14 Es ist allerdings zu fragen, was dies über die Wahrheitsliebe eines solchen Denkers aussagt, der verbissen an falschen Theorien festhielt, auch wenn sie durch die realen Verhältnisse und durch viele ökonomische Abhandlungen längst widerlegt waren. In diesem dogmatischen Fanatismus besteht wohl auch der tiefere Grund, warum Marx mit seiner höchst negativen Weltsicht nie versucht hat, ein konkretes Gesellschaftssystem des Sozialismus oder Kommunismus zu entwerfen. Die positiven Aspekte der marxistischen Lehre muß man sich mühsam aus Tausenden von Seiten herausfiltern, ohne auch nur ansatzweise ein konsistentes System erkennen zu können. Was er und Friedrich Engels als Ideal einer kommunistischen Gesellschaft ansahen, war die romantische Verklärung eines unrealisierbaren Zustandes, in der „die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“.15 Auch der marxistische Theoretiker Kautsky (1854 – 1938) – und nach ihm etwa Jürgen Kuczynski in der DDR – erwartete vom Sozialismus wahre Wunderdinge, nämlich ein völlig neues Proletariat: „Er wird den Menschen Sicherheit, Ruhe und Muße bringen, er wird ihren Sinn über die Alltäglichkeit erheben, weil sie nicht mehr alltäglich darauf werden sinnen müssen, woher das Brod für morgen zu beschaffen. Er wird die Persönlichkeit unabhängig machen von anderen Persönlichkeiten und so das Knechtsgefühl wie die Menschenverachtung ausrotten.“16 Daß eine solche Gesellschaft, die eine notwendige Spezialisierung der Produktion leugnet, um an ihre Stelle eine völlige Beliebigkeit des alltäglichen Lebens zu setzen, niemals auch nur einen halbwegs erträglichen Wohlstand zustande bringen kann, muß jedem klar sein, der die gesellschaftlichen Mechanismen ansatzweise kennt, denn beliebige Kenntnisse können nicht nur zu einer spezialisierten Produktion nichts beitragen, sondern sie verhindern die Entfaltung individueller Fähigkeiten. Unser derzeitiger Bundespräsident Joachim Gauck hat diesen Zusammenhang 1998 sehr vorsichtig formuliert: „Und die Entfremdung im

14 15

Wolfgang Wippermann: Der Wiedergänger, Wien 2008, S. 104. Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW. Bd. 3, Berlin 1962,

S. 13. 16

Karl Kautsky: Die Soziale Revolution (1902). 2. Aufl. Berlin 1907, S. 112.

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realsozialistischen System sollte sich als gravierender erweisen als jene, die Marx als Ergebnis kapitalistischer Wirtschaftsverhältnisse kritisierte.“17 Es ist eine imaginäre, aber gewalttätige Traumwelt, die Marx und der Marxismus seinen Lesern vorsetzt und die nicht dazu dienen kann, die konkreten gesellschaftlichen Mißstände zu beheben, sondern sie zerplatzen zu lassen. Doch ihr moralischer Impuls scheint eine derartige Ausstrahlungskraft zu besitzen, daß noch 1974 der evangelische Theologe und Antikapitalist Helmut Gollwitzer davon überzeugt war, daß wir in einer „von Klassenherrschaft und Klassenkampf geprägten Gesellschaft“18 lebten. Er hatte sich offenbar den antikapitalistischen Ideen der Roten Armee Fraktion angenähert, die sich allerdings bei ihrem aussichtslosen Kampf gegen Klassenherrschaft und Klassenkampf mörderischer Gewalt bedienen zu müssen glaubte, wie es Marx bereits empfohlen hatte. Auch dem französischen Marxisten André Gorz fehlte offenbar die Vorstellungskraft, daß der Kapitalismus ständigen Reformen unterzogen werden kann: „Der moderne Kapitalismus ist monopolistisch organisiert, oder er hört auf zu existieren. Es gibt keine antimonopolistischen Reformen; es gibt nur antikapitalistische und auf eine Revolution hinauslaufende Reformen.“19 Wenn der moderne Kapitalismus tatsächlich monopolistisch organisiert wäre und unfähig zu Reformen, dann müßte man erklären, warum in modernen Industriegesellschaften Hunderte, ja manchmal Tausende von Unternehmen vom Markt verdrängt werden und neue Produkte und Verfahrensweisen sich durchsetzen, die mit ‚Monopolprodukten‘ in einem Verdrängungswettbewerb stehen, den die ‚Monopole‘ oft genug verloren haben. Unsere hochtechnisierte Welt von Computern, Laptops oder Robotern mag viele Schwachstellen aufweisen, worunter gerade weniger begünstigte Menschen zu leiden haben, aber zu behaupten, daß dem Kapitalismus in den letzten 200 Jahren keine ungeheure Veränderungsdynamik innewohnte, gleicht einer selbstgewählten Erblindung oder Vernebelung. Alle diese phantastischen und unrealistischen Ansichten hätten eigentlich von Anfang an erkannt und abgelehnt werden sollen, aber Menschen neigen dazu, sich durch himmelstürmende Gefühlsduseleien betören zu lassen und wortgewaltigen Rattenfängern größeren Glauben zu schenken als nüchternen Realisten. Das hat nicht nur zum Aufstieg des Nationalsozialismus beigetragen, weil Adolf Hitler in der chaotischen Endphase der Weimarer Republik einen großen Teil der deutschen Bevölkerung davon überzeugen konnte, daß ein totalitärer Machtstaat, der über alle polizeilichen Mittel verfügt, ein Land besser aus seinem unverschuldeten Elend herausführen könne als die ‚Schwatzbude‘ des demokratischen Parlamentarismus. Mussolini, Stalin oder Mao Zedong sind dafür ebenfalls schreckliche Beispiele, doch sie sollten unsere Wachsamkeit anstacheln, nicht zu gutgläubig großen Versprechungen zu vertrauen, die im verlockenden Gewand einer Heils17 Joachim Gauck: Vom schwierigen Umgang mit der Wahrnehmung, in Stéphane Courtois u. a.: Das Schwarzbuch des Kommunismus. 4. Aufl. München/Zürich 1998, S. 893. 18 Helmut Gollwitzer: Die kapitalistische Revolution, München 1974, S. 52. 19 André Gorz: Die Aktualität der Revolution, Frankfurt am Main 1970, S. 40.

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lehre gekleidet sind und den Himmel oder das Glück auf Erden zu verwirklichen vorgeben. Friedrich Engels räumte kurz vor seinem Tod am 5. August 1895 ein, daß die Geschichte des Kapitalismus anders verlaufen ist, als von ihm und Marx mit unumstößlicher Sicherheit vorausgesagt: „Die Geschichte hat uns und allen, die ähnlich dachten, unrecht gegeben. Sie hat klargemacht, daß der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion“.20 Dies ist nicht nur eine fade Ausrede der eigenen Fehleinschätzungen, abgewälzt auf eine anonyme ‚Geschichte‘, sondern seine kommunistischen Nachfolger haben neue, imperialistische oder faschistische Interpretationen für den sicheren Untergang des Kapitalismus erfunden. Die nationalsozialistischen wie die kommunistischen Verbrecher haben ebenso nicht eingestehen wollen, daß ihre totalitäre Weltanschauung der entscheidende Grund dafür war, daß ihre Politik menschenverachtend und menschenvernichtend war. Die unübersehbare Zahl von Marxapologeten ließen sich dadurch wenig beeindrucken, sie nutzten die gravierenden Veränderungen der gesellschaftlichen Lebensweise, die durch eine technische und ökonomische Revolution hervorgerufen wurden, um die unvermeidlichen Nachteile dieses Systems dem Kapitalismus anzulasten. Dabei hatte dieses System zum ersten Mal in der Weltgeschichte dem größten Teil der Bevölkerung ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Als scheinbare Ausflucht diente und dient dieser antikapitalistischen Ideologie eine gesamtgesellschaftliche Perspektive und eine Planungseuphorie, obwohl wissenschaftlich längst erwiesen ist, daß wir niemals in der Lage sind, alle Facetten eines analysierten Problems erfassen zu können. Außerdem wiesen alle Planwirtschaften eine so geringe Effektivität auf, daß Menschen sie schnellstmöglichst verlassen bzw. überwinden wollten.21 Um dies nicht offen bekennen zu müssen, wählt man eine kryptische Ausdrucksweise eines gescheiterten Totalitätsbegriffs: „Marx’ Verständnis der Totalität wird als hierarchischer, moderater Holismus gefasst.“22 Und sie bedienten sich Immunisierungsstrategien, wenn das kapitalistische System sich nicht so entwickelte, wie sie vorausgesagt hatten; entweder erfanden sie den 20 Friedrich Engels: Einleitung [zu Karl Marx’ „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“ (1895)], in: MEW. Bd. 22, Berlin 1972, S. 515. Engels vermachte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands mit Schreiben vom 14. November 1894 20.000 Mark sowie seine gesamte Bibliothek und setzte August Bebel und Eduard Bernstein zu seinen literarischen Nachlaßverwaltern ein. 21 Trotzdem wird weiterhin die wachstums- und freiheitsfeindliche Ideologie verbreitet: „Die Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und die Überführung der Ökonomie in bewusste Planung ist… ein Gebot der Stunde“ (so Bruno Kern, in Karl Marx: Texte – Schriften, Wiesbaden 2015, S. 399). 22 Martin Eichler: Von der Vernunft zum Wert, Bielefeld 2015, S. 24. Um ökonomische Laien zu beeindrucken und in Unkenntnis der Unmöglichkeit, ein System ganzheitlich zu beschreiben oder zu analysieren, heißt es ohne irgendeine empirische Konkretion: „Der Totalitätsbegriff ist neben der Organismusmetapher ein Mittel, das ökonomische System in seiner Gesamtheit zu erfassen.“ (S. 189).

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Imperialismus oder den Faschismus als Scheinerklärungen für den ständigen Wandel des Kapitalismus. Aber sie nutzten auch die Vorteile und Erleichterungen, die ihnen der verhaßte Kapitalismus für das tägliche Leben bereitstellte, um unbeschwerter und angenehmer zu leben – wir nennen dies bis heute eine Doppelmoral. Die historische Realität der Arbeitswelt im 19. Jahrhundert sah allerdings ganz anders aus als sie uns von Marxisten in Klassenkampfmanier geschildert wird und wurde noch von vielfältigen körperlichen Belastungen geprägt: „Es war der Druck der Arbeiterforderungen im Betrieb, in den Streiks, durch Gewerkschaften und in der Politik, der zu den genannten Verbesserungen der Arbeitsverhältnisse beitrug und damit, so kann man sagen, zur Zivilisierung des Kapitalismus.“23 Eine politische und ökonomische Reform jagte seit dem Durchbruch der industriellen Produktion in England im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die andere, so daß es etwa in Deutschland seit Beginn der Industrialisierung eine Vielzahl von verschiedenen Kapitalismen gab; z. B. den Kapitalismus 1 von 1815 bis 1849, den Kapitalismus 2 von 1850 bis 1870, den Kapitalismus 3 von 1871 bis 1914, den Kapitalismus 4 von 1918 bis 1933, den Kapitalismus 5 von 1933 bis 1945 und den Kapitalismus 6 nach 1945 usw., aber niemals eine ‚Soziale Marktwirtschaft‘. Jeder dieser kapitalistischen Formen der Industrieproduktion unterschied sich von den anderen wie wilde Bestien von gezähmten Haustieren. Von dem kapitalistischen System zu sprechen und das auch noch weltweit, wird lediglich der marxistischen Ideologie gerecht, aber keineswegs den verschiedenen Wirtschaftssystemen in Industriestaaten. Die antikapitalistischen Propheten haben jedoch ihren revolutionären Honig aus den unrealistischen Marxschen Lehren gezogen und wie in der UdSSR oder im maoistischen China einen menschenverachtenden Vernichtungskrieg gegen alle Gegner oder Kritiker dieser Systeme in die Tat umgesetzt. Die konkrete sozialistische Realität in der UdSSR, der DDR oder in kommunistischen Staaten von Kuba bis Vietnam war geprägt von individueller Unfreiheit und dürftigem Auskommen bei gleichzeitiger Selbstbeweihräucherung der politischen Elite, die einen Personenkult betrieb und westliche Luxusgüter kaufte. Die These vom gesetzmäßigen und unumstößlichen Untergang des Kapitalismus, die 150 Jahre lang von Marxisten mit wissenschaftlicher Gewißheit verbreitet wurde, kann auch durch die menschenfreundlichsten Demokratien nicht widerlegt, aber sie könnte nach dem kläglichen Zusammenbruch der meisten kommunistischen Herrschaftssysteme eigentlich ad Acta gelegt werden. Aber es scheint weiterhin, nicht nur von kirchlicher Seite, ein großes Bedürfnis zu geben, die konkrete Wirklichkeit auszublenden zugunsten von antikapitalistischen Phrasen und ausbeuterischen Beschwörungen. Der Kapitalismus wird nicht untergehen, sondern fortbestehen, solange Menschen ihren Lebensunterhalt durch Arbeit erwirtschaften müssen, selbst wenn sie nicht angemessen entlohnt werden.

23

Jürgen Kocka: Geschichte des Kapitalismus, München 2013, S. 108.

Literaturverzeichnis Literaturverzeichnis

Zeitungsartikel oder einseitige Zeitschriftenaufsätze sind nicht angegeben. Albert, Hans: Modell-Platonismus: Der neoklassische Stil des ökonomischen Denkens in kritischer Beleuchtung (1963), in ders.: Marktsoziologie und Entscheidungslogik. Ökonomische Probleme in soziologischer Perspektive, Neuwied/Berlin 1967, S. 331 – 367. – Nationalökonomie als Soziologie der kommerziellen Beziehungen, Tübingen 2014. Die allgemeinen Wirthschaftszustände und die Lage der handarbeitenden Klassen in Großbritannien, in: Der Arbeiterfreund. Zeitschrift des Centralvereins in Preußen für das Wohl der arbeitenden Klassen, 12. Jg., 1874, S. 439 – 456 (Gezeichnet mit S.). Ambrosi, Marlene: Jenny Marx. Ihr Leben mit Karl Marx. Biografie, Trier 2015. Antisemitismus der Welt in Wort und Bild. Der Weltstreit um die Judenfrage. Herausgegeben von Theodor Pugel. Mitarbeiter: Robert Körber, Benno Imendörffer, Erich Führer, Dresden 1936. Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur. Herausgegeben von Frits Kool und Erwin Oberländer. Eingeleitet von Oskar Anweiler. Band 1: Opposition innerhalb der Partei (1967), München 1972 (Dokumente der Weltrevolution, Band 2). Arndt, Andreas: Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie (1985). 2., durchgesehene und um ein Nachwort ergänzte Auflage, Berlin 2012. Aus Anlaß der Fabrikemeuten, in: Deutsche Vierteljahrs Schrift, IV. Heft, 1844, S. 371 – 405 (gezeichnet W. M.). Avineri, Shlomo: The Social and Political Thought of Karl Marx (1968), Cambridge 1993 (Cambridge Studies in the History and Theory of Politics). Baader, Franz Xaver von: Ueber das dermalige Missverhältniss der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Classen der Societät in Betreff ihres Auskommens sowohl in materieller als intellectueller Hinsicht aus dem Standpuncte des Rechts betrachtet (1835), in ders.: Gesammelte Schriften zur Sozietätsphilosophie. Herausgegeben von Franz Hoffmann. Band 2, Aalen 1963, S. 125 – 145. Baer, Abraham Adolf: Der Alcoholismus. Seine Verbreitung und seine Wirkung auf den individuellen und socialen Organismus sowie die Mittel, ihn zu bekämpfen, Berlin 1878. Bahro, Rudolf: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus (1977). Ungekürzte Studienausgabe, Köln/Frankfurt am Main 1979. Baines, Edward: Geschichte der brittischen Baumwollenmanufactur und Betrachtungen über ihren gegenwärtigen Zustand. Aus dem Englischen frei bearbeitet von Dr. Christoph Bernoulli, Professor der industriellen Wissenschaften zu Basel, Stuttgart/Tübingen 1836. Bamberger, Ludwig: Erinnerungen. Herausgegeben von Paul Nathan, Berlin 1899. Bankiers, Künstler und Gelehrte. Unveröffentlichte Briefe der Familie Mendelssohn aus dem 19. Jahrhundert. Herausgegeben und eingeleitet von Felix Gilbert, Tübingen 1975 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 31).

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Personenverzeichnis Personenverzeichnis

Die Namen Karl Marx und Friedrich Engels wurden nicht in das Verzeichnis aufgenommen. Abraham (isr. Stammvater) 91 Adenauer, Konrad 404 Adorno, Theodor W. 19 Albert, Hans 30, 272, 377 Alberti, Hermann 50 Alberti, Wilhelm 50 Albrecht, Wilhelm Eduard Alexander II. (russ. Zar)

48 19

Alfons XII. (span. König) Ambrosi, Marlene 42 Amlinger, Carolin 240 Anneke, Friedrich 333

237

Annenkow, Pawel Wassiljewitsch 123, 134, 195, 219, 267, 277 Argyll, Archibald duke of 43 Arkwright, Richard 152 Arndt, Andreas 58, 282, 340, 406, 410 Arndt, Ernst Moritz 307 Arnim, Graf von 46 Auerbach, Berthold 68 Avineri, Shlomo 90 Baader, Franz Xaver von 37, 70 Bab, Julius 362 Babeuf, François Noël

28, 116

Baer, Abraham Adolf 386 Bahro, Rudolf 231, 399 Baines, Sir Edward 160 Bajor, Georg 208 Bakunin, Michail Alexandrowitsch 19, 139 – 141, 189, 246, 253 f. Bamberger, Ludwig 58 f., 289 f., 320, 324 Baron, Christian 240

Bartsch, Günter 28, 236, 244, 419 Bauer, Bruno 54, 56 – 59, 61, 63, 77, 82, 98, 101, 115, 174, 266 Bauer, Edgar 82 Bauer, Heinrich 126, 128, 194 Bebel, August 9, 119, 236, 341, 348, 398, 422, 427 Becker, Bernhard 348, 356 Becker, Gebhard 333 Becker, Johann Philipp 366 Becker, Werner 117 Beer, Max 81, 104, 205 Below, Georg von 117 Benedetti, Vincent Graf 245 Benedikt XVI. (Papst) 27 Berdiajew, Nikolai 110, 225 Bergmann, Jürgen 180, 380 Bergmann, Uwe 403 Berlin, Isaiah 301 Bernays, Ferdinand 97, 113, 173, 267 Bernays, Kurt Ludwig 188 Berndl, Ludwig 348 Bernhardi, Theodor von 171 Bernstein, Eduard 9, 222, 238, 278, 289, 313, 317, 336, 338, 340, 343, 348, 357, 422, 427 Berwi, Wassili 18 Beuth, Peter Christian Wilhelm 50 Biermann, Wolf 399 Birker, Karl 147 Bismarck, Otto von 59, 105, 237 – 239, 244 f., 254, 284, 295, 300, 339, 345, 348 f., 356, 359, 367, 393 Bitter, Karl Hermann 86

Personenverzeichnis Blanc, Louis 109, 147, 316 Blanqui, Louis Auguste 130 f., 297 Blind, Karl 184, 301 Bloch, Ernst 129, 397 – 404, 406 – 417 Blos, Wilhelm 131 Blumenberg, Werner 24, 250, 265, 331 Bodemer, Heinrich Jacob 75, 207 f., 370 f., 378, 388 Böhm, Franz 250, 284 Böhmert, Victor 51 f., 137, 226, 241, 379 Böhmert, Wilhelm 104, 365 Boentert, Annika 230 Börne, Ludwig 84 Börner, Ludwig 246 Börnstein, Heinrich 173 Bollnow, Hermann 278 Bolte, Friedrich 360 Bormann, F. A. 174 Born, Stephan Simon (alias Simon Buttermilch) 62, 141, 145 – 147, 159, 190 f., 305, 310, 323 Bornstedt, Adalbert von 88, 137, 140, 173, 304 Borsig, Johann Karl Friedrich August 50, 176, 233 Boulton, Matthew 176, 233 Bracke, Wilhelm 341, 348 Brämer, Karl 389 Brandenburg, Friedrich Wilhelm Graf von 62 Brandt, Willy 119 Braß, August 348 Braun, Karl 215 Brentano, Lujo 80, 150, 198, 237, 365, 374, 377 Bright, John 355 Brotherton (engl. Fabrikant) 377 Brougham, Lord Henry Peter 146 Buchheim, Gisela 176 Buddeus 213 Bücher, Karl 165 f. Bülow, Bernhard von 317

453

Bülow, Hans von 347 Bürgers, Johann Heinrich Georg 87, 189, 194, 262 f., 265, 305, 320, 355 Büsch, Otto 121 Bull (engl. Geistlicher) 377 Bull, John 72 Bulle, Constantin 47 f. Buonaretti, Filippo Michele 193 Burda, Michel C. 205 Burns, Lizzy 323 Burns, Mary 323 f. Buttermilch, Meyer 146 Cabet, Étienne 85, 96, 195, 282 Calan, Roman de 199 Camphausen, Ludolf 63 Carnot, Hippolyt 98 Carnot, M. 177, 228, 384 Carr, Edward Hallet 140, 277 Chamberlain, Houston Stewart 416 Charles Louis Napoléon Bonaparte siehe Napoleon III. Cherval, Frank 154, 196 Cherval, Julius Joseph 107 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch 376 f. Clouth, Wilhelm 307 Cluß, Adolph 145, 264 Cockerill, John 176, 233 Cooper, Thomas 186 Cornu, Auguste 116, 142, 152, 191 Courtois, Stéphane 407, 426 Cramer-Klett, Theodor Frh. von 375 Cremer, Wilhelm Randal 246, 355 Crompton, Samuel 152 Cumberland, Herzog von siehe Ernst August Dahlmann, Friedrich Christoph 48 Dahrendorf, Ralf 359 Dammer, Otto 343 Daniels, Roland 46, 194, 265 Danielson, Nikolai Franzewitsch 108

454

Personenverzeichnis

Dante Alighieri 198 Darwin, Charles 159, 217 f. Demokrit (griech. Philosoph) 54 f., 65 Demuth, Lenchen 114, 190, 321 Deppe, Frank 303 Desmoulins, Camille 101 Dézamy, Théodore 85 Dickens, Charles 328 f. Diergardt, Friedrich Frh. von 389 Dieterici, Carl Friedrich Wilhelm 235 Dietz, Oswald 148 Dilthey, Wilhelm 181 Disraeli, Benjamin 339 Dittrich, Karl 21 Djilas, Milovan 28 f. Dobb, Maurice 17 f. Dönniges, Franz Alexander Friedrich Wilhelm von 347 Dönniges, Helene von 46, 347 f. Dörstling, Gustav 378 Domin, Georg 66 Dronke, Ernst 305 Droste zu Vischering, Clemens August 76 Drüner, Ulrich 179 'XEþHN$OH[DQGHU  Ducpétiaux, Eduard 164 Dürrenmatt, Friedrich 270 f. Dulon, Rudolph 54 Duncker, Fanz Gustav 219, 337 f. Dutschke, Rudi 12, 398, 402 f. Eagleton, Terry 34, 260, 422 Ebert, Friedrich 357 Eccarius, Johann Friedrich 355 Eccarius, Johann Georg 50, 248, 315, 355 Echtermeyer, Ernst Theodor 64 Egells, Franz Anton 50 Ehrhard, Johann Ludwig Albert 265 Eichhorn, Johann Albrecht Friedrich 58, 61, 79 Eichhorn Wolfgang 257 Eichler, Martin 427

Elbers, Wilhelm 170 Elias (isr. Prophet) 326 Engel, Ernst 74, 163 – 165, 181 – 183, 214, 376, 390 f. Engel, Stefan 300 Epikur (griech. Philosoph) 54 f., 65 Ermen, Gottfried 319 Ernst August (hann. König) 48, 187 Eßbach, Wolfgang 84 Esser, Christian Joseph 94 Eucken-Erdsiek, Edith 390 Evans, Evan 233 Ewald, Georg Heinrich August 48 Ewerbeck, August Hermann 121 f., 195 Faber, Malte 216, 296, 405 Fanon, Frantz 398 Fawcett, Henry 239 )HGRVVHMHZ3HWU1LNRODHYLþ  80, 89, 94, 100, 135, 143, 172, 203, 236, 247, 293, 318, 327, 342 f., 361, 397, 404 Feibel, Heinrich 263 Ferber, Carl Wilhelm 60 Ferdinand I. (österr. König) 304 Ferdinand von Braunschweig, Herzog 42 Fetscher, Iring 23, 281, 420 Feuerbach, Ludwig 59, 61, 71, 77 f., 93, 95, 97 f., 118, 224, 266, 400, 410 Fichte, Johann Gottlieb 253, 399 Fielden, John 377 Findeiß, Frank 30 Fischer, Wolfram 208 Flechtheim, Ossip K. 422 Fleckles, Ferdinand 19 Fleischer, Moritz 127, 185 Flerowski, N. siehe Berwi, Wassili Flocon, Ferdinand 281 Ford, Henry 233 Fourier, Charles 85, 109, 296 Fränkel, Heinrich 394 Frahne, Curt 179 Frantz, Adolf 73

Personenverzeichnis Frantz, Constantin 60 Franziskus I. (Papst) 26, 259 Freiligrath, Ferdinand 60, 87, 191, 261, 305, 316, 329 f. Freiligrath, Johanna 330 Freund, Georg Christian 50 Freund, Michael 296, 304 Friedenthal, Richard 143 Friedrich II. (preuß. König) 371 Friedrich Wilhelm III. (preuß. König) 47, 58, 61, 187 Friedrich Wilhelm IV. (preuß. König) 58, 61, 65, 76, 81, 87, 92, 128, 186, 188, 264, 293, 304, 307 Fröbel, Julius 65, 115 Fromm, Eberhard 102, 257 Fukujama, Francis 312 Gärtner-Engel, Monika 300 Galilei, Galileo 166 Gans, Eduard 48, 72 Garibaldi, Giuseppe 246, 355 Gauck, Joachim 425 f. Gebert, A. 148 Geißler, Heiner 421 Geist, Jos. Anton 155 Gemkow, Heinrich 24 George, Henry 51 f. Gerhard, Hans-Jürgen 286 Gerhardt, Volker 205, 339 Gerlich, Fritz 25, 234 Gerns, Willi 38 Gervinius, Georg Gottfried 48 Getzeny, Heinrich 43 Geyer, Philipp 31 Gigot, Philippe-Charles 191, 194 Gilbert, Felix 334 Gipperich, Joseph 154, 196 Glagau, Otto 124 Gockel, Eberhard 46 Görtrek, Per 199 Görtz, Franz Damian 191

455

Goethe, Johann Wolfgang von 73 f., 267 Gollwitzer, Helmut 414, 426 Gorz, André 19 f., 23, 243, 426 Gothein, Eberhard 137, 383 Gottschalk, Andreas 128, 294, 332 f. Gould, Nathaniel 377 Grimm, Jacob 48, 364 Grimm, Wilhelm 48, 364 Grossmann, Henryk 117 Großmann, Rudolf siehe Ramus, Pierre Grothe, Hermann 406 Grün, Karl Theodor Ferdinand 190 Grünberg, Karl 76 Gründel, Rudi 299 Gülich, Gustav von 83, 180 Guevara, (Ernesto) Che 12, 254, 294, 398 Guizot, François 120, 188 f. Gutenberg, Johannes 155 Gutzkow, Karl 60, 84 Habermas, Jürgen 19, 279 Hahn, Otto 9, 336 Hansemann, David 63 Hansen, Alvin Harvey 379 Hansen, Georg 101, 133 Hansen, Joseph 63 Hansen, Reimer 257 Hargreaves, James 152 Harney, George Julian 194 Hartmann, Richard 176, 233 Hartmann, Wolf D. 176 Hatzfeldt, Sophie Gräfin von 316, 333 f. Hatzfeldt-Wildenburg, Edmund Graf von 334 Haupt, Hermann Wilhelm 355 Hauptmann, Gerhart 178, 183 Hebbel, Friedrich 60 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18, 26, 48, 52, 56, 59, 68 f., 71, 77 f., 84 f., 89 f., 93, 97 – 100, 121, 133, 175, 185, 221, 223, 243, 253, 256, 276, 278, 291, 312, 340, 354, 364 f., 399 – 402, 410, 419

456

Personenverzeichnis

Heilberg, Louis 194 Heine, Heinrich 68, 71, 81, 84, 97 f., 113, 116, 189 f. Heinzen, Karl Peter 86 – 88, 191, 424 Helmer, Hans-Josef 23 Henderson, William Otto 142 Hepner, Adolf 236 Heraklit von Ephesos (griech. Philosoph) 334 f., 339 Herrmann, Ulrike 385 Herwegh, Emma 189 Herwegh, Georg Friedrich 140, 189, 277, 304 f., 346 Herzfeld, Hans 121 Hess, Moses 58, 60, 66 – 69, 71, 81, 97, 115, 122, 130, 261, 266 Hildebrand, Bruno 126, 153, 161 f. Hilferding, Rudolf 242, 286 Hirsch, Joachim 303 Hirth, Georg 31, 105, 157, 238, 370 Hitler, Adolf 33, 114, 223, 242, 404, 421, 426 Hobsbawm, Eric J. 398 Hodenberg, Christina von 173 Hodgskin, Thomas 71 Höck, Wilhelm 303 Hödel, Max 237 Höfken, Gustav 63 Höhle, Thomas 342 Hoff, Jan 422 Hohrst, Gerd 36 Holbach, Paul Heinrich Dietrich 68, 222 Hook, Sidney 28 Hosfeld, Rolf 46, 96, 189, 252 Huberman, Leo 326 Huch, Ricarda 139, 141 Hugo, Gustav 64 Hugo, Victor 246 Humboldt, Alexander von 113, 333 Humboldt, Wilhelm von 47 Hundt, Martin 195

Hunt, Tristram

321, 419

Iber, Christian 376 Imbert, Jacques 193 Iorio, Marco 297 Itzig, Isaak Daniel 317 Jacoby, Abraham 265, 319 f. Jacoby, Johann 61 f., 248 Jaeggi, Rahel 27, 413 Jaspers, Karl 399 Jenaczek, Friedrich 344, 382 Jens, Walter 398 Jesus Christus 57, 67 f., 76 Johann (österr. Erzherzog) 170 Jones, Ernest Charles 187 Jottrand, Lucien-Léopold 191, 193 Jung, Georg Gottlieb 58, 63, 77, 86, 116 Junghanns, Carl 155 Kägi, Paul 131 Kant, Immanuel 69, 99, 185, 275, 417 Kautsky, Karl 299, 306, 422, 425 Kelley-Wischnewetzky, Florence 298 Kern, Bruno 35, 427 Ketteler, Wilhelm Emmanuel Frh. von 347 Kiesewetter, Hubert 13, 27, 32, 59, 84, 106 f., 111, 159, 171, 180, 192, 214, 223, 227, 259, 286 f., 297, 337, 365, 368, 380, 390, 392, 418 Kinkel, Gottfried 148, 324 – 330 Kinkel, Johanna 324 Kirchhain, Günter 380 Klein, Dieter 252 Klein, Johann Jakob 265 Knies, Karl 161 Kocka, Jürgen 36, 428 Koenig, Friedrich 176, 233 Köppen, Karl Friedrich 54 Körner (Maler) 67 Köttgen, Gustav Adolph 194 Kofler, Leo 34, 339

Personenverzeichnis Kolping, Adolf 304 Konstantin I. (röm. Kaiser) 39, 57 Kool, Frits 29 Korff, Hermann 306 Koselleck, Reinhart 413 Krämer, Joseph 108 Kretzschmar, Hellmut 132, 230 Kriege, Hermann 191, 231, 268 – 271, 275 f., 327 Krupp, Alfred 233 Krysmanski, Hans Jürgen 58, 342 Kuczynski, Jürgen 29, 225, 425 Kuczynski, Rene 390 Kühne, Ferdinand Gustav 84 Künzli, Arnold 5, 231, 274 f. Kugelmann, Ludwig 127, 246, 249, 251, 349, 366 f. Lachmann, Otto F. 71 Lafargue, Laura 19, 245 Lafargue, Paul 19, 245 Lamartine, Alphonse de 71, 304 Lambl, Jan Baptista 106 Landauer, Gustav 135, 348, 361 f. Lange, Friedrich Albert 24 f., 108, 138, 146, 159 f., 164, 167, 171, 186, 210 f., 241, 246, 332, 343, 345, 364, 375, 392 f. Lange, Max G. 31, 71 Larenz, Karl 84 Lasal, Heymann (Chaim) 331 Lassalle, Ferdinand 46, 60, 146, 159, 239, 241, 300, 311, 316 f., 331 – 350, 356 f., 366, 381 f. Laube, Heinrich 84 Lelewel, Ignacy 191 Lenin, Wladimir Iljitsch 7, 10 f., 18, 30 f., 33, 118, 196, 207, 217, 255, 260, 270, 291, 295, 306, 398, 407, 410, 420 f. Leopold I. (belg. König) 191 Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen, Erbprinz 245 Leroux, Pierre 71, 98 Leske, Carl Friedrich Julius 362

457

Lessing, Gotthold Ephraim 68 Leßner, Friedrich 248 Levi, Hermann 336 Levi, Marx 40 Liebermann von Sonnenberg, Max 124, 245 Liebig, Justus (von) 109 Liebknecht, Karl 357 Liebknecht, Wilhelm 19, 236 – 238, 249, 289, 316, 341, 348, 397 f., 422 Lincoln, Abraham 191 List, Friedrich 70, 169, 206 Lobuske, Hansulrich 122 Lochner, Georg 264 Löw, Konrad 63 Löwe, Ludwig 342 Löwenstein, Julius I. 54, 78, 85 Löwenthal, Richard 23 Löwith, Karl 77 Lohmann, Georg 27, 413 Loick, Daniel 27, 413 Longuet, Jenny 97, 299, 321 Lorenz, Ottokar 41 Lotz, Christian 240 Louis Bonaparte 244, 338 Louis Philipp (frz. König) 94, 189 Lovett, Wilhelm 185 f. Low, Robert 306 Lozek, Gerhard 298 Ludwig II. (bayr. König) 192, 320, 347 Lüning, Otto 266 Lukács, Georg 257 Luther, Martin 71, 134, 258 Luxemburg, Rosa 29, 33, 357, 398 Macaulay, Thomas Babington 377 MacDonnell, Joseph Patrick 360 Machiavelli, Niccolò 92 Mac-Mahon, Marie Edme Patrice Maurice Graf von 245 Mäder, Denis 219, 331 Maenchen-Helfen, Otto 46

458

Personenverzeichnis

Mäurer, German 121 Mahlert, Karl-Heinz 27, 196 Majer, Adolph 107 Malthus, Thomas Robert 213, 301 Mannesmann, Reinhard 233 Manteuffel, Otto Theodor Frh. von 62, 264 Mao Zedong (Tse-tung) 7, 217, 398, 426 Marcuse, Herbert 12, 19, 398 Martin, Alfred von 277 Martius, Georg Heinrich 263 Marx, Edgar 193 Marx, Emilie 41 Marx, (Herschel) Heinrich 40 f., 44 f., 49 Marx, Henriette 40 – 42, 320 Marx, Jenny 42 – 44, 47, 49 f., 53, 56, 62, 65, 90 f., 96, 114, 189, 261, 281, 301, 320, 322, 324, 347 Marx, Jenny siehe Longue, Jenny Marx, Laura siehe Lafargue, Laura Marx, Louise 41 Marx, Reinhard 25, 309 Marx, Sophie 41 f. Mary, Donatien 199 Masaryk, Thomáš Garrique 34, 172 Matz, Wolfgang 18 Maurenbrecher, Max 37 Mayer, Gustav 124, 128, 149, 167, 201, 330, 340 Maynz, Karl Gustav 191 Mazzini, Giuseppe 126, 246 McCormick, Cyrus Hall 107, 378 McLellan, David 80, 115, 123, 146, 173, 314, 319, 321 Mehring, Franz 20, 42, 54, 63, 82, 111, 113, 150, 158, 211, 290, 328, 346, 352, 356, 360, 398, 422 Meier, Adolph 148 Meißner, Otto 364 – 367 Meitner, Lise 9, 336 Mellinet, François 193 Mendelssohn, Arnold 334 Mendelssohn, Nathan 334

Metternich, Klemenz Wenzel Fürst von 47, 127, 304 Mevissen, Gustav 63, 86 Meyen, Eduard 83 f. Meyer, Fanny 320 Meyer, Julius 266 f. Meyer, Sigfrid 170, 255 Meyer, Sigrid 363 Meyer, Sophie 320 Michel, Hans 180 Michel, Karl Markus 401 Mill, James 92 Mill, John Stuart 301, 314, 363 Miquel, Johannes von 130 Mocek, Reinhard 66 Möser, Justus 92 Mohammed 197 Mohl, Moritz 154 Mohl, Robert (von) 95, 103, 229 Moldenhauer, Eva 401 Moll, Joseph 125 f., 128, 194 Mommsen, Hans 345 Montesquieu, Charles Secondat de 54, 92 Moses (isr. Führer) 25 Most, Johann 138 Mülberger, Arthur 133 f., 352 Münchhausen, Karl Friedrich Hieronymus Frh. von 371 Mundt, Theodor 84 Mussolini, Benito 426 Napoleon I. (frz. Kaiser) 26, 47, 189, 248, 302, 371 Napoleon III. (frz. Kaiser) 245, 310, 338 f. Naut, Stephan 194 Nees von Esenbeck, Christian Gottfried Daniel 145 Nell-Breuning, Oswald von 24 Nerrlich, Paul 127, 185 Netschajew, Sergej 19 Nettlau, Max 141 Newton, Issac 351

Personenverzeichnis Nicolaevsky, Boris 46 Nietzsche, Friedrich 37 Nobiling, Karl Eduard 237 Nothjung, Peter 263 Oastler, Richard 377 Oberländer, Erwin 29 O’Connor, Feargus Edward 185 f. Odger, George 246 Oncken, Hermann 305, 331 Oppenheim, Alexander 334 Oppenheim, Dagobert 63, 79 Oppenheimer, Franz 36 f., 273, 313 Oswald, Friedrich (= Friedrich Engels) 133, 142 Owen, Robert 71, 75, 167, 221, 378 Palmerston, Henry John Temple 187, 355 Panitz (Lehrer) 21 f. Parkinson, C. Northcote 167, 301 Parmenides (griech. Philosoph) 54 Passow, Richard 371 Paulig, Friedrich R. 188 Peel, Sir Robert 228, 373, 377 Penz (Lehrerin) 21 Perikles (griech. Staatsmann) 108 Peters, Max 106 Petersen, Thomas 216, 296, 405 Pfänder, Karl 315 Philips, Lion 116, 335 Piketty, Thomas 394 Platon (griech. Philosoph) 223, 295 Plutarch (griech. Philosoph) 55 Pohle, Ludwig 33, 36 Popper, Karl Raimund 221, 397, 399 Popper-Lynkeus, Josef 213 Post, John D. 292 Postone, Moishe 17 Potter, George 246 Preßburg, Henriette siehe Marx, Henriette Proudhon, Pierre Joseph 85, 96, 109, 122, 127, 133 – 135, 138 f., 147, 190, 194 f., 201, 284, 334, 340

459

Puff, Michael

386

Pugel, Theodor 25 Pupke, Walther 375 Putin, Wladimir

413, 421

Raddatz, Fritz J. 43, 102, 282, 421 Rakowitz, Janko von

46, 347 f.

Ramboz (= Karl Marx) 308 Ramus, Pierre

19, 330

Ranke, Leopold von Ratzinger, Joseph

385

siehe Benedikt XVI.

Reichensperger, Peter Franz Reininger, Johann Georg

229

107, 196

Rempel, Rudolph 266 f. Reulaux, Franz 157 Reyboud, Louis

71

Ricardo, David 92, 301, 340, 343 f., 363 Riehl, Wilhelm Heinrich 372 Rimpler, Otto

310

Ritter, Gerhard A. 36 Rjazanov, David

9 f., 28

Robert, Richard

152

Robespierre, Maximilien de 26, 33, 101, 112, 252, 406 Rochus von Rochow, Gustav Adolf 64 Rodbertus, Johann Karl 205 f. Rösing, Johann Henrich Dietrich Rohbeck, Johannes

54

84, 223 f., 259, 292

Rolle, Alexander 123 Rorty, Richard 236 Roscher, Wilhelm 38, 158, 161, 291, 359, 373 Rosenberg, Hans 352 Rosenthal, Isidor 386 f. Rostow, Walt W.

32

Rousseau, Jean-Jacques 30, 68, 75, 220 Rühle, Otto

191

Ruge, Arnold 44, 54, 59, 62, 64 f., 76 f., 80 – 85, 90, 92 – 99, 113 – 116, 127, 142, 173 – 175, 183 – 185, 189 f. Ruge, Ludwig

93

460

Russell, Bertrand 251 f. Rutenberg, Adolf Friedrich

Personenverzeichnis

48, 63, 80 – 82

Sack, Rudolf 176 Sadler, Egidius 377 Saint-Just, Louis-Antoine de 101 Saint Paul, Wilhelm von 86 Saint-Simon, Claude Henri de 96, 98, 109 Salomon, Felix 240 Sand, George 117 Sans, Georg 27 Satre, Jean-Paul 12, 398 Savigny, Friedrich Karl von 64 Say, Jean-Baptiste 92 Schabelitz, Jakob 264 Schack, Herbert 125 Schärttner, August 148 Schaff, Adam 403 f. Schaper, Justus Wilhelm Eduard von 81 Schapper, Karl 126, 128, 130, 148, 175, 194, 261 f., 304 f., 315, 333 Schedlich, Eduard Adolph 21 Scheler, Hermann 223 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 77, 121 f. Schemann, Ludwig 32 Scherzer, Carl von 394 Schieder, Wolfgang 57 f., 102, 262 Schiller, Friedrich 199, 329 f. Schimmelpfennig von der Oye, Alexander 148, 263 Schmid, Karl 181, 375 Schmidt, Adolph 310 Schmidt, Friedrich 136, 162 – 164 Schmidt, Kaspar siehe Stirner, Max Schmoller, Gustav 181 Schnapper-Arndt, Gottlieb 165 Schöne, Albrecht 49 Schopenhauer, Arthur 34, 68, 100 f., 185, 399, 424 Schott, Georg 421 Schramm, Konrad Bernhard 314 – 316

Schrenck, Karl Frh. von 347 Schuchard (Fabrikant) 228 Schütz (Literat) 184 Schulze-Delitzsch, Franz Hermann 186, 246, 342, 345 Schumpeter, Joseph Alois 37 Schurz, Carl 148, 324 f. Schwartzkopff, Louis 176, 233 Schwarzschild, Leopold 18, 53, 89, 185, 281, 350 Schweitzer, Johann Baptist von 348 f., 356 f. Schwerbrock, Wolfgang 134 Schwerin-Putzar, Maximilian Graf von 336 Sehring, Max 182 Seiler, Sebastian 191, 194, 301 Sering, Paul siehe Löwenthal, Richard Shadwell, Arthur 226, 228, 252 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of 377 Shakespeare, William 106 Sichtermann, Barbara 17 Siebel, Carl 349, 367 Sieferle, Rolf Peter 36 Silberner, Edmund 97 f. Smith, Adam 92, 120, 206, 225, 301, 354, 363, 367 Snowdon, Edward 87 Solschenizyn, Alexander 407 Sombart, Werner 76, 253, 369, 398 Sontheimer, Kurt 390 Sorge, Friedrich Adolph 237 f., 254, 360 Sperber, Jonathan 57, 265 Spree, Reinhard 170 Stahr, Adolf 64 f. Stalin, Jossif Wissarionowitsch 7, 10, 28, 30 f., 207, 217, 223, 259 f., 398, 409, 421 – 423, 426 Starke (Tapezierer) 154 Stechan, Gottlieb Ludwig 262 – 264, 355 Stein, Hans 294

Personenverzeichnis Stein, Lorenz von 71, 199 Stein zum Altenstein, Karl Frh. von 56 – 58 Stephens (engl. Geistlicher) 377 Stiebel (Jude) 320 Stiebel, Nora 382 Stiebel, Wilhelm 18, 54, 107 f., 122, 126, 128, 130, 143, 147, 154, 184, 196, 200, 263 f., 268, 288, 320, 329, 355 Stirner, Max 77, 82, 266 Stoecker, Adolf 152, 332 Stommel, Gottfried 125 Strauß, David Friedrich 55 – 57, 59, 77, 121 Sue, Eugène 117 Suttner, Bertha von 275 Szemere, Bartholomeus von 200 TDGLü/MXERPLU  Talbott, Strobe 377 Tappert, Wilhelm 50 Thiers, Adolphe 249 Thom, Martina 250 Thompson, William 71 Thünen, Johann Heinrich von 109 Treitschke, Heinrich von 290 Tristan, Flora 131 Trotzki, Leo 311 Tugan-Baranowsky, Michael von 384

461

Voltaire, François Marie Arouet

68

Wachsmuth, Wilhelm 92 Wagener, Hermann Wagner, Adolph

238

359

Wagner, Richard 27, 32, 60, 114, 147, 189, 192, 273, 320, 336, 347 Wallau, Karl 130, 145 Walter, John

377

Wandel, Paul

30

Watteau, Louis 131 Weber (preuß. Justizrat)

94

Weber, Friedrich Benedict 292 Weber, Georg 194 Weber, Max

29, 243, 250, 361

Weber, Wilhelm Eduard 48 Weerth, Georg

191, 304 f.

Wehler, Hans-Ulrich 171 Weigle, Wilhelm 177 Weinert, Erich 422 Weinhold, Carl August 213 f. Weitling, Wilhelm 60, 71, 85, 121 – 123, 139, 190, 269 – 271 Wermuth (Polizeidirektor) 18, 54, 107 f., 122, 126, 128, 130, 143, 147, 154, 184, 196, 200, 263, 268, 288, 320, 329, 355 Westphalen, Edgar von

191, 261

Westphalen, Ferdinand Otto Wilhelm von 44

Uebel (Kommunist) 196 Ulbricht, Walter 7, 298 Umberto I. (ital. König) 237

Westphalen, Johann Ludwig von 56 f.

Vaillant, Édouard 251 Van Patten, Philip 211 Vasold, Manfred 154 Victor, Walther 30 Victoria (engl. Königin) 48 Virchow, Rudolf 60 Vogt, August 170, 255 Vogt, Karl 288 – 290 Vollmar, Georg Heinrich von

Westphalen, Philipp von

42 – 44,

Westphalen, Johanna Bertha Julia Jenny von siehe Marx, Jenny 42

Weydemeyer, Joseph 191, 194, 261, 265 – 268, 314, 329, 337, 355 Weydemeyer, Louise

268

Weydemeyer, Otto 360 Weyl, Nathaniel

309

Whitworth, Joseph 176, 233 Wieck, Friedrich Georg 158, 188, 374 238 f.

Wilbrandt, Robert

118, 156, 168, 180 – 183

462

Personenverzeichnis

Wilhelm I. (preuß. König und deutscher Kaiser) 64, 237, 245, 248 Willich, Johann August Ernst 148, 261 – 264, 288, 314 f. Winkler, Heinrich August 339 Winnig, August 96 Wippermann, Wolfgang 33, 189, 260, 275, 305, 308, 332, 407, 425 Wolf, Julius 365 Wolff, Ferdinand 305, 316 Wolff, Wilhelm 129 f., 175, 191, 194, 305, 322

Wolffberg, Siegfried 386 Woltmann, Ludwig 256 Wood, John 377 Wurm, Emanuel 210, 241, 346, 372, 385 – 387 Zabel, Friedrich 289 Zedlitz-Neukirch, Konstantin Frh. von 336 Ziegenfuß, Werner 307 Zimmermann, Alfred 179 Zimmermann, Johann von 176, 233