Karl Friedrich von Savigny 1814–1875: Ein preußisches Diplomatenleben im Jahrhundert der Reichsgründung [1 ed.] 9783428469635, 9783428069637

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Karl Friedrich von Savigny 1814–1875: Ein preußisches Diplomatenleben im Jahrhundert der Reichsgründung [1 ed.]
 9783428469635, 9783428069637

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WILLY REAL

Karl Friedrich von Savigny 1814 - 1875

Historische Forschungen Band 43

Karl Friedrich von Savigny 1814 - 1875

Ein preußisches Diplomatenleben im Jahrhundert der Reichsgründung

Von Willy Real

Duncker & Humblot . Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Real, WHly: Karl Friedrich von Savigny: 1814 - 1875; ein preussisches Diplomatenleben im Jahrhundert der Reichsgründung / von Willy Real. - Berlin: Duncker und Humblot, 1990 (Historische Forschungen; Bd. 43) ISBN 3-428-06963-3 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 3-428-06963-3

Vorwort Als von dem umfangreichen Nachlaß des preußischen Diplomaten Karl Friedrich von Savigny vor mehreren Jahren die wesentlichsten Teile veröffentlicht werden konnten, I wurde auch der im Kreise der Historiker wiederholt geäußerte Wunsch nach einer Biographie erneut erhoben. Es handelt sich dabei in der Tat um ein altes Desiderat, nachdem vor allem Otto Becker in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen zum ersten Mal einen großen Teil dieses Nachlasses bei den Vorarbeiten zu seinem großen Werk über Bismarcks Ringen um Deutschlands Gestaltung hatte benutzen können. Wenn für die Abfassung der Biographie die Auswertung des Nachlasses auch zwingend erforderlich ist, so darf auch auf die Heranziehung eines unveröffentlichten Werkes aus dem Kreis der Familie nicht verzichtet werden. Josepha Freifrau von Schönberg, Savignys jüngste Tochter, hat über viele Jahre hinweg mit großem geschichtlichen Verständnis unter Benutzung aller erreichbaren Quellen ein reiches Tatsachenmaterial erarbeitet, um den Lebensweg ihres Vaters nachzuzeichnen. Dieses sogenannte "Schönberg- Manuskript" ist für eine Biographie insofern unentbehrlich, als mit ihm eine Vielzahl von Dokumenten in ihrer originalen Textgestalt erhalten ist, bevor diese in der letzten Phase des Krieges und den Wirren der ersten Nachkriegszeit abhanden kamen oder aus mancherlei Gründen nicht mehr verwendungsfahig sind. 2 I Vgl. hier vor allem: Karl Friedrich von Savigny 1814-1875, Briefe, Akten, Aufzeichnungen aus dem Nachlaß eines preußischen Diplomaten der Reichsgründungszeit, 2 Teile, 1058 Seiten, hrsg. von Willy Real, Boppard1981 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 53, I und 11, hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften). - Für die Zeit von 1849 bis 1851 ist heranzuziehen: Das Großherzogturn Baden zwischen Revolution und Restauration 1849-1851, Die Deutsche Frage und die Ereignisse in Baden im Spiegel der Briefe und Aktenstücke aus dem Nachlaß des preußischen Diplomaten Karl Friedrich von Savigny, 721 Seiten, hrsg. von Willy Real, Stuttgart 1983 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe A. Bd. 33/34). - Katholizismus und Reichsgründung, Neue Quellen aus dem Nachlaß Karl Friedrich von Savignys, 414 Seiten, hrsg. von Willy Real, Paderbom 1988 (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte, hrsg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft von L. Boehm u. a., Neue Folge, Heft 117). 2 Der Nachlaß Savignys befindet sich im Familienarchiv (Schloß Trages in Hessen). Vor allem auf Betreiben von Peter Rassow wurden die durch Krieg und Nachkrieg z. T. sehr durcheinander geratenen Bestände 1957 von Karl Erich Demandt soweit geordnet, daß vor allem die Dokumente der Abteilung D, die den Nachlaß des Diplomaten betreffen, wissenschaftlich verwertbar sind. Das sogenannte Schönberg-Manuskript befindet sich jetzt im Bundesarchiv in Koblenz und wird dort unter "Kleine Erwerbung 738" registriert. Es besteht aus einem korrigierten Typoskript, einem handschriftlichen Manuskript, das dem Typoskript zugrunde lag, in sieben, bzw. acht Faszikeln, sowie aus einer sehr umfangreichen, wichtigen Materialsammlung in neun Faszikeln, die weitere Vorarbeiten zur Ausarbeitung enthält.

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Vorwort

Somit erscheint es jetzt möglich, den Spuren jenes Mannes nachzugehen, der als Träger eines in der Wissenschaftsgeschichte ruhmvollen Namens sowie als Freund und Weggenosse Bismarcks vor allem in den Jahren vor und nach der Reichsgründung in allen Phasen des Geschehens deutlich hervorgetreten ist. Bei aller Unterschiedlichkeit und Unwiederholbarkeit des menschlichen und dienstlichen Werdeganges hat der diplomatische Dienst Preußens jene typenbildende Kraft entwickelt, der sich seine Angehörigen kaum je zu entziehen vermochten. Niemals wurde hierbei einem schablonenhaften Dasein das Wort geredet, aber hier wurde wie vielleicht nur auf wenigen Ebenen persönlicher Lebensgestaltung eine Synthese gefunden zwischen gesellschaftlichem Herkommen und elitärem Bewußtsein einerseits und den Ansprüchen einer überpersönlichen Werteordnung, wie sie das preußische Staatswesen erhob, andererseits. Insofern vermittelte die Ausstrahlungskraft des Dienstes hier zugleich auch ein Freiheitserlebnis ganz eigener Art für alle diejenigen, die jene Belastungen auf sich zu nehmen bereit waren, die mit einem solchen Dienst verbunden sind. So soll in der vorliegenden Biographie gleichsam paradigmatisch ein preußisches Diplomatenleben im Jahrhundert der Reichsgründung entfaltet werden, wie es sich in mancher Hinsicht von den Lebensbildern der Staatsmänner unterscheidet. Die Persönlichkeiten der obersten Entscheidungsebene bedürfen der Analyse ihrer Motive und der Interpretation der von ihnen ausgehenden Bestimmungen des geschichtlichen Weges. Ihre Lebensbilder können darum auch auf die Schilderung vieler unerheblich scheinender Einzelheiten verzichten. So jedenfalls stellen sich uns die Biographien etwa Friedrichs des Großen, Steins, Metternichs oder Bismarcks dar. Wer indes das Lebensbild einer Persönlichkeit sozusagen aus der zweiten Reihe nachzeichnen möchte, wird auf die Wiedergabe eines breit angelegten Details nicht verzichten können. Manches mag, vordergründig betrachtet, nur von zweitrangiger Bedeutung sein, insgesamt aber gehören derlei Einzelheiten wie die Steine eines Mosaiks zusammen und vervollständigen nur so das Bild, wie es beabsichtigt ist. So lag es nahe, die Biographie Savignys niederzuschreiben - nicht nur, weil die Quellenlage sie ermöglichte, sondern auch weil Savigny wie nur wenige seiner Laufbahnkollegen immer wieder in besonderer Weise an den Brennpunkten innerdeutscher politischer Entwicklungen tätig gewesen ist. Das traf zu bei der Niederwerfung des badischen Aufstandes von 1849, beim badischen Kirchenkonflikt der fünfziger Jahre, bei der Liquidierung des Deutschen Bundes, bei der Anbahnung des Friedens mit den deutschen Mittelstaaten, bei der Formulierung der Verfassung des Norddeutschen Bundes sowie bei der Gründung und den Anfangen der Zentrumsfraktion, und immer wieder schimmert hindurch seine Begegnung mit Bismarck, jene über drei Jahrzehnte sich bewährende Freundschaft, ehe sie, einer äußersten Belastung nicht standhaltend, zerbrach. Daß die Biographie geschrieben werden konnte, habe ich Herrn Leo von Savigny und Frau Dr. Angela Gräfin von der Schulenburg zu danken. Herr von

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Vorwort

Savigny stellte mir in großzügiger Weise den reichen Nachlaß seines Großvaters zur Auswertung zur Verfügung, und Frau Gräfin von der Schulenburg gewährte mir einen zeitlich beinahe unbefristeten Einblick in das Manuskript ihrer Mutter Josepha von Schönberg, bevor sie es dem Bundesarchiv in Koblenz überließ. Ich vermerke auch dankbar ihre detaillierten Erzählungen über die im Hause ihrer Großeltern herrschende traditions gebundene Mentalität. So möge die Biographie einen Eindruck von einer Zeit vermitteln, die nun schon mehr als ein Jahrhundert hinter uns liegt, die dennoch dem geschichtlich Interessierten eine unverlierbare Bewußtseinstatsache bleiben wird. Bonn-Bad Godesberg, im Mai 1990

Willy Real

Inhalt Einleitung ...............................................................................

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Herkunft -

frühe Jugend ...... .........................................

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Reifejahre und Welterfahrung .........................................................

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Erste Stationen diplomatischer Tätigkeit ..............................................

53

Im Spannungsfeld der preußischen Politik ............................................

85

In der Umgebung des Prinzen von Preußen ..........................................

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Die glücklichen Jahre..................................................................

138

Dresden -

Frankfurt ......................................................

177

Die Ereignisse von 1866 ...............................................................

206

Die Verfassung des Norddeutschen Bundes und der Bruch mit Bismarck ..........

222

Neue Wege, Ziele, Freundschaften .............. ......................................

249

Ausklang ................................................................................

284

Literaturverzeichnis ....................................................................

290

Personenverzeichnis ....................................................................

294

Kindheit -

Brüssel -

Abbildungsnachweis Die Bilder 1, 4, 7 und 8 stellte das Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, zur Verfügung, die Bilder 2, 3, 5 und 6 das Stadtarchiv Frankfurt a. M. und das Bild 10 die Heimatstelle Main-Kinzig. Die Bildtafeln stehen zwischen den Seiten 52 und 53. Bild

1:

Blick auf Pariser Platz und Brandenburger Tor. Kolorierte Federlithographie nach einer Zeichnung, um 1820

Bild

2:

Friedrich Karl von Savigny. Stich von E. Grimm

Bild

3:

Gunda von Savigny. Radierung von E. Grimm

Bild

4:

Otto von Bismarck 1815 - 1898. Stahlstich - Porträt von Weger nach einem Foto, um 1855

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5:

Karl Friedrich von Savigny. In Holz geschnitten von Emil Ost, 1875

Bild

6:

Bundespalais um 1850

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7:

Konstituierende Sitzung des Norddeutschen Reichstages in Berlin, im 1. Herrenhaus in der Leipziger Straße, am 24. Februar 1867 links vorn Roon und Bismarck. Lithographie nach einem Gemälde von earl Arnold

Bild

8:

Eine Sitzung des Norddeutschen Reichstages, 1867. Holzstich nach einer Zeichnung von Mende

Bild

9:

Das Herrenhaus auf dem Trages. Zeichnung von Rudolf Klein - nach einer Wiedergabe in der FAZ

Bild 10:

Schloß Trages

Einleitung Wer sich die Geschichte der preußischen Staatskunst seit der Auflösung des alten Reiches vergegenwärtigt, wird zunächst auf den Fürsten Hardenberg stoßen, den die Gunst der Stunde geschmeidig nützenden Diplomaten, der einst den Sonderfrieden von Basel unterzeichnete und der nach einem Wort Leopold von Rankes seinen Namen tiefer in die Annalen dieses Staatswesens eingrub, als es je ein Staatsmann vor ihm vermocht hatte. Dann waren noch vor dem Ende des Jahrhunderts die Zeitgenossen Zeugen jener virtuos gehandhabten Staatskunst, mit der Bismarck von der Basis dieses Staatswesens aus ein neues Kapitel deutscher Geschichte gestaltete und diesem seinen Namen verlieh, Antworten auf die Fragen der Vergangenheit gebend und seinerseits Fragen an die Zukunft richtend. Zwischen diesen beiden Polen geschichtstiefer Wirksamkeit begegnen wir einer Vielzahl von Persönlichkeiten, die sich in gleicher Weise diesem Staate verbunden wußten, auch wenn ihre Namen nicht in einem ähnlich hellen Licht der Geschichte stehen. Der in die Reihe mittelgroßer Reichsstände niemals sich einordnende Staat der Hohenzollern hatte schon in einer frühen Phase absolutistischer Herrschaftsverdichtung den Adel des Landes aus seiner ständischen Opposition herauszuführen verstanden und ihn zu jener tragenden Säule werden lassen, die sich auch in der Krise napoleonischer Machtauftürmung bewährte. Von diesem damals zum Krüppel geschlagenen Staat ging jene unerwartete Faszination aus, der sich selbst jene Männer nicht zu entziehen vermochten, die jenseits seiner Grenzen in der Vielgliedrigkeit der deutschen Kulturnation beheimatet waren und nun in den norddeutschen Führungsstaat hineinstrebten. Ihnen vor allem war es zu danken, wenn durch die Vermählung der idealistischen Weltanschauung der Goethezeit und des Neuhumanismus mit dem im Norden verwirklichten kantischen Ptlichtethos eine hohe Stufe deutscher Staatlichkeit und politischer Kultur erreicht wurde. Hier entwickelte sich das humanistische, auf die Ausprägung der Persönlichkeit ausgerichtete Bildungsstreben zur freiwilligen Anerkennung einer überpersönlichen Werteordnung, deren zentrales Freiheitserlebnis letztlich in der Hingabe an den Staat und in der subjektiven Bejahung jener als objektiv unzerreißbar erkannten Ordnungszusammenhänge bestand. Die auf dem kargen Boden Preußens sich einfindenden Träger der deutschen Kulturnation waren es, die mit den überkommenen Stützen des Thrones den Weg aus der altpreußischen Enge herausfanden und jene Synthese ansteuerten, die dem historischen Staatswesen und den Ansprüchen einer seine Grenzen sprengenden universalen Geistigkeit gleichermaßen entsprach. Ihre Namen sind für immer mit dem Namen Wilhelm von Humboldts und der Berliner Universitätsgründung

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Einleitung

verbunden. Von hier aus sollten sie wie Feuersäulen das mit ihnen anhebende Jahrhundert erhellen. Im Halbdunkel verschlungener Pflichten wirkend, haben sie dem Staat, der sie an sich gezogen, mit entsagendem Pflichteifer gedient. Den Menschen der Gegenwart sind ihre Namen meistens. entrückt. Und doch gewähren auch sie dem Betrachter einen Blick in ihr persönliches Sosein, in die Bedingungen ihres Werdens und in die Bezirke ihrer dienstlichen Existenz. Sie bieten sich uns dar in der Unterschiedlichkeit ihrer Lebenskreise, ihrer Hoffnungen und Erwartungen, ihrer glücklichen und tragischen Stunden. Indes haben sie alle etwas sie Verbindendes. Niemand konnte sich der typenbildenden Kraft seines diplomatischen Berufes entziehen. Die Bülows und die Hatzfeldts, die Arnims und die Schulenburgs, sie alle sind die meist unauffälligen Begleiter und Gestalter der preußischdeutschen Geschichte. Im Traditionszusammenhang ihrer Familien verbleibend, sind sie in der Regel nicht die einzigen Träger ihres Namens, den die Geschichte Preußens verzeichnet. Sie kennen die Verpflichtungen gegenüber ihren Familien, den zuweilen begünstigenden Einfluß ihrer verwandtschaftlichen und gesellschaftlichen Verflechtungen. Indes geschenkt wurde auch ihnen nichts. Auch sie hatten sich den Prüfungen zu stellen, und wer den Maßstäben der Ranghöheren und Vorgesetzten nicht entsprach, mußte befürchten, an der Heerstraße des Berufslebens liegenzubleiben. An geschichtlichem Rang sind sie nicht mit Hardenberg zu vergleichen, und man wird sie auch nicht mit den Maßstäben Bismarcks messen, mit der Unerschöpflichkeit seiner Phantasie, der Geschmeidigkeit seiner Verhandlungsführung, der Treffsicherheit seines Ausdrucks, der variantenreichen Kunst seiner Menschenbehandlung. Und doch haben auch sie ihren Anteil an den geschichtlichen Prozessen, in die das Schicksal sie stellte, und an der Lösung der Aufgaben, die die Hierarchie des Dienstes ihnen zuwies. Auch Karl Friedrich von Savigny gehört in diese lange Reihe. Wer seinen Namen vernimmt, denkt zunächst an den großen Juristen, an das Haupt der historischen Rechtsschule, an den Rektor der Berliner Universität im Schicksalsjahr 1812/13, an den Freundschaftsbund mit Eichhorn und Niebuhr, an den Protest gegen den Rationalismus des Naturrechts. Aber hier ist nicht der Jurist gemeint, sondern sein Sohn Karl Friedrich, der Diplomat, der auf der Höhe seines dienstlichen Werdeganges so arg enttäuschte Mitgestalter am Werk der Reichsgründung, der Abgeordnete im Reichstag des allgemeinen Wahlrechts. Außerhalb der weitverzweigten Großfamilie hat im Grunde nur ein kleiner, traditionsbewußter Kreis von Historikern eine genauere Vorstellung von ihm. Bei der Regierung in Aachen begegnet er dem Auskultator Otto von Bismarck, der später als Freund und Gegner sein dienstliches Schicksal so entscheidend mitbestimmte. Bei der Niederwerfung des badischen Aufstandes im Frühsommer 1849 wirkt er als Verbindungsmann des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten im Hauptquartier des nach Baden aufbrechenden Prinzen von Preußen, des späteren Königs und Kaisers. Wir erleben ihn als Gesandten in Karlsruhe und Brüssel, und dann hat er im Juni 1866 im Auftrage seines Ministerpräsidenten und im Namen

Einleitung

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Preußens als Bundestagsgesandter den Deutschen Bund für aufgelöst zu erklären. Bei der Liquidierung des Krieges von 1866 und der Anbahnung des Norddeutschen Bundes hat er eine bedeutsame Rolle gespielt. Als es dann zu der tragischen Entfremdung zwischen den beiden Freunden kommt, stehen sie sich nach dreißigjähriger Freundschaft erneut gegenüber: der eine als Kanzler des jungen Reiches, der andere als Fraktionsvorsitzender des Zentrums, jetzt einander meidend oder sich auf der Bühne des Parlaments befehdend. Der szenenreiche und doch wiederum so geradlinig verlaufene Lebensweg Savignys verdient es, nachgezeichnet zu werden. Die wissenschaftlichen Voraussetzungen hierfür sind jetzt gegeben. I

I Vgl. die Anmerkungen zum Vorwort. Auf Bismarcks Briefe an Savigny, die in der Friedrichsruher Ausgabe der Werke Bismarcks erreichbar sind, braucht nicht erst hingewiesen zu werden; desgleichen dürften die 36 Briefe Savignys an Bismarck, die im Bismarck-Jahrbuch, Bd. 6 (1899) veröffentlich wurden, bekannt sein. - An Einzelstudien, kleineren Beiträgen in Zeitungen und Zeitschriften, an Gedenkblättern und Nekrologen, an biographischen Aufschlüssen in lexikalischen Handbüchern usw. hat es im Grunde nie gefehlt. Was davon geeignet ist, dem Lebensbild Farbe und Akzente zu verleihen, wird dazu herangezogen werden.

Herkunft -

Kindheit -

frühe Jugend

Bis in das ausgehende Mittelalter lassen sich die ältesten, nicht völlig gesicherten Spuren der Familie von Savigny zurückverfolgen. Ob der Ritter Andreas von Savigny, der 1191/92 im Gefolge des Königs Richard Löwenherz an einer Kreuzfahrt teilnahm, und ob der burgundische Ritter Johann von Savigny, der an der Seite des nach Rom ziehenden Kaisers Heinrichs VII. sich bewährte und zum "Kapitän" von Rom aufstieg, zu den Ahnherren des Geschlechts zu zählen sind, ist nicht mehr mit Sicherheit auszumachen. Zuverlässiger ist die Überlieferung, nach der die aus lothringischem Reichsadel stammende Familie in der Umgebung der reichsfürstlichen Herzöge von Oberlothringen zu suchen ist. Am linken Ufer des der Mosel zuströmenden Madon, unweit der Einmündung des Nebenflusses Colon, nördlich von Mirecourt und westlich von Charmes, liegen Schloß und Herrschaft Savigny. Seit Varry de Parroye, Sire de Savigny, einem Abkömmling der Grafen von Metz, Luneville und Dachsburg, verstorben im Jahre 1353, läßt sich die Familie, reich begütert und in hohen Funktionen auf kirchlichem wie staatlichem Gebiet innerhalb Oberlothringens sich auszeichnend, immer deutlicher verfolgen. Als während des Dreißigjährigen Krieges das Geschlecht auszusterben drohte, gelangte Paul von Savigny, der nach dem Tode seines zum kalvinistischen Christentum sich bekennenden Vaters Peter von Savigny (1630) als achtjähriger Knabe der einzige Träger des Namens war, unter die Obhut des Grafen Philipp von Leiningen-Westerburg, der mit den Savignys vermutlich durch ältere verwandtschaftliche Beziehungen verbunden war. Vermutlich haben konfessionelle Gründe den Grafen bewogen, den jungen Savigny mit nach Deutschland zu nehmen, um ihn hier gemeinsam mit seinem Sohne Ludwig Eberhard erziehen zu lassen. I Damit begann ein neues Kapitel für die Geschichte der Savignys. Vergessen waren bald die lothringischen Besitzungen, und es verblaßte auch die Herkunft aus dem burgundisch-deutschen und romanisch-Iothringischen Kulturraum. Geistig, politisch und gesellschaftlich blieb die Familie fortan im Kräftefeld deutschen Lebens verwurzelt. In Paul von Savigny spiegelt sich der Übergang noch deutlich wider. In seiner Jugend hatte er in französischen Diensten gestanden, I Zur Geschichte der Familie vgl. die lexikalischen und biographischen Sammelwerke (ADB, NDB, Die Großen Deutschen etc.). Nützlich sind auch zahlreiche Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften wie etwa ,,Heimstatt romantischer Seelen" (FAZ, 22. April 1975, Nr. 93). Hier seien nur die Namen der Verfasser genannt (Titel und Erscheinungsort der Beiträge können dem Schrifttumsverzeichnis entnommen werden): Harry Gerber, Christa von Helmolt, Brigitta Schad, Martin Schäfer, Wilhelm Schoof, Ludwig Steinfeld u.a.m.

Herkunft - Kindheit - frühe Jugend

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dann unter dem General von Wrangel der schwedischen Krone gedient, bevor er als Kommandant der kleinen Grenzfestung Alt-Leiningen sich hervortat und in dem leiningenschen Calestadt seinen Grundbesitz erwarb. Dort ist er 1685 gestorben. Noch vor der Wende zum 18. Jahrhundert hat ein freundliches Schicksal den Weg des Hauses für die nächsten Generationen festgelegt: innerhalb weniger Jahre gelang mit dem Eintritt in die Dienste kleinerer westdeutscher Fürsten der Aufstieg in die obersten Ränge des Amtsadels. Johann Ludwig von Savigny (1652-1701) - Sohn des erwähnten Paul von Savigny und Urgroßvater des Rechtsgelehrten - wird fürstlich nassauischer Geheimer Rat und Präsident im Dienste der Fürsten von Nassau-Weilburg. Die ältere Reichsgeschichte kennt ihn als den Verfasser der Schrift "Dissolution de la reunion", die sich 1692 protestierend gegen die Politik Ludwigs XIV. wandte. Sein Sohn Ludwig (16841740), zunächst als Freiwilliger im spanischen Erbfolgekrieg bei dem Einsatz von Turin unter dem kaiserlichen General Rehbinder dienend, begegnet uns dann im Gefolge der Herzöge von Nassau- Saarbrücken und gelangte schließlich in das Amt eines Kabinettsministers des Herzogs von Pfalz-Zweibrücken. Mit ihm stabilisierte sich auch der materielle Hintergrund des Geschlechtes. Die Verehelichung mit Susanne Eleonore Albertine, einer Tochter des vermögenden hessennassauischen Kanzlers und Geheimen Rates Carl von Crantz, brachte die Familie nämlich in den Besitz von Trages, jenes Ortes, der das eigentliche Herzstück für die Begegnung der Glieder der Familie fortan bleiben sollte. Hatte schon Ludwigs Vater Johann Ludwig als nassauischer Regierungsvertreter wiederholt an den Sitzungen des Oberrheinischen Kreises teilgenommen, einen Einblick gewinnend in die Kleinarbeit der Reichspolitik jener Zeit, so sollte sein Sohn, der am 17. August 1726 zu Traben an der Mosel geborene Christian Karl Ludwig von Savigny, sich noch enger mit der Wirklichkeit des alten Reiches verbunden sehen. Auch er stand zunächst in zweibrückenschen Diensten; 1759 begegnen wir ihm als Geheimem Regierungsrat der Fürsten von Isenburg-Birstein; in die Reichsritterschaft aufgenommen, hat der hochangesehene Mann mehrfach als Kreisgesandter deutsche Fürsten und standesherrliche Familien auf dem Kreistage in Frankfurt vertreten. In dem über viele Jahre sich hinziehenden Prozeß des Erasmus Senckenberg gegen die Stadt Frankfurt, in dem er als Delegat des Fürsten von Nassau- Usingen auftrat, wurde er von 1769 an bis zu seinem Tode über die Maßen in Anspruch genommen. Vermutlich hat er aus diesem Grunde 1770 das jetzt nicht mehr vorhandene Haus ,,zur Weißen Katze" (später Allerheiligengasse 32) gemietet. Sofern er sich nicht in Trages aufhielt, hat er hier gewohnt, und hier wurde auch sein Sohn, der Jurist Friedrich Karl, geboren. Seine Ehe mit der geistig hochstehenden, im reformierten Bekenntnis erzogenen Henriette Philippine Groos (1743 -1792), der Tochter eines pfalz-zweibrükkenschen Geheimrats, ist zunächst außerordentlich glücklich gewesen. Dann hat

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Herkunft -

Kindheit -

frühe Jugend

ein grausames Schicksal es gefügt, daß von den dreizehn Kindern dieser Ehe nur eines die Eltern überlebt hat. Und dieser einzige Erbe des Namens sollte Friedrich Karl sein, der große Rechtsgelehrte. Nach dem Tode des Vaters (1791) siedelte die Mutter mit dem zwölfjährigen Knaben nach Hanau über. Als 1792 auch sie starb, war es Johann Friedrich Albrecht Constantin von Neurath, ein Freund des Vaters, damals Assessor am Reichskammergericht zu Wetzlar, der sich des Verwaisten annahm und ihm gemeinsam mit seinem eigenen Sohne eine sorgfältige Erziehung angedeihen ließ. Friedrich Karl von Savigny war nun der alleinige Besitzer von Trages, das bald zu einem Treffpunkt vieler Romantiker werden sollte. Hier hatte sich schon im 14. Jahrhundert ein Siedelhof ,,zum Dragus" befunden. An der Kreuzung der alten Birkenhainer Straße mit dem über Somborn nach Gelnhausen führenden Seligenstädter Weg ist diese Siedlung im Jahre 1566 als "Oberer Dragus" bezeugt. Im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges wurde sie hanauischer Besitz und gelangte 1639 als Lehen in die Nutznießung der Familie von Erckenbrecht, die den Hof bis 1710 bewirtschaftete. Friedrich Carl von Crantz hat ihn dann 1728 erworben, durch Kauf und Tausch abgerundet und erweitert und schließlich mit dem in der Nähe gelegenen Bruchköbel und dem Forstgebiet Hüttelngesäß zu einem Familienfideikommiß umgestaltet, bevor er Christian Karl Ludwig von Savigny 1751 zu seinem Erben einsetzte. Freiherr von Neurath hat seinen Zögling beizeiten auf das weite Feld der Rechtswissenschaft gelenkt. In seinem Hause wohnend, erhielt der Knabe bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr hier den ersten, alle wesentlichen Gebiete umfassenden Rechtsunterricht. Dabei ging es nicht so sehr darum, ihm juristisches Denken nahezubringen, als vielmehr ihm ein hohes Maß abfrag baren Wissens in lexikalischer Präzision zu vermitteln. Die damals allenthalten so gehandhabte Methode war phantasielos, aber dem Schüler wurde damit der Irrweg erspart, den zweiten Schritt zu tun, bevor er den ersten getan hatte. Sein 1795 gemeinsam mit dem Sohne Neuraths in Marburg begonnenes Studium, das ihn in der Folgezeit auch nach Göttingen, Leipzig, Halle und Jena führte, bevor er nach Marburg zurückkehrte, wo er im Jahre 1800 promovierte, machte ihn bald mit allen wesentlichen Gebieten seiner Wissenschaft bekannt, dem Römischen Recht, der Pandektenexegese, dem Zivil-, Straf- und Strafprozeßrecht u. a. m. Von den zahlreichen Lehrern hat der universal gebildete Philipp Friedrich Weis auf ihn wohl den stärksten Eindruck gemacht. Ihn hat er Zeit seines Lebens dankbar verehrt, und Weis wiederum hat den jungen Studiosus weit über das Brot- und Berufsstudium hinaus gefördert. Bei ihm wie bei dem in Goßfelden bei Marburg wirkenden Pastor Bang wurde in ihm offenbar der Grund zu der geschichtswissenschaftlichen Dimension vieler seiner juristischen Forschungen gelegt. Überschattet wurden die fruchtbaren Studienjahre durch wiederholt aufgetretene ernsthafte Erkrankungen. Mehrmals, so 1797 und 1799, hat er in Trages durch einen längeren Aufenthalt seine Gesundheit leidlich stabilisieren können. Dann sehen wir ihn

Herkunft -

Kindheit -

frühe Jugend

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schon bald nach der Jahrhundertwende als hochangesehenen Rechtslehrer in Marburg im Mittelpunkt des akademischen Geschehens. Das ,,Recht des Besitzes" erscheint. Studienreisen führen ihn nach Österreich und Frankreich. Ehrenvolle Berufungen mehrerer Universitäten schlägt er aus, bis er schließlich dem Wunsche des Grafen Montgelas nach Landshut folgt, das er jedoch schon zwei Jahre darauf Wilhelm von Humboldt zuliebe mit der neugegründeten Universität in Berlin vertauscht. Mit dieser Stadt sollte das ganze weitere Leben des Professors des Römischen Rechts verbunden bleiben. 1811 wird er Mitglied der Akademie der Wissenschaften; er wird Rektor der Universität, Geheimer Justizrat, Mitglied des Staatsrats und der Kommission für Gesetzesrevision. Wichtiger noch: im Protest gegen das rationalistisch-aufklärerische Naturrecht des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts gilt er bald als das unbestrittene Haupt der historischen Rechtsschule. In dem denkwürdigen Aufsatz "Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" (1814) und der im Freundschaftsbund mit Eichhorn und Niebuhr begründeten "Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft" (ab 1815) findet ihre Entwicklung ihren unvergeßlichen Ausdruck. Für den immer wieder so lungengefährdeten Savigny wurde Trages ein Ort der Entspannung und Genesung. Der Ortsfremde muß schon mit wachem Blick auf der Landstraße von Niederrodenbach nach Albstadt die Hinweisschilder verfolgen, um das durch den dichten Baumbestand schimmernde Ziegelrot und Ockergelb des Schloßgutes nicht zu übersehen. Die Michelbacher Weinberge dehnen sich in einiger Entfernung; die sanften Höhenzüge des nordwestlichen Spessart umgrenzen das Blickfeld, als wollten sie eine Landschaft des Friedens abschirmen. Unter dem Laubdach dieses kleinen Naturparks und in dem alten Herrenhaus - das heutige Schloß ist erst nach 1860 entstanden - fand sich im Laufe der Jahre ein Feundeskreis ähnlich den Zirkeln von Jena, Halle oder Heidelberg zusammen. Die Brüder Wilhelm und Jacob Grimm waren es, die jetzt in Savignys Gesichtskreis traten. In Savignys gastlichem Hause in der Ritterstraße, hoch über der Stadt, hatten die beiden alsbald in Marburg sein besonderes Vertrauen gewonnen. Hier waren ihnen bald die entlegensten Winkel vertraut, und hier wurden auch die Weichen gestellt, nach denen die beiden Brüder in die ihnen angemessene Richtung einer Beschäftigung mit der altdeutschen Vergangenheit gewiesen wurden. Ein unausgesetztes Geben und Nehmen unter den drei Freunden setzte ein. Auch als Savigny 1808 dem Rufe nach Landshut und zwei Jahre darauf dem nach Berlin folgte, hat dieser Freundschaftsbund die räumliche Trennung überdauert, und noch auf dem Sterbebett des großen Gelehrten hat Jacob Grimm ihm seine letzte Dankbarkeit bezeugt. Was sie bis zuletzt verband, war der Wunsch, aus der Fülle edler Menschlichkeit ihr Leben zu einem kleinen Kunstwerk zu machen - im Bewußtsein, letztlich doch alle einem gemeinsamen Gute zu dienen. Das Recht und seine Entwicklung im Schritt der Jahrhunderte, die Sprache in ihrer wechselnden Gestalt und Bildhaftigkeit, Sagen und Märchen, Spruchweisheiten und überkommenes Liedgut waren für sie unverwechselbare Emanationen eines und desselben Volksgeistes, und sie 2 Real

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Herkunft - Kindheit - frühe Jugend

aus den Verschleierungen der Vergangenheit wieder hervorzuholen, war eine der stärksten, in ihnen besonders lebendigen Tendenzen der Zeit. Zu diesem Freundeskreis in Trages gehörte auch schon bald Achim von Arnim; früh treffen wir auch die Geschwister Brentano, die Brüder Leonhard und Friedrich Creuzer und schließlich auch die unglückliche Karoline von GÜnderode. Gerade die Begegnung mit den Brentanos schien vom Schicksal nicht ohne weiteres vorgezeichnet, und doch sollte Savigny sich dieser Familie einmal in besonderer Weise verbunden wissen. Vergegenwärtigen wir uns dieses: schon der junge Rechtsgelehrte zeichnete sich durch eine ungewöhnliche Klarheit des Denkens, eine strenge Disziplinierung des wissenschaftlichen Arbeitens, eine unanfechtbare Treue zu den sich selbst gegebenen Normen und Ansprüchen, eine immer wieder praktizierte Rückbesinnung auf die Bereiche des Geistigen und Seelischen und eine ernste Teilnahme an dem weiten Bereich des Religiösen aus. Er hatte schon früh das Wesentliche vom Zufälligen trennen gelernt und den Blick für überpersönliche und überzeitliche Wertvorstellungen geschärft. Bei den Brentanos hingegen setzte sich in manchen Fällen jene vibrierende, stets in Bewegung befindliche Wesensart durch, jene immer im Sprunge zu neuen Formen des Lebensvollzugs begriffene innere Unausgeglichenheit, getrieben von dem Wunsch, das Leben stets erneut als Abenteuer zu wagen, wie sie wohl am deutlichsten bei Bettina von Arnim hervorgetreten ist. Noch vor der Jahrhundertwende hatte sich Savignys Weg erstmalig mit einem Glied der Familie Brentano gekreuzt. Im Hause Wielands in Oßmanstedt hatte Sophie Laroche ihm den Weg zu ihrem damals in Jena studierenden Enkel Clemens gewiesen. Schon bald entwickelte sich hier jener enge Freundschaftsbund zwischen dem jungen Gelehrten und Clemens, der dann auch die ganze Familie des letzteren mit einbezog. Als Savigny im August 1800 dem Brentano'schen Familienkreis in der Großen Sandgasse in Frankfurt einen ersten Besuch machte und dabei auch Clemens' Schwester Kunigunde kennenlernte, konnte noch niemand etwas von einer künftigen engeren Verbindung ahnen. Für den erst am Beginn seiner beruflichen Laufbahn stehenden jungen Juristen standen zunächst Promotion und Habilitation im Vordergrund. Erst als hierauf ein helleres Licht fiel, bahnten sich auch letzte Entscheidungen in seinem privaten Lebensbereich an. Seit dem Frühjahr 1801 wird Kunigundes Name, zunächst selten und dann immer häufiger, in Gesprächen und Briefen erwähnt. Und dann wird am 17. April 1804 der Bund zwischen Friedrich Karl von Savigny und ihr, der Tochter des Frankfurter Kaufmanns und kurtrierischen Geheimrats Peter Anton Brentano aus dem Hause Tremezzo (17351797) und der Maximiliane von Laroche (1756-1793), geschlossen - "mit landesherrlichem Consens", wie es hieß, um Schwierigkeiten auszuschalten, die sich hätten ergeben können, da Kunigunde, die Gunda, katholisch, er aber reformierten Bekenntnisses war. In Meerholz, der Residenz der Fürsten von Ysenburg, fand die Trauung statt. Die Ehe ist außerordentlich glücklich gewesen. Die kluge, stets muntere und liebenswürdige Frau bot dem früh Verwaisten die ihm bis dahin oft versagt

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gebliebene Geborgenheit. Sie wird bald zum eigentlichen Mittelpunkt des Romantikerkreises, der sich immer wieder in Trages einfindet. Mit den Grimms und Creuzers, den Leonhardis, mit Achim von Arnim und ihren Brüdern, vornehmlich mit Clemens und Christian, durchstreifen sie die einladende Landschaft nördlich des Mains und die Wälder des Spessarts. Wiederholt geht das junge Paar auf Reisen: man erlebt das nachrevolutionäre Paris, das auch in politischer Bedrängnis vom Glanz des Kaisertums geprägte Wien, und im November 1807 führt ein freundlicher Stern die beiden nach Weimar, wo sie die Begegnung mit Goethe genießen. Dann halten sie sich monatelang in Frankfurt auf; wieder wohnen sie im Brentano'schen Hause, dem "Goldenen Kopf", ein in vielen Farben sich spiegelndes Geben und Nehmen prägt diese Zeit der Entspannung. Marianne von Willemer, jene heitere Österreicherin, die dereinst noch den Goethe'schen Genius in dessen Suleika-Buch beflügeln sollte, tritt in ihren Gesichtskreis; Johann Friedrich Böhmer, der Historiker der Königsurkunden des deutschen Mittelalters, pflegt Zwiesprache mit dem für alles geschichtlich Gewordene so empfanglichen Gelehrten; die Maler Philipp Veit und Eduard Steinle, deren große, wenn auch umstrittene Schaffensperiode noch vor ihnen liegt, treten als gern gesehene Gäste hinzu. Als Savigny dem Ruf nach Landshut folgt, sind die Freunde auch dort oft bei ihnen zu Gast, am häufigsten Bettina, die bis zu ihrer Vermählung mit Achim von Arnim sich den Savignys in herzlicher Anhänglichkeit verbunden weiß. Der Ruf nach Berlin - Savigny nahm ihn endgültig erst am 9. April 1810 an - schien den Beziehungen zu Trages und Frankfurt nicht ohne weiteres günstig zu sein. Aber schon bald zeigte sich, daß die menschlichen Verbindungen durch diese neue Phase seiner akademischen Laufbahn von ihrer Dichte nichts verloren hatten. Die Freunde kehren ein und kommen immer wieder. Lediglich Bettinas Lebenskreise sind offenbar immer deutlicher mit anderen Maßstäben zu messen. Vorerst nimmt die akademische Lehrtätigkeit Savignys ganze Kraft in Anspruch. Wie fern scheinen da manchmal die Stunden der Entspannung in Trages und Frankfurt zu liegen! Und doch enthüllt sich uns als beglückende Tatsache, daß in seinem Hause oberhalb aller fakultätsspezifischen Alltagsarbeit die Bildungsrnacht der Klassik allgegenwärtig wirksam war. Das Zeitalter Goethes und Humboldts ist auch das Zeitalter Savignys. Auch er sieht sich eingebettet in das Spektrum ihrer Institutionen und Ansprüche. Auch in ihm lebt und wirkt die Verpflichtung zur Persönlichkeitskultur und zur selbständigen, auf freier Entscheidung beruhenden Teilhabe am Kulturganzen. Menschlich- moralische Integrität, geistige Leistung und Verpflichtung gegenüber den daraus abzuleitenden Lebensmaximen umreißen wie Marksteine den Raum, in dem sich sein Dasein entfaltete. Damit ist auch der Hintergrund angedeutet, vor dem das Leben des jungen Karl Friedrich begann. Er war nicht das erste Kind des Paares. Zwei Brüder waren vor ihm schon im zartesten Kindesalter gestorben. Seine Schwester Bettina war 1805 in Paris zur Welt gekommen; sein Bruder Franz war ihr im März 1808 2*

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in Frankfurt gefolgt. Karl Friedrich wurde am 19. September 1814 in Berlin geboren, und schließlich sollte Leo - ebenfalls in Berlin - 1820 folgen. Die Eltern wohnten ganz in der Nähe des Brandenburger Tores, am Pariser Platz, im Hause Nr. 3. Das war der Ort, wo das friderizianische und das klassizistische Berlin sich begegneten und der Besucher leichten Schrittes aus der Vergangenheit in die Gegenwart und wieder zurück in die Vergangenheit gelangen konnte, wo auf einer hohen Bewußtseinsebene nachvollzogen werden konnte, was Voltaire einst von der Residenz der preußischen Könige gesagt hat: aus Sparta sei Athen geworden. Berlin war damals noch nicht über sich hinausgewachsen, aber es war Inbegriff norddeutscher geistiger und künstlerischer Kultur, symbolhafter Mittelpunkt kritischer Reflexion, ausstrahlendes Spannungsfeld für geistige Zucht, die Universales und Individuelles harmonisch in sich vereinigte. Das Eigentümliche dieser Sonderform norddeutscher Staatlichkeit und politischer Gestaltung hatte nicht zuletzt darin gelegen, daß hier das humanistische Bildungsstreben auch zu einer freiwilligen Anerkennung des überpersönlichen staatlichen Primates geführt hatte. Wie in keinem anderen deutschen Staat hatten die geistigen und gesamtnationalen Kräfte, deren bedeutendste Repräsentanten wie Savigny Nichtpreußen waren, das gedemütigte Staatswesen auf eine hohe Stufe deutscher Staatlichkeit gehoben, die Raum bot für eine glückliche Synthese von idealistischer Lebensanschauung, gesamtdeutschem Nationalbewußtsein und harter Arbeit für das engere Gemeinwesen. Die erste Phase der Freiheitskriege hatte auch den Vater mit den gestaltenden Kräften Preußens aufs engste verknüpft. Die damals erschienene Schrift "Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" wirkte wie ein Programm und machte den gefeierten Universitätslehrer mit einem Schlage zum Haupt der historischen Rechtsschule. Friedrich Wilhelm III., im Begriff, ihm die erste Unterrichtung des Kronprinzen in Fragen des Rechts zu übertragen, brachte ihm ein hohes Maß von Vertrauen entgegen. Adolf von Savigny, der Enkel, der sich beinahe lebenslang mit der Geschichte der Familie beschäftigt hat, hat uns den Großvater anschaulich geschildert: "Der Vater war von hoher Gestalt, mit sanften, harmonischen Gesichtszügen, auf denen sich eine leichte Schwermut mit dem Ernst des Denkers verband. In seinem Wesen zeigte sich strenge Ordnung, die auch das Äußere beherrschte. Von Jugend an finanziell unabhängig, war er schon früh zu bedeutendem Einfluß gelangt, und das gab seiner vornehmen Natur jene Sicherheit und Würde des Auftretens, die sogleich den bedeutenden Menschen ankündigt." Eine tiefe, den Kern seiner Persönlichkeit bestimmende, wohl der ausgezeichneten Erziehung durch die Mutter zu verdankende Religiosität war nach einer vorübergehenden Verdunkelung während seiner Universitätsstudien wieder deutlich hervorgetreten und bildete fortan die Grundlage für ein reiches und tiefes Gemütsleben. Durchdrungen von einem Gefühl für die unantastbare Würde des Individuums, hat er es stets als seine Aufgabe angesehen, so wie er jeden seiner Schüler in seiner unverwechselbaren Einmaligkeit zu fördern bestrebt war, auch in seinen Kindern all jene Kräfte des Geistes und des Gemütes sich entfalten zu lassen, die eine gütige

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Natur in sie hineingelegt hatte. Hier sollte kein dirigierender Eingriff erfolgen und kein Platz für einen Versuch sein, seine eigenen Vorstellungen vom Reifen der Persönlichkeit seinen Kindern aufzuzwingen. Von ganz anderer Art war Karl Friedrichs Mutter. Aus den dunklen Zügen, die ihre italienische Abkunft väterlicherseits verrieten, sprühte eine lebhafte Geistigkeit und ein heiteres Temperament. Sie kannte nicht die Unrast ihrer Schwester Bettina und das Abenteuerliche ihrer Neigungen und Empfindungen. Gegenüber der träumerischen Phantasie ihres Bruders Clemens war sie eher nüchtern und war ihr behutsam abwägender Verstand eher auf das Vordergründige gerichtet. Dabei war sie in hohem Grade empfänglich für die Werke der Literatur und der Kunst. Das dichterische Schaffen des Bruders verfolgte sie mit gleicher Anteilnahme, wie sie ihrem Gatten alle inneren und äußeren Voraussetzungen schuf, sein eigenes großes Werk zu vollenden. Ihre religiöse Erziehung hatte sie einst im elterlichen Hause sowie bei ihrer Großmutter Laroche in Offenbach erfahren, aber hier wie dort hatten Aufklärung und Rationalismus ihrer zunächst verinnerlichten Religiosität bedenklich den Boden entzogen. Dann aber hatte ein über mehrere Jahre sich erstreckender Unterricht bei den Ursulinerinnen in Fritzlar sie zu den ursprünglichen Wurzeln ihres katholischen Bekenntnisses zurückgeführt. Aus ihr schöpfte sie die Kraft für ihr eigenes geistig-religiöses Leben in Ergänzung und Gegensatz zu ihrem aus einer ähnlichen Fülle des Geistigen und Religiösen schöpfenden Gatten. Beide, der Rechtsgelehrte wie seine Gemahlin, sahen in der bergenden Kraft ihrer Religiosität die tragfähige und belastbare Grundlage ihrer menschlichen Existenz. Der Kreis der Personen, den das Ehepaar als Taufpaten für ihren Sohn Georg Friedrich Karl - er nannte sich später Karl Friedrich und unterschrieb häufig schlicht nur "Kari" - auserwählte, läßt sogleich den Freundeskreis erkennen, der sich in den vier Jahren seines Berliner Wirkens in dem gastlichen Hause am Pariser Platz gebildet hatte. Wir stoßen auf den Chef der Sektion für Kultus und Unterricht im Ministerium des Innern, Staatsrat Georg Heinrich Nicolovius, auf den Staatsrat und Syndikus der Universität, Kammergerichtsrat Friedrich Albrecht Eichhorn, auf den Hauptmann Karl von Röder, der bald Adjutant des Kronprinzen wurde und 1840 noch als Flügeladjutant seinen Dienst versah, sowie auf die Geheime Oberrätin von Laroche, die Gattin von Gundas Onkel Karl von Laroche. Die Taufe nahm der betagte Pastor Justus Gottfried Hermes von der Gertraudenkirche am 21. Oktober 1914 vor. Savigny hatte ihn statt seines Freundes Schleiermacher gewählt, der ihm zu "rationalistisch" erschien. Die menschliche Verbundenheit beider Universitätskollegen wurde dadurch nicht beeinträchtigt. 2 2 Georg Heinrich Ludwig Nicolovius (1767 - 1839), zunächst Theologe, dann im preußischen Staatsdienst, Mitarbeiter Wilhelm von Humboldts bei der Reform des Unterrichts- und Bildungswesens. - Johann Albrecht Friedrich Eichhorn (1779 - 1856), 1810 Kammergerichtsrat, Syndikus der Universität. Während der Befreiungskriege war er im Stabe Blüchers und Steins mit der Rückführung der geraubten Kunstschätze betraut;

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Karl Friedrich wuchs in einer Atmosphäre liebevoller Geborgenheit auf. Wir erleben ihn als den stets fröhlichen und liebenswürdigen Knaben mit den blonden Locken und den großen dunklen Augen, wie er auf frühen Bleistiftzeichnungen erwartungsvoll in die Zukunft schaut. Da gibt die stets um ihn besorgte Mutter dem bei seinen Vettern weilenden Kind wohlgemeinte Ratschläge, recht fromm und folgsam, lieb und fleißig zu sein; da soll der Neunjährige nicht vergessen, ihr regelmäßig zu schreiben und sein Tagebuch fortzusetzen. Zuweilen tadelt sie ihn wegen seiner fehlerhaften Orthographie und ungelenken Schrift. Die neun Jahre ältere Schwester Bettina ergänzt die Zeilen der Mutter, freundlich mahnend, listig rechtfertigend, neugierig sich erkundigend, was der Bruder an kleinen Abenteuern zu bestehen habe. 3 Briefe des Vaters sind weniger überliefert; er schreibt an Freunde von einst und jetzt, wie etwa an den Freund aus der Landshuter Zeit, den Pathologen Johann Nepomuk Ringseis, 4 den von der romantischen Naturphilosophie beeinflußten und von starkem Mißtrauen gegen eine naturwissenschaftlich orientierte Medizin erfüllten Arzt, der im Savigny'schen Hause gelegentlich auch ärztlichen Beistand leistete. "Karl ist ungemein wohl", heißt es da am 14. August 1815, "wird täglich fröhlicher und liebenswürdiger, macht schwache Versuche zu laufen; auf der Wange, wo er ein Geschwür hatte, ist ein merkwürdiger Fleck, der etwas undeutliche Schriftzuge enthält. Ich habe mit dem Mikroskop gelesen: Ringseisius fecit ..." Karl Friedrichs Briefe bezeugen ihrerseits seine glückliche Kindheit und Unbefangenheit im Umgang mit seinen Freunden und Vettern. Er berichtet von Spiel und Unterricht, von kleinen Jagdabenteuern und Ausflügen, von Geburtstagsfeiern und Weinlesen, von seinem Tagebuch und den kleinen Mißgeschicken, die ihm widerfahren. Er erkundigt sich nach seinen Geschwistern, nach Bettina vor allem, sehnt sich nach dem Besuch der Eltern, fragt besorgt nach dem Wohlergehen des Vaters. "Ich schreibe diesen Brief um drei und einhalb Uhr morgens", heißt es einmal aus Wiepersdorf, "wo es noch ganz finster ist, mit einem Besenstiel von Feder und ebenso schlechter Tinte wie das vorigemal. Dies alles mag nebst der größten Eile meinen kurzen und schlechten Brief entschuldigen." In diesen glücklichen Tagen sind die Begegnungen mit den Vettern und Kusinen, den etwa gleichaltrigen Kindern Achim von Arnims und seiner Frau Bettina, immer wieder erwartungsvoll gesuchte Höhepunkte. Karl Friedrich war hier oft zu Gast, nicht selten aber auch bei den Verwandten der Mutter, den Familien Brentano und Guaita, in Rödelheim, Frankfurt und Winkel an Rhein, wie umgekehrt diese auch regelmäßig am Pariser Platz erschienen. seit 1816 im Außenministerium, später Minister für Geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, maßgeblich beteiligt an der Einrichtung der katholischen Abteilung im Kultusministerium. - Karl Friedrich wurde am 21. Oktober 1814 getauft. 3 Mehrere dieser Briefe befinden sich in der Nachlaßedition, S. 72 ff.; weitere im Familienarehiv, vor allem in den Reihen D 60 und D 61; die meisten sind undatiert. 4 Johann Nepomuk Ringseis (1785-1880). Sein "System der Medizin" (1840) stieß vor allem bei der Schulmedizin auf heftigsten Widerspruch.

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Zu den Freunden der frühen Jahre gehören auch die Söhne des Generals und späteren Außenministers Karl von Canitz, Adolf, Karl und Julius. 5 Die Familie des in einem streng religiösen Konservativismus den Gerlachs nahestehenden Generals wohnte mit den Savignys im selben Hause. Insbesondere Karl von Canitz und Savigny waren unzertrennlich; die menschlichen und beruflichen Verbindungen haben auch später nie eine Trübung erfahren. Als ein frühes Gemütsleiden den fünfzigjährigen Canitz 1862 zur Aufgabe seines diplomatischen Dienstes zwang, war Savigny bestürzt und von tiefstem Mitleid erfüllt. Savignys Verhältnis zu dem fast gleichaltrigen Otto von Bismarck ist nicht völlig klar. Bismarck bezog schon 1822 die Plamann' sehe Lehranstalt; in einem späteren Tischgespräch berichtet er, daß er wohl selten das Kolleg des alten Savigny besucht, dafür aber um so öfter in seinem Hause verweilt habe, das damals geselliger Mittelpunkt verschiedener Kreise gewesen sei. Sicher ist, daß beide sich frühzeitig kennengelernt haben. In "Erinnerung und Gedanke" steht ein Satz, der nur so verstanden werden kann: "In der Zeit, als wir beide Primaner oder Studenten waren, sprach er ohne polemische Färbung über die Motive der getroffenen Wahl (der Konfession) und führte dabei die imponierende Würde des katholischen Gottesdienstes, dann aber auch den Grund an, katholisch sei doch im ganzen vornehmer, ,protestantisch ist ja jeder dumme Junge' ."6 Von einer Freundschaft "von Kindesbeinen an", wie Savigny sich später gelegentlich äußerte, darf dagegen kaum gesprochen werden. Zudem besuchten sie nicht dieselbe Schule. Während Bismarck zum Grauen Kloster hinüberwechselte, erhielt Savigny den ersten Unterricht im elterlichen Hause und bezog dann erst das Französische Gymnasium. Vorerst hatten sich beide kaum etwas Wesentliches zu sagen. Näher getreten sind sie sich erst in Aachen. Mit der religiösen Erziehung drängte sich dem Vater bald eine ihn heftig bewegende Sorge auf. Im eigenen Elternhaus hatte er die Unterschiedlichkeit des religiösen Bekenntnisses kennengelernt. Sein Vater war Lutheraner gewesen, während die Mutter sich zum reformierten Christentum bekannt hatte. Die damals noch sehr deutlich empfundene Gegensätzlichkeit beider christlichen Bekenntnisse war ihm unverwischt gegenwärtig geblieben. In seiner eigenen mit Gunda Brentano geschlossenen konfessionsverschiedenen Ehe hatte es bislang keinerlei divergierende Meinungen gegeben. Gunda hatte in ihrer katholischen Familie wenig religiöse Anregungen und noch weniger Kraft zur Aufrechterhaltung ihrer konfessionellen Ausgangsposition erfahren. Indes wie Friedrich Karl die Ehe in ihrem sakramentalen Charakter empfunden und den sich daraus ableitenden Prinzipien der religiösen Kindererziehung sich stets verpflichtet gesehen hat, so 5 Karl Wilhelm Ernst Freiherr von Canitz und Dallwitz (1787 - 1850), ursprünglich Offizier, dann Diplomat (u. a. Gesandter in Wien), im Vormärz Außenminister. Der mit Savigny befreundete Karl (Charies) war auch mit Bismarck befreundet. Beide besuchten das Gymnasium zum Grauen Kloster. Canitz hat an zahlreichen preußischen Missionen gewirkt, so in Dresden, Wien, Lissabon, Darmstadt, Fankfurt, Turin, Neapel und Rom. 6 So steht es in "Erinnerung und Gedanke" (Werke in Auswahl, VIII, S. 423).

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hatte auch Gunda, sich von den Gefährdungen ihres Zeitalters frei machend, den Weg zur praktizierenden Anteilnahme am Leben ihrer Kirche zurückgefunden und die Tragweite der religiösen Erziehung ihrer Kinder ermessen. Bei der Suche nach einem festen Glaubensfundament für die Kinder scheint der Vater der Stärkere gewesen zu sein, während Gunda auch hier die schlichtere Natur gewesen ist. Friedrich Karl, der immer wieder die Aussprache mit dem ehrwürdigen Pastor Hermes gesucht hat, ist es am Ende auch gewesen, der nach einer späteren Bekundung Gundas ihr die bewußte Reversion zum Bekenntnis ihrer Familie verständnisvoll erleichtert hat. Beide stimmten jedenfalls darin überein, den Kindern beizeiten einen Weg in ihre eigene religiöse Zukunft zu weisen. Die sich hier abzeichende notwendig werdende Entscheidung ist nicht ohne schmerzliche innere Auseinandersetzungen getroffen worden. Es gehört zu den menschlich ergreifendsten und edelsten Bekundungen humanitärer Geistigkeit jener Zeit, wie der religiös jetzt so fundierte große Gelehrte in seiner Gewissensnot sich dem katholischen Freund aus den gemeinsamen Landshuter Tagen Michael Sailer, dem späteren Bischof von Regensburg und Lehrer Ludwigs I. von Bayern, anvertraute. 7 Die tiefe und milde Frömmigkeit des romantisch-restaurativen Tendenzen nahestehenden Mannes hatte Savigny schon in Landshut stark beeindruckt. Jetzt offenbarte er ihm seine eigene religiöse Entwicklung und analysierte ihm seinen Standpunkt gegenüber den beiden Konfessionen, aber er verschwieg auch nicht die Gewissenszweifel seiner Gattin. Und dennoch: wenn er auch die Verpflichtung fühlte, den gemeinsamen Christenglauben rein und lebendig seinen Kindern zu vermitteln, so glaubte er doch, daß die religiöse Unterweisung nach seinem eigenen Bekenntnis erfolgen sollte. So begehrte er von seinem Freunde ein Wort des Trostes, des Friedens und der Liebe, nicht zuletzt auch ein Wort der Bestätigung seiner eigenen Ansicht. Sailer hätte ihm eine autoritäre Entscheidung im Sinne seiner eigenen Kirche auferlegen können. Aber Sailer hat es nicht getan. Es mochte wohl seiner eigenen Wesensart ebenso entsprechen wie die Überzeugung, daß eine solche Entscheidung seinem Freunde niemals zuzumuten gewesen wäre. Er tröstete ihn mit der Bitte, nichts erzwingen zu wollen, sondern die fernere religiöse Entwicklung den Fügungen Gottes zu überlassen, wie er denn auch die Hoffnung ausdrückte, daß er die gleiche Freiheit der Entscheidung, die er seiner Gattin gewährt hatte, auch seinen Kindern gegenüber betätigen möge, sobald diese in der Lage seien, über ihr Bekenntnis selbst zu entscheiden. 8 7 Johann Michael Sailer (1751-1832), Jesuit, Professor der Theologie in Ingolstadt, Dillingen und 1800-1821 in Landshut. Nach Wahrnehmung hoher Kirchenämter (Domkapitular, Dompropst, Generalvikar) 1829 Bischof von Regensburg, Vertreter eines romantisch-restaurativen, die konfessionelle Situation in Bayern mit einbeziehenden Bildungswesens. Insofern gehört er zu den bedeutendsten Erweckern eines neuen religiösen Bewußtseins. Savignys Brief an ihn vom 18. November 1819 in der Nachlaßedition,

S. 68 ff.

8 Josepha von Schönberg hat Sailers Brief noch benutzt. Er ist jedoch heute nicht mehr auffindbar.

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Savigny ist dem Rat des Freundes gefolgt. Die Eltern kamen überein, ihren Kindern den Weg in beide christliche Konfessionen offen zu halten und sie frei entscheiden zu lassen, sobald sie dazu imstande waren. Daß sie dafür ein Alter von etwa vierzehn Jahren in Aussicht nahmen, lag vermutlich daran, daß zu diesem Zeitpunkt gegebenenfalls mit dem evangelischen Konfirmationsunterricht begonnen werden sollte. Für die damals vierzehnjährige Bettina stand diese Entscheidung unmittelbar bevor: sie folgte dem Bekenntnis des Vaters. Der drei Jahre jüngere Franz entschied sich ebenso. Um so verständlicher war der Wunsch der Mutter, daß Karl Friedrich und der 1820 geborene Leo ihrem Bekenntnis folgten. Gunda hat jedenfalls alles getan, den in einer überwiegend evangelischen Umgebung aufwachsenden jüngeren Geschwistern eine freie Entscheidung zu ermöglichen. Als Karl Friedrich im Elternhaus den ersten Lateinunterricht erhielt, hat sie von seinem Lehrer mit Nachdruck verlangt, sich jeder religiösen Einflußnahme zu enthalten. 9 Als der Sohn dann auf das Französische Gymnasium überwechselte, fand er sich wiederum in ausschließlich protestantischer Gesellschaft von Lehrern und Schülern. Die Befürchtungen der Mutter waren daher nicht unbegründet. Dann trat unerwartet ein Umstand ein, der dem jungen Karl Friedrich den Weg zu einer völlig unbefangenen Erfahrung der katholischen Konfession freilegte. Der gesundheitlich labile Vater litt damals an einer hartnäckigen, von nervösen Kopfschmerzen begleiteten Krankheit in einem Grade, daß der sonst so rastlos Tätige sich in seiner Arbeitskraft zeitweilig völlig gelähmt fühlte. Von der Milde des Südens Heilung erhoffend, beschloß man, sich im Herbst 1826 für einige Zeit nach Italien zu begeben. Da indessen vorerst hier keine Besserung eintrat, dehnte sich der Aufenthalt, länger als geplant, bis in den Herbst des folgenden Jahres hinaus aus. Damit ergab sich die Notwendigkeit, Karl Friedrich an Ort und Stelle eine Schule besuchen zu lassen. Sein Onkel Christian Brentano ist es wohl gewesen - auch er weilte damals in Rom - , der den Ausschlag gab, den Knaben in das allenthalben in gutem Rufe stehende Gymnasium der Jesuiten zu schicken. 10 Karl Friedrich hat sich in der neuen Umgebung bald zurechtgefunden. Einige deutsche Patres kamen ihm dabei sehr zustatten. Die ersten italienischen Sprachkenntnisse datieren aus dieser Zeit: Wortkombinationen und bald sogar kleine Briefchen. "Im Collegium Romanum sind die Leute immer noch sehr freundlich", heißt es in einigen undatierten Zeilen an den Vater, "der eine hat mir sogar angeboten, privatim mit mir den Herodot zu lesen." Die Eltern haben diese frühe Unterrichtung ihres Sohnes sehr bejaht; besonders die Mutter hat nicht aufgehört, ihn zu ermahnen, die ihm gebotenen Möglichkeiten zu nutzen. 11 Ernst Rudorff, Aus den Tagen der Romantik, 1938, S. 59. Nach dem Schönberg-Mskr. suchten Christian und Clemens Brentano den absonderlichen Plan zu verwirklichen, ihn zu adoptieren, um seine katholische Erziehung, vielleicht in einem schweizerischen lesuitenintemat, sicherzustellen. Die Eltern hatten keine Veranlassung, sich von ihrem Sohn zu trennen. 9

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Das vielgestaltige kirchliche Leben hat Karl Friedrich, für derlei Erlebnisse immer sehr empfänglich, stark beeindruckt. Diese Aufnahmebereitschaft verstärkte sich noch, als die Familie im Frühjahr 1827 nach Neapel weiterreiste und er auch hier den Jesuiten zur weiteren Erziehung anvertraut wurde. Der allmählich reifende, sich immer mehr verfestigende Entschluß, der Konfession der Mutter zu folgen, war nur noch eine Frage der Zeit. Es hat dabei nicht an tadelnden Neckereien seiner Geschwister, besonders Bettinas, gefehlt. Nach Berlin zurückgekehrt, blieb er zunächst noch mit einzelnen Lehrern und Mitschülern in Verbindung. Eine aufdringliche Indoktrination ist in den erhaltenen Briefen nirgends erkennbar. In Berlin besuchte Karl Friedrich zunächst wieder das Französische Gymnasium. Vermutlich um schneller ans Ziel zu kommen, verließ er die Schule noch vor dem Eintritt in die letzte Klasse, um sich als Externer auf das Maturitätsexamen vorzubereiten. Der Vater hat sich mit der Absicht des Sohnes nur schwer befreunden können. In einem Brief vom 11. September 1830 an die Mutter berichtet Karl Friedrich von einer Unterhaltung mit dem Vater, in der dieser gewünscht habe, das ihm von dem Propst Fischer empfohlene Gymnasium zum Grauen Kloster zu besuchen. 12 Der Vater habe sich jedoch den Argumenten des Sohnes gefügt, der bei einem günstigen Vorschreiten des privaten Unterrichts hoffen durfte, in Jahresfrist die Reifeprüfung zu bestehen. Im Oktober 1831 war es in der Tat soweit. Das "Zeugnis der bedingten Tüchtigkeit" war sicher nicht das Zeugnis eines exzellenten Schülers, aber angesichts der kurzen Zeit der Vorbereitung und der Tatsache, daß er es als Externer versucht hatte, konnte man ihm die Anerkennung nicht versagen. Den Weg zum Studium hatte er sich nicht unwesentlich verkürzt. 13 Die junge Persönlichkeit Karl Friedrichs gewinnt jetzt erstmalig festere, durch sein eigenes Konzept gekennzeichnete Züge. Es überrascht, daß er sich hier gegen seinen Vater durchsetzte. Denn so selbstverständlich diesem der Freiheits11 Vgl. u. a. den undatierten Brief der Mutter an ihn (Nachlaß, S.76). Sowohl das Collegium Romanum als auch das Collegium Sebastianum sind Gründungen des Ignatius von Loyola. Das erstere wurde im Februar 1551, das letztere, freilich nicht unter diesem Namen und an dem Ort, wo Savigny seinen Unterricht erhielt, im Februar 1552 gegründet. Zum Collegium Romanum vgl. Ricardo Garcia-Villoslada, Storia dei Collegio Romano dal suo inizio (1551) alla suppressione dela Compagnia di Gesu (1773), Rom 1954. Beim Collegium Sebastianum handelt es sich wahrscheinlich um das Gebäude, das, laut Beschreibung von Mariano Vasi, ltineraire instructif de Rome a Naples, Roma, 1813, p. 113, ein Musikkonservatorium für Mädchen beherbergt hat, dicht neben der Kirche S. Sebastiano. Noch heute befindet sich die Residenz der Jesuiten dort in unmittelbarer Nähe. 12 Nikolaus Fischer war damals Oberkapellan an der katholischen St. Hedwigskirche. \3 Das Reifezeugnis im Nachlaß, S. 80 f. Savigny hatte das Französische Gymnasium von Michaelis 1829 bis Michaelis 1830 als ,,zögling der 2. Klasse" besucht. Dann setzte die private Vorbereitung ein. Über die Konfession hatte er sich schon vorher entschieden. Bald nach Vollendung des 14. Lebensjahres wurde er in die katholische Kirche aufgenommen. Erstkommunion und Firmung in St. Hedwig durch Propst Fischer.

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raum eines jeden war, so selbstverständlich war ihm auch die Verantwortung für den engen Kreis seiner Familie und der Anspruch, mit dem er hier vorzugehen pflegte. Er bezweifelte, ob die private Vorbereitung des Sohnes auf die Reifeprüfung die bessere Lösung war. Um so erstaunlicher bleibt, daß er ihm hierin nachgab. Hier darf noch etwas weiteres vermerkt werden. Die Vorgänge der Julirevolution verfolgte Karl Friedrich mit der größten Anteilnahme. Seine politischen Ansichten beginnen sich abzuzeichnen. Seine jetzt zum Ausdruck kommende royalistisch-legitimistische Gesinnung ist von der Familie offensichtlich nicht geteilt worden. In einem Brief an den Vater bekennt er, wie schlimm es doch dem "armen König Kari" ergehe, daß selbst der Vater ihn bemitleiden werde. Und der Mutter gegenüber äußert er, wie wenig er hier (in Berlin) wagen könne, den Mund aufzutun und seine Gesinnung verlauten zu lassen. Sie werde wohl wieder die einzige sein, in deren Unterhaltungen er seinen "enthusiastischen Gefühlen" freien Lauf lassen könne, und dann unterschreibt er "Dein royalistischer Sohn". 14 Karl Friedrichs Stellung innerhalb der Familie ist damals nicht störungsfrei gewesen. Namentlich das Verhältnis zu dem älteren Bruder Franz erscheint getrübt. Der Vater hat das nach seiner Ansicht in jugendlicher Schroffheit aufgebaute Gedankengebäude konservativ-legitimistischer Überzeugungen dem Einfluß seiner römischen Lehrer zuschreiben wollen. In einem Brief vom 21. August 1830 an seine Frau heißt es: " ... Auf der anderen Seite ist nicht zu leugnen, daß Karl Ansichten hat, die Dir und mir und allen, mit denen wir gleich denken, völlig verkehrt vorkommen müssen. Sein Aufenthalt in Italien wird ihm hierin vielleicht zeitlebens anhängen, und ich habe mir schon oft bittere Vorwürfe gemacht, daß ich ihn, aus einer zutrauenden Nachgiebigkeit, die durch mein Körperleiden unterstützt war, Einwirkungen überlassen habe, die nun einen Teil seines geistigen Daseins mir und uns allen fremd machen. Über sein persönliches Benehmen gegen mich kann ich nicht klagen ... es liegt in der Natur des Menschen, daß dergleichen von Jahr zu Jahr mehr erhärtet, und selbst der Widerspruch anderer trägt noch dazu bei. Der Kummer, den ich darüber empfinde, ist ein Teil des allgemeinen schmerzlichen Gefühls, daß ich gar zu oft versäumt habe, auf die rechte Weise herrschend einzugreifen, wo ich gesollt hätte. Gott möge mir diese Schwachheit mit vielen anderen vergeben ... " 15 Die Befürchtungen des Vaters haben sich nicht erfüllt. Karl Friedrichs Verhältnis zu seinen Eltern ist nie ernstlich getrübt worden. Die politischen Überzeugungen des Sechzehnjährigen entschärften sich mit der Zeit, auch wenn er ihnen im Kern Zeit seines Lebens treu geblieben ist. Die ihn prägenden menschlichen und ethischen Einwirkungen des Vaters hat er nie auch nur im geringsten verkannt. 14 Karl Friedrich an seinen Vater, 8. August und an seine Mutter, 19. August 1830 (Nachlaß, S. 77 f.). 15 Friedrich Karl von Savigny an Gunda, 21. August 1830 (Nachlaß, S. 79 f.).

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Das Vertrauensverhältnis wurde auch nicht dadurch belastet, daß der Sohn schon bald mit einern neuen, kühnen Plan hervortrat. Im Gegeneil: die Zustimmung der Eltern ist als hoher Vertrauensbeweis zu werten. Für ein wissenschaftliches Studium war der Sohn nach der Ansicht des Vaters noch zu jung. Andererseits hat wohl auch Karl Friedrich selbst empfunden, für ein Leben in unausgesetzter wissenschaftlicher Bemühung noch nicht reif genug zu sein. Jedenfalls entwikkelte er jetzt den Plan, zur Abrundung seiner Allgemeinbildung und zur Vervollständigung seiner sprachlichen und historischen Kenntnisse für einige Zeit nach Paris zu gehen. Die Zustimmung der Eltern wurde auch dadurch erleichtert, daß Gundas jüngere Schwester Ludovica - die "Lulu" (1787 -1852) - nach dem Tode ihres ersten Gatten Karl Jordis (1830) in zweiter Ehe mit Richard Rozier des Bordes in Paris lebte und somit auch ein äußerer Anlaß zu einern Besuch gegeben war. Karl Friedrich durfte hoffen, in der fremden Stadt jederzeit bei ihr einen sicheren Rückhalt zu finden. Der Aufenthalt in der französischen Hauptstadt sollte für ihn von der nachhaltigsten Wirkung sein. Keine andere Stadt außerhalb des deutschen Sprachraumes hat ihn je so gefesselt wie Paris.

Reifejahre und Welterfahrung Nie zuvor hatte Paris eine ähnliche Anziehungskraft auf die Deutschen ausgeübt als in den Jahren nach der Julirevolution. Es war nicht die politische Modernität, die das Land vor allen Staaten des Festlandes auszeichnete, auch nicht die architektonische Schönheit seiner Hauptstadt, die seine Besucher fesselte. Es war vielmehr die Gesamtatmosphäre, die von dieser Metropole ausging. Was sich hier in Wunschbildern offenbarte, war Leben, gesteigertes Leben, Erhöhung des Daseins, Teilhabe am Wettstreit und Widerstreit geistiger, gesellschaftlicher und politischer Kräfte, war der Wunsch, vor dem Hintergrund dieser Möglichkeiten den Weg zu sich selbst zu finden und die Welt sich in seinem eigenen Innern widerspiegeln zu sehen. Paris verhieß verdichtete Existenz, Überprüfung und Neuorientierung des eigenen Weges, verhieß eine Antwort auf die Frage nach der Stellung des eigenen Ich im Labyrinth der Möglichkeiten. Karl Friedrich hatte zunächst keine deutliche Vorstellung von dem, was ihn dort erwartete. Von der formenden Kraft dieser Stadt hatte er noch nichts verspürt. Vielleicht lockte der Instinkt ihn dorthin, vielleicht auch die Erwartung eines gesteigerten Lebensgefühls, vielleicht die lange Reihe bedeutender Namen des geistigen und künstlerischen Lebens, die er in seinem Elternhause oft hatte nennen hören. Mit Paris verbanden sich ihm Bibliotheken und Archive, Museen und Denkmäler, literarische Zirkel und Salons, religiöse Zentren und Stätten der Zerstreuung, schließlich auch die Aussicht, einen leichteren Zugang zur französischen Sprache zu gewinnen. So reiste denn Karl Friedrich in Begleitung seines Bruders Franz über Weimar, wo sie der Schwiegertochter Goethes ihre Aufwartung machten, über Frankfurt, wo sie bei Clemens Brentano einkehrten, und Bonn, wo sie ihren Onkel Christian wiedersahen, nach Paris, das sie in den ersten Januartagen 1832 erreichten. Lulu des Bordes verschaffte ihnen eine Wohnung. Das Abenteuer konnte beginnen. In einer fragmentarisch erhaltenen Notiz hat Savigny seine mit dem Pariser Aufenthalt verbundenen Pläne formuliert. 1 Da war vorrangig von der Weiterbildung in der französischen Sprache die Rede, von geschichtlichen und naturhistorischen Vorträgen, von der Privatlektüre lateinischer und griechischer Schriftsteller, von lateinischen Stilübungen u. a. m. Besuche von Theatern, Museen, Kunstsammlungen und Bibliotheken wollte er nicht versäumen; und er wollte auch tanzen lernen. Schließlich versprach er, seinen Eltern regelmäßig zu schreiben und sie in tagebuchartiger Form von allem zu unterrichten, was ihm begegnete. 1

Text im Nachlaß, S. 82 f.

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Des Vaters Empfehlungen öffneten den Söhnen bald alle Türen. Die Spannweite der Eindrücke war namentlich für den Jüngeren von einer überwältigenden Vielfalt. Der Rechtsgelehrte Charles Guenoux, selbst mit der Übersetzung der Werke des Vaters beschäftigt, vermittelt ihnen Lehrer des Französischen und Englischen. Der preußische Gesandte Heinrich von Werther, der als Minister des Auswärtigen in nicht zu ferner Zeit Karl Friedrichs Entschluß bestimmen sollte, sich dem diplomatischen Dienst zuzuwenden, nimmt beide freundlich auf. 2 Alexander von Humboldt rechnet es sich zur Ehre an, ihnen hilfreich zur Seite zu stehen. Er führt sie in das College de France, empfiehlt ihnen die Vorlesungen über Themen der Naturgeschichte, die Georges de Cuvier, der Begründer der wissenschaftlichen Paläontologie und Vertreter der Kataklysmentheorie, hält. 3 Durch Humboldt lernen sie auch Dominique Fran~ois Arago kennen, den Astronomen und Physiker, der sich seit langem mit Fragen der Polarisation des Lichtes, mit Galvanismus und Magnetismus beschäftigt hatte und nun schon seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Ecole polytechnique wirkt und jetzt auch Direktor der Sternwarte ist. 4 Hier ist auch der ältere Andre Marie Ampere zu nennen, der Physiker und Mathematiker, der wie Arago der Ecole polytechnique seit langem Glanz verliehen hatte und mit Entdeckungen über die Wechselwirkungen zwischen elektrischen Strömen und dem Magnetismus hervorgetreten war. 5 Wir wissen, daß die Brüder auch den Vorlesungen des Althistorikers Jean-Antoine Letronne folgten, des umfassend gebildeten Textkritikers, der nach schweren Jugendjahren noch zum Generaldirektor der Archive des Königreichs aufsteigen sollte. 6 Der wissenschaftliche Ertrag ihrer Teilnahme an den Vorträgen darf nicht überschätzt werden. Dafür fehlte heiden noch das erforderliche Maß an allgemeiner Bildung und am Sprachverständnis. Wiederum war es Humboldt, durch dessen Vermittlung sie zu den Abendempfängen Guizots, des gelehrten Historikers und späteren Ministers, Zugang fanden, wo ihnen die geschichtswissenschaftliche Thematik und die politischen Vorstellungen des Hausherrn nahegebracht wurden. 7 Von Victor Cousin, dem Politiker und Historiker der Philosophie, 2 Heinrich August Alexander Wilhelm Frhr. v. Werther (1772-1859), zunächst Offizier, seit 1810 im diplomatischen Dienst, 1810 in Madrid, 1821 in London, 1824-1837 in Paris; nach An~illons Tod (1837) Außenminister. 3 Georges Baron de Cuvier (1769-1832), Schüler der Stuttgarter Karlsschule, 1820 Professor am College de France, legte am Jardin des Plantes die damals größte anatomische Sammlung an. Als Generalinspekteur des öffentlichen Unterrichts förderte er vor allem die Universitäten und Museen. 4 Arago (1786-1853), seit 1830 Direktor der Pariser Sternwarte. 5 Ampere (1775-1836), seit 1805 Professor an der Ecole polytechnique. 6 Jean-Antoine Letronne (1787 - 1848) Savigny schreibt irrtümlich Le Trone war über die Malerei, die Mathematik und geographische Studien zur Archäologie gekommen, einer der besten Kenner Altgriechenlands, seit 1831 Professor am College de France, 1840 Generaldirektor der Archive. 7 Fran~ois Pierre Guillaume Guizot (1787-1874),1812 Professor an der Sorbonne, Gegner der konservativ-klerikalen Politik der zurückgekehrten Bourbonen, im Bürgerkönigtum mehrmals Minister, nach 1848 auch Emigrant in England.

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dem VOn der Philosophie des deutschen Idealismus bestimmten Vermittler zwischen deutschem und französischem Geist, gewinnen sie einen menschlich sympathischen Eindruck. 8 Mit seiner Empfehlung werden sie beim Herzog Victor de Broglie,9 dem gelehrten Staatsmann, im Faubourg St. Germain eingeführt, wo sie auch eine Unerwartete Begegnung mit August Wilhelm Schlegel haben, der seinerseits mit der Herzogin in literarischen Beziehungen steht. Einladungen zu gesellschaftlichen Veranstaltungen, musikalische Soireen, Einführungen in die Residenzen fremder Missionschefs schließen sich an. Im Hause des Bankiers James Rothschild lernen sie den in Frankreich hochgeschätzten Komponisten Gioachino Rossini kennen, dessen Oper "Othello" sie auch auf der Bühne erleben. Die Reihe scheint endlos. Was in Savignys Berichterstattung auffällt, ist die oft schonungslose, unreife Kritik, mit der er alle diese Eindrücke verzeichnet. Er hält mit abfälligen Bemerkungen über die liberalen Deputierten der belgisehen Kammer nicht zurück, er bewundert die Schönheit des belgisehen Landes, aber Antwerpen erlebt er in dem "traurigen Zustand einer belagerten Stadt". Paris kommt ihm zunächst "großartig, aber schmutzig" vor. Er tadelt die tendenziösen Werke, die er auf den Bühnen zu sehen bekommt; er bewundert die Toiletten der Damen, aber er prangert ihre Libertinage auf dem Parkett an. Er spricht von "liederlichen Franzosen" und empfindet einen "ganz unüberwindlichen Ekel vor jeder Ausschweifung dieser Art" während der Zeit der Maskenbälle. Andrerseits ist er begeistert von dem greisen Lafayette, der sich seinerseits glücklich schätzt, die Söhne des berühmten Savigny kennenzulernen. In der Deputiertenkammer ist ihm Casimir Perier die beherrschende Erscheinung, für ihn einer der "bedeutendsten aller Revolutionsmänner". 10 Die Aufnahme, die den beiden Brüdern zuteil wurde, verdankten sie dem großen Namen ihres Vaters. Letronne gab seiner Verehrung für ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit Ausdruck. Der Jurist L'Hermenier, der sich zu der seltsamen These verstieg, daß die Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes dazu geführt habe, daß Savigny kein Franzose mehr sei, hatte sich längst dem Kreis seiner Bewunderer angeschlossen. Der russische Gesandte Peter von Meyendorff und seine Gemahlin 11 erinnerten sich gern der liebenswürdigen Auf8 Victor Cousin (1792-1867), Politiker und Philosoph, 1815 Professor an der Sorbonne, 1840 Unterrichtsminister. 9 Achille-Charles-Uonce-Victor, Duc de Broglie (1785-1870), Sohn des während der Großen Revolution hingerichteten Abgeordneten, im Empire wiederholt mit diplomatischen Aufträgen betraut, Juni 1814 Pair von Frankreich. In der Kammer galt er als Verteidiger der Diskussionsfreiheit und des uneingeschränkten Wahlrechts. Die Julirevolution bringt den sachkundigen Volkswirtschaftler an die Spitze des öffentlichen Unterrichts, mehrmals Minister, 1855 wird er Mitglied der Academie Fran~aise. 10 Casimir Pierre Perier (1777 - 1832), Bankier und Staatsmann, Präsident der Deputiertenkammer, wiederholt Minister. 11 Peter Freiherr von Meyendorff (1796 - 1863), russischer Diplomat, damals Gesandter in Paris, 1832 in Stuttgart, 1839 in Berlin, 1850/54 in Wien.

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nahrne, die sie einst in dem Hause am Pariser Platz gefunden hatten. Im Salon des Grafen Tracy 12 treffen sie auf Odilon Barrot, einen der Führer der gemäßigten liberalen Opposition gegen das Regime Karls X. 13 Hier wird über Adolphe Thiers und seine politischen Maximen diskutiert, und hier versucht Karl Friedrich, eine klarere Vorstellung von den innerpolitischen Spannungen im Lande zu gewinnen. Schon in dieser ersten Phase des Pariser Aufenthalts treten die unterschiedlichen Interessen der Brüder deutlich hervor. Während der musikalisch begabte Franz die elegante Geselligkeit, Konzerte und geistvolle Gespräche sucht, wendet sich Karl Friedrich mehr den politischen Vorgängen zu. Hier entwickelt er schon bald einen sicheren Blick für mancherlei Verfallserscheinungen in der Gesellschaft. Wirtschaftliche und politische Fehlentwicklungen beginnen sein Weltbild mitzubestimmen. Schon nach den ersten Wochen stellte sich heraus, daß an ein systematisches Sprach- und Geschichtsstudium kaum zu denken war. Die Julirevolution hatte viele Repräsentanten des französischen Geistes so in Anspruch genommen, daß ungestörte Studien kaum noch möglich waren. So entfielen auch viele der erhofften wissenschaftlichen Begegnungen wie etwa die mit dem eine ungewöhnliche Breitenwirkung erreichenden Historiker Abel-Fram;:ois Villemain. 14 Hinzu kam, daß der Ausbruch der Cholera viele Pläne erschwerte. Immerhin konnte Clemens Brentano seinen Neffen an den jungen Abbe Daubree 15 empfehlend verweisen, und dieser hat dann auch seine Hilfe nicht versagt. Mit ihm hat Karl Friedrich in den folgenden Wochen jeweils mehrere Stunden Werke der Geschichte, der Literatur und der Philosophie studiert. So mancher Hinweis auf ein weiterführendes Schrifttum geht auf ihn zurück. Dabei erlebt er während der Epidemie Szenen des Schreckens und Fälle menschlichen Versagens. Anderes erfüllt ihn mit Bewunderung, so wie sich Daubree oder der Erzbischof von Paris für die Kranken und Sterbenden einsetzen. Die beiden Brüder bleiben von der Krankheit verschont. Als sich Franz im Sommer zur Heimreise entschließt, eröffnen sich für den Bruder, jetzt ganz in der Nähe seines Mentors Daubree wohnend, neue Möglichkeiten für die Fortsetzung seiner Studien. Als Karl Friedri~h von mancherlei Zerstreuungen, von Ausflügen in die nähere Umgebung der Stadt nach Hause berichtet, kann die Mutter ihre Beunruhigung nicht verbergen. Karl Fried12 Antoine-Cesar-Victor-Charles, Comte de Tracy (1781-1864), ursprünglich Offizier, 1822-1848 Mitglied der Deputiertenkammer, in der er, neben Lafayette, zum äußersten linken Hügel zählte. Nach der Februarrevolution war er vom Dezember 1848 bis Oktober 1949 Marineminister. 13 Camille-Hyacinthe-Odilon Barrot (1791-1873), Jurist, Führer der Liberalen; beteiligte sich in der konstituierenden Versammlung von 1848 hauptsächlich an der Ausarbeitung der Verfassung. Im ersten von Napoleon ernannten Kabinett übernahm er das Justizressort. 14 Abel-Franlrois Villemain (1790-1870), bereits 1816 Professor der Geschichte an der Sorbonne, 1821 Mitglied der Academie franlraise. 15 Daubree, AbM, Historiker und Philosoph. Durch ihn lernte Savigny im September 1832 den AbM Lamennais kennen.

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rich hat ihre Befürchtungen zu zerstreuen gesucht. Daubree, so schreibt er, gehöre zur Schule des Abbe Lamennais und des Gerbet; 16 er selbst habe in politischer und religiöser Hinsicht von ihnen weitgehende Toleranz üben gelernt; er sei ein rechtschaffener Christ, der sich nicht die geringsten Ausschweifungen erlaube. Die Briefe des Vaters habe er sich zur Richtschnur erwählt; es sei ihm wie ein Gesetz, gegen die Eltern so aufrichtig zu sein wie gegen seinen Beichtvater. 17 Er schildert den Verlauf seines Pariser Aufenthalts und die Gründe, die ihn bis jetzt von einem gezielten Studium abgehalten haben, und bittet zugleich um eine Verlängerung seines Aufenthalts um drei bis vier Monate. Nur so, argumentiert er, werde die bisher aufgewendete Zeit und Mühe nicht verloren sein. Er verweist darauf, daß sein derzeitiger Umgang seine Ungewandtheit im mündlichen wie schriftlichen Ausdruck günstig beeinflusse. Der Vorwurf des Vaters, daß er seine Zeit damit zubringe, mit "charmanten Leuten herumzujunkern", trifft ihn schwer. Aber am Ende entzieht er ihm sein Vertrauen nicht. Karl Friedrich bleibt in Paris, neue Eindrücke und Anregungen in sich aufnehmend. In Theophile Gautier 18 (Savigny schreibt Gauthier) gewinnt er einen Helfer, der seine französischen Arbeiten korrigiert und ihm über viele Jahre verbunden bleiben wird. Bei Alfred de Vigny 19 trifft er mit Victor Hugo zusammen. Wichti16 Olympe-Philippe Gerbet (1798 - 1864), einer der bedeutendsten Schüler von Lamennais, Mitarbeiter am "L' Avenir". Nach der Zensur dieser Zeitschrift durch Gregor XVI. unterwarf er sich, schrieb für die von M. Bonnetty gegründete Zeitschrift "Universite catholique" eine Artikelserie religiös-philosophischer Themen, Generalvikar des ihm befreundeten Bischofs de SaHnis von Amiens, 1853 wurde er selbst Bischof von Perpignano - Hugo-Felicite-Robert de (seit 1834 demokratisiert Lamennais) La Mennais (1782 - 1854) fand nach früh auftretender Glaubenskrise den Weg zur Kirche zurück. 1814 erschien, schon mehrere Jahre zuvor abgeschlossen, "Tradition de I'Eglise sur l'institution des eveques" (3 Bde.), eine Verteidigung des Universalanspruchs des Papstes; 1816 Priester, 1817/25 sein wichtigstes Frühwerk ,,Essai sur l'indifference en matiere de religion" (4 Bde.), das wegen seiner kompromißlosen Rechtfertigung der Unfehlbarkeit von Papst und Kirche heftig umstritten wurde. 1825/26 erschien "De la religion consideree dans ses rapports avec l'ordre politique et civil" (2 Bde.), in dem er die Freiheit der Kirche gegen Gallikanismus und staatliche Bevormundung verteidigte. Seit 1826 sich immer mehr dem politischen Liberalismus nähernd, forderte er die Trennung von Kirche und Staat, Unterrichts- und Pressefreiheit und von der Kirche die Hinwendung zu den demokratischen Ideen der Zeit, zu deren Verwirklichung er mit Freunden den "L'Avenir" gründete (1. Nummer am 16. Oktober 1830). Trotz seines Versuches, Gregor XVI. in einer persönlichen Begegnung in Rom für die Tolerierung der Zeitschrift zu gewinnen, erfolgte am 15. August 1832 die Verurteilung durch die Enzyklika Mirari vos, der sich Lamennais unterwarf. Nach der Verurteilung seines Buches ,,Paroies d'un croyant" (1834) in der Enzyklika Singulari nos vom 7. Juli 1834 war der Bruch mit Rom unvermeidlich und wurde nie mehr behoben. Dennoch hat der immer mehr vereinsamende Lamennais auf die Mit- und Nachwelt auf dem Felde christlicher Sozial philosophie einen bedeutsamen Einfluß ausgeübt. 17 Karl Friedrich an seine Eltern, 13. Mai, 3. September und 13. Oktober 1832 (Familienarchiv). 18 Theophile Gautier (1811-1872), ursprünglich den Romantikern nahestehend. u. a. Verfasser von Reisebüchern. 19 Alfred-Victor Comtede Vigny (1799-1863), Verfasser historischer Romane und Dramen vorwiegend griechischer und biblischer Thematik.

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ger aber für ihn wird, daß er nun jenem Kreis katholischer Politiker und Schriftsteller näher tritt, der sich um Lamennais und den jüngeren Grafen Montalembert geschart hatte. 20 Diese zweite Phase seines Aufenthalts deutet sich schon in einem Brief an den Vater vom Juni an. 21 Er verweist auf die wachsende Zahl junger, nach vorn drängender Menschen, für die eine Regenerierung Frankreichs nur bei Verwirklichung bestimmter religiöser Prinzipien möglich sei. Lamennais steht ihm hierbei im Mittelpunkt. Karl Friedrich sucht den Eltern die Bestrebungen dieses Gegners des Gallikanismus auseinanderzusetzen. Er schickt ihnen einen Aufsatz aus der "Revue des deux mondes" über den Herausgeber des L'Avenir und stellt ihn dar als den Verfechter einer Wiederbelebung des religiösen Lebens und einen Kämpfer für die Neufundamentierung des Unterrichts. Im September lernt er endlich durch DaubrtSe und Gerbet den großen Lamennais selber kennen. Er macht auf ihn einen ungewöhnlich starken Eindruck. Ausgestattet mit einem Sinn für das geschichtlich Notwendige, gehört Lamennais zweifellos zu den großen Optimisten der Tat, die von der Basis des geschichtlich Gewordenen das unabweislich Neue ansteuern, dann aber mit der leidenschaftlichen Inbrunst ihres großen Herzens das Augenmaß verlieren und sich plötzlich in Situationen wiederfinden, die sie ursprünglich nicht gesucht hatten. In einer über dem Krater der Revolution allmählich sich wiederfindenden Welt verteidigte er die Kirche gegen die Wellen des Laizismus und des Unglaubens und die Autorität des Papstes gegen die Ansprüche des aus der Tiefe heraufdrängenden nationalen Gedankens. Er war nicht nur ein Bewahrer geheiligter Wertsysteme; was ihn über seine Brüder im geistlichen Gewande und über die Alltäglichkeit religiöser Existenz hinaushob, war sein sozial-religiöser Eifer, mit dem er die Verantwortung der Kirche in einer Zeit beginnender, in die Breite wie in die Tiefe wirkender Umschichtungen beschwor. Letztlich ging es ihm um einen die sozialen Bindungen in sich aufnehmenden modernisierten Katholizismus. Als er im August 1830 20 Charles-Rene-Forbes de Tryon, Comte de Montalembert (1810-1870), kirchlich streng gebunden, in frühen Jahren besonders der sozialen, politischen und religiösen Gedankenwelt der deutschen Hoch- und Spätromantik sich öffnend, stets um die Synthese von Politik, Religion, Philosophie, Kirche, Staat und Gesellschaft bemüht, stand seit Herbst 1830 unter dem Einfluß von Lamennais, dessen Forderung nach Unterrichts- und Pressefreiheit, die ihm für die Entfaltung der Religion unverzichtbar waren, er sich zu eigen machte. Erst nach dessen Verurteilung durch Rom löste er sich in schweren Kämpfen von ihm, dessen demokratisch-liberale Gedanken dem bewußten Aristokraten ohnehin fremd bleiben mußten. In dem Jahrzehnt vor der Februarrevolution trat er auf verschiedenen Ebenen erfolgreich hervor: als Mitglied der Pairskammer, in der Umgebung des Wegbereiters einer neuzeitlichen Laiencaritas innerhalb der katholischen Männerwelt Frederic Ozanam, als publizistischer Verteidiger der Freiheit der Kirche gegen alle Formen des Staatsabsolutismus etc. Die Verkündung des von ihm heftig kritisierten Unfehlbarkeitsdogmas hat er nicht mehr erlebt. Kein Franzose hat auf Savigny einen ähnlich starken Eindruck gemacht. Zahlreiche Briefe von ihm befinden sich im Familienarchiv. 21 Briefe an den Vater, 9. und 25. Juni 1832 (Familienarchiv).

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mit seinem jungen Freunde Lacordaire 22 und Montalembert den "L' A venir" gründete, zog er sich bald das Mißfallen der Mehrheit des Episkopats zu. Die kirchlichen Stellen sahen sich herausgefordert, da hier einer völligen Trennung von Staat und Kirche das Wort geredet und eine unumschränkte Freiheit des Bekenntnisses sowie die Fortentwicklung der kirchlich-sozialen Wirksamkeit zur politischen Demokratie verlangt wurde. Ausgezogen, um den religiösen Indifferentismus zu überwinden, hatte Lamennais, der in der unfehlbaren Tradition der Kirche die von Gott geoffenbarte allgemeine Vernunft erkannte, aus Sorge um die Zukunft die Gegenwart verloren. Gregor XVI. hat seinen "demokratischen Ultramontanismus" verurteilt. Mit Montalembert hatte er in Rom vergeblich um die kirchliche Billigung der in der Zeitschrift vertretenen Grundsätze gekämpft. Die Verurteilung hatte ihn und die Freunde auf der Rückreise in München, wo sie auch mit Görres und Ringseis zusammengetroffen waren, erreicht. Lamennais ging fortan den Weg in die Selbstisolierung, zögernd zuerst, dann aber bis ans Ende dabei verharrend. Montalembert, nicht weniger enttäuscht, fand den Zugang zu neuen Idealen. Um ihn versammelten sich bald die Repräsentanten der katholischen Romantik, und zu ihnen stießen junge, aufgeschlossene Künstler und Schriftsteller wie der ~ritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve, den eine von der Akademie angeregte Preisaufgabe mit einem Schlage berühmt gemacht hatte, und Jean-Jacques Ampere, der Sohn des großen Physikers, der weitgereiste Literaturwissenschaftler am College de France. 23 Ausländer fanden sich ein wie die mit Josephe de Maistre befreundete russische Konvertitin Sophie Swetchine oder der von seinen Landsleuten als Prophet und Repräsentant eines nationalen und zugleich humanistischen Polenturns begeistert verehrte Adam Mickiewicz. 24 Bedeutender als sie alle war jedoch Frederic Ozanam, der als Professor an der Sorbonne durch Franziskus- und Danteforschungen noch hervortreten sollte. 25 22 Jean-Baptiste-Henri Lacordaire (1802 - 1861), zunächst von dem kirchenfemen Zeitgeist erfaßt, dann Priester (1824/27), stark von Lamennais beeinflußt, unterwarf sich nach der Verurteilung des L'Avenir. Seit 1835 trat er als vielbewunderter, zuweilen auch argwöhnisch kritisierter Kanzelredner in Notre Dame hervor, bemüht um die Versöhnung der Kirche mit den Ansprüchen der modemen Zivilisation. 1860/61 Mitglied der Academie fran~aise. Vgl. auch Savigny an seine Eltern, 23. April 1832 (Familienarchiv). 23 Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804-1869). Die Preisaufgabe lautete: "Tableau historique et critiqup de la poesie fran~aise et du theätre fran~ais au XVI. siec1e. Jean-Jacques-Antoine Ampere (1800-1864), seit 1833 Professor der Literaturwissenschaft am College de France. 24 Adam Mickiewicz (1798 - 1855), wegen antirussischer Haltung nach Odessa verbannt, gelangte 1832 nach Paris, nachdem er kurz zuvor mit der "Ahnenfeier" das bedeutendste Werk der polnischen Romantik vollendet hatte, 1840 Professor am College de France, 1848 Organisator einer polnischen Legion gegen Österreich in Italien. Während des Krimkrieges starb er 1855 in Konstantinopel an der Cholera. 25 Antoine-Frederic Ozanam (1813-1853), seit 1840 Professor der Literaturwissenschaft an der Sorbonne, Wegbereiter christlicher werktätiger Nächstenliebe. Erster Vinzenzverein auf deutschem Boden 1845 in München (Gelehrte des Görreskreises, Adelige, bald auch Handwerker).

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Er war zugleich derjenige, der die Gedanken des Abbe Lamennais in die Formen künftiger kirchlicher Daseinsdurchdringung hinüberrettete. Der große Vermittler deutschen Geistes, der noch am Vorabend der Revolution von 1848 zum Mißvergnügen Ludwigs I. auf Görres' und Döllingers Betreiben Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften wurde, stand damals erst am Anfang seines Aufstiegs. Was ihm vorschwebte, war die religiöse Regeneration seiner Zeitgenossen durch die Weckung und Entfaltung eines sozialen Verantwortungsbewußtseins im französischen Katholizismus. Der damals noch nicht Zwanzigjährige wurde bald Mittelpunkt einer sozial-karitativen Bewegung innerhalb der Pariser Studentenschaft und damit auch der Wegbereiter einer neuzeitlichen Laiencaritas innerhalb der katholischen Männerwelt. Unterstützt von Freunden wie Chateaubriand und de Maistre, von Lacordaire und Montalembert, begann er unter den Studenten Anhänger seiner Idee zu werben, bis er dann im Mai 1833 mit acht Pariser Kommilitonen die Societe de St. Vincent de Paul begründete, jene Gesellschaft der Vinzenzvereine, nahe bei der Kirche St. Etienne du Mont neben dem Pantheon, die hernach in der ganzen christlichen Welt als Vorbild gefeiert wurde. Zu diesem Kreis fand Savigny im Herbst 1832 Zugang. Unter den jungen Männern, bei denen die vollendete Beherrschung der Umgangsformen ebenso selbstverständlich war wie die anspruchsvolle Erörterung aller Daseinsfragen, hat er sich außerordentlich wohl gefühlt. 26 Es darf angenommen werden, daß er von der Tragweite mancher Diskussionen noch keine klare Vorstellung hatte, aber ein Gespür von der Bedeutung dieser Begegnungen war ihm sicher nicht abzusprechen. Sie lag für ihn wohl darin, daß eine Anzahl geistreicher Männer die religiösen und kirchlichen Lehren in den Mittelpunkt ihrer Erwägungen gerückt hatten. Man darf sich erinnern, daß auch er die erste bedeutsame persönliche Entscheidung auf der Ebene des Religiösen hatte treffen müssen. Vom Elternhaus war er es zudem gewöhnt, bedeutenden Männern mit Geist und Verstand zu begegnen. Wer Savignys Pariser Aufenthalt überschaut, versteht den Ausspruch eines Freundes, daß noch selten ein Fremder in dieser Stadt so viele Menschen von geistigen, politischen, religiösen und künstlerischen Ansprüchen kennengelernt hatte. Es wären noch viele andere Eindrücke zu nennen. Im Salon der liebenswürdigen und schönen Duchesse de Rauzan war er auf eine Atmosphäre beschwingter Lebensfreude gestoßen. Im Hause des großen Orientalisten Jaubert, der einst Napoleon in Ägypten als Dolmetscher gedient hatte, war ihm der bekannte Advokat Berryer-fils vorgestellt worden. 27 Gautier konnte ihm erhebliche Fort26 Im Oktober 1832 hat die ganze sogenannte "ecole catholique" die Stadt verlassen; Lamennais, Gerbet und Lacordaire zogen sich nach der Bretagne, Montalembert auf seine Güter zurück. 27 Pierre-Amedie Jaubert (1779-1847), Orientalist, hat auch diplomatische Aufträge durchgeführt. - Pierre-Antoine Berryer (1790-1868), Sohn eines Juristen und selbst erfolgreicher Anwalt. Den Prinzipien der Restauration ergeben, kämpfte er gegen die Ultraroyalisten (er war einer der Verteidiger des Marschalls Ney und des Generals

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schritte in der französischen Sprache bestätigen und half ihm, eine kleine Bibliothek französischer Autoren, meist geschichtlichen Inhalts, anzulegen. 28 Savigny hat sich mit diesen Werken in der Folge noch oft und gern beschäftigt. Dann neigte sich der Aufenthalt seinem Ende zu. Die Erlebnisse sind ihm noch lange in Erinnerung geblieben. Vor allem hat die Verbindung mit Montalembert noch die folgenden Jahrzehnte überdauert. Wie gegenwärtig bleiben die Szenen, die sich ihm in seiner Umgebung eingeprägt haben! Wie beglückt ist er von jener Sophie Swetchine, die ihn durch Montalembert hatte kennenlernen wollen! 29 Die Eröffnung der großen Kunstausstellung ist das letzte große Erlebnis in der Stadt an der Seine. Reich an Erfahrungen und unverwischbaren Eindrücken verläßt er am 1. März 1833 die Stadt. Am 9. ist er in Frankfurt. Am selben Tage noch reist er über Kassel nach Berlin. Das Elternhaus hat ihn wieder. In seiner Persönlichkeit gereift, hatte er gelernt, im Umgang mit Menschen des Geistes, der Künste und der Politik, in der Atmosphäre der Salons sich zurechtzufinden und in einer ihm zunächst fremd erscheinenden Welt zu behaupten. Jetzt scheint er in der Lage, die geistigen Anregungen des Elternhauses fruchtbringend in einem juristischen Studium weiterzuentwickeln. Ein anderes Studium ist weder von ihm noch von den Eltern jemals erwogen worden. Von seinem ersten Berliner Semester wissen wir wenig. Außer einer vorläufigen Orientierung scheint es nicht sonderlich fruchtbar gewesen zu sein. Im Elternhaus wohnend, hat er uns schriftliche Zeugnisse kaum hinterlassen. Daß er zuweilen auch die Lehrveranstaltungen des Vaters besucht hat, darf als sicher angenommen werden. Auch über das sich anschließende Einjährig-Freiwilligen-Jahr, das er beim 2. Garde-Ulanen-Landwehr-Regiment ableistete, sind wir kaum unterrichtet. Anscheinend sind die militärischen Vorgesetzten mit ihm zufrieden gewesen. Am 20. August 1834 konnte er der Mutter frohlockend die Beförderung zum Offizier mitteilen. Das vom Regimentskommandeur Oberstleutnant von Dunker unterzeichnete Qualifikationszeugnis hebt Dienstkenntnisse, wissenschaftliche Bildung und angemessenes Benehmen ausdrücklich hervor. 30 Eine "Soldatennatur" ist Karl Friedrich jedoch nicht gewesen. Das sich anschließende Berliner Wintersemester 1834/35 hat ebenso wenig klare Konturen angenommen wie jenes erste vom Jahre zuvor. Mit dem Pariser Freundeskreis steht er weiter in enger Verbindung. Gautier ist hier zu nennen, und dann berichtet Cambronne) und bewies in zahlreichen Prozessen maßvolle Liberalität und überzeugende Beredsamkeit. 1854 in die Academie fran9aise aufgenommen, lehnte der Royalist es ab, dem Staatsoberhaupt die übliche Aufwartung zu machen. 28 An die Eltern, 2. November 1832 (Familienarchiv). 29 Sie sei, so schreibt er, die "gebildetste, gelehrteste und dabei liebenswürdigste Frau", die er je gesehen. Dann heißt es in dem Brief an Franz weiter: " ... Ihr Zirkel hat etwas ganz Klassisches; sie sitzt mitten in ihrer sehr reichen Bibliothek; die Konversation ist gewöhnlich allgemein und beinahe nur literarisch und philosophisch. Sie erzählt dann viele merkwürdige Aussprüche und interessante Urteile der berühmten Männer des vorigen Jahrhunderts." (Familienarchiv). 30 Das Qualifikationszeugnis ist abgedruckt im Nachlaß, S. 85.

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Daubree ihm ausführlich in seiner kleinen, zierlichen Schrift von den Zuständen und Begegnungen in der französischen Hauptstadt. 31 Er sucht auch sonst auf ihn einzuwirken: er möge einen ihn ganz ausfüllenden Beruf ergreifen, rät er ihm und weist dabei auf das Beispiel seines Vaters hin. Er hatte die Befriedigung einer solchen Tätigkeit an sich selbst erfahren und vielleicht hat er, angesichts der ihm befreundeten Arnim'schem Familie, ihn vor der Zersplitterung seiner Fähigkeiten bewahren wollen. Besonders eng gestaltete sich das Verhältnis zu dem bewunderten Montalembert, der seinerseits die Verbindung zum Hause des Freundes nicht entbehren mochte. Auf seinen Reisen durch Deutschland, Österreich und Italien hat er auch Berlin besucht, und dort ist er von der Familie Savignys immer auf das freundlichste aufgenommen worden. Die beiden Jahre nach seiner Rückkehr aus Paris hielten noch manch heitere und traurige Stunde für ihn bereit. Bettina verlobte sich mit dem hochgebildeten griechischen Diplomaten Konstantin Demetrius Schinas, einem Mitglied aus dem Kreis der angesehenen Fanariotenfamilien. Der aus einer vermögenden Familie stammende Diplomat hatte in Bonn und Berlin philologische und juristische Studien betrieben. Im Hause des Rechtsgelehrten, der seinem Schüler schon bald ein hohes Maß an Vertrauen schenkte, hatte er Bettina kennengelernt. 32 Lange hatten die unsicheren Verhältnisse in seiner Heimat eine Verbindung hinausgeschoben; jetzt aber, als sich der Horizont ihrer gemeinsamen Zukunft aufzuhellen begann, konnte Bettina Ende April ihre Verlobung auch an Ringseis mitteilen, der seinerseits schon längere Zeit durch die Münchener Verbindungen mit der Regierung Ottos von Griechenland, des zweiten Sohnes Ludwigs von Bayern, Briefe nach Griechenland vermittelt hatte. Im Spätsommer trifft sich die ganze Familie in München und in dem nahen Schäftlam; an dem Glück dieser Tage nehmen auch Freunde teil, das Ehepaar Ringseis, Montalembert und andere mehr. Anfang Oktober geht die Reise weiter nach Ancona, wo das junge Paar nach griechischem Ritus im Hause des griechischen Konsuls getraut wird. Die Eltern wähnen ihre Tochter in bester Obhut. Mit ihrem Gatten reist die von allen überaus geliebte Bettina in ihre neue Heimat. Sie sollte die Ihrigen niemals wiedersehen. Es hat einige Zeit gedauert, ehe sich Karl Friedrich von Savigny zur Fortsetzung seines juristischen Studiums in München zurechtfand. Die Welt kommt ihm öde und langweilig vor, bekennt er in seinem Brief an die Eltern, aber ihren Wünschen folgend, berichtet er auch ausführlich von den Menschen, in deren Gesichtskreis er inzwischen getreten war. Er hatte zunächst die alten Freunde des Vaters aufgesucht, den Philosophen Schelling, nun schon seit fast einem Menschenalter 31 Mehrere Briefe aus dem Pariser Freundeskreis im Nachlaß, a. a. 0.; andere jetzt wieder aufgefundene von Monta1embert und Daubree befinden sich unveröffentlicht im Familienarchiv . 32 Über Schinas vgl. jetzt den Aufsatz von H. Gollwitzer in der Festschrift für M. Spind1er, München 1969, S. 709 ff. Vgl. ergänzend die Arbeiten von L. Hüttl und W. Seidl im Literaturverzeichnis.

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Mitglied der bayerischen Akademie der Wissenschaften, den aus Königsberg stammenden Professor der deutschen Rechtsgeschichte, Georg Philipps, den über Erlangen nach München als Professor des Römischen Rechts gekommenen Georg Friedrich Puchta und manche andere. 33 Gelegentlich sucht er jetzt auch Görres auf, über den er sich nach anfänglicher Abneigung günstiger ausspricht, günstiger jedenfalls als über die Atmosphäre im Schelling' schen Hause, in dem eine "gewaltige Langeweile" herrsche. Am häufigsten finden wir ihn bei Ringseis. Der gelehrte Arzt nimmt sich seiner über die Maßen an, teilt seine freien Stunden mit ihm, und auf endlos langen Spaziergängen läßt er ihn teilnehmen an dem geheimnisumwitterten Gebäude seiner ärztlichen Wissenschaft. Häufig trifft er auch mit seinem Onkel Clemens zusammen, der seine ganze Sympathie gewinnt, in größter Verehrung von seinem Schwager Achim von Arnim spricht und der Schwester Bettina in Liebe anhängt. Bei Puchta lernt er Julius Schnorr von Carolsfeld kennen, den Historienmaler und Nazarener, der in Dresden noch einmal seinen Weg kreuzen wird, 34 sowie Ferdinand von Olivier, den Entdecker der Landschaften um Salzburg und Wien. 35 Bei Friedrich Thiersch 36, dem in Bayern als Professor der klassischen Sprachen und Leiter des Gelehrtenschulwesens wirkenden Neuhumanisten und Philhellenen, begegnet er dem gefeierten Hofarchitekten Ludwigs 1., Leo von Klenze, 37 der gerade von einer künstlerischen Mission aus seinem geliebten Griechenland zurückgekehrt war. Viele andere Namen treten in den erhaltenen Korrespondenzen auf: Die Gebrüder Boissen!e, die für die Münchener Gemäldesammlungen so verdienstvollen Kunstwissenschaftier, der Grieche Mavrokordatos, der greise Montgelas, dem er im Hause des Grafen Spiegel, des österreichischen Gesandten, vorgestellt wird. Der preußische Gesandte August Graf von Dönhoff nimmt ihn freundlich auf; durch ihn lernt er den Fürsten Ludwig von Öttingen-Wallerstein kennen, den Minister des Innern, der einst in Landshut als junger Studiosus viel in Savignys Elternhaus verkehrt hatte. 38 33 Georg Philipps (1804-1872), nach juristischen Studien bei Savigny und Eichhorn Professor für deutsches Recht in Berlin, seit 1834 in München. Im Zusammenhang mit der Lola Montez-Affäre aus dem Staatsdienst ausgeschieden, übernahm er 1850 einen Lehrstuhl in Innsbruck, von wo er schon bald nach Wien überwechselte. Mit Guido Görres redigierte er die "Historisch-politischen Blätter". In der Paulskirche gehörte er zum "Cafe Milani". - Georg Friedrich Puchta (1798-1846), von Niebuhr und Savigny stark beeinflußt, kam über Erlangen nach München; 1842 übernahm er Savignys Berliner Lehrstuhl. 34 Julius Schnorr von Carolsfeld (1794-1872), 1827 Professor an der Münchener Akademie, 1846 in Dresden, wo er auch als Direktor der Gemäldegalerie wirkte. 35 Ferdinand Olivier (1785 - 1841), Landschaftsmaler, seit 1830 in München wirkend, vorher in Wien. 36 Friedrich Wilhelm Thiersch (1784 - 1860), 1826 Professor in München, Verfechter der neuhumanistischen Gestaltung der Gymnasien (Thierscher Schulplan von 1829). 37 Franz Karl Leo von Klenze (1784-1864), von Gilly beeinflußter Architekt, von 1826 an in München; als Stadtplaner Ludwigs I. prägte er Straßenzüge und Plätze der Hauptstadt.

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München als Stadt hat ihn zunächst nicht sonderlich gefesselt. Seine Äußerungen sind spärlich. Im Mittelpunkt seiner Mitteilungen stehen die Menschen, die ihm etwas bedeuten, weniger seine Universitätslehrer als die Persönlichkeiten, die außerhalb seines Studiums seine Wege gekreuzt haben. Er vermißt die Atmosphäre des Elternhauses, die Geselligkeit der Pariser Zirkel. Es fehlt ihm an eng befreundeten Menschen. Heimweh nach Berlin quält ihn. Stärkeres Interesse empfindet er jetzt für sein juristisches Studium. Er umgibt sich mit Bergen wissenschaftlicher Literatur. Neben den klassischen Gebieten der Jurisprudenz beschäftigt er sich auch mit den Randgebieten bis hin zur Nationalökonomie. Dabei reißen die Verbindungen mit den Kreisen der Gesellschaft nicht ab. Professoren, Schriftsteller, Künstler gehören dazu. 39 Peter von Heß4O, den viele für das bedeutendste Talent im damaligen München halten, erregt seine Bewunderung. Und immer wieder ist es Monta1embert, mit dem er sich beschäftigt. Dieser wiederum hatte ihm vorgeschlagen, gemeinsame Reisen zu unternehmen einmal sollte es der Orient sein, ein andermal Spanien. 41 Er, der an keinen Beruf Gebundene, kann nicht verstehen, warum Savigny diese kleinen Abenteuer ablehnen muß. Aber die briefliche Verbindung bleibt. Montalembert berichtet ihm von den weiteren Schicksalen der gemeinsamen Freunde: von dem tragischen Weg, den Lamennais genommen, von Lacordaire, der zu einer großen Persönlichkeit herangereift ist, von Clemens Brentano's Buch über die Visionen der Kathari38 Zu den hier genannten Personen: Me1chior Boisseree (1786 - 1851), KunstwissenschaftIer und Sammler, Herausgeber der Lithographien der bayerischen Gemäldesammlungen (1821-1840); zusammen mit seinem Bruder Sulpiz (1783 -1854) schuf er jene Sammlung, die Ludwig I. schließlich für die Alte Pinakothek erwarb. 1835 wurde Sulpiz, der vor allem auch für die Vollendung des Kölner Domes warb, bayerischer Generalkonservator. - Alexandros Mavrokordatos (1791 - 1865), einer Fanariotenfamilie aus Chios entstammend, Diplomat, veröffentlichte als Präsident der ersten griechischen Nationalversammlung 1822 das Manuskript der Unabhängigkeitserklärung. - Maximilian Joseph Graf von Montgelas (1759-1838), wesentlich beteiligt an der Schöpfung eines modemen bayerischen Staatswesens (Integrierung der neu erworbenen Gebiete, Reorganisation von Recht und Verwaltung, Anfänge des bayerischen VeIfassungslebens). - August Heinrich Hermann Graf von Dönhoff (1797 -1874), preußischer Diplomat, 1833 fürfast ein Jahrzehnt Gesandter in München, 1842 Bundestagsgesandter, im Herbst 1848 für kurze Zeit Außenminister, später Mitglied des Herrenhauses. - Ludwig Fürst von Oettingen-Wallerstein (1791-1870), bayerischer Staatsmann, hatte in Landshut viel im Hause seines Lehrers Savigny verkehrt und keinem so viel zu verdanken gehabt wie diesem. Seine politische Laufahn begann er als Abgeordneter des württembergischen Landtags. (Der westliche Teil seiner Standesherrschaft war 1806 an Württemberg gefallen). 1828 Regierungspräsident des Oberdonaukreises; von Ende 1831 an mehrere Jahre Innenminister. 39 Nur einige Beispiele: er habe Thiersch schon zweimal aufgesucht; von Schelling sei er besonders freundlich aufgenommen; öfters finde er sich auch bei Ringseis ein; bei Puchta treffe er Schnorr von Carolsfeld und Olivier und Phillips bei Spiegel; Clemens Brentano besuche er regelmäßig, desgl. Görres und Giech. Er sei jetzt "einer der bekanntesten Preußen in der ganzen Stadt". (Savignys Briefe vom 11. und 17. November 1834, Dezember und Weihnachten 1834,7. Februar und 26. April 1835, alle im Familienarchiv). 40 Peter von Heß (1792 - 1871), in München wirkender Maler. 41 Montalembert an Savigny, 2. Mai 1835 (Familienarchiv).

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na Emmerich, von den Lebensspuren des Polen Adam Mickiewicz, die er aufzeichnet. So wie der Franzose ihm einen tiefen Blick in seine Gedankenwerkstatt erlaubt, so läßt auch Savigny seine Eltern aus München wissen, was sie interessieren könnte; er berichtet über Rivalitäten in der Universität, über die Kämpfe zwischen ihr und dem Ministerium, über die Angriffe junger Künstler gegen die Direktion der Akademie, über die ästhetischen Vorstellungen des Königs. 42 Allmählich überwiegen die freundlicheren Eindrücke, die München ihm vermittelt. Er nimmt am Oktoberfest teil. Mit dem Hoftheaterintendanten Theodor von Küstner plant er eine Reise nach Salzburg. 43 Die gesellschaftlichen Verbindungen verdichten sich: die Gräfin Giech lädt ihn ein; im Salon der Baronin Gruben und der Gräfin Tauffkirchen ist er ebenso willkommen wie in der Familie Lerchenfeld oder der des Grafen Seinsheim, eines Schülers seines Vaters. Mit Christian Daniel Rauch trifft er bei Thiersch zusammen, und als Peter Cornelius' Rückkehr aus Rom Anlaß zu einem großen Wiedersehensfest auf der Menterschweige rechts der Isar gibt, sehen sie sich alle wieder: Görres und Rauch, Ringseis und Ludwig Richter und viele andere. 44 Besondere Freude macht ihm der Besuch des Freiherm von Werther, des Gesandten in Paris, der ihm die Grüße seiner Freunde überbringt und ihm, wie er schreibt, ein "schmeichelhaftes Angebot" macht. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um den Eintritt in den diplomatischen Dienst. 45 Überschattet wurde die letzte Phase seines Studienaufenthalts in München von den politischen Entwicklungen in Griechenland und dem damit verknüpften Schicksal Bettinas und seines Schwagers. Georg Ludwig von Maurer,46 der Münchener Lehrer der deutschen Rechtsgeschichte, den der König in den Regentschaftsrat des noch unmündigen Königs Otto berufen, dann aber mitten aus 42 So u. a. in einem Brief an den Vater vom 13. Mai 1835; ergänzend auch sein Brief vom 30. Mai (Familienarchiv). 43 Savigny an seine Eltern, 14. August 1835. Karl Theodor von Küstner (17841864) war nach seiner Intendantentätigkeit in Leipzig und Darmstadt von 1833 bis 1842 Intendant in München und wirkte dann bis 1851 in Berlin. Savigny blieb noch lange mit ihm in Verbindung. Vgl. auch Küstner an Savigny, 18. Dezember 1841 (Familienarchiv). 44 Zu einigen der hier genannten Personen: Franziska Gräfin von Giech (1813-1872) war die Gemahlin des späteren Regierungspräsidenten von Mittelfranken Franz Friedrich Karl Graf von Giech (1795 - 1863), der in der Paulskirche später als ,,Erbkaiserlicher" hervortrat. - Max Emanuel Frhr. von Lerchenfeld (1778 - 1843), 1817 - 1825 und erneut 1833-1834 Finanzminister, mehrere Jahre Gesandter in Wien und beim Bundestag in Frankfurt. - Christian Daniel Rauch (1777 - 1857), von Schadow und dem Klassizismus des beginnenden 19. Jahrhunderts stark beeinflußter Bildhauer. - Peter Cornelius (17831867), deutscher Maler, in Frankfurt, Rom, Düsseldorfund Berlin wirkend, 1825 Direktor der Münchener Akademie (Jüngstes Gericht in der Ludwigskirche). 45 Savigny an seine Eltern, 26. August 1835 (Familienarchiv). 46 Georg Ludwig von Maurer (1790-1872), Rechtshistoriker in München, 1832/34 Mitglied der Regentschaft für König Otto von Griechenland, in der er sich um das dortige Gerichtswesen verdient gemacht hat; 1834 wieder in München, später kurze Zeit Minister des Auswärtigen und der Justiz.

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seinem refonnerischen Wirken wieder abberufen hatte, war in der Lage, ihn über die Vorgänge in Griechenland zu infonnieren. Durch ihn und den gleichzeitig zurückgekehrten Geheimen Legationsrat Karl von Abel 47 erhielt er Nachrichten, die ihm ein insgesamt sehr betrübliches Bild von den Verhältnissen in Griechenland und von den Schicksalen des Ehepaares Schinas vennittelten. Für den so schnell aufgestiegenen Schinas bestanden offenbar keinerlei Aussichten, in Athen auf die Dauer tiefere Wurzeln zu schlagen. Ein ausführlicher Brief Bettinas ließ für die Zukunft nichts Gutes ahnen. Mit der Abberufung Maurers und Abels durch König Ludwig war seine weitere Laufbahn blockiert. Sein Sturz war letztlich unausbleiblich, auch wenn er in der Folge Zutritt zum Hof behielt, gesellschaftliche Verbindungen zu den diplomatischen Kreisen der Hauptstadt weiter pflegte und dank seiner umfassenden Bildung, seiner ausgedehnten Sprachkenntnisse und konzilianten Umgangsfonnen ein hochangesehener Gast in der griechischen Gesellschaft blieb. 48 Was den jungen Savigny aber am meisten erschütterte, war die Nachricht vom Tode der so heiß geliebten Schwester. Er erhält als erster die Trauerkunde und ihre Bestätigung durch die preußische Gesandtschaft. Er wendet sich an Eichhorn, seinen Paten, mit der Bitte, die Eltern auf die schmerzliche Nachricht vorzubereiten. Am 25. September erhält er einen Brief seines Schwagers, der das ganze Unglück bestätigt. Ein "gastrisches Fieber" - es handelte sich um Typhus - hatte Bettina am 25. August dahingerafft. "Ich eile jetzt in einigen Tagen zu Euch," schreibt er den Eltern, "hier kann und mag ich nicht länger bleiben."49 Nun steht sie wieder vor seinem geistigen Auge, und noch in späteren Jahren hat sich in seinen Briefen das liebliche Bild der Frühvollendeten, die ein gütiges Schicksal vielleicht vor schweren Enttäuschungen bewahrt hat, in seinem ganzen Zauber eingestellt. Montalembert spricht in seinem Kondolenzbrief von der Reinheit und Güte ihres Charakters und der Hoheit ihrer Seele. Sie sei für eine bessere Welt geschaffen gewesen, als die gegenwärtige sei, und geliebt und bewundert zu werden von allen, die ihr jemals begegneten, sei ihr glückliches Los gewesen. Savigny hält nun nichts mehr in der Stadt an der Isar. Zwar fällt ihm der Abschied von den Freunden schwer, aber den Schmerz der Eltern zu lindern, steht für ihn im Vordergrund. Am 30. Oktober verläßt er München. In Berlin gilt es, seine Studien fortzusetzen und abzuschließen. Die Quellen fließen sparsam. Übertriebener Eifer hat ihn dabei nicht geleitet, aber er hat durchgehalten. Am 20. Mai 1836 besteht er vor dem Kammergericht das Auskultatorexamen. Nach dem noch erhaltenen Dienstleistungszeugnis hatte er "im 47 Karl August von Abel (1788-1859), 1832 Mitglied des Regentschaftsrats, 1837 als Nachfolger Oettingen-Wallersteins Innenminister, im Zusammenhang mit der Lola Montez-Affäre im Februar 1847 entlassen; dann Gesandter in Turin. 48 Savigny an seine Eltern, 25. Juni, 2. und 20. Juli 1835 (Familienarchiv). 49 Savigny an Eichhorn, 22. September, an die Eltern, 25. September und 25. Oktober 1835; ergänzend auch die Briefe vom 30. Oktober und 5. November 1835 (Familienarchiv).

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ganzen gute Kenntnisse der Rechtstheorie sowie eine hinreichend ausgebildete Fassungsgabe und Beurteilungskraft" gezeigt. Am 6. Juni wird er dem Berliner Stadtgericht zur weiteren praktischen Ausbildung überwiesen. 50 Der Erste Direktor dieses Gerichts, der Geheime Justizrat Beelitz, hat sich der ihm anvertrauten Auskultatoren offenbar in einer Weise angenommen, die auch dem jungen Savigny Freude machte. In den Briefen, die er im Spätsommer 1836 - er hatte seinen Dienst am 17. Juni angetreten - seinen damals in Teplitz weilenden Eltern schreibt, äußert er sich beglückt und zufrieden. Nach einer kurzen allgemeinen Orientierung hatte er die verschiedenen Abteilungen dieses Gerichtshofes zu durchlaufen. Vormittags hält er sich im Gericht auf; nachmittags nehmen ihn häusliche Ausarbeitungen in Anspruch; zuweilen muß er in kriminalgerichtlichen Fragen der Obduktion von Leichen beiwohnen. 51 Mit seinen Vorgesetzten steht er auf freundschaftlichem Fuß. Mit Verehrung spricht er noch lange von dem Stadtgerichtsrat Schütz. Als er im März 1837 ausscheidet, lobt Beelitz seinen Eifer und seinen fleiß und bestätigt, daß er den "ungeteilten Beifall seiner sämtlichen Vorgesetzten" gefunden habe. Er lobt seine Ordnungsliebe und Pünktlichkeit' die "rasche Entwicklung seiner natürlichen Anlagen", seine leichte Auffassungsgabe, seinen Scharfsinn, seine Gesetzeskenntnisse und nicht zuletzt sein sehr gesittetes Benehmen. 52 Es scheint, daß die seit seinem Münchener Studium bereits in Aussicht genommene diplomatische Laufbahn vorübergehend in den Hintergrund getreten ist. Vielleicht denkt er auch an seinen späteren Wohnsitz in Trages, als er mit dem Gedanken umgeht, in den hessischen Justiz- und Verwaltungsdienst einzutreten. In einem Brief an den Vater hat er sich im September 1836 über seine Erwägungen geäußert: aus der Laufbahn des Verwaltungsbeamten scheine ihm ein "guter Engel entgegenzustrahlen", während er in der diplomatischen Karriere tausend Verführungen erblicke, denen er nach vielen Erfahrungen nicht leicht widerstehen werde. Das eine sei für ihn der Pfad der Tugend, der heiteren Arbeitsarnkeit und des inneren Glückes; das andere bereite ihm vielleicht ein glänzenderes Los, nach dem sich viele Menschen sehnten, in dem es aber beinahe unmöglich erscheine, nicht für den größten Teil des Lebens das Opfer des inneren Seelenfriedens zu bringen, der am Ende unserer Tage doch als das einzige, hier genossene Gut erscheinen werde. 53 Wir wissen nicht, wie ernst ihm dieser Plan gewesen ist. Jedenfalls finden wir ihn im Frühjahr 1837 nach seinem Ausscheiden aus dem Berliner Justizdienst bei der Regierung in Aachen wieder, wo er sich auf den Verwaltungsdienst vorzubereiten gedachte. Das preußische Kammergericht an Savigny, 6. Juni 1836 (Nachlaß, S. 93). Savignyan seine Eltern, 29. August und 7. September 1836 (Familienarchiv). 52 Nachlaß, S. 93, Anmerkung. 53 Am 7. September 1836 schreibt er den Eltern, sein Entschluß sei gefestigt, den Plan mit Hessen auszuführen, und nur hier glaube er, "eine ihm anstehende Vocation zu finden" (Familienarchiv). Vgl. auch Nachlaß, S. 94. 50 51

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Die Übernahme eines Referendars in den Verwaltungsdienst war an eine schriftliche und mündliche Prüfung gebunden, die der Kandidat vor einer Kommission abzulegen hatte, der neben dem Vorsitzenden je ein Rat aus den einzelnen Abteilungen der Behörde sowie ein Justitiar angehörten. Nur so schien es möglich, sich von der Persönlichkeit, der Bildung und wissenschaftlichen Befähigung des künftigen Verwaltungsbeamten ein zutreffendes Bild zu machen. Sache des Regierungspräsidenten war es, die Referendare anzustellen oder zu entlassen und für ihre weitere Ausbildung Sorge zu tragen. Den leitenden Räten der Departements oblag es, sie im einzelnen auszubilden und sie anzuhalten, sich über den Geschäftsbereich zu unterrichten sowie sie an den Arbeiten und etwaigen Kommissionsreisen der Departements teilnehmen zu lassen. 54 War der Referendar mit allen wesentlichen Sachgebieten der Regierung - also mit den Fragen der Landeshoheit, der Polizei, der Gesundheitspflege, mit Kirchen- und Schulangelegenheiten, mit dem Finanz-, Gewerbe- und Domänenwesen - einigermaßen vertraut, so bezeugte ihm der Präsident die Eignung für die "höhere Prüfung" vor der "Oberexaminationskommission", eine Prüfung, die dem heutigen Assessorexamen gleichzusetzen wäre. Noch als Auskultator in Berlin hatte Savigny sich am 25. Dezember 1836 mit der Bitte an den Aachener Regierungspräsidenten gewandt, ihn zum Referendarexamen zuzulassen und ihm die Themen für die beiden schriftlichen Prüfungsar54 Zur weiteren Information übersandte das Büro des Regierungspräsidenten ihm am 27. Juni noch folgende Unterlagen: 1) das Reglement für die Ausbildung der Referendare der Kgl. Regierung vom 4. April 1836 nebst den nachträglichen Bestimmungen vom 1. November 1836, 2) die in § 6 dieses Reglements bezeichneten Gegenstände, nämlich a) ein Exemplar der Zusammenstellung des materiellen Gehalts der Gesetze, b) ein Exemplar des Ressortreglements vom 20. Juli 1818 (vgl. weiter unten!), c) ein Exemplar aller Bestimmungen für den Geschäftsgang, d) ein Exemplar des Verzeichnisses der im Regierungsbezirk Aachen vorhandenen Behörden. - Bei dem o. a. Ressortreglement vom 20. Juli 1818 handelt es sich um die vom Staatsministerium (Altenstein, Beyme, Bülow etc.) erlassene ,,Anweisung für die Regierungen und Gerichte in den Rheinprovinzen über die bis auf anderweite Verordnungen von denselben zu beobachtenden Grenzen ihrer gegenseitigen Amtsbefugnisse." Ferner wurden Savigny zur Information zugestellt: "Reglementärbestimmungen den Geschäftsgang bei der Kgl. Regierung betreffend" (Geschäftsordnung, Dienstanweisung etc.), erlassen vom Regierungspräsidenten am 21. Februar 1826 nebst den vom Aachener Regierungspräsidenten am 8. November 1834 erlassenen Zusatz bestimmungen, sowie die Abschrift einer Verfügung des Regierungspräsidenten vom 26. Mai 1836 über die Ausbildung der Referendare im Kassenwesen, in der es u. a. heißt: "Ich wünsche jedoch noch, daß 1) die Referendare jederzeit während und resp. ummittelbar der im Reglement vom 4. April c. an vier Kassenrevisionen teilnehmen mögen, um bei der ersten den ganzen Umfang des Geschäfts, bei jeder der drei letzten die spezielle Revision einer Buchhalterei kennenzulernen; 2) zu der diesen Kassen-Revisionen vorhergehenden Vorrevision und Feststellung des Abschlusses durch die Kontrolle zugezogen werden, damit sie auf diese Weise eine bessere Übersicht von dem ganzen Kassenwesen erlangen." Des weiteren sollte zur Ausbildung der Referendare gehören: Schulung in Titulaturen und Courtoisien, Adressen und Devotionsklauseln, Anreden, Formen der Benachrichtigung, des Berichts, der Übersendung eines Schreibens, des Empfangs eines solchen, Form einer Meldung ete. Anschriften an das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, einen Regierungspräsidenten etc. (Sämtlich unter D 4 im Familienarehiv).

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beiten zuzustellen. Graf Arnim entsprach der Bitte (8. Januar 1837). Noch in Beriin begonnen, wurden die Ausarbeitungen in Aachen zu Ende geführt. Für den 24. Juni war die mündliche Prüfung vorgesehen. 55 Der Aufenthalt in der eleganten Badestadt sollte für Savigny von besonderer Bedeutung werden. Hier knüpften sich die Fäden der Freundschaft zu jenem Manne, durch den sein berufliches Schicksal dereinst entscheidend mitbestimmt wurde. Schon in seinem ersten Brief vom 19. April heißt es, am Wirtstisch habe er einen alten Bekannten getroffen, Herrn von Bismark - so schreibt er seinen Namen - , der ja auch bei ihnen in Berlin schon im Hause gewesen und nun bereits seit einem Jahr bei der Aachener Regierung tätig sei. 56 Er habe sich seiner auf das freundlichste angenommen; jetzt sei Savigny im Begriff, die Wohnung zu beziehen, die jener gerade aufgegeben. Savigny und Bismarck, fast gleichaltrig, aber in sehr unterschiedlichen Verhältnissen aufgewachsen und von unvergleichbarer Wesensart, einander bekannt zwar schon seit ihrer Schulzeit, hatten bislang gleichsam aneinander vorbeigelebt. Jetzt treten sie sich näher. Eine über drei Jahrzehnte andauernde Freundschaft sollte beginnen. Niemand konnte ahnen, daß am Ende Entfremdung und Zerwürfnis standen. Vorerst noch von größerer Bedeutung war für ihn die Persönlichkeit seines Vorgesetzten. Adolf Heinrich Graf von Amim-Boitzenburg, Majoratsherr der Grafschaft Boitzenburg, war ein hochqualifizierter Verwaltungsbeamter, unter dessen strenger und zugleich wohlwollender Ägide Savigny sich mit der Verwaltungspraxis der Rheinprovinz auseinanderzusetzen hatte. Noch in seinen Erinnerungen bezeugt Bismarck, mit welch geringer Meinung von der preußischen Bürokratie er Aachen verließ, aber daß er von diesem seinem Urteil den Grafen Arnim ausdrücklich ausnimmt, ist von besonderem Gewicht. Er nennt ihn einen begabten Präsidenten, der zwar die generelle Staatsperücke, aber doch keinen geistigen Zopf trage. Von Bismarck geäußert, war diese Bemerkung hoch zu veranschlagen. In der Tat war der aus dem märkischen Uradel stammende und in Berlin am 10. April 1803 geborene Graf nach einem Besuch des Werderschen Gymnasiums und einem Studium der Rechts- und Staats wissenschaften in Göttingen und Berlin im höheren Verwaltungsdienst schnell emporgestiegen. Den Po55 Savigny hatte am 24. März 1837 seine Entlassung aus dem Justizdienst beantragt; sie wurde am 13. April genehmigt. Die Forderung einer voriibergehenden Tätigkeit bei einer Gerichtsbehörde, die jedoch noch nicht zwingend war, führte dazu, daß jetzt ein Rechtsstudium für die Übernahme in die Verwaltung eine erwünschte Voraussetzung wurde. Im allgemeinen war in Preußen damals eine dreijährige, in der Rheinprovinz jedoch eine zweijährige Vorbereitungszeit, die zudem noch verkürzt werden konnte, erforderlich. (H. Dellbriigge, Die Ausbildung für den höheren Dienst in der allgemeinen und inneren Verwaltung, VO vom 29. Juni 1937. [1938], S. 7 f.) Auf sein Zulassungsgesuch vom 25. Dezember 1836 wurden Savigny unterm 8. Januar 1837 die folgenden Prüfungsthemen zugestellt: 1) als allgemein-wissenschaftliches Thema: Was ist von dem Spruche zu halten "Der Zweck heiligt die Mittel?" und 2) als staatswissenschaftliches Thema: Historische und staatswissenschaftliehe Entwicklung des Begriffs vom Staatsschatz, seiner Notwendigkeit, seiner Vorteile oder Nachteile. 56 Savignyan seine Mutter, 19. April 1837 (Nachlaß, S. 99 f.).

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sten des Landrats seines Heimatkreises in der Uckermark hatte der Dreißigjährige bald mit dem des stellvertretenden Regierungspräsidenten in Stralsund vertauscht, von wo ihn das Vertrauen des Königs bereits im Jahre darauf auf den Sessel des Regierungspräsidenten in Aachen berufen hatte. Er sollte übrigens auch hier nicht gar zu lange verbleiben. Im Mai 1837 bat er den König um Versetzung in einen Regierungsbezirk, der seinen ungewöhnlich ausgedehnten Familienbesitzungen näher lag. Er ist dann auch bald nach einer kurzen Zwischenphase als "Generalkommissar für die gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse" in der Kurmark im Jahre 1838 als Regierungspräsident nach Merseburg versetzt worden. 1840 wird er Oberpräsident in Posen, 1842 (bis 1845) Minister des Innern; in der Märzrevolution ist er wenige Tage Ministerpräsident; der Paulskirche gehört er vorübergehend an: sein Mandat legt er nieder, als Erzherzog Johann von Österreich zum Reichsverweser gewählt wird. In einer Schrift "Die deutsche Zentralgewalt und Preußen" begründet er seine Entscheidung: ihm als einem Preußen sei nicht zuzumuten, den Weisungen eines österreichischen Reichsverwesers sich zu unterwerfen. Im sogenannten Junkerparlament wird sein Rat oft eingeholt, und hier setzt er sich mit Nachdruck für die Rechte des grundbesitzenden Adels ein. Als Mitglied der Zweiten Kammer des nach der oktroyierten Verfassung vom 5. Dezember geWählten Parlaments tritt er als Führer der Rechten der demokratischen Linken entgegen, und nach der Bildung des Herrenhauses gilt er als Wortführer der Grundbesitzer bis zu seinem Tode (1863). Karl Friedrich von Savigny fand bald auch außerhalb des Dienstes Zugang zu dem privaten Kreis des Präsidenten. Dabei begegnete ihm auch das damals sechsjährige Töchterchen des Grafen, das mit ihren Puppen und Bällen spielte, und wer konnte schon ahnen, daß Marie einst die Gattin Savignys werden sollte und er und der Vater nach anflinglich taktvoller Distanz in immer engere freundschaftliche und menschliche Beziehungen traten, Gedanken austauschend, Rat erbittend und Rat erteilend! Diese Bande, die auch Arnims Gemahlin AnnaKaroline, Gräfin von der Schulenburg-Wolfsburg, mit einbezog, hatten Bestand bis an das Ende ihrer Tage. Savigny hatte in Aachen keinerlei Anlaß zur Klage. Vorrangig beschäftigte ihn das Examen. Aber da es wegen Arnims vorübergehender Abwesenheit der Präsident hatte seine Gattin zu einem Badeaufenthalt begleiten wollen verschoben werden mußte, entschloß er sich kurzerhand, mit Bismarck einen mehrtägigen Ausflug zu unternehmen, der sie beide bis in die Nähe von Lüttich führte. 57 Die mündliche Prüfung erforderte noch mancherlei Vorbereitungen. Er 57 Savignys Bericht an die Eltern enthält nichts über die später öfters von ihm erzählte Begebenheit, nach der man ihn und Bismarck in Belgien zu einer Wahrsagerin geführt habe, die ihre Besucher in einer Höhle zu empfangen pflegte. Bismarck habe gewagt, sie zu befragen, und sei dann bleich und verstört wieder aus der Höhle herausgekommen. Bismarck erwähnt dieses kleine Abenteuer nur kurz, wenn er auch von der Reise einen im ganzen freundlichen Eindruck behalten hat.

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hatte davon erfahren, daß der Code Napoleon auf dem Programm stand, daß griechische und lateinische Schriftsteller zu lesen waren und er sich mit dem französischen Recht vertraut zu machen sowie den Contrat social zu studieren hatte, und schließlich durfte er auch die brandenburgisch-preußische Geschichte nicht außer acht lassen. Am Ende verlief alles recht günstig. 58 Nachdem die beiden Arbeiten mit "sehr gut" beurteilt worden waren, bestand er in Gegenwart des Präsidenten am 24. Juni die Abschlußprüfung. In den Staatswissenschaften wie im Recht bestand er mit "gut". Nicht zufrieden war er mit dem Ergebnis in der Philosophie. Geprüft wurde u. a. Lehn- und Pfandrecht, Hypothekenrecht u. a. m. Von den antiken Autoren hatte er sich über Plato und Cicero zu äußern. In der Geschichtsprüfung wurde ihm die Kenntnis des Traktats von Wehlau (1657) hoch angerechnet. Schon am 26. Juni wurde er als Regierungsreferendar in das Aachener Kollegium übernommen. Die weitere Ausbildung im praktischen Verwaltungsdienst verlief nach den geltenden Vorschriften. Monate heiterer Daseinsfreude schließen sich an. An dem bewegten Treiben, das auch Bismarck als "heitere Referendarzeit" in Erinnerung geblieben ist, nimmt er lebhaften Anteil. Die Aufführungen einer durchreisenden Schauspielertruppe ziehen ihn besonders an. Tante Lulu und ihre Tochter Meline besuchen ihn, und auch Freund Gautier stellt sich ein, ihn mit mehreren vornehmen französischen Familien bekannt machend. Es sind jene glücklichen Wochen, in denen Bismarck sein Herz an eine junge Engländerin verlor und, um ihr zu folgen, ohne Erlaubnis und Abschied Aachen verließ. Bismarck hatte den Freund gebeten, in Aachen das Nötigste für ihn zu ordnen. Savignys ausführliche Antwort vom 6. September und ihre Fortsetzung vom 16. September 1837 auf Bismarcks Briefe vom 30. August und 3. September lassen einiges über die Vorgänge jener Tage und die Wirkung, die Bismarcks plötzliches Verschwinden in Aachen hervorrief, erkennen. 59 Es waren nicht nur angenehme Dinge, die er ihm mitzuteilen hatte, aber aus jeder Zeile spricht doch die festgegründete Freundschaft eines die Tücken und Pflichten des Beamten noch nicht restlos erkennenden jungen Mannes zu jenem genialischen Junker, der nach seinen Worten "eigene Musik machen wollte oder gar keine." Mit zunehmender Sicherheit wuchs Savigny in seinen Pflichtenkreis hinein. Die Kölner Wirren - die Verhaftung des Erzbischofs Clemens August von Droste-Vischering am 20. November 1837 und seine Deportation nach Minden - lernte er in ihrer ganzen krisenhaften Zuspitzung unmittelbar kennen. Die Tragweite der Vorgänge ist ihm dabei wohl noch nicht völlig bewußt gewesen. Aber er hat jedenfalls versucht, sich ein eigenes Urteil zu bilden, was für ihn um so näher lag, als es sich um die Anerkennung konfessions verschiedener Ehen handelte, um jene Problematik also, die er schon im eigenen Elternhause erfahren Savigny an seine Eltern, 7. und 24. Juni 1837 (Nachlaß, S. 110 ff.). Savigny an Bismarck, 6. September mit Fortsetzung vom 16. September 1837 (Nachlaß, S. 115 ff.). 58

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hatte. Er lernte zunächst den Regierungsstandpunkt kennen, registrierte aber auch andere Stimmen und unterließ nicht, den Vater zu informieren. 60 Ihn befremden die z. T. in Belgien gefertigten Druckschriften, die unter den einfacheren Ständen böswillige Verleumdungen zu verbreiten geeignet sind und die gerade von den frommen Leuten gar zu schnell geglaubt werden. Von dem in Aachen sich aufhaltenden päpstlichen Leibarzt Clemens August Alertz 61 vernimmt er, wie man in Rom die Vorgänge betrachtet und in welche Schwierigkeiten der preußische Gesandte Josias von Bunsen im Streit um die berühmt gewordene Konvention von 1834 geraten war. Alertz sei kein Parteimann, schreibt er, er sei durchaus vertrauenswürdig und Bunsen gegenüber eher freundschaftlich gesinnt. Als ihm die in der Frage der gemischten Ehen einige Zugeständnisse an die Kirche enthaltende Kabinettsordre vom März 1838 zur Berichterstattung zugeschrieben wird, unterzieht er sich der Aufgabe mit Fleiß, indem er sich auch mit den Vorakten tagelang befaßt. So gewinnt er im ganzen eine sich immer mehr verdichtende Beziehung zu Amt und Beruf. Er spürt, daß er schwerlich eine bessere Wahl hätte treffen können als mit der Aachener Regierung, wo die Interessen der Verwaltung infolge der Nähe der Nachbarstaaten sich so vielfältig darstellen und der Präsident dem gesamten Kollegium den Stempel seiner Persönlichkeit aufdrückt. Dennoch tritt jetzt sein schon mehrfach geäußerter Wunsch, in die diplomatische Laufbahn hinüberzuwechseln, in ein konkreteres Stadium. Werther hatte ihm den Dienst zunächst in Paris, dann auch in München in den angenehmsten Farben geschildert. Über Radowitz hatte er erfahren, daß der Minister ihm wohlgesinnt war. Als in Aachen das Gerücht die Runde macht, Graf Arnim sollte zum Minister des Auswärtigen berufen werden, ist er enttäuscht, einmal weil er in ihm einen tüchtigen Präsidenten sieht, andererseits weil er ihm selbst noch zu wenig bekannt ist, um auf seine Protektion im auswärtigen Dienst hoffen zu können. Freiherr von Werther dagegen, inzwischen zum Minister des Auswärtigen aufgestiegen, hatte zu erkennen gegeben, daß er den jungen Savigny gern aufnähme. Dieser ergriff nun schnell die sich ihm bietende Gelegenheit. Unter Bezugnahme auf frühere, wenn auch nur unverbindliche Zusagen des inzwischen verstorbenen Ministers Am;:illon an Werther schilderte er ihm seinen bisherigen beruflichen Werdegang und bekundete den Wunsch, in den diplomatischen Dienst einzutreten, damit sogleich die Bitte verbindend, zu dem hierfür erforderlichen Examen zugelassen zu werden. 62

Savigny an seinen Vater, 25. November 1837 (Nachlaß, S. 121). Clemens August Alertz (1800- 1866), aus Aachen stammend, war 1836 zur Behandlung Gregors XVI. nach Rom gerufen worden, das ihm bald zur zweiten Heimat wurde (Grab auf dem Campo santo). Alertz war Leibarzt Gregors XVI. und Pius' IX. (Vgl. auch E. Schmitz-Cliever in: Rheinische Lebensbilder, III, S. 159 ff., Düsseldorf 1968). 62 Savigny an Werther, Entwurf, o. D. (1837), (Nachlaß, S. 113). 60 61

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Werthers Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Der Minister erbat sich die Dienstzeugnisse des Berliner Kammergerichts und der Aachener Regierung sowie einen Lebenslauf. Am 11. September 1838 teilte er ihm mit, daß er den Vorsitzenden der Prüfungskommission, den Wirklichen Geheimen Oberregierungsrat Hoffmann, beauftragt habe, alles weitere zu veranlassen. 63 Die schriftliche Prüfung umfaßte damals vier Arbeiten. Werther stellte der Kommission anheim, die bereits für das Aachener Examen vorgelegte Arbeit über den Staatsschatz anzuerkennen, ihn somit von der vierten Ausarbeitung zu befreien. Die drei übrigen Arbeiten betrafen: 1. Precis raisonne des principales relations politiques entre la Russie et la Porte depuis l'avenement de Catherine 11 jusqu' a la paix d' Andrinople, eine sehr sauber geschriebene, auf Fußnoten und Verweise verzichtende Arbeit in einem Umfang von 72 Seiten, 2. eine Untersuchung über die Möglichkeiten einer Einwirkung des deutschen Bundes auf die Einzelstaaten gemäß dem Wortlaut der Wiener Schlußakte (33 Seiten) und 3. eine Untersuchung der Frage, in welchen Fällen bei einem Anfall der Thronfolge ein bei dem Thronfolger obwaltendes wirkliches Hindernis zur eigenen Ausübung der Regierungsgewalt angenommen werden kann und welche Wirkung es nach der Verschiedenheit der Fälle hervorbringt. 64 Am 6. Juni 1839 bestand Savigny im Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten die mündliche Prüfung für den diplomatischen Dienst - nach des Vaters Aussage "sehr ehrenvoll". Unterm 18. Juni stellte ihm der Minister das Zeugnis zu. Der Übernahme als Legationssekretär stand nichts mehr im Wege. Dem ewigen Gesetz eines unausgesetzten Rhythmus von Spannung und Entspannung folgend, unternahm Savigny mit seinen Eltern zunächst eine kurze Erholungsreise nach Teplitz, um von dort aus mit seiner Mutter allein für einige Tage nach Wien weiterzureisen. 65 Hier treffen sie mit alten Bekannten zusammen. Bei den Lerchenfelds sind sie zu Gast; die Schönborns zeigen ihnen die kaiserliche Residenz; mit dem Fürsten Friedrich zu Schwarzenberg, einem Vetter des späteren Ministerpräsidenten, freundet sich Karl Friedrich an. Einen nachhaltigen Eindruck hat die Stadt an der Donau bei ihm jedoch nicht hinterlassen. Die Erinnerung an Paris ist allzu mächtig. Was lag für ihn näher, als die ihm bis zu seinem Dienstantritt noch verbleibende Zeit dort zu verbringen?

63 Werther an Savigny, 19. Januar und 30. September 1838; Balan an Savigny, 23. Mai 1838; Savigny an Amim-Boitzenburg o. D. (August 1838); Dienstzeugnis vom 30. August 1838; Prüfungszeugnis vom 12. Juni 1839 (sämtlich im Nachlaß). 64 Die letzte Prüfungsarbeit ist jetzt veröffentlicht: Willy Real, Über persönliche und faktische Hindernisse bei der Thronfolge, eine rechtshistorische Prüfungsarbeit Karl Friedrich von Savignys für den Eintritt in den diplomatischen Dienst Preußens (Zeitschr. d. Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, germanistische Abteilung, Bd. 94, S. 227 ff., Weimar 1977). 65 Savigny an seinen Vater, 29. Juli und 13. August 1839 (Nachlaß, S. 134 f.).

4 Real

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Von dem jüngeren Bruder Leo begleitet, geht die Reise wieder an die Seine. Erneut bietet sich ihm der farbenreiche Glanz des Pariser Lebens. Alte Freundschaften werden erneuert, neue angeknüpft. Auf der preußischen Gesandtschaft lernt er den Legationssekretär Maximilian von Hatzfeldt kennen, mit dem ihn noch eine jahrelange dienstliche Zusammenarbeit und beglückende Freundschaft verbinden wird. 66 Mit Karl von Canitz, dem Spielgefährten aus frühen Kindheitstagen, gibt es ein freudiges Wiedersehen. Victor Cousin und der Herzog de Broglie sind ihm zugetan wie einst. Er besucht Thiers und Guizot. Der Gesandte Graf von Arnim-Heinrichsdorff 67 stellt ihn dem König und dem Herzogspaar von Orleans vor. Anfang 1840 lernt er auch die geistvolle Herzogin Dorothea von Kurland und Sagan kennen, die den Neffen des großen Talleyrand geheiratet hatte, dann aber die Geliebte ihres angeheirateten Onkels wurde. 68 Ihre Hetärenzeit lag jetzt hinter ihr. Wiederholt wurde Savigny von ihr eingeladen; jetzt ging es bei ihr um Neuerscheinungen aus der französischen und deutschen Literatur. Savigny nennt sie in seinen Briefen "unstreitig die ausgezeichnetste Frau, die ich jemals gesehen, noch recht schön, besonders aber klar an Geist und höchst anmutig." Mit niemandem könne man leichter und angenehmer sprechen. Sie war nicht mehr die frivole Verführerin, die sie einst auf dem Wiener Kongreß gewesen. Jetzt ging es in ihrem Salon offenbar seriöser zu. Wie so manche Gestalt ihres Schlages und ihres Zeitalters hatte sie Zuflucht im Bereich des Religiösen gefunden, und ihrer echten oder vermeintlichen Frömmigkeit kam der alte Abbe Daubree ebenso entgegen wie der Herzog von Noailles oder auch Tocqueville, die in ihrem Hause verkehrten, und selbst zu dem erst kurz zuvor verstorbenen Erzbischof von Paris, Msgr. de Quelen,69 hatte sie freundschaftlichen Zugang gefunden. Sie war und blieb, meistens schlicht Madame de Talleyrand genannt, Mittelpunkt all der Traditionen ihres berühmten Onkels und der Erinnerungen an längst vergangene Zeiten. Und noch einmal begibt sich Savigny in jene ganz andere Welt, die er das "Zentrum der hiesigen Mystik" nennt: in das Haus der Sophie Swetchine, der russischen Konvertitin. Eckstein, 70 Lacordai66

Maximilian Friedrich Karl Franz Graf von Hatzfeldt zu Trachenberg-Schönstein

(1813-1859), 1848 interimistischer Leiter der Gesandtschaft in Paris, endgültig ab Mai 1849; später zweiter Vertreter Preußens in der Schlußphase des Pariser Friedenskongresses von 1856. 67 Heinrich Friedrich Graf von Arnim-Heinrichsdorff (1791-1859), in der Familie der "Kuchenheinrich" genannt, 1831 Gesandter in Brüssel, später in Paris, 1845-1848 in Wien, Februar bis April 1849 Außenminister, dann wieder in Wien. 68 Dorothea, Herzogin von Talleyrand-Perigord (1792 - 1862), später Herzogin von

Dino, ist die Tochter der Herzogin Dorothea von Kurland und Sagan, geb. Gräfin von Medern (1761-1820, seit 1779 mit Herzog Peter von Kurland vermählt). Sie hatte den Neffen des alten Talleyrand geheiratet, was sie nicht hinderte, die Geliebte ihres angeheirateten Onkels zu werden. (Vgl. Phil. Ziegler, The Duchess of Dino, London 1962, übersetzt von Monika Wöhlken, M~nchen 1965). Savigny an seine Eltern, o. D. (Januar 1840), (Nachlaß, S. 13 f.). 69 Hyacinthe Louis Comte de Quelen (1778-1840), Erzbischof. 70 Frederic Ferdinand Baron d'Eckstein (1790-1861), französischer Publizist dänischer Abstammung, gründete "Le Catholique", entdeckte für Frankreich die orientalische

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re und Montalembert hatten hier sozusagen ihr Hauptquartier. Jetzt reichte es freilich nur zu einem kurzen Wiedersehen. Der Vater hatte ihm empfohlen, da er mit seiner alsbaldigen Übernahme in den diplomatischen Dienst rechnen durfte, dieserhalb umgehend nach London weiterzureisen und dort alles weitere abzuwarten. Nichts konnte ihm erwünschter sein. Er fühle, so schrieb er, "eine wahre Sehnsucht, in die Geschäfte zu kommen." Er möchte vorwärts, und dazu müsse man anfangen. 71 Auch über den Ort seiner zukünftigen Verwendung machte er sich schon Gedanken. Wir wissen nicht, warum er nur ungern nach Hannover gegangen wäre und Bern und Kopenhagen ihm nicht zugesagt hätten. Im übrigen wußte er, daß er nicht wählerisch zu sein hatte. Savigny hat sich nur schweren Herzens von Paris getrennt. Hier hatte er Wurzeln zu schlagen begonnen. Hier waren die Kräfte des Verharrens mit den großen, in die Zukunft weisenden Tendenzen des Jahrhunderts zusammengestoßen. Hier hatte er die formende Kraft des großen Gelehrten unmittelbar erlebt. Hier war ihm offenbar geworden, daß die unausgesetzte Verwandlung der Dinge die eigentliche Grundkategorie der Geschichte ist. Ein Stück eigener Welterfahrung lag jetzt hinter ihm. Die ersten Eindrücke von der unbekannten Stadt jenseits des Kanals sind nicht sehr günstig. Erkältet und von Unlustgefühlen geplagt, kommt er Ende Februar dort an. Dann nimmt sich der junge Werther, der Sohn des Ministers, seiner an. Er bereitete seine eigene Abreise vor - in der Hoffnung, Savigny werde nun einstweilen die Sekretärs stelle bei dem aus seinem Erholungsurlaub zurückkehrenden Gesandten von Bülow 72 übernehmen. Mit Freude und Eifer stellt er sich dem Gesandten zur Verfügung, und dieser wiederum erweist seinem Schützling Freundlichkeit und Wohlwollen - ein Echo auf die enge Verbindung zwischen ihm und Savignys Vater. Er zieht ihn an seine Tafel, auf Spaziergängen und Fahrten finden wir ihn an seiner Seite. Die vielen Gespräche mit diesem nach seinem Urteil vollendetsten Menschen sind dem jungen Diplomaten eine unversiegbare Quelle wertvoller Beobachtungen und Unterrichtungen. Bülow stellt ihn der Königin vor. Er lernt Hayward kennen, der des Vaters "Vom Beruf unserer Zeit" übersetzt hat,73 und den jungen Quain, der das ,,Recht des Besitzes" ins Englische zu übertragen im Begriff ist. Er wird Literatur, Mitarbeiter zahlreicher allgemeiner und fachspezifischer Blätter (L' Avenir, Augsburger Allgemeine Zeitung). 71 Savigny an seine Eltern, o. D. (Januar 1840), (Nachlaß, S. 137). 72 Heinrich von Bülow (1792 - 1846), Schwiegersohn Wilhelm von Humboldts, damals Gesandter in London, 1841 Bundestagsgesandter, April 1842 bis zu seinem aus Gesundheitsrücksichten 1845 erfolgten Rücktritt Minister des Auswärtigen. 73 Abraham Hayward (1801-1884), auch Verfasser eines Buches über Goethe. Seine Übersetzung erschien unter dem Titel "Of the Vocation of Our Age for Legislation and Jurisprudence", London 1831. Savigny hat stets sehr aufmerksam das Echo verfolgt, das die Werke des Vaters im Ausland fanden, wie er denn auch immer dankbar registriert, in welchem Maße ihm das ungewöhnliche Ansehen des Vaters zustatten kam. 4*

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dem Ehepaar Austin vorgestellt; er, einer der gelehrtesten Juristen des Landes, sie, Miss Sarah Austin, die Übersetzerin der Werke Leopold von Rankes. Die Reihe will endlos erscheinen. Noch bleibt ihm Zeit, die Schönheit der englischen Parks im Frühjahr zu bewundern, eine Fahrt auf der Themse zu unternehmen und an den Geburtstagsfeierlichkeiten der Königin teilzunehmen. Unter dem 14. Mai 1840 zum Legationssekretär ernannt, wird er aufgefordert, sich auf seinen Posten zu begeben, an den Hof des Königs von Sachsen. 74 Er verläßt London am 26. Mai. Über Berlin geht es in das unvergleichliche Dresden, in die Umgebung des Gesandten von Jordan, des Wirklichen Geheimen Rates, der schon seit 1819 die Krone Preußen dort vertrat. Savignys freie Fahrt auf den Wogen einer unbekümmerten Jugend sollte damit in ruhigere Bahnen hinübergleiten. Die ernste Zeit des Dienstes konnte beginnen. Ob auch jetzt noch ein freundlicher Stern ihm auf seinem Wege voranleuchtete? Oder sollte sich früher oder später der Rauhreif der Enttäuschung auf seine Erwartungen legen? Vorerst galt nur dieses: sein Lebenszeiger wies aufwärts.

74

Freiherr von Werther an Savigny, 14. Mai 1840 (Nachlaß, S. 158).

Bild I: Blick auf Pariser Platz und Brandenburger Tor. Kolorierte Federlithographie nach einer Zeichnung von Calau, um 1820

Bild 2 (links): Friedrich Kar! von Savigny. Stich von E. Grimm

Bild 3: Gunda von Savigny. Radierung von E. Grimm, 1809

Bild 4: Dtto von Bismarck 1815 - 1898. Stahlstich - Porträt von Weger nach einem Foto, um 1855

Bild 5: Karl Friedrich von Savigny. In Holz geschnitten von Emil Ost, 1875

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Bild 7: Konstituierende Sitzung des Norddeutschen Reichstages in Berlin, im I. Herrenhaus in der Leipziger Straße, am 24. Februar 1867 - links vom Roon und Bismarck. Lithographie nach einem Gemälde von earl Amold

Bild 8: Eine Sitzung des Norddeutschen Reichstages, 1867. Holzstich nach einer Zeichnung von Mende

Bild 9: Das Herrenhaus auf dem Trages. Zeichnung von Rudolf Klein

Bild 10: Schloß Trages

Erste Stationen diplomatischer Tätigkeit Karl Friedrich von Savigny zählte fünfundzwanzig Jahre, als er seine dienstliche Laufbahn begann. Durfte man annehmen, daß er damit den wechselnden Situationen in dieser so begehrten Sparte des königlichen Dienstes gewachsen war? Die Briefe an seine Eltern vermitteln den Eindruck, daß hier ein junger Mann aus hochangesehener Familie noch ein so ungewöhnliches Geborgenheitsbedürfnis bekundet, daß sich die Frage stellt, ob er bereits die innere Freiheit und Selbständigkeit zur verantwortlichen Ausübung eines Berufes besaß. Die heute so viel beschworene und als "heile Welt" gekennzeichnete Gesamtsituation war für Karl Friedrich von Savigny noch eine gültige und selbstverständliche Realität. Die Kategorien, in denen er aufgewachsen und nach denen er erzogen worden war, begünstigten diese enge Bindung an das Elternhaus. Die zuweilen harte Kritik des Vaters hat das Bedürfnis der Geborgenheit nie in Frage zu stellen vermocht. Andererseits hat der ihm vom Elternhaus gewährte Freiheitsraum ihn zu keiner Zeit in seinem persönlichen Reifungsprozeß gefährdet. Selbstkontrolle und Besonnenheit kennzeichnen seinen Weg jedesmal da, wo er, von den Eltern räumlich getrennt, die ersten eigenen Entscheidungen zu treffen hat: bei seinem ersten Pariser Aufenthalt, während seiner Münchener Zeit, seiner juristischen Weiterbildung in Aachen, schließlich auch bei seinem zweiten Besuch in Paris und der sich anschließenden ersten Orientierung in London. Wer die Summe zieht, wird nicht bestreiten, daß er unter günstigen Auspizien seine Legationssekretärsjahre beginnen konnte. Der Londoner Aufenthalt hatte naturgemäß nur von kurzer Dauer sein können. Ganz anders als Paris und Frankreich verschwinden London und England schnell und immer vollständiger aus dem Umkreis seiner Erinnerungen. Er hat sich auch später nie ernstlich dorthin zurückgesehnt. Im Grunde hat ihm hier nur der tägliche Umgang mit Bülow etwas bedeutet. Bei ihm hatte er nicht nur einen ausgeprägten Sinn für die praktische Erledigung aller dienstlichen Obliegenheiten vorgefunden, sondern er hatte ihn auch als Menschen zu bewundern gelernt. Aus der geistigen und gesellschaftlichen Atmosphäre Wilhelm von Humdoldts, dessen Tochter Gabriele er geheiratet hatte, war der schnell in seiner diplomatischen Laufbahn aufgestiegene Jurist zu einem Erben und Träger jener Werte geworden, die für die späte Goethezeit so kennzeichnend waren und denen auch er in seinem Elternhaus beizeiten in so beglückender Weise begegnet war. Von ihm ist Savigny der Abschied in der Tat sehr schwer gefallen. Dem gesundheitlich labilen älteren Freunde, der im Frühjahr 1845 aus dem Amt schied und bereits im Februar des folgenden Jahres verstarb, hat der junge Diplomat über das Grab hinaus stets ein dankbares Andenken bewahrt.

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Von dem bevorstehenden Revirement unter den Nachwuchsdiplomaten hat Savigny wohl zuerst durch seinen Jugendfreund Karl von Canitz erfahren. Während dieser als Legationssekretär von Dresden nach München versetzt wurde, um dort die Nachfolge des für Den Haag designierten Joachim von Otterstedt I anzutreten, sollte Savigny ihm in Dresden folgen. Savigny mußte seine Reise von London nach Dresden in Berlin für einige Tage unterbrechen, da der an den gerade stattfindenden Sitzungen des Staatsrats teilnehmende Gesandte von Jordan die Möglichkeit einer ersten informatorischen Begegnung mit seinem neuen Legationssekretär nutzen wollte. Hinzukam die sich schnell zuspitzende Krise in der Krankheit des Königs, die am 7. Juni zu seinem Tode führte, und mancherlei weitere, damit in Zusammenhang stehende hektische Geschäftigkeit. Von Canitz empfohlen, schlug Savigny vorerst in der "Stadt Rom" seine Zelte auf, da der Freund seine eigene Bleibe ihm wegen ihrer Beengtheit nicht anbieten mochte. In wenigen Tagen hatte Canitz ihn mit den Geschäften vertraut gemacht und durfte alsdann beruhigt abreisen. Am 23. Juni konnte Savigny seinen Eltern melden: "Heute bin ich in Aktion getreten."2

Dresden Johann Gottfried Herder hatte Dresden einmal das "deutsche Florenz" und Gerhart Hauptmann hat es einen "heiteren Morgenstern der Jugend" genannt. Bildhauer und Maler, Baumeister und Kunsthandwerker hatten sein Antlitz geformt. Goethe hatte als Student die Gemäldegalerie besucht und dann geschrieben: "Ich trat in dieses Heiligtum, und meine Verwunderung überstieg jeden Begriff, den ich mir gemacht hatte." Anmutig eingebettet in das Tal der EIbe, hatte die Stadt in immer reicherem Maße Menschen des Geistes und der Künste an sich gezogen. In einem kleinen Gartenhäuschen im Loschwitzer Weinberg der Eltern Theodor Körners hatte Schiller einst an seinem "Don Carlos" gearbeitet. Der Arzt und Maler Carl Gustav Carus, Kaspar David Friedrich und Philipp Otto Runge suchten hier gern nach Motiven ihrer Kunst. Der dänische Dichter Hans Christian Andersen lenkte seine Schritte dorthin, und mit der Berufung Carl Maria von Webers als Operndirektor kündigte sich 1817 ein neues Kapitel deutscher Operngeschichte an.

I Joachim Friedrich von Otterstedt (1810-1876), nach der üblichen Ausbildung 1836 Legationssekretär in Brüssel, 1837 in München, 1840 in Den Haag, 1842 in St. Petersburg, 1850 Geschäftsträger bei den Höfen von Darmstadt und Nassau, Resident in der Freien Stadt Frankfurt. 1851 zum Geschäftsträger in Lissabon ernannt, hat er diesen Posten nicht angetreten und war seitdem ohne Verwendung. 2 Nachlaß, S. 163; ergänzend auch der Brief an die Eltern vom 26. Juni 1840; ferner: Canitz an Savigny, IS. und 24. April (Nachlaß, S. ISS und 157). Savignys Dankesbrief für seine Ernennung im Konzept (0. D.) im Familienarchiv. Mit dem Dresdener Posten war ein Jahresgehalt von 800 Talern verbunden.

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Man hätte annehmen können, daß auch Savigny sich von diesem Kleinod an der EIbe hätte erfassen lassen. Indes wohin auch immer sein dienstliches Schicksal ihn führte, er hat von den Städten und Ländern zunächst stets mit kritischer Zurückhaltung gesprochen. Sein Blick für die architektonische Geschlossenheit eines Städtebildes war nur mäßig entwickelt. Der Reiz einer Landschaft ist ihm, vielleicht von Portugal abgesehen, nie ganz aufgegangen. Was ihn fesselte, war der Umgang mit Menschen seiner Sinnesart, seiner gesellschaftlichen Ebene und einer Mischung von Mitteilsamkeit und Zurückhaltung. "Den ersten unangenehmen Eindruck, den Dresden auf mich gemacht, Euch nicht mitempfinden lassen zu wollen, dies war der Grund meines bisherigen Schweigens," schreibt er den Eltern am 23. Juni. Leer und uninteressant komme ihm hier das Leben vor, hätte er nicht seinen Freund Canitz und diesen oder jenen Bekannten seiner Eltern neben sich gehabt. 3 Immerhin scheint er sich bald in die Einförmigkeit seines Daseins, in sein "einfaches, stilles Schicksal" gefunden zu haben. Nach Canitz' Abreise übernimmt er dessen Wohnung und mit ihr für etwa neunzig Taler die von ihm zurückgelassenen Möbelstücke, die er seinerseits auch an seinen Nachfolger zu veräußern gedachte. 4 Aus dem nur schwach besetzten diplomatischen Korps lernt er bald den englischen und österreichischen Gesandten kennen. Der Außenminister Heinrich Anton von Zeschau 5 lädt ihn zur Tafel. Der ungünstige Gesamteindruck wird dadurch kaum verwischt. "Es ist schwer, sich einen Begriff davon zu machen, wie inhaltsleer das hiesige tägliche Leben ist," heißt es noch nach Wochen, "als bester Beweis möge dienen, daß alle Welt mit Schrecken dem Augenblick entgegensieht, an dem uns die jetzt hier anwesende französische Schauspielertruppe aus Berlin verläßt."6 Seine Kollegen, fährt er sarkastisch fort, seien sämtlich infolge des längeren Aufenthalts am Dresdener Hoflager zu Menschenfeinden geworden und bereiten sich, wenn auch langsam, so doch täglich auf einen ruhigen, elenden Tod vor. Schweigsam zeigt er sich auch gegen seine Freunde. Canitz bemüht sich vergebens, ihn aus seiner Reserve hervorzulocken. Als er im August des Freundes Aufmerksamkeit auf die bevorstehende Ernennung des im Außenministerium tätigen Johann Albrecht Friedrich von Eichhorn zum Kultusminister lenkt, stößt 3 Im Gegensatz dazu etwa Karl von Werther aus Paris an ihn am 20. September 1840: " ... Ich wundere mich, daß Sie mit dem hübschen Dresden nicht so ganz zufrieden zu sein scheinen. Es muß doch dort ein recht gemütlicher Aufenthalt sein, den Sie mit der Zeit erst schätzen lernen werden." (Familienarchiv). 4 Savigny hat ein realistisches Verhältnis zum Geld und seinen Anlagemöglichkeiten gehabt. Auch in späteren Jahren hat er sowohl seinen Eltern als auch sonstigen Familienangehörigen mancherlei diesbezüglichen Rat erteilt. Seine Dienstbezüge hat er oft als unzureichend empfunden. 5 Heinrich Anton von Zeschau (1789 - 1870), Jurist, nach den Freiheitskriegen einige Jahre in preußischen Diensten; 1822 nach Sachsen zurückgekehrt, wurde er dort 1831 Finanzminister, von 1835 an auch mehrere Jahre Außenminister; 1849 vertrat er Sachsen im Verwaltungsrat des Dreikönigsbündnisses, später Minister des kgl. Hauses und Verwalter des kgl. Privatvermögens sowie der kgl. Sammlungen. 6 Savigny an seine Eltern, 26. Juli 1840 (Nachlaß, S. 166).

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er bei Savigny ins Leere. Als er sich über sein "nachhaltiges, unfruchtbares Stillschweigen" beklagt, bleibt er ohne Echo. Als er dem Münchener Hoftheaterintendanten Küstner 7 einen Brief mitgibt, in dem er ihn fragt, ob er denn so mit Geschäften überladen oder von dem hannlosen Stilleben in Dresden so "ennuyiert" sei, daß ihm die Laune zum Schreiben fehle, wartet er vergebens auf eine Zeile. Savigny schweigt. 8 Hier tritt eine bei ihm oft zu beobachtende Eigenart hervor: Savigny hat Zeit seines Lebens die Kontakte zu nahen Verwandten, Berufskollegen und Freunden zuweilen bedenklich vernachlässigt und damit mancherorts enttäuscht. Dies gilt sowohl für des Knaben Briefwechsel mit seinen Eltern, als auch für den Diplomaten in seinen Kontakten mit Bismarck und manchen politischen Freunden aus seinem letzten Lebensjahrzehnt. Jetzt freilich stand der erst im Juli zurückkehrende Gesandte von Jordan im Mittelpunkt seiner persönlichen Beziehungen. 9 In seinen ersten Dienstjahren noch von Hardenberg gefördert, hatte er seinen König bereits seit 1819 in Dresden zu vertreten. Hier gab es keinen Winkel auf der diplomatischen Bühne, der ihm nicht völlig vertraut gewesen wäre. In ihm sollte Savigny einen liebenwürdigen und kenntnisreichen Diplomaten der älteren Generation kennenlernen. Er hat es verstanden, sich seinen Auffassungen und Maximen einzuordnen und ein auf Hochachtung, Herzlichkeit und Vertrauen beruhendes Verhältnis zu entwickeln. Als der Gesandte zur Kur nach Teplitz reiste, übergab er seinem jungen Mitarbeiter vertrauensvoll die Geschäfte. Als Friedrich Wilhelm im August den Dresdener Hof besuchte - der König von Sachsen war sein Schwager - und Jordan an der Seite des Monarchen zu verbleiben hatte, kam es Savigny zu, den seinen königlichen Bruder begleitenden Prinzen Wilhelm auf dem Bahnhof zu empfangen. Bei den Gesprächen, die sich tags darauf wie von selbst ergaben, sollte es sich um eine erste Anknüpfung jener Beziehungen handeln, die für Savigny dereinst noch von besonderer Bedeutung wurden. Im übrigen hielt sich seine diplomatische Tätigkeit in engen Grenzen. Aber die Szenerie zu beobachten und sich abzeichnende Tendenzen zu verfolgen, war ihm eine dankenswerte Aufgabe. So nahm er auch Jordans Informationen über die nach dem Thronwechsel in Berlin sich andeutenden Entwicklungen entgegen. Er vermerkt das Ende der Demagogenverfolgungen, die Amnestierung der letzten Burschenschafter, die Wiedereinsetzung Ernst Moritz Arndts in sein Bonner Amt, die Aufnahme der Brüder Grimm in die Preußische Akademie. Im November sieht er mit größtem Interesse einer Begegnung mit dem in Dresden sich aufhalten7 Savignys Verhältnis zu Küstner blieb immer sehr freundschaftlich; indes zu größeren gemeinsamen Reisen, wie sie Küstner wiederholt vorschlug, ist es nie gekommen. So konnte Savigny 1842 auf den Vorschlag einer längeren Italienreise (Venedig, Florenz, Rom, Neapel) wegen seiner bevorstehenden Versetzung nach Lissabon nicht eingehen. 8 Canitz an Savigny, 7. August und 6. September 1840 und öfter (Nachlaß, S. 167, 169). 9 Johann Ludwig (seit 1816 von) Jordan (1773 -1848); seine über mehrere Jahrzehnte sich erstreckenden Berichte haben u. a. auch das "Sachsen bild" Treitschkes stark beeinflußt.

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den Radowitz entgegen. In ihm wittert er einen "Mann der Zukunft" . Unter seiner Obhut dem Könige zu dienen, sollte noch lange Hauptinhalt seiner beruflichen Wünsche sein. Niemand hat er höher verehrt als den klugen, königstreuen General. Er war für ihn der Staatsmann, mit dem er sich auf der Ebene allgemeiner Menschlichkeit, politischer Grundüberzeugungen und staatsethischer Ansprüche verbunden wußte. Seine Zeit opferte er ihm gern, hatte er doch ein untrügliches Gespür für das Zukünftige, wenn er schrieb: " ... dieser Mann hat ein brillantes Schicksal; wenn er sich ihm gewachsen zeigt, ist er sehr zu beneiden. Mit einem ähnlichen Vertrauen wurde vielleicht noch niemand von seinem Herrn beschenkt. Wer weiß, mir steht vielleicht auch noch einmal der Weg offen, mich auf der Bahn des großen Dienstes zu versuchen; mindestens muß man dies immer im Auge behalten, sonst wäre das Leben gar zu schal ... " 10 Das zwischen dem König und seinem General einer Vasallentreue nicht unähnliche Verhältnis auch für sich dereinst entstehen zu sehen, entsprach auch ganz seinen Vorstellungen von den Pflichten des Dieners gegenüber seinem königlichen Herrn. Dem in Winter einsetzenden regeren gesellschaftlichen Leben konnte sich Savigny nicht entziehen. Er ist dabei sehr behutsam vorgegangen. Mit Bedacht wählte er die Kreise aus, denen er sich anschloß. Da ist es zunächst die Bekanntschaft des Geheimrats Friedrich Albert von Langenn (1798-1868), des Präsidenten des Oberappellationsgerichts und Erziehers des Prinzen Johann, dem sein besonderes Vertrauen gilt. Zu ihm fühlt er sich um so mehr hingezogen, als dieser schon seit vielen Jahren die Verbindung zu seinem Vater gepflegt hatte und sich somit mancherlei Anknüpfungspunkte ergaben. Mit Vorliebe zieht er freilich jüngere Leute in seine Umgebung, Ehepaare des sächsischen Adels, Menschen seinesgleichen und seiner Stellung. Hier beteiligt er sich um die Jahreswende 1840/41 an der Aufführung eines französischen Bühnenstücks. Hier genießt er die Annehmlichkeiten eines kleinen exklusiven Zirkels. Fürst Lynar gehört dazu, selbst Verfasser von Theaterstücken, und auch der junge Rittmeister Heinrich von Gablenz, Schriftsteller und Privatgelehrter zugleich, dazu auch das Ehepaar von Uechtritz und vielleicht Friedrich Ferdinand von Beust, wenn wir eine spätere Bemerkung aus dem Jahre 1848 richtig deuten. II Das Gespräch im Savigny an seine Eltern, 20. November 1840 (Familienarehiv). Savignys Liebe zum Theater ist nicht so groß gewesen, wie man hätte vermuten können. In Karlsruhe hat er später zwar häufig Aufführungen besucht, aber von einer über das übliche Maß hinausgehenden Anteilnahme kann kaum gesprochen werden. Heinrich Frhr. von Gablenz (1801 - 1876) war der Sohn des sächsischen Generalleutnants und Gouverneurs von Dresden Heinrich Adolf Frhr. von Gablenz (1772-1843). Um Irrtümer zu vermeiden: die beiden Brüder waren Anton August von Gablenz, großherzogIich sächsischer Kammerherr und Major a la suite, geb. 1810, und Ludwig Karl Wilhelm, geb. 1814, sächsischer Geheimer Rat und Feldmarschalleutnant. Mit Anton von Gablenz (gest. 1867) ist die Mission am Vorabend des Krieges von 1866 verbunden; sein Bruder Ludwig Karl Wilhelm (gest. 1874 in Zürich durch Selbstmord) hat bei Magenta und Solferino gefochten, war 1864 österreichiseher Oberbefehlshaber gegen Dänemark, Statthalter in Holstein, Sieger von Trautenau (27. Juni 1866), schließlich Kommandierender General in Kroatien und Slowenien (1867/69) und Ungarn (1869/71). 10

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engsten Kreise gilt ihm mehr, als übergroße Festlichkeiten ihn zu fesseln vermögen. Gastlichkeit und Geistesverwandtschaft tun sich hier kund, und geschichtlich gewordene gesellschaftliche Formen beherrschen die Atmosphäre. Vor diesem Hintergrund wuchs Savigny allmählich in seinen Pflichtenkreis hinein. Er wurde ein gewissenhafter, stets dienstbereiter Diener traditionell preußischen Zuschnitts. Dieses Staatswesen, seine Monarchie und all seine Institutionen waren für ihn jene bewahrenswerten innerweltlichen Werte, die er für sich als verbindlich ansah, wie begrenzt er auch immer seine eigenen Möglichkeiten manchmal einschätzte. " ... Ich bin hier ein rechter Alltagsmensch," schreibt er seinen Eltern, "meine Pflichten, so denke ich, erfülle ich treu, wie ich es vermag, aber leider gleiche ich nicht dem Bilde, das An~illon einst von mir entwarf: il sera ou un grand hornrne, ou bien un grand fou ..." 12 Als Jordan sich von Mitte Februar 1841 an wiederum für längere Zeit zur Teilnahme an den Staatsratssitzungen in Berlin aufhielt, hatte Savigny erneut Gelegenheit, die Geschäfte der Gesandtschaft selbständig zu führen. Er unterzog sich der Aufgabe mit Umsicht und Geschick. Jordan war sehr zufrieden. "Es freut mich, mein lieber Savigny," schrieb er ihm, "Ihnen das Zeugnis geben zu können, daß Sie Ihre Geschäftsführung bis jetzt mit Eifer und Umsicht betrieben haben." 13 Ein noch dezidierteres Lob verdiente er sich, als es ihm in kurzer Zeit gelang, mit Unterstützung der sächsischen Behörden Verleger und Drucker der Flugschrift "Vier Fragen", in der die preußische Regierung angegriffen wurde, zu ermitteln. Seine Nachforschungen waren um so schwieriger, als die sächsische Regierung schon vor dem Erscheinen der Schrift dem ihr vorgelegten Manuskript das Imprimatur verweigert hatte. Er glaubte daraus folgern zu dürfen, daß das sächsische Territorium als Ausgangspunkt für die Veröffentlichung der Schrift nicht in Frage käme. Eine um so lebhaftere Genugtuung empfand er nun über den Erfolg seiner Recherchen. Jordan war des Lobes voll; er legte die Berichte dem Minister vor und stellte ihm anheim, sie auch dem König zuzuleiten. 14 Savigny an seine Eltern, 23. Februar 1841 (Nachlaß, S. 172). Jordan an Savigny, 27. März 1841 (Nachlaß, S. 175). Ähnlich günstige Äußerungen Jordans finden sich in mehreren Briefen aus dieser Zeit, so am 9. und 22. März sowie am 2. und 6. April. Vgl. auch den Brief seines Vetters Siegmund von Arnim vom 1. April: ". . . Du wirst wahrscheinlich bald einen anderen Schauplatz für Dein Theater erhalten, und zwar um so mehr, als Dein Gesandter hier viel Lobeserhebungen von Dir macht und sich dahin geäußert hat, daß Dresden nicht der Ort sei, wo ein Talent wie das Deinige verschimmeln dürfe. Du wirst also wohl nach London oder Paris müssen ..." (Nachlaß, S. 175 und S. 177) 14 Jordan an Savigny, 16. und 27. März, 2. und 10. April; Savigny an Jordan, undatierter Entwurf vom März 1841; Savigny an seine Eltern, 19. April 1841 (sämtlich im Nachlaß, S. 174 ff.). Im Zusammenhang mit den preußischen Verfassungskämpfen in den Jahren des Vormärz war eine von dem Arzt Johann Jacoby verfaßte Flugschrift unter dem Titel "Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen" erschienen, in der mit juristisch klarer Beweisführung das Recht nachgewiesen wurde, die von Friedrich Wilhelm III. versprochene Verfassung zu fordern. Die "Vier Fragen" lauteten: 1) Was wünschen die Stände? (Antwort: gesetzmäßige Teilnahme der selbständigen Bürger an den Angelegenheiten 12 13

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Im Grunde handelte es sich fast immer um relativ unerhebliche Verrichtungen. Sie füllten ihn nicht sonderlich aus, aber sie erleichterten ihm die Orientierung in dem noch ungewohnten Aufgabenkreis. Als im Zusammenhang mit dem Ausscheiden Werthers das Gerücht von einem bevorstehenden Revirement unter den jüngeren Diplomaten die Runde machte, war bald auch immer deutlicher von Savignys Versetzung an die Gesandtschaft in Lissabon die Rede. 15 In Dresden für seine weitere Laufbahn vorerst keine nennenswerten Impulse erwartend, gab auch Savigny bald zu erkennen, wie gern er die sächsische Hauptstadt mit Lissabon vertauschen würde. Solange man jung sei, müsse man sich umsehen, ließ er sich vernehmen. Wenn er sein Schicksal mit dem der meisten anderen jungen Menschen vergleiche, könne er dankbar und zufrieden sein. Es gebe reichere und vornehmere Leute, doch wenige, die sich freier in der Welt hätten bewegen dürfen als er, und das verdanke er nur seinen Eltern. Der Name des Vaters sei ihm geradezu ein Empfehlungsbrieffür alle Länder gewesen. Ähnliche Zeugnisse der Dankbarkeit finden wir in großer Zahl. Jetzt sei ihm das Leben in Dresden "entsetzlich monoton", fährt er fort. Aber wohin mochte er versetzt werden? München schwebte ihm vor, vielleicht auch ein Ort außerhalb Deutschlands, nur Kopenhagen mochte er nicht; wir wissen nicht, aus welchem Grunde. Dann bahnte sich die Entscheidung an. Als der für ihn so wichtige Ministerialdirektor Philippsborn 16 sich im Herbst einmal in Dresden aufhielt, tat er alles, den jungen Diplomaten für Lissabon zu interessieren. Der Posten sei fesselnder als der in Neapel. Und von dort würde sich ihm leichter ein Zugang zu noch wichtigeren Stationen eröffnen. Lediglich das Gehalt sei dort aufbesserungsbedürftig. Savigny begann, sich mit der Aussicht auf Lissabon zu befreunden. Im Hause der Eltern lernte er schon bald den Grafen Raczynski kennen, den dortigen Gesandten, und er lernte ihn als eine in hohem Grade angenehme und kultivierte Persönlichkeit kennen. 17 des Staates), 2) Was berechtigt die Stände zu einem solchen Verlangen? 3) Welcher Bescheid ward den Ständen? 4) Was bleibt der Ständeversammlung zu tun übrig? (Antwort: Das, was sie bisher als Gunst erbeten, nunmehr als erwiesenes Recht in Anspruch zu nehmen). Die in den reaktionären Kreisen mit Entrüstung aufgenommene Flugschrift führte zu einer Kriminaluntersuchung gegen Jacoby, in der dieser wegen Hochverrats in erster Linie zu einer mehrjährigen Haft verurteilt, dann aber vom Kammergericht freigesprochen wurde. 15 Diese Gerüchte tauchten regelmäßig auf. So hieß es Ende April/Anfang Mai, Bunsen sei in Berlin eingetroffen; es bleibe dahingestellt, ob man ihn nach London versetzen wolle, um dort etwas für die in Syrien unterdrückten Christen zu tun (Jordan an Savigny, 1. Mai 1841). Weiter hieß es, Canitz sei für London im Gespräch, Bockelberg solle als Geschäftsträger nach Darmstadt, Werther nach Wien gehen, Graf Redern von Darmstadt in die Berliner Zentrale zurückkehren und Schleinitz von London nach Wien versetzt werden. Da dürfe es Savigny nicht schwer fallen, nach München zu gelangen (Siegmund von Arnim an Savigny, 18. April und Canitz an Savigny, 28. Juli 1841, Nachlaß, S. 182 bezw. Familienarchiv). 16 Johann Karl Heinrich Philippsborn (1784-1848), Geheimer Legationsrat, Curator der Legationskasse und als Vortragender Rat in der 1. Abteilung des Ministeriums vor allem mit sämtlichen Personalfragen befaßt.

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Die Dresdener Tage neigten sich damit langsam ihrem Ende zu. Nach einiger Zeit des Wartens ging dann alles ziemlich schnell. Am 7. Januar 1842 konnte Raczynski ihm aus Berlin mitteilen, daß der Minister ihm soeben die definitive Ernennung zum Gesandtschaftssekretär in Lissabon bestätigt habe. 18 Sein Abberufungsschreiben erhielt er am 7. März. Da Werther es ihm gestattet hatte, blieben ihm noch einige Tage, um in Dresden an den letzten geselligen Veranstaltungen teilzunehmen. Ob es da eine leichte Verstimmung gegeben hat? In einem wohlmeinenden Abschiedsbrief hat Jordan offenbar etwas Zutreffendes erkannt, als er ihn seiner fortgesetzten Anteilnahme versicherte und ihm bestätigte, wie sehr er sich durch Bildung und Charakter in seiner Laufbahn auszeichnen werde. Dann aber fährt er fort: " ... Nur wünsche ich Ihnen in Ihrem eigenen Interesse mehr Fügsamkeit im Umgang mit Menschen und einen geringeren Grad von Empfindlichkeit, wenn Sie sich von anderen gekränkt oder vernachlässigt fühlen. Sie müssen dergleichen Aufwallungen zu bekämpfen suchen, damit nicht, wie es in mancher geselligen Beziehung in Dresden geschehen, sogleich eine anscheinende, sehr bemerkbare Spannung daraus entstehe. Wer als Diplomat im Auslande lebt, muß sorgfältig jede Gelegenheit vermeiden, dem Publico irgend einen Stoff zum Nachdenken darzubieten. Da, wo die Ehre wirklich verletzt wird, muß man freilich handeln, gegen kleine Verstöße sich dagegen gleichgültig bezeigen, in dem bisherigen Benehmen ruhig fortfahren und dadurch wohlgesinnten Menschen Anlaß geben, den begangenen Fehler zu bereuen. Insbesondere rate ich Ihnen, alles zu vermeiden, was irgend zu einer Mißhelligkeit mit Ihrem neuen Chef führen könnte ..." 19 Wir wissen nicht, an welche Vorgänge Jordan hierbei gedacht hat. Savigny hat ihm jedenfalls diese Offenheit nicht verübelt. Seine Dankbarkeit und fortdauernde Freundschaft ihm gegenüber geht aus zahlreichen Briefen deutlich hervor. Aber Jordan hat, wenn vielleicht auch in etwas übertriebener Form, eine Charakteranlage Savignys erkannt, die er nie ganz überwunden hat. Wir begegnen auf seinem privaten wie dienstlichen Lebensweg immer wieder Äußerungen leichter Reizbarkeit und Empfindlichkeit, mit denen er auch Freunden gegenüber nicht 17 Athanasius Graf Raczynski (1788 -1874), aus polnischem Adel, ursprünglich in sächsischem, seit 1830 in preußischem Dienst, 1842-1848 Gesandter in Lissabon, dann bis 1852 in Madrid; hervorragender Kenner und Liebhaber alter und neuer Kunst. Sein Werk "Histoire de I'art modeme en Allemagne", 3 Bde. Paris 1836/41, erschien gleichzeitig, von Heinrich von Hagen übersetzt, in Berlin. 1852 ins Privatleben sich zurückziehend, widmete er sich neben der Verwaltung seiner umfangreichen Besitzungen seiner privaten Sammlung alter und neuer Meister, für die er bereits 1844 vor dem Brandenburger Tor eine eigene Heimstätte hatte errichten lassen, die hemach dem Reichstagsgebäude hat weichen müssen. Die Sammlung hat dann in der kgl. Nationalgalerie eine würdige Bleibe gefunden. 18 Jordan an Savigny, 26. Dezember 1841 (Nachlaß, S. 189), Raczynski an Savigny, 7. Januar 1842 (Nachlaß, S. 191). Ergänzend auch Pourtal(:s an Savigny, 18. Januar 1842 (Familienarchiv). 19 Jordan an Savigny, 10. März 1842 (Nachlaß, S. 197 f.).

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zurückhielt. Derlei Reizzustände haben sich in der Regel schnell entschärft. Heinrich von Gablenz äußert sich in ganz anderer Weise: "Nur erst bei Ihrer Abreise fühle ich den ganzen Umfang meines Verlustes. Das einzige belebende Prinzip, was den materiellen Zirkel unseres alltäglichen Umganges beseelte, ist mit Ihnen verschwunden ... Ihre Feinde selbst fangen an, Ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen - Vertrauensvoll sehe ich jedoch der Zukunft entgegen, denn um keinen Preis möchte ich der Hoffnung entsagen, uns bald und auf lange Zeit wiederzufinden."20 Freilich, ein unklarer Rest bleibt zurück. Ähnlich äußerte sich auch Rudolf von Langenn: "Es sind heute drei Wochen, als Sie uns verlassen haben, und noch immer kann ich mich nicht an Ihre Abwesenheit gewöhnen, obgleich ich doch schon so lange wußte, daß es so und nicht anders sein könne ... Sie haben mehr aufrichtige Freunde hier zurückgelassen, als irgend einer von uns Eingeborenen besitzt, und daß in dem Kreise dieser Getreuen Ihrer mannigfaltig gedacht wird, bedarf wohl nicht noch der Erwähnung. Daß Sie eine so freundliche Meinung von unserem Dresden mit in die Feme nehmen, gewährt mir einen doppelten Genuß, da sie zugleich für mich die Bestätigung meiner eigenen Ansicht enthält ... Ich hoffe, Sie werden uns Tag und Stunde Ihrer Ankunft bezeichnen, denn wir werden Sie mit den gebührenden Feierlichkeiten in Empfang nehmen und im Triumph durch die Straßen führen. Wenn es Ihnen Vergnügen gewährt, will ich sogar die Sarabande tanzen ..."21 Und noch lange danach, am 2. Januar 1844, schrieb er: "Heute am 2. Tag des neuen Jahres soll mich nichts abhalten, Ihnen aus der Feme die Hand des Freundes zu reichen; ich tue es um so freudiger, als ich hoffen darf, Sie im Laufe dieses Jahres in Deutschland begrüßen und nach so langer Trennung wenigstens einige Tage mit Ihnen verleben zu können. Wie sehr ich mich auf diesen Zeitpunkt freue, brauche ich Ihnen wohl nicht erst hinzuzufügen. Wir gedenken in dem kleinen Kreise der Freunde, welche Sie hier zurückgelassen haben, Ihrer oft und mit dem Gefühl von Wehmut, denn ich vermisse Ihren Umgang täglich noch ebenso lebhaft als in den ersten Tagen unserer Trennung ..." 22 Lissabon

Werther hatte ihm die Reiseroute freigestellt. Savigny wählt den Weg über Paris. Wiederum findet er beim preußischen Gesandten, jetzt bei dem Grafen Heinrich Friedrich von Arnim-Heinrichsdorff, die freundlichste Aufnahme. Er sieht auch seine Freunde wieder, den guten Gautier, der wenige Wochen darauf seine Eltern in Berlin aufsuchen wird, den Duc de Broglie, den Professor Rossi, der ihm Grüße für den Vater aufgibt; er trifft Jean-Ferdinand Denis, den Bibliothe20 Heinrich von Gablenz an Savigny, 22. März 1842 (Nachlaß, S. 199). 21 Rudolf von Langenn an Savigny, 4. April 1842 (Nachlaß, S. 2(0). 22 Rudolf von Langenn an Savigny, 2. Januar 1844 (Nachlaß, S. 259).

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kar von Ste. Genevieve, der die spanische und portugiesische Literatur zum Hauptgegenstand seiner Studien gemacht hat. Vielleicht geht auf ihn die Anregung zurück, in Lissabon Ausschau nach seltenen Werken über den spanischportugiesischen Kulturkreis zu halten, um sie dann der königlichen Bibliothek in Berlin zu offerieren. Er trifft mit Cousin und Montalembert zusammen. Bei Charles Nodier, dem Bibliothekar, lernt er den südfranzösisch-gascognesischen Dichter Jacques Jasmin aus Agen kennen, der Lamartine für den größten Dichter des Jahrhunderts hält und von dem Sainte Beuve sagt, er sei der legitime und unmittelbare Erbe des Horaz. 23 Dann ist es endlich soweit: am 25. Mai verläßt er Paris. Über Avignon, Marseille, Barcelona, Malaga und Granada trifft er nach mancherlei Umwegen und Abstechern am 9. Juli in Lissabon ein. 24 Sein erster Eindruck ist enttäuschend; verwahrlost und schmutzig kommt ihm die Stadt vor; vergebens sucht er nach Zeugnissen alter Kunst; selbst die königliche Galerie nennt er "erbärmlich". 25 Im diplomatischen Korps findet er bald Freunde und Weggenossen wie etwa den Grafen Luckner, den dänischen Gesandten, oder den Marquis Albert de Ricci, den Vertreter Sardinien-Piemonts, mit dem er eine noch viele Jahre andauernde Freundschaft schließt. Für den bedeutendsten Kopf hält er den päpstlichen Nuntius, Msgr. Capaccini. "Nur ein Mann ist hier," so heißt es in einem Brief an die Eltern, "der dem Lande trotz des Widerstandes aller dieser infamen Intriganten einen wahren Dienst erwiesen hat; das ist Msgr. Capaccini, der endlich den Kirchenfrieden mit Rom herbeigeführt hat und nun hofft, einige Zucht in die wenige Geistlichkeit zu bringen, die hier im Lande herumbettelt und zuweilen noch schlechtere Gewerbe treibt." 26 Einen günstigeren Eindruck gewinnt er von den Zuständen am Hof. Ein Fest in dem inmitten üppiger Vegetation gelegenen Schloß Cintra, jener im ausgehenden Mittelalter als Sommerresidenz der Könige in maurisch-spätgotisch-manuelischem Stilgemisch errichteten Palastanlage, gibt ihm Gelegenheit, die vornehme Welt der Residenz kennenzulernen. Zur Namenstagsfeier der Königin hatte auch er sich an der Seite Raczynskis mit dem diplomatischen Korps dort eingefunden. Während die Gäste in der spärlich erleuchteten Galerie das Königspaar erwarteten, hat Savigny Gelegenheit, die schönen Räume des Schlosses zu bewundern, wie 23 Charles Nodier (1780-1844), Bibliothekar in Paris; Jacques Jasmin (Deckname des gascognesischen Mundartdichters Jacques Boe, 1798-1864). Vgl. auch Savignys Briefe an die Eltern vom 10. und 23. Mai 1842 (Nachlaß, S. 202 f.). 24 Vgl. auch Savignys Briefe aus Marseille, Barcelona und Malaga (Nachlaß, S. 202 ff.). 25 Savignyan seine Eltern, 8. August 1842 (Nachlaß, S. 202). Vgl. auch die weiteren dort wiedergegebenen Briefe. 26 Savigny an seine Eltern, 4. März 1843 (Nachlaß, S. 228). Der Nuntius verhandelte damals über ein Konkordat, das wegen der traurigen Zustände im Klerus und der überall zu beobachtenden sittlichen Bedenkenlosigkeit, von der auch die Hofgeistlichkeit nicht ausgeschlossen war, in Rom vordringlich erschien.

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etwa jenen Schwanensaal, der an die Werbung Philipps des Guten von Burgund um Isabel, die Tochter Johanns 1., erinnert, eine Begebenheit, die in dem von Philipp ge stifteten Orden vom Goldenen Vlies fortleben sollte. 27 Besonders aufmerksam verfolgt Savigny die politische Entwicklung im Lande. Im Spätherbst drängt sich ihm der Eindruck auf, als stünde eine von Intriganten ausgehende und vom Herzog von Palmella unterstützte Revolution unmittelbar bevor. Schon deutet er die Umtriebe dieses Mannes, der einst Bevollmächtigter auf dem Wiener Kongreß gewesen war, als strebe er jetzt nach der Beseitigung der Königin, um dann für den Kronprinzen selbst die Regentschaft zu übernehmen. 28 Er schildert auch den Herzog von Terceira, jenen in vielen Farben sich spiegelnden Offizier, der gemeinsam mit dem Herzog von Saldanha das königliche Heer bei EvoraMonte zur bedingungslosen Kapitulation und den König selbst zur Abdankung und Exilierung gezwungen hatte. Diese und ähnliche Beobachtungen machen seine kritischen Äußerungen über das Land verständlich. Portugal, so schrieb er damals, versinke in einem grundlosen Morast, und zwar allein infolge der sogenannten konstitutionellen Monarchie, seiner freien Presse, seines Wahlsystems, der Ministerverantwortlichkeit gegenüber den Parteien, die nach seinem Urteil in dem Begriff "Vaterland" nur die Befriedigung der schmutzigsten Selbstsucht zu finden gewohnt seien. All diesen Verfallserscheinungen gegenüber habe er im ganzen Lande nur einen wahren Vaterlandsfreund gefunden: die Krone. Das Königspaar sei tugendhaft und wohlgesinnt und übe in sittlicher Beziehung die heilsamste Wirkung aus, und dieses sei wiederum das Werk des aus dem Coburgischen stammenden Dietz, des Privatsekretärs und Ratgebers des Königs. Allen schädlichen Einflüssen auf den Willen des Königspaars zuvorkommend, verstehe er es, ihm ein Gefühl für Würde nahezubringen. Die Portugiesen haßten ihn wegen seiner Gewissenhaftigkeit, aber sie achteten ihn auch, da er allein den Willen der Krone repräsentiere. 29 Seine dienstlichen Obliegenheiten hingegen hatten ihm für seine Laufbahn kaum etwas zu bieten. Er schätzte zwar die harmonische Zusammenarbeit mit Raczynski, und dieser wiederum tat alles, ihm die Arbeit fern der Heimat zu 27 König Johann I. (1357 -1433, König seit 1385). Die Verbindung diente der Festigung der Allianz zwischen Portugal, Burgund und England (die portugiesische Königin entstammte dem Hause Lancaster) im Kampf gegen Karl VII. von Frankreich. Aus der Ehe Philipps mit Isabel ging Karl der Kühne hervor. 28 Savigny an Jordan, 20. Dezember 1842 (Nachlaß, S. 223). 29 Dietz hatte als Erzieher am Hof gewirkt und übte jetzt als "deutscher Präzeptor", sehr zum Verdruß vieler Hofkreise, einen maßgeblichen Einfluß auf das Königspaar aus. Savignys Eindrücke sind sehr zwiespältig. Vgl. u. a. seinen Brief an die Eltern vom 4. März 1843 (Nachlaß, S. 228); demgegenüber folgendes: in Porto hatte er bei einem französischen Buchhändler des Vaters "Traite de possession" und die Übertragung der Geschichte des Römischen Rechts durch Guenoux vorgefunden. In Coimbra hatte ihm ein gebildeter Buchhändler versichert, daß die dortigen Professoren sich alle wesentlichen Neuerscheinungen, vor allem aber die "Ouvrages de Mr. de Savigny", kommen ließen. (In Spanien war ihm Ähnliches begegnet).

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erleichtern. Aber er gewann mit der Zeit die Überzeugung, daß Raczynski, anders als Bülow und Jordan, für die Ausbildung eines jungen Diplomaten weniger geeignet war. Im Grunde hatte er den Lissaboner Posten wohl nur bejaht, weil er nach den Äußerungen Philippsborns und Maltzans 30 hatte annehmen dürfen, daß Raczynski Lissabon bald verlassen und er dann als Geschäftsträger dort selbständig tätig sein konnte. Indes Raczynski wies den Gedanken weit von sich, vor 1844 einen längeren Urlaub anzutreten oder gar um seine Versetzung nachzusuchen. Er fühlte sich wohl in der Stadt, die ihm Gelegenheit bot, seinen kunstgeschichtlichen Neigungen nachzugehen. Nichts vermochte ihn vor der Zeit von hier fortzulocken. So blieb die dienstliche Position des jungen Diplomaten vorerst recht unfruchtbar. 31 Zuweilen gab er die Hoffnung auf, je an eine der großen Gesandtschaften versetzt zu werden. Es blieb für ihn dabei, mit einem "lächerlich schlechten Gehalt in der erbärmlichsten Stellung von der Welt" auszuharren. Seine Enttäuschung entlud sich schließlich in immer deutlicheren Briefen an die Eltern. So bat er den Vater, bei Bülow für ihn die Erlaubnis zu erwirken, Ende April 1843 Lissabon verlassen zu dürfen. Er dachte an eine Reise nach Tanger und Algier, und wenn sich dann für ihn noch immer keine weitere Verwendung ergab, zunächst einmal in die Heimat zurückzukehren. Die wenigen angenehmen Erfahrungen in Lissabon veranlaßten ihn und seine Freunde, sieh in einem nach außen deutlich abgeschirmten Zirkel zusammenzufinden. "Wir leben hier wie in einer Familie, Raczynski, Rieci, Luckner und die Russen Stroganoff und Oubril," schrieb er damals. 32 Er ersteht sieh ein Pferd, um die Orangenhaine und Mandarinenwälder der Umgebung zu durchstreifen, so wenig füllen ihn seine dienstlichen Pflichten aus. Mit angehaltenem Atem verfolgt er die Vorgänge in der Heimat. "Gott bewahre jedes Land vor einer freien Presse und Konstitution!" ruft er aus, und schon befürchtet er in der Gewährung solcher Freiheiten zu weit gegangen zu sein. "Preußen," so heißt es weiter, "war bisher das beste Argument für die legitime Monarchie; sollten auch wir alle Gesetze der Disziplin aufgeben, dann ist es 30 August Mortimer Graf Maltzan, Freiherr von Wartenberg und Penzlin (1793 - 1843), zunächst Offizier, seit 1815 im diplomatischen Dienst, 1841/42 Außenminister. 31 Savigny befaßte sich zeitweilig mit Dingen, die seiner Natur völlig fern lagen. So schrieb er im Herbst 1843 einen Aufsatz über die kommerziellen und industriellen Verhältnisse des Landes und auf den Azoren. Raczynski schickte das Manuskript an Bülow, der seinerseits "mit großem Interesse von den wertvollen Materialien" Kenntnis nahm und den Aufsatz an das Finanzministerium weiterleitete. (Bülow an Savigny, 23. Dezember 1843, Familienarehiv). Eine weitere Studie beschäftigte sich mit den diplomatischen Beziehungen zwischen Spanien und Preußen (Familienarehiv). - In die Nähe von Radowitz zu kommen, blieb weiter sein besonderer Wunsch. Vgl. dazu die beiden Briefe vom 30. Januar und 6. Februar 1843 (Nachlaß, S. 227). 32 Graf Stroganoff und Pau! von Oubril, russische Diplomaten, ersterer später Kurator (Vormund) des russischen Thronfolgers, letzterer von 1863 bis 1880 Gesandter in Berlin und anschließend bis 1882 in Wien.

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geschehen um die Ruhe und Zucht in Deutschland und Italien, denn Österreichs Beispiel allein reicht nicht, um in den monarchischen Schranken zu bleiben." Er ist entsetzt, wie Bettina von Arnim aus ihrem Hause "ein wahres Absteigequartier für alle literarischen und anderweitigen Vagabunden gemacht hat." Jetzt ziehe sie selbst durch Deutschland und nehme wie Welcker die Huldigungen ihrer Partei entgegen. Savigny hat die menschlichen Beziehungen zu der weitverzweigten Großfamilie stets gepflegt und gerade in schwierigen Situationen wie später im Harry-Arnim-Konflikt die für ihn selbstverständliche Solidarität aller Familienmitglieder beschworen. Bettina gegenüber blieb er streng und kritisch. Die Spontaneität ihres Verhaltens, die Praktizierung ihres alle Bindungen sprengenden Lebensgefühls, die literarischen Ambitionen ihrer zutiefst unausgeglichenen Natur waren für ihn Emanationen einer gänzlich fremden Welt; erst recht stellte sich ihm in dem damals gerade erschienenen Königsbuch eine Vorstellungswelt dar, die mit den Maximen seines hochkonservativen und standesbezogenen Denkens schlechterdings unvereinbar war. Das in jenem Buch hervortretende Verständnis für bestimmte Erscheinungen der immer dringender nach einer Lösung suchenden sozialen Frage ging ihm ab, und er ist auch später über erste Ansätze seines politischen Denkens auf diesem Felde kaum hinausgelangt. Ein in der Monotonie seines Lissaboner Daseins erfreuliches Ereignis war die bevorstehende Ankunft des Prinzen Adalbert von Preußen, des späteren Chefs der Marine, der in Begleitung des Grafen Bismarck-Bohlen und des Grafen Oriola, der durch seine spätere Vermählung mit Maximiliane von Arnim noch in seinen Verwandtenkreis eintreten sollte, auf der Rückreise aus Brasilien erwartet wurde. 33 Hier hat er den Prinzen zum Hof nach Cintra zu begleiten. Unter der persönlichen Führung des Königs unternehmen sie einen Ausflug zu dem oberhalb von Cintra auf einem Felsen gelegenen Pahicio da Pena, den Ferdinand von Sachsen-Coburg-Gotha-Kohary wenige Jahre zuvor als Lustschloß hatte errichten lassen. Hier wie in dem barocken Klosterpalast von Mafra, dem "portugiesischen Escorial", stehen sie verwundert in den weiten, von Fackeln gespenstisch erleuchteten Räumen und bewundern die Schätze der Bibliothek, in die der Monarch voller Stolz seine Gäste führt. 33 Adalbert Prinz von Preußen (1811-1873), Sohn des Prinzen Wilhelm von Preußen (des jüngsten Bruders Friedrich Wilhelms III.) galt als Träger des Flottengedankens in Preußen. Dm, den es immer in die Feme zog und der auf Anregung Alexander von Humboldts die Erforschung des Xingu-Tals auf sich nahm, um die Ergebnisse einer österreichischen Expedition zu ergänzen, hatte der König ausersehen, dem Kaiser Dom Pedro JI. die Insignien des ihm verliehenen Schwarzen Adlerordens zu überbringen. An Bord der ihm von Karl Albert von Sardinien zur Verfügung gestellten Fregatte San Micheie begab er sich im Herbst 1842 nach Rio de Janeiro, begleitet von Hauptmann i. G. Graf Oriola und Friedrich Theodor Alexander Graf von Bismarck-Bohlen (18181894), damals Leutnant der Garde-Dragoner, später Flügeladjutant Friedrich Wilhelms IV. Dom Pedro machte seinen Gast zum Ritter vom Orden des südlichen Kreuzes und schenkte ihm ein von ihm selbst geschaffenes Ölgemälde Friedrichs des Großen, das später im Schloß Monbijou hing.

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Damals hat ein Erlebnis besonderer Art Savigny zur Überprüfung seiner ganzen Persönlichkeit veranlaßt: Graf Luclmer sah sich in ein Ehrenhändel mit einem englischen Diplomaten verwickelt. Da Vermittlungs gespräche ergebnislos verlaufen waren, hatte Savigny seinen Freund als Sekundant im Tal von Quelez zu einem Rencontre nahe bei dem Pahicio da Ajuda zu begleiten. Wenn es ihm hier auch gelang, den Streit auf ehrenvolle Weise zu bereinigen, so haben doch jene ernsten Tage auch ihn zu einer kritischen Selbstprüfung angeregt. In einem Brief an die Mutter hatte er geäußert, er könne wohl seine Karriere ganz aufgeben. Auf die erschreckte Rückfrage des Vaters erläuterte er: er habe sich schon vor Jahren vorgenommen, sich bei Erreichung seines 30. Lebensjahres noch einmal zu prüfen, ob er nicht zum geistlichen Stande berufen sei, der ihm noch immer als höchster und edelster Beruf erscheine. Zwar habe er der Würde dieses Berufes bisher noch nicht entsprochen, aber die Muße habe ihn zu ruhigem Nachdenken veranlaßt. 34 Zu dieser Umkehr ist es nicht gekommen. Vielmehr folgen schon bald wieder Äußerungen der Zufriedenheit, verbunden mit der Absicht, in Lissabon bleiben zu wollen und die Zeit zur Fortsetzung seiner Studien zu verwenden. Verwunderlich bleibt, daß Savigny trotz der desolaten kirchlichen Zustände in seinem Gastland noch einmal den geistlichen Stand erwogen hat. Indes ist ein Antrieb zur Vertiefung seiner religiösen Überzeugungen aus zahlreichen Briefen, auch noch der späteren Jahre, kaum zu entnehmen. Seine politisch-konservativen Grundsätze verbanden sich mit der Einsicht in die kirchenfeindlichen Hintergründe des indifferenten Liberalismus. Im Frühsommer 1843 brachte der Besuch seines Freundes Guenoux ihm eine willkommene Abwechslung. Seine dienstliche Muße gestattete es ihm, mit ihm und einigen weiteren Freunden eine Reise nach den Azoren zu unternehmen. Über die Maßen genießen sie die paradiesischen Inseln mit ihrem wohltuenden Klima, ihren Fruchtgärten, Orangen- und Bananenpflanzungen, ihren Pinien-, Lorbeer- und Muskatanlagen, eine von Savigny noch nie erlebte Vegetation, ein immerwährender Frühling, wo zwischen Bergen und Tälern, heißen und kalten Quellen die Geschöpfe aller Klimastriche gedeihen. In Pico und Funchal, in San Miguel und Terceira werden sie überaus gastlich aufgenommen. Er macht sich Aufzeichnungen von seinen Erlebnissen, die er später zu einer kleinen Darstellung verarbeiten wird. Er legt eine Sammlung seltener Mineralien an, die er dem Berliner mineralogischen Museum zur Verfügung stellt. Nach fast drei Monaten neigt sich dieses Abenteuer seinem Ende zu. Nach einer stürmischen Überfahrt erreicht er mit seinen Gefährten die portugiesische Hauptstadt, von Raczynski auf das herzlichste empfangen. 35 Savigny an seinen Vater, 17. und 24. April 1843 (Nachlaß, S. 235 f.). Zu der Azorenreise vgl. seine Briefe an die Eltern vom 21., 28., 30. Mai und 30. Juli sowie den Brief an Raczynski vom 11. Juni 1843 (Nachlaß a. a. O. und Familienarchiv). 34 35

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Diese auf den Wogen einer abenteuerlichen Lebensfreude unternommene Reise war die längste, die Savigny je unternommen hat. Nicht nur, daß sie ihn in eine feme Traumwelt entführt und für die Schönheit einer unverfälschten Landschaft empfänglich gemacht hat, sie stellt für ihn auch insofern eine Zäsur dar, als er mit ihr endgültig Abschied nimmt von einer Lebensgestaltung nach eigenen Wünschen und Neigungen und er sich fortan ausschließlich unter das Gesetz des Dienstes gestellt sieht. Die Diskrepanz zwischen diesen beiden Möglichkeiten der Daseinsformung wird ihm jetzt deutlich bewußt. In dem rauhen Werktag überwiegen die Enttäuschungen. Enttäuscht war er auch über die Alimentierung seiner Stellung. Nachdem Philippsborn vor Antritt seines Lissaboner Postens ihm geraten hatte, zu gegebener Zeit eine Erhöhung seines Gehalts zu beantragen und er dann - von Raczynski unterstützt - diesen Antrag mit den Lissaboner Lebensverhältnissen begründete und formulierte, erhielt er einen ablehnenden Bescheid, der ihn um so mehr empörte, als ihm stattdessen eine einmalige Gratifikation von 200 Gulden zugedacht wurde. In seinem Stolz verletzt, erwog er einen Augenblick, den Dienst zu quittieren, begnügte sich dann aber mit einem ausdrücklichen Verzicht auf die Gratifikation, die er angesichts der Vermögenslage seiner Familie nicht annehmen zu können erklärte. 36 Savigny hat diese ärgerliche Episode bald vergessen - nicht zuletzt wohl auch mit Rücksicht auf das Verhältnis des Vaters zu Bülow. Ja, er gibt sich jetzt in Lissabon sogar sehr zufrieden. Vertraut mit der Sprache des Landes, findet er nun auch einen leichteren Zugang zu der älteren Geschichte des Königreichs. Anregung dazu findet er bei Alexander Herculano, dem Dichter und Historiker, dessen Werke Lamennais nachempfunden waren und dessen vierbändige Geschichte Portugals auch in der Folgezeit kaum etwas von ihrer Aussagekraft verlieren sollte. 37 Als Savigny ihn kennenlernte, war dieser schon mehrere Jahre Direktor der königlichen Bibliothek; soeben in die Akademie berufen, sah er in ihm einen der gebildetsten Männer des Landes, eine edle Natur, von wissenschaftlichem Eifer und sittlichem Ernst geprägt. Er lenkte des Vaters Aufmerksamkeit auf Herculanos Arbeiten zur portugiesischen Rechtsgeschichte, auf seine Sammlung sämtlicher Gesetze, Rechtsverordnungen und Rechtsverleihungen an portugiesische Städte und Landschaften. Er erwägt, ob es auch für ihn nicht besser sei, wenn man ihn derzeit daheim nicht zu etwas Ordentlichem benötigen sollte, nach Portugal zurückzukehren, um hier seine Studien fortzusetzen. 36 Savigny an seinen Vater, 17. April und 30. Juli sowie an Raczynski, 8. August 1843 (Nachlaß, S. 235, 245, 247). 37 Alexander Herculano de Carvalho Araujo (1810-1877), nach seiner Rückkehr aus der Emigration (England und Frankreich) schnell durch Lyrik und politische Schriften berühmt geworden; 1839 Direktor der kgl. Bibliothek, leitete die Herausgabe der "Portugaliae Monumenta Historica"; 1846 erschien der erste Band seiner Geschichte Portugals. Historische Romane und politische Oppositionsschriften wechseln mit Arbeiten zur portugiesischen Rechtsgeschichte ab. (Vgl. auch Savigny an seine Eltern, 18. Oktober und 18. Dezember 1843, Nachlaß, S. 250 und 255).

5*

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Wir dürfen annehmen, daß Savigny sich damit nur einem Gedankenspiel überläßt. Letztlich fühlte er sich mehr für einen Beruf der alltäglichen Pflichten als für die Wissenschaft bestimmt. Seine gelegentlichen Ausflüge in ihre Bezirke sind wohl eher einem Entgegenkommen gegenüber den Erwartungen des Vaters zuzuschreiben als dem wissenschaftlichen Eros des Diplomaten. Der Vater hat ihn nie zu derlei Ambitionen gedrängt, aber der Sohn wußte, daß in der Sicht des Vaters die Befassung mit den Wissenschaften den höchsten Persönlichkeitswert in sich barg, und da er in der fortgesetzten brieflichen Verbindung mit dem Elternhaus eine stets willkommene Entschädigung für all das sah, was er an Enttäuschungen glaubte hinnehmen zu müssen, suchte er dem Vater auf mancherlei Weise gerecht zu werden. Als dieser nähere Informationen über die politischen Zustände jenseits der Pyrenäen erbat, gab der Sohn ausführliche Auskünfte. Dem rückschauenden Betrachter erscheinen seine Analysen oft nicht sonderlich überzeugend. Seine Urteile klingen hart, oft einseitig und gehen zuweilen an den Entwicklungen sowohl in Portugal als auch in Spanien vorbei. 38 Seit dem Herbst 1843 ist Savigny verstärkt darauf bedacht, sich einen Urlaub zu erwirken, um in Berlin nach seiner weiteren Verwendung Ausschau zu halten. Raczynskis Freundschaft und vor allem sein außerdienstliches Vertrauen können über die Fragwürdigkeit seiner dienstlichen Existenz nicht hinwegtäuschen. 39 38 So heißt es in einem Brief an die Eltern vom 25. August 1843: " ... die Regierung hat soeben wieder einige kleine Anleihen von 6 bis 8 Millionen fr. abgeschlossen, bei denen nach der eigenen Aussage des Finanzministers die Unternehmer 30 % gewinnen. alles sind Antizipationen auf die verschiedenen Staatseinnahmen. Schon jetzt ist für einige Jahre das Verhältnis so, daß die meisten Staatseinnahmen direkt in die Hände der Staatsgläubiger wandern, während der Staat jedoch alle Beamten bezahlen muß, die für die Perzeption dieser Einnahmen nötig sind ... Es ist schwer, sich einen Begriff zu machen von dem Elend, was so allmählich in alle Klassen der Gesellschaft einreißt. Leute, äußerlich in einer anständigen Lage, mit Titeln und guten Familienverbindungen, sehen sich zum Betteln gezwungen ... Der Bankrott wird Tausende von Familien ins Elend stÜTzen, allein ohne ihn dürfte man sich nicht mehr herausziehen können ... Die Herrschaft in diesem Lande ist ganz in den Händen der sogenannten geheimen Gesellschaften, der Freimaurer und der templiers. Die Minister sind bis auf wenige Ausnahmen Mitglieder und können sich nur dadurch halten. Ein Minister kann niemals einen subalternen Beamten absetzen, wenn er Mitglied eines Klubs ist. Der Korporal stimmt mit seinem Obersten über die öffentlichen Angelegenheiten ab. Wie bei alledem die wesentlichen Geschäfte gehen, das kann man sich wohl denken. Dies ist also jene ideale Freiheit, mit der uns die Straßenjungen auch beschenken möchten. Bewahre uns der Himmel davor!" (Familienarehiv). 39 Hierzu einige Zitate aus Raczynskis Briefen: " ... Ihren Brief habe ich aus Paris erhalten. Er ist inhaltreich und lieb. Ich habe mich damit den ganzen Tag herumgeschleppt und mehrere Male, bald teilweise, bald ganz, durchgelesen, so wie man es mit dem Briefe einer Geliebten zu tun pflegt. Sie scheinen hier zurückkehren zu wollen. Ach! Tun Sie es, wenn die Vorzüge, welche man Ihnen anbieten dürfte, nicht entschieden das positive Gute überwiegen, welches für Sie und mich (wenn ich mit Ihnen vereinigt bin) hier vorhanden ist." (14. März 1844). - "Der Fürst Löwenstein ist mit dem letzten Dampfschiffe hier angelangt. Ich glaube, daß ich mich in ihm nicht täuschen werde und daß unsere Ehe eine friedliche sein wird, aber das, was Sie mir waren, wird er mir nie werden, und wenn ich Anwandlungen von gleichem Vertrauen und gleicher Anhänglich-

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Sein Urlaub wird ihm bewilligt. Als er Anfang Februar 1844 Lissabon verläßt, nimmt er - wie könnte es auch anders sein? - den Weg über Paris. Der unvergleichlichen Atmosphäre ganz entwöhnt, fühlt er sich geradezu unsicher, sollte ihm jetzt der Posten eines Legationssekretärs angeboten werden. Wieder fragt er nach den alten Freunden. Er besucht den Duc de Broglie und Victor Cousin. Gautier findet er so geschwächt, daß er an seiner Genesung zweifelt. Charles Nodier, der Bibliothekar, war kurz zuvor gestorben. Dann bricht er nach Berlin auf. Er fühlt sich krank und elend. "Die ganze Reise in das Vaterland bleibt eine Unglücksreise," heißt es in einem Brief, "was man mir jetzt anbietet, kann ich nicht annehmen; es ist schlecht. Was ich mich hier schon habe ärgern müssen, kann ich Ihnen unmöglich beschreiben. Ewig werde ich mich nach Lissabon zurücksehnen, nach unserem traulichen Kreise und Zusammenleben "40

In Berlin erwartet ihn tatsächlich zunächst eine Enttäuschung. Er erfährt, daß Bülow ihm den Urlaub nur gewährt hat, um ihn nicht wieder nach Lissabon zurückkehren zu lassen. Sein Nachfolger Fürst zu Löwenstein-Wertheim hatte inzwischen seinen Dienst dort angetreten. Jetzt ist plötzlich Brüssel für ihn im Gespräch, aber Savigny gibt zu erkennen, gerade dorthin nicht gern detachiert zu werden. Vielleicht hat Raczynski ihn in dieser Ablehnung bestärkt. 41 In Zusammenhang mit einer weiteren Verwendung hat es damals eine peinlich anmutende Korrespondenz zwischen dem Vater und Bülow gegeben. Persönlicher Ehrgeiz, reizbare Empfindlichkeit und damit verbunden ein stets waches Mißtrauen gegen die vorgesetzte Behörde seitens des Sohnes verbanden sich mit dem Verlangen des Vaters, jede Beeinträchtigung der Laufbahn des Sohnes zu vermeiden. Gemessen an Lissabon erschien ihm die vorgesehene Versetzung nach Kassel, Karlsruhe oder Bern als eine Zurücksetzung, zumal andere Möglichkeiten wie etwa in Turin oder Konstantinopel nicht weiter verfolgt wurden. Bülow fand schließlich einen Ausweg: Generalmajor Philipp Wilhelm Ulrich von Thun, damals Gesandter in Kassel, war im Begriff, einen auf vier Monate vereinbarten Urlaub anzutreten. keit finden sollte, so würde es mir vorkommen, als sei ich Ihnen untreu geworden." (26. April 1844). - "Alle Tage beklage ich, daß Sie nicht mehr hier sind. Ich lebe in Frieden mit Ihrem Nachfolger und nehme mich sehr in acht, damit dieser Friede nicht gestört werde, aber wie vermisse ich Ihre edle Denkungsweise, Ihr treues Herz!" (13. August 1844). - "Ich sage Ihnen: wir müssen irgendwo zusammentreffen. Ende April bis zum 10. Mai bin ich in Berlin. Mitte Juli in Paris, Ende Juli in Lissabon." (18. Januar 1845). Sämtliche Briefe im Familienarchiv. 40 Savigny an Luckner, der damals in seine dänische Heimat zurückberufen worden war, 8. Mai 1844 (Nachlaß, S. 273). 41 Raczynski an Savigny: " ... Ich wünschte, der Baron B(ülow) möchte Sie dem Ministerium attachieren, damit Sie die Gelegenheit haben möchten, Ihre Arbeitsfähigkeit zu bewähren. Ich würde es als ein wahres Unglück ansehen, wenn man Sie nach Brüssel schicken möchte. Sie würden es dort nicht aushalten, und es könnte von schlimmen Folgen für Ihre Karriere werden ..." (Nachlaß, S.264). Auch Raczynski stand mit Arnim-Suckow nicht in einem guten Verhältnis. Heinrich Alexander Frhr. von ArnimSuckow (1798-1861) war seit 1840 Gesandter in Brüssel; als Fußverletzter von 1815 wurde er in der Familie auch der "Lahme" genannt.

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Savigny sollte ihn für diese Zeit als Geschäftsträger vertreten. Beide Savignys stimmten überein, in der Übertragung der selbständigen Leitung der Angelegenheiten eine wohlwollende Berücksichtigung ihrer Erwartungen zu erkennen. 42 Das Verhältnis der beiden Minister blieb unbelastet. Für den Sohn war damit der Weg nach Kassel frei. Es war kein Aufsehen erregender Aufstieg, aber man durfte in dieser Versetzung auch keine Diskreditierung sehen. Ein Weiteres kam hinzu: von Kassel war der Weg nicht weit bis Trages. Es konnte dem jungen Diplomaten im Grunde nicht schwer fallen, das ferne Lissabon mit der hessischen Kurfürstenstadt zu vertauschen. Er und die Eltern wußten sich jetzt einander in erreichbarer Nähe. Kassel In der Hierarchie der Staaten des Deutschen Bundes nahm Hessen-Kassel einen bescheidenen Rang ein. Seit seiner Konstituierung als Kurfürstentum (1803) durfte es sich zu den sogenannten Mittelstaaten zählen, aber die Kurwürde blieb unerheblich. Wilhelm IX. - als Kurfürst Wilhelm I. - vermochte der ihm zustehenden Anrede "Königliche Hoheit" im Kreise seiner Mitfürsten zu keiner Zeit jenen Glanz zu verleihen, den er sich stets gewünscht hatte. Seine Regierungsrnaßnahmen sind von der Mit- und Nachwelt überwiegend kritisch aufgenommen worden. Die unter seinem Nachfolger Wilhelm 11. nachdrücklich betriebene Beteiligung an der Gründung des gegen Preußen sich richtenden Mitteldeutschen Handelsvereins (1828) erwies sich bald als eine gegen die zeitimmanenten Tendenzen sich auswirkende Entscheidung. Als Preußen 1828 einen Zollvertrag mit Hessen-Darmstadt schloß, blieb dem infolge der Juli-Ereignisse in Frankreich krisengeschüttelten Kurhessen bald nichts anderes übrig, als sich dieser Zolleinigung anzuschließen (1831). Neben dieser erzwungenen Preisgabe des eigenen Konzepts hat die Persönlichkeit des Landesherrn dem Ansehen Kurhessens erheblich geschadet. Das Privatleben Wilhelms 11. geriet ins Zwielicht, und seine Neigung zu willkürlichen, mit der Verfassung vom 5. Januar 1831 kaum zu vereinbarenden Entscheidungen führte zu jener schweren Staatskrise, die in dem vom Landesherrn und den Landständen gemeinsam erlassenen Gesetz vom 30. September 1831 ihre überraschende Lösung fand: Wilhelm 11. war weder bereit, sich von Emilie Ortlöpp, seiner zur Gräfin Reichenbach erhobenen Mätresse, zu trennen, noch von seinen bei Hanau gelegenen Schlössern nach Kassel zurückzu42 Zu der Kontroverse vgl. die folgenden Dokumente: Philippsbom an Karl Friedrich von Savigny, 5. April; Karl Friedrich von Savigny an Philippsbom, o. D. (April); Raczynski an Karl Friedrich von Savigny, 8., 9. und 10. April; Friedrich Karl von Savigny an Bülow, 4. Mai; Karl Friedrich von Savigny an Bülow, o. D. (Mai); Bülow an Friedrich Karl von Savigny, 5. Mai; Friedrich Karl von Savigny an Bülow, o. D. (Mai); Karl Friedrich von Savigny an Bülow, o. D. (Mai); Karl Friedrich von Savigny an Bülow, 9. Mai; Friedrich Karl von Savigny an Bülow, 11. Mai; Bülow an Karl Friedrich von Savigny, 30. Mai; Karl Friedrich von Savigny an Bülow, 22. Juni 1844; sämtliche Briefe im Nachlaß, S. 261 ff.

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kehren. Ohne formell abzudanken, entschied sich der Kurfürst in diesem Gesetz dahin, den Kurprinzen Friedrich Wilhelm zum Mitregenten zu erheben, selbst aber auf die Wahrnehmung seiner Herrscherrechte einstweilen - bis zu seiner Rückkehr nach Kassel - zu verzichten. Der Kurprinz war und blieb in vollem Besitz seiner landesherrlichen Rechte. Paradiesischen Zeiten ging das Land freilich auch jetzt nicht entgegen. Die Verbindung mit Gertrude Falkenstein, einer zur Freifrau von Schaumburg erhobenen Bonner Weinhändlerstochter, erregte den Zorn der Untertanen, und noch mehr als sein Vorgänger auf die Durchsetzung seines Willens bedacht, geriet er in eine immer ausweglosere Auseinandersetzung mit der Ständeversammlung. Ob Savigny vor dem Hintergrund so unausgewogener politischer Verhältnisse ein beglückendes Arbeitsrevier fand, war zu bezweifeln. Am 13. Juni 1844 trifft er in Kassel ein. Noch stehen ihm die·in Berlin gewonnenen Eindrücke und die Stunden im Elternhaus lebhaft vor Augen. Seiner Ernennung zum königlichen Kammerherrn fiebert er erwartungsvoll entgegen. 43 In der kurfürstlichen Residenz wird er freundlich aufgenommen. Dem Sohn des großen Gelehrten öffnen sich die Salons. Manche persönliche Erinnerungen kommen hinzu. Der Finanzminister Gerhard von Motz, ein Vetter jenes preußischen Ministers gleichen Namens, der einst die ersten, den späteren Zollverein vorbereitenden Verträge geschlossen hatte, nimmt sich seiner an. Der Geheimrat Schotten, Mitglied der Kabinettskassendirektion, weiß noch aus jenen weit zurückliegenden Zeiten zu berichten, da er als junger Studiosus in Marburg die Vorlesungen des Vaters gehört hatte. Der General von Haynau, ein Bruder des später bei der Niederwerfung der Aufstände in Italien und Ungarn wegen seiner Strenge so unrühmlich hervorgetretenen österreichischen Feldmarschalleutnants, nimmt ihn mit offenen Armen auf. Er findet schnell Kontakt zu Kollegen wie dem österreichischen Gesandten von Hartig, den er einen "artigen Mann" nennt, oder dem französischen Geschäftsträger, für ihn ein "liebenswürdiges Kind." Die Ruhe der kleinen Stadt scheint ihm wohlzutun. Sie ist ihm der "stillste Ort", in dem man selbst sonntags niemand auf der Straße lachen hört. Nur das Militär musiziert und ruft am Abend "Wer da?" durch die Gassen. Diese günstig klingenden Worte über seinen neuen Dienstort waren nicht von Dauer. Bald spricht er wieder von der "Monotonie des hiesigen Lebens".44 Schon waren mehrere Wochen vergangen, aber er hat den Kurprinzen noch nicht zu Gesicht bekommen. Immerhin gab es ein Problem, durch das er nach einiger Zeit Einblick in die Eigenart und die Schwierigkeiten kurhessischer Staatsgeschäfte erhielt: die Eisenbahnprojekte, die auch für Preußen sehr bedeutsam waren. "Mit dem Eisenbahnprojekt will es immer noch nicht 43 Bülow an Savigny, 30. Mai; Savigny an die Eltern, 13. Juni und 4. Juli; Savigny an Bülow, 22. Juni und 11. Juli, an die Eltern, 19. September 1944 (Nachlaß, S. 277 ff.) Savignys Ernennung zum Kammerherm erfolgte am 17. Juli. Patent und Kammerhermschlüssel wurden ihm am 19. August übersandt. 44 Savigny an seine Eltern, 4. Juli 1844 (Nachlaß, S.279). Die "Monotonie des hiesigen Lebens" in dem Brief vom 23. Juli (Familienarchiv).

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recht vorwärts gehen," schreibt er am 23. Juli, aber er meint, daß die Strecke von Frankfurt nach Hanau wohl doch noch in diesem Jahre in Angriff genommen werde. 45 Schwieriger war es, die Genehmigung des Kurprinzen für den Bau der Bahn nach Thüringen zu gewinnen. Als diese dann im September vorliegt, schreibt er sich selbst große Verdienste zu, wenn Hessen jetzt eine Bahn baue, die Preußen schon so lange gewünscht habe. Das Vertrauen, das er sich habe erwerben können, habe es ihm ermöglicht, in vielen Situationen zu vermitteln, insbesondere als es darauf ankam, den Widerstand des Hauses Rothschild zu überwinden, dem angeblich jedes Mittel recht war, wenn es nur die diesbezüglichen Beschlüsse verhindern konnte. Er empfand tiefe Genugtuung, als der Bau der Bahn von Gerstungen über Rotenburg nach Kassel bis zur preußischen Grenze im Anschluß an die Köln-Mindener Bahn endlich unter Dach und Fach war und eine Konzession für die Gründung einer Aktiengesellschaft dieserhalb bei den Frankfurter Banken Bernus, Dufay und Bethmann gewährt wurde. 46 Die Schwierigkeiten konnte nur ermessen, wer mit den Kasseler Verhältnissen vertraut war. Hier liegt in der Tat Savignys eigentliches Verdienst. Er erfuhr so manches, was den Schlüssel zu den oft verkannten kurhessischen Zuständen bot. Die Aufnahme, die seine Beteiligung gefunden hatte, heiterte ihn auf. Er und die Residenzstadt schienen versöhnt. Die Eingeweihten haben Savigny für seine Mithilfe herzlich gedankt. Er wiederum war erfreut darüber, in der Eisenbahnfrage so ziemlich alles erreicht zu haben, was er sich gewünscht. Er sah seine Mitwirkung auch von den Ministern anerkannt. Ohne spezielle Instruktion aus Berlin hatte er ein Werk gefördert, an dem auch Preußen viel gelegen sein mußte. Er hatte sich persönliche Verbindungen zu verschaffen gewußt, um unabhängig von amtlichen Berührungen von allem unterrichtet zu sein, was sich bis in das Kabinett des Kurprinzen hinein zutrug. So wurde er am Ende dergestalt zur Schlüsselfigur, daß, nach seinem Bericht, beispielsweise der Polizeidirektor viele Presseartikel seiner Begutachtung unterwarf, bevor sie erscheinen durften. Wenn wir Savigny glauben dürfen, so hat er Denkschriften, die dem Kurprinzen zugeleitet werden sollten, z. T. verfaßt, z. T. korrigiert, und etwas Ähnliches gilt auch für Beiträge in fremden Zeitungen. Seine Hauptaufgabe sah er darin, zu vermitteln, persönliche Animositäten auszugleichen, ohne selbst dabei in den Vordergrund zu geraten. Als der Beschluß zum Bau der Bahn in Berlin vorlag, erhielt er ein anerkennendes Schreiben des Ministers Eichmann, und die Eltern übersandten ihm Bülows Dank. 47 45 Dann heißt es weiter: " ... Auch hier in Kassel sind recht geschickte Arbeiter, allein sie werden nicht genug aufgemuntert. Es ist zu wenig Betriebskapital im Umlauf. Das Geld des Landes ist als Haus- und Staatsschatz im Auslande angelegt, und Privatkapitalisten gibt es beinahe gar nicht. Damit ist es so wichtig, daß der Eisenbahnbau zustandekommt, damit etwas fremdes Geld hier in den Verkehr kommt." 46 Franz Frhr. von Bemus (1808-1884), Frankfurter Senator; Johann Noe Dufay (1816-1879), Frankfurter Kaufmann; Moritz Frhr. v. Bethmann (1811-1877), Frankfurter Bankier und preußischer Konsul seit 1842. 47 Savigny an seine Eltern, 21. Oktober 1844 (Nachlaß, S. 287 f.).

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Allmählich ging auch der Urlaub des Grafen Thun seinem Ende zu. Als Gesandter in Stuttgart vorgesehen, wollte man ihm in der vorgeschrittenen J ahreszeit einen Umzug nicht mehr zumuten. Er sollte vorerst nach Kassel zurückkehren. Bis zu seinem Eintreffen hatte Savigny hier auszuharren, und da eine sich anschließende sofortige Wiederverwendung nicht möglich war, gewährte Bülow ihm unter schmeichelhaften Worten der Anerkennung seiner bisherigen Tätigkeit einen auf drei Monate begrenzten Urlaub. 48 Die Bilanz ziehend, konnte er mit seiner ersten selbständigen Tätigkeit auf dem Felde der deutschen Bundespolitik zufrieden sein. Zu seiner Verabschiedung versammelte er noch einmal Minister, hohe Staatsbeamte und Freunde um sich. Seit Jahren, so bekennt er, habe man sich nicht so frei äußern können wie an diesem Abend, und in dieser gelockerten Runde blieb man noch lange beisammen; Gerhard von Motz war nicht der einzige, der sich dabei in einer Tischrede auch des alten Savigny erinnerte. Dann führte der Weg ihn ins Berliner Elternhaus zurück. Es folgen Tage der Entspannung und des Gedankenaustausches. Erinnerungen werden wach in den Gesprächen mit dem Bruder Leo, seinen Arnim'schen Kusinen und Vettern und dem jungen Werther. Dann nimmt er mit Freuden den Auftrag an, dem König von Portugal einen ihm vom König von Preußen verliehenen Orden zu überbringen. 49 Die Reise geht über Brüssel, wo er mit seinem nach dort versetzten Freunde, dem Marquis de Ricci, zusammentrifft, der ihm seinerseits die Bekanntschaft mit Vincenzo Gioberti, dem berühmten Autor des "Primato morale e civile degli Italiani" , vermittelt. 50 In Brüssel erreicht ihn die Anweisung, über London zu reisen, um dem Gesandten von Bunsen einige dienstliche Depeschen zu überbringen. In London wiederum nimmt er eine Depesche Bülows entgegen, die ihn von dem Freitod des in der Provinz Posen ansässigen Bruders des Grafen Raczynski unterrichtet und durch die er beauftragt wird, seinem einstigen Chef die Trauerkunde zu überbringen. 51 Raczynski empfand in seinem Schmerz die Anwesenheit seines jungen Freundes wie einen tröstenden Zuspruch und bat ihn, von dem kleinen Wirtshaus, wo er zunächst abgestiegen, zu ihm in die Gesandt48 Bülow an Savigny, 28. November 1844; Savigny an seine Eltern, 6. und 17. Dezember 1844 (Nachlaß, S. 290 ff.). Thun an Savigny, 9. und 28. November 1844 (Familienarchiv). 49 Savigny kam dabei zugute, daß der als sehr sparsam bekannte Philippsborn krankheitshalber nicht im Dienst war. Später äußerte er, es sei nicht nötig gewesen, einen so hochgestellten Beamten dieserhalb zu entsenden. 50 Vincenzo Gioberti (1801-1852), als Minister Karl Alberts von Piemont-Sardinien einer der geistigen und politischen Führer der Revolution von 1848, wiederholt Minister. In dem genannten zweibändigen Werk (1843) entwickelt er den Plan einer italienischen Föderation unter der Führung des Papstes. Als Savigny ihn in Brüssel kennenlernte, war er dort Universitätsprofessor. 51 Nach später ihm zugegangenen Briefen konnte Savigny nicht glauben, daß Raczynski in einem Anfall von Geistesverwirrung Hand an sich gelegt, sondern daß die Verfolgung durch politische Gegner ihn nach schwerem Gewissenskampf in den Tod getrieben hat. Sie konnten es ihm wohl nicht verzeihen, daß er das Wohl seines Landes suchte, dabei aber doch dem König von Preußen treu ergeben blieb.

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schaft zu ziehen. Hier hat sich dann bald das so vertraute Zusammenleben von einst erneuert. Mit dem König gab es im Schloß zu Belem ein freudiges Wiedersehen. 52 Und es gab auch ein Wiedersehen mit Herculano und einigen Freunden. Mitte März unternahm Savigny in Begleitung des Prinzen Löwenstein eine kurze Reise nach Spanien bis zur jenseitigen afrikanischen Küste. Mit dem jungen Grafen Münster 53 , den die beiden in Cadix trafen, entschließen sie sich, die Reise bis nach Algeciras und Gibraltar auszudehnen. Sie erleben Tarife, den "schlimmsten Teil von Spanien", Tetuan und Larache, den Sitz des Pascha. Auf der Rückreise sehen sie noch einmal Cadix und das schöne Sevilla. Dann steuert Savigny auf weiten Umwegen über die rauhe Sierra Nevada Madrid an. Karl von Werther hatte ihm von Berlin aus nahegelegt, über die politischen Zustände dort, wo Preußen damals keinen Vertreter hatte, zu berichten. Das erschien um so zweckdienlicher, als mit der Wiederanknüpfung der Beziehungen zum Heiligen Stuhl auch die Anerkennung der derzeitigen Regierung durch Preußen nicht mehr lange auf sich warten lassen konnte. Zwar handelte es sich für Savigny nicht um einen amtlichen Auftrag, aber er wußte, wie sehr man in Berlin darauf bedacht war, eine klare Vorstellung von den politischen Verhältnissen im Lande zu gewinnen. In dieser Absicht hat Savigny damals zahlreiche politische und kommerzielle Informationen als Grundlage für einen Bericht an Bülow gesammelt. Seine Eindrücke stimmten zwar nicht mit den Vorstellungen der Berliner Regierung überein, aber er ließ sich nicht davon abhalten, was er an Ort und Stelle erfuhr, mit eigenen Maßstäben zu messen. Das Land sei in mancher Hinsicht demoralisiert, schrieb er, Geld sei genügend vorhanden, aber es fehle an Vertrauen, und deshalb gebe man in zahllosen Fällen Konzessionen an fremde Kapitalisten. Dennoch sei die Lage insgesamt günstiger als in Portugal - nicht zuletzt auch, weil es mehr Hilfsquellen besitze. Wie sehr er sich auch bemühte, die politischen und wirtschaftlichen Tendenzen auf der iberischen Halbinsel zu erfassen, das Land blieb ihm letztlich doch eine fremde Welt und stand ihm unendlich ferner als die Verhältnisse in der Heimat, die ihn auch dann beschäftigten, wenn er glaubte, seine ungeteilte Aufmerksamkeit dem Lande jenseits der Pyrenäen widmen zu müssen. Zwei Problemkreise waren es, die ihn hier vor allem bedrückten: neben den religiös-kirchlichen Zuständen, deren Spannungsbogen von fast unverständlichen Frömmigkeitsbekundungen über das Umsichgreifen der deutsch-katholischen Gemeinden bis zum völligen Indifferen52 Während Savigny bei der Ordensübergabe für Raczynski das Großkreuz des portugiesischen Christusordens erbat, erhielt er selbst das Kommandeurkreuz des Ordens de Notre Dame de la Conception de Villa Vi~osa, womit das Recht der Fidalgie, einer Stufe des portugiesischen Adels, verbunden war. Das Ritterkreuz dieses Ordens hatte er schon im August 1844 erhalten (Familienarchiv). 53 Georg Herbert (seit 1899 Fürst) zu Demeberg, Graf zu Münster-Ledenburg (18201902), Sohn des Grafen Münster, der 1814 die Rangerhöhung Hannovers zum Königreich betrieben hatte, zunächst in hannoverschen Diensten (Gesandter am Zarenhof), nach 1867 Mitglied des preußischen Herrenhauses, 1871/73 des Deutschen Reichstags, dann Botschafter in London und Paris.

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tismus reichte, beschäftigten ihn die ungeklärten Verfassungsverhältnisse in Preußen. Es drängte ihn danach, unmittelbar Zeuge dessen zu sein, was sich in der Heimat abspielte. Er kann die Rückreise kaum abwarten; er nimmt sie auch dieses Mal über Paris. Wieder trifft er mit Montalembert zusammen, den er inmitten der Kämpfe findet, in denen es sich um die Freiheit des Unterrichts gegenüber dem Monopolanspruch des Staates handelt. In dieser Auseinandersetzung ist es der Vorstoß der liberalen Kräfte gegen die Jesuiten, zu deren Verteidigung sich der französische Freund bereit findet. Die Regierung Guizot hatte den Juristen Carlo Rossi als Sondergesandten nach Rom entboten, um die Auflösung der Gesellschaft Jesu oder doch ihre Zurückziehung aus Frankreich zu erreichen. Durch den Hinweis, daß es gelte, die Regierung des Bürgerkönigs zu stützen, blieb der gewandte Unterhändler beim Kardinalstaatssekretär Lambruschini nicht ohne Erfolg. 54 Es kam zu einer teil weisen freiwilligen Auflösung der Kollegien und Seminare. Montalembert hat diese Entwicklung mit Sorge verfolgt, und Savigny wiederum hat die Informationen des Freundes mit großer Aufmerksamkeit registriert. Ihre Veranschaulichung durch den Franzosen hat seinen Blick für die Möglichkeiten und Gefährdungen der kirchlichen Institutionen entscheidend geschärft. Ohne Zweifel hat die wiederholte Begegnung mit diesen Problemen wesentlich auch sein eigenes Verhalten in seinem letzten Lebensjahrzehnt mitbestimmt, als die katholischen Interessen in Preußen wie im jungen Reich im allgemeinen und die Schul- und Erziehungsinstitutionen im besonderen zur Diskussion standen. Bestärkt wurde Savigny in seinen Überzeugungen durch den spanischen Theologen Balmes,55 den er bei Montalembert kennenlernte und der mit umfangreichen Veröffentlichungen über den Einfluß des Protestantismus und des Katholizismus auf die moderne Zivilisation hervorgetreten war. Wie intensiv Savigny sich damals mit derlei Gedanken beschäftigte, kann auch aus einem Brief Montalemberts an ihn vom 25. August 1845 abgeleitet werden. 56 " ... Ich kann Ihnen nicht genug sagen," schreibt er, "welchen Trost und welche Freude ich empfunden habe, als ich in Ihnen all die schon im Keim vorhandenen, nun so kräftig entwickelten Überzeugungen und alle jene großmütige Hingabe wiederfand, die ich einst bei unserer Wanderung in den oberbayerischen Bergen in jugendlicher Begeisterung erfüllt sah ... Die schmähliche und nicht wiedergutzumachende Schwäche Roms hat uns in der Angelegenheit einen traurigen Mißerfolg gebracht ... Unser Episkopat ist aufrichtig geblieben, mit ihm der ganze Klerus und ein immer wachsender Teil der Katholiken." 54 Vgl. Savigny an seine Eltern, 8. Juni 1845 (Nachlaß, S. 299). - Luigi Lambruschini (1776-1854), in jüngeren Jahren Sekretär des Kardinals Consalvi während des Wiener Kongresses, 1827 Nuntius in Paris, 1831 Kardinal, 1836 Kardinalstaatssekretär. 55 Jaime Luciano Balmes (1810-1848) wurde durch sein Werk "Observaciones sociales, politicas y econ6micas sobre los Bienes dei Clero" (1840) schnell berühmt; 1844 an den Hof berufen, wo er sich, wenn auch ohne durchschlagenden Erfolg, um einen Ausgleich zwischen Liberalen und Karlisten bemühte. 56 Montalembert an Savigny, 25. August 1845 (Nachlaß, S. 303).

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In Paris erreichte ihn auch seine Ernennung zum Legationssekretär in Den Haag, eine Verwendung, die ihm durchaus erwünscht war, durfte er doch hoffen, von dort aus die politische Szene in Deutschland besser beobachten und die Verbindung zum Elternhaus wieder enger gestalten zu können.

Den Haag Menschen von der Denkungsart Montalemberts mußte Savigny in der Hauptstadt der Niederlande schmerzlich vermissen. Der Gesandte von Königsmarck galt als tüchtiger Diplomat, und Savigny nennt ihn "artig und achtenswert". Indes ließ die Verschiedenheit ihres Naturells und ihrer Interessen niemals ein so herzliches Verhältnis sich entwickeln, wie er es in Dresden und erst recht in Lissabon erlebt hatte. Das diplomatische Korps war ohne Glanz und Eigenwilligkeit. Für ihn war es eine tröstliche Aussicht, seinen Freund Ricci, der Sardinien in Brüssel vertrat und auch in Den Haag akkreditiert war, zuweilen zu sehen, hatte dieser doch seinerseits beabsichtigt, ihn in Paris aufzusuchen, dann aber den Plan aufgegeben, als er von Savignys Versetzung nach Den Haag hörte. 57 Auch dieses Mal urteilte er zunächst sehr kritisch über seinen neuen Wirkungskreis: die Niederlande seien das ärmste Land, das er je gesehen, arm an allem "außer dem Gelde". Es sei für ihn ein schwacher Trost, jetzt einen der bestbezahlten Sekretärsposten der preußischen Diplomatie innezuhaben. 58 Raczynski suchte ihn zu trösten. Er möge nicht bedauern, ihn angenommen zu haben. Mit 31 Jahren müsse man seine Karriere nicht aufgeben, sondern seine Reizbarkeit überwinden, um für die ganze weitere Laufbahn den Nutzen daraus zu ziehen. " ... Lassen Sie sich von Ricci nicht persuadieren, daß Ihr Groll gerecht ist. Daß Sie mit Arbeit überhäuft sind, ist auch gut, und wenn Sie früh aufstehen, werden Sie damit fertig ... "59 Im Grund hat Savigny keinen Anlaß zur Klage. Man hatte ihn allenthalben freundlich aufgenommen. Dem Hof war er willkommen, und mit Graf Königsmarck hat er sich bald arrangiert. Indes gegen das Land hat er Vorbehalte: kein anderes hege so wenig Sympathien gegen Preußen wie dieses, schreibt er; nirgends sei das Trachten der Menschen so auf das Materielle gerichtet wie hier. Von einem Bibliothekar erfährt er einiges zur Begründung dieses Urteils: neben 57 In einem Brief Riccis an ihn aus Brüssel vom 13. Juni 1845 heißt es: " ... Je n'ai pas besoin de vous dire combien me fait plaisir de vous savoir desormais plus pres de moi et a une place ou vous serez appele des services en regularisant les rapports commerciaux des deux pays qui depuis quelque temps se trouvaient en souffrance ..." (Familienarchiv). 58 Savigny an seine Eltern: "... ich scheue mich ordentlich, Euch meine ersten Eindrücke in Holland treu wiederzugeben, so wenig sind sie erfreulicher Natur ... Niemals überraschte mich ein Unterschied so sehr als der zwischen Belgien und Holland." (23. Juni 1845, Nachlaß, S. 300). 59 Raczynski an Savigny, 27. September 1845 (Nachlaß, S. 305).

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der durch die Abtrennung Belgiens gedrückten Stimmung habe gerade diese Denkweise dazu geführt, daß jetzt so wenig Aufwendungen für die Bibliotheken gemacht und stattdessen so viele wertvolle Bücher- und Bildersammlungen nach England verkauft würden. Verständlich, daß Savigny ein recht zurückgezogenes Leben suchte. Seine nie erloschene Neigung zu den großen Gestalten der Dichtkunst regt sich erneut in ihm. Goethe fesselt ihn wie vielleicht nie zuvor. " ... Wie wohl es tut," heißt es damals, "ein solches Bild des ausgezeichnetsten Mannes unseres Volkes vor sich zu sehen! Goethe war kein gläubiger Christ, aber dessen ungeachtet das schönste Produkt christlicher Bildung, und meines Erachtens stört den christlichen Leser in ihm nichts ... Wie hoch steht er dadurch über allen Zeitgenossen, besonders aber über der neuen Schule, einschließlich Deiner Schwester." Er ist auch bemüht, sich von den repräsentativen Schöpfungen der Rechtswissenschaft eine deutlichere Vorstellung zu machen. Neben Friedrich Julius Stahls "Staatsrecht" ist es Richters "Kirchenrecht", in das er sich ernsthaft vertieft. 60 Soweit er kann, verfolgt er die Entwicklung der religiösen Kräfte mit lebhafter Anteilnahme. Er beklagt den Tod Capaccinis; durch Ricci lernt er einen seiner Schüler kennen, den päpstlichen Geschäftsträger Ferneri, und durch diesen wiederum gewinnt er einen Einblick in die römischen Verhältnisse. 61 So ist er imstande, den Vater über die römischen Verhandlungen Rossis in der Jesuitenfrage zu informieren, Einzelheiten über die ersten Entscheidungen des neuen Papstes, Pius IX., zu berichten, über eine würdige Fassung des Amnestiedekrets Auskunft zu geben. Kirchliche Angelegenheiten stehen auch im Mittelpunkt seines Briefwechsels mit Montalembert, der ihn seinerseits zur Beurteilung der Verhältnisse in Frankreich auf die katholischen Zeitschriften und Zeitungen wie etwa auf die Halbmonatsschrift "Le Correspondent" hinweist. Am meisten beschäftigen ihn naturgemäß die Tendenzen in der Heimat, wie etwa die Petition des Berliner Magistrats, die eine Reichssynode gegen die Orthodoxie fordert. 62 Er sorgt sich auch um die sich mehrenden Erscheinungen eines romfreien Deutschkatholizismus. Er fragt den Vater, ob es denn zutreffe, daß Ranke und Gervinus einen katholischen Geistlichen aufgefordert hätten, sich an die Spitze dieser Bewegung zu stellen. Für Preußen sieht er die Gefahr am größten; es bedarf wiederholter Bemühungen des Vaters, diese Besorgnisse zu zersteuen. Im Grunde hat er über derlei Erscheinungen wie die deutsch-katholische Bewegung im allgemeinen oder das deutsch-katholische Konzil von Leipzig im besonderen vorschnell und nicht ohne militante Emotion geurteilt. Seine Äußerungen klingen undifferenziert; 60 Das Werk Stahls (1802-1861) "Die Philosophie des Rechts" war damals in 2. Auflage unter dem Titel "Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung, Abtlg. 1 Die allgemeine Lehre und das Privatrecht, Abtlg. 2 Die Lehre vom Staat und die Prinzipien des deutschen Staatsrechts," Heidelberg 1845/46, erschienen. Ämilius Ludwig Richter (1808 - 1864), Lehrbuch des katholischen und evangelischen Kirchenrechts, 2. Aufl. Leipzig 1844. Richter war Professor des Kirchenrechts in Leipzig (1835), Marburg (1838) und Berlin (1846). 61 Savigny an seine Eltern, 2. Dezember 1845 (Nachlaß, S. 308). 62 Savignyan seine Eltern, 19. Oktober 1845 (Nachlaß, S. 306).

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an überzeugenden Argumenten fehlt es ihm oft. Fast könnte man meinen, sich bereits im Vorfeld der kirchenpolitischen Auseinandersetzungen seiner letzten Lebensjahre zu befinden. Auch hier hat der Vater die Wogen zu glätten verstanden. Niemand war geeigneter als er, ihm die - vermeintlichen - Sorgen zu nehmen. Seinem ausgereiften Urteil vertraut er ebenso wie den Mahnungen und Ratschlägen der Mutter. Als er an die Begründung eines eigenen Hausstandes denkt, ist sie es, der er einen Blick in die Welt seiner Gefühle gestattet. Ihr vertraut er sich auch an, als er sich im Weihnachtsurlaub 1845 davon überzeugen muß, daß seine Kusine Armgart von Arnim ihm nicht die Zuneigung erwidert, die er ihr entgegenbringt. Als Armgart nach vielen Jahren die Frau seines Freundes und Berufskollegen Graf Albert von Flemming wurde, war diese Episode längst überstanden. Aber die Zwiesprache mit den Eltern war und blieb ihm so nötig wie die Luft zum Atmen. Er braucht das gütige und aufmunternde Wort der Mutter, wie er anderereits nach näheren Nachrichten über des Vaters amtliche Tätigkeit verlangt. So erkundigt er sich nach dem neuen Gesetz über die Modifikation im Gerichtsverfahren; so nimmt er teil an des Vaters Kämpfen und Sorgen in Fragen der Gesetzesrevision. Es erfüllt ihn mit Stolz, als er Präsident des Staatsrats wird. Er freut sich mit ihm, als ein neuer Band des "Systems des heutigen römischen Rechts" erscheint: er nennt es eine "herrliche Gabe", mit solcher Frische mitten aus den ertötenden Geschäften in die wissenschaftliche Arbeit eintreten zu können. Er erregt sich über einen "infamen Artikel" in der Beilage der Augsburger Allgemeinen Zeitung vom 28. Januar 1847, den er gegen den Vater gerichtet sieht und hinter dem er Wilhelm Bornemann vermutet, jenen alten Gegner des Vaters aus dem Justizministerium, den er an anderer Stelle einmal einen "einäugigen Hegelianer" 63 genannt hat. Er und seine Parteigänger dürften keinen Erfolg haben mit ihren Angriffen gegen die treuesten Ratgeber der Krone. Der König müsse verständigt werden, denn an ihm sei es, den unbefleckten Namen des Vaters unangetastet zu erhalten. 64 Eine Fortsetzung dieser brieflichen Gedankenspiele hat es damals nicht gegeben. Es war zudem abzusehen, daß seine Tätigkeit in Den Haag sich allmählich ihrem Ende näherte. Zwar war eine seinem Dienstalter entsprechende Vakanz in der preußischen Diplomatie nirgends zu erkennen, bis Ende Januar 1847 Karl von Canitz ihn vertraulich wissen ließ, daß es nützlich sei, sich schon bald in Berlin einzufinden, wo sich offenbar doch eine Reihe von Versetzungen vorbereitete. 65 Savigny reagierte sofort: er bat um einen Urlaub. In Berlin erfuhr er, daß man erwog, ihn als Generalkonsul nach Alexandrien zu schicken. Die endgültige Entscheidung ließ indes noch auf sich warten. So hielt er es für zweckdienlich, 63 Ferdinand Wilhelm Ludwig Bornemann (1798 - 1864), von März bis Juni 1848 preußischer Justizminister. 64 Savigny an seinen Vater, 3. Februar 1847 (Nachlaß, S. 320). 65 Savigny an seine Eltern, 28. Januar 1847 (Nachlaß, S. 319). Zu seinem Pariser Aufenthalt vgl. den Brief vom 27. Februar (Nachlaß, S. 320 f.).

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Berlin vorerst wieder zu verlassen und den Rest seines Urlaubs für eine Reise nach Brüssel und Paris zu nutzen. Über diese Reise erfahren wir nicht viel. Er hat sich wohl nur wenige Tage in der französischen Hauptstadt aufgehalten. Dann erwartet ihn der tägliche Dienst in Den Haag, in kleinen Kreisen sich vollziehend, problemlos und unauffällig, eintönig, wenn er an das politische Leben in Berlin oder an die Stunden der Geselligkeit im Elternhaus denkt. Daß die Mutter wie eh und je auch in ihrem vorgerückten Alter eine ebenso anmutige wie unterhaltende Gastgeberin war, bezeugt sein Freund Guenoux, der ebenfalls hier verweilte und sich von ihrer Heiterkeit über die Maßen entzückt zeigt. In Gedanken an ihrer Runde teilnehmend, empfindet er schmerzlich, wie sein eigener Freundeskreis in Den Haag bedenklich zusammenschmilzt. Der hannoversche Gesandte Graf von Platen und Sir Henry Howard, der Vertreter Englands, sind nach Berlin versetzt worden. Wen wundert es, daß er, ihnen in Gedanken folgend, mit angehaltenem Atem die Entwicklungen in Berlin beobachtet? Dem monarchisch-konservativen Staatsgedanken wie einem unverzichtbaren Wert huldigend und in einem christlichen Ständestaat die ideale politische Daseinsform des historischen preußischen Staatswesens erblickend, verfolgt er mißtrauisch alle Anwandlungen der demokratischen Kräfte, die bisher geltende aristokratischmonarchische Hierarchie in Staat und Gesellschaft zugunsten eines allgemeinen, die "preußische Nation" umfassenden demokratischen Staatsbürgertums aufzulockern. Diese Gefahren glaubt er in den Landtagsberatungen heraufziehen zu sehen. Zwar hält er die Regierung für "würdig und mild", und er glaubt auch, daß der Innenminister Ernst von Bodelschwingh 66 ganz der "Mann der Situation" ist, aber er fragt, warum der Vater an den Verhandlungen noch keinen Anteil genommen habe. Als dieser dann aber mit einer Rede hervortritt, ist er empört über das Echo in der Presse, demzufolge die Zeit für juristische Deduktionen nicht geeignet sei. Man hätte ein Wort des Dankes an den König und seine Regierung erwarten können angesichts alles dessen, was unter der unbeschränkten Monarchie für Preußen geschehen sei, meint er. So beginnt er, sein altes Preußen zu beklagen, und das neue, das man zu schaffen im Begriff ist, kann er nicht lieben. Die Mäßigung der Regierung trage doch erhebliche Schuld daran, wenn man am Ende der Sitzungen dahin gekommen sein werde, alles zuzugestehen, was der König zunächst in seiner Thronrede verweigert hatte. Die düsteren Zukunftsvisionen verfolgen ihn nach seinem Geständnis bis in die Träume der Nacht. Was er zu tadeln nicht aufhört, ist die Kritik der liberalen Kammeropposition; was er hofft, ist das allmähliche Hervortreten ebenbürtiger Talente aus dem regierungsfreundlichen Lager, gestützt auf die Erfahrung jener Länder, die des modemen Liberalismus bereits müde seien.

66 Ernst von Bodelschwingh-Velmede (1794 - 1854), Regierungspräsident in Trier und Amsberg, Oberpräsident der Rheinprovinz, Finanz-, Kabinetts- und Innenminister im Revolutionsjahr 1848. Vgl. auch Savignys Brief an die Eltern vom 12. Mai 1847 im Familienarchiv .

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Im Spätsommer 1847 gewährt ihm Canitz erneut einen längeren Urlaub. Im Hause seiner Eltern kommt es dann zu einer freundschaftlichen Begegnung mit dem Minister, in der dieser ihm die Aussicht auf eine Tätigkeit in seiner unmittelbaren Nähe, nämlich in der politischen Abteilung des Ministeriums des Auswärtigen, eröffnet. Dieser generösen Geste stellt sich unerwartet ein Hindernis in den Weg. Voller Pläne für die Zukunft und im Begriff, zur Abwicklung seiner Angelegenheiten noch kurz auf seinen Haager Posten zurückzukehren, überrascht ihn am Tage vor seiner Abreise - es ist inzwischen Oktober geworden Philippsborn mit dem Vorschlag, vorerst als Geschäftsträger nach Brasilien zu gehen, wofür man ihn wohl seiner portugiesischen Sprachkenntnisse wegen für besonders geeignet hielt. Savigny reagiert betroffen. In einem vertraulichen Schreiben an Canitz verkennt er die Vorteile einer Sendung nach Rio nicht; zudem hatte er sein Interesse für handelspolitische Fragen schon mehrfach bekundet; aber - er kann es wagen, an Canitz nicht als seinen vorgesetzten Minister, sondern als an den Freund der Familie zu schreiben - er unterläßt doch nicht den Hinweis, daß er angesichts der weiten Entfernung die Annahme des Vorschlags von der Zustimmung seiner Eltern abhängig machen möchte. 67 Er gibt zu erkennen, daß eine Tätigkeit in Berlin hingegen seinen Wünschen in besonderer Weise entsprechen würde. Es lag ganz in seiner Art, beide Möglichkeiten mit den Eltern zu erörtern: Brasilien reizte ihn, da es sich hier um eine selbständige Geschäftsführung handelte, aber die Entfernung bedrückte ihn. "Besäße ich Euch nicht, so ginge ich, denn das Geschäft zieht mich an," schrieb er ihnen. Andererseits lockte ihn nicht minder, wieder einmal längere Zeit in ihrer Nähe zubringen zu können. Das war weniger ein Ausdruck der Pietät als vielmehr der Freude auf ein Zusammenleben mit ihnen unter den interessantesten Bedingungen, das letztlich auch seiner immer noch als lückenhaft empfundenen Ausbildung zugutekam. Nicht zuletzt ging es ihm auch um eine intimere Kenntnis der Politik Preußens und schließlich auch um die Wahrnehmung der geistigen Strömungen, die ihm durch die Kontakte mit der Berliner Universität möglich schienen. Resümierte er alle seine Erwägungen, so durfte er hoffen, daß eine Verwendung des Vaters bei Canitz ihm im Sinne seiner Wunschvorstellungen behilflich sein könnte. Bedenken wegen der nach seiner Meinung immer noch unzureichenden Beherrschung der französischen Sprache verschwieg er dabei nicht. 68 Verständlich daher seine Bitte, bis zum Antritt seines Berliner Postens ihm noch einmal einen Urlaub zum Zwecke der Vervollkommnung in der französischen Sprache zu gewähren. Im November entschied sich alles zu seinen Gunsten. Er ist dann freilich nicht in der heitersten Stimmung von Den Haag nach Paris gefahren. Von den beklemmenden Eindrücken, die das Ende des Sonderbundskrieges und die prekäre StelSavigny an Canitz, 7. Oktober 1847 (Nachlaß, S. 327 ff.). Savignys Beherrschung der französischen Sprache war durchaus angemessen. Unter anderen hatte auch Königsmarck ihm wiederholt Komplimente zu den Fortschritten im französischen Depeschenstil gemacht. 67 68

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lung Preußens in der Neuenburger Frage bei ihm hinterließen, hat er sich nur schwer freimachen können. Doch dann finden wir ihn in Paris wieder beim Studium der Grammatik und einer Sammlung diplomatischer Depeschen. Loudon, ein Bibliothekar von Ste. Genevieve, arbeitet mit ihm, und vor allem steht ihm sein Freund Jean-Ferdinand Denis, der umfassend gebildete, weitgereiste Berufskollege des ersteren, hilfreich zur Seite. 69 Der eine hilft ihm bei der stilistischen Glättung des Ausdrucks, der andere verschafft ihm Bücher, die er für seine Zwecke lange vergeblich gesucht hat. Seine Studien bringen ihn auch mit wissenschaftlichen Werken in Verbindung, die seinen Vater interessieren mußten, so etwa die Forschungen zur Geschichte der Bretagne des Aurelien de Courson, dessen Abhandlungen über die Rechtsaltertümer und die Rechtsinstitutionen der Bretagne von erheblicher Bedeutung waren. 70 Daneben beschäftigen ihn natürlich auch die politischen Ereignisse. Er hat Gelegenheit, sich mit Radowitz darüber auszusprechen, der zu Verhandlungen über die Neuenburger Frage und über ein eventuelles gemeinsames Eingreifen der Mächte in Paris eingetroffen ist. Er nimmt stolz zur Kenntnis, welch ausgezeichneten Eindruck der General auf den König und Guizot gemacht hat, wie fasziniert seine Gesprächspartner von ihm sind, von seinem umfassenden Interesse für die Wissenschaften und Künste, von seiner menschlichen Wärme. 71 Dann stehen die sich bald überstürzenden politischen Ereignisse im Mittelpunkt seines Erlebens. Den Debatten in der Deputiertenkammer wohnt er des öfteren bei. Beim Grafen Hatzfeldt, der, seit 1845 mit einer Tochter des Marquis de Castellane 72 vermählt, über ausgezeichnete Informationsmöglichkeiten verfügt, hört er den einstigen Minister Mole 73 über die kritische Lage im Lande sprechen. Wie 69 Ursprünglich für die diplomatische Laufbahn vorgesehen, entschied sich der junge Denis für ein Sprachenstudium, für das er zahlreiche Reisen unternahm (u. a. als Achtzehnjähriger nach Amerika), die später ihren Niederschlag in Büchern über Argentinien, Brasilien, Spanien, Portugal etc. fanden. Längere Zeit Bibliothekar des Unterrichtsministeriums, wechselt er schließlich zu Ste. Genevieve über. 70 Aun!lien de Courson wandte sich nach einem durch einen Unglücksfall erzwungenen Verzicht auf die Offizierslaufbahn dem Rechtsstudium zu. Guizot beauftragte ihn mit historischen Forschungen (Archivar in Finistere). Schließlich wurde er Konservator an der Bibliothek des Louvre. Von seinen Werken seien genannt: Essai sur l'histoire, la langue et les institutions de la Bretagne armoricaine (1840), Histoire des origines et des institutions des peuples de la Gaule armoricaine et de la Bretagne insulaire depuis les temps les plus recules jusqu'au V. siede (1843), Histoire des peuples bretons dans la Gaule et dans les iles Britanniques (1846), Memoire sur l'origine des institutions feodales chez les Bretons et les Germains (1847). 71 Vgl. Savignys Briefe vom 16. und 20. Januar 1848 (Nachlaß, S. 335 ff.). 72 Esprit-Victor-Elisabeth-Boniface de Castellane (1788-1862) hatte sich nach 1815 bald mit der Restauration arrangiert, 1837 Pair de France, 1848 unterdrückte er die Erhebung von Rouen. 1859 ist er Armeekommandant von Lyon und maßgeblich an den Feldzugsvorbereitungen Piemont-Sardiniens beteiligt. 73 Louis Matthieu Comte Mole (1781 - 1855), aus einer Familie der Noblesse de robe hervorgegangen, 1809 Staatsrat, 1813 Justizminister, gemäßigter Royalist, nach der Julirevolution Außenminister, 1848/51 Mitglied der Nationalversammlung und des gesetzgebenden Körpers der Zweiten Republik, Gegner des Staatsstreichs Napoleons III.

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sehr der Boden Frankreichs vibriert, drängt sich ihm in der mannigfachsten Weise auf: Montalembert hatte in der Pairskammer am 14. Januar über die Ereignisse in der Schweiz und die revolutionäre Bewegung insgesamt gesprochen. Die Rede hatte einen ungeheuren Eindruck besonders durch den Mut gemacht, mit der er die Bankette gegeißelt hatte. Der konservativ-fortschrittliche Mann hatte Drohbriefe erhalten, aber die Regierung hatte den Text der Rede in Tausenden von Exemplaren in die Provinz verschickt. Er verfolgt die immer leidenschaftlicher verlaufenden Sitzungen der Kammer; er befürchtet unmittelbar bevorstehende Unruhen; er erfährt von einer erhöhten Wachsamkeit der Truppen in den Kasernen. Über seine Eltern geht ihm die Weisung des Ministers zu, sich dem Pariser Gesandten von Arnim für die Dauer der Abwesenheit Hatzfeldts zur Verfügung zu stellen. Als er sich am 19. Februar bei ihm meldet, erfahrt er, daß Hatzfeldt angesichts der sich zuspitzenden Krise seine Abreise verschoben hat. Um so unbelasteter von der täglichen Dienstbereitschaft kann er jetzt den weiteren Verlauf der Ereignisse verfolgen. Er erlebt den Sturz Guizots, die Einberufung der Nationalgarde, den Beginn der Unruhen. Noch glaubt er, daß am Abend des 23. Februar nach der Berufung des Grafen Mole das Ärgste überstanden ist; dann aber sieht er sich vom Ausbruch und vom Sieg der Empörung in der Nacht zum 24. Februar überrascht. Die Erlebnisse dieses Tages hat er in einem Brief an die Eltern geschildert. 74 Bau der Barrikaden, Umzüge der Aufständigen, Entwaffnung regierungstreuer Militäreinheiten, Unsicherheit auf den Straßen, Beschwerlichkeiten auf den Bahnhöfen, das sind die Stichworte, die sich ihm aufdrängen. Die Folgen des Umsturzes malt er sich aus. An der Grenze nach Belgien vernimmt er schon das Wort von der "annexion de la Belgique a la grande famille franyaise." Auch für Deutschland sieht er bereits Gefahren heraufziehen. " ... Wenn man nur bei uns zu den kräftigsten Militär- und Polizeirnaßregeln gegen das revolutionäre Frankreich einschreiten wollte! Jetzt ist es gewiß noch rechte Zeit," schreibt er. Ein kleines Stückchen Holz vom Throne des Bürgerkönigs legt er seinem Brief an die Eltern als Kuriosum bei. Graf Amim, der über Savignys weitere Verwendung nur unklare Informationen besitzt, rät ihm, nach Den Haag zurückzukehren. Savigny, selbst nicht wissend, wie er sich zu verhalten hat, verbindet mit einem kurzen Bericht an Canitz die Bitte um weitere Anweisungen. Es fällt ihm um so leichter, vorerst noch in Paris auszuharren, als in jenen Tagen Graf Amim nach Berlin berufen wird und Hatzfeldt ihn zu vertreten hat. 75 Die gesellschaftlich-politische und kirchliche Szene fesselt ihn ungemein. Er fragt nach der Schuld am Sturz des Königtums, Vgl. neben diesem Brief (Nachlaß, S. 341 ff.) auch die weiteren Briefe an die Eltern. Heinrich Alexander Frhr. v. Amim-Suckow (1798 -1861), 1840 bis 1846 Gesandter in Brüssel, dann bis 1848 in Paris. Am 21. März 1848 wurde er Außenminister und blieb es bis zum 20. Juni 1848. Der Außenminister Frhr. von Canitz war bei Ausbruch der Revolution zurückgetreten. Am 19. März ernannte der König den Grafen Adolf Heinrich von Amim-Boitzenburg, der einst als Regierungspräsident von Aachen Savignys Vorgesetzter gewesen war, zum Ministerpräsidenten; er blieb es bis zum 29. März 1848. In den ersten beiden Tagen seiner Präsidentschaft leitete er auch das Auswärtige. 74 75

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nach den versäumten Möglichkeiten, ihn zu vermeiden, nach dem Sinn der bis tief in die Nacht sich hinziehenden Diskussionen auf den Boulevards, die schonungslos die Kluft zwischen den bürgerlichen Schichten und dem Proletariat offenbaren. Immer wieder schweift dabei sein Blick nach Deutschland hinüber. Wenn Preußen sich nur jetzt noch halten könnte, das ist der ihn beherrschende Gedanke, dann sei alles gewonnen. Sollte aber das Pariser Beispiel bis nach Berlin ausstrahlen, die Folgen wären unabsehbar. 76 Mitte März erhält er von Canitz - es ist eine der letzten Amtshandungen des Ministers - die Mitteilung, nach der er nichts einzuwenden habe, wenn er jetzt nach Berlin zurückkehre - eine verschleierte Anweisung offensichtlich, der er sich nicht entziehen kann. Der Gedanke an die Heimat hatte ihn schon lange beunruhigt. Die Langsamkeit der Postverbindungen bedrückt ihn. "Wenn nur deutsche Zeitungen bald beginnen wollten, die Wahrheit über die hiesigen Zustände anzusprechen" ruft er aus, "wenn man bei uns nur noch einige Zeit die Ruhe gewinnen kann, dann sind bessere Tage in Aussicht und das Beispiel Frankreichs keine Lockspeise mehr ..." In dieser Stimmung erfahrt er am 20. März von dem Umsturz in Wien und den ersten Zusammenrottungen in Berlin. Ihn erfaßt eine unsagbare Angst. Er ist unglücklich, die Gefahren mit den Seinen nicht teilen zu können. Er beschleunigt die Abreise. In wenigen Tagen erreicht er Berlin, von Befürchtungen geschüttelt und von neuen Hoffnungen getragen. Er braucht nicht mehr nach Den Haag zurückzureisen. Der neue Außenminister von Arnim-Suckow fordert ihn auf, vorerst in Berlin zu bleiben, "um sich mit einer umfassenderen Arbeit zu beschäftigen, welche ich gerade Ihnen zu übertragen beabsichtige ... Indem ich E. H. hiervon ergebenst in Kenntnis setze, behalte ich mir ebenmäßig vor, Ihnen über den Gegenstand der fraglichen Arbeit und die durch dieselbe zu lösende Aufgabe demnächst weitere Mitteilung zu machen."77 Damit sind Savignys diplomatische Lehr- und Wanderjahre beendet. Auf den bisherigen Stationen seiner Laufbahn hatte er erste Erfahrungen in der Abwicklung diplomatischer Vorgänge sammeln können. Es handelte sich dabei durchweg um Aktionen in kleinen Kreisen, provinziell anmutende Geschehnisse ohne besondere politische Relevanz. Insofern ist es verständlich, wenn Savigny zuweilen mit seinem beruflichen Dasein hadert und er sich an den Rand der Ereignisse gedrängt vorkommt. Indes boten die so unscheinbar sich darstellenden Stationen doch auch die Möglichkeit, sich in der Detailarbeit des Alltags zurechtzufinden Savigny an seine Eltern, 15. März 1848 (Nachlaß, S. 353). Arnim-Suckow an Savigny, 16. April 1848 (Nachlaß, S. 349). Noch am 15. Mai bedauerte Königsmarck, daß Savigny noch nicht wieder zu ihm zurückgekehrt sei (Königsmarck an den Außenminister, 15. Mai 1848, Familienarchiv). Infolge der täglich sich häufenden Geschäfte (Paß- und Legationssachen, Korrespondenz mit den Verwaltungsbehörden und den um Auskunft nachsuchenden Privatpersonen aus Westfalen, der Rheinprovinz und den übrigen Zollvereinsstaaten) könne die anfallende Arbeit kaum noch von einem allein bewältigt werden, zumal aus Ersparnisgründen der früher zugeteilte Kanzlist der Gesandtschaft entzogen worden sei. 76 77

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und sich in der Bewältigung scheinbar unbedeutender Aufgaben zu bewähren, bevor ihn das Schicksal zum Mitgestalter historischer Prozesse machte. Zudem hatte er den damals noch überschaubaren Horizont europäischer Politik ableuchten können und damit erste Einblicke in die politischen Tendenzen der Mächte gewonnen. Man wird auch nicht übersehen, daß er im Wechsel der Missionen und der Unterschiedlichkeit der Dienstbedingungen Menschen breit gefächerter Mentaliät und Denkgewohnheiten kennernlernte, auf die es galt sich einzustellen, wollte er in der Folgezeit auf sie Einfluß nehmen können. Das zu bewältigende Maß seiner Berufspflichten erlaubte ihm, nicht nur überall einen ihm angemessenen Freundeskreis um sich zu versammeln, sondern auch seinen eigenen Bildungshorizont zu erweitern. In den Briefen an die Eltern kommt mitunter deutlich zum Ausdruck, wie sehr ihm bewußt ist, die in seiner Universitätszeit ihm gebotenen Bildungsmöglichkeiten nicht ausgiebig genutzt zu haben. Hier hat er mit Erfolg versucht, die Lücken zu schließen. Der Erlernung fremder Sprachen hat er sich mit Fleiß gewidmet; kunst- und kulturhistorische Studien hat er mit Nachdruck betrieben, und er hat alles getan, sich einen Einblick in die politischen, geistigen, religiös-kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu verschaffen. Jetzt in die Zentrale der auswärtigen Politik Preußens berufen, stellt er sich uns dar als ein sprachgewandter, vielseitig gebildeter, kritischer, die wechselnden Szenen des politischen Lebens vorsichtig abschätzender Mitgestalter des diplomatischen Dienstes. Insbesondere die Verhältnisse im Frankreich des Bürgerkönigtums zu studieren und sie dabei um die Dimension des Geschichtlichen zu bereichern, ist er stets bemüht gewesen. In Paris hat er die wesentlichsten Anstöße zur Klärung seines Menschenbildes erhalten und die nachhaltigsten Eindrücke vom Ringen der geistigen Kräfte gewonnen; hier wurde auch jene Haltung geformt, von der er sich in seinem letzten Lebensjahrzehnt im preußischen Abgeordnetenhaus wie im Reichstag des allgemeinen Wahlrechts namentlich in Fragen der Kirchen- und Schulpolitik bestimmen ließ. Noch auf einem anderen Felde haben sich seine Auffassungen endgültig geklärt: die Kräfte, die sich gegen die historisch gewordenen, und das hieß für ihn: die legitimen Ordnungen erhoben, haben ihn stets abgestoßen. Legitimismus und Royalismus sind für ihn fortan bewahrenswerte und verpflichtende Maximen geblieben. Konservativ in seiner Grundeinstellung, königstreu im Strom der divergierenden Tendenzen des Jahrhunderts, das königliche Amt bejahend und seinen Inhaber als Amtmann Gottes verteidigend, die Autorität als eine Emanation dieses Amtes verstehend, damit ist seine Position gekennzeichnet, aus der heraus er die aus der Tiefe nach oben drängenden Kräfte des Jahrhunderts mit Mißtrauen sich entfalten sah. Praktizierter Liberalismus und demokratische Entwicklungen, bürgerliche Freiheits- und Emanzipationsbewegungen, denen doch die Zukunft gehörte, paßten schlecht in das Bild seiner Vorstellungen, das sich vor dem Hintergrund der Erlebnisse der französischen Februarrevolution in ihm endgültig gefestigt hatte.

Im Spannungsfeld der preußischen Politik Das Vertrauen seiner Regierung hatte den Diplomaten an die verschiedenen Höfe innerhalb und außerhalb des Deutschen Bundes geführt. Er hatte die Möglichkeiten des auswärtigen Dienstes kennengelernt, seine Hoffnungen und Wünsche ventilieren können, Enttäuschungen überwinden gelernt; aber er hatte bis jetzt stets sozusagen im zweiten Glied gestanden, im Schatten des jeweiligen Missionschefs, dessen Wohlwollen und Vertrauen er sich zu erwerben gewußt hat. Dabei hatte er immer wieder Gelegenheiten gefunden, den ihm verbleibenden Freiheitsraum zu nütz~n, seine Gedanken zu ordnen, sein Weltbild zu weiten, Freundschaften zu pflegen, sein eigenes Dasein in einem unausgesetzten Rhythmus von Spannung und Entspannung zu begreifen. Von nun an setzt ihm das Schicksal andere Akzente. Er tritt aus der Geborgenheit seiner nächsten Vorgesetzten heraus und findet sich bald auf einer höheren Ebene mit entscheidender Verantwortung wieder. Ein Weiteres kommt hinzu: die Bundespolitik, bis dahin für einen jungen Diplomaten ohne sonderliche Faszination, gerät in die lebhafteste Bewegung. Savigny nimmt bald den tätigsten Anteil an ihr. Er betritt die Bühne der deutschen Politik Preußens, und solange er lebte, wird er sie nicht wieder verlassen. Jetzt soll er dem Ministerpräsidenten zur Hand gehen und insbesondere die Verbindung mit dem Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten pflegen. Er wird aufbauend und mitgestaltend bei der Begründung des Norddeutschen Bundes wirken, oft in engem, wenn auch unterschiedlich engem Kontakt mit seinem Jugendfreund Otto von Bismarck, dann - in den Jahren der Entfremdung und des Bruches - in der Haltung distanzierter Kritik auf der Tribüne des Parlaments bis in die Jahre des Kirchenkampfes, den der aUzu früh Verstorbene noch auf seinem Höhepunkt miterlebte. Davor jedoch liegen die Jahre eines selbstlosen Einsatzes für die Stellung Preußens im Deutschen Bund und damit auch für das Königshaus in der Person des Prinzen von Preußen, der ihm schon bald sein besonderes Wohlwollen bezeugt. Savignys erste Eindrücke, die er jetzt in Berlin gewinnt, geben vielerlei zutreffende Einzelheiten wieder, vermischt freilich mit manchen vorschnell übernommenen Unrichtigkeiten. Gegen Hatzfeldt äußert er sich ausführlich: " ... Berlin ist ruhig auf den Straßen," schreibt er, "aber unruhig in den Gemütern: die Revolution ist eine vollkommene, die Armee trägt neben der preußischen die dreifarbige Kokarde. Die beiden Arnims, Schwerin, Alfred Auerswald und Bornemann sind die einzigen Minister, Camphausen hat nicht angenommen. Trotz der verschiedenen Protestaktionen aus den Provinzen und aus der Hauptstadt ist das Ministerium gesonnen, den alten (vereinigten) Landtag zu versammeln und zu

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hören. Viele Mitglieder sind bereits hier, und auch die Konservativen aus der Mark werden kommen, obgleich man der Versammlung mit Intimidationen aller Art gedroht hat ... Meine Meinung kennen Sie. Noch niemals war die Armee so vollständig im Siegen wie die unsrige in den Straßen von Berlin. Ihr Rückzug war die Folge nur des unmittelbaren Befehls des Königs, welcher von dem Siege einen anderen Gebrauch machen wollte als den von allen erwarteten. Das Ministerium übernimmt die Verantwortung für die Zukunft, die glorreich für Preußen sein kann, wenn man sich auf die Armee stützt ... " I Noch offener spricht er sich in den Briefen an seine Eltern aus, die nach den Unruhen von Anfang Mai, dem ersten Zeughaussturm, Berlin verlassen und sich fürs erste nach Freienwalde an der Oder begeben hatten. Ihn bedrückt die Ratlosigkeit des Ministeriums, die Demagogie der politischen Abenteurer, das Unwürdige der Kammerberatungen. Er berichtet von den tatsächlichen und gerüchtweise verlautenden Personalveränderungen, von den ersten Tagen der Frankfurter Nationalversammlung, und immer wieder tritt die Sorge um seine berufliche Zukunft hervor. Arnim-Suckow hatte bereits die Zustimmung des Königs erwirkt, ihn als Legationssekretär nach London zu schicken. 2 Savigny war über diese Eröffnung nicht sehr glücklich. Denn noch am 16. April hatte Arnim ihm die Absicht bekundet, ihn vorerst in Berlin zu behalten und ihn dann mit einem umfassenderen Auftrag zu versehen, "weil Sie in einem früheren Dienstverhältnis Gelegenheit gehabt haben, die politischen und kommerziellen Verhältnisse, auf deren Beleuchtung und Beurteilung es dabei ankommen wird, näher kennenzulernen."3 Verbarg sich dahinter etwa die Aussicht auf einen Konsulatsposten? Der Gedanke lag nahe, daß er mit seiner Verwendung im Ministerium vorerst kaum rechnen durfte. So schwankt er zwischen Hoffnung und Resignation. Die Enttäuschung überwiegt. An dieser Stelle ist es nützlich, sich der Dinge zu erinnern, die sich für Preußen seit Mitte März ergeben hatten. Hier hatte die immer kritischer werdende Lage am 18. März zu jener das Königtum demütigenden Entladung geführt, derzufolge Friedrich Wilhelm IV. tags darauf das Übergangsministerium Arnim-Boitzenburg berufen hatte. Durch eine Politik der Anpassung suchte er offenbar nicht nur die Zukunft seines Hauses zu stabilisieren, sondern auch sich an die Spitze der I Savigny an Hatzfeldt, 29. März 1848 (Nachlaß, S. 357 f.). Adolf Heinrich von Amim-Boitzenburg war vom 19. bis 29. März Ministerpräsident und wurde von Ludolf Camphausen abgelöst, der seinerseits von Rudolf von Auerswald (23. Juni bis 21. September 1848) ersetzt wurde. Amim-Boitzenburg war auch für zwei Tage (19./21. März) Außenminister. An seine Stelle trat am 21. März Heinrich Alexander Frhr. von Amim-Suckow, der seinerseits das Amt im Juni an Alexander von Schleinitz übergab. Savignys Aussage über Camphausen trifft nicht zu. An dem Tage, da er den vorliegenden Brief schrieb, übernahm Camphausen das Amt des Ministerpräsidenten. - Maximilian Graf von Schwerin-Putzer (1804-1872) war von März bis Juni Minister der Geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, 1859-1862 Innenminister; Alfred von Auerswald (1797 - 1870) war vom 19. März bis 14. Juni Innenminister, Ferdinand Wilhelm Ludwig Bornemann (1798-1864) während der gleichen Zeit Justizminister. 2 Amim-Suckowan Savigny, 17. Juni 1848 (Nachlaß, S. 363). 3 Amim-Suckow an Savigny, 16. April 1848 (Familienarchiv).

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Einheitsbewegung auf dem Wege in eine Ära der politischen Modernität zu stellen. Indes hatte das Königtum bei der politisch so erregten Bevölkerung viel von dem Vertrauen verloren, das erforderlich gewesen wäre, um in dieser wirrsäli gen Zeit überzeugende Signale für die Gestaltung der politischen Zukunft zu geben. Eine Persönlichkeit solcher Prägekraft war Friedrich Wilhelm nicht. Auf dem Felde der versprochenen, aber wiederum nicht gewährten Verfassung schien er vielen geradezu unglaubwürdig, wenn er sich jetzt, es war am 22. März, zu einem neuen Verfassungsversprechen herbeiließ. Als der König dann in den letzten Märztagen das Ministerium Camphausen-Hansemann berief, schien es zunächst so, als wolle Preußen in einer Verbindung liberal-konservativer Kräfte mit dem gemäßigt oppositionellen Liberalismus den Weg in die Zukunft als funktionsfähiges konstitutionelles Staatswesen beschreiten. Von der Haltung des Königs enttäuscht, haben ultraroyalistische Kreise damals vergebens versucht, eine gegenrevolutionäre Bewegung einzuleiten. Ihnen zugrunde lag die ernste Sorge, es könnte die Monarchie in diesem Lande sich selbst aufgeben. Bei aller Enttäuschung über das Ausbleiben einer großen, zusammenhängenden gegenrevolutionären Aktion waren die konservativen Kräfte dennoch entschlossen, gegebenenfalls ohne oder gar gegen ihren König sich zu sammeln, ihre Zukunftsvorstellungen zu klären und so in einer günstigen Stunde den Staat und das Herrscherhaus vor dem Abgleiten auf eine liberale und parlamentarischdemokratische Funktionsebene zu bewahren. Vornehmlich waren es Mitglieder der altpreußischen Ritterschaft, die mit wechselndem Erfolg versuchten, die konservativen Kreise auf eine gemeinsame Linie festzulegen, die für die Erhaltung des altpreußischen Staatsgedankens in Frage kommenden Bevölkerungsschichten aufzuklären und durch eine geschickte Mobilisierung jener Mittel, welche vornehmlich die Liberalen angewandt hatten, in die Breite zu wirken. Zu den Aufrufen, wie etwa Ludwig von Gerlach einen bereits Ende März verfaßt hatte, zu den Reden, wie Bismarck und Thadden-Trieglaff sie im zweiten Vereinigten Landtag im April gehalten hatten, zu den Flugschriften, die einen immer breiteren Leserkreis erreichten, trat jetzt auch die von Hermann Wagener redigierte "Neue Preußische Zeitung", jenes seit dem 1. Juli 1848 regelmäßig erscheinende Blatt, das als "Kreuzzeitung" konservativ- feudalistische, pietistische und altpreußischmonarchische Gedankengänge in einer bis dahin unerreichten Einflußstärke vertrat. Unterstützt wurden diese Bemühungen durch zahlreiche protestantisch-pietistische Kirchenzeitungen, Provinzblätter kleineren und nicht so anspruchsvollen Formats, die indes in jeweils ihren Kreisen kein geringes Echo fanden. Inzwischen hatte der König der Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung die Wege geebnet. Er hatte Wahlgesetz und die Wahl selbst nicht oktroyiert. Indem er den Vereinigten Landtag damit befaßte, lehnte er eine der revolutionären Erhebung unmittelbar innewohnende Rechtsgültigkeit und Eigengesetzlichkeit ihres angemaßten Verbindlichkeits anspruchs ab. Mit dieser Aussicht, den Weg in eine konstitutionelle Monarchie zu finden, ohne sich von

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vornherein mit der Hypothek radikaler Experimente zu belasten, befreundeten sich nicht nur die gemäßigten Liberalen, sondern auch die altkonservativen Abgeordneten zeigten sich in der Mehrheit bereit, angesichts der unaufhaltsam vordringenden Verfassungsbewegung, gegen die ein kompromißloser Widerstand als anachronistisch empfunden wurde, in konstruktiver Mitarbeit gemeinsam die politische Zukunft Preußens zu gestalten. Nur eine geringe Minorität, repräsentiert von Bismarck und Thadden- Trieglaff, verharrten bei ihrer Opposition. Als die am 1. Mai gewählte Versammlung vom König am 22. mit einer Thronrede eröffnet wurde, zeigte sich bald, daß sie nicht nur in ihrer Zusammensetzung von dem Vereinigten Landtag erheblich abwich, sondern auch in ihrem Wollen über dessen Zielsetzungen wesentlich hinausstrebte, ja die fast gleichzeitig in der Paulskirche zusammentretende Nationalversammlung an radikalen Ansprüchen übertraf. Der relativ stark vertretene Adel stellte gegenüber den zahlreichen anderen Gruppen der Richter und Beamten, der Lehrer, Kaufleute und Industriellen eine Minorität dar, und zudem war die Vertretung des Adels in ihrer Mehrheit bereit, sich mit den liberalen und liberal-konservativen Gruppen zu arrangieren. Es sollte sich bald zeigen, daß die Versammlung in ihrer Mehrheit gewillt war, eigene, eher nach links gerichtete Wege zu gehen. Ein von der Regierung am 20. Mai verabschiedeter Verfassungsentwurf, gemäßigt-konstitutionell und in seinen Grundzügen unverkennbar vOn der belgischen Verfassung von 1831 beeinflußt, wurde vOn der damit befaßten Kommission kurzerhand beiseite geschoben; ein eigener, von dieser Kommission erarbeiteter Entwurf stand dagegen sofort im Mittelpunkt der Beratungen. Die erkennbar werdende Tendenz der Versammlung, ein nach links gerichtetes Verfassungskonzept zu verwirklichen, hat dann bedeutende Teile des konservativ orientierten Großgrundbesitzerturns, erweitert um die Kräfte des Landadels, des hohen Beamtenturns und des Offizierkorps, zusammengeführt, um dieser Entwicklung beizeiten zu begegnen. Die Besetzung des Zeughauses in der Nacht zum 16. Juni durch randalierende Massen und mancherlei andere Exzesse kennzeichneten schlagartig, daß mit der Radikalisierung der Versammlung auch eine Terrorisierung auf den Straßen einherging. Mancherlei Privilegien des Großgrundbesitzerturns, welche die Reformen des Freiherm vom Stein überlebt hatten, wurden schon im Juli von der Versammlung aufgehoben, und das wiederum forderte die Reaktionen der Betroffenen heraus: im gleichen Monat noch betrieb Ernst Gottfried Georg von Bülow-Cummerow die Gründung des "Vereins zur Wahrung der Interessen des Grundbesitzes und zur Aufrechterhaltung des Wohlstandes aller Klassen des Volkes"; im August begannen sich die Konservativen unter der Führung von Kleist-Retzow, BelowHohendorff, Bülow-Cummerow, Puttkammer-Reinfeld, Bismarck u. a. zu organisieren, um sich gegen die beabsichtigte Aufhebung der Grundsteuerfreiheit der Rittergüter zur Wehr zu setzen und die liberale Gesetzgebung insgesamt zu entschärfen. Dieser vOn den Demokraten als "Junkerparlament" verspotteten Versammlung folgten außerhalb Berlins zahlreiche weitere Zusammenschlüsse, die alle dem Ziele dienten, die historisch gewordenen Besitzverhältnisse und die

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mit ihnen verbundenen Rechtsbestände gegen den Ansturm der auf den Abbau aller Privilegien bedachten egalisierenden Kräfte zu verteidigen. 3a Aus dieser Skizzierung kann ersehen werden, wie hier die Kräfte des Wandels und des Verharrens auf vielerlei Ebenen aufeinanderstießen und wie unsicher jede Prognose über den Ausgang dieser Auseinandersetzung sein mußte. Daß auch Savigny in pessimistischen Anwandlungen bereits das Ende Preußens herannahen sah, erscheint verständlich. Hier sah er nur schwer zu bändigende, letztlich die gesamte Gesellschaftsordnung bedrohende Energien am Werk, deren Opfer nicht zuletzt auch die bis dahin gesellschaftlich und geistig führende Schicht im Königreich sein mußte. Von dem nach dem Rücktritt Heinrich Alexander von Arnims zur Übernahme des Auswärtigen berufenen Alexander von Schleinitz 4 versprach er sich eine für ihn günstige Entscheidung. Fast hatte er sich schon mit seiner Versetzung nach London abgefunden, sein Paß war bereits ausgestellt, da bat der neue Minister ihn in letzter Stunde, noch einige Tage in Berlin zu bleiben. In der Nacht zum 27. Juni begegnete er ihm auf der Straße. Er werde nun doch nicht nach London geschickt, erfuhr er hier. Schleinitz sprach von Wien und St. Petersburg, ohne damit auch nur im geringsten konkrete Aussagen zu verbinden. Dann begann sich in einer der folgenden Begegnungen seine Zukunft etwas zu lichten. Er sollte, darauf lief es am Ende hinaus, dem Ministerpräsidenten zur Hand gehen und die Verbindung zum Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten pflegen. Diese Entwicklung bahnte sich für ihn an, als er noch auf der ganzen Linie für ihn enttäuschende Beobachtungen zu registrieren hatte: er erlebt die Verteilung der Regierungsposten unter die Kammermitglieder, die sich verstärkende Stellung Hansemanns im Kräftespiel rivalisierender Potenzen, den Rücktritt Camphausens und seines gesamten Kabinetts, die Berufung Rudolf von Auerswalds in das Amt des Ministerpräsidenten, der indes schon bald an Einfluß gegenüber dem Finanzminister Hansemann verliert. 5 Er analysiert die Gesamtlage treffend: Hansemanns Kreaturen gehören dem Kabinett an; er ist Herr über die Personalien; er disponiert über die Finanzen; er schleust seine Freunde in die Schlüsselstellungen der Ämter; er ist mißtrauisch gegen alles, was von Adel ist, und frohlockt insgeheim über die Entscheidung der Verfassungs3a Zum Thema des Zusammenschlusses der konservativen Kräfte ist jetzt unverzichtbar das Werk von Wolfgang Schwentker, Konservative Vereine und Revolution in Preußen 1848/49. Die Konstituierung des Konservativismus als Partei, Düsseldorf 1988. 4 Alexander Gustav Adolf Frhr. von Schleinitz (1807 - 1885), seit 1835 im diplomatischen Dienst Preußens, im Juni 1848 für kurze Zeit Außenminister, 1849 maßgeblich an den Waffenstillstandsverhandlungen mit Dänemark beteiligt, von Juni 1849 bis September 1850 erneut und dann nochmals 1858 bis 1861 Außenminister, schließlich bis zu einem Tode Minister des kgl. Hauses; nach der Reichsgründung zusammen mit seiner Gemahlin Mittelpunkt eines erlesenen kunstbeflissenen Kreises. 5 Rudolf von Auerswald (1795 - 1866), ursprünglich Offizier, dann Verwaltungsbeamter, Oberbürgermeister von Königsberg (1838), Regierungspräsident in Trier (1842), Oberpräsident in Königsberg (1848), Juni bis September 1848 Ministerpräsident und Leiter des Auswärtigen, 1849/50 Präsident der Ersten Kammer, 1851 Oberpräsident in Koblenz; in der Neuen Ära Minister ohne Portefeuille.

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kommission über die Abschaffung des Adels und der Fideikommisse. "Hansemann ist jetzt durchaus der Verräter in der preußischen Sache," schreibt er an den Vater; der König habe sich die Umkehr auf die Bahn der Ordnung fast unmöglich gemacht. 6 Ihn bedrücken die Gefahren, die er von Frankfurt auf Preußen zukommen sieht. Er schildert, wie Bunsen mit einer dreifarbenen Rosette an der Brust und mit dreifarbenen Knöpfen an den Hemden in Berlin, von Auerswald gerufen, angekommen sei, sich aber erst nach drei weiteren Tagen beim König gemeldet habe, der nun geneigt sei, den ersten Schritt zu tun, um den gekränkten Staatsmann zu versöhnen. Nicht alles, was Savigny schreibt, darf für bare Münze genommen werden. Manchmal gibt er Gerüchte wieder: hier übertreibt er, dort entstellt er. Gelegentlich verspürt man etwas von Schadenfreude, wenn er von nächtlichen Krawallen berichtet, von Übergriffen auf die Wohnungen der Minister, von Demonstrationen demokratischer Klubs, von Plünderungen und Überfällen. Zuweilen klingt es, als wolle er sagen, wer einmal vom Wege der Ordnung und der Autorität abweiche, habe alle Folgen in Kauf zu nehmen. Aber er fürchtet auch um sein Preußen, das sich selbst immer unähnlicher werde, dessen Stolz es doch sein müßte, sich frei zu halten vom Zeitgeist der Emanzipation, vom Gesetz der Zahl, vom Aufbegehren gegen den Staat, der doch auch eine Idee repräsentiere. Die Paulskirche ist für ihn eine Folge der Revolution, ja ein Stück Revolution selbst. Nach einer Begegnung mit Max von Gagern gewinnt er den Eindruck, daß er und seine politischen Freunde geradezu mit Argwohn Radetzkys Siege in Italien verfolgen, weil sie in ihnen eine Wiederherstellung der alten Ordnung befürchten. Die Frankfurter verhöhnend, die eigene Regierung bemitleidend, die demokratischen Kräfte verwünschend, das alte Preußen beklagend, um seinen König fürchtend, das ist der Unterton all seiner Äußerungen, die auf uns gekommen sind. Wo er eine günstige Wendung sich abzeichnen sieht, hält er seinen Beifall nicht zurück; er lobt die vaterländischen Klubs in der Hautpstadt wie in der Provinz, die Rührigkeit der Bülow-Cummerow'schen Vereine, den Einsatz Gerlachs und seiner politischen Weggenossen, die Verstärkung der Berliner Garnison und die allmähliche Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe. Anfang September glaubt er, den Eltern die Rückkehr nach Berlin nahelegen zu können. "Eure Freunde werden frohlocken," schreibt er, "wenn Ihr wieder eintrefft, und Ihr habt deren hier sehr viele. Wenn ihr abends wieder Leute sehen wolltet, so wird sich Euer Salon bald füllen ..." Indes die Eltern zögern noch wochenlang. Weiter auf sich allein gestellt, fährt er fort, die politische Entwicklung genau zu beobachten. Am 7. September berichtet er von dem Sturz des Kabinetts Auerswald-Hansemann, das gescheitert ist an dem Ehrgeiz der Nationalversammlung, der Exekutive seinen Willen aufzuzwingen. Kühlwetter, so schreibt er, als Innenminister ganz die Kreatur Hansemanns, sei seiner Aufgabe 6

Savigny an seine Eltern, 29. Juni, 5. und 14. Juli sowie 14. August 1848 (Nachlaß,

S. 368 ff.).

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nicht gewachsen gewesen; Gierke, der Landwirtschaftsminister, sage von sich selbst, daß er von seinem Ressort nicht die "entfernteste Idee" habe; Milde, der Handelsminister, sei leichtsinnig und ohne Konsistenz, und der Kriegsminister von Schreckenstein kümmere sich nur um seinen Geschäftsbereich. 7 Die Bildung des neuen Kabinetts zog sich dann noch mehrere Tage hin. Die einen hofften auf eine energische Entscheidung des Königs; andere wiederum rechneten damit, daß einige der bisherigen Minister wie Gierke und Maercker 8, vielleicht auch Auerswald, in ihren Ämtern verblieben oder in sie zurückkehrten. Am Ende kam es ganz anders: in dem heftigen Streit um die Aufrechterhaltung der Rechte der Exekutive gegen die Machtanmaßungen der Nationalversammlung sah sich die Regierung einer übermächtigen Opposition gegenüber, die in der Versammlung sogar bis weit in das rechte Zentrum hineinreichte. Es blieb dem Kabinett Auerswald-Hansemann kein anderer Ausweg, als am 8. September zu demissionieren. Die von der Versammlung erzwungene Kapitulation der Regierung schien den Weg zu einer völligen Parlamentarisierung der politischen Praxis in Preußen frei zu machen. In diesem Augenblick sind es die konservativen altpreußischen Kräfte gewesen, die Stützen des Thrones in Adel und Offizierkorps, nicht zuletzt der Träger der Krone selbst, die sich in dem Willen zusammenfanden, dieser das historische Antlitz des Staatswesens verfremdenden Entwicklung entgegenzuwirken. Hier geht es in dem breit gefacherten Spektrum von dem legitimistischpietistischen Kreis um die Gebrüder Gerlach bis hinüber zu den Gruppen eines gemäßigten Liberalismus in den westdeutschen Provinzen des Königreichs schon nicht mehr um die Abwehr drohender Entwicklungen, sondern um eine völlige Umorientierung der Vorstellungen von der Zukunft Preußens, letztlich um eine Ausschaltung der Nationalversammlung, ja um ihre Auflösung und um eine Verfassung, die nicht auf dem Vereinbarungsprinzip beruhte, sondern kraft könig1icher Gnade bewilligt wurde. Zu dieser äußersten Konfrontation, die einem Staatsstreich nicht unähnlich gewesen wäre, ist es damals noch nicht gekommen. Vielleicht hat der Blick auf die außerpreußische Szene, auf die revolutionären Erschütterungen in Frankfurt, Wien und nicht zuletzt in Baden den König zu 7 Friedrich Christian Hubert von Kühlwetter (1809-1882), rheinischer Jurist, 1846 Regierungspräsident in Aachen, vom 25. Juni bis 9. September 1848 Innenminister, 1850 in sein Aachener Amt zurückgekehrt, 1866 Regierungspräsident in Düsseldorf, 1871 Oberpräsident der Provinz Westfalen. - Rudolf Eduard Julius Gierke (18071855), Stadtsyndikus in Stettin, Landwirtschaftsminister bis September 1848. - Karl August Milde (1805 - 1861), schlesischer Industrieller, Mitglied des Vereinigten Landtags und der preußischen Nationalversammlung (zeitweilig ihr Präsident), leitete das Handelsministerium bis zum 21. September 1848. - Ludwig Frhr. Roth von Schreckenstein (1789-1859), ursprünglich sächsischer, seit 1815 preußischer Offizier, 1849 Kommandeur eines gegen die Aufständischen in Baden eingesetzten preußischen Korps, 1853 Kommandierender General in Münster, Kavallerist. 8 Karl Anton Maercker (1803-1871), Jurist, 1847/48 Präsident des Kriminalgerichts in Berlin, später des Appellationsgerichtshofes in Halberstadt, von Juni bis September 1848 preußischer Justizminister.

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einem zunächst behutsameren Vorgehen veranlaßt, indem er mit der Berufung des Generals von Pfuel 9 am 21. September einen Regierungschef erwählte, der noch in der Goethezeit und der Ära der preußischen Reformen seine entscheidenden Eindrücke gewonnen hatte. Mit diesem Kabinett war weder ein Staatsstreich durchzuführen, noch eine andere einseitige Lösung der Frage "Königsherrschaft oder Parlamentsherrschaft" zu erwarten. Pfuel wollte auch nichts Derartiges. Er war ein Mann des gemäßigten Fortschritts, der Entschärfung und des Ausgleichs und hielt sich gleich weit entfernt von reaktionären wie revolutionären Tendenzen. Die Mehrheit in der Nationalversammlung war mit ihm zufrieden, zumal er auch als Kriegsminister nicht bereit war, dem am 13. September zum Oberkommandierenden in den Marken ernannten General von Wrangel lO ein breites Feld eigener Entscheidungen im Sinne eines gegenrevolutionären Schlages zu überlassen. Dennoch hat sich Pfuel mit der Versammlung nicht arrangieren können. Diese wiederum ergriff jede Gelegenheit, radikale Forderungen durchzusetzen, insbesondere jene politisch nicht in erster Linie relevanten Tatbestände in der Verfassung festzuschreiben, die sich gegen das überkommene Selbstverständnis des preußischen Königtums, gegen Titel und Orden, gegen die Symbole der Krone und ihres Trägers, der doch ein Amtmann Gottes und keine Kreatur des Parlaments war, richteten. Hier ging es um Imponderabilien, die für den Monarchen und die Stützen seines Thrones nicht belastbar waren und die, wären sie verwirklicht worden, aus Preußen, wie sie es verstanden, ein anderes Preußen gemacht hätten. Als weitere Tatbestände hinzukamen, Tumulte, Demonstrationen, Sabotageakte, Straßenkämpfe, war die Entscheidung des Königs bald gefallen: er verlangte vom Ministerpräsidenten die Verhängung des Belagerungszustandes, und als dieser sich weigerte, der König aber auf seiner Forderung bestand, trat Pfuel zurück. Die Regierungskrise zog sich dann noch zwei Wochen hin, ehe der König schließlich am 1. November den Grafen Friedrich Wilhelm von Brandenburg 11 mit der Regierungsbildung beauftragte und ihn am Tage darauf ernannte. Mit dieser Ernennung, die komplizierter war, als sie hier angedeutet werden konnte, bahnte sich eine Wende an. Der Monarch war nicht bereit, sich von der Versammlung das Recht der Berufung des Ministerpräsidenten und der Ministerernennung beschränken zu lassen. Konstitutioneller König zu sein war für ihn nicht gleichbedeutend mit der Einführung eines parlamentarisch kontrollierten 9 Ernst von Pfuel (1779 - 1866), stark geprägt vom Geist der preußischen Reformen und der politischen Romantik, März 1848 Gouverneur von Berlin, im Mai Befehlshaber in der Provinz Posen, Vertreter eines geistig-humanistischen Offizierstypus. 10 Friedrich Heinrich Ernst Graf von Wrangel (1784- 1877), Kommandierender General in Könisberg (1839), Stettin (1842) und Berlin (1848), September 1848 Oberbefehlshaber in den Marken, 1856 Generalfeldmarschall. II Friedrich Wilhelm Graf von Brandenburg (1792-1850), Sohn Friedrich Wilhelms H. und der Gräfin Sophie Dönhoff, Onkel Friedrich Wilhelms IV., war Kommandierender General in Breslau und Koblenz gewesen.

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Regierungssystems. Das erste Auftreten des zunächst noch unvollständigen Kabinetts vor der Nationalversammlung ließ keinen Zweifel zu, daß die Märzrevolution im Ausklingen begriffen war; am 9. November verkündete der Ministerpräsident die Verlegung der Versammlung nach Brandenburg und ihre Vertagung auf den 27. November. Damit hatte sie ihr Dasein an der Peripherie zu fristen. Es soll unerörtert bleiben, ob der König damit seine Kompetenzen überschritten hatte, denn daß die Versammlung auch weiterhin in ihrem Tagungsort, dem Schauspielhaus, hätte geschützt werden können, darf als sicher angenommen werden. Letztlich wurde hier eine Machtfrage entschieden. Da die Versammlung über keinerlei wirkliche Macht verfügte, war es den in der Mittagsstunde des 10. November widerstandslos einrückenden Truppen Wrangeis ein leichtes, die Versammlung zum Verlassen ihres Tagungsgebäudes zu veranlassen. Ihr verbaler Protest war nutzlos. Die Bürgerwehr ward aufgelöst, der Belagerungszustand am 12. November verhängt, die politischen Klubs hörten auf zu bestehen. Von der ihm übertragenen vollziehenden Gewalt umfassend Gebrauch machend, verschärfte Wrangel mit der Anordnung des Kriegsrechts die Gesamtlage noch einmal. Die Grundrechte wurden aufgehoben, Presse- und Meinungsfreiheit weitgehend eingeschränkt, Kreise des Widerstandes überwacht, Protestaktionen verhindert. Als ein beträchtlicher Rest der Abgeordneten zur Steuerverweigerung aufrief, war das Militär schnell zur Stelle. Noch ehe die Versammlung alle Mißhelligkeiten hinsichtlich der Beteiligung ihrer Mitglieder und damit der Feststellung ihrer Beschlußfähigkeit in Brandenburg überwunden hatte, löste der König sie in angemaßter Selbstherrlichkeit nach mancherlei Meinungsverschiedenheiten im Kreise seiner engsten Berater am 5. Dezember 1848 auf und oktroyierte am gleichen Tage jene Verfassung, für die von Anfang an eine noch weitergehende Revision vorgesehen war. Der Übergang Preußens in eine neue Ära moderner westeuropäischer Verfassungswirklichkeit war - vorerst jedenfalls - gescheitert. Der Staatsstreich der Krone war gelungen. 12 Von Dienstobliegenheiten unbelastet, hat Savigny alle diese Vorgänge aus nächster Nähe miterlebt. In seinen brieflichen Äußerungen spiegeln sie sich weniger wider als die Emotionen, denen er freien Lauf gestattet. Er ist empört über die nächtlichen Skandale in der Wilhelmstraße, wo die demokratischen Klubs gegen die Regierungsgebäude vorgehen und demolieren, was ihnen in den Weg kommt. 13 Er weiß sich in Übereinstimmung mit allen loyalen Kreisen, die kritisch sind wie er, sofern ihr Mißbehagen nicht durch ihren Aufenthalt in der unmittelbaren Umgebung des Königs sich in Grenzen hält. Er steht verständnislos der Meinung seines Herrn gegenüber, alle Schwierigkeiten mit seiner Popularität überwinden zu können. Er wirft ihm eitel zu sein vor im Gefühl, das Ganze als 12 Die hier nur kurz skizzierten Vorgänge sind ausführlich dargestellt in E. R. Hubers Verfassungsgeschichte, 11, S. 724 ff. 13 Savignyan seinen Vater, 22. August 1848; vgl. auch die Briefe vom 23. und 28. September (Nachlaß, S. 376 u. 384 ff.).

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einen Streit zwischen sich und der Zeit anzusehen. "Ehe diese Individualität nicht beseitigt ist," zu dieser Aussage versteigt er sich, ,,können wir an keine Wiederherstellung der Ordnung denken." Er sieht seine Hoffnungen von Pfuel enttäuscht. Die Vorgänge in Frankfurt, die Ermordung Hans von Auerswalds und des Fürsten Lichnowsky, wären nach seinem Urteil für die Regierung Grund genug gewesen, die neue Ordnung durchzusetzen. Statt dessen scheine man die unerwartete Gelegenheit von sich zu weisen. "Alles ist sozusagen verloren," schreibt er am 25. September, "und wenn Gott nicht ein Wunder tut, so haben wir binnen kurzem die Republik ... Viele Tausende von Demokraten, darunter einige Hunderte mit roten Jakobinermützen, nahmen das Resultat der ministeriellen Erklärung auf dem Gendarmenmarkt mit lautem, endlosen Jubel entgegen. Alles ging vortrefflich, und der Kampf war unvermeidlich, und die Stadt wimmelte von bewaffneten Republikanern ... Da traf die Nachricht ein, daß wir nun endlich das ehrloseste Ministerium gefunden haben, fähig auszuführen, was selbst Hansemann nicht wollte . . . Der demokratische Klub hat gestern erklärt, die Barrikadenkämpfer hätten sich verdient gemacht um das Vaterland ... so weit sind wir gekommen ... und der König hatte 50000 Mann! Die Geschichte wird es nie glauben ... Arme Eltern! Wenn es so fort geht, wandre ich aus ... Ich bin wie zerschlagen an allen Gliedern; die Schmach für den König ist allzu groß . . . Frankfurt, früher vornehm von uns zurückgewiesen, disponiert jetzt über preußische Truppen ohne vorherige Anfragen, und wir beugen uns. Die Minister sprechen es aus, daß sie nur durch eine Frankfurter Autorisation etwas gegen die republikanische Parei im eigenen Lande unternehmen können. Pfuel hat es verstanden, uns zu mediatisieren." Dann erlebt er am Halle'schen Tore den Einzug Wrangeis in die Hauptstadt. Noch niemals sei eine ähnliche Ordnung auf den Straßen Berlins bemerkt worden, schreibt er; mit Blumen ziehe das Volk den Soldaten entgegen; hier habe man ohne Nasenbluten erreicht, wozu man im übrigen Europa Ströme von Blut vergießen mußte. 14 Das Ministerium habe sich bewundernswert benommen; das Verdienst gebühre vor allem seinem Chef. Am 26. November zeichnet sich endlich auch für ihn eine weitere, wenn auch nur vorläufige dienstliche Bestimmung ab: er soll den Ministerpräsidenten, der vorerst auch das Auswärtige leitet, nach Brandenburg begleiten, um von dort aus die Verbindung zum auswärtigen Departement aufrechtzuerhalten. Mit Freuden übernimmt er den ehrenvollen Auftrag. Noch sind in ihm die düsteren Eindrücke lebendig, die er im Februar in Paris gewonnen hatte. Nicht minder sind ihm die Gefahren gegenwärtig, denen Preußen ausgesetzt war. Es überrascht daher nicht, daß er den Verhandlungen abseits der Hauptstadt mit Skepsis und Mißtrauen folgt, wobei er sich übrigens bei der Beurteilung ganz in Übereinstimmung mit dem Unterstaatssekretär Bülow weiß. Die bis zum Erlaß der oktroyierten Verfassung und zur Auflösung der Versamm14 Savigny an seinen Vater, 13. November 1848 (Nachlaß, S. 388). Vgl. auch seine Briefe vom 21. und 26. November ebenda.

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lung dauernde Tätigkeit Savignys ist gekennzeichnet durch kritische, warnende, ironisierende Äußerungen. Bülow steht ihm hierin nicht nach. 15 Einen Einblick in seine Gedanken gewähren auch die Briefe, die Savigny damals mit Hatzfeldt wechselte. Die schönste Gabe, die ihm und seinen Freunden jetzt zuteil geworden sei, heißt es da am 28. Dezember, sei das wiedererwachende Vertrauen zum König. 16 Zwar seien auch jetzt noch nicht alle Früchte der kühnen Ernennung Brandenburgs geerntet, ja der jetzige Zustand erscheine nur als eine Art Waffenstillstand, aber zur gegenwärtigen Politik Preußens dürfe man wieder Mut fassen. Seine eigenen Anschauungen, so durfte er jetzt mit Recht behaupten, hätten selbst in den bewegtesten Tagen nicht geschwankt. Mit seinen politischen Freunden sei ihm im stillen so manches gelungen. Jetzt sei ihre Tätigkeit auf die bevorstehenden Wahlen gerichtet. Savigny nennt Bismarck, Stahl, Wagener, Bethmann-Hollweg, Robert Goltz und Bindewald. "Mein langjähriger Freund Bismarck-Schönhausen hat unendlich viel Gutes geleistet. Ihn, den Mutigsten unserer Ritter, hoffen wir, bei den Wahlen durchzubringen." Er wirbt für die "Neue Preußische Zeitung" mit dem Landwehrkreuz; es sei ein Trost, dort noch Wahrheit zu finden in den Zeiten der Lüge; der König lese sie täglich, und Metternich habe sie abonniert ... 17 Hatzfeldt gegenüber konnte sich Savigny rückhaltlos aussprechen. Hier fand er jenen Gleichklang der Ansichten und jene Übereinstimmung in der Beurteilung der Menschen und Verhältnisse, wie sie nur auf der Basis ähnlicher politischer und religiöser Erziehung möglich sind. 18 Nur ihm gegenüber konnte er sich offen äußern, wenn Hatzfeldt gezielte Fragen 15 Vgl. Bülow an Savigny, 1. Dezember 1848: " ... Mit solcher Verfassung, solchen Grundrechten über Presse, Habeas Corpus, Versammlungsrecht pp. gehen wir ebenso sicher zur Republik als mit der Constituante, die wir zum Teufel jagen.... Legen wir nur nicht einen Preis an, den wir nicht zahlen können. In vierzehn Tagen können wir vielleicht wohlfeiler kaufen. Eine oktroyierte Verfassung ist immer unpopulär; auf etwas mehr oder weniger also kommt es nicht an; das Wesentliche aber ist, dem Feinde die Waffen zu entringen, während wir die Gewalt haben. Wir können es ..." - Des weiteren heißt es über die Vorgänge in Brandenburg "die auch dem Stupidesten beweisen müssen, daß mit dieser Schwefelbande nichts anzufangen ist ..." (Nachlaß, S. 395). 16 Josepha von Schönberg hat auch die Briefe an Hatzfeldt herangezogen, diese jedoch nach einer im Manuskript befindlichen Bemerkung an die Familie von Hatzfeldt zurückgegeben. Erhebliche Teile dieser Briefe können jedoch teils wörtlich, teils inhaltlich aus dem Schönberg-Mskr. entnommen bezw. rekonstruiert werden. So auch der hier zitierte. Vgl. auch Nachlaß, S. 396 Anm. 17 In seiner ausführlichen Antwort vom 19. Januar 1849 (Nachlaß, S. 396 ff.) äußert sich Hatzfeldt erfreut darüber, Savigny im Ministerium zu wissen. Durch ihn hofft er notwendige Informationen zu erhalten, über deren Ausbleiben aus Berlin er sich wiederholt zu beklagen hatte. Er bedient sich auch der Verbindung zu Savigny, um für die neuen Vertreter Frankreichs in Berlin eine freundliche Aufnahme zu erbitten. 18 In einem nicht erhaltenen, aber bruchstückhaft im Schönberg-Mskr. wiedergegebenen Brief Savignys an Hatzfeldt vom 16. März 1849 heißt es: " ... Auf mich können Sie immer und für alles zählen ..." Er könne mit wenigen Personen politisch so sympathisieren wie mit Hatzfeldt, mit dem er nicht bloß den Standpunkt im allgemeinen teile, sondern auch "die besondere Anschauungsweise der Verhältnisse, Personen und Richtungen infolge ähnlicher politischer und religiöser Erziehung."

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an ihn richtete. In der deutschen Frage sind die Ansichten beider Freunde noch nicht geklärt. Insbesondere tastet Savigny noch unsicher die verschiedenen Möglichkeiten ab. Als die Frankfurter Beratungen ihrem Ende zugehen, lassen einige Formulierungen in seinen Briefen aufhorchen. "Hier in Berlin fängt man an, deutscher zu werden, als man es bisher gewesen," schreibt er am 18. März 1849 an Hatzfeldt, "viele fühlen sich geschmeichelt durch die Idee des Erbkaisertums, auch ein Teil unserer Offiziere." 19 Es betrübt ihn, daß ein Arrangement mit Österreich sich nicht verwirklichen läßt. 20 Ihm schwebt, wohl in Übereinstimmung mit Hatzfeldt, eine Lösung der deutschen Frage vor, die auf der Basis einer Verständigung mit Österreich durch Teilung der Einflußsphären den "wahren Dualismus" begründen soll. Kein Zweifel: bis zum Ausklang der Paulskirche war Savigny kein kompromißloser Gegner Österreichs. Als er am 21. Mai 1849 seinem Freunde zur definitiven Ernennung zum Gesandten in Paris gratuliert, fügt er eine ihn selbst betreffende Bemerkung hinzu: Er habe ihm nicht eher schreiben können, "weil er in der Krisis von Dresden dorthin gesandt wurde, um über die Verwendung der preußischen Truppen bei der Niederwerfung des dortigen Aufstandes zu verhandeln ... "21 Damit ist in der Verwendung Savignys eine neue Phase angedeutet, die mehr als alle bisherigen Stationen seines beruflichen Werdeganges von besonderer Bedeutung werden sollte.

Savigny an Hatzfeldt, 18. März 1849 (Nachlaß, S. 405. In einern Brief Savignys an Hatzfeldt vorn 23. April 1849 heißt es: " ... Mit Österreich ist ein Verständnis leider nicht erzielt worden; ich sag!!: leider, obwohl die große Menge der Gutgesinnten sogar in Berlin einen Haß gegen Osterreich entwickelt, der die natürliche Frucht der revolutionären Verirrungen ist. Unser König ist in dieser Angelegenheit rein und lauter; seine Instinkte sind die korrektesten." (Schönberg-Mskr.). 21 Vgl. hierzu Hatzfeldts Dankesbriefvorn 4. Juni 1849 (Nachlaß, S. 417 und Anmerkung daselbst). 19

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In der Umgebung des Prinzen von Preußen Bis jetzt hatte Savigny die Problematik der deutschen Frage nicht sonderlich studieren können. Portugal und die Niederlande lagen an der Peripherie des Entscheidungsraumes; Dresden und Kassel konnten nicht als Brennpunkte gelten, von denen zukunftsgestaltende Impulse hätten ausgehen können. Immerhin hatte er in Frankreich die Ära des Bürgerkönigtums erlebt und war schließlich Zeuge jener Februarrevolution geworden, deren gesellschaftskritischen und sozialistischen Akzent er schon deutlich erkannte. Hier erlebte er, wie aus den Wirrsalen angestauter Not unübersehbare und kaum zu zügelnde Kräfte ans Tageslicht drängten und sich anschickten, die Welt nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Das waren elementare Gewalten, die ihn beunruhigten, wenn er sich ausmalte, daß Derartiges auch in seiner Heimat geschehen könnte. Diese Erlebnisse haben sein politisches Weltbild für immer mitbestimmt. In Berlin sieht er, wie der Träger der Krone, hin- und hergerissen von den widerstreitenden Kräften der Zeit, die prägende und dirigierende Energie vermissen läßt, wie Ordnungen sich auflösen und das Staatswesen immer weniger dem Bilde ähnelt, das er seit seiner Jugend in sich getragen. Empört registriert er, daß nicht in der Kontinuität seiner Geschichte aufgewachsene Persönlichkeiten sich auf die abschüssige Bahn der Anpassung an die demokratischen Tendenzen des Jahrhunderts begeben. Er hat noch kein Gespür dafür, wie bedenklich weit sich der König dann von der verfassungsrechtlichen Legalität entfernt und mit dem Grafen Brandenburg das Risiko eines Staatsstreichs auf sich nimmt. Dankbar begleitet er den Ministerpräsidenten, als es seiner Ansicht nach gilt, das Chaos zu bändigen und den Staat auf die neue Basis der oktroyierten Verfassung zu stellen. An seine Weisungen gebunden, ist er nur eine diplomatische Hilfskraft, nicht mehr und nicht weniger, aber unvergleichlich mehr als in Dresden und Kassel hat ihm die Verwendung in der Umgebung Brandenburgs und anschließend seine Tätigkeit in der politischen Abteilung des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten Aufschlüsse über die Vielschichtigkeit der deutschen Frage vermittelt. Als nach dem Abschluß der Frankfurter Verfassungsberatungen seinem König die entscheidende Frage nach der Annahme der Kaiserwürde gestellt wird, steht er gleichsam am Rande der Arena. Als der König sie ablehnt, verfolgt er mit innerster Anteilnahme die Entwicklung jenes preußischen Konzepts, mit dem die Regierung das Scheitern des Verfassungswerkes zu beantworten sich anschickt. Jetzt wird er auf einer höheren Ebene der Entscheidungsbefugnis zur Mitwirkung berufen. Die Ablehnung der Kaiserwürde hatte sich schon in dem berühmten Brief des Königs vom Dezember 1848 an seinen Londoner Gesandten Josias von Bunsen angedeutet. Auch der Monarch hatte ein Gefühl für diese Würde, aber die Krone 7 Real

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der Frankfurter Nationalversammlung war letztlich revolutionären Ursprungs; es fehlte ihr das göttliche Signum, das den Träger dieser Krone über die Alltäglichkeiten des Daseins in eine Sphäre des Sakralen hinausgehoben hätte. Es brauchen hier nicht die Vorgänge wiederholt zu werden, die sich um den Empfang der Kaiserdeputation in der Mittagsstunde jenes 3. April ranken, als der König in einer selbst die engsten Berater überraschenden Schroffheit die ihm zugedachte Ehrung zurückwies, verklausuliert zunächst und bei oberfächlicher Betrachtung noch Lösungsmöglichkeiten offen lassend. Aber wer Ohren hatte zu hören, spürte bald heraus, daß Simson und seine Gefährten vergebens gekommen waren. Der König wollte aus ihren Händen keine Krone annehmen; was sie ihm antrugen, war nicht vergleichbar mit der Krone des alten Reiches, die auch für ihn der Inbegriff kaiserlicher Herrlichkeit war, eine immer noch gültige Realität, gegen die er sich zu versündigen glaubte, wenn er an ihrer Stelle sich mit der Gabe der Paulskirche schmückte. Jene wahre Krone aber, deren faszinierende Ausstrahlungskraft seit dem Beginn des Jahrhunderts zwar geschwächt, aber noch keineswegs erloschen war, gehörte nicht zur Verfügungsrnasse der Paulskirche. Nur die deutschen Fürsten hätten darüber zu befinden, wem sie als dem Würdigsten dieses höchste, im Metaphysischen beheimatete Symbol anvertrauen durften. Was nach jenem Empfang der Kaiserdeputation folgte, war nichts anderes als der Nachklang einer längst getroffenen Entscheidung. Brandenburgs ausführliche Depesche an Camphausen, den Bevollmächtigten bei der Provisorischen Zentralgewalt, machte am 28. April 1849 auch den letzten Illusionen ein bestürzendes Ende. I Indes bedeutete diese Entscheidung noch lange kein Zurücksinken Preußens in die Zweitrangigkeit oder einen Verzicht auf den geschichtlich erworbenen Rang im Rahmen des Reiches. Auch Friedrich Wilhelm IV., der die Demütigung vom März 1848 niemals wirklich verwunden hat, besaß doch einen untrüglichen Sinn für die Hierarchie der politischen Positionen und die legitimen Ansprüche Preußens an Macht und Geltung im Kreise der Mitfürsten. Auch er verstand sich als Erbe Friedrichs des Großen. Auch er verlangte danach, ein den historischen und machtpolitischen Kategorien Preußens angemessenes Konzept zu verwirklichen. Er verkannte nicht, daß auch das Werk der Paulskirche gewisse Elemente in sich barg, die für Preußen verwertbar waren. Da hatte sich nach langem Ringen der Bundesstaatsgedanke gegen den lockeren Staatenbund durchgesetzt und sich die Mehrheit für die Sammlung der deutschen Staaten unter preußischer Führung entschieden. Indem Heinrich von Gagems Plan eines engeren und weiteren Bundes obsiegte, konnte sich eine Möglichkeit abzeichnen, das Habsburgerreich in einem Gesamtzusammenhang mit dem engeren Bund zu belassen. Ein Weiteres kam hinzu: noch ehe die preußische Ablehnung vorlag, hatten sich am 14. April achtundzwanzig Regierungen in einer gemeinsamen Erklärung für die AnerkenI Brandenburg an Camphausen, 28. April 1849 (E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, I, S. 335 ff.).

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nung der Reichsverfassung ausgesprochen, und indem sie den Text in ihren Gesetzblättern veröffentlichten, bekannten sie sich ausdrücklich zur Verbindlichkeit des Verfassungswerkes. Zwar fehlten außer den beiden Führungsrnächten die vier Königreiche, aber auch hier konnte das Verfassungswerk nicht ohne weiteres beiseite geschoben werden. An demselben Tage, da der König die Kaiserdeputation empfangen hatte, ging den preußischen Vertretern bei den übrigen Regierungen ein Zirkularschreiben Arnim-Heinrichsdorffs zu, das die Doppelseitigkeit der preußischen Politik bekundete. 2 Da ist die Rede von der Bereitschaft, "die provisorische Leitung der deutschen Angelegenheiten zu übernehmen", von des Königs Entschlossenheit, "an die Spitze eines deutschen Bundesstaates zu treten, der aus denjenigen Staaten sich bildet, welche demselben aus freiem Willen sich anschließen möchten." Da werden die Regierungen aufgefordert, Bevollmächtigte nach Frankfurt zu schicken, um entsprechende Verhandlungen über die Begründung eines deutschen Bundesstaates mit Preußen aufzunehmen. Eine neue Phase in den Bemühungen um die verfassungsrechtliche Struktur des deutschen Raumes zeichnet sich ab. Schwarzenberg hat derartige Erwägungen kompromißlos abgelehnt und gegen alle aus Verhandlungen dieser Art etwa hervorgehenden Beschlüsse Verwahrung eingelegt. 3 Bedenkt man, daß die vier Königreiche sich gleichermaßen verhielten, andererseits die erwähnten achtundzwanzig Mittel- und Kleinstaaten sich in einer gemeinsamen Erklärung für das Verfassungswerk aussprachen und die Nationalversammlung ihrerseits die Regierungen aufforderte, die Verfassung anzuerkennen, so ermißt man die Verworrenheit der Zustände in den Wochen nach dem Empfang der Kaiserdeputation, vielleicht aber auch die Möglichkeiten, die sich aus einer konsequent durchgeführten Initiative ergaben. Was der König von Preußen am 3. April hatte anklingen lassen, konkretisierte sich bald in der denkwürdigen Note Brandenburgs vom 18. April an die deutschen Regierungen, zur weiteren Beratung der Verfassungsfrage in Berlin zu einer Konferenz zusammenzutreten. Das große Thema hieß Konstituierung eines Bundesstaates, der seinerseits einen weiteren Bund mit Österreich eingehen sollte. Die Ähnlichkeit dieses Planes mit dem Bundesstaatsgedanken der Mehrheit in der Paulskirche und die Wiederaufnahme des Gagernplanes vom engeren und weiteren Bund waren nicht zu übersehen. Canitz, der dem Wiener Kabinett die preußischen Vorschläge zu unterbreiten hatte, stand an der Donau von Anfang an auf verlorenem Posten. Mit leeren Händen kehrte er Ende Mai nach Berlin zurück. 4 2 Arnim-Heinrichsdorff an die Gesandtschaften bei den deutschen Regierungen, 3. April 1849 (Huber, Dokumente, I, S. 331). 3 Schwarzenberg an Prokesch-Osten, 8. April 1849 (Huber, Dokumente, I, S. 332 f.). 4 Zirkulardepesche Brandenburgs vom 28. April bei Huber, a. a. 0., I, S. 338 f. Denkschrift der preußischen Regierung vom 9. Mai und dazu die preußischen "Grundlinien einer Unionsakte", ebenfalls dort S. 421 ff.

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Die Berliner Konferenzen, der Abschluß des Dreikönigsbündnisses und die Einigung über den Entwurf einer Unionsverfassung kennzeichnen die nächsten Wochen. 5 Wir brauchen die Einzelheiten hier nicht zu wiederholen: die Verhandlungen des Generals von Radowitz, die Zurückhaltung Bayerns und Württernbergs, die Aufforderung an die übrigen Regierungen, der Vereinbarung und der am 28. Mai zustandegekommenen Unionsverfassung beizutreten, für die von vornherein eine Revision vorgesehen war. Bei einer vordergründigen Betrachtung konnte sich der Eindruck aufdrängen, als sei Preußen im Begriff, die Führung im außerösterreichischen Deutschland zu übernehmen. Sachsen und Hannover waren die Bündnispartner; die meisten Mittel- und Kleinstaaten folgten schon bald; Mitte Juni konnte als provisorisches Organ der Union in Berlin der Verwaltungsrat zusammentreten. Preußen schien einer kleindeutschen, bundesstaatlichen Lösung entgegenzusteuern. Konnte man nicht schon das Traumbild einer völkerrechtlichen Verbindung mit Österreich heraufsteigen sehen? War das Habs burgerreich überhaupt in der Lage, seine Gegenminen zu legen? Die Unruheherde in Oberitalien, Böhmen und vor allem in Ungarn, nicht zuletzt auch in Wien absorbierten ein Höchstmaß an politischen Energien; die stets angespannte Lage der Staatsfinanzen schränkte den Aktionsraum der politischen Führung des Habsburgerreiches bedenklich ein. Dennoch: Bayern und Württemberg blieben der Union fern. Damit überwogen auch in Dresden und Hannover die Bedenken, die den einmal vollzogenen Beitritt mehr und mehr entwerteten. War auf die Mittel- und Kleinstaaten fest zu bauen, wenn die Königreiche sich versagten oder sich hinter kaum zu realisierende Voraussetzungen zurückzogen? Die immer noch in der Paulskirche tagende Versammlung setzte alles daran, ihr Werk so oder so in Kraft zu setzen. Gedeckt von der Zustimmung des jungen, politisch unverbrauchten Kaisers, war Schwarzenberg nicht der Mann, der eine auf die preußische Führung zielende Entwicklung ohne weiteres geschehen ließ. Ausgestattet mit dem Sinn für die Nutzung einer geschichtlichen Stunde, war mit seiner entscheidenden Reaktion zu rechnen. Dann traten fast gleichzeitig Ereignisse ein, die neue Entwicklungen in sich bargen. Unter dem Richtwort "Anerkennung des Parlaments und Inkraftsetzung der Reichsverfassung" kam es in den ersten Maitagen vielerorts zu Aufständen. In der Rheinpfalz und in Sachsen erhob sich eine Bewegung gegen die Landesherren, in denen man die Häupter eines Widerstandes gegen die Verfassung zu sehen vermeinte. In Sachsen hatte Friedrich August seine Hauptstadt verlassen und vom Königstein aus die Hilfe Preußens gegen die um Tzschirner, Todt und andere sich sammelnden Aufständischen anrufen müssen. Während hier die preußischen und sächsischen Truppen schon am 9. Mai die Erhebung niederschlagen konnten, drohte sich in der Rheinpfalz ein äußerst gefährlicher Konfliktherd zu entwickeln. Am schwierigsten gestaltete sich die Lage in Baden. Hier hatte 5 Die weiterführende Literatur bei Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 11 passim und Dokumentenband.

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Großherzog Leopold mit seinem Kabinett die Reichsverfassung zwar akzeptiert, aber der damals den Vorsitz im Staatsministerium führende Minister des großherzoglichen Hauses und der auswärtigen Angelegenheiten Alexander Anton Frhr. von Dusch hatte die Inkraftsetzung und Veröffentlichung der Verfassung sowie die Vereidigung von Heer und Beamtenschaft auf sie - vermutlich mit Rücksicht auf Österreich und Bayern - hinausgezögert. Die Folgen blieben nicht aus. Die radikal-demokratische Bewegung riß die Initiative an sich. Demonstrationen und Plünderungen erschütterten mit Windeseile das ganze Land. In der Truppe kam es zu Gehorsamsverweigerungen und Gewalttätigkeiten gegen die Offiziere, zu Solidaritätsbekundungen mit den Aufständigen. Die Meuterei der Garnison der Festung Rastatt kennzeichnete die Gefahr, die sich nicht nur für die Ordnung im Großherzogturn ergab, konnte doch von hier aus das Ordnungsgefüge im gesamten Bundesgebiet zum Einsturz gebracht werden. Daß sich hier zum erstenmal erhebliche Teile des Militärs zum Träger der Erhebung gemacht hatten, daß der Großherzog seine Residenz hatte verlassen müssen, daß sein Kabinett ihm folgte und in Karlsruhe eine Revolutionsregierung sich bildete, ließ erkennen, wie sehr die Ordnungskräfte, auf sich allein gestellt, außerstande waren, die Revolution niederzuwerfen. 6 Nur ein Eingreifen außerbadischer, vielleicht gar preußischer Kräfte, konnte die Lage wiederherstellen. Die Proklamation des Staatsministeriums an die Bevölkerung vom 14. Mai verhehlte das Bestürzende nicht, wies aber auch keinen Weg, diese Krise zu überwinden. 7 Die Hilfe mußte von außen kommen. Als die provisorische Zentralgewalt in Frankfurt auf ein Hilfsersuchen der badischen Regierung erklärte, dieser Bitte nicht entsprechen zu können, wurde sie von Karlsruhe gebeten, schleunigst bei der preußischen Regierung zu vermitteln, "damit durch diese der Reichsschutz für Baden geleistet werden möge."8 Gleichzeitig unterrichtete das badische Ministerium den Geheimen Legationsrat Karl Ludwig von Kamptz, der als Nachfolger Camphausens damals preußischer Bevollmächtigter bei der provisisorischen Zentralgewalt war, von diesem Schritt und bat ihn, seinerseits bei der Berliner Regierung alles für die Bewilligung dieser Hilfe zu tun. Die Möglichkeiten der· preußischen Politik sind durch die folgenden Faktoren gekennzeichnet. Einmal galt es, die klein- und mittel staatlichen Regierungen für den Anschluß an das Dreikönigsbündnis zu gewinnen und sie auf den von Preußen angestrebten Bundesstaat zu verpflichten; zum anderen konnte sich Preußen dem 6 Über die oft beschriebene Erhebung in Baden vgl. jetzt Willy Real, Die Revolution in Baden 1848/49, Stuttgart 1983; ergänzend darf hingewiesen werden auf: Willy Real, das Großherzogturn Baden zwischen Revolution und Restauration 1849-1851. Die Deutsche Frage und die Ereignisse in Baden im Spiegel der Briefe und Aktenstücke aus dem Nachlaß des preußischen Diplomaten Karl Friedrich von Savigny, Stuttgart 1983; künftig zitiert: Großherzogturn Baden. 7 Text der Proklamation in: Großherzogturn Baden, S. 22. 8 Badisches Staatsministerium an das Reichsministerium, 25. Mai 1849 (Großherzogturn Baden, S. 25); die Antwort des Reichsministeriums vom 26. Mai daselbst S. 26; das Staatsministerium an Kamptz, 25. Mai (S. 24).

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Hilfsbegehren einiger Staaten, vor allem der aus Karlsruhe geflohenen badischen Regierung, nicht versagen. Wenn es gelang, die in ihren legitimen Rechten eingeschränkten Fürsten mit preußischer Hilfe wieder einzusetzen, die Aufstände also niederzuschlagen, so konnte sich daraus für Preußen eine unerwartete Steigerung seiner Machtposition ergeben. Wenn in Baden etwas Ähnliches wie in Sachsen gelang, konnte Preußen für den geflohenen Landesherrn im deutschen Süden eine Position gewinnen, die unvergleichliche Möglichkeiten bot, von hier aus einen Plan durchzusetzen, der u. U. auch die Regierungen in München und Stuttgart in die Defensive gdrängt hätte. Jetzt, wo die provisorische Zentralgewalt außerstande war, dem Großherzog zu helfen, konnte Preußen in die Bresche springen und zugleich allen übrigen Regenten im deutschen Raum vor Augen führen, daß sie allein von ihm jene Hilfe zu erwarten hatten, deren sie in einer Zeit bedurften, wo die Respektierung des monarchisch-dynastischen Herrschaftsverständnisses keineswegs mehr selbstverständlich war. Die Gunst der Stunde verhieß moralische Eroberungen in einem Ausmaß, wie sie nicht jederzeit wiederholbar waren. In Berlin war man bereit, das große Wagnis auf sich zu nehmen. An dieser Stelle beginnt für Karl Friedrich von Savigny ein neues Kapitel seiner beruflichen Laufbahn. Für die Berliner Regierung bedurfte es keines besonderen Hinweises, auf ihn zurückzugreifen, sobald es zweckdienlich erschien. Als Friedrich August von Sachsen und seine Regierung vom Königstein aus die Hilfe Preußens erbaten, wurde Savigny in geheimer Mission dorthin entsandt, um an Ort und Stelle die Verwendung der preußischen Truppen zu klären. 9 Die Ereignisse waren nicht von überwältigender Dramatik. Am 9. Mai war der Aufstand zusammengebrochen. Schwieriger war die Lage in Baden. Der Großherzog, am 13. Mai zur Flucht gezwungen, hatte mit seiner Familie auf abenteuerlichem Wege über den Haardtwald, Germersheim, Hagenau und Saarbrücken zunächst Frankfurt erreicht und schließlich auf der Feste Ehrenbreitstein bei Koblenz eine sichere Zuflucht gefunden. Damals war Savigny gerade mit dringenden Aufträgen nach Frankfurt geschickt worden, um, wie er selbst formulierte, dem Reichsverweser den "Scheidebrief' zu überreichen, offenbar das Schreiben des Königs an Erzherzog Johann vom 26. Mai 1849. 10 Die Nationalversammlung befand sich in einem geradezu desolaten Zustand. Am 14. Mai hatte Preußen das Mandat seiner Abgeordneten für erloschen erklärt; am 20. hatten die Führer der Erbkaiserlichen die Versammlung verlassen; am 26. war die Verlegung der Versammlung nach Stuttgart beantragt worden; am 30. fand die letzte Sitzung in der Paulskirche statt, auf der die Verlegung nach Stuttgart beschlossen wurde, wo das Rumpfparlament am 6. Juni zusammentrat. All das macht verständlich, daß der Erzherzog auf 9 Friedrich Ferdinand Graf von Beust, Aus drei Vierteljahrhunderten. Erinnerungen und Aufzeichnungen, 2 Bde., Stuttgart 1887; hier Bd. I, 63, Anm. 10 Georg Küntzel, Briefwechsel zwischen König Friedrich Wilhelm IV. und dem Reichsverweser Erzherzog Johann von Österreich (1848-1850), Frankfurt 1924.

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Savigny den Eindruck eines müden, alten und resignierenden Mannes machte, der jetzt hilflos den Querelen in der deutschen Frage gegenüberstand. 11 Als dann die badische Regierung sich bei der Zentralgewalt vergeblich um Hilfe bemühte und der Reichsministerpräsident von Grävell auf Preußen verwies, das zur Hilfeleistung "bereit sein werde, da ihm, wie jedem Staate, an der Aufrechterhaltung und Herstellung der gesetzlichen Ordnung gelegen sein muß", war über Savignys nächste Mission schnell entschieden: vom 29. Mai ist die Instruktion datiert, die er für seine Verhandlungen mit dem Großherzog von Baden erhielt. 12 Graf Brandenburg lädt den Großherzog zum Anschluß an das Dreikönigsbündnis ein, um sich so auf dem einfachsten Wege die Unterstützung der Bundesgenossen zu sichern. Wenn Preußen sich seiner Bundespflicht zur Wiederherstellung der Ordnung in Baden auch dann nicht entziehen würde, wenn der Großherzog der Einladung zum Beitritt nicht zu folgen gedenke, so bleibe Preußen doch überzeugt, daß der Beitritt im wohlverstandenen Interesse des Landesherrn und seines Hauses liege. Denn damit gewinne er sofort eine gesicherte Stellung dem übrigen Deutschland gegenüber und trete "unmittelbar in die Selbsttätigkei seiner Regierungsgewalt zurück." Es läge, so hieß es weiter, im Interesse des Großherzogs, "sich nur mit solchen Männern in seinem Rate zu umgeben, welche Preußen und den anderen Bundesgenossen des badischen Hauses für ihre feste Gesinnung eine hinreichende Gewähr geben können." Brandenburg verfolgte zweierlei: Preußen durfte im eigenen Interesse im südwestlichen Deutschland keinen Unruheherd dulden; wer konnte schon absehen, wie schnell sich ein solcher Brand ausdehnte, und wer konnte garantieren, daß er nicht auch die nordwestlichen Teile der Monarchie erfaBte! Es stand auch das Konzept des Bundesstaates auf dem Spiel. Eine Bastion südlich des Mains konnte dem Bundesstaatsgedanken nur nützlich sein. Am 2. Juni erschien Savigny beim Großherzog. Die Verhandlungen, durch ein königliches Handschreiben günstig vorbereitet, verliefen zügig und in beiderseitigem Einvernehmen. Auf die preußischen Vorschläge eingehend, fertigte er die Vollmacht für seinen Legationsrat Meysenbug aus, in Berlin den Beitritt zum Bündnis vom 26. Mai zu vollziehen und das Großherzogturn im Verwaltungsrat zu vertreten. Er war bereit, sich mit Ausnahme des Generals Hoffmann von seinen bisherigen Ministern zu trennen und durch die Berufung Friedrich Adolf Klübers, Adolf Marschall von Biebersteins, Franz von Stengels, Stabeis und Roggenbachs auch personell jene Basis zu schaffen, auf der ein ersprießliches Zusammenwirken mit der preußischen Interventionsmacht zu erwarten war. 13 Brandenburg an Kamptz, 18. Mai 1849 (Huber, Dokumente, I, S. 349). Instruktion für Savigny vom 29. Mai 1849 in: Großherzogturn Baden, S. 27 f. 13 Der Großherzog hatte sich schon, nachdem die Zentralgewalt die Hilfe versagt hatte, über den Kopf seines unentschlossenen Ministers von Dusch hinweg an den König gewandt, wobei er sich des Geschäftsträgers Siegmund von Arnim und des badischen Legationsrats Wilhelm Rivalier von Meysenbug bediente. Der hervorragende Anteil des 11

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Großherzog Leopold war kein Mann eigener rascher Entschlüsse. Savignys Auftreten hat ihn zunächst offenbar in Verlegenheit versetzt. Der ihm schon von Jugend an befreundete Geheimrat Friedrich Adolf Klüber stand ihm in dieser Stunde noch nicht zur Seite. Aber sein Bruder Markgraf Maximilian und sein Sohn Prinz Friedrich waren zur Stelle, und der letztere, nach Savignys Bericht "ein sehr verständiger und tüchtiger junger Mann, der die Interessen seines Landes wohl kennt," hat seine Bemühungen nach Kräften unterstützt. Am 6. Juni konnte Savigny seinen Eltern frohlockend berichten: " ... Eines meiner Geschäfte ist mir ganz gelungen, und ich hoffe, man wird mit mir zufrieden sein. Intrigen gibt es hier die Menge. Preußen allein steht ganz rein da ..." 14 Was die Intrigen betrifft, so dachte er wahrscheinlich an die Versuche der Zentralgewalt, insbesondere des Ministers Jochrnus,15 die darauf hinausliefen, Baden zu veranlassen, österreichische, bayerische und württembergische Truppen statt der preußischen ins Land zu rufen. 16 Brandenburg war zufrieden. Die selbständige Intervention Preußens konnte beginnen. Das Oberkommando wurde dem Prinzen Wilhelm von Preußen, dem späteren König und Deutschen Kaiser, übertragen. Ihm unterstanden die beiden Armeekorps des Generals von Hirschfeld und des Generalleutnants von der Groeben. Zentralgewalt und Reichsverweser blieben ausgeschaltet, wobei freilich eine nicht unbedenkliche Einschränkung zu machen ist: trotz der Erklärung des Reichsministeriums, zu einer militärischen Hilfeleistung nicht imstande zu sein, hatte das Reichskriegsministerium ein der Reichsgewalt unterstehendes Armeekorps, das sogenanne Neckarkorps, aufgeboten und dem - preußischen - Generalleutnant Eduard von Peucker den Oberbefehl übertragen. Außer einem kleineren letzteren als Vertrauensmann Leopolds sowie des Ministers Klüber an der Gestaltung der badischen Politik gegenüber Preußen und der Union tritt aus den Korrespondenzen in dem Nachlaß Savignys deutlich hervor. Aus der Zusammenarbeit ergaben sich auch freundschaftliche Beziehungen zwischen Meysenbug und Savigny. Zu allem vgl. F. Meinecke, Radowitz und die deutsche Revolution, Berlin 1913, S. 315 ff. sowie Wilh. Friedr. Schill, Baden und die preußische Unionspolitik, Heidelberg 1930, passim. Zu den hier genannten Personen vgl. Großherzogturn Baden, S. 29 f. 14 Savigny an seine Eltern, 6. Juni 1849 (Nachlaß, S. 420). 15 August Frhr. v. Jochmus (1808-1881), bis 1848 in englischen und türkischen Diensten, von Mai bis Dezember 1849 Reichsaußen- und Marineminister, 1866 österreichiseher Feldmarschalleutnant. 16 Vgl. Meinecke, S. 316 und Schill, S. 38. Danach sollte der Großherzog das Bündnis mit Preußen hinausschieben und die preußischen Truppen nur als Bundestruppen behandeln und sie nur in zweiter Linie verwenden. In einem späteren Bericht an Radowitz erinnert Savigny an die Intrigen des Erzherzogs Johann, als dieser durch Abgesandte des Ministers Jochmus den Großherzog zu einer Transaktion mit dem badischen Revolutionär Lorenz Brentano veranlassen wollte, um den Einmarsch der Preußen zu hintertreiben. Am 5. Juni berichtet Savigny dem Unterstaatsekretär von Bülow, nach einer ihm soeben von Peucker zugegangenen Mitteilung stelle Österreich 17 000 Mann der Zentralgewalt als Reichstruppen unter dem österreichischen General Karl Fürst zu Schwarzenberg zur Verfügung. 10 000 Mann aus Italien seien für die Besetzung des Breisgaues vorgesehen; weitere 7 000 Mann bewegten sich aus Böhmen auf die bayerische Grenze zu (Nachlaß, S. 421).

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preußischen Kontingent gehörten ihm fast ausschließlich süddeutsche Truppen an. Es war als sicher anzunehmen, daß Peucker mit dem Prinzen von Preußen vertrauensvoll kooperierte oder sich gar als seinem Befehl unterstehend betrachtete. Indes konnten Reibungen mit dem Reichskriegsministerium dieserhalb nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Wenn auch Preußen unter keinen Umständen als "Beauftragter der provisorischen Zentralgewalt" in Erscheinung treten wollte, so konnte nichts darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei der bevorstehenden Intervention um ein zwe~gliedriges Unternehmen handelte: um die Operationen der beiden preußischen Korps und um diejenigen des Neckarkorps. Ob sich hier Konflikte ergaben, lag letztlich an den beiden Oberbefehlshabern selbst. Es war zu erwarten, daß der ihnen gemeinsame Wertbegriff "Preußen" alle Mißhelligkeiten ausschloß. Die nächsten Wochen haben diese Vermutung bestätigt. Zunächst sollte Savigny noch einen anderen Auftrag ausführen: von Koblenz und Frankfurt kommend, sollte er über Gotha und Weimar reisen, um auch hier für den Beitritt zum Bündnis vom 26. Mai zu werben. 17 Die Gespräche brauchen nicht näher dargelegt zu werden. Die Interessen dieser Staaten wiesen ohnehin nach Norden. Savigny ist seiner Aufgabe schnell und in vollem Umfange gerecht geworden. Das diesen Auftrag enthaltende Schreiben Bülows eröffnete ihm noch ein ungleich wichtigeres Feld. "Ich habe aber noch andere Pläne mit Ihnen, verehrtester Freund," schrieb Bülow, "ich wünsche sehr, Sie dem Prinzen von Preußen als politischen Ratgeber und Organ des Verkehrs mit uns beigegeben zu sehen. Graf Brandenburg ist damit einverstanden, aber die Sache ist noch nicht fertig, da man doch auch dem König davon sagen muß. Jedenfalls suchen Sie Ihre Geschäfte in G. und W. so bald als möglich zu endigen und kommen Sie dann rasch her. Habe ich die Sache bis dahin in Ordnung, so können Sie dann gleich dem Prinzen nachreisen." 18 Es gibt im menschlichen Leben Augenblicke, die sich dem rückschauenden Betrachter wie unverwechselbare Orientierungspunkte darstellen und in ihrer unwiederholbaren Einmaligkeit von schicksalhafter Bedeutung - im guten wie im bösen Sinne - sein können. Hier gibt es nichts zu revidieren oder zu korrigieren; es erweist sich erneut, wie zuweilen an dünnen Fäden schwere Gewichte hängen. Nicht immer ist dem Menschen dabei die Entscheidung überlassen, hier die eine oder die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen. Oft überfällt ihn die Gunst oder Ungunst der Stunde, der er nicht ausweichen kann, sondern der er gerecht werden muß, indem er durch die persönliche Bindung an ihr Gesetz im Willen sich frei weiß zu eigener Tat. Als der Legationsrat von Savigny jetzt in das Hauptquartier des Prinzen von Preußen entsandt wurde, sollte sich für den Diplomaten solch eine zukunfts bestimmende Situation ergeben. Bülow an Kamptz, 6. Juni 1849 (Nachlaß, S. 419). Bülow an Savigny, 10. Juni 1849 (Großherzogtum Baden, S. 36 f.). Mit gleichen Aufträgen sollte er auch die Herzöge von Sachsen-Altenburg und Sachsen-Meiningen aufsuchen. Die dabei zu überreichenden Beglaubigungsschreiben (Sans-Souci, 10. Juni) befinden sich im Familienarehiv. 17 18

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Er war kein unerfahrener Neuling seines Berufes mehr, aber er war auch noch nicht alt genug, um sich ausschließlich in den vorgezeichneten Bahnen des preußischen Beamtenturns zu bewegen. Die inneren und äußeren Voraussetzungen für die Durchführung dieser Mission konnten nicht günstiger sein. Das große Thema hieß Wiederherstellung der legitimen Ordnung und Immunisierung Deutschlands, insbesondere Preußens, gegen alle Kräfte des Umsturzes und des Aufbegehrens. Träger des Unternehmens sollte Preußen sein, das die Krise des letzten Jahres überwunden und die Demütigung der Krone zu vergessen sich angeschickt hatte. Ansehen und Geltung konnten sich heben, wenn es einem deutschen Fürsten half, die ihm entwundene Herrschaft zurückzugewinnen. In jenen Monaten, als der König und seine Minister sich zuweilen bereit fanden, den demokratischen Tendenzen nachzugeben, hatten sich seine Hoffnungen und die Hoffnungen seiner Freunde immer wieder auf den Prinzen von Preußen gerichtet, von dem man erwartete, daß er in der Lage sei, die Unruheherde auszulöschen. Savigny hat für den großen Emanzipationsprozeß des Jahrhunderts, der aus den Untertanen freie, verantwortungsbewußte Staatsbürger zu machen suchte, nur ein begrenztes Verständnis gehabt. Was sich jetzt im deutschen Südwesten abzuzeichnen begann, war ihm eine unabweisliche Notwendigkeit. Daß der Prinz von Preußen mit dieser militärischen Aufgabe betraut wurde, erfüllte ihn mit Stolz. Daß er daran mitzuwirken aufgerufen wurde, sollte für ihn der Auftakt zu einem unverlierbaren Erlebnis werden. Von den thüringischen Höfen nach Berlin zurückgekehrt, wurde Savigny angewiesen, sich umgehend als "Kommissar des Staatsministeriums" oder, wie er selbst sagte: als Zivilkommissar in das Hauptquartier des Prinzen Wilhelm zu begeben. Am 20. Juni traf er in Germersheim bei der Armee ein. Er, der einzige Zivilist in dieser ihm ungewohnten Umgebung, wurde vom Prinzen loyal und zuvorkommend empfangen. Viele Zeugnisse belegen, daß er verstanden hat, sich schnell zurechtzufinden, das Vertrauen aller Angehörigen des Stabsquartiers zu gewinnen und vor allem im Verkehr mit dem Prinzen jenen von Zurückhaltung, Offenheit und Respekt gekennzeichneten Ton zu finden, der gerade im Umgang mit ihm geboten war. Der Prinz strahlte Würde, Autorität und Loyalität aus, und Savigny hat sich, Distanz beobachtend, stets auf Befragungen wartend und dann mit umfassender Aktenkenntnis klug beratend, darauf einzustellen gewußt. Er hat sich nie in militärische Entscheidungsprozesse einzumischen versucht und in seinem Schriftwechsel mit Brandenburg und Schleinitz stets betont, daß sein diplomatischer Auftrag ihm verbiete, auf diesem Felde irgendwie hervorzutreten. Seine Vorgesetzten in Berlin und die Kollegen, mit denen er weisungsgemäß Verbindungen zu pflegen hatte, haben nicht gezögert, die Gewissenhaftigkeit und die Präzision seiner Berichte zu loben. Was an Aufgaben auf ihn zukam, hat er mit fleiß und Umsicht auf sich genommen. Private Korrespondenzen wurden nur aufrechterhalten, soweit es die Pflichten des Tages erlaubten. Am 27. Juni schreibt er den Eltern, er sei bis jetzt ständig auf dem Marsch, und selbst die beiden ersten Ruhetage seien für ihn Tage der Arbeit gewesen. Jetzt

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seien die Schleusen geöffnet, die bisher zwischen der Annee und dem Ministerium verstopft waren. Den ganzen Tag habe er vorzutragen und zu schreiben gehabt, und in dem Augenblick, da er diese Zeilen zu Papier bringt, sei es schon lange nach Mitternacht. 19 Dennoch bleibt festzustellen: keinen dienstlichen Auftrag, der ihm je zuteil geworden ist, hat er mit einem ähnlichen Enthusiasmus auf sich genommen wie diesen. Hier geht es ihm darum, in den Grenzen seines Aufgabenbereichs mitzuwirken, einen vertriebenen Landesherrn in seine legitimen Rechte wiedereinzusetzen und damit jenen Ordnungsprinzipien zu dienen, deren Unantastbarkeit ihm für die Aufrechterhaltung der politisch-gesellschaftlichen Zustände unentbehrlich erscheinen. Hier sieht er eine Möglichkeit, das zerschundene Antlitz Preußens zu heilen und mitzuhelfen, es einem neuen, hochgemuten Ziele entgegenzuführen. Das alles sollte sich vollziehen unter den Augen jenes Prinzen von Preußen, der für ihn der Inbegriff aller politischen Wertmaßstäbe ist und in dem sich alle Zukunftshoffnungen wie in einem Brennspiegel vereinigen. Mitzuknüpfen am Teppich der preußisch-deutschen Zukunft, darin sieht er seine Aufgabe. "Von einem bloßen Berichterstatter bin ich zu einem faiseur geworden, und das in einem militärisch- politischen Hauptquartier," schreibt er den Eltern, "es klingt lächerlich, und doch ist es so, da mir in den meisten Fragen die Initiative zugefallen ist. Dienstliche Freuden habe ich die Menge gehabt, mit Anerkennung von Berlin bin ich überschüttet worden. Der Prinz beweist mir bis jetzt unbegrenztes Vertrauen, und hier in Baden konsultieren mich der Großherzog, die Großherzogin, die Prinzen und die Minister. Der Kreis der diplomatischen Korrespondenz erweitert sich ..." 20 Als der Großherzog bei seinem Einzug in Karlsruhe dem Prinzen von Preußen seinen Dank ausspricht, wendet er sich an Savigny mit den Worten: "Die Stunde, wo ich Sie habe kennen lernen, bleibt mir unvergeßlich." Er meint die Begegnung auf Ehrenbreitstein. Die Pflichten des Tages erfüllen ihn ganz. Unterstützt von dem legitimistisch gesinnten Geheimrat Schaaff,21 den Klüber ihm als bevollmächtigten Generalkommissar beigegeben hatte, löst er alle anfallenden Aufgaben reibungslos. Da geht es um Arrestationen, um die Behandlung von Gefangenen, um die Überwachung der Eisenbahn- und Postverbindungen, um die Entwaffnung der Einwohner, um die teilweise Suspendierung der Presse in Karlsruhe, Mannheim und Heidelberg, um die Überprüfung der Beamtenschaft und um vieles andere mehr. Wie kompromißlos er dabei vorgeht, kann vielleicht aus keiner Äußerung so deutlich entnommen werden wie aus den Worten, die er in einem Bericht nach 19 Savigny an seine Eltern, 27. Juni (Familienarchiv). Er schildert, wie für ihn der Tag mit dem Morgengrauen beginnt und er noch nach dem Abendessen dem Prinzen Vortrag halten muß. Mehrere Gefechte habe er bereits aus nächster Nähe miterlebt. 20 Savigny an seine Eltern, August 1849 (Nachlaß, S. 446). 21 Friedrich Theodor Schaaff, streng konservativ eingestellter badischer Geheimer Rat, wurde am 27. Juni Generalkommissar im Hauptquartier des Prinzen von Preußen, später dem General von Schreckenstein zugeteilt.

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Berlin gebraucht und bei anderen Gelegenheiten mehrmals variierte: " ... Wenn ich mir gestatten darf, mein eigenes Gefühl auszusprechen ... so haben wir jetzt die ganze Verantwortlichkeit eines Vormundes seinem Mündel gegenüber im Verhältnis zu Baden." Das klingt ungelenk, aber es kennzeichnet die Situation, und zahlreich sind die Rückäußerungen aus Berlin, die ihn in seiner Auffassung bestätigen. 22 Als besonders schwierig erweist sich, den Bestrebungen all derer entgegenzutreten, die in ihrer preußenfeindlichen Haltung nicht zögern, mit den ihnen eigentlich feindlichen radikalen Demokraten in Verbindung zu treten. Vieles sprach dafür, daß diese hierbei vom Reichsverweser und Rechberg, dem österreichischen Vertreter in Frankfurt, unterstützt wurden. Als der Freiburger Jurist Franz Josef Buss, der als Nicht-Theologe der dortigen theologischen Fakultät angehört, im Odenwald unter Ausnutzung seines Ansehens einen preußenfeindlichen Aufruf verteilen läßt, macht Schaaff auf Anweisung Savignys den Erzbischof darauf aufmerksam, wie sehr es doch seine Pflicht sei zu ermahnen, sich nach der mit preußischer Hilfe gelungenen Wiederherstellung der rechtmäßigen Ordnung nicht auf preußenfeindliche Demonstrationen einzulassen. In Berlin regte Savigny an, einen geeigneten Publizisten zu entsenden, dessen Aufgabe es zu sein hätte, entsprechende Korrespondenzen im Großherzogturn zu verbreiten. Wenige Tage nach der Niederwerfung des Aufstandes sollte sich auch Savignys dienstliche Stellung verfestigen. Am 30. Juli kann Schleinitz ihm die Ernennung zum "Wirklichen Legations- und Vortragenden Rat in der politischen Abteilung des Ministeriums der Auswärtigen Angelegenheiten" mitteilen. 23 In seinen Funktionen ändert sich damit freilich nichts, auch nicht, als bald darauf der Prinz zum Militärgouverneur in der Rheinprovinz und Westfalen mit dem Sitz in Koblenz ernannt wird. Savigny selbst bleibt einstweilen in Karlsruhe. 24 Mit der Stabilisie22 Am 6. Juli schrieb ihm Bülow nach einem Wort des Dankes und der Zufriedenheit mit seinen Berichten: " ... Den Versuch des Reichsministeriums, uns mit einer österreichischen Kooperation zu beglücken, halte ich für einen Frankfurter Bluff ... Hauptsache aber ist, daß Sie die badische Regierung fest in Händen behalten, damit sie uns nicht etwa falsches Spiel treibe und unter der Hand die Österreicher einlade. Sie muß vielmehr eventuell protestieren, wenn sie mit uns ehrlich ist. Sonst fehlt uns unser Fundament, denn wir können für uns kein Recht in Anspruch nehmen, Baden allein zu okkupieren, und wenn sie dort mit der Zentralgewalt und Österreich tripotieren wollen, so können sie uns alles verderben. Daß es kein Mittel gibt, diesen Schatten von Zentralgewalt in Frankfurt loszuwerden, ist meine Verzweiflung." (Großherzogturn Baden, S. 107). Damit sprach Bülow das Kemproblem an: als Legitimationsbasis für ein Eingreifen verfügte man in Berlin nur über das Hilfsersuchen der Regierung. Berlin leitete daraus das Recht ab, die in Baden gewonnene Stellung mit keiner anderen Instanz teilen zu müssen, auch nicht mit der Zentralgewalt. 23 Schleinitz an Savigny, 30. Juli 1849; sein wortreiches Dankschreiben vom 7. August befindet sich im Familienarchiv. 24 Savigny an seine Eltern, 4.,9. und 13. September 1849 (Familienarchiv). Am 19. September schreibt er: " ... was aus mir wird, weiß ich noch nicht. Doch bin ich gar nicht ungeduldig, sondern zufrieden, daß ich hier etwas Tüchtiges leisten kann. Dazu bietet sich die Gelegenheit täglich."

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rung der Verältnisse in Baden entschloß sich die Berliner Regierung, sich dort wieder mit einem Gesandten vertreten zu lassen. Kein anderer als Savigny kam dafür in Betracht. Es gereiche ihm zum besonderen Vergnügen, schrieb Schleinitz ihm, "E. H. ergebenst benachrichtigen zu können, daß Allerhöchstdieselben in Anerkennung der Umsicht und des unermüdlichen Diensteifers, welche von Ihnen während Ihrer letzten Anwesenheit im Großherzogturn Baden im Gefolge Sr. K. H. des Prinzen von Preußen bestätigt worden und wodurch Sie sich das Vertrauen Sr. K. H. des Großherzogs sowie der Großherzoglichen Behörden in hohem Maße zu erwerben gewußt, auf meinen Vorschlag die gedachte Mission Ihnen zu übertragen geruht und dabei bestimmt haben, daß E. H. auch fernerhin dergestalt in einem amtlichen Verhältnisse zu Sr. K. H. dem Prinzen von Preußen verbleiben sollen, daß Höchstderselbe durch Sie von allen Ereignissen im Großherzogtum vollständig in Kenntnis gesetzt und darin ununterbrochen erhalten werden. 25 Der Ankündigung folgte am 7. November die Ernennung; am 3. Dezember überreichte Savigny dem Großherzog sein Beglaubigungsschreiben. "Was den mir zuteil gewordenen Auftrag betrifft," so sagte er hierbei, "so fühle ich mich durchdrungen von der Ehre meines Berufes, die Bande der engsten Freundschaft und Allianz zwischen den erlauchten Häusern von Preußen und Baden, so weit ich kann, zu wahren und zu befestigen. Gestärkt und gehoben für diese Aufgabe fühle ich mich durch die hohe Gnade und das unschätzbare Wohlwollen, von dem mir E. K. H. so viele Beweise in meiner früheren Stellung bereits gegeben haben. Dieselbe Gnade mir zu erhalten, wird mein eifrigstes Bestreben sein. Im Dienste meines Herrn werde ich mich beeilen, jedem Auftrage und jedem Wunsche zu entsprechen, mit dem mich E. K. H. in meiner neuen Stellung beehren wollen." Das klang verheißungsvoll und entsprach ganz den freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Höfen. Für Savigny war es die generöse Antwort auf seine dem König geleisteten Dienste. Gesandter zu sein und Exzellenz zu heißen, war nach den Maßstäben jener Zeit keine Äußerlichkeit, sondern Ausdruck einer Heraushebung aus dem vielgestaltigen königlichen Dienst. Damit ergab sich auch die Möglichkeit, seine privaten Angelegenheiten auf längere Sicht zu planen. Er übernimmt das Haus des kurz zuvor nach Turin versetzten österreichischen Gesandten Rudolfvon Apponyi. Was ihm an Meublement fehlt, kauft er in Straßburg und anderen Orten zusammen. Sein Arbeitszimmer sei ein wahres Kleinod, schreibt er den Eltern und freut sich über die reiche Vergoldung, die Spiegel und Marmorplatten, die Weitläufigkeit seiner Bleibe, 25 Schleinitz an Savigny, 4. November 1849 (Großherzogtum Baden, S. 392); seine Ansprache vom 3. Dezember dort S. 400. Mit dem Amt war ein Dienstgehalt von 8 000 Talern verbunden. Wenn Meysenbug sich später rühmt, daß er Savignys "Ernennung nach Kar1sruhe zu sollizitieren hatte", so dürfte das kaum zutreffen. Es bedurfte eines solchen Hinweises nicht (Meysenbug an Savigny, 9. April1851, Großherzogtum Baden,

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über die Atmosphäre, die er sich hier schaffen kann. 26 Allmählich wird sein Haus auch zu einem gesellschaftlichen Mittelpunkt. Der russische Gesandte Johann von Ozeroff gehört zu seinem Freundeskreis wie der Herzog von Bassano, der Vertreter Frankreichs, oder der General von Schreckenstein, der Oberbefehlshaber der in Baden stehenden preußischen Truppen. Mit dem Prinzen von Preußen verbindet ihn seit dessen Übersiedlung nach Koblenz ein reger brieflicher Gedankenaustausch, und wenn der Prinz sich gelegentlich in Karlsruhe ansagt, übernimmt er gern alle erdenkliche Mühe der Betreuung. 27 Hinter der freundlichen Fassade türmt sich freilich eine in ihrem Rhythmus unberechenbare Fülle von Pflichten. Er sieht sich davon so sehr in Anspruch genommen, daß er, wie er dem Vater bekennt, oft tagelang keinen Schritt vor die Tür setzen kann. Über allem steht dabei als erstes Gebot, was er seinem Freunde Hatzfeldt schreibt: "Hier in Baden müssen wir uns die Hegemonie in Deutschland erfechten ..." Er weiß, daß vor allem von Österreich Gefahren drohen und in seinem Kielwasser mit zunehmender Geradlinigkeit sich Bayern und Württemberg bewegen. Immerhin hatte Leopold bei seiner ersten Wiederbegegnung mit dem Grafen Apponyi die Hoffnung ausgedrückt, daß Österreich bald wieder freie Hand bekommen möge, um für Deutschland das zu sein, "was es war und sein muß." Aber der Landesherr hatte dabei auch hervorgehoben, wie loyal der Prinz von Preußen seine delikate Aufgabe erfülle, und nicht gezögert, dem Gesandten gegenüber auch seinem Minister Klüber als Verfechter einer auf Preußen ausgerichteten Politik sein besonderes Vertrauen zu bekunden. Apponyi hat Savigny oft und heftig kritisiert. Er empfindet seine und Siegmund von Arnims Sprache als anmaßend und ist entrüstet über Savignys Äußerung, daß Preußens Ehre es verlange, auf dem einmal eingeschlagenen Weg weiterzugehen und Baden, namentlich Rastatt nicht aufzugeben. 28 Er vermerkt mit Genugtuung 26 Im Vergleich zu dem repräsentationsbedürftigen Apponyi nimmt sich Savigny dennoch recht bescheiden aus. Den ihm zugeteilten Attache Friedrich Eichmann läßt er mit in seinem Hause wohnen. Wiederholt taucht der Gedanke auf, sich zu verheiraten, so am 13. Dezember. Am 26. Dezember schreibt er: " ... Was mir fehlt, ist eine Frau, und dafür sollte Mutter füglieh sorgen." Und am 20. Januar 1850: " ... Findet sich einmal eine gute Gelegenheit, mich zu verheiraten, so ergreife ich sie mit Freuden. Mir bangt es ordentlich vor dem alten Gar90nleben." (Sämtliche hier zitierten Briefe im Familienarehiv). 27 Savigny an die Eltern, 26. Dezember 1849,20. Januar und 20. März 1850 (Familienarehiv). Im Januar gab Savigny zu Ehren des Prinzen einen Ball, zu dem das Großherzogspaar und der ganze Hof erschienen. In seiner relativ kleinen Wohnung ein Fest für dreihundert Personen zu geben, das zudem in drei Tagen arrangiert werden mußte, sei wahrlich mühevoll gewesen, aber es sei alles über Erwarten gut verlaufen, schreibt er. Die Großherzogin habe ihm zum Dank und Andenken ihr Porträt geschickt (an die Eltern, 30. Januar 1850). Am 3. Dezember heißt es: "Ozeroffs sind mir stets herzliche und treue Freunde, mein täglicher Umgang und eine zweite Familie." (Nachlaß, S. 602 f.). Auch mit dem Herzog von Bassano, "einem bescheidenen, guten Menschen", verbindet ihn eine enge Freundschaft. 28 Am 3. September berichtet Apponyi nach Wien, die badischen Minister führten zwar die Verwaltung, aber die Regierung leite der Prinz von Preußen und der ihm

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die Aussage des Obersten von Krieg, derzufolge Leopold die Richtigkeit der badischen Politik bezweifle und den preußischen Schutz als lästig empfinde. Aber Klüber, so fügt Apponyi hinzu, der nur nach den Einflüsterungen Savignys handle, ersticke jede derartige Regung. Badens Beitritt zur Union sei sein Werk, das er durch die völlige Unterwerfung unter Preußens Oberhoheit zu vervollständigen suche. Es bedeutete für Savigny keine Erleichterung seiner Stellung, als Apponyi nach Turin versetzt wurde. Auch Eugen von Philippsberg, sein Nachfolger, stand als Vertrauensmann Schwarzenbergs ganz und gar in der Tradition der österreichischen Diplomatie. Indes hält das Leben auch für Savigny freundlichere Seiten bereit. Viele eigenhändige Mitteilungen des Prinzen und manch undatierte Billets der Prinzessin Augusta an ihn spiegeln das Vertrauen wider, das man ihm in Koblenz entgegenbringt. Augusta gewährt ihm Einsicht in mehrere Niederschriften, in denen sie von Zeit zu Zeit ihre politischen Ansichten niederlegt, und erbittet sich seine Gegenäußerungen und gegebenenfalls seine Korrekturen. Mit Peucker, der jetzt als preußischer Kommissar in der Bundeszentralkommission wirkt, verbindet ihn eine enge Freundschaft, die sich auch auf den Sohn überträgt, der ihm als junger Attache in der Karlsruher Gesandtschaft zur Seite steht. Das gleiche gilt auch von dem allmählich alternden Schreckenstein , der jetzt zu seinen engsten Freunden zählt. Mit Hatzfeldt unterhält er wie eh und je einen regen Gedankenaustausch. Ihm vertraut er sich immer wieder an. Ihm gegenüber entwickelt er zuweilen offen seine Anschauungen von der politischen Lage in Deutschland. Man werde den Augiasstall in Frankfurt reinigen, heißt es da, und die Zügel der Politik nicht wieder schleifen lassen. Versammlungen sollten sich nicht wie in der jüngsten Vergangenheit eine Souveränität anmaßen. Man werde die Rechte aller deutschen Fürsten unter preußischem Schutz zu wahren wissen, aber "die heißhungrigen Könige im Süden und Norden bekommen nichts zum Verspeisen ..." Im Kreise der in Karlsruhe akkreditierten Diplomaten nimmt er geradezu eine Sonderstellung ein. Ferdinand von Verger, sein bayerischer Kollege, nennt ihn einmal den "Kurator Badens" und dürfte damit der Wirklichkeit nahe gekommen sein. Wie hoch man Savigny in Berlin einschätzte, zeigt eine Tagebucheintragung Leopold von Gerlachs vom 3. Dezember 1849. 29 Hier erwägt dieser die beigegebene Legationsrat von Savigny, dessen Einfluß allmächtig sei. - Eine günstige Aufnahme findet Apponyi bei der Großherzogin Sophie. Sie beklagte in einer ihm am 24. August gewährten Audienz, daß der Großherzog und seine Umgebung in preußischen Händen sei, mehr als man sich eingestehe. Sie wolle dahin wirken, daß man in Baden mit der Zentralgewalt nicht breche, aber sie müsse eingestehen, daß ihr Einfluß gleich null sei (Schönberg-Mskr.). 29 Leopold von Gerlach, Denkwürdigkeiten, hrsg. von seiner Tochter, Bd. I, S. 387. Das bestätigt auch ein Brief von Savignys Mutter an den Sohn vom 25. Dezember 1849. Bismarck habe ihr berichtet, man habe sich über das bisherige Ministerium nicht geeinigt. Gerlach aber, dem Bismarck diese Nachricht verdanke, werde die Absicht zugeschrieben, "er möchte Dich gern zwischen( durch) verbrauchen, bis Er (wohl Gerlach selbst) möglich wird; auch Ähnliches, denke Dir, sagte er von (Marcus) Niebuhr." (Schönberg-Mskr.).

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Möglichkeit, ein neues Ministerium vorzubereiten, und er denkt dabei an ArnimHeinrichsdorff und seine Freunde, wolle man sich nicht noch weiter nach rechts orientieren, nämlich zu Savigny und Bernstorff. (!) Trotz mancher Freundlichkeiten seines amtlichen Daseins muß Savigny nach allen Richtungen hin auf der Hut sein. Er weiß, wie eifrig die Zentralgewalt und Österreich nach Wegen suchen, Baden aus der Verbindung mit Preußen herauszulösen und damit letztlich die Union zu sprengen. Im ganzen gesehen, klingen seine ~erichte über die weitere Entwicklung im Großherzogtum um die Jahreswende 1849/50 jedoch eher günstig. Zwar wird der Kriegszustand dort noch aufrechterhalten, aber unverkennbar tritt im Lande mit der Zeit eine Beruhigung ein. Die religiösen und kirchlichen Verhältnisse hatten sich stabilisiert. Die Ergänzungswahlen zu den Kammern hatten eine regierungsfreundliche Tendenz erwiesen. Im badischen Oberland hatte die demokratische Fraktion Soiron keinen ihrer Kandidaten durchbringen können, und selbst Buss, der "ultramontane großdeutsche Agitator", hatte in seinem Wahlbezirk Waldshut keinen Erfolg gehabt. Die damals gerade eingeleiteten preußischen Verfassungsänderungen, die sogenannten vierzehn Propositionen Manteuffels,30 die auf eine Stärkung der Regierung und der Position des Adels, auf die Erhaltung der Fideikommisse u. a. m. zielten, fanden in Baden ein günstiges Echo. Neben den besitzenden Mitte1schichten begannen nun auch die größeren Grundbesitzer zunehmend ihre Hoffnungen auf Preußen zu setzen. Es sei Preußen gelungen, so konnte Savigny zusammenfassend berichten, seine Allianz zur konservativen Ausheilung des Landes einzusetzen, so daß es nicht möglich sein dürfte, der gouvernementalen Politik eine noch konservativere gegenüberzustellen. Dennoch sollte das Jahr 1850 zum eigentlichen Krisenjahr des preußisch-badischen Verhältnisses werden. Die Mißhelligkeiten traten nicht sofort auf; vor allem waren sie nicht auf allen Ebenen zu erkennen. Noch saß Klüber fest im Sattel, namentlich in der Zweiten Kammer fand er seinen Rückhalt. Weite Kreise der einstigen Liberalen unterstützten ihn, einmal, weil sie wie er kein Wiederaufleben der revolutionären Umtriebe wünschten, und zum anderen, weil sie von ihm noch am ehesten eine Begünstigung ihres Gothaer Progamms erwarteten. Hier war der Wille, die großherzogliche Regierung in ihrer Politik der Anlehnung an Preußen zu unterstützen, zunächst ungebrochen. Ludwig Häusser, der Heidelberger Historiker, war der Sprecher dieser Kräfte; er und seine Freunde galten in der Kammer als Schrittmacher einer Militärkonvention mit Preußen, und die in Umrissen erkennbare Vorstellung eines gegen den preußischen Bundesstaatsgedanken gerichteten Vierkönigsbündnisses wurde von ihnen nicht geteilt. Man nahm hier auch mit Genugtuung zur Kenntnis, daß Louis Napoleon sich wiederholt billigend über die deutsche Politik 30 Es handelt sich um jene zusätzlichen Änderungen der im Dezember 1849 von beiden Kammern verabschiedeten Verfassungsrevision, durch die der König das Werk zum Abschluß brachte. Am 6. Februar 1850 leistete der König das lange umstrittene eidliche Gelöbnis. Bei aller Begünstigung der vorkonstitutionellen Kräfte trat Preußen damit endgültig in die Reihe der Verfassungsstaaten.

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Preußens geäußert hatte und die als "eifrige Preußin" bekannte Großherzogin Stephanie ebenfalls auf ihrer Seite stand. Noch im März 1850 versicherte Klüber dem preußischen Gesandten, daß Baden, falls Preußen seine Politik mit den Waffen verteidigen müsse, an seiner Seite stehen werde, und zwar nicht als passiver Schutzbefohlener, sondern als Bundesgenosse mit einer von Preußen und in Preußen reorganisierten Streitmacht. Das klang insgesamt recht verheißungsvoll; dennoch war nicht zu übersehen, daß schon unmittelbar nach der Niederwerfung des Aufstandes für Preußens Stellung in Baden ernste Gefahren drohten. Da hatten sich die militärischen Operationen schwieriger gestaltet, als erwartet wurde. Zwar lobt Savigny den Geist der Truppe und den Mut der Offiziere und ist auch erfreut darüber, daß die Bevölkerung sie allenthalben als Befreier begrüßt hatte. Aber für die nächste Zukunft war damit noch nicht viel gewonnen. Savigny sucht sich zunächst über alles zu informieren, was die preußischen Interessen und die deutsche Politik berührt. Er unterhält eine Vielzahl von Kontakten mit preußischen und außerpreußischen Kollegen, mit den Gesandten in Paris, München und Stuttgart, nicht weniger aber auch mit den Stellen in Frankfurt und Bern, und schon sieht er an allen Ecken die Gefahren heraufziehen. Da existiert immer noch die Zentralgewalt, die Preußen nicht mehr anerkennt, der Reichsverweser, der doch endlich zurücktreten soll, die Ungewißheit über die weitere Festigung des Dreikönigsbündnisses und die Konstituierung des Bundesstaates, das von Österreich unterstützte und von Bayern und Württemberg angestrebte Vierkönigsbündnis. Im Mittelpunkt steht dabei sein Bemühen, das Kabinett Klüber an der Seite Preußens zu halten, den Großherzog gegen alle Beeinflussungen und Intrigen abzuschirmen, das Staatsministerium bei der Neufundamentierung der politischen Verhältnisse zu unterstützen. Die Liquidierung des Aufstandes wirft sofort schwierige Fragen auf: wie soll man mit der Eidgenossenschaft verfahren, die bei der Ausweisung der Führer der Insurgenten und der Entlassung der politischen Flüchtlinge sowie bei der Rückgabe des badischen Fiskaleigentums eine Haltung zeigt, die über kurz oder lang zu einem schweren Konflikt führen muß? Erscheint es für diesen Fall zweckmäßig, die badisch-schweizerische Grenze zu sperren oder gar die nördlichen Kantone zu besetzen? Dahin zielende Erwägungen wurden damals angestellt. Daß hier neben der Haltung Österreichs vor allem auch diejenige Frankreichs von äußerster Wichtigkeit war, ging aus zahlreichen Pariser Berichten hervor. Ähnlich schwierig stellte sich die kriegs- und standgerichtliche Ahndung der Vergehen der Insurgenten dar. Baden verfügte noch nicht über ein wiedererstandenes Militär und daher auch nicht über eigene Kriegsgerichte. Konnten aber von den preußischen Gerichten auf badischem Boden noch nach dem Abschluß der Kampfhandlungen Urteile ausgesprochen und vollstreckt werden, ohne daß die Bevölkerung hierin willkürliche Anmaßungen einer fremden Besatzungsmacht erkannte? War hier nicht allein aus Rücksicht auf das Ministerium Klüber eine schnelle und kluge Entscheidung erforderlich? Ein Weiteres kam hinzu: das am 8 Real

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Rande des finanziellen Zusammenbruchs taumelnde Großherzogtum war immer weniger imstande, für die Kosten der noch andauernden Besatzung aufzukommen. War es klug, daß Preußen die dem Großherzog aus den Einkünften der Zollunion zustehenden Gelder für die Begleichung dieser Verpflichtungen für sich reklamierte? Die Reihe der Savigny bedrängenden Fragen scheint endlos. Die Stimmung im Lande, die Aktionen und Reaktionen der Kammern, das Verhalten der Presse und anderes mehr hat er in Denkschriften und ausführlichen Korrespondenzen analysiert und mit entsprechenden Anregungen versehen. Seine Adressaten sind der König und der Prinz von Preußen, Schleinitz und Brandenburg, Radowitz und Peucker. Von allen hat er hierzu vielerlei Lob erfahren. 31 All diese Probleme verknoten sich bald zu der einen entscheidenden Frage: Wird es gelingen, den Großherzog und sein Kabinett an der Seite Preußens zu halten? Savigny hat alles getan, Intrigen in der Umgebung Leopolds, ja in der großherzoglichen Familie selbst zu entlarven, Mißtrauen zu bannen, den die preußische Politik vertretenden Kräften gegen hintergründige Bestrebungen am Hof und im diplomatischen Korps den Rücken zu stärken. Als dann später mit der Entlassung Klübers und der Berufung Rüdts die badische Politik ins Zwielicht geriet, hat er sich unentwegt um die Klärung der neuen Horizonte bemüht und keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, welche Folgen sich aus dieser Neuorientierung für Baden ergeben konnten. Hier war er ein Mann der Härte und des Widerspruchs. Die Ignorierung des Reichsverwesers und der Zentralgewalt hat er mit unerbittlicher Konsequenz praktiziert. Wo es erforderlich war, hat er Klüber kompromißlos unterstützt. Wo er beim Großherzog ein Abweichen von der badisch-preußischen Linie witterte, scheute er sich nicht, mit dem hohen Herrn "Fraktur zu reden". Als von eidgenössischer Seite der Wunsch laut wurde, den Flüchtlingen und sogar den Rädelsführern Amnestie zu gewähren, hat er sich mit äußerster Entschlossenheit dagegen gewehrt. Als er in der Frage der Auslieferung des in die Schweiz verbrachten Kriegsmaterials und Fiskalgutes von der Meinung Ludwig von Wildenbruchs, 32 des preußischen Geschäftsträgers in Bern, abwich, hat er seinem Widerspruch den deutlichsten Ausdruck verliehen. Als es sich darum handelte, eine geeignete Persönlichkeit als Regierungskommissar in das Hauptquartier des Prinzen delegiert zu bekommen, hat er nicht nachgelassen, bis Klüber ihm den Geheimrat Schaaff entsandte. Daß der Großherzog den Wunsch hegte, möglichst bald in seine Residenz zurückzukehren, hat Savigny nicht abgehalten, seine Bedenken zu formulieren und erst dann seine Rückkehr zu empfehlen, als die letzte Unsicherheit ausgeräumt war. Unerbittlich war er auch in der Anwendung des Kriegs- und Standrechts. Die strengste Handhabung 31 Für die Würdigung seiner Berichterstattung ist die Dokumentation "Großherzogtum Baden" unentbehrlich. 32 Ludwig von Wildenbruch (1804-1874), Sohn des bei Saalfeld gefallenen Prinzen Louis Ferdinand von Preußen, damals Geschäftsträger in Bem, 1850/52 Gesandter in Athen, dann bis 1857 in Konstantinopel.

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der Kriegsartikel schien ihm geboten, aber wo er konnte, suchte er die preußischen Instanzen auszuklammern und die Verantwortung den Badenern zu überlassen. Wo sich Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Prinzen und der Berliner Zentrale abzeichneten, wie etwa in der Frage der Verlegung der neu aufzustellenden badischen Streitkräfte in preußische Garnisonen oder der Verrechnung der Besatzungskosten, hat er den Standpunkt des Prinzen unterstützt, wie denn sein Verhältnis zu den Schaltstellen des Regierungsapparates eher korrekt zu nennen ist und von kühler Reserve gekennzeichnet, während er zu seinen Berufskollegen wie etwa Hatzfeldt in Paris oder Thun in Stuttgart oder auch zu Peucker und Schreckenstein viel unbefangenere Beziehungen unterhielt. Über allem aber stand für ihn der Prinz von Preußen. Er war für ihn die Verkörperung des Staatswesens, der Bürge für eine Regeneration nach einer Phase der Demütigung. Zu ihm blickte er auf wie zu einer Feuersäule, die den Weg in die Zukunft wies, und zwar nicht etwa nur, weil er in ihm den zukünftigen Träger der Krone sah. Der Prinz hat den Diensteifer Savignys mit einem hohen Maß von Vertrauen beantwortet, und noch nach Jahren blieb ihm bewußt, daß Savigny es war, über den auch die ersten zarten Fäden der Verbindung seiner Tochter Luise mit dem inzwischen zum Großherzog von Baden aufgestiegenen Prinzen Friedrich liefen. Dem Gesandten wurde bald deutlich, daß die Vorgänge in Baden die deutsche Frage in ein neues Stadium rücken konnten, insofern als sich hier erneut eine Möglichkeit bot, den preußischen Plan eines Bundesstaates voranzutreiben. In einem von ihm geschriebenen, wenn auch nicht unterschriebenen Promemoria 33 suchte er sich Rechenschaft von der Gesamtlage der deutschen Angelegenheiten zu geben, und in der Folge hat er immer wieder in Denkschriften, zusammenfassenden Berichten oder kürzeren Reskripten der Regierung beratend zur Verfügung gestanden, wie er umgekehrt die ihm dienstlich und außerdienstlich zugehenden Informationen mit großer Aufmerksamkeit verfolgte. 34 Bülow hatte die preußischen Vertretungen angewiesen, um einen reibungslosen Informationsfluß auch untereinander bemüht zu sein. Hatzfeldt sollte wichtige Nachrichten unmittelbar an Savigny gelangen lassen; Thun in Stuttgart, Bockelberg in München, Sydow in Bern sollten ähnlich verfahren, wie andererseits auch Savigny seine Kollegen von den Entwicklungen im Großherzogturn auf dem laufenden zu halten hatte. 33 Promemoria betL die Sendung des Prinzen von Preußen (Großherzogturn Baden, S. 32 ff.), 10. Juni 1849. Die Diktion und die auf einem beiliegenden Zettel vorhandenen eigenhändigen Bemerkungen lassen erkennen, daß Savigny der Verfasser ist. 34 Der erste wichtigste Bericht ist Savignys "Genera1bericht" vom 30. Juni 1849, ferner seien genannt: Savigny an Brandenburg, 7. Juli 1849; Promemoria die Schweiz und das Fürstentum Neuenburg betreffend, o. J. (Sommer 1849); Promemoria die Stellung Preußens betreffend, o. D. (Sommer 1849); Denkschrift die Frage der politischen flüchtlinge betreffend, 8. August 1949; Promemoria Rastatt betreffend, 15. August 1849; Savigny an Sch1einitz, 10. Januar und 31. März 1850; Promemoria, o. D. (Frühjahr 1850); ferner Radowitz, Denkschrift in betreff der Politik Preußens in der deutschen Frage, 12. Juni 1849; Promemoria eines badischen Verwaltungsbeamten über die Lage im Großherzogturn, 19. Juni 1849; Peucker, Promemoria Rastatt betreffend, 19. August 1849; sämtlich in ,,Nachlaß" und in "Großherzogtum Baden."

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Derartige Informationskanäle waren um so wichtiger, als auch da zahlreiche Fragen heranreiften, die ein Zusammenwirken aller erforderten: die schleppende und gegen die Interessen Badens gerichtete Behandlung der Flüchtlingsfrage seitens der Eidgenossenschaft, die Ausweisung der Insurgenten und ihrer Anführer, ihre Durchreise und etwaige Weiterreise bis in die Vereinigten Staaten, die Rückführung der Militärpferde und des sonstigen Staatsgutes. Wenn zuweilen preußische Gegenaktionen wie eine Grenzsperre oder gar die vorübergehende Besetzung der Nordkantone erwogen wurden, so konnte sich daraus eine Krise entwickeln, in der die Haltung Österreichs und Frankreichs von besonderer Bedeutung sein mußte. Andererseits gehörte es zu den traditionellen Verpflichtungen der Eidgenossen, Flüchtenden zu helfen. Was aber geschah, wenn diese von schweizerischem Gebiet aus ihre Aktionen wiederaufzunehmen suchten? Völkerrechtlich verbindliche Zusagen waren aber wohl nur im Einvernehmen mit Österreich und Frankreich durchzusetzen. Von Schwarzenberg war hier wenig Entgegenkommen zu erhoffen, und Napoleon dachte nicht daran, um der badischen Wünsche willen sein eigenes, in die Zukunft gerichtetes Konzept zu gefährden. Für Preußen kam erschwerend hinzu, daß immer wieder auch die Neuenburger Frage damit gekoppelt war und daß auf schweizerischer Seite keine einheitliche Linie verfolgt wurde, daß es innerhalb der Kantone unterschiedliche Auffassungen gab und die Berner Zentrale darauf Rücksicht zu nehmen hatte. Schließlich waren auch die preußischen und badischen Auffassungen nicht völlig deckungsgleich. Savigny, Wildenbruch und Sydow wichen wiederholt voneinander ab, und die badischen Unterhändler Marschall von Bieberstein und Christian Freiherr von Berckheim ließen zuweilen eine Haltung erkennen, die auf preußischer Seite Bedenken erregte. 35 Savigny warnte davor, vorzeitige Entscheidungen zu treffen und den Eidgenossen irgendwie entgegenzukommen. Er sah keine Veranlassung, ihnen etwas von der schweren finanziellen und materiellen Last der Versorgung der Insurgenten abzunehmen. Vielleicht leitete ihn hierbei der Gedanke, daß die Schweiz die historischen Rechte seines Königs in der Neuenburger Frage mißachtete. 36 35 Rudolf von Sydow (1818-1874), preußischer Diplomat, 1847/50 Gesandter in Bem, später in Stuttgart, Kassel und Frankfurt, streng kirchlicher Protestant, stand unter dem Einfluß seiner konvertierten Gemahlin (einer geborenen Günderode) allen katholischen Belangen sehr wohlwollend gegenüber. - Friedrich August Frhr. Marschall von Bieberstein (1804-1888), Mitglied der badischen Ersten Kammer, Regierungsdirektor in Freiburg. - Christian Frhr. von Berckheim war badischer Diplomat, u. a. Geschäftsträger in Bem. 36 Das seit 1504 in Neuenburg regierende Haus OrJeans-Longueville war 1707 ausgestorben. Die Nachfolge fiel auf Friedrich I. von Preußen, der sich auf Lehensbefugnisse berufen konnte, die vom Hause Chalon auf die Hohenzollem übergegangen waren. Im Friedensvertrag von Utrecht anerkannte Ludwig XIV. von Frankreich die Souveränität des Königs von Preußen. In der Zeit Napoleons mehrere Jahre französisch, wurde das Fürstentum 1814 Kanton der Eidgenossenschaft, blieb jedoch weiterhin Fürstentum der Hohenzollem. Als 1848 die Neuenburger Patriotenpartei die Republik ausrief, war abzusehen, daß die Hohenzollem schon bald auf ihre Rechte verzichten mußten.

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Savigny spürte - er war meistens nur auf Vermutungen angewiesen - , wie sehr die Stellung Preußens namentlich von österreichischer Seite untergraben wurde. Der Nachfolger des Grafen Apponyi, Legationsrat von Philippsberg, hörte nicht auf, vor allem im badischen Oberland Mißtrauen gegen Preußen zu wecken. Savigny nennt ihn "hochtrabend gegen Mindere und Schwache, unsicher gegen jene, die er fürchtet, ränke süchtig gegen alle, wenn es sich um sein Ich handelt, begrenzt in seinem Verstand und taktlos im Umgang mit seinesgleichen." Zwar drang von derlei Äußerungen kaum etwas an die Öffentlichkeit, aber Philippsberg verfügte über vielerlei Verbindungen zu den höheren Gesellschaftsschichten; es war nicht abzuschätzen, wie weit er ihn damit in Mißkredit brachte, von der Wirkung seiner Berichterstattung in Wien ganz abgesehen. 37 Was sich in der Stille des Hofes abspielte, blieb ihm weithin verborgen. Wenn wir einem Bericht Philippsbergs vom 15. April glauben wollen, so hatte dieser eine vermutlich von Krieg vermittelte Unterhaltung mit der Großherzogin Sophie, in der er sich bitter über Klüber und Savigny beklagte. Danach hätte es Auseinandersetzungen zwischen ihr einerseits und dem Großherzog und Klüber andererseits gegeben. Wenn letzterer nicht nachgebe, so müsse er, so die Großherzogin, entlassen werden, und der Großherzog wolle all das noch einmal überdenken. Das waren noch keine wirklichen Entscheidungen, aber die Vorgänge beweisen, welche Wege man in Wien unter Umständen zu gehen bereit war. Die Orientierungspunkte hießen Philippsberg, Krieg und Großherzogin Sophie. Leopolds Entschlüsse reiften nur langsam. Er war kein Mann befreiender Entscheidungen, dafür aber den Einflüsterungen geschickt vorgehender Berater um so eher zugänglich. Als der Prinz von Preußen, einer Anregung Savignys folgend, sich zu einer Truppeninspektion in Karlsruhe ansagte - es sollte ihm dabei auch ein neu aufgestelltes badisches Regiment vorgestellt werden - , hatte der Großherzog auf Drängen seiner Gemahlin auch Krieg aus Baden-Baden zu sich beordert. Dieser nutzte die Gelegenheit: Leopold möge sich vor vollendeten Tatsachen hüten und die Truppen nicht außer Landes, d. h. nach Preußen schicken, sondern sich Österreich wieder nähern, denn dann brauche er auch Bayern und Württemberg nicht zu fürchten. Somit war die Gesamtlage in Karlsruhe ernster einzuschätzen, als dies nach Savignys allzu günstig klingenden Berichten angenommen werden durfte. Die österreichische Einladung an alle Bundesstaaten, sich zu Verhandlungen über das ablaufende Interim in Fankfurt einzufinden, hatte auch in Karlsruhe ihren Eindruck nicht verfehlt. Freilich strebte man hier eine Verständigung noch im Einvernehmen mit Preußen an. Für Leopold ergab sich daraus, vorerst dem Rufe 37 Nach außen blieb die bisherige Konstellation in Karlsruhe gewahrt. So versammelte der Großherzog am 13. April 1850 mit Savigny die höheren preußischen Offiziere an seiner Tafel in der Absicht, wie Savigny schreibt, den Gerüchten entgegenzutreten, die wegen der noch nicht vollzogenen militärischen Vereinbarung und der gespannten Lage in der deutschen Politik über die Haltung Badens verbreitet waren (Savigny an Schleinitz, 13. April 1850; Großherzogtum Baden, S. 536 ff.).

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des Königs von Preußen nach Berlin zu folgen, wo die Haltung der Unionsstaaten zu den österreichischen Vorschlägen geklärt werden sollte. Reibungslos ist auch dieser Entschluß in Karlsruhe nicht gefaßt worden. Philippsbergs Berichten zufolge eröffnete Krieg ihm am 4. Mai im Auftrage des Großherzogs, daß er künftig als persönlicher Verbindungsmann Leopolds beim Vertreter Österreichs zu dienen habe, wovon jedoch weder Klüber noch Savigny etwas wissen dürften. (!) Philippsberg habe alsdann über Krieg dem Großherzog die österreichischen Depeschen mit der Einladung nach Frankfurt zugehen lassen und bereits eine Stunde später durch Krieg erfahren, daß Leopold mit ihm die eventuellen Folgen eines Ministerwechsels und somit eines Bruches mit Preußen besprochen habe. Der Großherzog, so hieß es weiter, würde "Gott danken, wenn er endlich den Prinzen von Preußen und die lästigen Gäste hätte loswerden können." Österreichische Truppen in Rastatt und im übrigen Lande seien ihm tausendmal lieber als preußische. Bahnte sich damit nicht eine für Österreich günstige Entwicklung an? Wenn Klüber und Leopold nach Berlin reisten, hatte Marschall von Bieberstein in Frankfurt die neuen Möglichkeiten auszuloten. Savignys Schwanken zwischen Argwohn und Vertrauen zehrte an seinen Kräften und war doch verständlich angesichts der widersprechenden Eindrücke, die täglich auf ihn zukamen. Der Großherzog war zutiefst erschüttert über das Pistolenattentat, das Sefeloge am 22. Mai auf den König von Preußen verübt hatte. 38 Ein Ministerrat, der über die Instruktion seines Bevollmächtigten zu der außerordentlichen Bundestagssitzung in Frankfurt zu befinden hatte, brachte seine Auffassung auf die Formel "Badens Schicksal im Falle eines ernsten Konflikts ist in größerer Sicherheit in trauter Verbindung selbst mit einem unglücklichen Preußen als wie im Anschlusse an ein glückliches Österreich". 39 Und schließlich wurde der Jahrestag der Befreiung des Landes durch preußische Truppen festlich begangen. Das war die eine Seite. Andererseits war aus der Instruktion für den Bevollmächtigten zu den Frankfurter Beratungen eine deutliche Zurückhaltung gegenüber den von Preußen namens der Union aufgestellten Vorbedingungen zu entnehmen. Bei der Analyse stoßen wir immer wieder auf Philippsberg, der sich durch eine für ihn ergebnislos verlaufene Unterredung mit dem Großherzog - ergebnislos, weil Leopold "in zu weit getriebenem Dankbarkeitsgefühl gegen Preußen" befangen sei - vom 7. Juni nicht entmutigen ließ. Schon am folgenden Tage konnte er über eine neue Unterredung mit der Großherzogin in Baden-Baden berichten: derzufolge hat Leopold seine Anhänglichkeit an das kaiserliche Haus betont und versichert, er habe nie an den Plan einer Teilung Badens geglaubt und sich auch in Berlin zu nichts verpflichtet; er wolle eine Mittelstellung zwischen Österreich und Preußen einnehmen, aber er nehme auch Klüber gegen den Vorwurf einer einseitigen Hinneigung zu Preußen in Schutz; für den Augenblick könne er auf eine Änderung seines Ministeriums nicht eingehen. 40 38Immediatbericht an den König, 8. Juni 1850 (Großherzogtum Baden, S. 566 ff.). 39 Siehe vorige Anmerkung!

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Schwarzenberg war entschlossen, die sich hier andeutenden Möglichkeiten zu nutzen. Er ließ dem Großherzog ein Schreiben überreichen, das ein Angebot militärischer Hilfe durch das in Bregenz stehende österreichische Korps enthielt. Es wurde bald Gegenstand eines langen Gesprächs, an dem auch die Großherzogin teilnahm. Hierbei hat diese offenbar angeregt, das Angebot als offizielles Angebot auch an Klüber gelangen zu lassen, um einen Anlaß zu dessen Abberufung zu haben. Aber noch schweigt der Fürst; er äußert zwar sein Unbehagen über einen in Aussicht stehenden Besuch des Prinzen von Preußen, über die Anwesenheit des preußischen Generalstabs im Karlsruher Schloß, über das rücksichtslose Auftreten mancher preußischer Generale, aber ein Entschluß wird noch nicht gefaßt. Was Savigny hiervon berichtet, entbehrt der letzten Zuverlässigkeit: 41 die Großherzogin, unstet in ihren Gedanken und unermüdlich gegen ihren Gemahl arbeitend, soll dem Einfluß des berüchtigten Moritz von Haber unterliegen, eines politischen Agenten, der die österreichischen Interessen begünstigt. Auch auf anderen Kanälen sollen preußenfeindliche Einflüsse ins Schloß gelangen. Prinz Emil von Hessen wäre da ebenso zu nennen wie der ehemalige Reichsgesandte von Drachenfels. Der bayerische Gesandte von Verger soll angewiesen sein, ähnlich zu verfahren. Hessen und vor allem Hannover sollen in ihrem Entschluß bestärkt werden, den badischen Truppen den Durchzug durch ihr Territorium zu verweigern. Der sächsische Diplomat Karl Friedrich von Vitzthum, damals in Wien wirkend und mit den dortigen Ambitionen sehr vertraut, berichtet am 14. Juli: " ... Die preußische Union ist in das letzte Stadium getreten; die Schwindsucht ist durch das Erfurter Parlament zu einer galoppierenden geworden. Selbst in Baden zeigen sich - trotz Savigny - die ersten Symptome einer bevorstehenden Emanzipation. Der Großherzog hat unter der Hand wissen lassen, Savigny drohe mit dem Abzug der preußischen Truppen, falls man das Ministerium wechsle und die badische Armee nicht auf die hohe Schule nach Brandenburg senden wolle. Auf die Frage, was man tun solle, habe man österreichischerseits dem Großherzog geantwortet, er möge die Preußen nur ziehen lassen; es würden sich schon andere Truppen finden, um die Ordnung im Großherzogtum zu erhalten."42 Vitzthum berichtet, wie er ausdrücklich hinzufügt, unter Vorbehalt, aber alle Zeugnisse belegen das Geflecht der Fäden, die zwischen dem badischen Hof 40 Noch weiter ging Krieg: danach soll Leopold wegen des Truppenausmarsches nach Preußen, der angeblich ohne seine Kenntnis zwischen Savigny, Klüber und dem zum Generalstab der preußischen Rheinannee gehörenden badischen Oberst Gustav Kuntz vereinbart worden war, seinem Minister Klüber eine heftige Szene gemacht haben. Schwarzenberg habe recht, Klüber einen Verräter zu nennen, wenn er gegen österreichischen Protest die Truppen ausmarschieren lasse. Als Klüber dem Großherzog Treulosigkeit vorwarf, habe dieser ihn schweigen geheißen und gesagt: "Über das Abfallen werden wir noch sprechen", er brauche Klüber nicht; es sei auch schon von Rüdt und Andlaw als Ersatz gesprochen worden. 41 Savigny an Schleinitz, 4. Juli 1850 (Großherzogtum Baden, S. 578), Moritz von Haber, Bankier zweifelhafter Observanz, stand in dem Ruf, österreichiseher Agent zu sein. 42 Vitzthums Bericht im Schönberg-Mskr.; vgl. auch Großherzogtum Baden, S. 581.

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und den Gegnern Preußens gesponnen wurden. Ob es klug von Savigny war, damals als einziger Diplomat in Karlsruhe zu verbleiben, während fast alle seine Kollegen dem Hoflager nach Baden-Baden folgten, mag dahingestellt sein. In Karlsruhe stand er zwar in engster Verbindung mit den Ministem - mißgünstige Diplomaten sprachen spöttisch von einem Ministerium Klüber-Savigny - aber der Großherzog war in der vornehmen Sommerresidenz den Einflüssen unkontrollierbarer Kräfte ausgesetzt, und nur er konnte seinen dirigierenden Minister entlassen. Savignys optimistische Beurteilung der Gesamtlage erscheint im Grunde schwer verständlich. 43 Wollen wir Philippsberg glauben, so trug der Großherzog schon einen förmlichen Absagebrief an den König von Preußen sowie die bereits formulierte Entlassung Klübers mit sich herum, ohne freilich den Mut zu haben, ihn schon abzuschicken. Philippsberg fügt entschuldigend hinzu, der Großherzog müsse behutsam vorgehen, da sein engeres Gefolge zu Preußen hielte und alles dem Prinzen von Preußen und Savigny berichte. In Wirklichkeit war damals an eine Konkretisierung der dem Landesherrn unterstellten Absichten noch nicht zu denken. Die Anwesenheit des Prinzen in den ersten Augusttagen erleichterte es der Regierung sogar, nach dem Beispiel Preußens die österreichische Einladung zu der Wiederbelebung des Frankfurter Bundestages abzulehnen. Klüber hat die Ablehnung mit dem Hinweis begründet, daß durch die Beschlüsse vom 12. Juli 1848 (damals hatte der Bundestag seine Befugnisse der provisorischen Zentralgewalt übertragen) der Bundestag aufgehoben und nicht nur zeitweilig außer Tätigkeit gesetzt sei. Die Regierungen seien demnach in ihre ursprünglichen Rechte wieder eingetreten und zu freien Vereinbarungen befugt. 44 Dieser bei näherer Prüfung ungünstigen Gesamtlage muß man sich erinnern, will man die enormen Schwierigkeiten verstehen, denen sich Savigny bei der Lösung der Kernfragen ausgesetzt sieht. So ergaben sich bei der strafgerichtlichen Verfolgung der in preußische Hände gefallenen Aufständischen von Anfang an überaus ernste Komplikationen. Dabei handelte es sich um teils badische, teils preußische Untertanen. Ein badisches Kriegsgericht stand vorerst nicht zur Verfügung. War aber erst einmal der Aufstand niedergeworfen, so verbreitete sich mit dem zeitlichen Abstand in der Bevölkerung die Meinung, daß preußische Kriegsgerichte sich wie unerbetene Fremdkörper eingenistet hatten, um über Leben und Tod badischer Untertanen zu Gericht zu sitzen. Auf preußischer Seite verkannte niemand die Notwendigkeit eines strengen Durchgreifens, aber man schreckte doch vor dem Odium zurück, in dem Lande, dem man Ordnung und 43 Savigny, Immediatbericht an den König, 16. Juli 1850 (Großherzogtum Baden, S. 591 f.). - Als hätte er Schlimmes geahnt, äußerte sich der Prinz von Preußen am 26. Juli zu seiner Gemahlin: "Viel kommt noch auf Baden an. Seine Lage ist sehr schwierig. Preußen wird aber offen sich gegen dasselbe aussprechen ... Wird der Großherzog alsdann sein Land mit uns verlassen? Das ist die Frage, die er entscheiden muß und die Savigny und ich ihm vorlegen müssen." (Paul Bailleu / Georg Schuster, Aus dem literarischen Nachlaß der Kaiserin Augusta, Bd. I [1822-18501, Berlin 1912, S. 437; ein 2. Band ist nicht erschienen). 44 Klüber am Philippsberg, 6. September 1850 (Großherzogtum Baden, S. 622 f.).

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Freiheit zurückzubringen versprochen hatte, als letztgültige Instanz aufzutreten. Hinzu kam, daß die badischen und preußischen Strafbestimmungen voneinander abwichen - die badischen Kriegsartikel sahen z. T. schwerere Strafen vor. Daß es zudem zwischen dem preußischen Oberkommando und dem Kriegs- und lustizministerium zu Meinungsverschiedenheiten kam, geht aus den Quellen deutlich hervor, ebenso deutlich auch, daß Savigny hier die strenge und dennoch flexiblere Linie des Prinzen vertrat. In einem ausführlichen Schreiben an den Ministerpräsidenten hat er die Möglichkeiten des gerichtlichen Vorgehens dargelegt. 45 Danach ergaben sich deren drei: 1) badische Kriegsgerichte nach badischen Gesetzen entscheiden zu lassen, 2) preußische Kriegsgerichte nach preußischen Gesetzen und 3) preußische Kriegsgerichte nach badischen Gesetzen. Die erste Möglichkeit schied aus den bereits angedeuteten Gründen aus. Die zweite, an die auch der badische lustizminister zunächst gedacht hatte und wobei er sich von den Behörden seine Landes unterstützt sah, veranlaßte Savigny zu erheblichen Einwendungen. "Es konnte nicht unsere Absicht sein," schrieb er an Brandenburg, "dieses Odium der badischen Regierung abzunehmen, damit sie hernach die Früchte einer strengen Rechtsübung erntend alle Klagen auf uns werfen könne. Sie müßte vielmehr auch bei dieser Gelegenheit fühlen, daß sie mit uns stehe und falle. Diesen Gesichtspunkt machte ich daher auch in einem Gespräch mit dem großherzoglichen lustizminister ... geltend. Derselbe trat mir dann durchaus bei, und das Ergebnis unserer Beratungen war, daß es am angemessensten sei, den dritten der von mir oben gehorsamst erwähnten Wege einzuschlagen. Es würde dieses namentlich in der Art geschehen, daß das großherzogliche Staatsministerium ... sich an S. K. H. den Prinzen von Preußen mit der Bitte wendet, preußische Kriegsgerichte an die Stelle der badischen geneigtest treten zu lassen, um unter höchster Genehmigung im Auftrage der badischen Regierung die badischen Kriegsgesetze in Ausführung zu bringen. In dieser Behandlung der Sache scheint meiner unmaßgeblichen Meinung nach ein dreifacher Vorteil zu liegen: 1) wird dadurch die badische Regierung für das ganze strafrechtliche Verfahren verantwortlich, 2) bleibt die Anwendung der Gesetze in den zuverlässigen Händen unserer eigenen Offiziere, 3) kommt die badische materielle Gesetzgebung in Anwendung, die noch weiter geht als die preußische." Der Brief ist auch insofern aufschlußreich, als er Savignys persönliche Einstellung zu Baden erkennen läßt. Vorurteilslos wägt er ab - nicht aus Gründen der Sympathie für das Großherzogturn, sondern ausschließlich nach dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit für Preußen. Baden war für ihn nur ein Vorfeld preußischer Interessenpolitik - nicht weniger, aber auch nicht mehr. In Baden und im besonderen in Rastatt hatten sich ganze Truppenverbände den Aufständischen angeschlossen und sich damit als die eigentlichen Träger der Erhebung verstanden. Die Vorgänge widersprachen jeder bisherigen Klassifizierung. Die Härte der Reaktion Savignys erscheint daher letztlich verständlich. 45 Savigny an Brandenburg, 13. Juli 1849 (Großherzogtum Baden, S. 142 f.; hier auch zahlreiche weitere Dokumente dazu).

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Es entsprach auch der Schwere der Krise, daß der Großherzog und sein Ministerium, nachdem sich das erste Entsetzen durch das Eingreifen Preußens gelegt hatte, nur in einem völligen Neuaufbau der Truppe eine Möglichkeit sahen, für die Zukunft ähnliche Katastrophen zu verhindern und dem Großherzogturn im Kräftefeld der deutschen Politik eine angemessene Position zu erhalten. Für Leopold hieß das, seine Armee auch formell aufzulösen und sie in strenger Auslese neu aufzustellen und auszubilden. Um auch für die Zukunft keinerlei Rückfalle befürchten zu müssen, sollten für die Übergangszeit Ausbildung und Erziehung der Truppe durch preußische Offiziere in preußischen Garnisonen erfolgen. Der Prinz von Preußen vor allem hat diesen Plan entwickelt und sich mit der ganzen Autorität seiner Stellung für seine Verwirklichung eingesetzt. Über das vordergründig Soldatische der Ausbildung und der absoluten Gehorsamsschulung zielte das Konzept weit hinaus. Wenn es gelang, das badische Militär nach Aufbau und Erziehung auf einen Kurs festzulegen, der einer Integration in die preußische Heeresstruktur nicht unähnlich war, dann war eine Lösung des Großherzogturns aus der Union und damit eine Schwächung des preußischen Bundesstaatsgedankens im deutschen Südwesten nahezu ausgeschlossen. Zudem kam es Klüber darauf an, nichtpreußische Truppenverbände aus dem Großherzogturn herauszumanövrieren oder wenistens auf ein unvermeidbares Mindestmaß - wie etwa in der Bundesfestung Rastatt - zu reduzieren. Die Zusammenarbeit beim Neuaufbau der badischen Streitkräfte verlief zunächst verheißungsvoll. Daß die Verhandlungen in Berlin geführt wurden, berührte den Einsatz und die Bemühungen Savignys in keiner Weise. "Preußen", so schrieb Savigny am 7. Juli an Brandenburg, "ist bei dem gegenwärtigen Zustande in ganz Europa einzig und allein in die entscheidende Lage gedrängt, entweder kühn vorwärts zu gehen und sich mit der Hegemonie von ganz Deutschland den ersten Platz zu sichern oder über seine neuere Geschichte sinnend zurückzutreten in das Verhältnis einer Macht zweiten Ranges. Möge die Hoffnung von allen wahren Patrioten in Deutschland nicht getäuscht werden! Sie rechnen auf Preußens tapferes Schwert und seinen edlen König ... "46 Er ist unermüdlich, in Gesprächen, Sondierungen und Berichten für diese Gedanken zu werben. Daß es bei den Verhandlungen über die Dislozierung der neu aufgestellten badischen Truppen bald zu Meinungsverschiedenheiten wegen der Aufrechnung der Kosten gegen die in Baden stehenden preußischen Truppen kommt, erscheint ihm trotz der bedenklichen finanziellen Situation des Großherzogturns zunächst nicht einmal entscheidend. Einen viel ungünstigeren Eindruck auf den Landesherrn und seine Regierung macht die unverblümt bekundete Verdächtigung, die badischen Truppen könnten auch noch sechs Monate nach ihrer Aufnahme in Preußen nicht als hinreichend verwendungsfahig angesehen werden. Die Betroffenheit auf badischer Seite saß tief. Man glaubte alles getan zu haben, um in den neuen Verbänden jene Erinnerung an das "schmachvolle Benehmen eines großen Teils der früheren 46

Savigny an Brandenburg, 7. Juli 1849 (Großherzogtum Baden, S. 107).

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badischen Truppen" getilgt zu haben. Hier sieht Savigny eine bedenkliche Belastung des preußisch-badischen Verhältnisses heraufziehen. Ihr zu begegnen, ist er fest entschlossen. Er erläutert den Berliner Stellen, wie gänzlich unangefochten gerade das Offizierskorps aus dem Ehrengericht hervorgegangen und niemand im Dienst verblieben sei, der in irgendeiner Weise die Treuepflicht gegen den Landesherrn verletzt hatte. "Die Offiziere," so schreibt er, "gehen an das schwierige Werk der Reorganisation ... in dem frohen Bewußtsein, daß sie die alte Ehre der badischen Truppen wiederherzustellen berufen seien." Diesen neuen Soldaten glaube die Regierung nicht zumuten zu können, "daß sie, bloß um überwacht zu werden, nach dem Auslande ziehen." Das großherzogliehe Staatsministerium habe daher beschlossen, den bevorstehenden Abmarsch nach Preußen zu sistieren; aber es rechne noch mit einer Modifikation der Berliner Entscheidung. Savigny weist auf die besondere Bedeutung Badens im gesamten politischen Kalkül Preußens hin, das erschüttert werde, wenn dieser Eckstein herausbreche. An dem ehrlichen Willen des Großherzogs und seiner Ratgeber dürfe man nicht zweifeln, aber man dürfe den Weg Badens auch nicht unnötig erschweren. "Ist man gewillt in Berlin," so schreibt er, "die große Aufgabe, welche sich Preußen zum Heile von ganz Deutschland gestellt, durchzuführen, so darf man wahrlich ein kleines finanzielles Opfer, um welches es sich doch bei der sechsmonatigen Nichtberechnung handeln würde, nicht scheuen, wenn es noch dazu gilt, für Preußens zukünftige Heeresmacht einen Zuwachs zu erhalten von der Bedeutung, welche Badens Kontingent gewähren muß ... Der Abmarsch der ersten badischen Truppen nach Preußen war das Pfand, welches vor den Augen von ganz Deutschland und Europa gegeben werden sollte für die unauflösliche Verbindung der badischen Interessen mit den unsrigen. Daher die in vielen Intrigen zutage gekommene Absicht unserer politischen Gegner, diesen Abmarsch aufzuschieben oder womöglich zu verhindern, eine Absicht, die an dem ernsten Eifer Sr. K. H. des Prinzen von Preußen sowie an dem redlichen Willen des Großherzogs und seiner preußisch gesinnten Ratgeber völlig zu scheitern schien ... Und jetzt sollen plötzlich alle diese Vorbereitungen in Stillstand geraten, in einer Zeit also, wo es gilt, rasch zu handeln, um nicht überflügelt zu werden? ... Deutschland würde darin ein Aufgeben unseres bisherigen engen Verhältnisses zu Baden erkennen wollen, und in Baden entstünde von neuem der Zweifel, ob das Losungswort für sein künftiges Geschick denn wirklich ausschließlich von Berlin zu erwarten sei. Die Stellung des gegenwärtigen badischen Ministeriums ist, solange diese Frage in der Schwebe bleibt, ernstlich gefährdet."47

47 Savigny an Schleinitz, 9. März 1850 (Großherzogturn Baden, S. 473 ff.). Vgl. auch Peucker an Savigny, 11. März und Telegramm an Sch1einitz vom gleichen Tage (S. 480 f.). Ferner: Prinz von Preußen an Savigny, 12. März (S.481); Schleinitz an Peucker, 16. März; Savigny an Schleinitz, 17. März; Prinz von Preußen an Savigny, 18. März; Savigny an Prinz von Preußen, 18. März 1850 (Großherzogturn Baden, S. 488491).

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In diesem erregenden Kapitel badisch-preußischer Beziehungen waren der Prinz und Savigny völlig einer Meinung. Was das Unionsprojekt betraf, davon waren beide überzeugt, war hier vieles zu gewinnen, aber auch alles zu verlieren. Die militärische Regeneration Badens, so hoffnungsvoll begonnen, sollte mit einer tiefgehenden Entfremdung enden. Solange es sich noch um Rastatt handelte, um die Besetzung der dortigen Führungspositionen und um die Stärke und Aufteilung der hierfür vorgesehenen Kontingente, verlief die Zusammenarbeit noch reibungslos. Der österreichische Anteil wurde auf ein Mindestmaß reduziert, und der Versuch, die Stellung Österreichs durch die Begünstigung bayerischer Truppen zu stärken, scheiterte in der Bundeszentralkommission am Widerstand der preußischen Vertreter. Letztlich entscheidend wurde die von Berlin angestrebte Lösung der Frage der Besatzungskosten. Nach preußischer Auffassung hatte dafür in erster Linie Baden selbst aufzukommen. Badens Finanzen indes waren durch die Ereignisse des letzten Jahres in eine so ernste Krise geraten, daß es auf ein großzügiges Entgegenkommen Preußens angewiesen war. Der Prinz und Savigny verschlossen sich dem nicht, aber Unklugheiten und Fehleinschätzungen hinsichtlich der Belastbarkeit des Bündnisses durch die Berliner Regierung führten bald zu einer ausweglosen Krise. Savigny hat oft und eindringlich gewarnt. Es dürfe nur recht und billig sein, hatte er schon am 5. Oktober 1849 Schleinitz wissen lassen, "der badischen Regierung für ihre bundesfreundliche Gesinnung nicht Opfer aufzuerlegen, denen sie entgangen wäre, wenn sie nicht in unserem Interesse gehandelt hätte."48 Und er fährt fort, "daß es aber den peinlichsten und für uns ungünstigsten Eindruck auf die öffentliche Meinung in Süddeutschland machen würde, wenn bekannt wird, daß die badischen Steuern für den preußischen Militärfonds verwendet würden." Das war auch des Prinzen Ansicht. In den Randbemerkungen eines an ihn gerichteten Schreibens des mit den entsprechenden Verhandlungen beauftragten badischen Geheimen Kriegsrats Vogelmann vom 29. Januar 1850 hatte der Prinz geschrieben: " ... Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht umhin, auf Meine schon früher wiederholt geäußerte Meinung zurückzukommen, daß es Mir im eigenen hohen politischen Interesse notwendig erscheint, der badischen Regierung in pekuniärer Beziehung jede nur irgend mit der Verantwortlichkeit vor den Kammern zu vereinigende Erleichterung zu gewähren." Peucker hat diese Formulierungen in einem Schreiben an das preußische Kriegsministerium vom 1. Februar zum Teil wörtlich übernommen. 49 Allen Warnungen zum Trotz hielt man sich in Berlin für berechtigt, die auf Baden entfallenden Zolleinkünfte zurückzuhalten und auf die von Preußen beanspruchten Besatzungskosten anrechnen zu können. Der Prinz war empört. "Ihre Depesche in der Abrechnungs-Angelegenheit," schrieb er an Savigny, "ist ganz 48 Savigny an Schleinitz, 5. Oktober 1849 (Großherzogtum Baden, S. 373 ff.). 49 Vogelmann an Prinz von Preußen, 29. Januar 1850; Peucker an den Prinzen, 31. Januar 1850; an das preußische Kriegsministerium, 1. Februar 1850; Prinz von Preußen, Randbemerkungen zu Vogelmanns Schreiben, 1. Februar 1850 (Großherzogtum Baden, S. 436 ff.).

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vortrefflich und vollständig mit meiner Ansicht übereinstimmend. Ich habe sofort nach Empfang des Schreibens des Großherzogs und Klübers meine Vermittlung nach Berlin eintreten lassen und dem König privatim vor vier Tagen schon geschrieben. Hoffentlich wird das wirken. Ich begreife die Kurzsichtigkeit unseres Ministeriums nicht. Peucker hat auch sehr energisch per Telegraph nach Berlin berichtet." 50 Einige Tage darauf äußerte sich der Prinz noch einmal gegen Savigny: "Soeben geht mir durch den General von Peucker die telegraphische Depesche zu über die - unglückliche! - Art, auf welche man die Ausgleichung der Anrechnung der Truppen herbeiführen will! Man sollte glauben, daß alle politische Ader in Berlin in bezug auf Baden verloren gegangen ist. Meysenbug wird also wahrscheinlich schon berichtet haben. Ich ersuche Sie, in aller Eile zu vermitteln, daß kein Beschluß in Karlsruhe gefaßt wird, ohne mein Votum zu verlangen. Aus Berlin erhielt ich keine Silbe dieserhalb."51 Die preußische Absicht mußte in Baden verheerend wirken. Die Krise brach offen aus, als Schwarzenberg, auf die Unterstützung der Königreiche vertrauend, seine Gegenminen legte, die auf nichts anderes als auf die Torpedierung des Unionsprojekts und die Wiederherstellung der Bundesversammlung gerichtet waren. Noch einmal hat Savigny gewarnt. In einem Immediatbericht schrieb er: " ... Die bei der Truppenverlegungsfrage entstandenen Schwierigkeiten und die Höhe der von Baden an Preußen zu leistenden Kriegsentschädigung dienen jener Parteirichtung fortgesetzt als Hebel, um die ausschließlichen Allianzverhältnisse Badens zu Preußen zu lockern. In der I. Kammer ... hat sich diese Richtung, unterstützt durch Machinationen von außen, auch einigermaßen Bahn gebrochen. Ein Kommissionsbericht dieser Kammer über die besagten Fragen ... spricht sich in einem Preußen bei weitem weniger günstigen Sinne aus, als dies seitens der 11. Kammer geschah." 52 Solange Klüber im Amt war, bestand keine unmittelbare Gefahr. Schwarzenbergs Ankündigung vom 19. April und dann seine förmliche Einladung vom 26., an einer in Frankfurt geplanten Bundeskonferenz teilzunehmen, hatte er noch abgelehnt. Zwar regten sich nach Savignys Beobachtungen hier und da Zweifel und Mißtrauen gegen Preußen, aber im Entscheidungszentrum der Politik, am Hof und im Kabinett, brauchte Preußen um seine Stellung im Großherzogturn noch nicht zu fürchten. Von dieser optimistischen Beurteilung der Gesamtlage, bei der mancherlei Wunschdenken mit im Spiel war, hat sich Savigny nur zögernd lösen können. Er überschätzte die Faszination der preußischen Politik und verkannte die Zielstrebigkeit Schwarzenbergs und seine Kunst, den erfolgverheißen50 Prinz von Preußen an Savigny, 12. März 1850 (Großherzogtum Baden, S. 481). 51 Prinz von Preußen an Savigny, 18. März 1850 (Großherzogtum Baden, S.490). V gl. auch die weiteren Belege daselbst. 52 Savigny, Immediatbericht an den König, 17. Oktober 1850 (Großherzogtum Baden, S.645).

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den Augenblick zu nutzen. Philippsbergs Berichte lassen die Entwicklung in einem anderen Licht erscheinen. So wirkte vieles immer verhängnisvoller zusammen: die Kriegsgerichtsprozesse gegen die Anführer der Erhebung, die zunehmende Distanzierung weiter Bevölkerungskreise von der als Bevormundung empfundenen Bindung an die norddeutsche Führungsrnacht, die mit dem zeitlichen Abstand von der Niederwerfung des Aufstandes sich verstärkende Abneigung gegen die preußischen Truppen, die immer weniger als Befreier und immer häufiger als Besatzungstruppen verstanden wurden, die Verlegung der neuen badischen Truppen nach Preußen, die ohnehin das Verhältnis Badens zu Hannover, dann aber auch zu Kurhessen, Bayern und Österreich belastete, und schließlich die Tatsache, daß noch immer kein Ende des oft verlängerten Kriegszustandes abzusehen war, all das verknotete sich vielerorts zu der Frage, ob der Anschluß an Preußen wirklich im Interesse des Landes lag oder ob nicht die geopolitische Lage verlangte, mit den Staaten des Südens einen Ausgleich zu suchen und im Schutze Österreichs und Frankreichs seine territoriale Integrität zu wahren. Wie der Prinz von Preußen und Savigny vorausgesehen hatten, stürzte die Abwicklung der mit der Niederwerfung des Aufstandes verbundenen Kostenrechnung die Regierung in die schwerste Krise. Preußen glaubte auf die Bezahlung der hierfür errechneten mehr als zwei Millionen Taler nicht verzichten zu können. Selbst wenn die Regierung Klüber zur Zahlung bereit gewesen wäre, so mußte sie doch mit erheblichen Widerständen in den Kammern rechnen. Klüber suchte nach Argumenten, die Höhe der Forderungen zu reduzieren. Die Regierung war bereit, den Betrag ihres Matrikularbeitrages auf der Basis der Bundeskriegsverfassung zu zahlen, und machte geltend, daß der Aufstand nicht nur in Baden, sondern auch in den Nachbarstaaten seinen Ursprung gehabt habe und das preußische Truppenaufgebot nicht nur Baden allein zugute gekommen sei, sondern auch eben jenen Nachbarstaaten, die demzufolge auch an den Kosten anteilmäßig zu beteiligen seien. Als im Herbst 1850 der ganze Komplex den Kammern vorgelegt wurde, traten die Gegensätze offen zutage. Einerseits war man unzufrieden mit der sich verzögernden Reorganisation der eigenen Truppen, andererseits suchte man nach Wegen, die preußische Besatzung zu verringern, und wiederum andere Stimmen erhoben sich, den Neuaufbau im eigenen Lande und nicht in Preußen durchzuführen. Zudem stellten sich erneut Meinungsverschiedenheiten über die Besatzung der Bundesfestung Rastatt ein. Auch in Friedenszeiten wollte Baden diese nicht allein stellen. Wollte man aber die Österreicher mit heranziehen, so war mit einem Widerspruch Preußens zu rechnen. Immerhin war die in ihrer Mehrheit den "Gothaern" nahestehende Zweite Kammer bereit, Klüber weiter zu unterstützen; aber das sollte nicht kritiklos geschehen. Ihr galt es, im badischen Interesse einen eigenen Freiheitsraum zu sichern und insbesondere auf eine Beschränkung der Ausgaben zur finanziellen Wiedergesundung des arg strapazierten Staatswesens bedacht zu sein. 53 53 Vgl. hierzu Savignys Bericht an Schleinitz vom 27. März 1850 (Großherzogtum Baden, S. 504 f.). - So hatte z. B. die Budget-Kommission der II. Kammer bei der

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Dann spitzte die vom preußischen Finanzministerium am 1. Oktober 1850 verfügte Zurückhaltung der für Baden fälligen Zollrevenuen die Lage dramatisch zu. In einem an den kurz zuvor zum Außenminister ernannten Radowitz gerichteten Telegramm betonte Savigny, die psychologisch und politisch völlig verfehlte Maßnahme habe "hier auf die zuverlässigsten Anhänger Preußens den allerniederschlagendsten Eindruck gemacht. Unsere großdeutschen Antagonisten beuten diesen Schritt mit Erfolg aus. Der weitere Abmarsch der badischen Truppen nach Preußen wird immer schwieriger und unter den obwaltenden Eindrücken beinahe unmöglich gemacht." 54 Die Krise verschärfte sich noch weiter, als die Erste Kammer eine Kommission einsetzte, die sich mit der Adresse der Zweiten Kammer an die Regierung, die badisch-preußische Militärkonvention vom 25. Mai betreffend, zu befassen hatte. Heinrich Zoepfl, der Heidelberger Rechtsgelehrte, unterzog die Konvention einer unerwartet scharfen Kritik, sparte nicht mit gehässigen Anschuldigungen gegen Preußen und stellte unter Hinweis auf den angeblichen finanziellen Ruin des Landes Anträge, die letztlich auf eine Kündigung aller mit Preußen getroffenen Vereinbarungen hinausliefen. 55 So in die Verteidigung gedrängt, ersuchte Klüber die Erste Kammer, ihre Forderungen nach einer Umkehr der Politik in einer über die Adresse der Zweiten Kammer noch hinausgehenden eigenen Adresse zu formulieren. Offenbar sollte diese damit auch die politische Verantwortung übernehmen. Davor noch zurückschreckend, setzte sie eine neue Kommission ein, womit sie jedoch nicht verdecken konnte, daß sie nach wie vor die Ablösung Klübers betrieb, so nachdrücklich dieser auch auf die Bereitschaft zu weiteren Verhandlungen über die Ausführung der Konvention vom 25. Mai verwies. 56 Diese Entwicklung wäre nach Savignys Überzeugung vermeidbar gewesen, wenn man die aus der Regelung der Besatzungskosten sich ergebenden Differenzen beizeiten ausgeräumt hätte. Die Kostenfrage war nicht allein ausschlaggeBeratung des Etats des Ministeriums des großherzoglichen Hauses und der auswärtigen Angelegenheiten für die Jahre 1850/51 mehrheitlich beschlossen, das Ministerium insgesamt aufzulösen. Die Regierung widersprach. Die 11. Kammer nahm dann einen von der Minorität der Budget-Kommission gestellten Antrag an, demzufolge die Kammer erklären möge, "daß sie, wenn eine Bundesgewalt, welche die Vertretung der Bundesglieder nach außen übernehme, endgültig eingesetzt sein werde, den Aufwand für ein besonderes Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten nicht für notwendig erachte und deshalb der Regierung dann die Aufhebung desselben empfehle." (Großherzogtum Baden, S. 642 ff.). 54 Savigny an Radowitz, 7. Oktober 1850 (Großherzogtum Baden, S. 640). 55 Savigny an Radowitz, 19. Oktober 1850 (Großherzogtum Baden, S. 646 f.). Hier darf vermerkt werden, daß Philippsberg mit dem Vizepräsidenten der I. Kammer, Franz Frhr. Rinck von Baldenstein, in enger Verbindung stand. Rinck, wie die meisten seiner Standesgenossen im Breisgau österreichisch gesinnt, soll Philippsberg gebeten haben, über die Stimmung im Lande nach Wien zu berichten. Österreich möge bald handelnd auftreten. Eine österreichische Besatzung in Rastatt genüge neben der Gendarmerie zur Beruhigung des Landes. 56 Savigny an Radowitz, 24. und 25. Oktober 1850 (Großherzogtum Baden, S. 648 f.).

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bend; wer aber Klüber zu Fall bringen wollte, fand hier einen erfolgverheißenden Ansatz. Den Großherzog findet Savigny in einer verzweifelten Stimmung; sich in seine Gemächer zurückziehend, versagt er sich jeder Entscheidung. Klüber, so von ihm getrennt, findet jetzt auch bei seinen Ministerkollegen keine nennenswerte Unterstützung mehr. Schon wird Meysenbug ausersehen, Savigny auf den Abgang Klübers vorzubereiten. Rüdt und Marschall von Bieberstein werden in der Umgebung des Hofes bereits als Nachfolger genannt. Philippsberg berichtet, der Großherzog habe ihm gestanden, daß die Diktatur des Prinzen von Preußen "wie ein Alp" auf ihm laste. Noch verteidigt sich Klüber nicht ohne vordergründigen Erfolg: er verweist auf Baden-Durlach, das schon vor langer Zeit preußischen Schutz gefunden. Badens Nachbarn hätten sich mit der Ausweitung seines Territoriums noch immer nicht versöhnt. Das Land sei infolge seiner geopolitischen Lage nicht auf die Donaustaaten, sondern auf Preußen angewiesen usw. Das mochte für viele verfänglich klingen. Letztlich aber setzten sich seine Gegner durch. Wenige Stunden nach der letzten Kammersitzung schickte der Großherzog seinem ihm seit 45 Jahren in Freundschaft verbundenen Minister die Entlassung ins Haus. "Fortgesetzte Wahrnehmungen über den Gang der Ihrer Leitung anvertrauten Geschäfte haben mich überzeugt," so schrieb er ihm, "daß es dringend nötig sei, hierin anderweite Fürsorge zu treffen. Zu Meinem lebhaften Bedauern sehe Ich Mich darum veranlaßt, Sie Ihres Amtes als Minister des Hauses und der auswärtigen Angelegenheiten in Gnaden zu entheben."57 Nach Stengels Aussage war Klübers Verhältnis zu Leopold schon seit längerem gestört. Nach der allmählichen Entfremdung und der in ihm vor der Zukunft wuchernden Angst war die Frage der Abrechnung der Besatzungskosten nur der Hebel, um Klüber zu entlassen. Krieg und Moritz von Haber rühmten sich, das Bündnis mit Preußen zerrissen zu haben. Savigny war untröstlich. Was ihn bewegt, schreibt er sich in Immediatberichten an den König, in Briefen an den Prinzen, an seine Eltern und Freunde von der Seele. Er steht am Grabe seiner Hoffnungen, aber noch auf den Trümmern der preußischen Politik klammert er sich an den Gedanken, daß mit der Berufung Rüdts vielleicht doch noch kein endgültiger Systemwechsel verbunden sei. Er bemüht sich leidenschaftlich, gerade diese Frage zu klären. Er möchte es glauben und zweifelt dennoch daran. Was ihn aufrechterhält, ist der Glaube an die Zukunft, die für ihn eine Zukunft Preußens ist. "Meine Arbeiten und Sorgen häufen sich von Tag zu Tag," schreibt er am 30. Oktober, "ich stehe jetzt mitten in einer Katastrophe, die ich zu Ehren Preußens zu wenden suchen will. Ich hoffe, einst vor Gott und Menschen Rechenschaft ablegen zu können von der Art und Weise, wie ich versucht habe, meine schweren Pflichten zu erfüllen ..." Und an anderer 57 Großherzog Leopold an Klüber, Abschrift, o. D.; Savigny an Radowitz, 25. Oktober: Regenauer an Klüber, 26. Oktober; Savigny, Immediatbericht an den König, 26. Oktober 1850 (Großherzogtum Baden, S. 650 ff.).

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Stelle heißt es: "... ich bin vorläufig ganz geknickt. Meine redlichen und treuen Anstrengungen hat man in allen ihren Resultaten von Berlin aus vernichtet. Und zu diesem Werk mußte ich selbst die Hand anlegen! Gott hat Preußen furchtbar demütigen wollen. An Erfahrungen bin ich jetzt um ein Bedeutendes reicher, doch habe ich kaum noch das Verlangen, im Dienst von ihnen Gebrauch zu machen. Niedrige, gemeine und im Grunde ganz elende Intrigen haben Deutschlands Zukunft vorläufig zerstört. Auf einem anderen Wege wird das Ziel zu erreichen sein . . . Vieles aber von dem, was wir liebten, woran wir gewohnt waren, wird untergehen, und das ist die traurigste der uns bevorstehenden Prüfungen."58 An den Prinzen von Preußen schreibt er: " ... wenn ich in diesen Tagen nicht wagte, E. K. H. zu schreiben, so war es, weil mein Herz blutete und weil es mir nicht geziemt, meines Fürsten Schmerzen zu mehren. Mein Vertrauen zu der Unvergänglichkeit des preußischen Namens ist unbegrenzt ... Unsere Offiziere sind wie zerknickt. Selbst dem alten Schreckenstein standen die Tränen in den Augen. Allein ein Gefühl durchweht aller Brust, daß die Zeit denn doch kommen müsse, wo Preußen das Schwert der Gerechtigkeit in Deutschland zu führen habe ... Daß Gott die gerechte Sache schützen werde, darauf baue ich fest. So möge denn einst ein neuer prächtiger Lorbeer um die Stirne E. K. H. geschlungen werden! Wenn Preußen aber einmal losschlägt, so entfalte es sein ganzes Banner. Es schreibe darauf: die Zukunft Deutschlands, nicht bloß die Verteidigung der eigenen Grenzen. Wir sind dies Deutschland schuldig, denn d~s Königs Wort hat die Hoffnungen in allen Teilen von Deutschland geweckt. Nunmehr dürfen wir sie nicht mehr im Stich lassen ... "59 Und der Prinz von Preußen? Am 30. Oktober schreibt er an Savigny: "Mit welchen Empfindungen ich die Nachricht des Austritts des Ministers Klüber vernommen habe, brauche ich Ihnen nicht erst zu schildern. Ich hatte dies Ereignis jetzt wenigstens nicht erwartet, am wenigsten aber die Art, auf welche es erfolgte ... Sie und ich haben redlich das Unsrige getan, um unserem Gouvernement die Augen zu öffnen! So geht denn die politische Position verloren, die wir so eklatant gewonnen hatten, und Baden wird bald die Früchte seiner Stellung ernten. Schmerzlicher wie dieser Undank des Großherzogs gegen uns ist mir der, den er gegen Klüber begeht, den er seinen eigenen Freund nennt. Den Mann, den er in der größten Not berief, um ihm die Riesenarbeit zu übertragen, das völlig verlorene Land wiederaufzurichten, der mit seiner Treue, Ergebenheit, Ausdauer, mit einem Eifer sondergleichen das Werk vollführt hat, dessen erfolgreiche Tätigkeit sich in allem kundgibt, diesen Mann opfert er einer gemeinen Hofmtrige, am Tage, wo derselbe eine schlagende Rede zugunsten des Gouvernements in der Kammer hält!! Dies schmerzt mich in der Seele Klübers, aber auch in der Seele des Großherzogs jenem, weil er einen Undank ohne Beispiel erlebt, diesem, weil er so matt hat 58 Savigny an seine Eltern, 30. Oktober und 29. November 1850 (Nachlaß, S. 540 und 558). 59 Savigny an den Prinzen von Preußen, 7. November 1850 (Großherzogtum Baden, S. 667 f.). 9 Real

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sein können, sich zu einem solchen Schritt überreden zu lassen. - Ich freue mich, in Ihrem Brief zu lesen, daß Klüber mit Freundlichkeit meiner gedachte. Ich werde es zeitlebens als einen Gewinn betrachten, mit einem Ehrenmann, wie er es durch und durch ist, in so wichtiger und merkwürdiger Zeit gemeinschaftlich habe tätig sein und wirken können. Seine Aufopferung hätte ein anderes Ende verdient. Die Teilnahme aller edlen Seelen ist ihm gewiß! Ich hoffe, Gelegenheit zu haben, ihm dies noch selbst auszusprechen."60 In Karlsruhe versuchte man, die Folgen herunterzuspielen. Rüdt versicherte dem Gesandten, "daß Baden nach dem, was in letzter Zeit in Frankfurt beschlossen, noch weniger als früher daran denken könne, mit dem Bundestage in Kontakt zu treten, und der Vertreter Badens im Verwaltungsrat der Erfurter Union, der Legationsrat Ludwig von Porbeck, wurde angewiesen, in Berlin ähnliche Versicherungen abzugeben." 61 Der Prinz von Preußen beurteilte die neue Lage sehr nüchtern: "Sie berichteten gestern per Telegraph, daß sein Nachfolger erkläre, ein Wechsel des politischen Systems werde nicht eintreten. Wozu hat dann also ein Personalwechsel eintreten müssen? Ich kann mir keinen anderen Vers darauf bilden, als daß die Intrige zunächst der Person galt und demnächst dem Systemwechsel, daß man sehr wohl wußte, daß Klüber mit Preußen gehen werde, selbst wenn das Äußerste einträte. Dies wollte man nicht, und daher mußte eine Änderung getroffen werden, die noch eine Zeitlang die Maske vornimmt, als wolle man mit Preußen zusammenhalten, entschlossen, die Maske fallen zu lassen, wenn der äußerste Fall eintritt."62 Auf seine drängenden Fragen nach der künftigen Ausrichtung der badischen Politik erhält Savigny immer nur eine ausweichende Antwort. Rüdt beteuert ihm gegenüber, daß sein Eintritt in die Regierung keinen Systemwechsel bedeutet, aber auf Savignys Verlangen, ihm Beweise für das Fortbestehen der Vertrauensgrundlage zu geben, geht er nicht ein. Was die Fortsetzung der Union betrifft, schützt er vor, noch nicht hinreichend mit der Materie vertraut zu sein. In Karlsruhe will man offenbar abwarten und - nach Savignys Überzeugung hinsichtlich des Unionsparlaments keine Verpflichtung eingehen. Er ist sicher: sobald das Mißtrauen gegen die Staaten des Viermächtebündnisses gänzlich ausgeräumt ist, wird man hier keinen Systemwechsel mehr scheuen. Preußen müsse fortan seinen eigenen Interessen folgen, schreibt er, und einem Abfall von der Union mit der Erklärung zuvorkommen, die der badischen Regierung keinen Zweifel an den Folgen ihrer Politik läßt und ihr die geschichtliche Verantwortung dafür aufbürdet. Sollte die Krise nicht zu einer Entladung führen, so hält er es für geboten, die militärische Stellung im Lande beizubehalten und vor allem in Rastatt präsent zu bleiben. 60 Prinz von Preußen an Savigny, 30. Oktober 1850 (Nachlaß, S. 540 f.). 61 Savigny an Radowitz, 26., 28. und 30. Oktober 1850 (Großherzogtum Baden,

S. 650 und 654). 62 Prinz von Preußen an Savigny, 30. Oktober 1850 (Nachlaß, S. 540).

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Vieles von dem, was jetzt geschah, vollzog sich ohne Savignys Mitwirkung. Schreckenstein leitete die Räumung des Seekreises und der hohenzollernschen Fürstentümer ein. Preußen sah sich fast ganz auf seine Ausgangsposition am Vorabend seiner Intervention zurückgeworfen. Der Zusammenbruch seiner Politik war nicht mehr zu leugnen. Von Resignation und Ohnmacht gezeichnet, sucht Savigny auch jetzt noch nach Hoffnungsankern. Er setzt auf die badische Zweite Kammer, die es noch jetzt der Regierung zur heiligen Pflicht mache, nicht von der Allianz mit Preußen zu lassen, und in der die Hoffnung überwiege, daß "man sich doch noch in Berlin ermannen werde." Und zum anderen ist es die Armee, der er vertraut. "Gestern verbreitete sich mit Blitzesschnelle die Nachricht, daß nun doch mobil gemacht werde," schreibt er dem Prinzen, "Freude und Jubel unter unseren Offizieren und ein wahres Jauchzen unter der Mannschaft war die Folge ... die Tage werden nicht ausbleiben, wo Preußen das Werk wieder aufnehmen muß, für welches ich ausschließlich und auf dem Vorposten unserer Diplomatie habe arbeiten müssen seit meiner Sendung nach Dresden während des Aufstandes. 63 Das Spektrum seiner Emotionen reichte in den vertraulichen Briefen von Zornesausbrüchen und vorgetäuschter Distanz über ein fein reagierendes Ehrgefühl bis hinüber zu den Phasen bitteren Gekränktseins. Auch in ausweglos erscheinenden Augenblicken suchte er noch Optimismus zu verbreiten und überließ sich dann ebenso schnell der Verzweiflung. In der Entlassung Klübers sah er auch eine Verletzung seiner eigenen Ehre und eine Beeinträchtigung seiner Glaubwürdigkeit. "Ich befinde mich unter diesen Umständen jetzt weniger als irgend jemand anders geeignet," schrieb er nach Berlin, "in Baden mit Erfolg das Ansehen und das Interesse des königlichen Kabinetts vertreten zu können. Dem Hofe und denjenigen seiner Ratgeber, welche die Notwendigkeit erkennen, daß Baden eine neue Politik einschlage, bin ich ein unerfreulicher Zeuge für ihre früheren Zusicherungen, während ich andererseits mich mit Recht dem Vorwurfe ausgesetzt sehe, daß ich das Verbleiben auf einer Bahn wesentlich mit veranlaßt habe, die man als eine unhaltbare jetzt auch in Berlin verlassen zu wollen scheint." 64 Er hat es unumwunden ausgesprochen: unter den veränderten Verhältnissen kann sein Platz nicht mehr in Karlsruhe sein. "Die Verhältnisse haben das hier in mich gesetzte Vertrauen gewaltsam vernichtet," heißt es weiter, "jeder andere Diener des Königs befände sich dagegen in der Lage, gleichzeitig die Interessen des preußischen Staates kräftiger zu wahren als ich und auch für seine Person leichter ein Vertrauen wieder in Anspruch zu nehmen, welches dem Repräsentanten des königlichen Hofes immer und überall gebührt." So bittet er um einen Urlaub, um sich dann jeder anderweitigen Verwendung zur Verfügung zu stellen. 63

Savigny an den Prinzen von Preußen, 9. November 1850 (Großherzogtum Baden,

S.670).

64 Savigny an das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, 6. November 1850 (Nachlaß, S. 546 f.).

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Den Prinzen von Preußen bittet er, sein Gesuch zu unterstützen. 65 "Man darf einem Vertreter des Königs," so schreibt er ihm, "zu sagen nicht das Recht vorenthalten, das, was er verhieß, sei nicht gehalten worden, und was er vor zehn Tagen noch kategorisch verlangt habe, sei in Berlin selbst aufgegeben worden. Ich weiß sehr wohl, daß ein Staat seine Politik oft verändern muß und daß die Agenten sich danach zu richten haben. In dem vorliegenden Falle geht dies aber nicht nach meiner gewissenhaftesten Überzeugung. E. K. H. werden die Gnade haben, dies wohl zu erkennen, daß es moralische Verpflichtungen gibt, die ich hier eingegangen bin und die ich ferner zu halten mich nicht mehr in der Lage sehe. Darum muß das Gouvernement mich fallen lassen und mich zurückberufen. Die Ehre des königlichen Dienstes erheischt es, und die Aufrechthaltung darf niemals unterbrochen werden, auch nicht durch einen Systemwechsel. Mein Nachfolger kann ganz anders auftreten. Er war nicht in Ehrenbreitsein. Er wird der Repräsentant des Königs sein an einem fremden Hofe, für mich aber ist die Gründung eines solchen Verhältnisses in Karlsruhe unmöglich ... " Manteuffel, der nach dem Rücktritt von Radowitz zunächst in Vertretung des erkrankten Grafen Brandenburg das Auswärtige leitete, lehnte Savignys Abberufung ab. Er hatte in Karlsruhe auszuharrren, und damit war sein dienstlicher Weg für die nächsten Jahre vorgezeichnet. Sie werden nicht zu den erregendsten zählen, aber sie sind sicher die glücklichsten gewesen. Die Krise vom Herbst 1850 war freilich noch nicht ausgestanden. "Gott hat Preußen furchtbar demütigen wollen," schreibt er, "eine Zunge werde ich allerdings für meine Lebenszeit bleiben von dem, was geschehen ist, und dies werde ich niemals verheimlichen."66 Die Eltern, die Mutter zumal, haben beruhigend auf ihn einzuwirken gesucht. "Ich mußte Dich immer in dieser Stimmung denken," schreibt sie am 5. Dezember, "seitdem die Sachen, die wir längst erwarteten, zum Ausbruch kamen ... Kannst Du es nicht mit Deinem Gewissen vereinigen, so tust Du wohl, Dich frei zu machen; kannst Du es aber mit demselben vereinigen, daß Du dem Vaterlande ferner dienst, so tue es, auch um Deiner selbst willen, denn gänzliche Untätigkeit für den, der so wie Du an Wirksamkeit gewöhnt ist, ist schwer zu tragen und nicht zu billigen." Auch Heinrich von Werther, der einst zu Beginn seiner Laufbahn seine schützende Hand über ihn gehalten hatte, ermuntert ihn, auszuharren und sich seiner Aufträge treu zu entledigen. Von der Politik seine Freundes Radowitz ist er tief enttäuscht. Als er im Sommer 1851 in Baden- Baden mit Bismarck zusammentrifft, kann er sein zwiespältiges Urteil über den Außenminister nicht zurückhalten: mit Herz und Gefühl steht er an seiner Seite, aber sein nüchternes Urteil gebietet ihm, Abstand zu halten gegenüber einer Politik, die nach Olmütz führte. Nur allmählich findet er sich zu einer realistischeren Einschätzung der Dinge zurück. Nur langsam erkennt er, daß die preußische Stellung 65 Savigny an den Prinzen von Preußen, 7. November 1850 (Großherzogtum Baden, S.667). 66 Savigny an seine Eltern, 29. November 1850 (Nachlaß, S. 558); die Mutter an ihn, 5. Dezember (Großherzogtum Baden, S. 678).

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in Baden trotz der Zurückziehung der Truppen nicht so hoffnungslos ist, wie er zunächst befürchtet. Er verschließt sich nicht der Einsicht, daß die Regierung des Großherzogtums zwischen Preußen und Österreich eine Politik des Gleichgewichts verfolgen muß. Andererseits durfte man in Karlsruhe hoffen, an Preußen einen festen Rückhalt gegenüber allen Gefahren zu finden, die dem Besitzstand und der Selbständigkeit des Landes drohten. Er registriert mit Genugtuung, wie sehr Rüdt in der Zweiten Kammer bestürmt wird, die bisherige Politik entsprechend der Stimmung im Lande weiterzuführen. Er nimmt gern zur Kenntnis, daß neben dem Karlsruher Gemeinderat auch die beiden Kammern dem General von Schreckenstein eine Dankadresse übermitteln, als dieser mit seinen Truppen das Land verläßt. Auch nach der Konvention von Olmütz und auf den sich anschließenden Dresdener Konferenzen gewinnt er den Eindruck, daß Baden gegenüber den übrigen Mittelstaaten sich noch nicht gebunden hat und insbesondere das Mißtrauen gegen das "gehaßte und gefürchtete Bayern" weiter besteht. Von verschiedenen Seiten wird ihm versichert, daß Baden alles tun werde, die Trennung von Preußen auf dem Gebiete des Zoll wesens und des Handels zu verhindern. 67 Im Grunde muß es überraschen, wie günstig Savigny sich schon wieder über das Land ausspricht. "Das Großherzogtum Baden bietet in ganz Deutschland jetzt den erfreulichsten Anblick dar," schreibt er am 19. Januar 1851, "Friede, Zucht, Ordnung nicht bloß in das äußere Staatsleben ist zurückgekehrt, sondern auch in die Gemüter. Die Regierung ist hochgeachtet und von allen Parteien unterstützt ... Ein neues, ernstes Leben hat hier begonnen. Beide Kirchen wetteifern in der Bestrebung, das wieder gutzumachen, was sie früher versäumten. Auch der materielle Schaden der Revolution ist bereits ausgeglichen in diesem gesegneten Lande."68 Wenn man bedenkt, daß Savigny in Berlin noch immer als Verfechter der gescheiterten Unionspolitik galt, so erscheint verständlich, daß seine Position hier nicht als unbedingt gesichert anzusehen war und auch von badischer Seite seine Anwesenheit in Karlsruhe zuweilen als unbequem empfunden wurde. In Berlin brachte man ihn gelegentlich mit dem gegen Manteuffel opponierenden Grafen Goltz in Verbindung, und Philippsberg wußte schon bald von Klagen des Großherzogs über Savigny zu berichten. Als Rüdt Anfang Juni in Heidelberg mit dem Bundestagsgesandten Theodor Heinrich Rochus von Rochow und seinem jüngeren Mitarbeiter Otto von Bismarck zusammentraf, äußerte er unverblümt den Wunsch eines Wechsels in der preußischen Gesandtschaft in Karlsruhe: Savignys Verhalten sei seinerzeit der Hauptgrund für die Entlassung Klübers gewesen. Solange dieser im Amt war, sei Savigny die eigentliche Triebfeder des badischen Ministeriums gewesen. Das habe den Großherzog und alle Gutgesinnten gekränkt; 67 Schill, a. a. 0., S. 183 Anm. Savigny an Manteuffel, 27. Januar 1851 (Großherzogturn Baden, S. 686). In dem Brief heißt es weiter: "... Der Wunsch und das Verlangen, sich auch für die Zukunft an Preußens Macht eng anzuschließen, ist hier größer, lebendiger und nachhaltiger als irgendwo anders in Deutschland." 68 Savigny an seine Eltern, 19. Januar 1851 (Nachlaß, S. 571).

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um das Land nicht von einem fremden Gesandten abhängig werden zu lassen, sei ein Personen wechsel erforderlich gewesen. Rüdt hat diese Äußerungen damals mit Versicherungen "unverwelklicher Dankbarkeit" gegenüber Preußen verbrämt und den Wunsch hervorgehoben, mit beiden deutschen Führungsrnächten gut zu stehen. Rochow scheint sich in seinen Berichten an Manteuffel die Wünsche Rüdts zu eigen gemacht zu haben. Die Folgen dieses badischen Vorstoßes hätten für Savignys berufliche Laufbahn leicht verhängnisvoll werden können. Daß sie es nicht wurden, ist Bismarck zu verdanken, der in seiner Berichterstattung seinen Einfluß zugunsten seines Freundes einsetzte. Man kann nicht sagen, daß zwischen Bismarck und Savigny ein das übliche Maß sprengender Briefwechsel bestanden hätte. Es hat Zeiten gegeben, aus denen keine schriftliche Quelle hierüber auf uns gekommen ist, wie umgekehrt in anderen Zeitläuften der Gedankenaustausch wieder lebhafter war. 69 Ohne Zweifel zählen die Jahre nach der Revolution von 1848/49 bis zur Begründung des Norddeutschen Bundes zu den wohl beglükkendsten der beiden, in ihrem Wesen so grundverschiedenen Freunde. Das Netz persönlicher Verbindungen ist dabei nicht allein aus dem Briefwechsel abzuleiten. Wir haben es mit einer ungetrübten und verläßlichen Freundschaft zu tun, die sich weniger in einem ausgedehnten Briefwechsel widerspiegelt als in dem bei beiden vorherrschenden Bewußtsein, einen Weggenossen in erreichbarer Nähe zu besitzen. Daß Bismarcks Frankfurter Jahre sowie die ersten Jahre seiner Ministerpräsidentschaft für beide die fruchtbarsten waren, lag nicht nur an der räumlichen Nähe, sondern vor allem in dem Bewußtsein, an einem gemeinsam Gute und im Dienste einer gemeinsamen Idee, eben der Geltung des preußischen Staatswesens, zu arbeiten. Sie standen beide auf der Höhe des Lebens, Bismarck in Frankfurt als einem Zentrum der deutschen Politik, Savigny in Karlsruhe, wo es galt, die Stellung Preußens erneut zu festigen. Zwischen beiden stand Olmütz, das Bismarck im Namen der Staatsräson in einer großen Rede verteidigte, das Savigny aber als einen Rückschlag nach dem Anlaufen der Unionspolitik auf das tiefste beklagte. Die gegensätzliche Beurteilung hat die Freundschaft nicht zu beeinträchtigen vermocht. Sie verdichtete sich jetzt sogar. Als Savigny Anfang März 1851 zum Besuch seines erkrankten Vaters in Berlin weilte, traf er auf einem Hofball auch mit Bismarck zusammen. Aus einem Brief des letzteren an seine Gattin ist zu erkennen, wie unbefangen und herzlich das Verhältnis war. "Beim souper," so schrieb Bismarck ihr, "saß ich mit Don Carlos Savigny, der mit vieler Liebe, auch wenn ich nicht dabei bin, von Dir spricht und Dich sehr grüßen läßt. Frau von Usedom sagte mir, er habe Dich a very clever and sensible woman genannt. Du sieht, daß meine Ehrlichkeit größer ist als meine Eifersucht auf Charles."70 Jetzt aber, da Bismarcks Vorgesetzter von Rochow geneigt ist, 69 Vgl. Bismarck-Jahrbuch, Bd. 6, Leipzig 1899, Sechsunddreißig Briefe des Herrn von Savigny an Bismarck, 1851-1854, 1857-1859, 1863-1867. Bismarcks Briefe an Savigny sind am leichtesten in der Friedrichsruher Ausgabe zugänglich. 70 Bismarck an seine Gattin, 5. März 1851 (Gesammelte Werke, Bd. 14/1, S. 197).

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die Aversion Rüdts gegen Savigny nach Berlin weiterzuleiten, schaltete sich Bismarck auf seine Weise für ihn ein. Er läßt zunächst eine verklausulierte Warnung an den Freund ergehen. Am 11. Juni 1851 schreibt er ihm nach seiner Rückkehr aus Karlsruhe von Frankfurt aus, er habe hier einstweilen nur gehört, "daß der Instructionsrichter Ritter bei der neulichen Zusammenkunft mit meinem Reisegefährten gegen letzteren den Wunsch ausgesprochen hat, die bestehende Geschäftsverbindung zwischen ihm und meinem Freunde, mit welchem ich unter Leitung des commissaire ,laisser faire' Fauquemont verließ, gelöst zu sehen wünscht. Er hat dabei ein geneigtes Ohr an meinem Reisegefährten gefunden. Ich schreibe morgen einen Brief, in welchem ich die Unstatthaftigkeit des Verlangens des foutu juge darzuthun suchen werde ... Ich wollte Ihnen dies nur einstweilen melden, wenn ich mehr erfahre, mehr." 71 Der Brief bedarf der Erläuterung. Bismarck wählt die scherzhafte Form der Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse aus ihrer Aachener Zeit. Der beim Aachener Regierungspräsidenten vormals tätige Instruktionsrichter Ritter hatte einst bei der Untersuchung der letzten Phase von Bismarcks Tätigkeit in Aachen eine wichtige Rolle gespielt. Hinter seinem Namen verbirgt sich Rüdt; Bismarcks Reisegefährte ist Rochow, aber sein Freund, zu dem Rüdt die "bestehende Geschäftsverbindung" zu lösen wünscht, ist kein anderer als Savigny. Von Aachen aus hatten die daseinsfrohen Freunde einst ein gemeinsames Reiseabenteuer nach Fauquemont auf sich genommen. Rüdt hatte offenbar für seinen Wunsch nach einer Ablösung Savignys bei Rochow offene Ohren gefunden. Aber Bismarck deutet ihm an, er werde gegen die Unstatthaftigkeit des Verlangens des "verfluchten Richters" (foutu juge) sich in seinem eigenen Bericht zu Wort melden. Das hat Bismarck auch getan. In einem vertraulichen Bericht vom 1. Juni 72 sucht er Manteuffel über Savignys politisches Meinungsbild zu beruhigen. Er meint, daß man gemäß dem Grundsatz, den Rat des Gegners - als solcher war Rüdt ihm bezeichnet worden - nicht zu befolgen, dem Wunsche Rüdts nicht entsprechen solle. Bismarck verspricht sich von Savignys Anwesenheit in Karlsruhe eher eine Unterstützung als einen Nachteil für die Wirksamkeit der preußischen Bundestagsgesandtschaft. Es erscheine ihm nützlicher, einen Mann von seinen Talenten und Verbindungen für die Regierung zu verwenden, als ihn in die Opposition treiben zu lassen. Sollte Savigny aus Karlsruhe abberufen werden, so würde man mit ihm Terrain an Österreich verlieren. Unter den von Bismarck genannten Verbindungen Savignys war die mit dem Prinzenpaar in Koblenz die wichtigste. Er hatte die Möglichkeit einer Abberufung mit der in Baden-Baden weilenden Prinzessin besprochen, und diese wiederum hatte sich mit ihrem Gemahl in Verbindung gesetzt. In einem undatierten Billet an Savigny gibt sie ihm den Satz aus der Antwort des Prinzen wieder: "Ich werde das meinige tun, um die Versetzung zu verhindern; übrigens hört man Bismarck an Savigny, 11. Juni 1851 (ebendort, S. 218). Heinrich von Poschinger, Preußen im Bundestag 1851-1859, 4 Teile, Leipzig 1882-1885 (Neudruck OsnabTÜck 1965), Teil 4, S. 10. 71

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gar nichts mehr davon." 73 Auf den Prinzen und vor allem auf Bismarck ist somit zurückzuführen, daß Savigny in Baden blieb. Wie freundschaftlich damals die Beziehungen zwischen beiden waren, geht auch aus Bismarcks Brief vom 18. Juni an ihn und seiner amtlichen Berichterstattung nach Berlin hervor. 74 So folgte er einer Einladung de.s Freundes, um am 20. Juni in Wiesental der Einweihung eines Denkmals für die gefallenen preußischen Soldaten beizuwohnen, und auch hier hatte er eine eingehende Aussprache mit Savigny. Bismarck hat in der ihm eigenen anschaulichen Weise über beides in einem ausführlichen Brief an Leopold von Gerlach berichtet. 75 "Savigny habe ich sehr vernünftig gefunden," heißt es hier am Schluß, "und vollkommen bereit, die jetzige Politik der Regierung, als die einzige den Umständen nach mögliche, zu adoptieren und zu stützen und die Vergangenheit als abgethan zu betrachten; Herr von Roggenbach sprach sehr anerkennend von ihm, Rüdt gegen Rochow das Gegentheil. Rüdt ist übrigens unser Freund nicht, und ich bin zweifelhaft, ob es richtig ist, Savigny, von dem ich bei unsrer persönlichen Stellung nicht glauben kann, daß er mich belügt, dort abzuberufen." Savigny hat wohl selbst den Eindruck gehabt, daß Rochow gegen ihn arbeite. In einem Brief an die Mutter wünscht er den Gang der Intrigen gegen ihn zu ergründen und möchte feststellen, ob Rochows Behauptung, Savignys Mutter habe in dessen Interesse mit ihm vom Abgang des Sohnes aus Karlsruhe gesprochen, auf Wahrheit beruhe. 76 Wir dürfen der Mutter glauben, wenn sie beteuert, mit Rochow, den sie seit Jahren nicht gesehen, nie darüber gesprochen zu haben. Nach Olmütz hatten sich die beiden Freunde längst wieder in ihren Auffassungen angeglichen. Es begann ein lebhafter freundschaftlicher und dienstlicher Verkehr in ihrer so vielfach sich berührenden Tätigkeit. Der Briefwechsel bestätigt es ebenso wie gelegentliche Äußerungen Bismarcks gegen seine Gattin über "Charies" oder "Don Carlos" in jenen scherzhaften Anspielungen auf Savignys Aufenthalt in Frankreich, Spanien und Portugal. "Bismarck hat mich zweimal besucht," schreibt er den Eltern am 30. Juni, also kurz nach dessen Amtsübernahme in Frankfurt, "ob er in Frankfurt bleibt, ist noch nicht gewiß ..." und kurz darauf heißt es: "Mit Bismarck stehe ich auf dem besten Fuße ..."77 Dieser wiederum hat seinerseits die Begegnung mit dem Freunde immer wieder gesucht. Sie treffen sich in Baden-Baden, wo Savigny den Sommer verbringt. " ... Mit Charles habe ich mich ganz wieder befreundet und wünsche, daß er in Carlsruh bleibt, während Rochow für seine Abberufung thätig ist," schreibt er seiner Gattin. 78 73

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Prinzessin Augusta an Savigny, o. D. (Juni 1851), (Nachlaß, S. 576 f.). Bismarck an Savigny, 18. Juni 1851 (Werke, 14, I, S. 219). Bismarck an Leopold von Gerlach, 22. Juni 1851 (Werke, 14, I, S. 219 ff.). Savigny an seine Mutter, 30. Juni 1851 (Familienarchiv). Savigny an seine Eltern, 30. Juni und 14. Juli 1851 (Nachlaß, S. 577). Bismarck an seine Gattin, 23. Juni 1851 (Werke, 14, I, S. 225).

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Savigny sollte noch lange dort bleiben. Was sich in Deutschland ereignete, konnte er vom Rande der politischen Arena aus beobachten. Für ihn beginnt jetzt eine Phase der Ruhe und Entspannung. Es sollten die glücklichsten Jahre seines dienstlichen und seines privaten Daseins werden. Erst gegen Ende des Jahrzehnts, als die deutsche Frage in ihr entscheidendes Stadium tritt, sieht auch er sich neuen Aufgaben und Möglichkeiten gegenüber.

Die glücklichen Jahre Als Savigny im Frühjahr 1851 vom Besuch im Elternhaus nach Kar1sruhe zurückreiste, bedrückte ihn noch sehr die Sorge um den Gesundheitszustand des Vaters. Immer wieder erkundigt er sich nach ihm, empfiehlt wiederholt einen Wechsel der Ärzte, schlägt Orte zur Durchführung einer Kur vor, lädt ihn zu sich nach Baden-Baden ein. In Erfurt, das er auf der Reise berührt, trifft er mit Radowitz zusammen, den er seit langem nicht mehr so mild und ausgeglichen gesehen hat. In Eisenach besucht er die Wartburg, die er in einem beklagenswerten Zustand vorfindet. In der Nähe von Kassel führt ihn der Weg zu Peucker, der ihm "Herzzerreißendes über die Zustände in Hessen" berichtet. Dann fahren sie gemeinsam nach Frankfurt. I In Karlsruhe hat ihn die Alltagsarbeit bald eingeholt. Er nimmt an den Gedenkfeiern anläßlich der Wiederkehr des preußischen Einmarsches in Baden teil. Er ist Gast der Gemeindebehörden und der Karlsruher Bürgerschaft. Als Prinzessin Augusta sich zur Kur in Baden-Baden aufhält, ist er zuweilen ihr Gast, wie er denn überhaupt bemüht ist, seinen Tagesablauf mit den Ereignissen am Hof und den Begegnungen mit ihm wichtig erscheinenden Persönlichkeiten abzustimmen. Dann steht auch der Besuch des Königs von Preußen bevor, der auf einer Reise in die hohenzollernschen Lande bei ihm einkehrt. Nur selten findet er Zerstreuung bei der Lektüre ausgesuchter Werke der Dichtung oder der Geschichtsschreibung. Immerhin reicht ihm die Zeit, den dritten Band der Stein-Biographie von Pertz zu lesen. Er habe ihn, so schreibt er, auf jeder Seite an die Tradition jener großen Zeit erinnert, die er im Elternhause in sich aufgenommen. Mit Freude vermerkt er, daß sich auch seine dienstliche Stellung gefestigt hat. Jetzt ist nicht mehr die Rede davon, etwa nach Turin versetzt zu werden, wie Bismarck befürchtete, oder nach Konstantinopel, wie Gerüchte wissen wollten. Er verzeichnet, daß auch Ansehen und Einfluß Preußens wieder zu steigen beginnen. Er nimmt gern zur Kenntnis, daß Oberst von Krieg zur badischen Bundesmilitärkommission nach Frankfurt versetzt wird und an seine Stelle als Flügeladjutant des Großherzogs, von den Freunden Preußens lebhaft begrüßt, Wilhelm Freiherr von Seideneck tritt. So fühlt er sich wohl in Karlsruhe und mehr noch in BadenBaden, wo sich im Sommer die fürstliche Welt einfindet, so daß man gelegentlich auch von einer "Sommerresidenz Europas" sprechen hört. Damit ergibt sich eine I Bericht über seine Rückreise nach Karlsruhe, 19. März 1851 (Familienarehiv). Für das Folgende vgl. die Briefe an die Eltern, 22. April, 30. Juni, 14. Juli und 18. August 1851 (Familienarehiv). Die Sorge um den Gesundheitszustand des Vaters kommt öfters zum Ausdruck. Zur Beschäftigung mit der Stein-Biographie von Pertz: an die Eltern, 27. Mai 1851 (Nachlaß, S. 576).

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Fülle von Begegnungen und Einflußmöglichkeiten. In ihrem Mittelpunkt steht oft die Großherzogin Stephanie, jene ebenso lebhafte wie standhafte Verehrerin Preußens, der das Schicksal des Hauses Hohenzollern am Herzen liegt. Savigny erfreut sich ihres uneingeschränkten Vertrauens; vielleicht hat er damals die Beziehungen Bismarcks zu ihr vermittelt, die dieser sehr viel später erwähnt. Es lag nahe, daß man sich in Berlin seiner Verbindungen bediente, um über dynastische Eheverbindungen wünschenswerte Erkundigungen einzuholen. So scheint man im Oktober 1851 das Projekt einer Heirat zwischen dem Prinzen Friedrich Karl von Preußen, einem Sohn des Prinzen Karl, und der Prinzessin Carola Wasa, einer Enkelin der Großherzogin Stephanie, ins Auge gefaßt zu haben. Die Mutter des Prinzen, Prinzessin Maria von Sachsen-Weimar, eine Schwester der Prinzessin Augusta, hatte bereits wegen eventueller Heiratsmöglichkeiten für ihre Tochter Luise im badischen Hause mit Savigny korrespondiert. Diesesmal aber lief die Korrespondenz, wie es scheint, durch Savignys Vermittlung zwischen dem Prinzen von Preußen und der Großherzogin Stephanie, wobei sich allerdings schon bald ein unerwartetes Hindernis ergab: aus einem Briefentwurf Savignys ist zu entnehmen, daß Carola Wasa, bis dahin im evangelischen Bekenntnis ihres Vaters erzogen, die Absicht hatte, fortan dem katholischen Bekenntnis ihrer Mutter und Großmutter zu folgen. Während der Prinz von Preußen zunächst noch, dem Einfluß des protestantischen Vaters vertrauend, auf einen Gesinnungswandel der Prinzessin hoffte, mußte er aus einem weiteren Bericht Savignys sowie aus einem aufrichtigen Brief der Großherzogin Stephanie erkennen, daß der Entschluß der jungen Prinzessin unverrückbar feststand. Es war für beide Fürstinnen nicht leicht, der erwünschten Verbindung mit dem preußischen Königshause zu entsagen. Daß Carola Wasa später den sächsischen Kronprinzen und nachmaligen König Albert heiratete, hat damals noch keine Rolle gespielt. In einer Zeit, in der dynastische Verbindungen auch politische Realitäten waren, gehörten derlei Recherchen zum Aufgabenbereich der Diplomaten. Dessenungeachtet stand naturgemäß das politische Geschehen im Mittelpunkt aller Betätigungen. So war auch für Savigny die Zusammenarbeit mit Bismarck selbstverständlich. Die Korespondenzen geben darüber mancherlei Aufschlüsse. Auf einen nicht mehr vorhandenen Brief Savignys antwortet Bismarck am 15. September, er sei schon vierzehn Tage mit dem Gedanken umgegangen, ihn in Baden-Baden zu besuchen, habe es aber wegen einer Reise nach Berlin und Schönhausen unterlassen müssen; er würde sich "aus vielen Gründen" freuen, wenn Savigny ihn umgekehrt in Frankfurt aufsuchte. Vieles deutet darauf hin, daß die Aufnahme des Steuervereins in den deutschen Zollverein und damit auch ihre Auswirkung auf die bisherigen Zollvereinsstaaten sowie auf das Verhältnis zu Österreich zur Debatte standen. 2 Man darf hier wohl einen Zusammen2 Bismarck an Savigny, 15. September 1851 (Werke, 14/1, S. 241). Der Steuerverein war ein 1834 geschlossener nordwestdeutscher Zoll- und Handelsverband, der sich im Laufe der Jahre zunehmend mit dem Deutschen Zollverein arrangierte und in den er zum 1. Januar 1854 aufging.

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hang mit einem Bericht Savignys an den Außenminister vom 13. September sehen. Er hatte schon vorher berichten können, daß sich die Verhältnisse in Baden trotz der "ultramontanen Agitationen" gegen den Minister Marschall von Bieberstein weiter günstig gestaltet hatten (die Häupter der bisher in der Kammer wenig vertretenen Ultramontanen Franz Frhr. Rinck von Baldenstein und Heinrich Bernhard Frhr. von Andlaw-Birseck hatten ihre Mandate niedergelegt) und betont, daß man in Baden an die Zukunft des Zollvereins glaube. Am 13. Dezember äußert er sich ausführlich über die Stellung der Süddeutschen zum Zollverein: aus wirtschaftlichen Gründen müssen sie ihn aufrechterhalten, aus politischen Gründen aber Österreich einen Einfluß einräumen. Hiervon unterscheide sich Baden, schreibt er weiter, das derlei Wünsche nicht hege. "Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie sehr das moralisch-politische Ansehen Preußens ... auf dem Umstande beruht, daß wir die ausschließlichen Vertreter und Negotiatoren des größten Teils von Deutschland in allen Handelsfragen sind. Ebenso ist mir der stete Neid Österreichs wegen dieses Moments für unser Ansehen nicht entgangen ..." Die Übereinstimmung mit Bismarck ist unverkennbar. Dieser hat den Bericht, wie aus seinem Brief an Savigny vom 14. Dezember 1851 3 hervorgeht, eingesehen. Er erklärt sich mit seiner "lichtvoll entwickelten Auffassung" völlig einverstanden und zweifelt seinerseits nicht daran, daß die Regierung in diesem Sinne handeln werde. In Hannover hat er, wie er weiter schreibt, die Lage befriedigend gefunden. "Österreich schürt auch dort und sucht namentlich bei dem Minister Windthorst Anhalt zu finden." Er wäre jetzt gern in Berlin, "nicht um in der Kammer, sondern auf die Minister zu wirken, damit alles niet- und nagelfest bleibt ..." Und zum Schluß: "Es würde mir eine große Freude sei, Sie bald hier zu sehen." Einige Tage darauf ist es zu diesem Besuch gekommen. Hierbei hat sich eine nicht näher erkennbare Meinungsverschiedenheit aufgetan. Savigny hat sich bemüht, dergleichen zu beheben, und findet damit auch bei Bismarck ein freundliches Echo. 4 Eine politische Meinungsverschiedenheit hat wohl nicht vorgelegen. Vermutlich war es ein Zusammenstoß der so unterschiedlichen Temperamente. Savigny spricht von seiner "lebhaften Tirade", die den seit langem so unbefangenen freundschaftlichen Verkehr belasten könnte, von einem "Erguß von Empfindung", den Bismarck vielleicht mißverstanden habe. Aber er habe seine Sorgen und Wünsche unbefangen aussprechen wollen, und letztlich sei darin doch nur der Beweis seines unbedingten Vertrauens zu sehen. Savignys gewohnt temperamentvolle Gesprächsführung dürfte den ohnehin durch schwierige Dienstgeschäfte gereizten Freund erregt und seinerseits zu heftigeren Ausdrücken verleitet haben. Beide reagierten verletzt, aber wie Savigny noch am selben Abend das Mißverständnis auszuräumen suchte, so tat auch Bismarck alles, die Störung Bismarck an Savigny, 14. Dezember 1851 (Werke, 14/I, S. 243). Bismarck an Savigny, 30. Dezember 1851 (Bismarck-Jahrbuch VI, S. 25). Bismarck an Savigny, 6. Januar 1852 (Werke. 14/I, S. 247). 3

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schnell zu beheben. Er habe seinen Brief als wohltuend empfunden, und nun gehe er, wie er schreibt, schon dreimal vierundzwanzig Stunden mit einem Brief an Savigny auf dem Herzen umher. Er entschuldigt sich, daß er "nach einer achttägigen Flotten- Tracasserie unter ermattendem Gezänk mit Berlin und mit dem gesamten Bundestag so viel aufgespeicherte Galle" in sich trug, daß er "einen so alten und erprobten Freund ... mißverstehen konnte." Er sei mit Gewissensbissen zu Bett gegangen, ohne sich klar vergegenwärtigen zu können, wie die Sache gekommen sei, und dann der für Bismarcks Formulierungskunst bezeichnende Schlußsatz: "Sie werden mit mir darüber einverstanden sein, daß unsere langjährige Freundschaft reich genug ist, um ein kleines derartiges Saldo zu decken, ohne es durch die Bücher gehen zu lassen. Gott sei mit Ihnen im neuen Jahr und halten Sie mich stets für Ihren bei ungewohnter Geschäftslast mitunter verdrossenen, aber doch treuen Freund v. Bismarck." Man kann beide Briefe nicht lesen, ohne sich mit innerer Bewegung die damals zwischen beiden bestehende Freundschaft zu vergegenwärtigen. Verschieden in Temperament und Gemütsart, war bei ihnen für unkontrollierte persönliche Auseinandersetzungen kein Raum. Niemand konnte ahnen, daß darin dereinst eine entscheidende Wende eintreten sollte. Auf Jahre noch lebte man in freundschaftlicher Verbundenheit miteinander. Savigny hielt sich wiederholt im Bismarckschen Hause in Frankfurt auf. Es gibt vielleicht keinen Brief, der so unbefangen die Beziehungen widerspiegelt, wie sie zwischen dem Ehepaar Bismarck und Savigny bestanden, als der Brief Bismarcks an ihn vom 21. November 1852. Er ist nicht wortreich und verdient, ungekürzt wiedergegeben zu werden. "Theuerster Freund, kommen Sie denn nicht endlich einmal wieder hinter dem Hartwalde heraus? Ich begreife nicht, was ein unverheiratheter junger Mensch von Ihrer Lebendigkeit fortwährend in Carlsruh still sitzen kann? Was machen Sie da eigentlich? Dienstag Abend ist mein erster Ball, fassen Sie einen plötzlichen Entschluß, in der Art wie zur Zeit von Fauquemont, und kommen Sie her dazu. Sie werden mir sonst vollständig misanthropisch. Ihre Gesundheit gebietet Ihnen zu tanzen, u. meine Frau u. ich bitten Sie dringend, seien Sie liebenswürdig u. kommen Sie einmal wieder zu uns, ich sehne mich danach, Sie medisiren zu hören u. der Abnehmer Ihrer Unzufriedenheit zu sein. Ihr treuer Freund v. Bismarck." Und von Johannas Hand stand darunter: "Bitte, kommen Sie, kommen Sie jedenfalls, lieber Herr von Savigny! Wir freuen uns sehr herzlich u. erwarten Sie ganz bestimmt zum Dienstag (den 23.) J. V. B."5 Savigny ist der Einladung nicht gefolgt. Er bedankt sich in herzlichen Worten für die "treue Anhänglichkeit", doch seine derzeitige Stimmung erlaube ihm nicht, einem solchen Feste beizuwohnen, aber er verspricht, das Ehepaar in den nächsten Tagen zu besuchen. ,,sie beide zu sehen, darauf kommt es mir an, und dies soll mir wie immer der einzige Zweck meiner Reise sein," schreibt er. Wir 5 Bismarck an Savigny, 21. November 1852 (Werke, 14/ I, S. 282). Savignys Antwort vom 23. November im Bismarck-Jahrbuch, Bd. VI, S. 27 f.

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können nur vennuten, was ihn abgehalten hat, der Einladung zu folgen. Im April hatte er seinen Bruder Franz verloren. Bei seinem ausgeprägten Familiensinn erscheint es verständlich, wenn er sich jetzt nicht einer Ballveranstaltung überlassen wollte. Es ist auch in den nächsten Tagen nicht zu einem Zusammentreffen gekommen. Savignys Visitenkarte befand sich unter Bismarcks Posteingang. Es bleibt unklar, wieso es nicht zu der vorgesehenen Begegnung kam. 6 Das Jahr 1853 sollte für den nunmehr achtunddreißigjährigen Diplomaten auch jenseits aller beruflichen Obliegenheiten von besonderer Bedeutung werden. Er hatte sich in allen Situationen seines bisherigen beruflichen Daseins schnell zurechtgefunden und sich die Anerkennung seiner Vorgesetzten zu verschaffen verstanden; das Prinzenpaar hatte ihm ein besonderes Maß von Vertrauen entgegengebracht; er selbst hatte Freundschaften und Verbindungen aus längst vergangenen Tagen wie etwa zu den Brüdern Canitz oder Bismarck nie abreißen lassen. Nun stand er als Vertreter seines Königs auf einem für die preußische Bundespolitik hochbedeutsamen Posten. Was ihm zur Abrundung seines Daseins fehlte, war die Begründung eines eigenen Hausstandes, die Hineinnahme eines geliebten Wesens in den innersten Kreis seines Lebens. In den zurückliegenden drei wirrsäligen Jahren hatte er sich in einem Ausmaß beansprucht gesehen, daß außerhalb seines Pflichtenkreises an eine innere Erhöhung seines Daseins kaum ernsthaft zu denken war. Die von ihm so begehrte Beschäftigung mit Werken der Kunst, der Literatur oder der Geschichte war in den Hintergrund getreten. Nun tritt in beinahe regelmäßigen Abständen der Wunsch hervor, durch die Begründung einer eigenen Familie seinem Leben die noch fehlende Abrundung zu geben. Der Gedanke ist langsam gereift, aber er hat ihn nicht wieder losgelassen. "Was mir fehlt, ist eine Frau," heißt es schon in einem Brief vom Dezember 1849, "und dafür sollte die Mutter füglieh sorgen." Und ein halbes Jahr darauf heißt es: ,,zum Heiraten habe ich immer noch nichts gefunden. Es ist dies auch eine delikate Sache."7 Wäre es ausschließlich nach ihm gegangen, so hätten sich seine Vorstellungen schon bald konkretisiert. "Das Bedürfnis," so äußerte er sich bald, "erwacht immer mehr in mir, zu einem friedlichen Abschluß mit der jugendlichen Hälfte meines Lebens zu gelangen ... daher ist mir jetzt der Wunsch gekommen, 6 Bismarck an Savigny, 1. Dezember 1852 (Werke, 14/1, S. 283). In dem Brief heißt es zum Schluß: "Meine Frau u. ich sehn mit Sehnsucht dem Augenblick entgegen, wo Sie in Person diesem Beispiel (der Visitenkarte) folgen werden, u. hätten Sie gesehn, wie wir uns schon über Ihre Karte freuten, so kämen Sie bald." - Zum Jahresbeginn schickt Savigny ihm "als einer Ihrer Vasallen, zur Recognition des feudalen Verbandes, eine Pastete aus Montauban." Bismarck bedankt sich herzlich und beginnt seinen Brief mit den Worten: "Mit Bedauern haben meine Frau u. ich Ihren Besuch vermißt u. geben die Hoffnung nicht auf, Ihre wohlthuende und jederzeit gern gesehene Erscheinung in nächster Zeit einmal wieder hier begrüßen zu können." Zum Schluß heißt es: "Wenn Sie herkommen, so machen Sie uns die Freude, Ihr Quartier bei uns im Hause aufzuschlagen; ich habe sehr reichlich Platz." (Savigny an Bismarck, 15. Januar 1853 im BismarckJahrbuch, S. 28 f. und Bismarcks Antwort vom 2. Januar 1853 in der Ausgabe der Werke, 14/1, S. 289). 7 Savigny an seine Eltern, 26. Dezember 1849 und 20. Juni 1850 (Familienarehiv).

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mir durch eine Heirat einen eigenen häuslichen Herd zu gründen, wenn solches möglich ist ... Von den jungen Damen, die ich im Vaterlande kennengelernt habe, ist die einzige, welche mir einen angenehmen Eindruck zurückgelassen hat, die Gräfin Anna VOß."8 Er bittet die Mutter, diskret die Möglichkeiten zu sondieren, unter anderem auch in Erfahrung zu bringen, was die - eigene Familie zu einer Verbindung mit dieser Tochter des Generals von Voß sagen würde. Die Mutter ist der Bitte nachgekommen: Anna Voß war bereits verlobt. "Mit mir hat es nicht sein sollen," reagiert der Sohn, "und das hat wohl auch sein Gutes." Als Bismarck seinem Freunde die Geburt seines zweiten Sohnes (Wilhelm) mitteilt, verbindet er damit eine kennzeichnende Bemerkung. 9 Er beklage, so schreibt er, "dabei nur, daß für denselben bisher so wenig Aussicht ist, dermaleinst mit einem Savigny junior ein ebeno heiteres Referendariat zuzubringen als ich mit senior in Aachen." Noch einmal spiegelt sich in diesen Worten die unbeschwerte, von den Regeln des Verwaltungsdienstes noch nicht gegängelte Atmosphäre der gemeinsamen Aachener Zeit wider. Wie endlos weit lag sie doch zurück, da jeder für sich jetzt doch ein gehöriges Maß an Verantwortung zu tragen hatte, und doch erscheint sie umflossen vom warmen Licht des versinkenden Tages. Keiner von beiden hätte jene Zeit aus seinem Dasein entbehren wollen. Festzuhalten, was davon festzuhalten war, aus jenem Paradies der Erinnerungen sich nicht vertreiben zu lassen, sondern als eine unauslöschliche Bewußtseinstatsache mit sich weiterzutragen, das kennzeichnet nicht zuletzt die fortwirkende Jugendlichkeit beider, solange die Freundschaft sie verband. Bismarck und seine Gemahlin hatten ihn schon des öfteren scherzhaft ermuntert, zu heiraten. Als er ihm Anfang Februar 1853 eine Einladung zu einem Ball schickt, fügt er in einer Nachschrift hinzu: "Man sagt sie hier verlobt, mit?" 10 Wir dürfen annehmen, daß sich diese Bemerkung Bismarcks auf einen Plan bezieht, der Savigny schon längere Zeit beschäftigt hatte, der dann aber letztlich gescheitert ist, so daß seine in einem Brief vom 23. November 1852 angedeutete "melancholische Stimmung" nicht weiter verwundert. Die Zusammenhänge sind nicht restlos zu klären. Es handelt sich um die Tochter einer russischen Familie, die Savigny in Baden-Baden, wahrscheinlich im Hause des ihm befreundeten russischen Geschäftsträgers Johann von Ozeroff, kennengelernt hatte. Dem Ehepaar Ozeroff hat Savigny oft sein Herz ausgeschüttet. "Ozeroffs," so schreibt er den Eltern am 3. Dezember 1852, "sind mir stets herzliche und treue Freunde, mein täglicher Umgang und eine zweite Familie." Und an einer anderen Stelle heißt es: "Ozeroff hat sich mir gegenüber wie ein Engel erwiesen; meine Dankbarkeit dafür soll niemals erlöschen." 11 Die Fürstin Gagarin (französische Schreibweise: Gagarine) 8 Savigny an seine Eltern, 1. Oktober 1851 (Nachlaß, S.583). Der darauf zitierte Brief des Sohnes ist vom 24. November 1851 (Familienarchiv). 9 Bismarck an Savigny, 31. Juli 1852 (Nachlaß, S. 592). 10 Bismarck an Savigny, 4. Februar 1853 (Werke, 14/1, S. 290). "Melancholischer Freund": Savigny an Bismarck, 23. November 1852 (Bismarck-Jahrbuch, VI, S. 28).

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hatte Savigny schon einige Zeit zuvor in ihren Kreis gezogen, so daß er sich wohl Hoffnung auf eine ihrer Töchter machen durfte. Die weit verzweigte Familie Gagarin verfügte in Baden über mehrere ansehnliche Besitzungen. Hier handelte es sich vermutlich um die Familie des Fürsten Sergius Gagarin, eines kaiserlichrussischen Oberhofmeisters, der 1852 in Baden-Baden gestorben war. Seine Witwe Isabelle, geb. Gräfin Walewska, zog mit ihren Kindern nach BadenBaden, wo sie alsbald ein Landhaus erwarb. In Savignys Briefen dürfte die älteste Tochter, Warwara geheißen, gemeint sein. 12 Seine ersten Äußerungen klingen zuversichtlich. Was er habe schreiben wollen, bekennt er am 19. November, eigne sich nur für eine mündliche Besprechung. "Ich glaube nach reiflicher Prüfung das Richtige erkannt und meinerseits erwählt zu haben; noch ist nichts Definitives abgemacht; das erlauben die Umstände nicht, und augenblicklich ist das vollständigste Schweigen gegen jedermann für mich eine besondere Pflicht ... Im Frühjahr wird sich vermutlich mein Los entscheiden. Allein bis dahin darf auch niemand von meinen Absichten eine Ahnung haben." 13 Ende Januar / Anfang Februar 1853 stand fest, daß das Ganze nur eine Episode war. "In wenigen Worten will ich Euch aber doch andeuten, was geschehen," schreibt Savigny am 8. Februar enttäuscht, "ich hatte im Laufe längerer, fortgesetzter indirekter Korrespondenzen wahrnehmen zu müssen geglaubt, daß in Pet. (ersburg) nicht alles so stand, wie ich es erwarten durfte. Der Zweifel fing an, mir unerträglich zu werden, und ich durfte nicht länger anstehen, lieber abzubrechen als mich gewissermaßen selbst aufreiben zu sehen ... " Und am 27. Februar heißt es: "Ich habe acht schwere Tage zugebracht; sie sind überstanden. Mein Herz wurde mir gebrochen, und der erste Schmerz war heftig; jetzt ist es vorüber, und ich bin wieder der alte, vor allem Euer treuer und gehorsamer Sohn." Abstand will er gewinnen. Mit den Ozeroffs reist er für einige Tage nach Paris. Zur Geburtstagsfeier des Prinzen erscheint er in Koblenz. Dann führt ihn der Weg über Frankfurt, wo er die Bismarcks besucht, zu seinen Eltern nach Berlin. 14 Savigny an die Eltern, 19. November 1852 (Nachlaß, S. 601 ff.). Das Landhaus befand sich etwa an der Stelle, wo heute das Friedrichsbad steht. Später bezog die Fürstin ein Palais am heutigen Augustaplatz. Die älteste Tochter Warwara (1825 in St. Petersburg bis 1893 Baden-Baden) heiratete später den Baron von Plessen; ihre Schwester Alexandrine, genannt Aline (1826 Moskau bis 1908 BadenBaden) blieb unverheiratet, desgl. ihre Schwester Lolo, die 1851 in Wien starb. Die jüngeren Geschwister (Marie, Tatiana und Sergey) sind für unseren Zusammenhang belanglos. Wie und wo der im badischen Hof- und Staatshandbuch für 1853 als Träger des Ritterordens vom Zähringer Löwen genannte kaiserlich russische Garde-Lieutenant Fürst Gagarin einzuordnen ist, bleibt unklar (freundliche Mitteilung aus dem Stadtarchiv in Baden- Baden). 13 Savigny an seine Eltern, 19. November 1852; zum folgenden auch seine Briefe vom 8. und 27. Februar 1853 (Nachlaß, S. 600 ff.). 14 Savigny hat den Pariser Aufenthalt für einige Tage unterbrochen, um das Prinzenpaar in Koblenz zu besuchen, wo er die ,,herzlichste Aufnahme" fand. Von Paris aus kündigt er seinen Besuch in Berlin an (24. März und 20. April 1853, Familienarchiv). 11

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Er konnte nicht wissen, daß sich dort inzwischen für ihn eine entscheidende Wende angebahnt hatte. Im Salon der Eltern traf er in einem kleinen Kreis mit seiner zukünftigen Gemahlin, der Gräfin Marie von Arnim-Boitzenburg, zusammen, die mit ihrer Mutter, vermutlich nicht ohne Frau von Savignys Zutun, erschienen war. Wielange war es doch her, seitdem er als junger Auskultator im Hause des Aachener Regierungspräsidenten Adolf Heinrich Graf von ArnimBoitzenburg jenes damals sechsjährige Mädchen beim Spiel mit ihren Puppen hatte beobachten können! Die Jahre hatten ihn reifen lassen, und auch aus dem Kinde war eine junge Dame geworden, eine "neue Schönheit und wirklich liebenswürdige Erscheinung", wie Savignys Mutter ihm schon zwei Jahre zuvor geschrieben hatte. In der Obhut ihrer Eltern hatte sie eine sorgenfreie Jugend verlebt und eine sorgfältige Erziehung genossen. Aus der weitverzweigten Familie der Amims hatte sie sich insbesondere den Kindern des Dichterehepaars Achim von Arnim und Bettina Brentano angeschlossen, der etwa dreizehn Jahre älteren Maximiliane und der zehn Jahre älteren Armgart von Amim. Sie war zweifellos ein musisch begabtes Wesen. Sie hat Gedichte geschrieben wie so manche Gleichaltrige auch; aber sie hat auch gemalt, und hierin sollte sie schon bald eine anspruchsvolle Weiterbildung erfahren. Jetzt saß die Einundzwanzigjähre unter so gänzlich anderen Auspizien als einstmals in Aachen dem Herrn von Savigny gegenüber, jung auch er, aber gereift durch die Erfahrungen eines jahrelangen Dienstes, fleckenlos in seinem bisherigen Auftreten, geformt von den elitären Ansprüchen seines Elternhauses und den Anforderungen seines Berufes. War es zu verwundern, daß die junge und begabte Schönheit auf den gereifteren Savigny einen solchen Eindruck machte, daß er sich entschloß, um sie zu werben? Das Echo, das er bei ihr fand, durfte ihn ermutigen, und damit gewann er auch schon bald Neigung und Vertrauen ihrer Eltern. Entscheidend dafür war weniger die Zustimmung der Mutter Anna-Karoline, Gräfin von der Schulenburg aus dem Hause Wolfsburg, als des Vaters, des Grafen von Arnim-Boitzenburg, eines erblichen Mitglieds des Herrenhauses und eines der angesehensten Grundbesitzer des Landes. Was vielleicht nahe gelegen hätte, die Verbindung der ältesten Tochter mit einem unbescholtenen Angehörigen des alteingesessenen Adels anzustreben, für Graf Arnim galt diese Kategorie des Zweckdenkens nicht. Er hatte in jungen Jahren eine steile Laufbahn im Dienste des Königs durcheilt, und bei aller selbstverständlichen Verpflichtung, das väterliche Erbe zu hüten, hat er Zeit seines Lebens im Staatsdienst den höchsten und verbindlichsten Daseinszweck eines jungen Mannes gesehen. In der freiwilligen Anerkennung dieser überpersönlichen Werteordnung und der für ihn unzerreißbaren hierarchischen Strukturen erlebte er seine innere Freiheit und letzte Lebenserhöhung. Ein junger, aufstrebender Diplomat, der schon des längeren an verantwortlicher Stelle gestanden und der als Vertrauensmann des Thronfolgers offenbar noch eine bedeutsame Laufbahn vor sich hatte, konnte ihm als Schwiegersohn in hohem Grade willkommen sein. Er nahm auch dankbar an, daß seine Tochter in eine Familie hineinheiratete, in der es galt, ein reiches literarisches Erbe zu hüten und damit einen Namen zu tragen, 10 Real

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der in der abendländischen Geisteswelt in besonderem Ansehen stand. So waren alle inneren und äußeren Voraussetzungen für die Begründung eines angemessenen Hausstandes gegeben; es durfte erwartet werden, daß sich keinerlei Hindernisse mehr in den Weg stellten. Es traf wohl zu, was Graf Eduard von Oriola, der demnächst Karl Friedrichs Kusine Maximiliane von Arnim heiratete, ihm schrieb: er werde von vielen um sein Glück beneidet. Radowitz schrieb ihm unterm 27. Mai: "Meine Wünsche für das reichste Gedeihen Ihrer Ehe sind so innig wie die irgend eines Ihrer Nächsten, und ich werde ihnen noch lebendigeren Ausdruck geben können, wenn Sie mir erst anvertraut haben werden, wem sich Ihr Herz und Ihre Hand zugewendet haben." 15 Die Konfessionsverschiedenheit in der bevorstehenden Verbindung war nicht zu übersehen. Sie überraschte Freunde und Näherstehende. Selbst aus seinem franzöischen Freundeskreis gingen Savigny Anmerkungen des Bedauerns zu. Graf Friedrich von Arnim, ein Onkel der Braut und selbst einer streng kirchlichen Richtung angehörend, wandte sich an den Bruder, ob denn nicht wenigstens die evangelische Erziehung der Töchter gesichert sei. Aus der Antwort des Vaters sprach eine noble Haltung: er verwies auf die gesetzlichen Bestimmungen, nach denen die Kinder der Konfession des Vaters zu folgen hatten. Wir wissen aus mancherlei Andeutungen und mündlichen Überlieferungen innerhalb der Familie der Arnims, daß man über die Konfessionsverschiedenheit keineswegs glücklich war und kritische Bemerkungen unterschiedlicher Vehemenz die Runde machten, aber am Ende setzte sich doch der Respekt vor der Entscheidung der jungen Frau durch und nicht zuletzt auch die Hochachtung vor dem Gesamteindruck, den Karl Friedrich von Savigny auf seine Umgebung machte. Man durfte der zuversichtlichen Hoffnung sein, daß hier ein Bund geschlossen wurde, der beiderseitiges Glück verhieß. Es gibt kein Zeugnis dafür, daß etwa die eine oder die andere Seite jemals mit der Entscheidung vom Frühjahr 1853 unzufrieden gewesen wäre. Graf Arnim war von einer achtunggebietenden und abwartenden Zurückhaltung; es hat mehrere Jahre gedauert, ehe sich zwischen ihm und Savigny jener Ton des Vertrauens und des unmittelbaren persönlichen Mitteilens einstellte, den vielleicht manche vordergründig Urteilende voreilig anzunehmen bereit waren. Indessen traten die Attribute der Korrektheit und der tradierten formalen Höflichkeit mit der Zeit zurück, und es entwickelte sich zwischen beiden Männern ein sehr herzliches Verhältnis und gegenseitiges Verstehen. Der am 27. Mai bekannt gegebenen Verlobung folgte am 3. August die kirchliche Trauung, die der katholische Propst von St. Hedwig in Berlin, Pelldram, in Boitzenburg vornahm. 16 Radowitz an Savigny, 27. Mai 1853 (Nachlaß, S. 610). Die Verlobung ließ Graf Amim durch den Minister des königlichen Hauses, Anton Graf zu Stolberg-Wemigerode, dem König mitteilen. Unendlich zahlreich sind die Glückwünsche; sie reichen von dem weiteren Verwandtenkreis bis zu Lynar in Dresden, Blittersdorff in Frankfurt, zu dem einstigen Außenminister Werther und seinem Sohn, seinem Schwager Konstantin Schinas, dem jungen Eichmann in Konstantinopel und 15

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Eine überaus harmonische und gottgesegnete Ehe nahm damit ihren Anfang. Marie von Savigny war fortan der strahlende Mittelpunkt der jungen Familie. Wie sie sich in der Nähe ihres Gatten geborgen fühlte, so vermittelte auch sie ihm das Bewußtsein liebevoller Anteilnahme an dem Geflecht seiner Empfinden wie an den wechselnden Pflichten und Erwartungen seines dienstlichen Auftrags. Dann führt Savigny seine junge Gemahlin ihrer neuen Heimat entgegen. Unterwegs verweilen sie einige Tage in Dresden, wo sie mehrere Ausflüge in die nähere Umgebung unternehmen. Bismarck hatte sie schon vor der Augustmitte erwartet, aber sie treffen erst am 18. in Frankfurt ein, das Bismarckjedoch bereits mit dem Beginn der Bundestagsferien verlassen hatte, um in Ostende und Norderney einige Tage auszuspannen. 17 In Baden-Baden erwartet die junge Frau ein großer geselliger Kreis. Sie lernt es bald, die vielerlei Obliegenheiten des Gatten zu teilen. Unter den Kurgästen treffen sie Freunde aus Frankreich, wo immer diese auch in der Vergangenheit Savignys Weg gekreuzt haben. Maries Briefe strömen über von Bezeugungen der Dankbarkeit und des liebevollen Gedenkens. In allen Details schildert sie die von ihm vorbereiteten Arrangements ihrer Bleibe. Sie genießt den Garten vor ihrem Hause und entdeckt an der Hand Karl Friedrichs ihre neue Umgebung. Sie wiederholt die Einladung an ihre und ihres Gatten Eltern und kann kaum abwarten, sie in ihrem Heim zu empfangen. Bald beginnt auch der Kreis ihres Daseins sich zu weiten. Sie unternehmen Ausflüge und kürzere Reisen in die Umgebung. In Schlangenbad treffen sie mit dem Prinzen von Preußen, seiner Gemahlin und der jungen Luise zusammen; mit den Ozeroffs geht es wiederum nach Straßburg, mit der Lady Loftus, der Gemahlin des jungen englischen Diplomaten Lord Augustus Loftus, der später einmal Gesandter in Berlin wird, besuchen sie das alte Schloß. Marie nutzt derlei Exkursionen gelegentlich, um geeignete Motive in ihrem Skizzenbuch festzuhalten. Mit der Großherzogin Stephanie verbindet das Paar schon bald eine auf Gegenseitigkeit beruhende Sympathie. In ihrem Salon werden französische Verse vorgelesen und Szenen aus dem Faust besprochen. Häufig besuchen sie das Theater, auch wenn es Marie nur "passabel, nicht besonders ausgezeichnet" findet. Sie empfangen den Besuch des Freiherrn von Meysenbug, der ihnen aus Berlin berichtet und von dem alten Savigny erzählt, um dessen Gesundheitszustand sie sich immer wieder ernste Sorgen vielen anderen. Unter den an der Vermählungsfeier Teilnehmenden befanden sich Otto von Manteuffel, der ehemalige Finanzminister, Albrecht Graf von Alvensleben-Erxleben, Balan, Graf Redern, Graf von Amim-Criewen u. a. m. Savignys Eltern nahmen nicht daran teil. Der Gesundheitszustand des gerade zur Kur weilenden Vaters ließ es nicht zu. Bruder Leo war wohl der einzige katholische Trauzeuge. Nach Savignys Brief vom 4. August hat es offenbar zwei kirchliche Feiern gegeben: gegen elf Uhr vormittags in der Dorfkirche zu Boitzenburg, dann in der Schloßkapelle, in der die kirchliche Trauung stattfand. Zeugnisse im Nachlaß, S. 610 ff.; weitere Briefe im Familienarchiv, so Savigny an seine Eltern, 24. Juni, 14. Juli, 4. und 18. August. 17 Bismarck an Hatzfeldt, 12. August 1853 (Werke, 14/1, S. 317). 10*

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machen. 18 Die Kontakte zu den Berufskollegen bahnen sich allmählich an. Der bayerische Gesandte Ferdinand von Verger tritt als einer der ersten in ihren Kreis. Mit dem Auslaufen der Kur- und Erholungszeit bereiten sie Ende Oktober ihre Übersiedlung nach Karlsruhe vor. Die Einrichtung einiger Zimmer bedarf noch der Vervollständigung. Marie ist bemüht, ihr Heim bis in die Details wohnlich auszugestalten. Sie sucht Kronleuchter, Spiegel, Emaillearbeiten und Teppiche aus. Savigny erwirbt Equipage und Reitpferde. An allem, was aus Berlin berichtet wird, nehmen sie den lebhaftesten Anteil. Sie verfolgen das gesundheitliche Auf und Ab des kränkelnden Radowitz und sind erschüttert, als der Freund langer Jahre am Weihnachtstage stirbt. An dem in der Residenz sich entfaltenden gesellschaftlichen Leben nehmen sie nur mit Zurückhaltung teil. Sie verschließen sich zwar nicht dem Unvermeidbaren, aber ihre Geselligkeit suchen sie lieber bei vertrauten Freunden. Aus dem weitverzweigten Verwandtenkreis sind es nur die ihnen zunächst Stehenden, denen sie einen Einblick in ihre kleine glückliche Welt gestatten. 19 Mit Bismarck verbindet Savigny die gemeinsame Wahrnehmung des preußischen Staatsinteresses. Er begleitet die Bemühungen des Freundes, der nach eigenen Aussagen "ziemlich gut österreichisch" gesinnt nach Frankfurt gekommen war und nun einen auf völliger Gleichberechtigung mit der Donaugroßmacht beruhenden modus vivendi anstrebt, mit Zustimmung und Sympathie. 20 Er erinnert ihn an die österreichischen Wühlereien im oberen Deutschland und in Italien und beschwört ihn, unbedingt vor Prokesch-Osten auf der Hut zu sein. Bismarck wiederum nimmt die Anregungen dankbar entgegen, freilich hinzufügend, jetzt etwas leiser auftreten zu müssen, wolle er sich nicht dem Vorwurf eines "übertriebenen Borussismus" aussetzen. Gegen Ende des Jahres 1853 beginnt Savigny, sich auch mit dem badischen Kirchenkonflikt zu beschäftigen. Sich als bekennendes und keine Einschränkungen duldendes Glied seiner Kirche verstehend, beobachtet er den Konflikt mit einem hohen Maß gebotener Zurückhaltung. In seinen Privatbriefen, vor allem in denen an die Eltern, spricht er sich bei allem Verständnis für die Belange der Kirche deutlich für die Rechte des Staates aus. Als er wahrzunehmen glaubt, daß die Bischöfe "nunmehr der 18 Marie von Savigny an ihre Schwiegennutter, 14. November und 1. Dezember 1853 (Familienarchiv). Vgl. außerdem Maries Briefe an ihre Eltern vom August und September 1853 (Nachlaß, S. 619 ff.). 19 Dazu gehört auch die folgende Bemerkung aus seinem Neujahrsgruß an die Mutter: " ... Hoffentlich beschert Euch das nun beginnende neue Jahr ... eine Erweiterung der Familie durch eine neue Generation ... " (30. Dezember 1853, Familienarchiv). 20 Bismarck an Leopold von Gerlach, 28. April 1856 (Werke, 14/I, S. 440 f.). Vgl. auch Savignys Briefe an Bismarck vom 2. Februar und 4. März 1853 (Bismarck-J ahrbuch, VI, S. 29 f.) sowie Bismarcks Brief an ihn vom 4. März 1853 (Werke, 14/1, S. 293). Wie aufmerksam Savigny auch die österreichische Politik in Italien verfolgte, zeigt eine Äußerung Leopold von Gerlachs in den Denkwürdigkeiten, 11, S. 44).

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bestehenden Gesetzgebung vollkommen den Gehorsam" aufkündigten, erklärt er, daß er dieses "natürlich nicht billigen" könne und "es auch nicht als im Geiste der Kirche rätlich und geboten anerkenne." Natürlich wünscht er, daß auch die Kirche zu ihrem Recht kommt, aber er fügt hinzu, "daß sich alles ordnen ließe ohne Beeinträchtigung der Autorität der Regierung."21 Wo er diese gefährdet sieht, ergreift er für sie Partei. Ihm ist noch erinnerlich, was er an ungünstigen Eindrücken von den Zuständen in bei den Konfessionen gewonnen hatte, als er mit den preußischen Interventionstruppen nach Baden kam. Die evangelische Kirche hatte auf ihrer eigenen Synode Religionsspöttereien nicht verhindern können. In Freiburg hatte er die katholische Kirche im "jämmerlichsten Zustande" vorgefunden. Aus dem erzbischöflichen Seminar hatten sich zahlreiche junge Leute entfernt, um sich den Insurgenten anzuschließen. In einem Konviktshaus, das den preußischen Truppen als Lazarett diente, hatte man Schußwaffen gefunden und war man auf zahlreiche Symptome der "Verwahrlosung katholischer Kirchenzucht" gestoßen. All das macht verständlich, daß er dem auf die Selbstbestimmung der Kirche gegen jede Form des Staatskirchentums festgelegten Freiburger Erzbischof Hermann von Vicari 22 kritisch gegenüberstand. Er vermerkt, daß er nach dem Einmarsch der preußischen Truppen in Freiburg den Kirchenfürsten lange vergeblich gedrängt hatte, einen die Wogen der Erregung glättenden Hirtenbrief zu erlassen. Er hatte den Generalkommissar bei der preußischen Militärbehörde, Geheimrat Schaaff, veranlaßt, den Erzbischof auf seine Pflicht aufmerksam zu machen, die Geistlichen zu ermahnen, sich nicht auf preußenfeindliche Demonstrationen einzulassen. Umgekehrt hat Savigny schon bald nach der Niederwerfung des Aufstandes seinen Einfluß geltend gemacht, die nach den geltenden Bestimmungen immer noch erschwerte Tätigkeit der Jesuiten wieder zu normalisieren. Über den Erfolg seiner Initiativen hat er sich noch nach vielen Jahren mit Genugtuung geäußert. Schon Ende 1850 konnte er zusammenfassend berichten: "Die Restauration der Ordnung in Baden durch Preußen hat ... nicht allein die materielle Zucht im Lande wiederhergestellt, sondern auch den höheren Begriffen von religiöser Ordnung in einer Art und Weise Bahn gebrochen, daß man schon jetzt, kaum nach Jahresfrist, sich an den Früchten der Wiederaufrichtung des Kreuzes erfreuen kann. In beiden Kirchen ... ist ein so reges Leben erwacht, wie man es hier vordem niemals gekannt hatte. Nicht allein die Kirchen sind überfüllt, sondern auch die Diener der Kirche wetteifern nunmehr mit den weltlichen Behörden in Wiederherstellung der christlichen Ordnung im gesamten öffentlichen Leben sowie im besonderen in der Schule."23

21 Savigny an die Eltern, 28. November 1853 (Nachlaß, S. 629). 22 Hermann von Vicari (1773-1868) war schon 1836 zum Erzbischof gewählt, aber

erst 1842/43 von der badischen Regierung und dem Papst bestätigt worden. Es war der kompromißloseste Verteidiger der kirchlichen Positionen im badischen Konflikt. 23 Savigny, Immediatbericht an den König von Preußen, 27. Juni 1850 (Großherzogturn Baden, S. 575 f.).

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Und nun sollte das Großherzogturn einem Konflikt mit der katholischen Kirche entgegensteuern? Josefinisch-aufklärerisches Gedankengut des Freiherm von Wessenberg war in Baden über die Jahrzehnte hinweg lebendig geblieben und drängte auch jetzt wieder, wenn auch in abgewandelter Form, nach vom. Andererseits hatte Vicari seit 1848 die Regierung mehrfach aufgefordert, die Entfaltungsmöglichkeiten der Kirche gegenüber allen denkbaren Beeinträchtigungen seitens der weltlichen Gewalt rechtlich abzusichern. Im Grunde suchten beide Konfessionen nach einer größeren Selbständigkeit gegenüber der bisher gesetzlich weit ausgedehnten staatlichen Kontrolle. Schwierig wurde die Situation vor allem, als der Erzbischof die Genehmigung der von ihm angemeldeten Ansprüche nicht abwartete, sondern Rechte geltend machte, die ihm gesetzlich noch nicht eingeräumt waren. Daß sie ihm auf die Dauer nicht vorenthalten werden konnten, war allgemeine Überzeugung. Aber auch Savigny war der Meinung, daß eine Regelung der kirchlichen Verhältnisse erst nach einer allgemeinen Beruhigung in ganz Deutschland eingeleitet werden sollte, und auch dann nur in Abstimmung mit den übrigen Regierungen der oberrheinischen Kirchenprovinz. Er befürchtete zudem, daß in dem fast achtzigjährigen Vicari den staatlichen Instanzen ein unbequemer Verhandlungspartner gegenüberstand. Auf der im Frühjahr 1851 in Freiburg zusammentretenden Synode der Bischöfe der oberrheinischen Kirchenprovinz nahm das Programm der Ansprüche bereits deutliche Konturen an. 24 Einen Schritt weiter ging der Erzbischof, als er im Frühjahr des folgenden Jahres seine Suffragane um sich versammelte, um sich nochmals an die Regierungen zu wenden und die "Abschaffung eines ganz prinzipienhaft aufgestellten Systems zu verlangen, dessen konsequente Handhabung den vollständigen Ruin der Kirche . . . herbeiführen würde." An diesen sich hier andeutenden Auseinandersetzungen war Preußen insofern beteiligt, als die beiden Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen und Hohenzollern-Hechingen ihre Lande 1849 an Preußen übertragen hatten. Savigny regte an, daraus die Konsequenzen zu ziehen und sich an den zu erwartenden Verhandlungen zu beteiligen. Er wurde dieserhalb bei Rüdt vorstellig und entwickelte in einer Denkschrift auch der Berliner Regierung seine Gedanken. Der Kultusminister KarlOtto von Raumer trug indes Bedenken gegen eine unmittelbare Beteiligung Preußens, da er angesichts der Neigung im südwestlichen Deutschland, die Kirche mehr als in Preußen zu bevormunden, Nachteile für die Untertanen in den Hohenzollernschen Landen befürchtete, die letztlich doch erwarten durften, 24 Eine von Legationsrat Moritz Lieber verfaßte Denkschrift der Bischöfe verlangte von den Regierungen vor allem 1) das Recht, ihre Priester selbst zu erziehen und anzustellen, über Priester und Laien die kirchliche Disziplinargewalt zu handhaben, 2) katholische Schulen zu errichten und aufrechtzuerhalten, 3) das religiöse Leben zu leiten und die diesem Ziel dienenden Institute und Genossenschaften zu errichten und 4) das der katholischen Kirche im Westfälischen Frieden und im Reichsdeputationshauptschluß ausdrücklich garantierte Vermögen auch selbst verwalten zu dürfen (H. BTÜck, Geschichte der katholischen Kirche in Deutschland im 19. Jahrhundert, 4 Bde., Mainz 1887/ 1908, hier: III, S. 110).

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daß auch für sie die gleichen kirchlichen Freiheiten wie in Preußen galten. Er sprach sich dafür aus, lediglich einen Kommissar, sozusagen als Beobachter, zu den Verhandlungen zu entsenden, und nominierte dafür Rudolf von Sydow, damals mit den Regierungsgeschäften in Hohenzollern betraut, einen Kenner der süddeutschen Verhältnisse und von besonderem Wohlwollen gegenüber den Belangen der katholischen Kirche. Der badische Kirchenkampf braucht hier nicht in allen Einzelphasen verfolgt zu werden. Hier geht es nicht um die Fortführung der Universitätsausbildung der jungen Theologen oder um die Errichtung bezw. Weiterführung der theologischen Fakultäten, auch nicht um die Schwierigkeiten, die sich aus der Persönlichkeit des greisen Erzbischofs ergaben. Wichtiger ist hier die Frage, inwieweit preußische Interessen berührt wurden, unter welchen Voraussetzungen die kirchliehen Verhältnisse ill Preußen auch in den Hohenzollern'schen Landen anwendbar waren und welche Haltung Savigny hier einnahm. Savigny hat sich in seiner Berichterstattung die äußerste Zurückhaltung auferlegt. Im sogenannten Trauerkonflikt 25 , über den zunächst der junge Peucker berichtet hatte, 26 bestätigt er diese Haltung. Am 21. Mai schreibt er: "Hoffentlich wird der bedauernswerte Vorfall nicht länger Parteimanövern dienstbar gemacht, um in Baden auf kirchlichem Felde zu agitieren, wie früher auf dem Gebiete der politischen Doktrin." Und einige Tage darauf heißt es, daß selbst der jüngst in Baden erschienene Bischof Andreas Räß von Straßburg, der wie schon in den vorausgegangenen Jahren an Vicaris Stelle die heilige Firmung gespendet hatte, das Verhalten des Erzbishofs "weder vorsichtig noch korrekt" genannt habe. Am 4. Juni konnte Savigny über den zwei Tage zuvor gefeierten Dank- und Bittgottesdienst berichten, katholische Soldaten und Behörden hätten an ihm teilgenommen; 25 Am 24. April 1852 war Großherzog Leopold gestorben. Die Regierung hatte für den 11. Mai Trauergottesdienste in den evangelischen Kirchen und in den katholischen ein Seelenamt, offenbar ohne vorherige Verständigung mit der kirchlichen Behörde, angeordnet. Der Erzbischof hatte das Amt verweigert, "weil ohne besondere päpstliche Erlaubnis kein solemnes Amt für einen Nichtkatholiken gehalten werden dürfe", und statt dessen eine Trauerfeier am Nachmittag angeordnet. In einem Zirkular vom 6. Mai hatte die Regierung dieses nicht als genügend angesehen, da auch beim Tode der früheren Großherzöge Karl Friedrich (1811), Karl (1818) und Ludwig (1830) Totenämter gehalten worden seien. Das Ordinariat berief sich auf eine neuerliche päpstliche Entscheidung aus Anlaß des Todes der Königin Karoline von Bayern (1841). Der Prinz-Regent Friedrich reagierte besonnen, um eine Beunruhigung der öffentlichen Meinung zu vermeiden. Die Minister glaubten (wie Savigny vermutet, wohl nicht zu Unrecht), daß der Erzbischof mit Vorbedacht zu dem harten Auftreten veraniaßt worden sei. Nachträglich hat Vicari in einem ausführlichen Schreiben an den Regenten sein Verhalten erklärt. Prinz Friedrich war zu einer Beantwortung nicht bereit, da er sein Gefühl nicht versöhnt sah und er in eine kirchenrechtliche Auseinandersetzung sich einzulassen sich nicht für berufen betrachtete. Er wolle aber den Erzbischof wieder besuchen, sobald er nach Freiburg komme, um zu zeigen, daß er der Kurie jede Ehre erweise und persönliche Empfindungen nicht nachtrage. 26 Eduard Peucker jun. vertrat damals Savigny, dessen Bruder Franz (geb. 1808) am 19. April 1852 in Berlin gestorben war.

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Rüdt habe ihm gegenüber geäußert, wie dankbar die Regierung empfinde, daß man in Rom das Auftreten des Erzbischofs mißbilligt habe; der Papst sei schmerzlich von der Trübung des Verhältnisses berührt; im übrigen glaube man in Rom, in kirchenrechtlicher Beziehung die Ansicht Vicaris vertreten zu müssen: man sei jetzt bereit, eine Kommission von Prälaten zu beauftragen, um generelle Verordnungen über gottesdienstliche Feiern in katholischen Landeskirchen beim Ableben nichtkatholischer Souveräne vorzubereiten. Savignys Berichte erwecken insgesamt den Eindruck, daß er, ungeachtet seiner persönlichen Kirchentreue, mit der kirchenrechtlichen Materie des Konflikts nicht über die Maßen vertraut gewesen ist. Er vermeidet die tiefe Auslotung der Problematik, da er hier offensichtlich schnell an die Grenzen seiner theologischen und kirchenrechtlichen Kenntnisse stößt. Tiefer reichende theologische Analysen sind von ihm nicht bekannt, und sie fehlen auch bei den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen seiner letzten Lebensjahre. Er berichtet nüchtern und emotionslos, wobei immer wieder deutlich wird, daß er die Autorität von Staat und Regierung nicht beeinträchtigt sehen möchte. Wohlwollend vermerkt er Anzeichen der Entspannung. Er möchte derlei Konflikte gern beigelegt sehen. Er registriert gewissenhaft, wenn preußische Interessen berührt werden, wenn z. B. die badischen Behörden angesichts der Forderungen der katholischen Kirchenoberen das in Preußen praktizierte Kirchenstaatsrecht analysieren. Er ist enttäuscht, wenn etwa Konzessionen der Regierung als unzureichend zurückgewiesen werden. Dem Erzbischof begegnet er mit kühler Zurückhaltung. Von den Bischöfen der oberrheinischen Kirchenprovinz ist nach seinem Urteil keiner in der Aufkündigung der bisher gehandhabten Beziehungen so weit gegangen wie Vicari. Er nennt ihn einen schwachen, unzurechnungsfähigen, in den Händen jüngerer Intriganten hilflos agierenden Greis. Nachdem jeder Versuch einer unmittelbaren Einwirkung auf ihn gescheitert ist, sieht er keine andere Möglichkeit, als über den Nuntius in Wien die strittigen Punkte mit dem heiligen Stuhl zu erörtern. Indes droht der Konflikt immer auswegloser zu werden. Während bereits im Oktober mit der Möglichkeit einer Exkommunikation der katholischen Mitglieder des Oberkirchenrates gerechnet werden kann, erwägt Rüdt, dem Erzbischof die Jurisdiktion und Strafgewalt gegen Klerus und Volk zu entziehen. Von allen diesen Vorgängen ist Savigny nur in zweiter Linie berührt. In Preußen bestehen stabilere Verhältnisse. Die Berichterstattung hat damals ohnehin weitgehend in anderen Händen gelegen. Der Tod seines Bruders Franz, seine eigene Verlobung und Vermählung hatten ihn jeweils für einige Zeit von Karlsruhe ferngehalten. Erst mit dem 25. September setzen seine persönlichen Berichte wieder ein: er läßt deutlich erkennen, daß er der Auffassung der badischen Regierung sehr zuneigt. Er kann nicht verstehen, wie Vicari die vom katholischen Oberkirchenrat erarbeiteten Modelle zur Organisation der Seminare und anderer vom Staat subventionierter Anstalten beiseite schiebt und seinerseits vom Oberkirchenrat Gehorsam gegen seine Anordnungen und Respektierung der Denk-

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schriften der Bischöfe bei gleichzeitiger Androhung der Exkommunikation verlangt. Der Geduld der Regierung, alles zu tun, um die Lage zu entspannen, so schreibt Savigny, müsse man Anerkennung zollen. Jeder einsichtige Katholik werde den Erfolg nur dringend wünschen. Indes spitzte sich der Konflikt immer mehr zu. Vicari wies den Vorwurf des Eingriffs in landesherrliche Hoheitsrechte mit dem Bemerken zurück, er dürfe die Pflichten seines Amtes nur nach den Normen der Kirche erfüllen; die Regierung setzte mit Verordnung vom 7. November 1853 das landesherrliche Placet, jene im Jahre 1807 in Baden eingeführte staatliche Präventivmaßregel, für die erzbischöflichen Verordnungen erneut in Kraft. 27 Der Erzbischof antwortete mit der Exkommunizierung des dem Departement des Innern unterstellten katholischen Kirchenrats und des mit der Durchführung der Verordnung vom 7. November beauftragten Stadtdirektors Burger aus Freiburg. Savigny hat diese Zuspitzung mit Beklemmung verfolgt. Seine Kirchentreue ließ ihn den Erzbischof verstehen, aber seine auf Regierungsautorität bedachte Staatsgesinnung ließ ihn die Maßnahmen der Regierung in ihrer inneren Logik anerkennen. Daß die Exkommunikationen in Freiburg und Karlsruhe von nachgeordneten jüngeren Geistlichen bekannt gegeben wurden, wohl um die ordinierten Stadtpfarrer unbehelligt zu lassen, war ihm unerheblich. Er vermerkt mit Genugtuung in seinen Berichten aus der zweiten Novemberhälfte, daß noch kein einziger Pfarrordinarius aus seiner Gemeinde entfernt sei. Er bedauert, daß man nicht beizeiten versucht habe, das Zerwürfnis zu vermeiden. Aber er hebt auch hervor, daß es in Baden noch nie ein für die katholische Kirche so günstiges Ministerium gegeben habe: von fünf Ministern seien drei katholisch, und ihre evangelischen Kollegen seien nichts weniger als polemisch gesinnt. Der Bruch mit der kirchlichen Behörde sei daher gerade jetzt nur schwer verständlich zu machen. Die Zusammensetzung des exkommunizierten Oberkirchenrats sei im katholischen Sinne noch nie so korrekt gewesen wie jetzt. Bei der letzten Besetzung aller vakanten Stellen sei unter der Hand der Rat des Erzbischofs gehört und vor allem die beiden geistlichen Mitglieder nur mit dessen uneingeschränkter Billigung gewählt worden. 28 Savigny gewinnt den Eindruck, als wolle Vicari das Regierungssystem als Ganzes und weniger seine Handhabung im einzelnen treffen. Sein Ziel sei die völlige Emanzipation der Kirche vom Aufsichtsrecht des Staates. "Die Verlegenheiten einer so nahe befreundeten Regierung nehmen unsere ganze Teilnahme in Anspruch," schreibt er Ende November den Eltern, 27 Savigny hält sich mit seinem Urteil über die vornehmlich vom Innenminister Johann Friedrich von Wechmar zu verantwortende Verordnung vom 7. November zurück und hebt hervor, daß der Regent nur widerstrebend sich zu der Verordnung entschlossen habe und Burger angewiesen sei, nur die Verfügungen Vicaris zu beanstanden, die gegen die Gesetze verstießen (Bericht Savignys vom 1. November 1853). 28 Die Männer dieses Kollegiums, so führt Savigny weiter aus, seien durch die Exkommunikation hart gestraft, zwei von ihnen seien nur Rechnungsräte, die niemals kirchenstaatsrechtliche Voten abzugeben hätten.

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"daß hier nicht alles so geordnet ist im Verhältnis zur Kirche, wie es sein sollte, hat selbst die Regierung anerkannt und bemüht sich jetzt auf dem geeignetsten Wege, eine Verständigung herbeizuführen. An gutem Willen fehlt es durchaus nicht an höchster Stelle ... Dem kirchlichen Sinne ist niemand entgegengetreten. Man hatte die Missionen gestattet und alle anderen kräftigen Anregungen der Diener der Kirche ... Dies Unterhandeln brachen die Bischöfe ab und kündigten nunmehr der bestehenden Gesetzgebung vollkommen den Gehorsam. Letzteres kann ich natürlich nicht billigen und es auch nicht im Geiste der Kirche rätlich und geboten anerkennen ... " 29 Die hier sich andeutende Auffassung Savignys entsprach auch weitgehend der offiziellen preußischen Politik. Ein Erlaß an den Gesandten drückte vorsichtig das Angebot der guten Dienste aus. Kultusminister von Raumer wäre wohl zu einer preußischen Vermittlung bereit gewesen, indes setzte sich Manteuffel durch, demzufolge man sich auf die "Bereitwilligkeit zu guten Diensten" beschränken sollte. Rüdt freilich ließ gegenüber Savigny keinen Zweifel, daß man in Karlsruhe den Konflikt ohne jede Intervention von außen zu lösen wünschte. Es war also nach wie vor Zurückhaltung erforderlich. Savigny weist es von sich, zugunsten des Erzbischofs als des Oberhirten preußischer Untertanen in Hohenzollern vorstellig zu werden. Das Argument beeindruckt ihn nicht, daß der König, der im eigenen Lande der Kirche Freiheit und Selbständigkeit eingeräumt hatte, einer solchen Behandlung gleichgültig zusehen könne, wie sie jetzt der Erzbischof erfuhr. Als etwa zur gleichen Zeit die Jesuiten aus Freiburg ausgewiesen wurden, weist Savigny die Patres (sie waren sämtlich preußische Untertanen) darauf hin, daß eine Ausweisung als Einzelne gar nicht vorliege und die Verhinderung der Niederlassung als Gruppe eine Maßregel sei, welche die badische Regierung ohne Rücksicht auf andere Staaten anordnen könne. Im übrigen rate er ihnen nur, sich durch ihre Wirksamkeit als Apostel des Friedens zu erweisen, denn dann würde die badische Regierung gewiß gern die Fortsetzng ihrer seelsorgerischen Tätigkeit gestatten. 30 Savignys Haltung fand auch die Zustimmung des Prinzen von Preußen. "Ich freue mich, von Ihnen zu hören," schrieb er ihm am 6. Januar 1854, "daß das Ministerium mit Ihrer Haltung in diesen Fragen zufrieden ist, was Ihnen doppelt angenehm sein muß, da Ihre Lage hier keine einfache war und ist. Sie kennen meine Ansichten über die katholische Kirche in evangelischen Staaten hinlänglich. Im Konfessionellen lasse ich ihr ganz freien Willen; sobald Savigny an seine Eltern, 28. November 1853 (Nachlaß, S. 629). Das entsprach ganz der offiziellen preußischen Politik. Manteuffel hatte in einer Weisung vom 5. Dezember erklärt, die Regierung werde ihrem Grundsatz, wonach die Beziehungen zu den Kirchen jeweils in dem betreffenden Lande selbst zu klären seien, nicht untreu, wenn sie aufrichtig wünsche, daß die badische Regierung den Konflikt unter Aufrechterhaltung der Gesetze ohne fremde Einmischung in befriedigender Weise selbst löse. Für Preußen bestehe keine Veranlassung, in die Verhandlungen mit Rom einzugreifen. Preußen sei bereit, den befreundeten Regierungen Auskunft und Rat zu erteilen, warte aber Wünsche der badischen Regierung ab (vgl. auch Savigny an den Prinzen von Preußen, 14. Dezember 1853, Nachlaß, S. 631 f.). 29

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aber die Staatsgesetze von ihr nicht respektiert werden, so findet sie einen entschiedenen Gegner an mir, ebenso wenn die Kirche zu politischen Zwecken gebraucht werden soll. Beides ist in Baden der Fall gewesen, und daher kann ich, wenn auch das Gouvernement nicht immer geschickt gehandelt haben mag, ihm nur völlig recht geben, daß es den Übergriffen der katholischen Kirche festen Willen entgegengesetzt hat, bis in Rom die Streitfrage entschieden sein wird. Man traut seinen Augen nicht und glaubt sich ins Mittelalter versetzt, wenn man von der Exkommunikation gegen Männer hört, die ihrem Souverän gehorsam sind! ... "31 In dem Bemühen, der badischen Regierung den Rücken zu stärken, hat Manteuffel seinen Karlsruher Gesandten nicht allein lassen wollen und Bismarck eingeschaltet. In seinen Erlassen vom 13. und 24. Januar 1854 zeigt er sich über die Entwicklung in Baden sehr besorgt. 32 Bismarck möge sich ohne Aufsehen nach Karlsruhe begeben und dort erkennen lassen, daß die preußische Regierung sich von jeder Einmischung zwar fern halte, aber sehr bedauern würde, wenn die badische Regierung ihre Position aufgebe und vor dem Drängen der Hierarchie zurückweiche. Die Form seiner Einwirkung solle Bismarck selbst bestimmen. Manteuffel fügte hinzu: "Herr von Savigny, mit dessen ganzem Verfahren in der Angelegenheit ich nur zufrieden sein kann und daher volles Vertrauen in ihn zu setzen Anlaß habe, würde E. E. sicher auf das bereitwilligste und beste unterstützen." Noch bevor Bismarck dem Auftrag folgte, hatte ihm Savigny über die "leidige katholische Kirchenfrage" gemeldet, Ketteler habe im Namen Vicaris den Konflikt durch ein Abkommen insoweit beseitigt, als ein ehrenvoller Waffenstillstand geschlossen wurde. Für Preußen bleibe nur die diplomatische Folge, "daß Baden mehr noch wie bisher sich eng an Preußen anschließen wird."33 Es ist die Frage, ob dieser Zustand der Dinge den Berliner Wünschen tatsächlich entsprach. Manteuffel hielt es jedenfalls für bedenklich, wenn die Karlsruher Regierung mit einer Aufhebung der Verordnung vom 7. November den ersten Schritt zu tun bereit war, ohne zuvor eine Erklärung Vicaris abzuwarten, sich den Landesgesetzen fügen zu wollen. Der "ehrenvolle Waffenstillstand" war Bismarck sehr ungelegen gekommen. Offenbar hat erst Manteuffels Depesche vom 24. Januar ihn bewogen, nach Karlsruhe zu reisen. An diesem Tage kündigt er in freundschaftlich-unbefangenen Worten ihm seinen alsbaldigen Besuch an. 34 Die im Januar 1854 teils in Karlsruhe, teils in Freiburg geführten Gespräche zwischen Ketteler als Vertrauensmann Vicaris und Rüdt hatten noch nicht zu einem greifbaren Ergebnis geführt, als mit Bismarcks Besuch dann auch Preußen 31 Prinz von Preußen an Savigny, 6. Januar 1854 (Familienarchiv). 32 H. von Poschinger, Preußen im Bundestag, I, S. 350. 33 Savigny an Bismarck, 17. Januar 1854 (Bismarck-Jahrbuch, VI, S. 33). "Leidige

katholische Kirchenfrage" steht in Savignys Brief an Bismarck vom 14. November 1853 (a. a. 0., S. 31). 34 Bismarck an Savigny, 24. Januar; ergänzend sein Brief vom 29. (Werke, 14/1, S. 341 f.).

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sein unmittelbares Interesse an einer Regelung des Konflikts zu erkennen gab. Auch aus seiner Unterredung mit dem Regenten nahm Bismarck die Vermutung mit, daß man in Karlsruhe nicht geneigt war, die Rolle des Vorkämpfers der protestantischen Regierungen gegen die Hierarchie ohne Unterstützung der übrigen Staaten am Oberrhein zu übernehmen. Daß der Regent sich entschlossen zeigte, in den Verhandlungen mit Rom fest zu bleiben, hat Bismarck auf die starke Stellung Preußens in Baden zurückgeführt. Dabei wies er auf die günstige Situation hin, die sich Savigny dort geschaffen hatte und auf das Vertrauen, das ihm einflußreiche Persönlichkeiten entgegenbrachten. Indessen war der Höhepunkt der Auseinandersetzung noch längst nicht erreicht, so zuversichtlichSavignys Berichte zuweilen auch klingen mochten. Manches deutet darauf hin, und es wurde auch von Rüdt so gesehen, daß die strenge Sprache der Freiburger Kurie auf den Einfluß Kettelers zurückzuführen war. Auch Savigny scheint dieser Ansicht gewesen zu sein. 35 Von sich aus suchte sie weder durch die Entsendung eines gesprächsbereiten Vertrauten nach Karlsruhe noch durch die Ernennung eines Koadjutors die Lage zu entspannen. Sie war auch nicht bereit, etwas gegen heftig polemisierende Predigten vor allem jüngerer Theologen draußen im Lande zu unternehmen. Erst recht blieb ein namentlich vom Regenten gefordertes Entgegenkommen in der Frage der Aufhebung der Exkommunikationen seitens des Bischofs aus. Bismarcks letztlich wirkungslos gebliebenen Karlsruher Gespräche befriedigten naturgemäß auch die Berliner Regierung nicht. Baden sei mit seinen Angeboten bis an die äußerste Grenze gegangen und habe sich dabei mehr von wohlwollender Gesinnung gegen die Kirche und dem Wunsch, den eigenen Untertanen Gewissensängste zu ersparen, leiten lassen als von den Bedürfnissen der eigenen Stellung. Wer würde es der badischen Regierung verdenken, so fragte man in Berlin, wenn sie erklärte, sie habe sich unmittelbar nach Rom wenden wollen, müsse aber davon absehen, nachdem man sich dort so entschieden für den Erzbischof ausgesprochen habe? Sie sehe sich daher gezwungen, sich auf den gesetzlichen Zustand zurückzuziehen und diesen nach ihren eigenen Ansichten legal zu ordnen. Savigny hat den in diesem Sinne sich aussprechenden Erlaß vom 20. Februar dem Freiherrn von Rüdt zur Kenntnis gebracht. Während noch die Exkommuni35 Ketteler hat damals wiederholt Kontakt mit Philippsberg und dem nicht minder österreichisch gesinnten Mariano von Uria- Sarachaga gehabt. Letzterer, ein Stiefsohn des badischen Generalmajors von Lassolaye, war Direktor des großherzoglichen Stadtamtes in Freiburg, also kein städtischer Bediensteter, sondern Bediensteter der badischen Regierung, auch wenn er im Freiburger Rathaus seinen Dienstsitz hatte. Nach Savignys Bericht vom 18. Februar 1854 soll vor allem der Justitiar der erzbischöflichen Kurie, Dr. Heinrich Maas, der Initiator der den Erzbischof umstrickenden Intrigen gewesen sein. Er gehörte zusammen mit dem Geistlichen Rat Strehle zum engsten Beraterkreis Vicaris. In der Einschaltung der preußischen Regierung und der Haltung der 11. Kammer sieht er die wichtigsten Gründe für die vor allem von Wechmar formulierte Ablehnung der erzbischöflichen Forderungen (vgl. auch H. Maas. Geschichte der katholischen Kirche im Großherzogturn Baden, Freiburg 1981, S. 260 f.).

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zierung des Oberkirchenrats wie eine schwere Hypothek die Beziehungen zwischen Staat und Kirche belastete und sich in Karlsruhe eine Enttäuschung über die mangelnde Solidarität der zur oberrheinischen Kirchenprovinz gehörenden Regierungen in Stuttgart, Darmstadt, Kassel und Wiesbaden breit machte, da diese mit "ihren" Bischöfen unmittelbar zu verhandeln bereit waren oder den Konflikt ohnehin nicht für so ernst hielten, erhob sich über die Verwaltung des Vermögens der kirchlichen Stiftungen, die bisher einem aus Geistlichen und Laien bestehenden Stiftungsrat unterstanden hatte, ein neuer Streit. Die Regierung suchte den Stiftungsrat auszuschalten und die Verwaltung den Amtsvorständen allein zu übertragen. Das Ordinariat hingegen war darauf bedacht, die Verwaltung der örtlichen Kirchenvermögen ausschließlich den kirchlichen Behörden zu überlassen. Der Staat witterte die Gefahr, daß das Kirchenvermögen den Gemeinden entfremdet wurde, und die Kirche sprach bereits von einer neuen Form der Säkularisation. Vicari blieb unnachgiebig. " ... die neueste Aggression des Erzbischofs gegen die bestehende Landesgesetzgebung," so berichtet Savigny zutreffend am 20. Mai, "wird es der badischen Regierung beinahe unmöglich machen, . . . den alten Prälaten persönlich nicht direkt zur Verantwortung zu ziehen ... das Ministerium ist in Beratung getreten, in welcher Form man den Erzbischof vor dem Landesgericht zur Verantwortung zu ziehen habe." Der Einleitung der hier angedeuteten strafgerichtlichen Untersuchung gegen Vicari wegen "Amtsmißbrauchs zur Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung" vom 18. Mai folgte der Kompetenzkonflikt, demzufolge der Erzbischof erklären ließ, er sei in seinem Amte und, insofern er kirchliche Anordnungen treffe, nicht Untertan und daher auch nicht den Strafgesetzen unterworfen. Ein mehrstündiges Verhör, die Durchsuchung der erzbischöflichen Kanzlei und schließlich die Verhängung der Untersuchungshaft schlossen sich an. Aus Savignys ausführlichen Berichten vom 20. bis 23. Mai dürfen wir entnehmen, daß die Freiburger Behörden damit den Absichten des Regenten und seiner Regierung vorgegriffen haben. "Vom Regenten wurde mir soeben mitgeteilt," schreibt er, "daß gestern abend in Freiburg, ihm und seiner Regierung unerwartet, die Verhaftung des Erzbischofs auf Grund gerichtlichen Befehls erfolgt sei." Wenn das Gericht, so analysiert er weiter, so schnell nach den ersten Vernehmungen dazu geschritten sei, so ließe sich wohl annehmen, daß es einem weiteren Vorgehen Vicaris gegen die bestehenden Gesetze durch Erlaß von Verordnungen vorbeugen zu müssen geglaubt habe. Immerhin fühlte sich der Regent veraniaßt, darauf hinzuweisen, daß man bei dieser an sich bedauerlichen Maßregel alle schuldige Rücksicht gewahrt habe; der Erzbischof sei in seinem Palais geblieben; nur von seiner Umgebung, den Werkzeugen seiner letzten öffentlichen Tätigkeit, habe man ihn trennen müsen. "Seine kgl. Hoheit," so schrieb Savigny weiter, "eröffnete mir, daß ein neuer Sendbote nach Rom bereits abgegangen sei, um dort die letzten Vorgänge richtig zu erklären und auf die Notwendigkeit hinzuweisen, daß man endlich der Freiburger Kurie ein ruhiges Abwarten der in Rom eingeleiteten Verhandlungen anbefehle." 36

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Die Entlassung Vicaris, von der Savigny am 31. Mai berichten konnte, hat die Lage nur geringfügig entspannt. Zu betroffen waren Regierung und Regent von all den Vorgängen. Treuekundgebungen so mancher Gemeinden, namentlich des Oberlandes, belasteten das Verhältnis ebensosehr wie die zahlreichen Übergriffe untergeordneter Behörden, die mit strafgerichtlichen Verfolgungen fortfuhren und weiter gingen, als das Ministerium beabsichtigte. Mitte Juni kam es sogar noch einmal zu einer Durchsuchung der erzbischöflichen Verwaltung. Aber es gab auch Zeichen der Entkrampfung. Selbst in dem katholischen Bodenseekreis mehrten sich die Fälle, wonach die Stiftungsvorstände die Verwaltung der kirchlichen Vermögen wie bisher weiterführen wollten, ohne sich dabei den erzbischöflichen Weisungen zu unterwerfen. 37 Eine Bereinigung des Konflikts war das freilich noch nicht. Im Grunde konnte nur aus Rom eine Entscheidung erwartet werden, aber von einer entsprechenden Weisung an den Erzbischof war vorerst nichts zu vernehmen. Was Savigny am 24. Juni seiner Regierung berichtete, war wohl eher seine persönliche Vermutung als die Registrierung bereits feststehender Tatsachen: danach war man im Begriff, einem modus vivendi auf der Basis entgegenzugehen, daß in Fragen der Verwaltung des Kirchen- und Stiftungsvermögens es bei dem bisherigen Zustand bleiben und die Besetzung erledigter Pfarrstellen einstweilen nur mit "Pfarrverwesern" vorgenommen werden sollte. Es ist unbestreitbar, daß unmittelbar nach der Verhaftung Vicaris der Wunsch nach einem Abbau der Spannungen in beiden Lagern unüberhörbar sich anmeldete. Savigny berichtet, wie die Stimmung im Lande in der zweiten Julihälfte schon durch die Aussicht auf einen Frieden gekennzeichnet ist. 38 Schon wird der Regent auf einer Reise ins Oberland und in den Seekreis mit Demonstrationen der Loyalität, an denen sich auch manche Geistliche beteiligen, empfangen. Hier äußert sich die Überzeugung, daß das Land in seiner Treue zum Herrscherhaus auch durch die kirchenpolitischen Wirren nicht wankend geworden war. Man durfte annehmen, daß Rom das Verfahren Vicaris nicht ausdrücklich mißbilligte, aber man durfte eine Anweisung an ihn erwarten, von einem weiteren Vorgehen gegen die in Baden bestehende Staatsordnung abzusehen. Daß man in Rom bemüht war, durch ein redliches Entgegenkommen das Verhältnis zu normalisieren, durfte der Regent auch bei einer Begegnung mit dem Nuntius in München erfahren. Die Zurücknahme der Exkommunikationen bahnte sich jetzt ebenso schnell an wie die Einstellung aller seitens des Staates ergriffenen Maßnahmen, insbeson36 Bericht Savignys vom 23. Mai 1854 (Familienarehiv); Immediatbericht an den König vom 29. Mai (Entwurf ebendort); ferner Savignys Bericht vom 8. Juni 1854. Er schreibt, daß die dem Erzbischof blindlings folgende Partei sich über die Stimmung in der Bevölkerung sehr getäuscht habe, als sie erwartete, daß die Genehmigung aller Forderungen Vicaris durch eine massenweise Erhebung seiner Anhänger erzwungen werden konnte. 37 Savignys Bericht vom 8. Juni 1854 (Familienarehiv). 38 Sein Bericht vom 19. Juli (Entwurf im Familienarehiv).

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dere die Niederschlagung der gegen Vicari eingeleiteten gerichtlichen Untersuchung. 39 Mit der Annahme dieser Präliminarien konnte der Konflikt als überwunden angesehen werden. Ob das Ergebnis einer für die Regierung verlorenen Schlacht gleichkam, wie Bismarck sich damals äußerte, mußte die Zukunft zeigen. Es überrascht, wie der am Leben seiner Kirche sich stets so orientierende Savigny seine persönlichen Empfindungen in seiner Berichterstattung auszuklammern sucht. Man gewinnt zuweilen den Eindruck, als berühre ihn das Schicksal des greisen Erzbischofs kaum, jedenfalls nicht so wie das Interesse an dem auf Wahrung seiner Autorität bedachten Staat. Wohl im Elternhaus vorgeformt, hat sich Savigny stets als Verteidiger nicht nur der überkommenen Rechtstradition, sondern auch der auf Autorität beruhenden staatlichen Ordnung und ihrer legitimen Repräsentanten verstanden. Dem Dienst an der inneren Ordnung im Staate entsprach die Forderung, die der Rechtsordnung innewohnende Autorität von keiner Seite, auch nicht von der Kirche, in Frage stellen zu lassen. Der endgültige Friede zwischen Staat und Kirche sollte noch lange auf sich warten lassen. Die jetzt gefundene Lösung konnte auf keiner Seite befriedigen. Daß die Regierungen in Darmstadt, Stuttgart und Wiesbaden jeweils ihre eigenen Wege gingen und getrennt voneinander mit den Bischöfen und dem Heiligen Stuhl verhandelten, hat die Liquidierung der Krise in Baden nicht erleichtert. Bis zum Abschluß des Konkordats vom Juni 1859 war noch ein langer, von Rückschlägen nicht freier Weg. Die Frage nach der Bestellung eines Koadjutors hat die Gemüter noch lange beschäftigt. Die Befürchtungen, daß sich unter den obwaltenden Verhältnissen im Großherzogtum eine ultramontane Partei entwikkein könnte, hat Savigny nicht geteilt - mindestens solange die Leitung des entscheidenden Departements in den Händen Franz von Stengels lag. Obwohl selbst Katholik, war dieser nach seinen kirchen- und staatsrechtlichen Anschauungen völlig immun gegen den Verdacht, den kirchlichen Kräften einen unangemessenen Aktionsraum zu überlassen. 40 Von einer organisierten ,,katholischen Partei" war in Baden noch keine Rede. Bei den Kammerwahlen hatte sich kein Kandidat expressis verbis als Verfechter katholischer Interessen zu erkennen gegeben. Der Eindruck war allgemein, daß der Großherzog den Wünschen der Kirche gerecht zu werden bemüht war. Freilich blieb eine definitive Lösung aller strittigen Fragen weiter schwierig. Bis in die letzten Berichte hinein, die Savigny nach Berlin zu schicken hatte, zittert diese Unsicherheit über die zukünftige Gestaltung des Verhältnisses zwischen dem Staat und der oberrheinischen Kurie nach. 41 Savigny war nicht bereit, die Zuspitzung des Streites dem Landesherrn und seiner Regierung anzulasten. Die Mißgriffe der Regierung bei ihrem Vorgehen gegen Vicari haben seinen Blick ebensowenig getrübt wie die sicher nicht zu Savignys Berichte vom 6. und 17. August 1854 (Entwürfe im Familienarchiv). Immediatbericht Savignys vom 16. November 1857 (Familienarchiv). 41 Vgl. hierzu vor allem Savignys Immediatberichte vom November 1858 und vom 25. Januar 1859 (Entwürfe im Familienarchiv). 39

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übersehenden liberalen und kirchenfeindlichen Strömungen, die sich wie anderswo auch in Baden breit gemacht hatten. "Die badischen Zustände sind so schlimm nicht, wie die Zeitungen sie schildern," schreibt er Anfang Januar 1854 den Eltern, "hier ist vieles nur künstlich angelegt worden als ein allgemeines Parteimanöver für ganz Deutschland ... Mir tut die Übertreibung von außen her sehr leid, denn die heilige Sache der Religion wird förmlich durch Parteigelüge beschmutzt. Den Erzbischof von Freiburg kenne ich selbst persönlich aus dem Jahre 1849. Er hat von jeher für schwach und unbedeutend gegolten, und dies mit Recht. Jetzt hat man sich seiner bedient, um eine Lanze gegen die oberrheinische Regierung zu brechen, und nun macht ganz Europa einen Kirchenhelden aus dem persönlich ganz unangefochtenen Manne. Daß das badische Kirchenstaatsrecht vieles zu wünschen übrigließ, dies hatte man auch in den höchsten Regionen hier anerkannt und war darum die Zeit zu einer friedlichen Verständigung sehr geeignet. Statt dessen hat man künstlich von außen den Krieg in dieses unglückliche Land tragen wollen und sich dabei einer angeblichen Unterstützung durch Österreich gerühmt. Das nichtswürdigste Mittel war aber die versuchte Anstachelung von konfessionellem Hader, die hier Gott sei Dank nicht gelungen ist. " Der badische Kirchenstreit ist zweifellos das bedeutendste politische Ereignis gewesen, das den Gesandten in den ersten Jahren seiner Karlsruher Zeit beschäftigt hat. Die großen Fragen der deutschen Politik waren mit der Wiederherstellung der Bundesversammlung vorerst in den Hintergrund getreten. Abseits von den Ansprüchen des Tages ist Savigny mit seiner jungen Gemahlin bestrebt, ihr gemeinsames Leben zu einem kleinen Kunstwerk auszugestalten. Ein freundlicher Stern scheint dabei zunächst über ihrem jungen Glück zu leuchten. Marie gewinnt Kontakt zu einigen evangelischen Geistlichen, deren Gottesdienste sie besucht und deren Predigten sie in sich aufnimmt. Im Frühjahr erwartet sie ihr erstes Kind. Von einer Übersiedlung nach Baden-Baden versprechen sich beide einen wohltuenden Einfluß auf ihre Gesamtkonstitution. Freilich steht noch eine andere innere Verpflichtung bevor: am 17. April feiern seine Eltern ihre goldene Hochzeit. Karl Friedrich möchte auf jeden Fall an der Feier teilnehmen. Um seine Frau nicht allein zu lassen, vertraut er sie der Obhut der befreundeten Sophie von Sturmfeder-Dalberg an, der Obersthofmeisterin der Großherzogin Stephanie. Während er sich zu seinen damals in Dresden sich aufhaltenden Eltern begibt, geht Marie bei Frau von Sturmfeder in Mannheim ihrer schweren und so glücklosen Stunde entgegen: am 19. April bringt sie ein - totes - Mädchen zur Welt. Die Trauer ist groß; die beiden sind um eine süße Hoffnung ärmer. Dann ermöglicht eine überaus sorgfaltige Betreuung, daß das Paar schon Mitte Mai nach Baden-Baden übersiedeln kann, wo Marie den tröstlichen Besuch ihrer Mutter erwartet. 42 42 Savignyan seinen Vater, 14. März, 2. und 10. April, an die Eltern, 18., 19.,20. und 24. April, 6. und 26. Mai 1854 (Familienarchiv). Ergänzend Friedrich Karl von Savigny an seinen Sohn, 12. April 1854 sowie der Prinz von Preußen an Savigny, 2. Mai 1854 (Nachlaß, S. 642 f.).

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Allmählich klingen die Briefe wieder freundlicher. Die nächsten Wochen sind Wochen des Abstandnehmens und der allmählichen Erholung. Der Reiz der gesegneten Landschaft tut das Seinige. Sie empfangen den Besuch der Großherzogin Stephanie, den das Paar schon im Juli in Karlsruhe erwidern kann. Die freien Abende verbringen sie mit gemeinsamer Lektüre. Marie vertieft sich, von ihrem Schwiegervater empfohlen, in die Studien des alten Friedrich Thiersch über Fragen des Protestantismus und Katholizismus. 43 Als sie dann Ende September im Begriff sind, die alten Savignys zu besuchen und Marie für einige Tage nach Boitzenburg weiterzureisen gedenkt, rät ihr der Arzt, den sie wiederum in Mannheim aufsucht - sie sieht inzwischen erneut ihrer Niederkunft entgegen - von diesem Plane dringend ab: Marie bedürfe der Ruhe und könne sich allenfalls mit ihren Eltern in Heidelberg treffen. Zu diesem Aufenthalt ist es dann auch gekommen. Er hat sogar länger gedauert als ursprünglich vorgesehen. Auch für Savigny ergeben sich mancherlei fruchtbare Begegnungen: er besucht den betagten Historiker Friedrich Christoph Schlosser, den Verfasser einer Geschichte des 18. Jahrhunderts und einer bändereichen "Weltgeschichte für das deutsche Volk", und dann ist es der von Schlosser stark beeinflußte Ludwig Häusser, der in der badischen Kammer die preußische Unionspolitik verteidigt hatte und dessen "Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des Deutschen Bundes" gerade zu erscheinen beginnt, der jetzt in Savignys Blickfeld tritt. Der beginnende Winter führt das junge Paar wieder nach Karlsruhe. Marie nimmt ihre Malstudien bei dem 1853 von Düsseldorf als Direktor der Kunstschule berufenen Johann Wilhelm Schirmer auf, einem viel beachteten Landschaftsmaler, der zuweilen Orte des biblischen Geschehens zu Themen seines Schaffens erwählt. Auffallend viel theologisches Schrifttum sammelt sich an. Johann Michael Sailers Schriften werden gekauft. Die Tage fließen in aufmerksamer und anspruchsvoller Lektüre dahin. 44 Im Sommer geht es wieder nach Baden-Baden. Dem großen Kreis ihrer Familienangehörigen können sie die glückliche Geburt ihres zweiten Kindes anzeigen. 45 Das Koblenzer Prinzenpaar, Großherzogin Stephanie, Frau von Sturmfeder 43 Marie von Savigny an ihre Schwiegermutter, 12. Juni und 31. Juli 1854 (Familienarchiv). 44 Savigny an seine Eltern, 30. September, 2. und 25. Oktober, 14. November und 10. Dezember 1854 (sämtlich im Familienarchiv). Marie von Savigny an ihre Schwiegermutter, 6. Dezember 1854 (ebenda). Hier bittet sie u. a. um Übermittlung literarischer Neuigkeiten. 45 Karl von Savigny, der spätere Geheime Regierungsrat und päpstliche Geheirnkämmerer, Mitglied des Reichstages und des preußischen Abgeordnetenhauses, war am 25. Mai in Karlsruhe zur Welt gekommen. Am 19. Februar hatte Savigny noch an seine Mutter geschrieben: "Teueres Mütterchen, aus Deiner Hand habe ich dies liebe Wesen erhalten, darum ruht Gottes Segen darauf," - vielleicht ein Hinweis darauf, daß die Mutter seinerzeit die Bekanntschaft mit Marie von Arnim-Boitzenburg vermittelt hatte. Der Prinz von Preußen, Stephanie und Frau von Sturmfeder übernahmen die Patenschaften (Savigny an Frau von Sturmfeder, 25. Mai und 1. Juni 1855, Familienarchiv).

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und viele andere nehmen den herzlichsten Anteil an dem Ereignis. Die alten Savignys erwarten sie zur Taufe. Graf von Arnim ist in Berlin unabkömmlich, aber auch er kündigt seinen Besuch für die nächste Zeit an. 46 Anfang August kann Marie schon wieder unbeschwert zur silbernen Hochzeit ihrer Eltern nach Boitzenburg reisen. Nach einigen Tagen der Entspannung in Ostende und Scheveningen bereitet sich das Paar auf eine erlebnisreiche Reise nach Paris vor. Aus dem einstigen Freundeskreis treffen sie nur den alten Guenoux. Sie tummeln sich sorgenfrei in der faszinierenden Weltausstellung, in den Galerien und Museen; sie erfreuen sich an den geistreichen Dialogen auf den Pariser Bühnen, an der Atmosphäre dieser unvergleichlichen Stadt, die ihren ganzen Zauber in diesen wundervollen Herbsttagen über die Besucher ergießt. Ende Oktober sind sie wieder in Baden-Baden, um ihre Übersiedlung nach Karlsruhe vorzubereiten. 47 Mehr als je ist die jetzt anhebende Zeitspanne durch das sich noch verdichtende Vertrauensverhältnis zum Prinzenpaar gekennzeichnet. Mehrmals empfängt es den Gesandten in Koblenz, und der Prinz kann sich seiner sicher bedienen, wenn ihn der Weg nach Karlsruhe oder wohin es auch sonst sei, führt. Der in seinen hierarchischen Vorstellungen so streng die fürstliche Gestik beachtende Prinz hat dem Gesandten einen Einblick in die Bezirke seines privaten Daseins gestattet, wie er dieses keinem anderen je hat zuteil werden lassen. Wie weit dieses Vertrauensverhältnis noch in späteren Jahren belastbar war, entzog sich jeder Voraussage. Eine Fehleinschätzung seiner Tragfahigkeit mußte bittere Folgen haben. Am 16. Januar 1854 berichtet er dem Prinzen von den in Karlsruhe erwogenen Heiratsplänen des Regenten. Die in Kreisen des Hofes mehrfach genannte Verbindung mit einer sächsischen Prinzessin hat der Regent nie wirklich ernst genommen. Ein von anderer Seite aus seiner engsten Umgebung in die gleiche Richtung zielender Plan war schon bald aufgegeben worden, wobei die Überlegung eine Rolle gespielt haben mag, daß der Verzicht auf die Zusage einer kl,ltholischen Kindererziehung von Rom niemals zu erwarten war. Die Absichten des Regenten waren auf eine Vermählung mit einer evangelischen Prinzessin gerichtet. Und hier unternimmt es Savigny, in der behutsamsten Form dem Prinzen von Preußen den Gedanken nahe zu bringen, daß der Regent um die Hand der jungen Prinzen46 Zur Taufe waren Savignys Eltern nach Karlsruhe gekommen (9. Juni); Maries Eltern folgten vom 3. bis 8. Juli. Interessant für den Lebensstil des Grafen Amim ist seine Bitte an die Tochter (28. Juni 1855): " ... Da ich nun, so Gott will, morgen Mittag mit Freda abreise, um Deine gute Mama aus Kissingen abzuholen, so richte ich nun die Bitte durch Dich an Deinen Mann, uns gütigst ein Quartier in einem möglichst nahe gelegenen Gasthof zu besorgen. Wir bedürfen einer Wohnstube für Mama, eine desgl. für mich, eine Schlafstube für Mama, eine desgl. für mich, eine Wohnstube und eine Schlafstube für Sophie und Freda zusammen, eine Stube für zwei männliche und zwei Stuben für zwei weibliche Domestiken ..." (Familienarchiv). 47 Savigny an seine Eltern, 11., 20. und 28. Oktober sowie 7. November 1855; Marie von Savigny an Frau von Sturmfeder, 6., 13. und 17. Oktober (sämtlich im Familienarchiv).

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tochter Luise werben möchte, sofern ihre Eltern nicht schon konkretere Pläne, die einer solchen Verbindung im Wege stünden, verfolgten. So macht sich Savigny zum Vermittler einer streng vertraulichen Anfrage, durch die im Falle eines negativen Bescheids weder der Regent noch das Prinzenpaar in ein wie auch immer geartetes Zwielicht geraten konnten. Am 18. Februar, also wenige Tage nach dieser ersten Sondierung, konnte Savigny sich ausführlicher äußern. 48 Rüdt hatte sich im Auftrage des Regenten an Savigny gewandt - nicht als an den preußischen Gesandten, "sondern ... als jemand, von dem man vorauszusetzen berechtigt sei, daß er sich eines speziellen Vertrauens vielleicht Ew. K. Hoheit erfreuen dürfe." Natürlich wolle der Regent sich die Behandlung der delikaten Lebensfrage selbst vorbehalten, schreibt Savigny; er werde den erlauchten Eltern zu gegebener Zeit selbst seinen Wunsch ausdrücken. Nächst den Eltern solle dann später das Herz der jungen Prinzessin den eigenen Entschluß fassen. Jetzt käme es dem Regenten nur auf die Ermittlung der zwei wichtigen Vorfragen an: ,,1) ob er den von ihm so hochverehrten Eltern als künftiger Schwiegersohn im allgemeinen wohl genehm sein werde, und 2) ob nicht etwa andere Pläne und Projekte für eine dereinstige Vermählung der Prinzeß bereits vorliegen." Es war der Wunsch des Regenten, im Laufe des Frühjahrs den Eltern in Koblenz seine Aufwartung zu machen und seine Absichten darzulegen. Einstweilen, so hatte Rüdt dem Gesandten versichert, wisse von der großherzoglichen Familie noch niemand von den Plänen des jungen Herrn. Aus naher Kenntnis der Verhältnisse in Karlsruhe und der Person des Regenten schließt Savigny sein Schreiben an den Prinzen mit Ausdrücken übergroßen Wohlwollens für den Regenten. Er würde sich glücklich schätzen, wenn die Werbung zu einer Verbindung beider Herrscherhäuser führte. Die Antwort des Prinzen hat nicht lange auf sich warten lassen. Sie ist ein Dokument väterlicher Liebe zu der Tochter und ein Zeugnis edelster Gesinnung gegenüber dem Regenten. Sie ist nach ihrer Diktion von einer Zartheit und Vornehmheit, die hinter dem sonst in politischen und militärischen Kategorien denkenden Monarchen nicht ohne weiteres zu vermuten ist. Er findet Worte hohen Lobes für den jungen Herrn aus Karlsruhe und fühlt sich seinerseits durch dessen Werbung um Luise geehrt. Aber er betont auch, daß das Prinzenpaar es sich zum Gesetz gemacht habe, den Kindern bei der Gattenwahl die Entscheidung zu überlassen. Er sei bereit, den Regenten zu empfangen, sei es in Koblenz, sei es gelegentlich eines Kuraufenthalts in Baden-Baden. Er weist aber auch auf die Jugend der Tochter hin - sie war damals erst fünfzehn Jahre - und macht zur Bedingung, falls der Regent dennoch bei seiner Werbung bliebe, diese auch gegenüber der Prinzessin bis nach ihrer für Ostern 1855 vorgesehenen Konfrrmation geheim zu halten. Er wünscht, die Angelegenheit als streng vertraulich zu behandeln und verspricht, auch seinerseits gegenüber dem König Stillschweigen 48 Savigny an den Prinzen von Preußen, 16. Januar und 18. Februar 1854; Antwort des Prinzen, 22. Februar (Nachlaß, S. 634 ff.).

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zu beobachten. Von dem Regenten erwartet er ein Gleiches. Die letzten Zeilen verdienen wörtlich wiedergegeben zu werden: "Somit sei Alles Gott anheimgestellt. Sollte Er diese Verbindung in Seinem Willen beschlossen haben, so würde ich eine merkwürdige Verkettung von Umständen darin erkennen, die mich zum badensehen Lande hinweiset. Möchte meiner Tochter Herz und Gemüt jenem schönen Lande den Frieden bringen, den ihm einst mein Schwert zu erringen bestimmt war! Und daß auch Sie wieder in dieser für Mich so unendlich wichtigen und theuren Angelegenheit Mir zur Seite stehen, mit Rat und Tat wie damals, dürfte ein gutes Omen sein, das ich preise! Ich werde es Ihnen wissen lassen, wenn ich nach Koblenz zurückkehre, was schwerlich vor der ersten Hälfte März sein wird." Der Kuraufenthalt der Prinzessin Augusta in Baden-Baden im Mai 1854 führte zu einer weiteren Annäherung. Die ersten Gerüchte über die beabsichtigte Verbindung drangen an die Öffentlichkeit. Sie veranlaßten Savigny zu einem vom Prinzen zuvor genehmigten Dementi. 49 Die Feier der Verlobung innerhalb der Familie fand am 30. September 1855 in Koblenz statt. Savignys dienstliche Verpflichtungen verboten ihm, persönlich daran teilzunehmen. Seinen Glückwunsch beantwortete der Prinz schon am 5. Oktober, während Prinzessin Augusta sich ihrerseits in zwei weiteren Briefen bedankte. 50 Sie bedauert, daß er nicht nach Koblenz habe kommen können. Dank seiner Stellung am großherzoglichen Hofe und der Vertrauensstellung, die er schon seit Jahren zum Hause des Prinzen von Preußen einnehme, hätte gerade er ein besonderes Vorrecht zur Teilnahme gehabt. Nun aber wird das Ehepaar Savigny zur Geburtstagsfeier der Prinzessin Luise am 3. Dezember nach Koblenz eingeladen. An ihr sollte auch der Regent teilnehmen. 51 Die Vermählung des jungen Paares folgte bald. Nachdem der Regent am 5. September zum Großherzog proklamiert worden war, fand diese am 20. September statt. Marie von Savigny hat ihrer Mutter den feierlichen Einzug in die Karlsruher Residenz anschaulich geschildert. Text des Dementis im Nachlaß, S. 640, Anmerkung. Prinz von Preußen an Savigny, 5. Oktober 1855 (Nachlaß, S. 665). Die Briefe der Prinzessin Augusta vom 16. Oktober und 11. November im Familienarchiv . Die ursprünglich im Familienkreis gedachte Feier hatte durch die Anwesenheit des Königspaars und der großherzoglichen Familie einen beinahe offiziellen Charakter erhalten - nicht zuletzt auch, weil mehrere preußische Gesandte dem von Stolzenfels anreisenden Königspaar glaubten, ihre Aufwartung machen zu sollen. Die offizielle Verlobungsfeier sollte im Januar in Berlin stattfinden. Dazu aus einem Brief des Prinzen an Savigny vom 6. Januar 1856: "... Hoffentlich sehen wir uns in Berlin, denn Sie sollten bei der Verlobung nicht fehlen." (Nachlaß, S. 666). 51 Die günstige Aufnahme der ersten Sondierungen durch den Prinzen von Preußen hat vielleicht noch einen anderen Grund: die Aussicht auf die glückliche Verbindung der Tochter mit einem angesehenen Fürsten war damals der einzige Lichtblick für ihn in einer Zeit politischer Enttäuschung und Verstimmung mit dem Berliner Hof. Der Kriegsminister Eduard von Bonin (1793 - 1865) und andere Freunde des Prinzen waren zu seiner großen Verärgerung entlassen worden. Bismarck hat - mit begrenztem Erfolg - zwischen den beiden Brüdern zu vermitteln versucht (vgl. auch der Prinz an Savigny, 30. Juni 1854 im Nachlaß, S. 645; ferner Marie von Savigny an ihre Mutter [Einzug in Karlsruhe], 12. Oktober 1856 im Nachlaß, S. 677). 49

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Großherzogin Luise ist an der Seite ihres Gatten über die Jahrzehnte hinweg der gefeierte Mittelpunkt des Karlsruher Hofes gewesen. Wo nach tatkräftiger Nächstenliebe gefragt wurde, hat sie sich - ähnlich der russischen Großfürstin Helene Pawlowna, einer gebürtigen württembergischen Prinzessin - zur Linderung der Not eingesetzt, noch bevor rotkreuzähnliche Organisationsformen sich bildeten. Auf dem Felde der karitativen Tatbereitschaft ist sie verblieben, solange sie lebte, und dabei ist sie sehr alt geworden. Den Sturz der deutschen Dynastien hat sie noch um ein halbes Jahrzehnt überlebt. Savignys Rolle bei der Anbahnung der Verbindung durfte nicht übersehen werden, da sich hier das Vertrauensverhältnis zwischen ihm und seinem Herrn in besonderer Weise Bekundet. Es sollte noch in späteren Jahren einer außerordentlich schweren Belastungsprobe ausgesetzt sein. An allgemeinpolitischer Relevanz treten diese Vorgänge naturgemäß weit hinter den Krimkrieg zurück, der letztlich auch die Kabinette der deutschen Mittelstaaten berührte. Hier fühlte sich Baden besonders betroffen. Die Furcht vor einem französischen Einmarsch in Süddeutschland griff um sich. Es zeichnete sich zudem deutlich ab, daß die deutschen Führungsrnächte auch in dieser Frage zerstritten waren. Savigny hat damals seine Auffassung von den Erfordernissen der preußischen Politik in der orientalischen Frage dem Prinzen von Preußen ausführlich dargelegt. 52 Preußen müsse jetzt endlich Farbe bekennen, schreibt er, "um binnen kurzem die ... patriotische Genugtuung zu erleben, daß ganz Deutschland unserer Fahne folgen würde." Es sei berechtigt, das Schicksal ganz Deutschlands in allen europäischen Krisen allein zu bestimmen. Wenn der König über die richtigen Berater verfüge, könne es nur gewinnen in seiner preußischen, vor allem aber in seiner deutschen Stellung, wenn es den Frieden durch gebietende Entfaltung aller seiner Kräfte erzwinge, unabhängig von Österreich, also nicht in seinem Gefolge ..." Preußen habe keine österreichische Interessenpolitik zu unterstützen, sondern müsse der eigenen Staatsräson folgen. Insofern stand Savigny seinem Frankfurter Kollegen damals näher als dem Prinzen, der in der orientalischen Frage eher einem Zusammengehen mit Österreich und den Westmächten zuneigte als einer Politik der bewaffneten Neutralität. In der Erörterung der Erfordernisse der preußischen Politik ist Bismarck mehr der dirigierende Partner gewesen, dem es darauf ankam, mit Savignys Hilfe das Großherzogtum,Jhden nicht in das politische Kraftfeld Österreichs treiben zu lassen. Savigny hat hierbei seinem Freunde eifrig zugearbeitet. Im Frühjahr 1855 konnte er ihm berichten: "Hier (in Baden) ist man viel vorsichtiger geworden; der Regent hat wohl eingesehen, daß der Gang seines Ministers ihn isolieren werde und daß er sfch Preußen entfremdet, was er natürlich weniger wünscht als sonst jemand wegen seiner bevorstehenden Familienverbindung."53 Dennoch war die Gefahr eines Abglei52 Savigny an den Prinzen von Preußen, 31. Dezember 1854 sowie des letzteren Antwort vom 7. Januar 1855 (Nachlaß, S. 650 ff.). 53 Savigny an Bismarck, 5. Mai 1855 (Schönberg-Mskr).

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tens der badischen Politik ins großdeutsch-österreichische Lager nicht gebannt. Österreichischer und französischer Einfluß waren nur schwer zu paralysieren. Noch am 7. Februar 1855 hatte der Regent zu Philippsberg geäußert, "im Geiste Seiner Majestät des Kaisers" handeln zu wollen, und gegenüber dem französischen Gesandten zögerte er nicht, die "engherzigen preußischen Ansichten" im Vergleich mit der österreichischen Politik abzuwerten. Als der junge Fürst Alexander Schönburg im Februar 1855 die Nachfolge Philippsbergs antrat, war auch von diesem nur die konsequente Beibehaltung der österreichischen Einstellung gegenüber Baden zu erwarten. Die Wogen des Krimkrieges hatten sich noch nicht gelegt, als ein vergleichsweise zweitrangiges Ereignis Savigny zu einer nicht gerade Erfolg verheißenden Sondennission führte. Das bis zum Ausgang der napoleonischen Herrschaft im Besitz der Krone Preußen befindliche Fürstentum Neuenburg war 1814 als souveräner Kanton der Eidgenossenschaft beigetreten, indes hatte sich dort eine bemerkenswert starke monarchische Bewegung gehalten, welche die völlige Wiederherstellung der ursprünglichen Besitz- und Herrschaftsverhältnisse des preußischen Königs als ihr Ziel verfolgte. Unter der Führung des Grafen Frederic Pourtales bereiteten die Royalisten jetzt eine Erhebung vor, die, wenn auch von Berlin aus nicht unmittelbar eingeleitet, doch der stillschweigenden Duldung durch die preußische Regierung sicher sein konnte. Pourtales hatte in Berlin mit Persönlichkeiten aus der Umgebung des Prinzen von Preußen, mit Leopold von Gerlach und dem Ministerpräsidenten von Manteuffel diesbezügliche Besprechungen geführt, bei denen es insbesondere um die Absicherung des Unternehmens gegen ein schweizerisches oder gar französisches Eingreifen im Falle des Gelingens ging. Überzeugt von der Favorisierung der Aktion durch den König, verließ Pourtales die Hauptstadt, um an Ort und Stelle die Erhebung vorzubereiten. Da ging Savigny in den Abendstunden des 25. August aus Berlin ein Telegramm des Prinzen von Preußen zu, das ihn anwies, sich am Tage darauf in Karlsruhe oder in Oos mit dem hier durchreisenden Pourtales zu einer Besprechung zu treffen. Ein zweites nur wenig später in Berlin aufgegebenes chiffriertes Telegramm Manteuffels erreichte ihn noch in später Abendstunde, infonnierte ihn über den Versuch, die legitime Herrschaft in Neuenburg wiederherzustellen, und wies ihn an, sich im Falle des Gelingens für eine schnelle Mission nach Bern bereitzuhalten. Zunächst aber sollte er Pourtales zu erreichen suchen und sich über das Projekt infonnieren lassen. Dabei habe er von letzterem keinerlei Aufträge entgegenzunehmen, wie auch andererseits keinen Einfluß auf dessen Entschließungen auszuüben. Die persönliche Infonnation war also zunächst alles. 54 Am 28. August ging Savigny eine vom König genehmigte Eventualinstruktion zu, deren Datum noch offen gehalten war - je nach den in Berlin zu erwartenden Nachrichten vom Verlauf der Erhebung. Sie ging von der - fiktiven - Tatsache 54 Die Depeschen des Prinzen und Manteuffels sowie die Eventualinstruktion für Savigny im Nachlaß, S. 667.

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eines Gelingens der Erhebung aus sowie von der Erwartung, daß die in Bern beglaubigten Gesandtschaften ihrerseits einen mäßigenden Einfluß auf den schweizerischen Bundesrat geltend machten, um den durch den Sieg der Erhebung geschaffenen Zustand der Dinge nicht wieder zu gefährden. Zu dem gleichen Zweck sollte sich Savigny sofort an den Sitz der Bundesregierung begeben, um dieser vertraulich und freimütig den Ernst der Situation vor Augen zu führen, falls sie versuchen sollte, den durch die Erhebung hergestellten Zustand wieder rückgängig zu machen. Die so ungenügend vorbereitete Aktion scheiterte jedoch schon nach ihrem ersten Anlauf. In der Nacht zum 4. September lagen in Berlin zwar noch günstige Nachrichten vor, denen zufolge "alles geglückt" war und Savigny sich auf den Weg nach Bern machen konnte. Im Begriff, sich in der Frühe des folgenden Tags dorthin zu begeben, erreichte ihn jedoch die Nachricht von ihrem Scheitern. Er erbat sich nunmehr neue Weisungen unmittelbar nach Bern. Als er am Vormittag des 6. September dort eintraf, war die Entscheidung längst gefallen. In der Nacht zum 4. September hatten eidgenössische Soldaten den Aufstand niedergeschlagen, und damit war auch Savignys Instruktion hinfällig geworden. Was ihm zu tun verblieb, hatte Manteuffel ihm noch am 5. September chiffriert zugeleitet: er könne durch seine Berichterstattung den preußischen Interessen weiterhin dienen und durch offiziöse Einwirkungen auf die fremden Gesandten in Bern dahin wirken, "daß eidgenössischerseits die Schwierigkeiten einer baldigen befriedigenden Lösung der nunmehr . . . wieder in den Vordergrund getretenen Neuenburgischen Angelegenheit nicht noch vermehrt werden."55 Vorrangig stellte sich ihm als dringendste Aufgabe, die Freiheit der etwa 700 gefangenen Royalisten zu erwirken, von denen viele verwundet waren. Unterm 7. September hat Savigny über die Vorgänge eingehend berichtet. Was er über die Freunde des Grafen Pourtales hatte erfahren können, klang nicht hoffnungsvoll. Selbst wenn die Berliner Regierung eine Amnestie aller Gefangenen anstrebte, so wurde ihm doch bald deutlich gemacht, daß sie mit einer solchen umfassenden Aktion auf den Widerstand der Neuenburger Republikaner stoßen mußte. Aus allen Gesprächen ergab sich als zentrale Forderung der Eidgenossen, daß eine allgemeine Amnestie nur möglich war, wenn der König die Neuenburger Frage definitiv in dem Sinne zu lösen bereit war, daß er das derzeitige Verhältnis des Kantons Neuenburg zur Schweiz anerkannte und auf die fernere Geltendmachung seiner fürstlichen Rechte verzichtete. Die Schweiz, so hatte sich auch der Bundespräsident Staempfli mehrfach geäußert, könne nicht länger hinnehmen, "daß von Preußen allein gegen ihre öffentliche Rechtssicherheit eine, wenn auch nur partielle, so doch unüberlegte Verwahrung eingelegt werde." Er hatte darauf verwiesen, "daß die entscheidenden Bestandteile der Schweiz im Laufe der Jahrhunderte meistens auf ähnliche Weise von ihren Landesherren sich losgerissen und der 55 Der Telegrammwechsel Manteuffel-Savigny und Savignys ausführlicher Bericht vom 7. September im Nachlaß, S. 671 ff.

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Eidgenossenschaft angeschlossen hatten." Das hatte auch der französische Gesandte, Graf von Salignac-Fene1on, zu hören bekommen, an den sich Savigny auftragsgemäß gewandt hatte. Der Franzose hatte sich vermittelnd zur Verfügung gestellt und dabei in einer Unterredung mit Staempfli erfahren, daß ein Ausgleich der Spannungen nur in einer Amnestie der Gefangenen bei gleichzeitigem Verzicht des Königs auf seine Hoheitsrechte in Neuenburg bestehen könne. Dabei sollte es auch später sein Bewenden haben. Endgültig bereinigt wurde der Konflikt auf einer Konferenz der Signatarmächte des Londoner Protokolls von 1852, die im Mai 1857 in Paris zusammentrat und den definitiven Verzicht des Königs von Preußen auf Neuenburg festschrieb. 56 Savigny konnte in diesem Konflikt nur eine untergeordnete Rolle spielen. Seine Berner Mission wurde von den Ereignissen bald überholt. Was ihm blieb, war die Berichterstattung über die Stimmungs lage in der Schweiz - mehr nicht. Der Neuenburger Konflikt blieb auch für ihn eine Episode. Wichtiger war wie eh und je die Bewahrung der besonderen Stellung Preußens in Baden. 57 Aufmerksamkeit war hier erst recht vonnöten, als der mit ihm in freundschaftlicher Verbindung stehende badische Gesandte in Berlin, Wilhelm von Meysenbug, 1856 die Nachfolge Rüdts als dirigierender Minister antrat. Meysenbug war kein Depositär preußischer Politik, und durch seinen Bruder Otto, der jetzt in Wien Minister war, mußte sogar mit einem sich verstärkenden Einfluß Österreichs auf die badische Politik gerechnet werden. Wir wollen die engsten Kreise von Savignys privatem Dasein nicht übersehen. Da hören wir von einem kurzen Aufenthalt in Koblenz, um auch noch nachträglich den Geburtstag des Prinzen zu feiern. Wir lesen Briefe der Gräfin Hacke, der Hofdame der Prinzessin Augusta, die vielfach die Kontakte zwischen Karlsruhe und Koblenz zu praktizieren hat. Man tauscht Grüße und Glückwünsche zu Gedenktagen und zum Jahreswechsel aus. Wir hören von Savignys Besuchen im Elternhaus, von der Entwicklung des ersten Kindes, von der Geburt der ersten Tochter, Elisabeth, die am 23. Juni 1856 zur Welt kommt. 58 Savigny ist erfreut 56 Edgar Bonjour hat sich mit dieser Frage wiederholt beschäftigt. Außer seiner Untersuchung von 1957 sei u. a. hingewiesen auf die folgenden Arbeiten: Vorgeschichte des Neuenburger Konflikts 1848 -1856 (1932), Englands Anteil an der Lösung des Neuenburger Konflikts 1856/57 (1943), Europäische Stimmen zum Neuenburger Konflikt (Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte, Bd. 2, 1944, S. 194 ff.). S7 Hierfür nur einige Zeugnisse: Prinz von Preußen an Savigny, 13. Oktober 1854, 7. Januar und 28. Mai 1855; Savigny an den Prinzen, 31. Dezember 1854, 16. Januar 1855 (Nachlaß passim). 58 Einige der zahlreichen Briefe an die Eltern sind im Nachlaß nachzulesen. Sie und viele andere befinden sich im Familienarchiv. Ich nenne nur die Briefe vom 11. Januar, 26. März, 7. April, 18. Mai, 9., 23., 24. und 29. Juni, 9. Juli und 1. August 1856. Elisabeth kam am 23. Juni in Baden-Baden zur Welt. Interessant sind auch die Berichte von der Taufe, die in der Stifts- und Pfarrkirche stattfand. Taufpaten waren die Prinzessin von Preußen und Graf von Fürstenberg-Stammheim. Anwesend waren u. a. der Prinz von Preußen, Savignys Eltern und der Bruder Leo. Das Kind erhielt den Namen Augusta

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über einen Brief, den ihm der Sohn des einstigen Heidelberger Juristen Thibaut schreibt und der Ausdruck der Pietät gegenüber seinem Vater ist. Die Abendstunden bleiben meistens der Arbeit vorbehalten. 59 An dem gesellschaftlichen Leben der Residenz nimmt das Paar nur den pflichtgemäßen Anteil. Im übrigen ist man immer wieder vor allem für die Freunde da. Aus Dresden kehren sie bei ihm ein; die Reitzensteins bringen sich in Erinnerung, und auch die Klübers sind wieder einmal in Baden-Baden. "Ich sehe, es fehlt nicht an Menschen, mit denen man umgehen kann," schreibt Marie an ihre Mutter und fügt hinzu: "wenn man nur immer Lust und Zeit hätte, es zu tun." Sie hätte Zeit, aber sie widmet sich lieber den Werken der Literatur: sie liest Dante und Moliere, die Schriften der Marquise de Sevigne und die Werke des Sainte-Beuve, und dann erwartet sie die Memoiren der Königin von Schweden, die von ihren Hofdamen aufgezeichnet wurden. Bei dem Akademiedirektor Schirmer setzt sie ihre Malstudien fort. Mit besonderer Sorgfalt widmet sie sich der Erziehung ihrer Kinder, deren einzelne Phasen sie stolz ihren Eltern schildert. Beide sind erschüttert, als sie im Juli 1857 die Nachricht vom Tode des Konstantin Schinas erreicht. Die Verbindung zu dem griechischen Diplomaten war zwar mehr und mehr verblaßt, jetzt aber weckt sein Name wieder die Erinnerung an die geliebte Bettina. Wieder steht das Bild der Schwester ihnen allen vor Augen, als sei alles erst gestern gewesen. Und dann trifft Savigny die Nachricht vom Tode seines Freundes Maximilian von Hatzfeldt. Er hatte ihn für den unbestreitbar tüchtigsten preußischen Diplomaten gehalten. In ihrer Studienzeit hatten sie sich kennengelernt, sich gemeinsam auf das Examen vorbereitet, die gleiche Laufbahn eingeschlagen, waren am gleichen Tage zu Legationsräten ernannt und im selben Jahre als Gesandte akkreditiert worden. Ihre enge Freundschaft hatte zu manch regem Gedankenaustausch geführt. 60 So wechseln glückliche Stunden in ständigem Rhythmus mit Augenblicken der Niedergeschlagenheit. Karlsruhe wird dem Paar zu einem Hort der Lebensfreude und Daseinserhöhung, zugleich aber auch zu einer Zone der Abgeschiedenheit und der Einkehr. Zu den glücklichen Augenblicken gehört das Erlebnis der Gesamtatmosphäre in der Familie. Zu den beiden ersten Kindern sollte sich schon 1857 ein drittes gesellen. 61 Es gehören aber auch jene Augenblicke dazu, in Franziska Maria Walpurgis Kunigunde Elisabeth Sophie Edeltraut. Die vier ersten Namen weisen auf die beiden anwesenden Taufpaten hin, der letzte (Edeltraud) war It. Savignys Brief nach dem dortigen katholischen Kalender der Name des 23. Juni. Gerufen wurde das Kind fortan Elisabeth, "in Erinnerung an unser seeliges Bettinchen." Von der Arnim' sehen Seite wurde nur Maries Schwester Sophie (später die Gemahlin des Botschafters Graf Harry Arnim) als Patin genommen. 59 Savigny an seine Eltern, 18. Dezember 1856, 2. Februar und 13. März 1857; Marie von Savigny an ihre Mutter, 4. Dezember 1856; Brief von Thibaut: Savigny an seinen Vater, 31. Oktober 1856 (sämtlich im Familienarehiv). 60 Aus den zahlreichen Briefen der beiden Savignys seien hier nur erwähnt: Savigny an seine Eltern, 28. Juli 1857 (Tod Schinas') und an seinen Vater, 22. Januar 1859 (Tod Hatzfeldts).

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denen in der Hauptstadt des Großherzogturns Preußens geschichtliche Sendung rechtfertigend dargeboten wird. Einer Einladung des Großherzogs folgend, hat Ludwig Häusser im Winter 1857/58 eine Reihe geschichtlicher Vorträge gehalten und dabei mit Friedrich dem Großen begonnen. Das Ehepaar Savigny hat derlei Veranstaltungen stets gern und regelmäßig besucht. "Unser preußisches Herz und unter Schmachten nach etwas Anregung dieser Art lassen uns diese Vorlesungen mit Ungeduld erwarten," schreibt sie der Mutter. Man ist stolz auf den Widerhall, den sie finden, stolz vor allem darauf, daß Hof und Hofgesellschaft daran teilnehmen - bis auf die Österreicher. Häusser ist im Anschluß an einen dieser Vorträge bei ihnen zu Gast, und als Robert von Mohl aus einem ähnlichen Anlaß einmal in Karlsruhe weilt, findet auch er eine gastliche Aufnahme im Hause des Gesandten. Von Baden-Baden aus ist Savigny öfters nach Trages gereist. Jedesmal kommt es ihm vor, als schöpfe er neue Kraft in der Geborgenheit dieses Familiensitzes. Die Heiterkeit der Landschaft, die Ausgewogenheit der dort gültigen Lebensbedingungen, die auf Schritt und Tritt sich ergebende Begegnung mit der Familiengeschichte, all das waren für ihn reiche Quellgründe, deren er bedurfte, um sein eigenes Dasein zu bereichern. Hier werden die Erinnerungen an die Vorfahren lebendig; hier kommen die Eindrücke wieder auf ihn zu, die der Vater ihm vermittelte. In seiner Obhut hatte er die ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts in sich aufgenommen, und jedesmal, wenn der Tod hier eine Lücke reißt, fühlt er sich zutiefst verloren. Als der Bildhauer Christian Daniel Rauch, der Schöpfer des Grabmals der Königin Luise, erkrankt, bewegt ihn diese Nachricht wie selten ein Ereignis; als er wenige Tage darauf stirbt, befällt ihn Wehmut und Trauer. "Einmal kannte ich den edlen, schönen Greis persönlich genauer, und dann repräsentiert er in meiner Erinnerung so vollständig eine mehr und mehr erbleibende Zeit, daß man förmlich daran gemahnt wird, wie bald von allem, was man in der Jugend an lebendigen Eindrücken entgegengenommen, der Abschied verlangt wird," schreibt er dem Vater und fährt dann fort: "auch daß ich durch die nähere Anschauung von diesem Manne wie von vielen ausgezeichneten Erscheinungen einer großen und bedeutenden Zeit mir gewisse Bilder für das ganze Leben habe einprägen können, verdanke ich ja nur dem großen und unverdienten 61 Das Ehepaar hatte am 17. August 1857 noch zu später Stunde an einer musikalischen Soiree bei der Großherzogin teilgenommen, als in den Mittagsstunden des folgenden Tages ihr drittes Kind geboren wurde. Der Zufall wollte es, daß auch diesesmal die Prinzessin von Preußen zur gleichen Zeit im Hause Savignys weilte, Taufpaten waren Graf von Boos-Waldeck (Kammerherr der Prinzessin) und Frau von Ozeroff, Taufzeugen die Prinzessin von Preußen und Großherzogin Stephanie. Das Kind wurde getauft auf die Namen Franz Marie Clemens Leo Agapitus Adolph. Eine illustre Gesellschaft fand sich dazu ein: außer den Genannten noch Fürst Pückler, Graf Blücher, der Arzt Dr. Alertz aus Rom, Isabella Gagarine u. a. m. Savigny erklärt den Namen so: Franz nach seinem verstorbenen Bruder, Marie sollten die Kinder alle heißen, Clemens nach dem Paten Graf Boos, Leo nach Savignys Bruder, Agapitus war der Heilige vom Tage der Geburt, Adolph nach Savignys Schwiegervater (Savigny an die Eltern, 17., 18.,26. und 29. August 1857, sämtlich im Familienarchiv).

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Glücke, daß ich solcher Eltern Kind war, um die sich das Hervorragende in der Blüte unserer Jugend scharte. Etwas Ähnliches wie Euer Haus in den zwanziger und dreißiger Jahren habe ich doch nirgends anders in Europa angetroffen. An solchen Erinnerungen zu hängen, ist gewiß erlaubt; sie erhalten frisch und ziehen von Zeit zu Zeit ab von der Gewöhnung an die alltäglich überhandnehmende Mittelmäßigkeit."62 Tief traurig ist er auch jedesmal, wenn Menschen seines eigenen Erlebniskreises dahingehen. Als der General Roth von Schreckenstein, der einst bei der Niederwerfung des badischen Aufstandes mitgewirkt, im Mai 1858 stirbt, zieht er sich lange in sich selbst zurück, hatte er doch mit ihm einen treuen Freund und die preußische Armee einen großen Soldaten verloren. Die auslaufenden fünfziger Jahre sind für Preußen Jahre von zunächst nicht zu übersehender geschichtlicher Bedeutung gewesen. Die Erkrankung des menschlich so fesselnden, hochbegabten und vom Gottesgnadentum der Krone zutiefst überzeugten Königs Friedrich Wilhelm führte über die mehrmals verlängerte Stellvertretung zur Einsetzung jener Regentschaft, die dem Prinzen Wilhelm vor dem Hintergrund sich anbahnender außenpolitischer Verwicklungen eine Politik: des längeren Atems und weiter reichender Perspektiven ermöglichte. Nach der am 7. Oktober 1858 von dem erkrankten König geleisteten Unterzeichnung der Urkunde und ihrer Genehmigung durch die beiden Kammern leistete Prinz Wilhelm am 26. Oktober als Prinzregent den Eid auf die Verfassung. Die mit seinem Namen verbundene "Neue Ära" konnte beginnen. Der Entlassung des Ministeriums Manteuffel und der Berufung des Fürsten Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen am 5. November folgte die Bildung eines liberal-konservativen Kabinetts, dem der Prinzregent in einer viel beachteten und in der Öffentlichkeit mit reichem Beifall bedachten Ansprache am 8. November sein Regierungskonzept vorlegte. Savigny, der vorerst nur unvollständige Einzelheiten der Regierungsbildung erfuhr, stand der sich anbahnenden Entwicklung zunächst mißtrauisch gegenüber. "Hier in der Entfernung von der eigentlichen Schaubühne," schrieb er am 16. November, "ganz isoliert von Freunden aus dem Vaterlande, ist die Spannung natürlich noch größer, als es bei Euch sein kann. Zu vielem fehlt mir noch der Schlüssel, und doch kenne ich die bestimmenden Faktoren genug, um mir selbst retrospektiv die Kombinationen zu konstruieren, welche uns den gegenwärtigen trouble bereitet haben dürften. Gewissen Leuten ist vieles gelungen; nur eines möge ihnen nicht gelingen, den Prinzen auf eine Bahn zu lenken, welche ihn den treuesten Elementen im Lande entfremden muß. Einer durchaus wehmütigen Stimmung kann ich mich schon jetzt nicht erwehren, wenn ich bedenke, wie leicht man die Resultate von achtjähriger Dauer in die Schanze geschlagen hat zugunsten momentaner Befriedigung von Eigenliebe und Ehrsucht weniger Männer . . . Jetzt sehe ich, unter demselben edlen Fürsten, dem ich damals meine Dienste unmittelbar widmete, ein Werk des Niederreißens begin62 Savigny an seine Eltern, 28. November und 14. Dezember 1857 (Nachlaß, S. 692 und 694). Rauch war am 3. Dezember gestorben.

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nen, was um so unerklärlicher bleibt, als irgend ein äußerer Anlaß zu einem so ostensiblen Ablenken von gewohnter und sicherer Bahn gar nicht vorlag. Vielleicht daß ich mich täusche, aber einstweilen ist dies der Ausdruck meiner Empfindung . . . sobald ich wieder ganz auf den Beinen bin, gedenke ich zu Bismarck nach Frankfurt zu fahren, um mich mit ihm etwas auszuplaudern."63 Was Savigny befürchtete, war ein allgemeines Nachgeben gegenüber allen liberalen Tendenzen, und was seine Frau damals ihrem Tagebuch anvertraute, war letztlich die Meinung ihres Gatten: "Es ist also doch alles geschehen, was wir jahrelang vorhergesehen und woran wir nicht glauben konnten und mochten. Die Prinzessin (Augusta) regiert; sie hat das Ministerium Manteuffel, mit dem der Prinz fortregiert hätte, - aus Gewohnheit - gestürzt; sie hat den Fürsten Hohenzollern vermocht, seinen Namen diesem liberalen Ministerium zu leihen. Auerswald und Schleinitz, die stets bei ihren Besuchen bei den Herrschaften gewohnt haben, die intimen Hausfreunde und Vertrauten aller Gedanken der Prinzessin, sogar über ihren Gemahl, haben, wer weiß wie, das erlangt, was ihnen offenbar von ihr längst zugesagt war ... Es ist nicht der Sieg einer Partei, sondern das Gelingen einer jahrelangen berechneten Stellenjägerei."64 Mit der Konstituierung des neuen Kabinetts bahnte sich auch das längst erwartete Revirement der Diplomaten an. Auch von Savignys Versetzung war schon wiederholt die Rede gewesen. Im Herbst 1855 hatte Bismarck sich gegenüber Leopold von Gerlach geäußert: "Savigny fangt an, sich von Carlsruh fortzuwünschen; auch der Regent hätte gern einen anderen für ihn und wird seine Wünsche wohl gelegentlich und vertraulich anbringen."65 Die während des Neuenburger Konflikts erwogene Versetzung nach Bern hatte für ihn nichts Verlockendes. Zudem waren die diesbezüglichen Sondierungen schon im Vorfeld steckengeblieben. Jetzt aber stand ein Revirement bevor, von dem auch er erfaßt werden mußte. Die ersten Andeutungen erhielt er von seinem Vetter Siegmund von Amim. Er selbst hielt sich, seinem Grundsatz gemäß, ganz zurück. "Ob man mich von hier versetzen wird und wohin, darüber weiß ich gar nichts," schrieb er seinem Schwiegervater, "auch bin ich fest entschlossen, alles ganz ruhig abzuwarten, ohne meinerseits auch nur durch einen Laut zu dem Wahne Anlaß zu geben, als rechne ich auf die Protektion von irgendjemand. Seit bald zehn Jahren preußischer Gesandter, werde ich über Gebühr belobt und ausgezeichnet und nur so zufallig bei avancements stets vergessen, so daß ich es jetzt um so mehr den entscheiden63 Savigny an seinen Schwiegervater, 16. November 1858 (Nachlaß, S. 700 f.). 64 Marie von Savigny, Fragmente eines Tagebuches (Familienarehiv). Ähnlich resignierend soll sich auch Hatzfeldt kurz vor seinem Tode seiner Frau gegenüber geäußert haben: "... Ce pays n'a pas d'avenir, la Prusse s'en va." 65 Bismarck an Leopold von Gerlach, 7. Oktober 1855 (Werke, Bd. 14/1, S.417). - Am 31. Oktober schreibt Bismarck (wiederum an Gerlach): "Hat der Prinz-Regent von Baden vielleicht Schritte gethan, um Savigny los zu werden? Letzterer scheint bei der Prinzeß von Preußen in Ungnade gefallen zu sein. Gut wäre es, wenn er einmal wo anders fungirte; man wird einseitig auf solchem Posten". (Werke, Bd. 14/1, S. 421).

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den Personen überlasse, ob ich in ihren Augen zu etwas Neuem brauchbar bin oder nicht. Um Vertrauen bewerben kann ich mich unmöglich. Der Regent war ja vorzugsweise in der Lage, sich ein Urteil über meine Dienstfähigkeit zu formieren." 66 Was ihn aber mehr beschäftigt als seine eigene dienstliche Zukunft, das sind die grundsätzlichen Veränderungen in der Berliner Politik. Er spricht von der "weitverbreiteten Unreife im politischen Urteil unserer Mitbürger", von einer Rückkehr in den vormärzlichen Liberalismus und dem Drang einer unreifen Reformsucht; er sieht die allen liberalisierenden Tendenzen feindliche Basis der Politik der letzten Jahre bedroht. 67 Er wehrt sich gegen den Gedanken, daß etwa ein Schatten auf sein bisher so glückliches Verhältnis zum Prinzregenten fallen könnte. Wie eh und je sendet er ihm Neujahrswünsche ins Haus, und er nimmt auch den lebhaftesten Anteil an der Geburt seines ersten Enkels, des nachmaligen Kaisers Wilhelms 11., und schließlich ist er auch einer der wenigen Diplomaten, die dem Ministerpräsidenten von Manteuffel bei seinem Ausscheiden aus dem Amt ihren Dank für das bewiesene Wohlwollen aussprechen. 68 Dann zeichnen sich endlich die Personalentscheidungen des neuen Außenministers von Schleinitz ab. Die erste, von seinem Schwiegervater ihm zugehende Nachricht enthält noch manche Irrtümer. Einiges aber trifft zu: Bismarck geht nach St. Petersburg, Karl von Werther nach Wien, Usedom nach Frankfurt, Albert von Pourtales nach Paris; Albert von Flemming jedoch, der für München im Gespräch war, sollte Savignys Nachfolger in Karlsruhe werden, und Savigny, nach Arnims Bericht für Brüssel bestimmt, wird nach Dresden geschickt. 69 Savigny war darüber nicht sehr glücklich. Er kannte die Gepflogenheiten des Ministeriums bei der Behandlung der Personalfragen sowie Anciennität, Leistungsvermögen und charakterliche Gegebenheiten seiner Berufskollegen zu genau, als daß er - auf der Höhe seiner dienstlichen Laufbahn stehend - kritiklos die Entscheidungen des Ministers zur Kenntnis genommen hätte. Jetzt reagiert er gereizt. Seinem Schwiegervater gegenüber gibt er seiner Enttäuschung deutlich 66 Savignyan seinen Schwiegervater, 16. November 1858 (Nachlaß, S. 700 f.). Graf Arnims Antwort an seine Tochter: "... Alles, was bis jetzt darüber verlautet, sind so leere und auf nichts Positivem beruhende Gerüchte, daß es gar nicht lohnt, ihnen auch nur eine Aufmerksamkeit zu schenken. Die Zeitungen sprechen von Brüssel. Arnim hatte wieder von Madrid gehört. Enfin! Ruhig abwarten." (25. November, ebendort, S. 701 f.) Vgl. auch Savigny an seine Eltern, l. Dezember, S. 702. 67 Savigny an Graf Arnim, 25. Dezember 1858 (Nachlaß, S. 703 f.), an Gräfin Arnim, 2. Januar 1859 (S.706). Vgl. dazu auch Marie von Savigny an ihren Vater: "... Ihr könnt Euch denken, daß nichts mich so beschäftigt als die Zukunft, die Karl bevorsteht. Es wird schwer sein, den richtigen Mittelweg zwischen Gleichgültigkeit und zu großer Abneigung gegen manche heimische Zustände zu finden." (l. Januar 1859, S. 705). 68 Manteuffel, Unter Friedrich Wilhelm IV., Denkwürdigkeiten, hrsg. von H. v. Poschinger, Bd. III. 69 Arnim-Boitzenburg an Savigny, 28. Januar 1859; Savignys Antwort vom 5. Februar und Schleinitz an Savigny, 7. Februar 1859 (Nachlaß, S. 707, 712 f.). Ferner Savigny an seine Eltern, 5. Februar (Familienarchiv). In diesem Brief bemerkt er, das einzig Erfreuliche bei der Versetzung sei, daß er in die Nähe der Eltern komme.

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Ausdruck: "Für meine Karriere ist es eine entscheidende Wendung," schreibt er, "ich komme von einem ruhigen Posten . . . auf einen noch ruhigeren. Es ist für mich eine ehrenvolle Pension, auf die ich jetzt aber noch keine Ansprüche zu machen gewünscht hätte ... Jetzt, wo eine Gelegenheit zu einer nützlichen Verwendung nach allen Richtungen hin vorlag, ist es mir schmerzlich, daß niemand an mich gedacht hat außer mit der Absicht, wie man mit mir eine vorhandene Lücke stopfen könne."70 Daß die Versetzung ohne jede voraufgegangene Sondierung erfolgte, hat ihn sehr verletzt; er fühlt sich zurückgesetzt gegenüber den vielen dem Dienstalter nach jüngeren Kollegen, wenn er jetzt seinen "Ruheposten in Dresden" bezieht, der zudem noch in seiner politischen Bedeutung durch die Abtrennung der thüringischen Höfe beschnitten ist. Wollte er nur auf seine Bequemlichkeit bedacht sein, so schreibt er, so sei der Umzug nach Dresden nichts weniger als erfreulich, aber Kränkung erzeuge Mißmut und mache schließlich ungerecht gegen die vielen Vorzüge, welche die Vorsehung auch in sein Leben verflochten habe. Graf Arnim hat in einem ausführlichen Schreiben seine Erregung zu glätten versucht. 71 Hier spricht der berufserfahrene, der Staatsautorität dienende Grandseigneur, für den der Staat letztlich - auch in seinen Funktionsträgern - eine wohlwollende, prinzipiell Gerechtigkeit ausübende Macht ist, die im Einzelfall vielleicht nicht jeden Sonderwunsch erfüllen kann, die aber gleichwohl bestrebt ist, ihre schützende Hand über alle ihre Diener zu halten. Er analysiert, warum in der derzeitigen Lage eine andere Verwendung Savignys kaum zu erwarten gewesen sei. Er wägt die Posten ab, die von dem Revirement erfaßt werden: Paris, Wien, München, Brüssel, Frankfurt, Dresden. Er macht verständlich, warum Savigny als Katholik der tradierten Praxis entsprechend nicht für jeden fremden Hof in Frage kommen kann. Er will nicht bestreiten, daß zuweilen ein Gefühl der Benachteiligung aufkommt, aber er gibt auch zu bedenken, daß der sächsische Hof Vorteile in sich birgt: angesichts seines besonderen Verhältnisses zum Prinzregenten sei es wichtig, nicht gar zu weit vom Zentrum der Entscheidungen tätig zu sein. Unerfreulich - das bestreitet auch Graf Arnim nicht - sei die Abzweigung der thüringischen Höfe vom Dienstbereich des Gesandten in Dresden, aber diese sei schon vor Jahr und Tag von der Prinzessin Augusta gewünscht worden, ehe an Savignys Versetzung gedacht war, "um Weimar durch einen eigenen preußischen Geschäftsträger ein Relief zu geben."72 70 Savigny an Amim-Boitzenburg, 3. Februar 1859 (Nachlaß, S. 708 f.). Ferner am 5. Februar ebendort, S. 712 f. 71 Arnim-Boitzenburg an Savigny, 7. Februar 1859 (Nachlaß, S. 714 ff.) Dieser für das staatspolitische Denken Amims wie für die innere Beziehung der damals führenden Schichten zum preußischen Staatswesen gleichermaßen bezeichnende Brief verdient besondere Beachtung. 72 Arnim geht auch auf die Dotierung des Postens ein. In Karlsruhe hatte Savigny ein Gehalt von 8000 Talern, in Dresden sollten es 9000 sein. Der Etat für 1858 sah für Dresden, einschließlich Weimar und die sächsischen Herzogtümer, 9000 rtl. vor. Der Etat für 1859 sah für den Gesandten in Dresden ebenfalls 9000 rtl. vor, zugleich

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Savigny fühlte sich dadurch nicht widerlegt. Er glaubte auch die konfessionellen Faktoren bei der Besetzung der Gesandtenposten ad absurdum führen zu können. 73 Seine beiden Briefe an den Außenminister sind höflich und korrekt, aber man muß sie im Zusammenhang mit dem Briefwechsel mit Arnim-Boitzenburg sehen. Er leugnet nicht, an eine Versetzung auf einen Posten gedacht zu haben, der ihn mehr beanspruchen würde; er scheut sich auch nicht, auf die Unterschiede in den Bezügen der preußischen Vertreter in Hannover und München hinzuweisen. Nicht um sich zu rechtfertigen, hat Schleinitz ihm in einer generösen Weise gedankt. 74 Dennoch: ein Schatten blieb zurück. Was vor allem den Brüsseler Posten betraf, so dürfte ausschlaggebend gewesen sein, wenn Savigny vermutet, daß der für Paris vorgesehene Albert von Pourtales alles tat, um Savigny nicht am Hofe des Königs der Belgier - sozusagen als Nachbarn - zu haben. Ihre beiderseitiges Verhältnis war nicht sehr glücklich. Trotz allem verläßt Savigny Karlsruhe in gehobener Stimmung. Der Landesherr versichert ihm, er werde nie vergessen, unter welchen Umständen er ihn einst bei der Niederwerfung des Aufstandes kennengelernt habe. Als er der Großherzogin Stephanie einen Abschiedsbesuch macht, steigen noch einmal die glücklichsten Erinnerungen in der alten Dame auf. Am 16. März überreicht er dem Landesherrn sein Abberufungsschreiben. 75 In seinem Immediatbericht bekennt er, welch ein Gefühl des Dankes gegenüber dem Prinzregenten ihn erfülle, unter dessen Augen er seine Aufgabe in Baden so glücklich habe beginnen können. Er sei aber auch dem jungen Großherzog dankbar, dessen huldvolle Worte er nicht wiederholen könne. Die Bildnisse des Landesherrn und seiner Gemahlin, die er zum Geschenk erhält, haben ihn noch lange an seine Karlsruher Jahre erinnert. "Ich scheide doch mit Wehmut aus diesem Lande," resumiert er, "ich war hier recht eingebürgert bei Land und Leuten. Viele Menschen hatten mich lieber, als ich es glaubte, und nun, da ich gehe, kommen mir Beweise von allen Seiten ... " 76 Savignys Karlsruher Jahre sind Jahre eines gesteigerten Lebensgefühls gewesen. Zu eigener Dienstgestaltung herangereift, vom Vertrauen seines Königs aber für den Ministerresidenten in Weimar 4 000 rtl., also eine Mehrausgabe für 1859. Das beweist, daß schon.bei der Aufstellung des neuen Etats die neue Stelle (in Weimar) beschlossen war. Es war anzunehmen, daß die übrigen sächsischen Häuser dem Ministerresidenten in Weimar zufielen (Amim-Boitzenburg an Savigny, 11. Februar 1859, Familienarchiv). 73 Vgl. Nachlaß, S. 717, Anmerkung 1; Savigny an Schleinitz, 10. und 11. Februar 1859 (Nachlaß, S. 717 ff.). 74 Schleinitz an Savigny, 14. Februar 1859 (Nachlaß, S. 720 f.). 75 Abberufungsschreiben vom 9. März 1859 im Nachlaß, S. 723 f. 76 Savigny an seine Eltern, 9. April 1859 (Nachlaß, S. 724). Seine Versetzung fiel in eine Zeit außenpolitischer Hochspannung. Unter Hinweis auf die dramatische Zuspitzung (am 23. April erfolgte das österreichische Ultimatum an Sardinien) wies Unterstaatssekretär Gruner ihn am 18. April an, sich unverzüglich auf seinen neuen Posten zu begeben.

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getragen, im Einvernehmen mit dem Staatsministerium sich wissend, Zwiesprache haltend mit dem Freunde aus weit zurückliegenden Tagen, Gedanken austauschend mit wohlmeinenden Berufskollegen, eines freundlichen Echos am badischen Hofe sicher, hat er mit seiner jungen Gemahlin den gemeinsamen Lebenskreis so zu füllen verstanden, daß Privates und Dienstliches eine glückliche Synthese eingingen. Erhebend für ihn war die Bereicherung seines Daseins, die Teilnahme am kulturellen, künstlerischen und wissenschaftlichen Geschehen in der Hauptstadt, die Zeit der Entspannung, die ihn des öfteren auch in das benachbarte Ausland führte, der Freiheitsraum, den er seiner Gemahlin bei der Entfaltung ihrer künstlerischen Fähigkeiten ermöglichte. Karlsruhe blieb eine unverlierbare Bewußtseinstatsache im weiteren Leben beider Savignys.

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Im Kreise der deutschen Mittel- und Kleinstaaten war Karlsruhe zweifellos ein herausgehobener Ort. Hier hatte sich Savigny von Anfang an eine Sonderstellung ganz eigener Art verschaffen können. Vertraut mit den bundesdeutschen Verhältnissen wie außer ihm nur noch Bismarck, war ihm jedoch bewußt, daß gerade in Dresden, von Wien, Berlin und Frankfurt abgesehem, die zukünftige politische Lebensform der Deutschen schon seit längerem im Mittelpunkt aller Überlegungen stand. Hier den König von Preußen zu vertreten, mußte für einen Gesandten eine Aufgabe von hohem Reiz sein. Unter den Residenzen des Deutschen Bundes genoß die Stadt an der oberen EIbe ein unverwechselbares Ansehen. Die natürliche Schönheit der Landschaft war hier mit dem städtebaulichen Gestaltungswillen der Wettiner eine glückliche Verbindung eingegangen. Die Künste hatten eine weit über die Landesgrenze ausstrahlende Heimstätte gefunden. Die geistig-künstlerische Kultur wies auch außerhalb des höfischen Kraftfeldes zahlreiche Mittelpunkte auf. Neben der Prägekraft des Hofes hatte sich ein kraftvolles Urbanitätsbewußtsein entwickelt, das sich als Ergänzung und nicht als Gegenpol der Hofgesellschaft verstand. Etwas Ähnliches hatte Karlsruhe nur in beschränktem Maße bieten können. Ein Weiteres kam hinzu: die Verbindungen zu den beiderseitigen Elternhäusern konnten von Dresden aus ungleich leichter gepflegt werden. Die alljährliche Erholungsreise nach Teplitz benutzten die Eltern regelmäßig zu einem Besuch in Dresden, und hier war es auch, wo der greise Gelehrte im Kreise von Kindern und Enkeln im Oktober 1860 sein sechzigjähriges Doktorjubiläum feiern konnte. Marie von Savignys Tagebuch gibt Kunde von derlei Zusammenkünften mit Freunden von einst, von Besuchen der Eltern und Geschwister, von Begegnungen mit den sächsischen Verwandten der Mutter, den Familien Friesen, Vitzthum und anderen mehr. Es ergab sich schon bald die Gelegenheit, das ehemals Mosziusky'sche Palais in der Lindengasse von seinem neuen Besitzer, dem Kammerherrn von Lüttichau, zu mieten, ein geräumiges Anwesen mit einem gepflegten Garten, nach Savignys Worten das "schönste Gesandtschaftspalais nicht nur in Dresden, sondern überhaupt das schönste von einem preußischen Gesandten bewohnte." 1 Marie von Savigny hat sich mit großer Liebe der Einrichtung dieses aufwendigen Hauses gewidmet, um es zum Mittelpunkt angeregter und anregender Menschen zu machen, wo alte und neue Freunde als gern gesehene Gäste bald ein- und ausgingen. Rudolph von Langenn, jetzt längst mit der Gloriole 1 Marie von Savigny an ihre Schwiegereltern, 11., 13. und 30. Mai 1859 (Familienarchiv). Die aufwendige Gesandtenresidenz kostete eine Iahresmiete von 1 800 Talern.

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eines Geheimrats umgeben, gehörte ebenso dazu wie jener schriftstellernde und gelehrte Rittmeister Heinrich von Gablenz, dessen Bruder Anton August in der Krise von 1866 durch die nach ihm benannte Mission noch hervortreten sollte. Er hat das Ehepaar Savigny auf vielen Spazierritten durch die Elblandschaft begleitet; Langenn machte sich ein Vergnügen daraus, seinen Freunden die historischen Stätten zu zeigen, die landschaftlichen Schönheiten in der Umgebung der Residenz zu erschließen, sie auch nach Prag zu führen, wo es galt, einen alten Freund der Familie, den Fürsten Fritz zu Schwarzenberg, einen Neffen des verstorbenen Ministers, aufzusuchen. Julius Schnorr von Carolsfeld, der seit 1846 auch als Direktor der Gemäldegalerie wirkte, tritt in ihren Gesichtskreis; ihm verdanken sie die Gelegenheit, bei der Versteigerung von Doubletten der Galerie eine Anzahl von Gemälden zu erstehen, die sich z. T. heute noch in Trages befinden. Ottilie von Goethe, die Schwiegertochter des Dichters, damals schon über den Zenit ihres Lebens hinaus und von schwankender Gesundheit, wird häufig eingeladen, und wenn ihr Zustand es gestattet, findet sie sich immer wieder gern im Salon der Frau von Savigny ein. Carl Gustav Carus, der Arzt, Philosoph und Maler, einst noch zum engeren Freundeskreis Goethes zählend, seit Jahrzehnten in Dresden lebend, wo er als Leibarzt der Könige in hohem Ansehen steht, bringt im Hause des Dichterenkels Maximilian Wolfgang von Goethe, der als preußischer Gesandtschaftssekretär erst kurz zuvor von Dresden versetzt worden war, einem auserlesenen Kreis die Werke Correggios nahe, und Marie von Savigny findet wie selbstverständlich Zugang zu diesem Kreis. Der damals auf der Höhe seines Schaffens stehende Literatur- und Kunsthistoriker Hermann Hettner, der im Zwinger seine kunstgeschichtlichen Vorlesungen hält, erregt ihre besondere Aufmerksamkeit, und auch er findet den Weg in das Palais in der Lindengasse. Im Kupferstichkabinett übt sich Marie, oft in Begleitung ihrer jüngeren Schwester Freda, in der Vervollkommnung ihrer zeichnerischen Anlagen. Wenn an langen Winterabenden Savigny mit Rudolf von Langenn stundenlange Spaziergänge unternimmt, gibt sie sich einer breitgefächerten Lektüre hin. Ferdinand Gregorovius, der seine Polen- und Ungarnschwärmerei längst hinter sich gelassen und sich schon vor Jahren dem Rom der Antike und dem Rom der Päpste zugewandt hatte, läßt seine bändereiche "Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter" erscheinen - sie wird ihm dereinst als drittem deutschen Historiker neben Alfred von Reumont und Theodor Mommsen die Ehrenbürgerschaft der Ewigen Stadt einbringen - und Marie von Savigny folgt mit angehaltenem Atem dem Fluß seiner Erzählung. Spärlich sind die Beziehungen zu den Mitgliedern des diplomatischen Korps. Der französische Gesandte dürfte hier genannt werden, oder auch Fürst Wolchonsky, ein russischer Diplomat, der die Patenschaft für Marie-Freda, das im Juli 1859 geborene vierte Kind der Savignys, übernimmt. Wer aber aus dem älteren Freundeskreis sich meldet, darf einer gastlichen Aufnahme sicher sein. Zwischen der in Paris lebenden Herzogin Dorothea von Talleyrand-Perigord und dem Ehepar Savigny kommt es vor allem auf Betreiben der abenteuernden, inzwischen fast siebzigjährigen Wahlfranzösin zu

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wiederholten Begegnungen, denen Savigny um so interessierter entgegensieht, als die Herzogin mancherlei politische Infonnationen mitzubringen in der Lage ist. In die Dresdener Zeit fallt auch die Wiederanknüpfung der Korrespondenz mit Montalembert. Es ist wohl die jetzt erneut sich stellende "Römische Frage", die beiderseits den Wunsch nach einer Wiederaufnahme des lange Zeit so regen Gedankenaustausches weckt. Wahrscheinlich auf Anregung August Reichenspergers lädt Savigny seinen Freund nach Dresden ein. Zu einer Begegnung ist es damals jedoch nicht gekommen. Montalembert, auf einer seinen Kunstforschungen gewidmeten Reise nach Österreich, Polen und Norddeutschland begriffen, fand nicht die Zeit für einen Abstecher nach Dresden. Von Posen aus stellt er ihm seinen Reiseweg dar: er will nach Danzig und zur Marienburg, von dort über Berlin und Hannover nach Norddeutschland, immer und überall die gotischen Kunstdenkmäler im Auge. Er bittet den Freund, ihm sachkundige Personen zu benennen, die ihm als Führer in Halberstadt, Quedlinburg, Goslar, Wolfenbüttel, Branschweig, Hannover und Bremen nützlich sein könnten. Aber er kündigt den Besuch seiner Frau an, die Obersachsen bereist und von Savigny geführt werden möchte. Savigny ist beglückt, seinen Freund in Deutschland zu wissen, und traurig zugleich, ihn nicht in Dresden bei sich zu sehen. Wie gern hätte er ihm den Dom in Meißen gezeigt, die Albrechtsburg, die Denkmäler der Lausitz, aber des Freundes Frau laden die Savignys ein, während ihres Besuches in ihrem Hause zu wohnen, und diese wiederum kann nach ihrer Rückkehr die Gastfreundschaft der beiden nicht genug rühmen. 2 Mehr als je zuvor sucht Savigny von jetzt an die Ereignisse der Tage jenseits aller vordergründigen Konstellationen zu begreifen. Dem Wesentlichen näher zu kommen, es aus den Gründen der Vergangenheit zu begreifen, vom Zufalligeo und Alltäglichen zu abstrahieren, die Wege der Geschichte als letztlich sinnerfüllte Gestaltungsmöglichkeiten in einem Felde freier persönlicher Entscheidungen zu erkennen, hierauf sind seine Gedanken jetzt ebenso gerichtet wie auf die Klärung der politischen Horizonte. Ihn bedrückt, als er nach dem österreichischen Ultimatum an Piemont-Sardinien einen Krieg heraufziehen sieht. Er fürchtet, daß dieser dann nicht auf die zunächst von ihm erfaßten Mächte beschränkt bleibt. Für Sachsen kommt erschwerend hinzu, daß das Haus Wettin sowohl mit dem Hause Savoyen als auch mit dem großherzoglichen Hause von Toscana verschwägert ist. Während Anna Maria die Tochter König Johanns und Gemahlin Ferdinands IV. von Toscana, eiligst nach Turin zurückgerufen wird, erscheint ihre Schwester Elisabeth, die verwitwete Gemahlin Ferdinands von Sardinien, bar aller Mittel, bald als Flüchtling in Dresden. Daraus konnten sich mancherlei 2 Eine Reihe von Briefen Montalemberts an Savigny, die als verschollen gelten mußten, hat Rüdiger Frhr. von Schönberg, ein Urenkel Savignys, vor einigen Jahren wieder aufgefunden. Sie befinden sich jetzt im Familienarchiv. Zu dem hier Berichteten kommen vor allem in Frage: Montalembert an Savigny, 9. Juli 1861 und Savigny an Montalembert, 12. Juli 1861.

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Verwicklungen ergeben. Hof und Regierung sympathisierten mit Österreich und sahen das Interesse Deutschlands und besonders Sachsens mit dem Kaiserstaat verbunden. "Hier ist man entsetzlich österreichisch und kriegerisch," schreibt Marie Anfang Juni an ihren Vater, und wenige Tage darauf heißt es in einem Brief an die Mutter: " ... hier stehen wir als Preußen sehr allein, das ganze Land und alle Bekannten sind schrecklich einseitig und österreichisch, so daß man ein wenig um sich beißen muß. Wenn die Regierung eine Weile das hören könnte, was in der Fremde über sie gesprochen wird, würde sie die Notwendigkeit einer anderen Politik einsehen." 3 Friedrich Ferdinand von Beust, Savignys Bekannter aus seiner ersten Dresdener Zeit (die freundschaftlichen Beziehungen sollten auch im Krisenjahr 1866 nicht ernstlich gefahrdet werden), begab sich in diplomatischer Mission nach Berlin und an die süddeutschen Höfe, schließlich auch nach Paris und London. Er hatte die politischen Schritte Österreichs mißbilligt, da sie den Kaiserstaat letztlich zum Angreifer machten. Jetzt aber, da man im Kriege stand, wünschte er eine Unterstützung Österreichs auf der Basis des deutschen Bundesrechts, wenn auch die Verpflichtung dazu für den oberitalienischen Raum des Habsburgerreiches vielfach bestritten wurde. Dahinter stand nicht zuletzt die nicht nur von ihm vertretene Absicht, dem Deutschen Bund zu erhöhter Bedeutung zwischen den beiden Führungsrnächten zu verhelfen. Savignys Berichte vermitteln ein anschauliches Bild von den Aktivitäten am sächsischen Hof, von den Tendenzen innerhalb des Militärs, von den ungewöhnlichen Rüstungsausgaben, schließlich auch von der Person des Königs und der Pflege seiner Beziehungen zu Gelehrten und Künstlern. Aus allem ist das hohe Maß von Sympathie erkennbar, mit der er die Haltung Sachsens im italienischen Konflikt begleitet. Er hätte Verständnis für ein aktives Eingreifen des Landes in den Krieg. Als der Prinzregent in der Anfangsphase der Auseinandersetzung den General Willisen nach Wien schickte, um die Möglichkeiten einer von Preußen ins Auge gefaßten Vermittlung zu sondieren, wußte Savigny Ende Mai zu berichten, daß Beust in der Kammer eine Debatte über ein mögliches Eingreifen Preußens hintangehalten hatte. Er hatte dies getan, um die ohnehin herrschende Stimmung des Mißtrauens gegen Preußen nicht noch höher ins Kraut schießen zu lassen. Von Friedensstimmung war im Lande wenig zu spüren; die Finanzlage war günstig wie selten zuvor; die Forderung erhöhter Kriegsausgaben stieß auf keinen nennenswerten Widerstand. Schon rechnete man ernsthaft auch mit dem Durchmarsch preußischer Truppen. Der Oberbürgermeister von Chemnitz suchte sogar den genauen Zeitpunkt zu erfahren, um den Preußen einen feierlichen Empfang zu bereiten. Aus Leipzig wird etwas Ähnliches berichtet. Die erwähnten Sondierungen sind dann bekanntlich bald gegenstandslos geworden. Die Ereignisse nahmen ihren Lauf: der Niederlage bei Magenta folgten die Räumung der Lombardei und der Rückzug hinter den Mincio sowie die 3 Marie von Savigny an ihren Vater, 4. Juni und an ihre Mutter, 17. Juni 1859 (Nachlaß, S. 728 und 732).

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prosardinische Erhebung in den Habsburgischen Sekundogenituren. In der verlustreichen Schlacht von Solferino fiel die Entscheidung. Der Weg der Regierungen von Wien und Paris führte geradlinig nach Villafranca (4. Juni bis 11. Juli). Die Ereignisse haben ihre Schatten auch auf Dresden geworfen. Savignys Telegramm an Schleinitz vom 21. Juni, wonach man in Dresden bereit war, Generalstabsoffiziere zu Besprechungen nach Berlin zu schicken, König J ohann aber eine "bundesmäßige" Behandlung aller diesbezüglichen Fragen verlange, war bald überholt. Beust, beeindruckt von der mündlichen Eröffnung des österreichischen Bundestagsgesandten von Kübeck, wonach man in Wien Befürchtungen über die Form der preußischerseits geplanten bewaffneten Vermittlung hegte, hielt schon sehr früh, noch vor der Entscheidung von Solferino, eine unmittelbare Verständigung zwischen Wien und Paris nicht für ausgeschlossen. Er zeigte Verständnis für das Zögern des österreichischen Außenministers Rechberg, sich auf die von Preußen verlangte Aktionsfreiheit in Deutschland einzulassen. Savigny hat Beusts Befürchtungen zu zerstreuen gesucht: wenn man gerüstet zusammenstehe, vielleicht bald sogar Seite an Seite zu kämpfen habe, wenn die deutschen Regierungen sich dabei um Preußen scharten, werde auch der Deutsche Bund seine Lebensfähigkeit am besten bewähren. Es bestehe für die Mittelstaaten im Grunde nicht die Frage, ob sie mit oder ohne Preußen für Österreich in den Krieg zögen, aber was Sachsen betreffe, so geböten die Ordnung im eigenen Lande und die Zukunft seiner Dynastie dem König dringender noch als früher den Anschluß an Preußen. Seine Berichte an das Ministerium des Auswärtigen, mehr aber noch sein privater Briefwechsel, vor allem der mit seinem Schwiegervater, lassen erkennen, wie er sich mit der von Erbitterung und Mißtrauen gekennzeichneten Lage auseinandersetzte. Noch vor dem Tage von Solferino hebt er hervor, wie tapfer sich die - schlecht geführten - österreichischen Truppen geschlagen hatten; er äußert die Hoffnung, daß der weitere Verlauf des Feldzuges noch manches wieder ausgleichen werde. Als der Vertrag von Villafranca unter Dach und Fach ist, stellt er dem Minister die Situation Preußens so vor Augen: man weide sich in Dresden an der Genugtuung, daß man die Gefahr einer unmittelbaren österreichisch-französischen Verständigung vorausgesehen und Preußen schon vor Monaten zu einem entscheidenden Eingreifen aufgefordert habe. 4 Man rühme sich der Selbstverleugnung, mit der die Mittelstaaten die Hegemonie an Preußen zu übertragen bereit gewesen seien; man halte es für einen unbegreiflichen Fehler der preußischen Politik, daß sie "in den Besitz dieser Macht faktisch sich zu setzen lediglich wegen einer Formfrage versäumt habe." Jetzt sei man mit dem Ergebnis "insofern nicht unzufrieden, als Preußen zu der ihm zugedachten Machterweiterung nicht gekommen und die Mittelstaaten also von neuem in dem restaurierten Dualismus zwischen Österreich und Preußen einer Garantie ihres ungeschmälerten Einflusses auf Deutschlands innere und 4 Savigny an das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, 19. Juli 1859 (Nachlaß, S. 738 ff.).

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äußere Politik gesichert sind." "Die Stimmen," so fährt Savigny fort, die sich jetzt am lautesten vernehmen ließen, seien "entweder voll des Triumphes über das, was man die diplomatische Niederlage Preußens nennt, oder sie versuchen, unter dem Scheine preußischer Sympathien der Demokratie der Zukunft in die Hände zu spielen, d. h. sie predigen eine Neukonstituierung Deutschlands unter Preußens liberaler Führung mit Rekapitulation des Frankfurter Volksparlaments. Leider ist diese Partei rein demokratischer Färbung in einem großen Teile von Sachsen zahlreich vertreten, besonders in Leipzig, wo man den Durchmarsch der preußischen Truppen zu politischen Manifestationen in größerem Maßstabe zu benutzen gedachte. Der Calcul der Führer dieser Richtung geht dahin: Preußen betrachten sie als isoliert in Europa, mit Österreich zerfallen, von den übrigen deutschen Regierungen gefürchtet wohl, aber nicht unterstützt und als selbst unbefriedigt mit dem Ausgange der gegenwärtigen Krisis." Noch kritischer äußert sich Savigny in seiner Privatkorrespondenz. So heißt es einen Tag nach dem Friedensschluß in einem Brief an den Grafen Arnim: ". . . Bei uns war man scheinbar zu pfiffig und hatte sich im voraus noch eine ganze Reihe von Phasen zum Durchlaufen zurechtgelegt, deren Entwicklung die beiden kriegführenden Mächte abzuwarten keine Lust hatten. Größer, mächtiger und geachteter treten wir aus dieser Krisis nicht heraus, weder in Europa noch in Deutschland."5 Und am 30. Juli heißt es: " ... Preußen ist impotent, mit Vorteil seine Macht zu entwickeln . . . In einem jeden Lande gibt es eine traditionelle Politik, die man nur zeitweise, meistens zum Nachteil, verläßt, zu der man aber bald zurückkehrt. In Preußen gibt es seit dem Jahre 1848 eine solche nicht. Das Traurigste dabei ist, daß die Generation der gegenwürtigen Machthaber sich dessen rühmen, mit der Politik Friedrich Wilhelms III. nichts gemein zu haben. Sie kennen sie gar nicht und bezeichnen sie als eine Politik schmachvoller Abhängigkeit von dem Metternichschen System. Und doch stand Preußen niemals größer, niemals einflußreicher da als zu jener Zeit, wo der alte König das Auge schloß und sein geistvoller Sohn das Regiment antrat ... unser teures Vaterland schließt so herrliche Elemente des Gedeihens in sich, daß einem das Herz bluten muß, wenn man sieht, wie wenig man daraus zu machen versteht." Einer ähnlich kritischen Sprache der nicht ausgereiften Urteile sind wir bei Savigny schon nach dem Scheitern der Erfurter Union begegnet. Graf von ArnimBoitzenburg war von einer zu selbstsicheren Souveränität, als daß er sich den Urteilen seines Schwiegersohnes kritiklos angeschlossen hätte. Insbesondere mißfiel ihm, was ihm dieser über Friedrich Wilhelm III. geäußert hatte. "Daß man die Zeit Friedrich Wilhelms III. schmäht, ist eine große Torheit," heißt es in seiner Antwort, "wenn man aber meint, daß es damals viel besser stand, so vergißt man dabei, daß dies daran lag, daß eben in der ganzen Zeit keine Probe 5 Savigny an seinen Schwiegervater, 12. und 30. Juli 1859 (Nachlaß, S.735 und 740 ff.). Vgl. auch den Brief vom 22. August 1859 (a. a. 0., S. 743) und Schönberg-Mskr.

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gemacht wurde und die Welt uns größer und stärker hielt und glaubte, als wir waren. . .. Zieht man aber jetzt ein langes Sünden- und Schwachheitsregister für Preußen hervor, so frage ich: kann man nicht ganz ebenso als Russe, Engländer, Franzose und Österreicher räsonieren, wenn man 1859 mit 1839 vergleicht? Sind sie nicht alle ebenso erschüttert und zum Teil noch viel tiefer gesunken? Ist nicht bei ihnen in noch viel höherem Maße der Nimbus geschwunden und die Kraft im Innern und Äußern ... Und nun Österreich! Von dieser Misere mag man nicht anfangen, weil man nicht enden könnte! Wo ist denn da etwas Tüchtiges, Hoffnungsvolles, Großes außer tapferen Soldaten im Gewühl der Schlachten? ... Wer will verkennen, daß nach Gottes Ratschluß eine Zeit wie die andere nötig, unvermeidlich ist, daß das gleiche, ungestört fortschreitende Gefühl der Gesundheit und Kraft nicht möglich ist? Deshalb die Menschen und Zeiten von früher hoch und die von jetzt niedrig stellen, wäre unrecht, und ebenso: den Mut in den letzteren sinken zu lassen oder das eigene Vaterland herabzusetzen. Was diese Arbeit am Wagen der Politik betrifft, so sind wir, in welche Zeit uns Gott setzt, immer nur unbedeutende Rädchen, und was wir leisten, ist immer unendlich gering."6 Hinter Savignys Äußerungen steht eine auch von Arnim nicht zu korrigierende konservative Grundüberzeugung, der er vielfältig Ausdruck gegeben hat. Als er die Scherben des Kirchenstaates vor sich sieht, spricht er von dem ,,korrumpierenden Anblick des triumphierenden Unrechts." Der von Napoleon zynisch proklamierten "Solidarität der revolutionären Instinkte" müsse man die Solidarität der konservativen Interessen entgegensetzen, und man dürfe nicht mit verschränkten Armen zusehen, wie der Papst aus Rom und der letzte legitime König von Neapel vertrieben werde. 7 Von dieser Position aus erklärt sich auch, daß Savigny der liberalen Komponente der Neuen Ära mißtrauisch gegenüberstand. Aus Leopold von Gerlachs Denkwürdigkeiten 8 wissen wir, daß er vielen Persönlichkeiten im Umkreis des Fürsten von Hohenzollern- Sigmaringen in kritischer Distanz begegnete. Andererseits tritt er jetzt dem Minister von Beust näher. Hier gibt es manches, was beide verbindet: mit der konservativen Grundhaltung geht einher eine Konzilianz in der Form, eine Diskretion in den Geschäftsbeziehungen, eine Respektierung der beiderseitigen Auffassungen und nicht zuletzt eine Ähnlichkeit des diplomatischen Stils. Sie haben in der Folge mit vielerlei Meinungsverschiedenheiten leben müssen, aber es hat zwischen ihnen nicht nur keine Entzweiung gegeben, sondern beide nahmen auf einer hohen Ebene noch etwas von ihrer Freundschaft mit, als die Ereignisse von 1866/67 sich trennend zwischen sie schoben. An keiner Stelle ihres zuweilen recht lebhaften Gedankenaustausches Arnim-Boitzenburg an Savigny, 1. August 1859 (Nachlaß, S. 742). Schönberg-Mskr. Hier auch der Hinweis auf die ganz andere Betrachtung, wie sie etwa aus Bismarcks Brief vom 4. Mai 1860 an Leopold von Gerlach spricht (Bismarcks Brief in Werke, Bd. 14/I, S. 549). 8 Leopold von Gerlach, Denkwürdigkeiten, 11, S. 698. 6

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werden falsche Emotionen erkennbar. Beust hat die Interessen Sachsens vornehm und beherrscht vertreten und damit bei Savigny ein adäquates Echo gefunden. In einem ausführlichen Schreiben hat Beust damals die Situation im Deutschen Bund analysiert und die Rolle Preußens in ihm kritisch dargelegt, aber er tat es, ohne auch nur im geringsten zu verletzen. "Wir kennen uns seit einer längeren Reihe von Jahren," schreibt er, "und ich hoffe, Sie lassen mir die Gerechtigkeit widerfahren, daß Leidenschaftlichkeit nicht in meinem Charakter liegt! Sollte ich mich aber auch hierin über mich selbst täuschen, so werden Sie mir gewiß so viel Bewußtsein meiner Pflicht zutrauen, um nicht blinde Gefühlsrichtungen in meine amtliche Tätigkeit eingreifen zu lassen. Ich kann in der Tat mit gutem Gewissen den Vorwurf einer preußenfeindlichen Gesinnung zurückweisen, und seien Sie versichert, daß es nicht diese ist, welche die sächsische Regierungspresse inspiriert hat ... "9 Savigny verstand diese Sprache. Mit Menschen wie Beust fühlte er sich in einer Weise verbunden, die jenseits aller diplomatischen Funktionen im allgemeinen menschlichen Bereich auch für ihn verbindlich war. Was oberhalb aller etwa unterschiedlich zu bewertenden politischen Bewegungen allein galt, war die Aufrechterhaltung der überkommenen Ordnung im Wirbel der Zeitströmungen. Als er gegen Ende des Jahres 1859 die thüringischen Höfe bereist, um dort seine Beglaubigungsschreiben zu überreichen, ist er erfreut über die stabilen Verhältnisse im Lande Herzog Bernhards I. von Sachsen- Meiningen, über das kleine Sachsen-Altenburg, in dem der aus dem preußischen Verwaltungsdienst hervorgegangene Karl August Alfred von Larisch als Geheimer Rat und Staatsminister eine Politik des Ausgleichs und des friedlichen Zusammenlebens aller Bevölkerungsschichten betreibt, und schließlich auch in Gera, wo der Fürst Reuß aus der jüngeren Linie ihm auf seinem Schloß Osterstein erklärt, daß in den Bundesangelegenheiten sein Bevollmächtigter in Frankfurt einmal für immer angewiesen sei, mit Preußen zu stimmen. Selbst in dem Lande Ernsts 11. von Sachsen- Coburg und Gotha darf er zufrieden sein. Hier findet er ein blühendes Bauerntum, und wenn auch das Verhältnis des Landesherm zum eingesessenen Adel gestört ist, und wenn vor allem im Coburger Land die demokratische Bewegung nicht ohne Erfolg gearbeitet hat, so verschließt er sich doch nicht der Tatsache, daß der allen liberalen Neuerungen sich öffnende Herzog Ernst eine Politik der engen Anlehnung an Preußen betreibt. "Diese Ansicht eines deutschen Fürsten," so schreibt er in einem Immediatbericht vom 27. Januar 1860, "dessen Liberalismus ebensowenig angezweifelt wird wie sein ritterlicher Sinn, hat gewiß einen um so höheren Wert, als sie das Produkt einer Überzeugung sein dürfte, welche den Standpunkt persönlicher Sympathie und Antipathie überwunden zu haben scheint. Möchte man auch im übrigen Deutschland von gleichen Wünschen beseelt sein, dann wird sich der praktische Weg zu der ersehnten Verständigung schon finden lassen."

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Beust an Savigny, 25. August 1859 (Nachlaß, S. 744 ff.).

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Was insbesondere Sachsen betraf, so wußte auch Savigny, daß zwischen König Johann und dem Prinzregenten mancherlei Meinungsverschiedenheiten - etwa in Fragen des Bundesmilitärs und der Stellung des Bundesfeldherrn - bestanden, indes stimmte er mit Beust überein, diese Gegensätzlichkeit nicht über Gebühr zu betonen. In seinen Bemühungen, die persönlichen Beziehungen zwischen den beiden Fürsten zu pflegen, fand er bei dem sächsischen Herrn ein freundliches Entgegenkommen. Das zeigte sich auch anläßlich des Geburtstages des Prinzregenten. Angesichts der am Dresdener Hof herrschenden Formen und der seit langer Zeit in Altsachsen gegen Preußen herrschenden Stimmung kam es einer demonstrativen Geste gleich, als König Johann sich persönlich zur Gratulationsfeier in der preußischen Gesandtschaft einfand und Beust aus diesem Anlaß im Gewande eines preußischen Johanniters erschien. Als Savigny sich hierfür in einer Privataudienz bedankte, wurde er mit besonderem Wohlwollen empfangen. König Johann bezeugte seine persönliche Wertschätzung für den Prinzregenten, mit dem er in einem Verhältnis konzilianten Vertrauens zu stehen wünsche. Savigny faßt seinen Eindruck von der Audienz mit den Worten zusammen: "Dieser würdige Herr ist bei jeder Aufgabe der Verständigung mit warmem Herzen und vieler Einsicht dabei." Der Tod Friedrich Wilhelms IV. löste auch in Sachsen tiefe Betroffenheit aus. Zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens bekunden dem Gesandten ihre Anteilnahme. Politische Meinungsunterschiede treten jetzt völlig zurück. Als im Juli auf den neuen König in BadenBaden ein Attentat verübt wird, ist man in Dresden entsetzt. Oskar Becker, der Attentäter, Sohn eines in russischen Diensten stehenden Staatsrats, war hier aufgewachsen, hatte dann in Leipzig studiert, und da zudem noch mehrere Verwandte der Zweiten Kammer als Abgeordnete angehören, ist die allgemeine Anteilnahme im Sachsenlande verständlich. 10 Dem Grafen Albert von Flemming, seinem Nachfolger in Karlsruhe, übersendet Savigny zur Weiterleitung an den sich noch in Baden aufhaltenden König den Text eines Gebetes, das auf Anordnung König Johanns in allen Kirchen des Landes verrichtet wird. Die Ereignisse des Jahres 1859, die Suche der Mittelstaaten nach einem Wege aus dem Gewirr der Bundespflichten, der Meinungsstreit um die Ansprüche und Möglichkeiten einer preußischen Politik, all das hatte die Fragwürdigkeit der Strukturen des Deutschen Bundes schonungslos enthüllt und den Ruf nach einer Reform der politischen Daseinsbedingungen laut werden lassen. "Bundesreform" lautete das Richtwort des Tages. Nie war ein größeres Maß an Erwartungen und Befürchtungen mit ihm verbunden. II Im November 1859 hatten die mittelstaatlichen Minister in Würzburg die Möglichkeiten einer deutlicheren Betonung des Einheitsgedankens erörtert. Da ging es um die Vereinheitlichung von Münze, Maß und Gewicht, um eine gemeinsame Zivil- und Strafgesetzgebung, um die Savigny an seine Eltern, 22. Juli 1861 (Nachlaß, S. 786). Vgl. hierzu W. P. Fuchs, Die deutschen Mittelstaaten und die Bundesreform 18531860, passim, Berlin 1934. Ferner H. H. Thumann, Beusts Plan zur Reform des Deutschen Bundes vom 15. Oktober 1861 (Neues Archiv f. sächs. Geschichte, Bd.46, 1925). 10

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Begründung eines schon auf dem Wiener Kongreß angestrebten Bundesgerichts, um die Verbesserung der Bundeskriegsverfassung, der Küstenverteidigung u. a. m. Die Bemühungen blieben ergebnislos - wie auch die Besprechungen vom August des folgenden Jahres, bei denen es sich darum handelte, die preußischen und die österreichischen Streitkräfte dem Bund im Ernstfall zur Verfügung zu stellen, womit sich dann freilich sofort die Frage nach der Ernennung eines gemeinsamen obersten Bundesfeldherm stellte. Auch diese Gespräche verliefen letztlich ergebnislos - ähnlich wie kurz zuvor im Juni 1860 die in BadenBaden geführten Besprechungen anläßlich der Zusammenkunft mit Kaiser Napoleon. Sie hatten mit der Feststellung des Prinzregenten geendet, daß die Zeit weder reif noch geeignet sei für eine Reform. Die Fürsten wurden auf die Zukunft vertröstet. Wieder einmal stand man auf den Trümmern vergeblicher Pläne. Vor dem Hintergrund dieser Bemühungen ist der Versuch des Grafen Beust zu verstehen, der Bundesreform neue Impulse zu geben. Sein Reformplan ist allmählich gewachsen. Sein politischer Gedanke sei es gewesen, berichtet Savigny, eine Formel zu finden, mit der man das Zusammenstehen aller deutschen Staaten dem Ausland gegenüber konstatieren könne; Themen, über die bislang eine Einigung nicht zu erzielen war, sollten vorerst ausgeklammert bleiben. Der Gedanke habe viel Gesundes, kommentierte Savigny; das Auffinden der Formel möge Schwierigkeiten machen, aber das Streben danach verdiene Anerkennung. Savigny ist einer der ersten gewesen, dem Beust sein Konzept erläuterte. Mit dem weimarischen Minister Christian Bernhard von Watzdorf hatte er sich in Leipzig überzeugt, daß eine Initiative der Bundesregierungen um so nötiger sei, als, worauf vor allem Watzdorf hinwies, es sonst dem Nationalverein überlassen bleibe, die Führung in der Diskussion aller Gegenwarts- und Zukunftsfragen zu übernehmen. 12 Was Beust seinem thüringischen Kollegen erläuterte, hatte Savigny schon zuvor von ihm erfahren: er dachte daran, den derzeitigen Bundestag durch Ministerkonferenzen zu ersetzen, die sich regelmäßig oder auch bei besonderen Anlässen mit wichtigen Bundesfragen zu befassen hatten, während einer ständigen Bundesbehörde die Erledigung laufender Angelegenheiten zu überlassen wäre. Der Plan schien Savigny zu überzeugen. Statt der bisherigen Verschleppung sollte mit der Unmittelbarkeit des Gedankenaustausches unter den Ministern die Aktionsfähigkeit des Bundes gestärkt werden. Beust trat mit dem Ersuchen an Savigny heran, dem preußischen Minister vertraulich von der Wiederaufnahme seiner schon früher geäußerten Ideen Kenntnis zu geben. Er verband damit wohl den weiteren Gedanken, den er Savigny zur Beachtung empfahl, daß nämlich durch die Umwandlung der Bundesversammlung in Ministerkonferenzen das bisher ausschließlich von Österreich wahrgenommene Präsidium in ein zwischen Österreich und Preußen alternierendes umgewandelt würde, wobei die Konferenzen abwechselnd im Süden und Norden Deutschlands stattzufinden hätten. 12

Savigny an seine Frau, 20. April 1861 (Familienarehiv).

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Untenn 30. April wurde Savigny angewiesen, Beust wissen zu lassen, daß man einer näheren Fonnulierung seiner Vorstellungen mit Interesse entgegensehe. Beust scheint nur zögernd reagiert zu haben. Einen mündlichen Gedankenaustausch mit Schleinitz hätte er vorgezogen. Indes war man in Berlin nicht geneigt, auf eine solche Besprechung mit Beust einzugehen. Aus einem Privatbrief des Unterstaatssekretärs Gruner an Savigny ist zu entnehmen, daß ein Wechsel im Außenministerium bevorstand, er jedoch nicht allgemein bekannt werden sollte. Gruner schreibt, die Besprechung solle später mit dem Grafen Bernstorff, Schleinitz' Nachfolger, stattfinden. Er plaudert ein Weiteres aus: der König habe die Wahl gehabt, sich entweder für eine "kühne" Politik durch die Berufung Bismarcks zu entschließen, oder für eine solche "mit nahen Zielen", und für diese letztere sei Bernstorff der gegebene Mann. So blieb es vorerst bei dieser hinhaltenden Taktik. Beust unterbreitete seine Vorschläge dem sächsischen Gesamtministerium. Während er die Zustimmung des Königs fand, war die Auffassung seiner Ministerkollegen geteilt. Die einen witterten ein zu weit gehendes Entgegenkommen gegen Preußen, die anderen, wie etwa Freiherr von Friesen, verspürten davon zu wenig. Mit Beusts Zustimmung gelangten sie bald in die Presse. Am 20. Oktober wurden sie auch der Wiener Regierung zugeleitet. Kaum von seiner bis nach England sich ausdehnenden Ferienreise zurückgekehrt, wurde Savigny an das Sterbebett seines Vaters nach Berlin gerufen. 13 In seiner Abwesenheit hatte der Legationssekretär von Gundlach, der Savigny schon wiederholt vertreten hatte, eine Unterredung mit Beust. Hierbei bezeichnete es dieser für Österreich als unannehmbar, von vornherein auf eine Wiedergewinnung der Lombardei zu verzichten; er verteidigte auch die letztlich ergebnislos gebliebenen Würzburger Konferenzen: es sei begreiflich, daß die Mittelstaaten sich militärisch und politisch zu verständigen suchten, stellten sie doch insgesamt eine Bevölkerung von fünfzehn Millionen dar. Beusts Refonnplan stieß in Wien auf wenig Gegenliebe. Rechberg machte erhebliche Bedenken geltend; Österreich knüpfte seine Zustimmung zum Alternat an die Garantie seines außerdeutschen Besitzstandes. Beust hingegen hoffte auf die Zustimmung Preußens und anderer Bundesstaaten, um den Weg zu weiteren Verhandlungen mit Österreich offen zu halten. Am 11. November schickte er seinen Entwurf nach Berlin. Am Tage darauf bat er den sich dort noch aufhaltenden Savigny in einem Privatschreiben, "die Sache dort in die Hand zu nehmen und namentlich dahin zu wirken, daß man nicht doktrinär seine Vorschläge zersetzt, sondern von ihnen Anlaß nimmt, die Frage dort vorwärts zu bringen. Ich habe dieselben so eingerichtet, daß Preußen ein allseitiges Entgegenkommen gezeigt wird, und mich daher von anderen Leuten nicht abhalten lassen, das Alternat keck hinauszugeben." 14 13 Friedrich Karl von Savigny war am 25. Oktober 1861 in Berlin gestorben. Vgl. auch Amim-Boitzenburg an Karl Friedrich von Savigny, 26. Oktober sowie Beust an Savigny, 31. Oktober 1861 (Nachlaß, S. 790 f.). 14 Beust an Savigny, 12. November 1861 (Nachlaß, S. 792). Über Beusts Projekt vgl. H. v. Srbik, Deutsche Einheit, Bd. 3, S. 366 ff.

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Beust hat Savigny über das Schicksal seines Reformplanes ausführlich informiert. 15 Danach fand er in Wien, wie er berichtet, das "allerentschiedenste Eingehen" auf seinen Gedanken der Ministerkonferenzen sowohl bei Rechberg als auch beim Kaiser. Danach habe Rechberg schon als süddeutschen Konferenzort Prag ins Gespräch gebracht, um das deutsche Element in Böhmen zu stärken. Andererseits fordere man dort zugleich die Konstituierung einer Exekutivbehörde als oberster Instanz im Bunde zwischen zwei Tagungsperioden. Diese Behörde sollte als Trägerin der höchsten Gewalt nach dem Prinzip der Trias eingerichtet werden, um ein preußisches Übergewicht auszuschließen. Unter dieser Voraussetzung sei der Kaiser bereit, das Alternat zuzugestehen. In einer späteren schriftlichen Aufforderung an Beust, sein Projekt vorzulegen, soll jedoch auch Rechberg, der zunächst mancherlei Vorbehalte angemeldet hatte, geäußert haben, "Wien werde sich schließlich in alles finden." Dann aber soll sich Ludwig Maximilian von Biegeleben als Referent für die deutschen Angelegenheiten im Wiener Außenministerium, jetzt gerade von einer schweren Krankheit genesen, mit sehr kritischen Bemerkungen zu dem von Beust inzwischen formulierten Reformplan eingeschaltet haben. Inzwischen war auch in Berlin die Entscheidung gefallen. Unerkennbar ist, ob Savigny hierbei mitgewirkt hat. Graf Bernstorff lehnte das Projekt, mit dem Beust nach seinen eigenen Worten ,,keine wirkliche Bundesverfassung, sondern nur Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten habe bieten wollen, um sich über die Förderung der gemeinsamen nationalen Interessen zu verständigen", ab. Im Hintergrund seiner Ablehnung stand vermutlich die Vorstellung vom Bundesstaat im Staatenbund, derzufolge nicht die Kompetenzen des Bundes ausgedehnt, sondern eher reduziert werden sollten, um Raum zu haben für die freie Entscheidung einzelner Staaten, untereinander Vereinbarungen zu treffen oder gemeinsame Einrichtungen zu begründen. Es handelt sich dabei um Vorstellungen, die mit den Zielsetzungen der Erfurter Union mancherlei Ähnlichkeit hatten. Damit war Beusts Plan gescheitert. Bei der Neujahrsaudienz anerkannte der König zwar den freundlichen Ton der preußischen Antwort, gab aber zugleich zu, daß der Zeitpunkt für die Lösung der aufgeworfenen Fragen noch nicht gekommen sei. Aus einem Gespräch mit Beust mußte Savigny entnehmen, daß man auch in Dresden die Episode als abgeschlossen betrachtete. Sie endete gar für Preußen mit einer nicht zu verschweigenden Verstimmung: die in der Note Bernstorffs an Savigny vom 20. Dezember enthaltene Ablehnung des Planes wurde abschriftlich nicht nur dem österreichischen Minister Rechberg mitgeteilt, sondern kam durch Beust auch dem bayerischen Minister Schrenck von Notzing zur Kenntnis, und vermutlich über ihn gelangte sie in die Augsburger Allgemeine 15 Beusts Infonnation und Savignys vertrauliches Schreiben an Bemstorff vom 2. Januar 1862 gehören zu den im Nachlaß nicht wehr vorhandenen Dokumenten, die indes Josepha von Schönberg noch hat benutzen können. Ich folge hier also im wesentlichen dem Schönberg-Mskr.

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Zeitung: die Erregung über die Politik Preußens war allgemein. Die lediglich an die sächsische Regierung gerichtete Mitteilung löste nämlich jene identischen Noten aus, mit denen die Höfe von Wien, München, Stuttgart, Darmstadt und Wiesbaden am 2. Februar 1862 gegen den von Preußen wieder aufgegriffenen Plan eines engeren Bundes in aller Form protestierten, sich die Beibehaltung der einzelstaatlichen Souveränität vorbehielten und ihrerseits die Einberufung von Konferenzen zwecks Errichtung eines Bundesdirektoriums und einer Delegiertenversammlung verlangten. Verstimmt war Preußen vor allem deshalb, weil auch Sachsen sich diesem Schritt anschloß. Möglicherweise hat Beust hierbei aus gebotener Rücksicht auf die Solidarität der Mittelstaaten gehandelt. Indes wiesen die preußisch-sächsischen Beziehungen auch konstruktive Elemente auf. Bald nach dem Abschluß eines den Abbau der Handelsbeschränkungen bezweckenden englisch-französischen Handelsvertrages hatte Napoleon sein Interesse an einem ähnlichen Vertrag mit dem deutschen Zollverein bekundet. Nach langwierigen, wiederholt ins Stocken geratenen Verhandlungen schloß Preußen am 29. März 1862 allein mit Frankreich ab. Savigny hatte schon in seinem Bericht vom 19. Januar dargelegt, wie sehr Sachsen durch die enge Verflechtung seiner wirtschaftlichen Interessen mit dem Zollverein an Preußens Seite stehen mußte. Hier befand es sich deutlich in einem Gegensatz zu Österreich und den süddeutschen Staaten; es trat dem Vertrag mit Frankreich bei, nachdem vor allem die sächsischen Kammern allen Versuchen widerstanden hatten, jenseits aller eigenen wirtschaftlichen Interessen sich auf die antipreußischen Interessen des deutschen Südens festlegen zu lassen. 16 Damit verdichteten sich die preußisch-sächsischen wirtschaftlichen Beziehungen noch mehr. Männer der Politik und der Wirtschaft wie von der Heydt und Delbrück fanden wiederholt den Weg ins Sachsenland, während Österreich in der Rolle des abgewiesenen Zaungastes verblieb. Die Zeit könne nicht ausbleiben, schrieb Savigny damals, "wo Österreich durch die angeblich ... uns gegenüber erlangten Erfolge sich in seinen Ansprüchen auf Hegemonie überstürzen wird. Dann ist der Moment gekommen, wo die Früchte der maßvollen Politik für Preußen zu erwarten sein werden, sowohl in der Konsolidation seines handelspolitischen Übergewichts als auch in der legalen Befestigung derjenigen Machtstellung, welche Preußen vor allen anderen Staaten in Deutschland gebührt." Das allmähliche Abklingen der Neuen Ära hat Savigny mit Genugtuung registriert. Seine Äußerungen zu den Fragen der Politik klingen jetzt zuversichtlicher. Die pessimistischen Anwandlungen treten zurück. Wie zahlreich sind doch die Zeugnisse der Verzagtheit zuletzt gewesen! Noch am 22. August 1859 hatte er geschrieben: " ... Wir geben es zu, daß sich in ganz Deutschland die demokratische Partei organisiert - unter preußischer Fahne. Die Folge wird sein, daß bei den nächsten Wahlen in Preußen unsere eigenen Demokraten die Oberhand 16

Vgl. auch Marie von Savigny an ihren Vater, 14. Juni 1862 (Nachlaß, S. 803).

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behalten ... " 17 Rückschlüsse können wir auch aus einem verloren gegangenen Brief ziehen, den sein Kollege Heinrich Alexander Graf von Redern, damals Gesandter in Brüssel, mit den folgenden Zeilen beantwortet: "Was Sie mir über die Zustände in Deutschland sagen, erfüllt mich mit Schmerz. Gewiß tun Sie das Ihrige dazu, um den Leuten in Berlin die Augen zu öffnen, und hoffentlich bleiben unsere Kollegen in Deutschland nicht hinter Ihnen zurück. Sie können meiner Ansicht nach die Zustände nicht schwarz genug schildern, damit man endlich aus der bestehenden Sorglosigkeit bei uns erwache." 18 Aus den Zeilen, mit denen er dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Manteuffel für die Teilnahme am Tode seines Vaters dankt, sind letztlich auch seine eigenen Maßstäbe ablesbar: "Wir treiben gegenwärtig einer verhängnisvollen Katastrophe entgegen, und es findet sich kein Mann, der Besonnenheit und Kraft genug besäße, um uns durch eine rechtzeitige Umkehr vor den unausbleiblichen Folgen des bisherigen Taumelns am Rande des Abgrundes zu bewahren ..." 19 Allmählich aber sieht er wieder zuversichtlicher in die Zukunft. "Wenn man oben ganz fest bleibt," so schreibt er jetzt dem Grafen Arnim, "so ist die Sache der Ordnung auf gutem Wege. Das ist so ungefähr mein Eindruck. Diesen teilt auch der König von Sachsen und sein Ministerium." Für Graf Arnim freilich waren die Sommermonate 1862 noch Zeiten des Zögerns und der Zurückhaltung. Was hatte es schon zu bedeuten, daß die Berufung Bismarcks wiederholt angedeutet wurde, der König sich dennoch nicht entschied? Als mit der Berufung Bismarcks auch in der Leitung des Ministeriums des Auswärtigen eine Änderung eintrat, bahnte sich auch für Savigny eine neue Verwendung an. Er wurde schon bald mit Brüssel in Verbindung gebracht. Manches deutet daraufhin, daß König Wilhelm hier selbst den Ausschlag gegeben hat. Nicht Prinz Reuß, der gern dorthin gegangen wäre, sondern Savigny ward dazu ausersehen. Am 9. Dezember ernannt, folgte Anfang 1863 die Rangerhöhung zum Wirklichen Geheimen Rat. Die Übersiedlung in die belgische Hauptstadt ließ noch etwas auf sich warten, bis Otto Karl Josias Graf zu Rantzau, bis dahin Wirklicher Geheimer Rat in der politischen Abteilung des Außenministeriums, als sein Nachfolger in Dresden eintraf. 20 Wir dürfen annehmen, daß Savigny lieber noch in Dresden geblieben wäre. Gerade nach dem Tode seines Vaters wäre ihm sehr erwünscht gewesen, in der Nähe der Mutter zu verweilen. Er war zudem eher geneigt, mehr mit Fragen der Bundespolitik und der innerdeutschen 17 Savigny an Graf Amim, 22. August 1859 (Nachlaß, S. 743). Vgl. auch die Briefe an die Eltern vom 14. Januar und 3. April 1860 im Familienarchiv. 18 Redern an Savigny, 23. November 1860 (Nachlaß, S. 769). 19 Savigny an Manteuffel, 24. Februar 1862 (Nachlaß, S. 796). Vgl. auch Manteuffel, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 367. 20 Vgl. hierzu Bismarck an Reuß, 18. November 1862 und an Bernstorff, 12. Dezember 1862 (Werke, 14/11, S. 627 und 632). Bismarck an Savigny, 12. Dezember und Savigny an Bismarck, 19. Dezember 1862 (Nachlaß, S. 806 f.) In finanzieller Beziehung war mit der Versetzung nach Briissel für ihn insofern eine Verbesserung verknüpft, als seine Bezüge hier immerhin 13 000 rtl. betrugen.

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Beziehungen befaßt zu sein, als sich den Dingen der auswärtigen Politik in einem Lande widmen zu müssen, das im Grunde doch nur auf der Schattenseite des internationalen Geschehens lag. Aber dem Gesetz des Dienstes gehorchend, blieb ihm keine Wahl. Hier ist der Ort, sich auch seiner privaten Lebensgestaltung zuzuwenden. Savigny ist sich immer bewußt geblieben, in festen Traditions- und Wertvorstellungen aufgewachsen zu sein. Im Elternhaus hatte er beizeiten gelernt, die Hand am Pulsschlag der Zeit zu halten - nicht um an den Oberflächlichkeiten des Marktes teilzuhaben, sondern um die bestimmenden Züge im Antlitz der Zeit zu erkennen. Lebenskultur oberhalb aller alltäglichen Dienstobliegenheiten mochte er nicht entbehren. Mit seiner Gemahlin völlig übereinstimmend, war für ihn der engste Kreis der Familie stets ein Bezirk der Fürsorge und der Abschirmung. Hier werden die Feste im Kreislauf des Jahres gefeiert, die Geburtstage der Kinder, die Erinnerungen an weit zurückliegende Erlebnisse. Hier werden die Eltern herbeigesehnt, Ratschläge erbeten und Empfehlungen ausgetauscht, in einem vielgliedrigen Briefwechsel die persönlichen Verbindungen verfestigt. 21 Von hier aus wird die Anteilnahme an den oft nachdenklich stimmenden Geschehnissen am Rande seines dienstlichen Arbeitsfeldes bekundet, am Tode Friedrich Wilhelms IV. und Leopold von Gerlachs, seines Generaladjutanten, der, dem Leichenbegängnis seines Herrn stundenlang entblößten Hauptes folgend, sich eine Kopfrose zuzog, der er am 10. Januar 1861 selbst erlag, schließlich auch am Tode der geliebten Großherzogin Stephanie von Baden, der Adoptivtochter Napoleons I. Nicht weniger bekümmert ihn das Attentat Oskar Beckers auf seinen König vom 14. Juli 1861 in Baden-Baden - alles Ereignisse, um die sich in seinem Heim tagelang die Gespräche ranken. Und sonst? " ... leben wir still und sehen beinahe niemand," schreibt er bald nach des Vaters Tod, "wir haben aber auch kein Bedürfnis danach, da wir in unserem Herzen noch immer mit dem beschäftigt sind, was sich in letzter Zeit so Schmerzliches und Verhängnisvolles in unserem Familienkreis zugetragen hat." Nur die engsten Freunde und die ältesten Weggenossen finden Zugang, so die Gräfin Montalembert, die Wiepersdorfer Verwandten, der alte Peucker, die beiden Langenns. Was die dienstliche Stellung an Verpflichtungen auferlegt, wird gewissenhaft, wenn auch ohne übertriebenen Aufwand erfüllt. Zuweilen unternehmen sie kürzere Reisen und Ausflüge in die nähere Umgebung. Als Bildungsfahrten könnte man sie bezeichnen, denn sie unterlassen nicht, zu besichtigen, was kulturhistorisch von Belang ist. Mit Siegmund von Arnim besuchen sie Halberstadt: sie sind enttäuscht von dem Zustand des Domes, dessen Restauration sie für mißglückt halten; Reliquien, Evangelienbücher, Meßgewänder, in einem kleinen Raum zusammengetragen, scheinen ihnen dem Verfall preisgegeben; sie lenken ihre Schritte zu dem Gleim21 Vgl. hierzu die Briefe an die Eltern vom 14., 15., 17. und 18. Januar 1861 im Familienarchiv. Über Savignys Verhältnis zu seiner Mutter vgl. seine Briefe vom 27. Dezember 1860, 2. Januar, 5. April 1862 sowie den Weihnachtsbriefvon 1862 (Nachlaß, S. 773, 795, 800, 807).

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schen Freundschaftstempel, einer Bildersammlung aller berühmten Freunde des Dichters, die Gleim selbst noch angelegt und dann dem Halberstädter Gymnasium vermacht hatte; hier finden sie Ramler, Bürger, Frau von Laroche, die Karschin und viele andere. Dann geht es weiter nach Ballenstedt, wo sie von der Herzogin zur Tafel gebeten werden, nach Gernrode, zur Roßtrappe und zum Hexentanzplatz, nach Quedlinburg, wo sie die Kirche Heinrichs I. besuchen, nach Harzburg und Goslar, wo sie sich von den Zeugnissen alter Kaiserherrlichkeit beeindrucken lassen. In Braunschweig besuchen sie den Dom, die Gräber der Herzöge, das Denkmal Heinrichs des Löwen. 22 Ein andermal geht es in die sächsische Schweiz bis hinauf zum Königstein, dann wieder in die thüringischen Lande, nach Eisenach und Meiningen, Weimar und Rudolstadt und schließlich nach Jena. Im Sommer 1861 erleben sie das herrliche Bamberg im Festschmuck eines Prozessionstages, die Jubiäumsfeiern im Dom zu Speyer, in Mannheim besuchen sie den Hofmarschall der inzwischen verstorbenen Großherzogin Stephanie. In Trages kehren sie kurz ein, und dann geht es über Frankfurt und Mainz den Rhein abwärts bis Köln und von dort über Lüttich nach Paris. Wieder besuchen sie die Stätten von einst, die Kirchen und Museen, die Conciergerie; sie fragen nach alten Freunden und müssen erfahren, daß so mancher von ihnen nicht mehr unter den Lebenden weilt. Aber sie treffen Thiers und Circourt, die auch bei den Eltern in Berlin zu Gast waren. Charles-Josephe-Barthelemy Giraud,der Professor des römischen Rechts, führt sie zu einer Vielzahl historischer Denkmäler, und dann geht die Reise weiter über Dieppe nach London. Merkwürdig: dieser Teil der Reise findet in den Briefen kaum ein Echo. Nur allgemein heißt es, dort herrschten furchtbare Kontraste zwischen Arm und Reich, der Verkehr sei unvergleichlich, die Überfahrt über den Kanal beschwerlich ... sie sind glücklich, nach mehreren Wochen wieder in Dresden zu sein. Die mitgeteilten Einzelheiten dürften die Atmosphäre im Hause Savignys hinreichend kennzeichnen. Vielleicht sollte nicht vergessen werden, daß auch die in Not Geratenen nie vergebens um ihre lindernde Hilfe gebeten haben. Im Familienarchiv gibt es eine Vielzahl von Zeugnissen, die ihre sozialkaritative Tätigkeit belegen. Als im Sommer 1851 eine riesige Überschwemmung BadenBaden und das gesamte Oostal heimsuchte, die Getreideernte vernichtete, als Bauern und Viehbestände nur unter Mühen gerettet werden konnten, war es für Savigny selbstverständlich, sich mit einem größern Spendenbetrag wie die meisten seiner Kollegen an einer Hilfsaktion zu beteiligen. Als er sich anschickte, Dresden zu verlassen, stellte er dem Oberbürgermeister einen Betrag von 200 Talern zur Verfügung, die je zur Hälfte katholischen und evangelischen Hilfsbedürftigen zugute kommen sollten. 23 Die Reihe ließe sich beliebig ergänzen. 22 Von dieser Reise gibt es zwei interessante Berichte: Savignys Brief an die Eltern vom 8. Juni und einen ausführlichen Brief Maries an ihre Schwiegereltern vom 14. Juni 1860 (Familienarchiv). Für die Reise nach Thüringen vgl. Savignys Brief an die Eltern vom 5. August 1861; ergänzend seine Briefe vom 20., 28., 29. August sowie vom 10. September 1861 (Familienarchiv).

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Brüssel war damals kein Ort, in dem politische Entscheidungen herameiften. Es gehörte nicht zum Konzert der Großmächte, aber es bot die Möglichkeit, die politische Gesamtlage des Kontinents zu beobachten. Wie aufmerksam das hier geschah, konnte Savigny schon bei seiner Antrittsaudienz bei König Leopold feststellen. In dem sich anschließenden Gespräch zeigte sich der Monarch über alle Fragen der europäischen Politik erstaunlich gut informiert. Zwei Dinge seien es, so entwickelte er dem Gesandten, vor denen der gemeinsame westliche Nachbar (Frankreich) stets zurückschrecken werde: vor einer österreichischpreußischen Allianz und dem Widerstand der deutschen Nationalbewegung. Solange diese gegeben seien, werde Napoleon innerhalb seiner Grenzen Ruhe bewahren ... 24 Das war der Auftakt. Es empfiehlt sich, an dieser Stelle eines Ereignisses zu gedenken, das fortan für die Familie Savignys von der größten Bedeutung gewesen ist. Konfessionell unterschiedlich erzogen, hat diese Tatsache zwar nie das Miteinander und Füreinander des Ehepaares auch nur einen Augenblick belastet. Zwischen beiden Partnern galt ein reiches Maß an Vertrauen, Toleranz und allgemeiner Menschlichkeit. Weder seine noch ihre Eltern haben auf die Verschiedenheit der Konfession jemals einen Einfluß im Sinne der Überwindung dieser Verschiedenheit ausgeübt. Die Vorbehalte, die anfänglich von einzelnen Mitgliedern der Familie Arnim-Boitzenburg erkennbar wahrgenommen wurden, waren längst vergessen. Die Teilnahme des einen am religiösen Leben und Erleben des anderen war nicht zum wenigsten eine Quelle des Glückes für die ganze Familie. Im Rückblick darf die Vermutung geäußert werden, daß die völlige Harmonisierung der Konfession früher oder später zu erwarten war. Die letzte Dresdener Zeit hat diese Entwicklung reifen lassen. Nach fast zehnjähriger Ehe entschloß sich Marie zur Konversion. Sie wurde darauf vorbereitet durch den damaligen Hofprediger und späteren Apostolischen Vikar im Königreich Sachsen, Titularbischof Ludwig Wahl. Im Frühjahr 1863, also kurz bevor sie mit ihren Kindern dem Gatten nach Brüssel folgte, wurde sie formell in die katholische Kirche aufgenommen. 25 23 Über die Hilfeleistung bei der Überschwemmung vgl. Nachlaß, S. 578. Zu Dresden: Savigny an den Oberbürgermeister Friedrich Wilhelm Pfotenhauer, 21. Januar 1863 (Nachlaß, S. 809). 24 Über die Aufnahme, die Savignys Bericht in Berlin fand, vgl. Thile an Savigny, 2. April 1863 (Nachlaß, S. 815). 25 Ludwig Wahl (1831-1905), 1859 Hofkaplan in Dresden, bald darauf Hofprediger, in den Einigungskriegen sächsischer Feldgeistlicher, 1890 apostolischer Vikar in Bautzen und Titularbischof von Cucusus, 1891 Dekan des Bautzener Kapitels und Apostolischer Administrator der Lausitz. - Marie von Savignys Mutter, Gräfin Anna-Karoline von Amim-Boitzenburg, hat sich nicht gegen die Verehelichung mit dem Katholiken Karl Friedrich von Savigny gesträubt, aber wegen der Konversion wäre es fast zum Bruch gekommen. Marie'sjüngerer Bruder Georg Wemer von Amim (1845 -1881) warverheiratet mit Gräfin Karoline von Bismarck- Bohlen (1851-1912). Diese Karoline hat mit großem persönlichen Einsatz die Versöhnung ihrer Schwiegermutter Anna-Karoline von Amim-Boitzenburg mit Marie von Savigny betrieben. Karoline geb. von Bismarck-

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Savignys Weggang von Dresden wurde dort allgemein bedauert. Rudolf von Langenn, der Freund aus den ersten Tagen seiner beruflichen Laufbahn, schrieb ihm: " ... Gäbe es nur einen besonders bezeichnenden Ausdruck für die Bitte, sich dem ferneren freundschaftlichen Wohlwollen teurer Menschen zu empfehlen, ich würde mich dessen bedienen, doch ich weiß es ja, daß Sie, die Frau Gemahlin und die lieben Kinder meiner in Gutem gedenken und daß die Entfernung mir in dieser Beziehung nichts genommen hat ... Gerade mir, der wie ich zu Haus war bei Ihnen, scheint das Haus verödet und nur belebt durch Erinnerungen, die ... eben in ihrer Eigenschaft als Erinnerungen neben dem Freudigsten doch auch Trübes haben. Sie empfangen mich mit der treuen Freundschaft nicht mehr, die edle Frau Gemahlin reicht mir nicht mehr die Hand, die lieben, frohen Kinder durchlaufen nicht mehr die Räume."26 Savigny hatte die Brüsseler Gesandtschaft noch nicht lange übernommen, da wurde er an das Krankenbett seiner Mutter nach Berlin gerufen. Er hat die Einundachtzigjährige nicht mehr lebend angetroffen. 27 Am 17. Mai war sie gestorben. Während dieses Aufenthalts traf Savigny auch mit August Reichensperger zusammen, der als Kunstfreund seinem Hause schon lange verbunden war. In der preußischen Abgeordnetenkammer hatte er vor Jahren die katholische Fraktion gegründet; an der Seite seines Bruders stand er seitdem in heftiger Auseinandersetzung mit der Fortschrittspartei. Jetzt sollte sich ihre Unterhaltung bis in die Morgenstunden ausdehnen. Sie stimmten überein in der Beurteilung der inneren Lage Preußens und der Stellung der Katholiken. Savigny verschwieg seinem Gesprächspartner dabei nicht die Vorurteile, mit denen er - der Katholik - als Diplomat gelegentlich zu kämpfen gehabt habe. Die der Unterhaltung über politische Fragen dienende Zusammenkunft sollte noch für die spätere politische Arbeit der beiden von besonderer Bedeutung werden. 28 Eigene diplomatische Aktivitäten zu entwickeln, bot Brüssel kaum Gelegenheit. Aber er konnte seine Regierung über manches informieren, was für diese von Interesse war. So erfuhr man hier von dem Wandel der Dinge, den die Wahlniederlage des liberalen Ministerpräsidenten Charles Rogier anbahnte, vom Aufblühen des Landes dank der Neutralitätsgarantie, der Besonnenheit seiner Bohlen heiratete nach dem Tod ihres Mannes dessen Bruder Traugott Hermann Graf von Arnim-Boitzenburg (1839-1919). 26 Langenn an Savigny, 30. April 1863 (Nachlaß, S. 817). Vgl. auch Regierung von Sachsen-Altenburg an Savigny, 30. Januar 1863 (Familienarchiv). 27 Georg zu Croy-Dülmen, Savignys Stellvertreter in BTÜssel, an Savigny, 18. Mai 1863 (Familienarchiv). In diesem Brief heißt es, ihr Leben sei schon seit geraumer Zeit eine lange Vorbereitung auf den Tod gewesen (Marie von Savigny an Croy-Dülmen). Savignys vermutlich letzter Brief an seine Mutter (17. April 1863) im Nachlaß, S. 816. 28 Savigny erzählte dabei seinem Gesprächspartner, daß man ihm einmal Andeutungen über ein eventuelles Ministeramt gemacht habe. Er habe erwidert, er würde ein solches Amt nur annehmen, wenn man es ihm "parceque", nicht "quoique" catholique geben wolle und man ihm gestatte, sich tatsächlich auch offen als Katholik zu gerieren und auch anderwärts die Parität faktisch anerkenne. Nähere Einzelheiten dazu fehlen (Schönberg-Mskr.).

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Bevölkerung, der Tradition seiner Munizipalgeschichte, der Ausgewogenheit seiner Wahlgesetze, der Umsicht seines Monarchen. Aufmerksam vernahm man in Berlin, welches Echo die Vorgänge in Polen dort fanden. Danach schien König Leopold das größere Verdienst um die Erhaltung des Friedens der Politik Österreichs zuzuschreiben. Er sah einstweilen noch nicht die Gefahr einer russischfranzösischen Verständigung und maß den Bemühungen Gortschakoffs keine ernstere Bedeutung zu. Die von Österreich betriebene Berufung des Frankfurter Fürstentages im August 1863 hat offenbar auch in Brüssel Aufsehen erregt. Aber schon nach Savignys Bericht vom 5. Oktober verfolgte man hier kaum noch die geschäftlich-sachliche Behandlung des österreichischen Reformprojekts, nachdem der König von Preußen seine Teilnahme abgelehnt hatte und damit ein Scheitern der Fürstenzusammenkunft unvermeidlich geworden war. Was die deutsche Öffentlichkeit hier in Atem hielt, war für Belgien unerheblich. Da stieß das sich abzeichnende tragische Abenteuer Maximilians von Habsburg und seiner belgisehen Gemahlin schon auf eine größere Resonanz. Noch verlebte das erzherzogliche Paar die goldenen Tage von Miramar, und niemand ahnte, daß Maximilians Weg in Queretaro enden und Charlotte von Belgien ihren Gemahl länger als ein halbes Jahrhundert betrauern sollte. Daß die sich erneut stellende schleswig-holsteinische Frage auch in Brüssel mit größter Aufmerksamkeit verfolgt wurde, konnte nicht verwundern. Hier sah sich auch Belgien gefährdet. Seine Neutralität schien bedroht, sobald der Konflikt um die Elbherzogtümer nicht lokalisiert werden konnte. 29 Noch hoffte man in Brüssel, daß der durch die Bundesexekution offen ausgebrochene Konflikt auf der Basis des von Preußen und Österreich gemeinsam eingenommenen Standpunktes (Festhalten am Londoner Protokoll von 1852) beendigt werden konnte. Man versprach sich auch von der in Paris zusammentretenden Ministerkonferenz eine Entschärfung, aber man verhehlte sich nicht, daß der Friede auf dem Kontinent gefährdet war und die innerdeutsche Agitation für den Augustenburger zu einer weiteren Zuspitzung führen konnte. Was Savigny damals bedrückte, hat seinen Niederschlag in zahlreichen Briefen gefunden. So schreibt er am 2. November seinem Schwiegervater: " ... Unsere vaterländischen Zustände sind leider wohl dazu angetan, Sorgen zu bereiten ... In Deutschland sind die Dinge recht verfahren. Das friedliche Vorgehen ist ebenso unklug wie schädlich für alle Teile. Jetzt wäre es doch wahrlich an der Zeit, sich zwischen Berlin und Wien gründlich zu verständigen ...." Und am 28. Januar 1864 heißt es: " ... Deutschland bietet im ganzen ein Bild äußerster Konfusion dar, so daß ein klarer, entscheidender und energischer Wille ... viel Chancen hat, durchzusetzen, was man früher für unmöglich hielt." 30 29 Am I. Oktober 1863 wurde die Bundesexekution beschlossen. Am 13. November wurde durch den Erlaß einer dänischen Gesamtstaatsverfassung Schleswig von Holstein getrennt und Dänemark eingegliedert. Als zwei Tage darauf Friedrich VII. starb, stellte sich die Thronfolgefrage. Herzog Friedrich von Schleswig- Hoistein-Sonderburg-Augustenburg meldete seine Ansprüche in beiden Herzogtümern an. Am 23. Dezember 1863 begann die Bundesexekution.

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Etwas auch den Gesandten Enttäuschendes kam hinzu. Bald nach der Berufung Bismarcks zeichnete sich ab, daß dieser vom allmählich sich verstärkenden Vertrauen des Königs getragen, nicht bereit war, seine Kompetenzen von irgendeiner Seite beeinträchtigen zu lassen. Er war ein unbequemer Vorgesetzter. Die obersten Ministerialbeamten bekamen es bald zu spüren: Hermann von Thile, im Dezember 1862 als Nachfolger des Unterstaatssekretärs Gruner ins Außenministerium berufen, hat in seinen Briefen an Savigny oft zu erkennen gegeben, wie schwierig der Dienst geworden war und wie häufig sich unterschiedliche Beurteilungen diplomatischer Aktivitäten einstellten. Mehr als in der Sache waren sie in der menschlichen Begegnung mit dem neuen Chef des Amtes begründet. In einem Brief an Savigny vom November 1863 heißt es: "Ihre Anschauung der schleswig-holsteinischen Frage ... ist ganz die meine, aber noch nicht die B. 's. Die Erregung und das Drängen zu energischen Schritten in dieser Sache wird hier wie in ganz Deutschland täglich größer, und zwar ganz besonders unter den Konservativen ... Noch muß ich auf einen Passus Ihres älteren Briefes zurückkommen in betreff unserer Stellung zu Österreich. Auch da haben Sie mir aus der Seele gesprochen, aber was würde B. dazu gesagt haben!!! Du lieber Gott!! Sie haben keine Vorstellung von der Intensität dieser Erbitterung. Solange in Wien und Berlin kein Personenwechsel eintritt, ist für eine Annäherung nicht die leiseste Hoffnung. Ich habe die famosesten Szenen dieserhalb noch in den letzten Tagen gehabt und bin derb, ja grob geworden. Es kann bei Wiederholung solcher Auftritte sehr leicht einmal zwischen ihm und mir zum Bruche kommen, und dann werde ich sehr froh die Boutique verlassen ... Schließlich noch ein Stoßseufzer über die vielen Härten, ja Ungerechtigkeiten, die alle Augenblicke gegen unsere Hauptorgane im Ausland losgelassen werden, weil eben nicht alles nach Wunsch geht. Sie, verehrter Freund, sind bisher der einzige unserer Missionschefs jener Kategorie, der noch nicht gebürstet worden iSt."31 Der Brief ist aufschlußreich für das in Berlin herrschende Arbeitsklima, aufschlußreich aber auch für Savigny selbst. Er genoß offenbar wie eh und je das Vertrauen des Freundes, und wenn jetzt in Berlin Überlegungen angestellt wurden, einem anderen Diplomaten die Vertretung Preußens beim Bund anzuvertrauen, so ergab sich fast von selbst, daß die Wahl auf Savigny fiel. Am 13. Februar 30 Savigny an Amim-Boitzenburg, 2. November 1863 und 28. Januar 1864 (Nachlaß, S. 820 und 823). 31 Thile an Savigny, 21. November 1863 (Nachlaß, S. 821). Hier liegt offenbar auch eine Anspielung auf die Meinungsverschiedenheiten Bismarcks mit von der Goltz in Paris vor, die etwas später in dem denkwürdigen "Weihnachtsbrief' ihren Ausdruck fanden (Werke, 14/ II, S. 658). Nicht unerwähnt bleiben dürfen auch die Reibungen mit dem Bundestagsgesandten Rudolfvon Sydow, die sich aus den schwierigen Verhandlungen über die Elbherzogtümer ergaben. Anfang Februar ging es vor allem darum, den Konflikt mit den Exekutionstruppen in Holstein unter dem sächsischen General von Hake in der Bundesversammlung auszutragen. Über Bismarck, der sich nicht als konstitu~ tioneller Minister, sondern ausschließlich als Diener seines Herrn verstand, vgl. seinen Brief vom 1. Dezember 1863 an den König (Werke, 14/II, S. 658).

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kündigte ihm ein Telegramm Bismarcks an, daß ihm eine andere Bestimmung zugedacht sei und er alsbald in Berlin erwartet werde. 32 Alles weitere verlief planmäßig. Nach einer Phase des Übergangs, in der Prinz Georg zu Croy-Dülmen ihn in Brüssel vertrat, bevor Herman Ludwig von Balan als sein Nachfolger dort die Geschäfte übernahm, sehen wir Savigny in Frankfurt wieder. Die Szenerie des Deutschen Bundes war außer Bismarck kaum einem zweiten preußischen Diplomaten so vertraut wie Savigny, was freilich nicht ausschloß, daß die Handhabung der vieldeutigen Bestimmungen des Bundesrechts er zunächst noch an Ort und Stelle hat erfahren müssen. Für Bismarck kam es dabei weniger darauf an, einen überlegenen Kenner dieses Bundesrechts in Frankfurt zu wissen als einen verständnisvollen Diplomaten, der ohne Umstände bereit war, seine Weisungen entschlossen auszuführen. Die Entscheidungen fielen ausschließlich in Berlin; Frankfurt war nur der Schauplatz, wo ihre Auswirkungen erkennbar wurden. Vielleicht hat auch das Vertrauen des Monarchen die Wahl mitbestimmt. 33 Jedenfalls verzeichnet Thile mit Genugtuung, daß nach Savignys ersten Berichten die "Bedenklichkeiten, mit denen mein verehrter Freund an seinem neuen Beruf hing, alsbald geschwunden und der Nimbus, der sich um das Palais in der Eschenheimer Gasse gelagert hatte, vor dem klaren Blick eines klugen, loyalen Mannes zerstoben" sei. 34 Tatsächlich war Savignys erstes Auftreten in Frankfurt recht verheißungsvoll. Am 14. April feierlich eingeführt, stand er mit Aloys von Kübeck, dem österreichischen Präsidialgesandten, schnell auf gutem Fuß. Er konnte nicht wissen, daß dieser schon bald unerträglich schroff über ihn urteilte. 3s Beide gaben sich den Anschein, untereinander sich allenthalben leicht zu verständigen, wirkte doch die Haltung der übrigen Staaten hinsichtlich der Elbherzogtümer noch lange nach. Als es sich darum handelte, zu der bevorstehenden Konferenz über ihre 32 Bismarck an Savigny, 13. Februar 1864 und dessen Antwort vom 14. im Nachlaß, S. 826; vgl. auch S. 827; die Versetzung nach Frankfurt, S. 828 und 832 ff. Vgl. auch Savigny an Sydow, 3. März 1864 (Nachlaß, S. 830). 33 Vgl. August Reichensperger an Marie von Savigny: " ... So oft von da ab ein Anlaß sich ergab, trat seine entschieden kirchliche Gesinnung hervor. Als Bismarck ihm mitteilte, er habe ihn zum Bundestagsgesandten ausersehen, bemerkte Ihr Herr Gemahl, wie ich aus seinem Munde weiß, demselben, er, Bismarck, möge bedenken, daß er glaubenstreuer Katholik sei und vorkommendenfalls dies auch betätigen werde. Die Erwiderung Bismarcks ging, meiner Erinnerung nach, dahin, das tue nichts: es sei gut, daß sich zeige, wie er auch entschiedene Katholiken zu Vertrauensposten berufe ..." (Brief vom 12. März 1891 im Familienarchiv). Vgl. auch die ungedruckte Bemerkung von Savignys Sohn Adolph: "Die preußische Regierung sah es sogar gern, daß mein Vater als Katholik hervortrat, weil ihr daran lag, auch hierin den Österreichem das Gleichgewicht zu halten und die Sympathien der Katholiken in Deutschland zu gewinnen." (Schönberg-Mskr.). 34 Thile an Savigny, 1. Mai 1864 (Schönberg-Mskr.). 35 Kübecks Urteil über Savigny: "Stockpreuße und Bismarckianer durch und durch, persönlich empfindlich und doch dabei gleichgültig und schwerfallig, wenig Geschäftsmann und den Bundesangelegenheiten noch sehr fremd, ein weitschweifiger und in gemessenen Formen sich bewegender Mann." (H. v. Srbik, Deutsche Einheit, III, S. 75 f.).

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Zukunft einen Vertreter des Bundes in der Person des Grafen Beust zu benennen, stimmte er mit Kübeck leicht überein; die meisten Bevollmächtigten folgten bald, von dem bayerischen Vertreter Ludwig von der Pfordten abgesehen, der den Auftrag am liebsten selbst übernommen hätte. Im Grunde waren Savigny für eigene Initiativen freilich enge Grenzen gesetzt. Soweit es Preußen betraf, lagen alle Entscheidungen bei Bismarck. Die schwierige Materie der Bundespolitik verlangte ein Höchstmaß behutsam verfolgter Geradlinigkeit und konnte darum letztlich nur von einer Stelle aus gesteuert werden. Savigny hat diese Situation respektiert. Er bewegt sich ganz in der ihm vorgeschriebenen Bahn. ~as er erklärt, geschieht in Bismarcks Auftrag; welche Stellung er bezieht, richtet sich nach seinen Weisungen. Sein Einvernehmen mit Kübeck, insbesondere solange es Bismarck gelang, Österreich im Kielwasser der preußischen Politik zu halten, ist freundschaftlich und frei von Verstimmungen. Mit Beust, der auf dem Wege nach London die Reise in Frankfurt unterbricht, tauscht er unbefangen seine Gedanken aus. Wo sich Meinungsverschiedenheiten abzeichnen (Beust sieht sich in erster Linie als Vertreter des Deutschen Bundes, d. h. als Vertreter der den Augustenburger unterstützenden Mittel- und Kleinstaaten) werden sie in konzilianter Weise und ohne Härte erörtert. 36 Als Beust auf eine schleunige Klärung der Erbfolgefrage in den Herzogtümern drängt, weiß er sich mit Kübeck darin einig, in Frankfurt darüber nicht zu verhandeln, solange der Deutsche Bund an der Londoner Konferenz beteiligt ist. Die ihm zugehende Abschrift eines Erlasses an die beiden preußischen Konferenzteilnehmer Bernstorff und Balan bestätigen seine Auffassung, unter Hinweis auf die Konferenz die Bundesversammlung nicht mit der Erbfolgefrage zu behelligen. Auch für ihn gilt am Ende der Plan, die Herzogtümer dem preußischen Herrschaftsgebiet anzuschließen und weder den Augustenburger noch einen anderen Prätendenten zu begünstigen. 37 Hatte er sich zu entscheiden, so zog er den Vertreter Österreichs an seine Seite, ohne dabei Beust brüskieren zu wollen. In all diesen Fragen, etwa was die Maßnahmen nach Ablauf des Waffenstillstandes oder die Einsetzung einer gemeinsamen Verwaltung der Herzogtümer, schließlich auch die Behandlung der Ansprüche des Augustenburgers oder des Großherzogs von Oldenburg betrifft, verteidigt er gewissenhaft die Bismarck'schen Intentionen. Je mehr sich andererseits Beust in London oder während seines Pariser Aufenthalts in der Pfingstpause der Konferenz oder auch nach Abschluß der Londoner Tage als Verfechter der deutschen Nationalbestrebungen darstellt, um so deutlicher trennt sich auch Savigny von ihm. Als von der sächsischen Regierung von Österreich und Preußen Aufklärung darüber verlangt wird, ob unter den Rechten, die der König von Dänemark abgetreten habe, nur die Ansprüche, die er erhebe, zu verstehen seien, stieß dieses Ansinnen, einer Weisung Bismarcks gemäß, bei ihm auf eisige 36

Vgl. hierzu die beiden Briefe Savignys an Bismarck vom 24. April 1864 (Nachlaß

S. 834 ff.).

37 Vgl. hierzu die beiden Memoirenwerke von Beust (I, S. 351) und Ernst H. von Sachsen-Coburg und Gotha (III, S. 446 f.).

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Ablehnung. Die harte Reaktion hatte Erfolg. Sachsen verzichtete vorerst auf seine Einbringung. Beust gegenüber hat er nie einen Zweifel darüber aufkommen lassen, daß die Herzogtümer früher oder später Preußen zufallen müßten. 38 Wir brauchen die weiteren Vorgänge bei der Auseinandersetzung mit Dänemark nicht im einzelnen zu verfolgen. Den in Wien mit dem dänischen Minister Quaade Ende Juli 1864 ausgehandelten Präliminarien folgte am 30. Oktober der endgültige Friede. Dänemark verzichtete auf alle Rechte in Schleswig, Holstein und Lauenburg, trat sie insgesamt an Österreich und Preußen ab und verpflichtete sich im vorhinein, alle Verfügungen anzuerkennen, welche die beiden deutschen Führungsrnächte treffen sollten. Damit war aber nur der eine, vielleicht der geringere Teil des Konflikts gelöst. Es erhob sich die Frage, was mit dem gemeinsamen Besitz geschehen sollte und welche Rolle hierbei der Deutsche Bund zu spielen hatte, war es doch nicht zuletzt in seinem Namen zur Bundesexekution gekommen. Die Auseinandersetzungen gehen also auch in Franfurt weiter und verdichten sich zunächst zu dem Problem der Regelung der Besatzungsverhältnisse. Spätestens mit der Ratifizierung des Vertrages, am 14. November 1864, war die Bundesexekution beendet. Sollten etwa auch jetzt noch Bundestruppen dort verbleiben? Während Bismarck erklärte, mit Bundestruppen habe man nichts zu tun; man müsse ihre Zurücknahme von ihren jeweiligen Regierungen Dresden und Hannover - verlangen, war Österreich bereit, sie in den Herzogtümern zu dulden. Beust lehnte - im Gegensatz zu Hannover - die Zurückziehung der sächsischen Truppen mit dem Hinweis ab, daß die Verfügung über Holstein und Lauenburg dem Bund zustehe. Savigny wurde angewiesen anzudeuten, daß Preußen sich gegebenenfalls selber helfen würde, und in einer vertraulichen Nachschrift ließ Bismarck die Entschlossenheit erkennen, falls die Forderungen nicht fristgerecht erfüllt würden, die Exekutionstruppen und Zivilkommissare gewaltsam aus den Herzogtümern zu vertreiben. Bismarcks Haltung war eindeutig: die Exekution war abgeschlossen; ein hierauf sich beziehender Bundesbeschluß konnte nicht als letzter Akt dieser Exekution angesehen werden, sondern 38 Beust, a. a. 0., I, S. 351. Ergänzend dieses: als es sich darum handelte, den Nachwuchsdiplomaten von Jasmund, damals zweiter Sekretär bei der preußischen Bundestagsgesandtschaft, als Hilfskraft probeweise ins Außenministerium zu ziehen und Savigny von Thile um eine gutachtliche Auskunft gebeten wurde, schrieb dieser an den inzwischen mit der Vertretung Thiles beauftragten Vortragenden Rat von Keudell (Jasmund galt als Freund des Hauses Augustenburg!): " ... Seine politischen Sympathien, das sieht er selbst wohl ein, dürfen in dem Geschäft zum Ausdruck nicht gelangen. Von Tendenzpolitik ist bei mir überhaupt nicht die Rede, sondern von Gehorsam gegen die Befehle des Königs, welche mir sein Minister transmittiert. Dies habe ich als ersten und einzigen Leitfaden auch meinen Untergebenen vorgezeichnet, und dafür einzustehen, ist meine Pflicht. Auch Herr von Jasmund wird in solchem Fahrwasser in seinem Urteil fest werden und dem Staate dann recht nützliche Dienste leisten können." Trotz seiner Sympathie für den Augustenburger hat sich Savigny für Jasmund eingesetzt: er wurde sein Erster Legationssekretär und damit Nachfolger Otto von Wentzels, der den Posten des Ministerresidenten bei der Stadt Frankfurt übernahm (Thile an Savigny, 28. Mai; Savigny an Thile, 8. Juli; Thile an Savigny, 22. Juli; Keudell an Savigny, 12. August und 4. September 1864 (Nachlaß, S. 840, 842 ff., 846 f.).

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lediglich als Motiv, um Sachsen aufzufordern, nunmehr seine Truppen und Zivilkommissare zurückzuziehen. Eine Entschärfung trat erst ein, als der Bundestag am 5. Dezember 1864 mehrheitlich den österreichisch-preußischen Antrag annahm, demzufolge die Exekution als abgeschlossen erklärt und Sachsen zur Zurücknahme seiner Truppen aufgefordert wurde. 39 Über die Zukunft der Herzogtümer war damit noch nichts gesagt. Während Bismarck die Beibehaltung des Kondominiums mit verstärkter Stellung Preußens verfolgte, näherte sich Österreich immer mehr dem Gedanken, an der Eider einen selbständigen Bundesstaat unter dem Augustenburger zu konstituieren. Die Phase des österreichisch-preußischen Gedankenaustausches ging in eine immer deutlichere Gegensätzlichkeit über. Als Bismarck auf Drängen Österreichs die sogenannten Februarbedingungen formulierte, unter denen Preußen bereit war, über die Einsetzung des Augustenburgers zu verhandeln,4O schien der Bruch bald unvermeidlich. Österreich und der Augustenburger lehnten ab. Als Ende März Preußen seine Marinestation von Danzig nach Kiel verlegte und den Herzog dort nicht länger dulden zu wollen erklärte, der Bundestag gar am 6. April mit Unterstützung Österreichs einen bayerisch- österreichischen Antrag, der die Einsetzung des Augustenburgers empfahl, mit überwältigender Mehrheit gegen das Votum Preußens annahm, schien die Krise ausweglos. Als dann aber Graf Blome, der österreichische Gesandte in München, den Gedanken einer Verwaltungsteilung unter Beibehaltung des gemeinsamen österreichisch-preußischen Besitzanspruches ins Spiel brachte, deutete sich doch noch ein Komprorniß an. Die einzelnen Phasen dieser oft bis an den Rand des Scheiterns geführten Verhandlungen liefen an Savigny vorbei. Die am 14. August unterzeichnete und am Tage darauf in Kraft getretene Gasteiner Konvention suchte die allergischen Punkte im Verhältnis der beiden Großmächte zu entkrampfen. Sie bot Preußen die größeren Vorteile, stellte im Grunde aber nur eine Zwischenlösung dar, von Preußen erkauft mit der Feindschaft des ausgebooteten Augustenburgers und der Empörung der Klein- und Mittelstaaten und begleitet von den Anklagen Englands und Frankreichs, die schnell in alle Welt getragen wurden.

39 Im Falle der Ablehnung wurde Hannover davon unterrichtet, daß Preußen dann selbständig vorgehen werde. Hannover sollte in der Lage sein, durch eine Trennung seiner Truppen von den sächsischen sich aus einem möglichen Zusammenstoß herauszuhalten (vgl. auch Savigny an Bismarck, 2. Dezember 1864 im Bismarck-Jahrbuch, a. a. 0., S. 42); Robert von Keudell, a. a. 0., S. 183; Savigny an Amim-Boitzenburg, 9. Januar 1865; ergänzend Thile an Savigny, 3. Januar 1865 (Nachlaß, S. 854 f.). 40 Am 2. Februar 1865 hatte Bismarck in einer Weisung an Werther die Forderungen formuliert: zur Sicherung seiner militärischen Stellung in den Herzogtümern sei eine Militärkonvention nötig, die Preußen die gesamte Militärhoheit übertrage, Integrierung der Marinestreitkräfte, territoriale Sicherung zum Bau und zur Verwaltung des NordOstsee-Kanals, Eintritt in den Zollverein, Übernahme des Post- und Telegraphenwesens durch Preußen. Österreich lehnte vor allem die Verschmelzung der Land- und Seestreitkräfte mit den preußischen ab.

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Wie labil die Lage war, sollte sich bald zeigen. Jeder Aktivität der preußischen Politik mißtrauend, hat sich Österreich nie mit der preußischen Marinestation in Kiel abgefunden. Das zunächst gute Einvernehmen der beiden Gouverneure in den Herzogtümern, Gablenz und Manteuffel, wurde bald den schwersten Belastungen ausgesetzt. Die Anhänger des Augustenburgers hörten nicht auf, für den Herzog zu agitieren. Als Bismarck am 20. Januar 1866 in Wien seine Ausweisung sowie eine Maßregelung der antipreußischen Presse verlangte, lehnte man dort beides ab. Als auf einer von dem österreichischen Gouverneur genehmigten Kundgebung in Altona am 30. Januar 1866 die Einberufung der Ständeversammlung gefordert wurde und die Versammlung den Charakter einer elementaren Demonstration zugunsten des Herzogs annahm, Bismarck sich dann darüber bei Mensdorff-Pouilly, dem österreichischen Außenminister, beschwerte, begnügte sich dieser mit dem Hinweis, daß man eine Einmischung Preußens in Holstein nicht hinzunehmen bereit sei. Verstärkungen der Garnisonen, Truppenbewegungen auf die beiderseitigen Grenzen, Kriegsvorbereitungen hier wie dort und schließlich auch die sich anbahnende Befassung des Bundestages mit den Herzogtümern sowie die noch unbestimmte Ankündigung einer Initiative zur Einleitung einer Bundesreform ließen im Frühjahr, begleitet von unaufhörlichen Presseagitationen, die Kriegsgefahr deutlich erkennen. Daß seit Ende Februar auch ein zeitlich befristetes Militärbündnis mit Italien eingeleitet wurde, war zu dieser Zeit noch unerheblich. Der am 8. April unterzeichnete Vertrag blieb vorerst geheim. Indes ließen die sich anschließenden militärischen Maßnahmen Italiens eine weitere Zuspitzung nicht ausschließen. Leo von Savigny, der jüngere Bruder, hat damals zum Ausdruck gebracht, was viele bedrückte. 41 "In den letzten Tagen haben die Kriegsgerüchte so zugenommen," schrieb er, "daß es mir, fern von allen genaueren und sicheren Nachrichten, anfangt unheimlich zu werden ... sofern Du mir nicht etwa ganz beruhigende Nachrichten geben kannst, geeignet, die Kriegsbesorgnisse wenigstens vorläufig zu beseitigen, so möchte ich Dich erstens fragen, ob Du nicht vielleicht . . . Deine ganze Familie lieber hierher schicken willst, wo doch aller Wahrscheinlichkeit nach vorerst nichts zu besorgen sein dürfte? Oder ob wir nicht wenigstens unsere Kinder holen sollen, um Dir nicht noch durch fremde Last die Sorgen zu mehren? Sage mir darüber aufrichtig Deine Meinung." Der weitere Verlauf der Ereignisse ist bekannt. Am Tage nach der Unterzeichnung des Vertrages mit Italien brachte Savigny den Bundesreformantrag ein. Mißtrauen auf der einen, hinhaltende Taktik auf der anderen Seite, Truppenbewegungen, schließlich auch Einmischungsversuche Napoleons kennzeichnen die gereizte Stimmung, die auch durch den Vermittlungsversuch Anton von Gablenz ' , eines Bruders des österreichischen Statthalters in Holstein, nicht entschärft wurde. 41 Leo an Karl Friedrich von Savigny, Vevey, 25. März 1866 (Nachlaß, S. 866). Leo hatte eine längere Reise in die Schweiz angetreten, während seine Kinder sich bei ihrem Onkel in Frankfurt aufhielten. Vgl. auch Savigny an das Außenministerium, 14. April 1866 (Nachlaß, S. 867 ff.).

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Die italienischen Rüstungen riefen österreichische Reaktionen hervor; die Mittelstaaten stellten sich fa~t ausschließlich auf die Seite Habsburgs. Österreich ließ sich auf ein gewagtes Abkommen mit Napoleon ein, mobilisierte Teile seiner Armee; Preußen konnte alle dem nur durch eigene kriegsvorbereitende Aktionen begegnen. Als Österreich die Entscheidung des Bundes über das Schicksal der Elbherzogtümer anrief und Preußen dieses als einen Bruch der Gasteiner Konvention erklärte, waren die Würfel endgültig gefallen. Die in Österreich wie in Preußen verständliche Scheu, sich nicht mit dem Odium des ersten Schusses zu belasten, schob den Kriegsausbruch noch einige Tage hinaus. Als Bismarck dann am 10. Juni seinen Bundesreformentwurf den Regierungen zuleitete, antwortete Österreich mit dem Antrag auf Mobilisierung des Bundesheeres, dem wiederum Preußen tags darauf den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Österreich folgen ließ. Bismarcks Erklärung, nach der Preußen sich mit jedem Bundesstaat als im Kriege befindlich betrachtete, der den Mobilmachungsantrag unterstützte, blieb ohne Widerhall. Mit neun gegen sechs Stimmen wurde er am 4. Juni angenommen. Der preußische Vertreter beteiligte sich nicht an der Abstimmung, da Bismarck das ganze Verfahren als bundesgesetzwidrig betrachtete. Das hatte Savigny schon vor der Abstimmung weisungsgemäß erklärt. 39 Als das Ergebnis vorlag, gab er vor dem Plenum die vielzitierte Erklärung ab. Noch einmal legte er dar, daß nach preußischer Auffassung die Einbringung des österreichischen Antrags mit der Bundesverfassung im Widerspruch stünde und von Preußen daher als Bruch des Bundes angesehen werde. Die Stellung Österreichs stünde nicht unter dem Schutz der Bundesverträge, und der Kaiser von Österreich könne nicht als "Mitglied des Bundes für das Herzogtum Holstein betrachtet werden." Dann heißt es weiter: "Durch die nach dem Bundesrecht unmögliche Kriegserklärung gegen ein Bundesmitglied, welche durch den Antrag Österreichs und das Votum derjenigen Regierungen, welche ihm beigetreten sind, bedingt ist, sieht das königliche Kabinett den Bundesbruch als vollzogen an. Im Namen und auf Allerhöchsten Befehl Seiner Majestät des Königs, seines allergnädigsten Herrn, erklärt der Gesandte daher hiermit, daß Preußen den bisherigen Bundesvertrag für gebrochen und deshalb nicht mehr verbindlich ansieht, denselben vielmehr als erloschen betrachten und handeln wird." Daß Savigny die Bereitschaft seiner Regierung bekundete, auf der Basis des preußischen Reformentwurfs "einen neuen Bund mit denjenigen deutschen Regierungen zu schließen, welche ihr dazu die Hand reichen wollen," war unerheblich. Vorerst galt, was Savigny dann dem Plenum erklärte: "Der Gesandte vollzieht die Befehle seiner allerhöchsten Regierung, indem er seine bisherige Tätigkeit hiermit nunmehr als beendet erklärt." Die Entscheidung war endgültig. Der Krieg begann, ohne daß eine förmliche Kriegserklärung überreicht wurde.

42 Die hier gemeinten Dokumente sind nachzulesen in der Edition von E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 205 ff.

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In einem Brief an Bismarck hat Savigny die Bilanz der letzten Tage gezogen. 43 "Auch darf ich wohl sagen," heißt es da, "daß es nicht schwermütige Empfindungen waren, welche meine Seele bewegten, als ich den mir aufgetragenen Akt der Bundeslösung vollzug. Der Bund, wie er bisher bestand, seine Verfassung und die Art und Weise, wie sie traditionell gehandhabt wurde, gereichten der preußischen Monarchie zu dauerndem Schaden und verletzten beinahe ununterbrochen die staatliche Würde unseres teueren Vaterlandes ... Meine Geschäftstätigkeit, sei es in der Bundesversammlung, sei es in den Ausschüssen oder auch im direkten Verkehr mit den einzelnen Kollegen, läßt sich gewissermaßen vergleichen mit dem Schicksal eines ehrlichen Mannes, welcher weiß, daß er sich unausgesetzt im Kreise von Verschwörern bewegt, aber die Verbindung mit diesen nicht abbrechen darf, bevor ihm nicht die Stunde der Erlösung geschlagen hat ... " Und Marie von Savigny schrieb in jenen Tagen an ihre Mutter: " ... Am 14. hat mein Mann dem Bunde aufgesagt und den Sitzungssaal verlassen. Der Bund existiert für Preußen also nicht mehr. Nun haben die Diplomaten das Ihre getan; an die Soldaten ist nun wohl fürs erste die Reihe gekommen. Die letzte Zeit war hier sehr schwer. Tag und Nacht Arbeit für meinen Mann. Ich bin froh, daß er nun ruhen kann. Wir verlassen Frankfurt leichten Herzens; es ist ganz österreichisch. Gott gebe nur unseren Truppen überall den Sieg ..."44 Die Atmosphäre in Frankfurt war in der Tat für die Savignys fast unerträglich geworden. Feindschaft schlug ihnen offen entgegen. Lediglich der italienische Gesandte bekundete seinem preußischen Kollegen auffallend seine Weggenossenschaft. Die Sympathien der Bürger gehörten den Österreichern. Savigny hat dies besonders im Kreise der Brentano' schen Verwandten seiner Mutter zu spüren bekommen. Seine beiden Söhe, der elfjährige Karl und der neunjährige Adolf, die die sogenanne katholische Selektenschule besuchten, sahen sich zunehmend ärgerlichen Hänseleien österreichischer Parteigänger ausgesetzt. Die Mützen, die sie trugen und die den preußischen Militärmützen nicht unähnlich waren, reizten zu Steinwürfen. Als der Frankfurter Bankier Moritz Freiherr von Bethmann als preußischer Generalkonsul im April 1866 sein Amt niederlegte, zweifellos eine gegen Preußen gerichtete Geste, fand er in der Öffentlichkeit Beifall und Zustimmung. Savigny hatte mit diesen Vorgängen unmittelbar nichts zu tun; derlei Mißhelligkeiten hatte Otto von Wentzel, damals als Geheimer Legationsrat preußischer Resident bei der Freien Stadt, abzuwickeln, aber Savigny wußte, wo in Frankfurt die Glocken hingen. Was dem Residenten galt, galt - verstärkt auch ihm. Dann ging seine Frankfurter Mission schnell ihrem Ende entgegen. Verblaßt waren damit auch die Erinnerungen an die goldenen Tage von Biarritz, die das Ehepaar Savigny im Herbst 1865 zusammen mit den Bismarcks dort verbrachte. Das freundliche Echo dieser letzten Tage der Entspannung spricht aus mehreren 43

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Savigny an Bismarck, 15. Juni 1866 (Nachlaß, S. 887 ff.). Marie von Savigny an ihre Mutter, 16. Juni (Nachlaß, S. 889).

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uns erhaltenen Briefen, wenn etwa Johanna von Bismarck schreibt: "Savignys verließen uns vorgestern, nachdem wir vierzehn Tage sehr angenehm miteinander verkehrt. Die können ihnen viel von uns erzählen, und ich empfehle Ihnen die Frau sehr, die gewiß Ihren Beifall haben wird. Beide sind ganz Bülow'sches Genre - sehr fröhlich, sehr gescheit, sehr angenehm, ein bißchen zu förmlich - auch ganz Bülow, aber es lebt sich sehr gut mit ihnen."45 Auch Marie von Savigny nahm die angenehmsten Eindrücke von ihrem Aufenthalt in Biarritz mit in die Heimat. Sie genoß die landschaftlichen Schönheiten der Küste, und so manches Motiv hat sie damals in ihren Aquarellstudien festgehalten. Zu Ende ging Savignys Tätigkeit auf einem Außenposten der preußischen Diplomatie, und zu Ende ging damit auch so manches, was nur indirekt mit den Obliegenheiten des Missionschefs zu tun hatte. Denn darin sah er nicht die geringste seiner Aufgaben, nämlich sich der Weiterbildung der ihm anvertrauten jüngeren Mitarbeiter zu widmen. Er hat sich der ihm zugewiesenen Legationssekretäre stets mit besonderer Sorgfalt angenommen, und diese wiederum haben es ihm mit Vertrauen und Pflichttreue gedankt. Das gilt sowohl für den jüngeren Peucker, den Sohn des Generals, als auch für den jungen Ladenberg, den Sohn des Kultusministers in der Revolutionsära, sowie für den jungen Friedrich Eichmann, den Sohn des Koblenzer Oberpräsidenten und späteren Innenministers, oder den jungen Friedrich von Gundlach. Da handelte es sich um die Zulassung zum Diplomatenexamen, um die Ausräumung etwa auftretender Schwierigkeiten, um gutachtliche Äußerungen über zukünftige Laufbahnen. Die Beispiele ließen sich leicht ergänzen. Sie erweisen die Generosität, mit der er seinen jüngeren Mitarbeitern begegnete, zugleich aber auch die Sorgfalt, mit der er ihre Berufslaufbahn verfolgte. 46 Es wären noch andere Aufgaben zu benennen, die gelegentlich auf ihn zukamen. Als die beiden Ritter des Ordens Pour le Merite für Wissenschaften und Künste, der greise Metternich und der Könisberger Altertumskundler Christian August Lobeck gestorben waren und Schnorr von Carolsfeld bei Savigny sondierte, auf wen sein Vater wohl als ihre Nachfolger sein Auge gerichtet habe, damit auch er seine Stimme für die Wunschkandidaten des greisen Gelehrten abgeben könne, hat sich Saviny dieserhalb gern an den Vater gewandt, denn auch ihm lag daran, nur die Würdigsten in diese Ordensgemeinschaft aufgenommen zu sehen. 47 Dieses elitäre Bewußtsein hat ihn nie verlassen, auch wenn er selbst in klarer Einschätzung seiner eigenen auf einem ganz anderen Felde gegebenen Fähigkeiten Abstand von derlei Gemeinschaften hielt. So hatte er zum Beispiel 45 Vgl. Schönberg-Mskr. sowie Nachlaß, S. 867 ff. und 885 ff. (Briefe vom 14. April und 7. Juni 1866 an Bismarck sowie ebenfalls vom 7. Juni an Thile). Gemeint ist Bemhard Ernst von Bülow, dänischer Gesandter beim Bundestag, später Staatssekretär des auswärtigen Amtes, Vater des Reichskanzlers Bernhard von Bülow. 46 Eines von vielen Beispielen kann leicht nachgelesen werden: die Begutachtung des jungen Ladenberg; vgl. dazu Nachlaß, S. 609 nebst Anmerkung daselbst. 47 Savigny an seine Eltern, 27.Dezember 1860 (Nachlaß, S. 773 f.).

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noch 1864 die Ehrenmitgliedschaft des Freien Deutschen Hochstifts abgelehnt, weil er sich selbst für ungeeignet als Mitglied einer gelehrten Gesellschaft hielt. Lassen wir es damit genug sein. Aus der denkwürdigen Bundestagssitzung des 14. Juni kehrte er, von der Folgenschwere des tragischen Augenblicks ergriffen, wie seine Gattin berichtet, bleich vor Erregung in seine Wohnung zurück. Dann führte ihn der Weg wieder nach Berlin. Im Hotel Royal, dort, wo die Linden- und die Wilhelmstraße sich kreuzen, fand die Familie eine Bleibe. Daß Savignys diplomatische Tätigkeit im engeren Sinne damit ihr Ende gefunden hatte, war nicht vorauszusehen. Zog er die Bilanz, so ergab sich, daß das gute Einvernehmen mit Bismarck auch fernerhin ein fester Punkt in seinen Dispositionen geblieben war. Es war ohnehin keiner nennenswerten Belastungsprobe ausgesetzt gewesen. Beide haben wohl nie so nahtlos übereingestimmt wie in den Frankfurter Jahren. Dem nunmehr Zweiundfünfzigjährigen standen aller Voraussicht nach noch viele Möglichkeiten offen. Oder sollte das Schicksal auch für ihn noch unbekannte Entwicklungen bereithalten?

Die Ereignisse von 1866 Vertraut mit den widersprüchlichen Tendenzen im Kreise der Mittel- und Kleinstaaten, war Savigny aus Frankfurt nach Berlin zurückgekehrt. Jetzt in die politische Abteilung des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten eintretend, verlief die Zusammenarbeit mit dem ihm seit langem befreundeten Unterstaatssekretär Karl Hermann von Thile - mindestens vorerst - völlig störungsfrei. Nicht so wie bisher können wir in der nun anhebenden Phase seiner Tätigkeit auf dienstliche oder amtliche Weisungen und Berichte zurückgreifen. Von Savignys Hand sind nur wenige schriftliche Aufzeichnungen auf uns gekommen. Häufiger als bisher sind wir auf Berichte und Erinnerungen von Zeitgenossen angewiesen. Die Geschäfte wurden in der Regel in mündlicher Erörterung vorwärtsgetrieben. Der jüngere Joseph Maria von Radowitz, der Sohn jenes Außenministers, dessen Name so eng mit der preußischen Unionspolitik verbunden ist, hat selbst lange im Außenministerium gearbeitet, und da er auch viel im Hause Bismarcks verkehrte, war er in der Lage, manch Interessantes aus jenen ernsten Tagen nach der Auflösung des Deutschen Bundes zu berichten.! Von ihm wissen wir, daß Bismarck die von den wichtigsten Höfen zurückberufenen Gesandten alsbald um sich versammelte, um sich ein Bild von der Art und Weise ihres Abschieds zu verschaffen. So hatten sie sich alle am 21. Juni bei ihm eingefunden: Gustav von der Schulenburg-Priemern, der in Dresden offenbar sehr unsanft von Beust verabschiedet wurde, Karl Anton von Werther, der in Wien auf weit vorgeschobenem Posten hatte ausharren, und Heinrich Prinz Reuß, der sich in München mit unbedeutenden Varianten der österreichischen Anträge beim Bundestag hatte befassen müssen, Karl Friedrich Ernst von Canitz, der aus dem relativ ruhig gebliebenen Stuttgart gekommen war, und schließlich auch Savigny, der den Deutschen Bund für aufgelöst erklärt hatte. Aus ihren Berichten ergab sich, wie zuversichtlich man jenseits der preußischen Grenzen den Dingen entgegensah und von einem schnellen Sieg über Preußen überzeugt war. Als Bismarck dann seinem König ins Feld folgte, übernahm Werther auf Thiles Wunsch die Alltagsarbeit des Ministerpräsidenten, während Savigny sich zusammen mit dem Unterstaatssekretär den Fragen der auswärtigen Politik widmete. Der Tag von Königgrätz schuf eine völlig neue Lage. Privates und Dienstliches vermischte sich plötzlich in Savignys Lebenskreis, noch bevor sich für ihn ein überschaubares Bündel neuer Pflichten abzeichnete. Die Sorge um Maries Brüder, die wie 1864 im Felde standen, ergriff auf Wochen die ganze Familie. Nicht ! Joseph Maria von Radowitz, Aufzeichnungen und Erinnerungen, hrsg. von Hajo Holbom, 2 Bde., Stuttgart 1925.

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weniger bedrückten die Nachrichten, die aus Frankfurt herüberdrangen. Hier war des Diplomaten Vater gebor~n; die Familie fühlte sich dieser Stadt in besonderer Weise verbunden; zahlreiche Verwandte waren hier zu Wohlstand und Ansehen gelangt. Und nun war plötzlich der Krieg über Altdeutschlands heimliche Hauptstadt gekommen: bayerische Kontingente des Bundesheeres hatten am 18. Juni das preußische Telegraphenbüro besetzt; der Senat hatte das Gemeinwesen am 4. Juli zur offenen Stadt erklärt; die Bundestruppen hatten sich am 13. Juli zurückgezogen; am Tage darauf hatte der Bundestag seinen Sitz nach Augsburg verlegt. Dann erfüllte sich das Schicksal der Stadt sehr schnell: am 16. Juli rücken Truppen der preußischen Mainarmee unter Vogel von Falckenstein ein; tags darauf übernimmt das Militärkommando die Regierungsgewalt; am 18. ergeht die erste Kontributionsforderung an die Stadt, der bereits am 20. die zweite folgt. Frankfurt erlebt schwere Tage: der Kampf um die Bewilligung der letzteren, der Freitod des Bürgermeisters Fellner am 24. Juli, die Entsendung einer städtischen Deputation unter der Führung des Freiherrn von Rothschild nach Berlin (25. / 27. Juli), schließlich die Einleitung der zur Beitreibung der Kontributionen eingeleiteten Zwangsmaßnahmen am 29. Juli, der freilich schon am 31. die telegraphische Weisung Bismarcks an den General Edwin von Manteuffel als Oberbefehlshaber der Mainarmee folgt, angesichts der bevorstehenden Einverleibung der Stadt ihr eine schonende Behandlung zuteil werden zu lassen. 2 Durch die anschaulichen Schilderungen, die der Kanzleidirektor der Bundestagsgesandtschaft, Knaatz, übermittelt hatte, erfuhr man in Berlin von den Übergriffen der Bundestruppen, von der Verzagtheit der zurückgebliebenen Preußen, von den Versuchen der örtlichen Presse, die Bevölkerung auf die bevorstehenden Brandschatzungen durch die preußischen Truppen vorzubereiten. Als Vogel von Falckensteins Soldaten die Stadt besetzten, zögerte Knaatz nicht, auch deren Mißgriffe anzuprangern, die wirtschaftlichen und psychologischen Folgen der Kontributionen zu kennzeichnen und auf den Auszug vieler reicher Bürger hinzuweisen, die ihr Vermögen in Sicherheit zu bringen suchten, die Masse der Bevölkerung ihrem Schicksal überlassend. Leberecht von Guaita, mütterlicherseits ein Vetter Savignys, 3 wandte sich verzweifelt an diesen: " ... Um Gottes Barmherzigkeit willen stehe unserer armen Stadt bei! Wir sind verloren auf hundert Jahre, wenn die uns angedrohten Maßregeln in Ausführung gebracht werden. Was haben wir getan?! ... Wir haben weder mobilisiert noch einen Mann im Felde gehabt. Im Gegenteil, nur den energischen Schritten von Stadt und Behörde ist es endlich gelungen, alle Bundestruppen von hier zu entfernen und haben wir uns als offene Stadt auf Gnade und Ungnade ergeben ... Ich bitte Dich um Gottes willen, 2 Vgl. hierzu Wolfgang Klötzer, Frankfurt 1866. Eine Dokumentation aus deutschen Zeitungen, 1966, passim, hier S. 320 f. 3 Anton Friedrich Leberecht von Guaita (1814 - 1875), Kaufmann und niederländischer Konsul, zweiter Sohn der Meline (Magdalene) von Arnim (1788-1861). Diese war die Schwester von Savignys Mutter Gunda. Guaita an Savigny, 24. und 29. Juli und Savigny an Guaita, 27. Juli 1866 (Nachlaß, S. 892 ff.).

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verwende Dich für unsere arme, arme Stadt, der Geburtsstadt Deiner Eltern, Deiner ganzen Familie ... Ihr habt erreicht, was Ihr gewollt. Ihr seid überall Sieger, aber als Sieger seid auch großmütig! 0 Karl, Du vermagst viel. Tue es, und der Segen des Himmels wird auf Dir ruhen. Es sind ja die Friedenspräliminarien abgeschlossen, und doch sollen wir vernichtet werden; das liegt gewiß nicht im Willen Eures hochherzigen Königs. Wenn Du irgend kannst, oh, so schreibe mir einige Worte des Trostes." Savigny hat seinem Vetter diese Worte geschrieben, und er hat sich auch gegenüber Rothschild ähnlich ausgesprochen. Mehr war ihm nicht möglich. Er hat Guaita nicht im Unklaren gelassen: er war noch nicht wieder im Amt und daher ohne unmittelbaren Einfluß auf den Lauf der Geschäfte. Aber er verschwieg auch nicht, daß gerade Frankfurt der Herd gewesen war "für die giftigste Verleumdung Preußens, seines Königs, seiner Regierung und seines Volkes, welche von dort aus systematisch über ganz Deutschland verbreitet worden ist. Ich habe diesem verhängnisvollen Gebahren während zweieinhalb Jahren zu meiner Betrübnis zuschauen müssen; ich habe unablässig gewarnt vor den Folgen, die unausbleiblich über Frankfurt hereinbrechen würden ..." Als Savigny dies schrieb, befand man sich in Berlin noch im Vorfeld der politischen Entscheidungen. Vorerst galt es, sich im Hotel Royal einzurichten, Kontakte zu Ämtern und Berufskollegen anzuknüpfen oder wieder aufzunehmen sowie sich den Aufgaben der privaten Lebensgestaltung zuzuwenden. Seine Kinder suchten die ungewohnte Umwelt zu erobern. Zu Bismarcks erheblich älteren Söhnen Herbert und Wilhelm entwickelte sich eine enge Freundschaft, geprägt von einem jungenhaften Übermut und nicht frei von demonstrativ geäußerten patriotischen Grundstimmungen. Von den Fenstern ihrer Wohnung aus erlebten sie die Heimkehr der Soldaten, wie sie durch das Brandenburger Tor marschierten, die "Linden" entlang zogen, angeführt von ihrem König, gefolgt von den Prinzen und Generälen. Dann setzte auch für Savigny der tägliche Dienst wieder ein. Im Hotel Royal trafen sich Politiker und Diplomaten; auch Bismarck ist von seinem nahe gelegenen Dienstsitz in der Wilhelmstraße wiederholt hier erschienen. Mit der Unterzeichnung des Friedens sollten die Voraussetzungen für eine neue Phase deutscher Nationalgeschichte geschaffen werden. Mit Österreich hatte sich Bismarck in Nikolsburg insoweit geeinigt, als der Kaiserstaat die Auflösung des Deutschen Bundes akzeptierte und auf eine Mitwirkung bei der Neugestaltung der staatsrechtlichen Verhältnisse ausdrücklich verzichtete. Diesen Nikolsburger Vereinbarungen sollten, "soweit sie die Zukunft Deutschlands betreffen", in den nächsten Wochen die wichtigsten Mittelstaaten wie Bayern, Württemberg, Sachsen, Baden, Hessen in ihren Friedensverträgen mit Preußen beitreten. Infolge der Belastungen der letzten Monate war Bismarck physisch außerstande, die Detailverhandlungen mit den Kriegsgegnern selbst zu führen. In Putbus Erholung suchend, hat er die Hauptlast der Friedensverhandlungen Savigny übertragen, und dieser hat sie dann mit großem persönlichen Einsatz zu ihrem Abschluß geführt. Der Vertrag mit

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Württemberg vom 13. August 1866 ist der erste von insgesamt zehn Verträgen, die seine Unterschrift tragen. Hierbei hat russischer Einfluß - Olga, die Tochter des Zaren Nikolaus 1., war die Gemahlin König Karls I. von Württemberg dahin gewirkt, dem Lande nicht nur möglichst bald den Frieden wiederzugeben, sondern auch einer Mediatisierung durch Preußen entgegenzuwirken. So blieb es im wesentlichen bei der Festsetzung einer Kriegsentschädigung von 8 Millionen Gulden und der Bestimmung, wonach das Land das Recht, nicht aber die Pflicht habe, den Friedenspräliminarien beizutreten. Auch mit Baden verliefen die Verhandlungen zügig. Vorübergehende Differenzen zwischen Bismarck und dem König, wobei es sich um die Höhe der von Baden zu fordernden Kriegsentschädigung handelte, waren bald ausgeräumt. Dem Waffenstillstand vom 3. August folgte am 17. der Friedensvertrag, der dem Lande eine Kontribution von sechs Millionen Gulden auferlegte und für den Kriegsfall die Truppen dem Oberbefehl des Königs von Preußen unterstellte. Bayern folgte am 22. August. Die Anerkennung von Nikolsburg, eine geringfügige Grenzkorrektur, die Zahlung einer Kriegsentschädigung von 30 Millionen Gulden sowie die Hinnahme eines Schutz- und Trutzbündnisses bildeten den wesentlichen Inhalt dieses Friedensschlusses, nachdem es zunächst noch wegen der von Savigny geforderten Zurücknahme der bayerischen Truppen aus Mainz bei v. d. Pfordten und Bray mancherlei Schwierigkeiten zu überwinden gegeben hatte. Das Großherzogturn Hessen folgte am 3. September. Unerhebliche Landabtretungen, eine vergleichsweise geringe Kriegsentschädigung von drei Millionen Gulden sowie der Beitritt zu dem geplanten Norddeutschen Bund mit seinen nördlich des Mains gelegenen Landstrichen waren hier die Elemente der Friedensregelung. Schwieriger waren die Verhandlungen mit dem Kurfürsten von Hessen-Kassel und dem Herzog von Nassau, deren Gebiete von Preußen annektiert wurden. Bei dem letzteren handelte es sich weniger um die grundsätzliche Frage der Aufhebung dieses Territoriums als um die Auseinandersetzung über das Domanialvermögen, die sich bis in das nächste Jahr hinein hinzog. Savigny hat bei der Regelung all dieser Fragen ein hohes Maß an Flexibilität bewiesen. Aus dem kurfürstlichen Hause von Hessen-Kassel vernahm er Stimmen des Dankes für sein "warmes und teilnehmendes Herz." Freundlich war auch das Echo, das er bei der Abwicklung der politischen Entscheidungen in Nassau sowie bei der Klärung all der Fragen vernahm, die mit den Apanagen der Prinzessinnen von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg zusammenhingen, für deren wohlwollende Behandlung sich Königin Augusta noch im November 1866 von Koblenz aus nachdrücklich ausgesprochen hatte. Was Frankfurt betraf, so war Savignys Einfluß nur begrenzt. Das Schicksal der Stadt wurde im Hauptquartier entschieden. Lediglich in der Frage der Kontributionen konnte er mäßigend wirken. Die Frankfurter Deputation, der neben dem Freiherrn von Bethmann auch die Mitglieder der Gesetzgebenden Versammlung Alexander Scharff, Bankdirektor Dr. Schmidt-Holtzmann sowie der Geheime Sanitätsrat Dr. Georg Varrentrapp angehörten, wurde wiederholt von den Ministern von der Heydt und 14 Real

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Graf Friedrich zu Eulenburg sowie von Werther und Savigny empfangen. Hier ging es um die sogenannte "zweite Kontributionsforderung" vom 20. Juli in einer Höhe von 25 Millionen Gulden (die erste Forderung vom 18. Juli in Höhe von 5 747000 Gulden war sofort erfüllt worden). Die letzte Entscheidung hat vermutlich Bismarck selbst getroffen. Die Thüringer Zeitung traf wohl den Kern, als sie schrieb: "Es ist fast mit Sicherheit vorauszusehen, daß Frankfurt diese Kontribution nicht zahlen wird, und es ist vielleicht sogar nicht die Absicht, dieselbe einzutreiben; Fankfurt wird die Schuldnerin Preußens bleiben; dafür wird Preußen Frankfurt in Pfand nehmen, und bei der schließlichen Ordnung der deutschen Verhältnisse dürfte aus dem Pfand alsdann ein Eigentum werden." Tatsächlich wurden die Zwangsmaßnahmen noch im Juli eingestellt. General von Manteuffel wurde angewiesen, mit Rücksicht auf die geplante Annexion die Stadt schonend zu behandeln. Das Besitznahmepatent vom 3. Oktober war Schluß und Auftakt zugleich. 4 Schwierig gestalteten sich die Verhandlungen mit Sachsen. Josepha von Schönberg hat ihnen ihre besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Was Savignys Rolle betrifft, so kann auf die Heranziehung ihres Manuskriptes schlechterdings nicht verzichtet werden. Auf preußischer Seite bestand in der Frage der Kriegsziele gegenüber Sachsen keine Einmütigkeit. In der Umgebung des Hofes waren Kräfte am Werk, die am liebsten das ganze Königreich annektiert hätten. König Wilhelm hatte ein Auge auf Leipzig geworfen und vorübergehend auch an den Erwerb von Bautzen gedacht. Andererseits hatte Bismarck zu erkennen gegeben, daß nur eine Politik der Mäßigung gegenüber den Unterlegenen den Weg in die gemeinsame belastungsfähige Gestaltung der Zukunft möglich machte. Beust, überzeugt, daß Bismarck niemals mit ihm über einen Friedensvertrag verhandeln 4 Über Frankfurt gibt das Buch von Klötzer umfassende Aufschlüsse, so S. 178 f., 193, 209 ff., 321 f. u. Ö. In dem Bericht des Syndikus Dr. Müller an den Frankfurter Senat heißt es: " ... Frankfurt werde -h. Bismarck - nicht an sich selbst herausgegeben, vielmehr von Preußen behalten werden. Frankfurt werde wohl tun, auf diesen Plan von Preußen entgegenkommend einzugehen. Es werde und solle in diesem Falle die privilegierteste Stadt in Preußen, weit privilegierter als Berlin werden und eine entsprechende Munizipalverfassung erhalten. Es verstehe sich von selbst, daß Preußen eine Stadt, die es zu behalten gemeint sei, nicht werde ruinieren wollen. Die Kontribution von 25 Millionen resp. 19 Millionen solle daher vorerst nur theoretisch aufrechterhalten, nicht aber beigetrieben werden." (a. a. 0., S. 209 0. Die freimütigste Kritik an den preußischen Maßnahmen gegen Frankfurt kam von dem letzten Ministerresidenten Otto von Wentzel. Noch im Juli schrieb er, die Stadt habe die Hälfte ihres Vermögens verloren und mache den Eindruck, als sei ihre Einwohnerzahl auf ein Viertel zurückgegangen. Er berichtet ferner, daß der Geheime Postrat von Stephan, der auf Savignys Veranlassung nach Frankfurt geschickt wurde und dort von dem Zivilkommissar von Diest zu energischem Vorgehen bei der Übernahme der Taxis' sehen Post angehalten wurde, hierbei "vortreffliches Material für die Zukunft" gefunden habe. Stephans Mission war der Ausgangspunkt zu seiner späteren Berufung zum Direktor der Post des Norddeutschen Bundes. Er ist Savigny dafür stets sehr dankbar gewesen. - Ähnlich hat sich damals auch Graf Münster an Savigny gewandt, um sich für das Schicksal Hannovers zu verwenden. Es ist nicht bekannt, ob und wie dieser auf den Brief reagiert hat. Savigny war mit den hannoverschen Fragen nicht befaßt (Münster an Savigny, 4. September 1866, Nachlaß, S. 899).

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werde, reichte seine Entlassung ein. Als Freiherr Richard von Friesen und Karl Adolf Graf von Hohenthai dann als sächsische Unterhändler in Berlin erschienen, stießen auch sie zunächst auf Granit. Bismarck ließ sie warten und lehnte alle Versuche Österreichs und Frankreichs, sich für Sachsen zu verwenden, ab. Er machte den Unterhändlern deutlich, welche Forderungen man an sie stellen werde: Preußen verlange kein sächsisches Gebiet, aber man werde nicht darauf verzichten, das sächsische Heer in das preußische zu integrieren, den Oberbefehl und die Offiziersernennung dem König von Preußen zu übertragen, diesem den Fahneneid zu leisten und letztlich auch sich vorbehalten, über die Gamisonierung zu entscheiden. Damit waren auch für Savigny die Konturen vorgezeichnet, als sich Bismarck in das abseitige Putbus zurückzog und ihn mit der Fortführung der gerade begonnenen Verhandlungen beauftragte. Richard von Friesen, der, von Hohenthai unterstützt, die Verhandlungen bis zu ihrem Abschluß geführt hat, war mit Savigny schon vor seiner ersten Unterredung mit Bismarck zusammengetroffen. Was die beiden Sachsen hierbei von Savigny zu hören bekamen, war nur die Bestätigung jener Gerüchte, die von unerwartet schweren Friedensbedingungen wissen wollten. 5 In der anschließenden Unterredung mit Bismarck klangen die Forderungen offenbar noch schroffer. Die uneingeschränkte Übertragung der Militärhoheit auf den König von Preußen schien unerträglich. Hinzu kam, daß selbst der Fortbestand des Hauses Wettin nicht völlig gesichert war. Es scheint so, als habe Savigny den deprimierenden Eindruck, den diese Eröffnungen Bismarcks auf die beiden Sachsen gemacht hatten, etwas mildem wollen. So hat er Friesen bei einem persönlichen Besuch am 24. August mit den Worten getröstet, er möge doch bedenken, "daß nichts so heiß gegessen werde, wie es gekocht worden." Das scheint auch der Tenor gewesen zu sein, der sich am 26. August in einer Besprechung Bismarcks mit Roon, Moltke und einigen anderen durchsetzte. Preußen werde davon absehen, die zunächst beabsichtigte völlige Unterwerfung Sachsens unter die preußische Militärhoheit zu erzwingen. Im Einvernehmen mit Bismarck erklärte Savigny dem Freiherrn von Friesen, man sei bereit, gemäß dem sächsischen Wunsch zunächst über einen Waffenstillstand zu verhandeln; als Voraussetzung verlange man aber die Übergabe des Königsteins und die Demobilisierung der sächsischen Armee. 6 Damals hat auch Königin Augusta in einem Brief an Savigny versucht, 5 Vgl. hierzu Richard von Friesen, Erinnerungen aus meinem Leben, 3 Bde., Dresden 1880-1910, hier: 11, 232 ff.; Fritz Diclanann, Militärpolitische Beziehungen zwischen Preußen und Sachsen 1866-1870, 1929; Johann Georg Herzog zu Sachsen, Briefwechsel

zwischen König Johann von Sachsen und den Königen Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. von Preußen, Leipzig 1911; Johann Georg Herzog zu Sachsen, König Johann von Sachsen im Jahre 1866 (Neues Archiv f. sächs. Geschiche, Bd. 47, Dresden 1927, S. 295 ff.). 6 Andererseits wurde das Verhältnis Preußens zu Sachsen auch durch den preußischen Schanzenbau an der EIbe belastet. Nach dem Schönberg-Mskr. sollen preußische Ingenieuroffiziere in Dresden gesagt haben, der Schanzenbau sei die Antwort auf das huldvolle Schreiben König Johanns an Beust und dessen Veröffentlichung. Savigny habe diese 14*

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wohlwollend auf die weitere Behandlung des Königreichs einzuwirken. Savignys Antwort klang unverbindlich: einerseits seien Vorkehrungen gegen gefährliche Eventualitäten zu treffen, anderereits sei erforderlich, den staatsrechtlichen Bestand festzustellen, der eine Selbständigkeit Sachsens nicht ausschlösse und keine Erbitterung zurücklasse. Mehr sei nicht zu erwarten. Es war insbesondere nicht Bismarcks Art, seine Entscheidungen von jenseits der Kompetenzgrenze, vor allem aber nicht von der Königin Augusta, beeinflussen zu lassen. 7 Inzwischen offiziell mit den Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen beauftragt, empfing Savigny arn 5. September die beiden sächsischen Unterhändler, die sich angenehm überrascht zeigten, daß sofort über beide Fragenkreise verhandelt werden sollte. Die zunächst von Bismarck verlangten Vorbedingungen - Integration der sächsischen Armee, Demobilisierung der Truppen, Übergabe des Königsteins - wurden vorerst nicht weiter erhoben. So konnten noch in der ersten Septemberhälfte die eigentlichen Verhandlungen unter Hinzuziehung der militärischen Sachverständigen beginnen, von preußischer Seite General von Podbielski, von sächsischer General Graf von Fabrice. 8 Die Übergabe des Königsteins wurde von Podbielski nicht als unabdingbare Voraussetzung angesehen, und da die sächsischen Truppen derzeit keine Gefahr mehr darstellten, war auch ihre Demobilisierung nicht unbedingt erforderlich. So gingen die Verhandlungen zügig vorwärts. Schon am 13. September konnte die Punktation dem König von Sachsen, der in Hitzing bei Wien eine Zuflucht gefunden hatte, zugeleitet werden. Auch von einer fortdauernden Besetzung Dresdens, dem vielleicht schwierigsten Problem, war nicht mehr die Rede. Die Verpflichtung der sächsischen Armee auf den König von Preußen als Oberfeldherrn sowie die Ernennung der höheren Offiziere durch ihn wurden so formuliert, daß König Johann schon bald seine Zustimmung geben konnte. Doch so schnell wie die Konvention ausgehandelt war, so schnell wurde sie wieder in Frage gestellt. Plötzlich traten die Forderung der Eidesleistung der gesamten Armee auf den König von Preußen und die Umstrukturierung des Königsteins zur Bundesfestung wieder in den Vordergrund. Zudem sollte die in der Konvention festgelegte Stellung des Königs von Preußen nur insoweit gelten, als die zukünftige Bundesverfassung ihm nicht noch höhere Rechte zuerkannte. 9 These übernommen. Nicht König Johann treffe die Schuld, vielmehr hätte Beust die unverantwortliche Veröffentlichung des Briefes verhindern müssen, statt sie selbst zu betreiben. Vgl. aber auch den wohl ehrlichen Brief Beusts an Savigny vom I. September 1866 (Nachlaß, S. 897 ff. und Beust, a. a. 0., I, S. 448). 7 Zu dem ganzen Komplex vgl. das gänzlich unentbehrliche Werk von Otto Becker, Bismarcks Ringen um Deutschlands Gestaltung (Heidelberg, 1958, passim). 8 Eugen Anton von Podbielski (1814-1879), 1864 Generalquartiermeister der gegen Dänemark aufgebotenen Truppen, 1866 Direktor des allgemeinen Kriegsdepartements im Kriegsministerium, zuletzt (ab 1872) Generalinspekteur der Artillerie. - Georg Friedrich Alfred Graf von Fabrice (1818 - 1891), Oktober 1866 Kriegsminister, Reorganisator der sächsischen Armee nach preußischem Vorbild, 1876 Vorsitzender des Staatsministeriums, 1882-1891 auch Außenminister.

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Friesen wandte sich bestürzt an Savigny, alles zu tun, um die sich andeutende Krise zu bereinigen. Unter seiner Vermittlung ist es dann auch Fabrice und Podbielski gelungen, unterm 19. September eine neue Militärkonvention zu formulieren. In der Staatsministerialkonferenz vom 21. September, an der Bismarck schon nicht mehr teilnahm, hat Roon die Konvention vorgetragen und das Ministerium sie einstimmig gebilligt. Roon durfte hoffen, in wenigen Tagen die Zustimmung des Königs in Händen zu haben. Der Abschluß des Friedensvertrages konnte dann bald folgen. Diese Prozedur verlief viel schwieriger als erwartet. Schon am 22. September war für Savigny zweifelhaft, ob die Abmachungen die Zustimmung des Monarchen finden würden. Aus dem Kreise des Militärkabinetts und der Umgebung des Kronprinzen waren erhebliche Einwendungen nicht auszuschließen. Die sächsische Armee für längere Zeit in altpreußische Garnisonen zu verlegen, hatte hier allgemeine Zustimmung gefunden. Daß der Text der Konvention in Dresden so beifällig aufgenommen wurde, mußte nachdenklich stimmen. Hätte man in härteren Verhandlungen nicht doch noch vorteilhaftere Waffenstillstandsbedingungen erzwingen können? Die Zeitungen begannen darüber zu schreiben. König Wilhelm zeigte sich Savigny gegenüber peinlich berührt, daß in der Presse davon zu lesen war, bevor er selbst davon Kenntnis erhalten hatte. So kam es, wie es kommen mußte: in einer sehr gereizt verlaufenen Konferenz hat Savigny am 25. September seinem Verhandlungspartner berichtet, wie der König ihm soeben in höchster Erregung seine Mißbilligung zu dem Gang der Verhandlungen ausgedrückt und die ganze Konvention rundweg verworfen habe. Dienstrechtliche Erörterungen kamen hinzu. Savigny betonte, ausschließlich er sei zum Kommissar für die Verhandlungen mit Sachsen ernannt und daher nur Bismarck und dem König verantwortlich gewesen. Podbielski sei vom Kriegsministerium für die militärischen Sachfragen hinzugezogen worden, ohne daß dazu die Genehmigung des Königs eingeholt worden wäre. Nun aber habe, wie Friesen berichtet, der sich dabei auf Savignys Aussagen beruft, das Kriegsministerium die Vereinbarungen der militärischen Sachverständigen nicht an Savigny zur weiteren Verwertung beim Entwurf des Friedensvertrages weitergeleitet, sondern als Militärkonvention, in der Podbielski als Regierungskommissar genannt werde, dem König zur Genehmigung vorgelegt. Dieser, sehr bestürzt, war nicht bereit, eine Konvention zu genehmigen, während die eigentlichen Friedensverhandlungen noch nicht begonnen hatten. Es bleibt unerfindlich, wieso Savigny nicht erkannt hat, daß Podbielski und mit ihm das Kriegsministerium hier nur eine dienende Funktion hatten und er die Vereinbarungen nicht entschieden in den Kompetenzbereich des Außenministeriums zog. Josepha von Schönberg hat die Vorgänge so darge9 Friesen, a. a. 0., II, 296 f. Savigny vennutet, daß die neuen Bedenken aus dem Militärkabinett kamen. Die österreichischen Erzherzöge hatten auf die ihnen zuvor verliehenen preußischen Regimenter verzichtet. Die Regimenter mit preußischen Namen sollten umbenannt werden. Man vennutete eine Verbindung des in Hitzing sich aufhaltenden sächsischen Hofes mit dieser demonstrativen Geste (Schönberg-Mskr.).

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legt: am 22. September hat Podbielski den auch von Fabrice für annehmbar erklärten Text der militärischen Vereinbarung dem Außenministerium mit der Bitte zugeleitet, auf dieser Basis evtl. eine Vollmacht für weitere Verhandlungen erwirken zu wollen. Da auch Roon und Moltke den Text erhalten hätten, empfehle sich, vorher auch mit ihnen Rücksprache zu nehmen. Danach durfte Savigny vermuten, daß der Entwurf durch ihn als den Bevollmächtigten bzw. im Namen Bismarcks dem König vorgelegt werden, er aber mindestens zu einem gemeinsamen Vortrag beim König herangezogen werden sollte. Mit Recht war er verstimmt, daß der Entwurf einseitig vom Kriegsministerium dem König zugeleitet wurde. Die Erregung des Königs ihm gegenüber wäre verständlich, denn auch er wollte nicht die Herauslösung der Militärkonvention aus dem Gesamtzusammenhang der Friedensverhandlungen. Inzwischen ging dem König unter dem 24. September ein Schreiben zu, das folgendermaßen beginnt: "E. K. Maj. wagen die ehrfurchtsvoll unterzeichneten Minister der auswärtigen Angelegenheiten und des Krieges, anliegend die Gesichtspunkte alleruntertänigst darzulegen, von welchen aus die Verhandlungen hinsichtlich der zukünftigen Stellung des Königreichs Sachsen zum Norddeutschen Bunde in militärischer Beziehung zu regeln sein dürften ..." 10 Man hätte die Unterschriften Roons und Bismarcks erwarten dürfen. Tatsächlich trägt es nur Roons Unterschrift. Bismarck hatte es vor seiner Abreise nicht mehr vollzogen, und nun wurde es durch Thile mit einem kurzen Begleitschreiben dem König zugestellt. Warum fehlte Bismarcks Name? Es ist nicht anzunehmen, daß er die Unterschrift ablehnte, weil er etwa mit dem Inhalt nicht übereinstimmte. Näher liegt die Vermutung, daß er Abstand von den Belastungen der letzten Zeit suchte und die politischen wie militärischen Angelegenheiten bei Roon, Thile und Savigny in den besten Händen wähnte. So hat Roon den Weg des Dokuments über das Außenministerium nicht abgewartet, sondern es unmittelbar an den König geschickt, der dann seinerseits den Entwurf ablehnte. Roons Schreiben vom 24. September legt das Ergebnis der Vorverhandlungen zwischen Podbielski und Fabrice dar, das die Unterzeichneten (d. h. nur Roon) "von ihrem Standpunkt aus ... als annehmbar anempfehlen zu können" glauben. Für die Regelung der militärischen Fragen entwickelt es zwei Alternativen: entweder die sächsische Armee ganz aufzulösen und sie durch preußische Truppen unter preußischen Befehlshabern zu ersetzen, oder sie bestehen zu lassen, sie aber so in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Norddeutschen Bund zu bringen, "daß ihrer Verwendbarkeit zu erneuertem feindlichen Auftreten gegen Preußen von vornherein die Spitze abgebrochen wird." So wünschenswert die erstere Lösung sei, so müsse man doch mit dem Widerspruch des Königs von Sachsen rechnen; zudem spreche die politische "Notwendigkeit, nicht durch zu sehr gestei10 Text des Dokuments, Thiles Begleitschreiben sowie des Königs ausführliche Bemerkungen und Savignys Schreiben an Thile vom 29. September 1866 im Nachlaß, S. 903 ff.

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gerte Ansprüche die Situation zu erschweren", dagegen. Wolle man aber den Fortbestand der sächsischen Armee zugestehen, dann empfehle sich, "diesen Fortbestand nicht an Bedingungen zu knüpfen, welche diese Armee von vornherein zum Feinde der neuen Verhältnisse machen müsse. Man möge das Ehrgefühl des sächsischen Offizierskorps schonen, um es für Preußen zu gewinnen. Es werden sodann die Faktoren aufgeführt, die zusammen genommen ausreichende Garantien enthielten, um der "sächsischen Regierung eine mißbräuchliche Verwendung der Armee zu erschweren." Sollte der König zustimmen, so wurde er gebeten, den beiliegenden Ordre-Entwurf zur Führung der militärischen Verhandlungen mit den Sachsen auszufertigen und den General von Podbielski entsprechend zu bevollmächtigen. Die Randbemerkung des Königs vom 27. September offenbarte den Konflikt: er habe die Vorfrage noch nicht entschieden, ob die sächsische Armee überhaupt fortbestehen solle oder in die preußische aufzugehen habe. Nur im ersteren Falle wäre eine Verhandlung wie die projektierte aufzunehmen, aber auch dann nur mit den von ihm dargelegten Modifikationen. Die Besprechungen mit Fabrice hätten eine Ausdehnung angenommen, die er nicht beabsichtigte. Er habe aus den Besprechungen nur entnehmen wollen, wie sich die Regierung die künftige Behandlung ihrer Armee denke; erst dann hätten die eigentlichen Verhandlungen beginnen sollen. Statt dessen werde ihm jetzt ein fertiger Traktat vorgelegt! Diese Verhandlungen sollten erst nach Erfüllung seiner Vorbedingungen beginnen, nämlich nach der Übergabe des Königsteins und der Reduzierung der sächsischen Armee auf den Friedensfuß. Die letztere Bedingung habe er inzwischen fallen gelassen, aber was den Königstein betreffe, so sei in dem Traktat auch von dieser Vorbedingung abgegangen und die Übergabe als ein nach der Ratifizierung des Traktats zu geschehender Akt stipuliert. Er bestimme daher, "daß, bevor in irgendwelche Verhandlung eingetreten wird, die Übergabe des Königsteins jetzt bestimmt verlangt wird." Insgesamt enthalte der Entwurf zuviel günstige Bestimmungen für die sächsischen, zuviel ungünstige für die preußischen Interessen. Sachsen müsse militärisch enger an Preußen als Führungsmacht gekettet sein als die Staaten, die im Kriege Preußens Alliierte waren. Statt dessen gehe der Entwurf nicht einmal so weit wie die mit Coburg geschlossene Konvention. Sachsen, im Kriege ein Feind Preußens, werde besser behandelt als seine Freunde. Da Preußen aber mit seinen bisherigen Verbündeten noch keine Abmachungen über die militärischen Beziehungen eingeleitet habe, so könne man mit Sachsen unmöglich noch früher abschließen. Es sei daher selbstverständlich, daß ein solcher Vertrag jetzt noch gar nicht abgeschlossen werden könne. Andererseits dürfte es zu "großen Unannehmlichkeiten" führen, wenn der Abschluß eines Friedens hinausgeschoben werden sollte, bis jene Vorfragen mit Preußens bisherigen Verbündeten erledigt seien. Daraus ergebe sich, daß der Königstein sofort übergeben werde und die Friedensverhandlungen - mit Ausnahme der militärischen Fragen sofort aufzunehmen seien. Das zukünftige Verhältnis der sächsischen Armee zu Preußen könne erst geregelt werden, "wenn die militärische Zukunft der übrigen

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norddeutschen Verbündeten festgestellt sein würde." Bis dahin seien die zurückkehrenden sächsischen Truppen in preußische Garnisonen (Lausitz, Schlesien, Magdeburg) zu verlegen und nur in Dresden sei eine gemischte - preußische und sächsische - Garnison einzurichten. In diesem Sinne habe Savigny die Dinge weiter zu betreiben und alsdann mit Thile dem König zu gegebener Zeit Vortrag zu halten. Savigny, dem offenbar die straffe Leitung des Ganzen entglitten war, fühlte sich durch die Entscheidung des Königs tief getroffen. Am 29. September schrieb er an Thile: "Als mir von dem Herm Ministerpräsidenten der Auftrag zuteil wurde, die Verhandlungen mit den Bevollmächigten Sr. Maj. des Königs von Sachsen, dem Staatsminister von Friesen und dem General Hohenthai, zu übernehmen, so fand dies unter der Voraussetzung statt, daß mir die Führung der Verhandlungen ausschließlich überlassen bleiben werde." Indes sei gerade diese Einheitlichkeit in der Leitung der Geschäfte nicht mehr gegeben. Die verschiedenen Akte der Vereinbarung von einem und demselben Geiste getragen zu sehen, sei kaum noch möglich, "wenn nicht der politische Teil der Verhandlungen, für welchen eine bestimmte Basis noch gar nicht einmal festgestellt war, den bereits formulierten Bestimmungen in dem Abkommen über die Militäreinrichtungen subordiniert bleiben soll." Die sich für ihn ergebende Konsequenz lag nahe: "E. Exz. werden es sonach gerechtfertigt finden, wenn ich unter den obwaltenden Umständen das Gefühl nicht mehr bewahren kann, mit voller Autorität für die Leitung der Verhandlungen mit Sachsen ausgestattet zu sein, und daß ich auch Sr. Maj. dem Könige gegenüber nicht wohl die Verantwortung übernehmen kann für einen günstigen und ungestörten Verlauf gerade dieser Verhandlungen. Dies veraniaßt mich zugleich, an E. E. als den Leiter des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten das gehorsame Ersuchen zu richten, mich von den weiteren Verhandlungen mit den kgl. sächsischen Bevollmächtigten geneigtest zu entbinden ..." Savigny hatte schon am 25. September Friesen gegenüber die Absicht geäußert, den König um die Entbindung von dem Auftrag zu bitten bzw. den Auftrag nur beizubehalten, wenn die Militärs aus den Verhandlungen ganz herausgehalten würden, d. h. ihm nur eine Kommission militärischer Sachverständiger als Berater zur Seite stünde. Indes entschied der König noch am gleichen Tage, dem 29. September, daß er "die Friedensverhandlungen sofort wieder aufzunehmen (habe), die anband der militärischen Besprechungen gar nicht hätten cessieren sollen, so daß also auch der Vorschlag, die p. v. Philippsborn und Delbrück mit den Spezialverhandlungen an Stelle des p. v. Savigny zu beauftragen, nicht angängig ist. Aus dem Gesagten folgt, daß ich auf das Urlaubsgesuch des p. v. Savigny nicht eingehen kann und nur hoffe, daß sein Gesundheitszustand darunter nicht leiden möge." 11 11 Der König an Thile, 29. September (Nachlaß, S. 906). Savigny hatte am gleichen Tage Thile vorgeschlagen, für die Regelung der finanziellen und anderer die Innenpolitik

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Es bleibt festzuhalten: es ist in erster Linie der König gewesen, der die Abfolge der Verhandlungen umstieß und Savigny unter Zurückstellung der Militärkonvention mit der weiteren Führung der Verhandlungen beauftragte. Der Schatten, der auf diese erste Phase der Verhandlungen fiel, erreichte damit auch nicht diesen. Er wußte sich von jedem Vorwurf frei, als er jetzt die eigentlichen Friedensverhandlungen ansteuerte. Enttäuscht war Friesen, der sozusagen mit leeren Händen zu seinem König zurückreiste. Er hatte nichts Verbindliches über die preußischen Forderungen zu berichten. Dann hat auch die Abwesenheit Bismarcks zu dieser mindestens mißverständlichen Lage beigetragen, sonst wäre die einheitliche Leitung der Verhandlungen wohl nie ernsthaft gefährdet gewesen - am wenigsten von den Militärs, denn gerade ihnen gegenüber hat Bismarck stets den Primat des Politischen durchgesetzt. Aber Bismarck war nicht erreichbar. Ihn in der Abgeschiedenheit von Putbus zu behelligen, durfte auch Savigny nicht wagen. Andererseits hatte er gerade seine Vorstellungen zu verwirklichen, und da diese in manchen Punkten von denen des jederzeit zu informierenden Herrschers abwichen, war Savignys Stellung von Anfang an ungemein schwierig. Aus Dresden zurückgekehrt, traf Friesen am 2. Oktober wieder mit Savigny zusammen. Hier wurde ihm der neue modus procedendi auseinandergesetzt: die definitive Regelung der militärischen Fragen waren bis zu den Verhandlungen über die Kriegsverfassung des Norddeutschen Bundes zurückzustellen. Jetzt seien, so Savigny zu Friesen, nur Übergangsbestimmungen auszuhandeln; vorrangig seien die allgemeinen Friedensbedingungen, etwa soweit sie die Kriegskosten und den Eintritt in den Norddeutschen Bund beträfen. Das vorschnelle "sächsische Triumphgeschrei" über den Konventionsentwurf und vor allem das Verhalten Beusts, der nach seinem Ausscheiden aus dem Amt an den süddeutschen Höfen für eine gegen Preußen gerichtete Politik zu werben suchte, veranlaßten Savigny zu der Bemerkung: "Sie glauben gar nicht, was dieser Mann Ihnen schadet! Warum kann er aber auch nicht einmal ein paar Wochen ruhig sein und still sitzen?" 12 Dem konnte auch Friesen nicht widersprechen. Konnte Beust nicht doch noch Vertrauensmann des Königs und Friesen nur eine vorgeschobene Figur sein? berührender Fragen die Ministerialdirektoren Philippsbom und Delbrück heranzuziehen. - Max von Philippsbom (1815 - 1885) war lange Leiter der handelspolitischen Abteilung im Außenministerium. Rudolfvon Delbrück (1817 -1903) war seit 1859 Abteilungsleiter im Handelsministerium, 1867 wurde er Präsident des Bundeskanzleramtes, 1871/76 des Reichskanzleramtes. Im Handelsministerium hatte er vor allem die preußische Zollvereinspolitik nach 1850 maßgeblich mitbestimmt. 12 Schönberg-Mskr. Josepha von Schönberg nennt den damaligen sächsischen Gesandten in London Karl Friedrich Graf Vitzthum von Eckstädt, der sich wiederholt voreingenommen über Savigny geäußert hatte, und zitiert ihn: "Am schlimmsten für uns ist die Krankheit des Grafen Bismarck ... Mit ihm würde es viel leichter gewesen sein, sich zu verständigen als mit dem charakterlosen, schwerfälligen und kleinlichen Savigny, der zwar den Vortrag bei seinem Könige jetzt hat, aber ohne allen Einfluß ist." (Zitiert nach Vitzthums Erinnerungsbuch, London / Gastein / Sadowa, S. 382).

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Die Friedensverhandlungen brauchen hier nur soweit verfolgt zu werden, wie es die Darstellung von Savignys Lebensweg verlangt. Der Vertrag ist der letzte der damals abgeschlossenen Verträge. Er kam erst nach zähen Verhandlungen zustande. Das überrascht um so mehr, als Preußen in Nikolsburg und Prag auf territoriale Erwerbungen verzichtet hatte. Am 4. und 6. Oktober fanden die einleitenden Besprechungen im Außenministerium statt. Hierbei ging es noch nicht ums Detail. Friesen und Hohenthai wurde deutlich gemacht, daß es auch im sächsischen Interesse läge, die militärischen Abmachungen bis zum Abschluß der Kriegsverfassung zurückzustellen. Es wurde auch schon die Höhe der Kriegsentschädigung genannt: zehn Millionen Gulden sollten es sein. Auch anderes wie die Regelung des Post- und Telegraphenwesens kam schon zur Sprache. Friesen gewann den Eindruck, daß hier nichts Unannehmbares verlangt wurde. Es gebe in dem Entwurf, so schrieb er seinem König, keinen Punkt, "der nicht schließllich in der einen oder anderen Form zugestanden werden müßte, da der Friedensschluß nicht daran scheitern könne." Zwar gab es noch mancherlei Querelen zu überwinden. Die preußische Militärverwaltung mochte zuweilen streng erscheinen. Friesens und HohenthaIs Beschwerden fanden in der Regel bei Savigny kein günstiges Echo. Die Dislozierung der sächsischen Truppen nach Preußen führte immer wieder zu Kontroversen. Beusts schnelle Berufung zum Leiter der österreichischen Politik war Anlaß zu weiterem Mißtrauen. Sollte er in der Lage sein, die ihm bekannte Stimmung an den europäischen Höfen gegen Preußen auszunutzen? Sollte Sachsen ihm hierin folgen? Und dann stand immer wieder die Höhe der Kriegskontribution im Raum. Savigny kannte die wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse Sachsens. In keinem Bundesland war die Steuerkraft so stark gewesen wie hier. Friesens Argument, daß Sachsen ohnehin nach seinem Beitritt zum Norddeutschen Bund erheblich größere Militärlasten werde übernehmen müssen, war für Savigny belanglos. Wie Preußen, so müsse auch Sachsen seinen Anteil an der Wehr- und Verteidigungskraft des Norddeutschen Bundes übernehmen, argumentierte er. Er lehnte auch einen Vergleich mit den von Friesen beschworenen Süddeutschen ab: Baden und Württemberg lagen außerhalb des demnächstigen Bundes, Bayern und Hessen-Darmstadt hatten Gebietsabtretungen hinnehmen, Sachsen aber hatte kein territoriales Opfer bringen müssen. Was lag näher, als dafür eine angemessene Geldforderung zu erheben? "Wollen Sie statt dessen lieber Land abtreten," so Savigny zu Friesen, "dann werde ich alle meine Forderungen sehr wesentlich ermäßigen oder ganz zurücknehmen, dann werden wir uns über alles andere sehr bald einigen." Ob ernst gemeint oder nicht, Friesen war nicht autorisiert, den Gedanken weiter zu verfolgen. Am 14. Oktober traten die Verhandlungen in ihr entscheidendes Stadium. Savigny legte seinem Kontrahenten den Friedensvertragsentwurf sowie den Entwurf eines Protokolls über die Ordnung der sächsischen Militärverhältnisse bis zur Organisation des Norddeutschen Bundes vor. Er tat dies in ultimativer Form: er verlangte eine sofortige gezielte Diskussion und eine unmißverständliche Erklärung zu den einzelnen Punkten, wobei er sich darauf bezog, schon am

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folgenden Tage seinem König darüber Vortrag halten zu müssen. Für weitschweifige Abweichungen war jetzt keine Zeit mehr, wollte man nicht befürchten, daß aus der Umgebung des Königs Kräfte nach vorn drängten, die womöglich einen ganz anderen Frieden mit Sachsen wünschten. Eine Verzögerung konnte Sachsen zu einem späteren Zeitpunkt zwingen, unter noch ungünstigeren Bedingungen abzuschließen. Savigny seinerseits konnte nicht ausschließen, daß ein anderer als er die letzte Verhandlungsphase zu übernehmen hätte, falls es ihm nicht gelang, dem Wunsch des Königs gemäß das Vertragswerk schnell unter Dach und Fach zu bringen. Friesen und Hohenthai hatten somit nicht einmal Gelegenheit, neue Instruktionen aus Dresden einzuholen. Savigny beharrte darauf: falls er dem König am nächsten Tag nicht Bericht erstatten und der Vertrag dann nicht von beiden Seiten paraphiert werden könne, müßten die Verhandlungen abgebrochen und einstweilen auf unbestimmte Zeit vertagt werden. Der Kriegszustand bliebe dann vorerst bestehen. Der König wolle übermorgen eine Reise antreten, und auch er, Savigny, bedürfe dringend der Erholung. Lediglich mit dem General von Fabrice die militärischen Fragen zu besprechen, sollten die Unterhändler noch Gelegenheit haben. Damit blieben Friesen und Hohenthai auf sich gestellt. Noch einmal versuchen sie, ihre Einwendungen zu formulieren; Fabrice legt zu dem militärischen Komplex einige letztlich unerhebliche Änderungen vor. Ein echtes Zugeständnis durften sie von Savigny nicht mehr erwarten. "Ich kann mich meinerseits an nichts mehr gebunden erachten," schreibt ihm Savigny, "als was ich heute nach E. Exz. und des Grafen Hohenthai eigenen Wunsch modifiziert vorzulegen die Ehre hatte. Sollten sich E. Exz. hiermit nicht mehr einverstanden erklären, so darf ich nicht länger anstehen, mir weitere Befehle für eventuelle Fortsetzung der Verhandlungen auf einer ganz neuen Basis zu erbitten." 13 Am folgenden Morgen, es ist der 15. Oktober, erscheint Friesen mit beiden Dokumenten noch einmal bei Savigny. In mehrstündiger, zäher Diskussion gelingt es ihm, einige unwesentliche Modifikationen durchzusetzen. "Wir verständigten uns schließlich in allen Punkten," schreibt Friesen. Noch am selben Tage wird Savigny vom König empfangen, der die Texte mit geringfügigen Änderungen genehmigt, die Fabrice dann schnellstens seinem in Karlsbad weilenden König zuleitet. Am 18. Oktober ist es noch einmal zu einer Erörterung nichtmilitärischer Fragen des Vertrages gekommen, so über die Höhe der Kriegsentschädigung, die Abtretung eines Teils der Dresden-Görlitzer Eisenbahn u. a. m. Ergebnislos wie diese Unterredung blieb auch eine weitere Begegnung vom 20. Oktober. Savigny habe ihm eine letzte Offerte zu machen, hieß es; lehne Friesen sie ab, so sei er angewiesen, die ferneren Verhandlungen abzubrechen. Er verzichte 13 Schönberg-Mskr. Josepha von Schönberg folgt hier im wesentlichen den Erinnerungen Friesens.

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auf Zugeständnisse in Fragen der Post und gewähre für die abgetretene Eisenbahn eine Million Taler; aber bei der Kriegsentschädigung und der Abtretung des Telegraphen müsse es bleiben. Savignys Frage, ob er ermächtigt sei, einer Landabtretung zuzustimmen, die er mit einer wesentlichen Herabsetzung der Kriegsentschädigung honorieren könne, war im Grunde wohl nicht ernst gemeint. Friesen lehnte jedenfalls kategorisch ab. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den harten Bedingungen zuzustimmen. Als nach der Zustimmung König Wilhelms am 21. Oktober auch die Zustimmung König Johanns eintraf, war man am Ziel. Noch am gleichen Tage wurde im Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten der Friedensvertrag unterzeichnet. 14 Damit war Savigny in allen wesentlichen Punkten innerhalb des Rahmens verblieben, der bei den Ministerialberatungen vom 4. Oktober abgesteckt worden war. Ihm war bewußt, daß es Kräfte gab, die wesentlich strengere Forderungen gewünscht hätten. Indes hätte ein Weiterschwelen des unsicheren Zustandes neue Gefahren mit sich bringen können. Am Ende sollte doch der Gegner von gestern auch der Verbündete von morgen sein. Die Bilanz ziehend, schrieb der König an Savigny: "Die erfolgreiche Art, mit welcher Sie die schwierigen Friedens Verhandlungen mit den verschiedenen deutschen Staaten geleitet haben, so daß Wir heute den Friedens Dank Gottesdienst feiern können, verpflichtet Mich zur größten Anerkennung Ihrer von Neuem bewährten Geschäftsbefahigung. Das große Verdienst, welches Sie sich jetzt erwerben, verpflichtet Mich zu einer neuen sichtbaren Anerkenntnis, zu welchem Ende Ich Ihnen das Große Comthur Kreuz Meines Hohenzollernschen Haus Ordens verleihe, deren Insignien hierbei folgen. Ihr dankbar wohlgeneigter König Wilhelm." 15 Bismarck freilich vermißte in dem Vertrag zweierlei: 1) "daß der Präsenzstand der sächsischen Truppen von unserem König jederzeit abhängt" und 2) "daß wir jederzeit in Sachsen einrücken und Besatzung halten können." Diese Bestimmungen seien nötig, ließ er sich aus Putbus vernehmen; man werde sie nun in der Bundesverfassung durchsetzen müssen. Es wäre leichter gewesen, wenn es mit Sachsen ausdrücklich stipuliert worden wäre. 16 Bismarck hat später gegenüber 14 Josepha von Schönberg berichtet, daß Savigny insgesamt dreimal ventiliert hat, statt der Kriegskosten einer Landabtretung zuzustimmen. Dabei zielte er vermutlich auf Leipzig und seine nähere Umgebung, vielleicht aber auch auf die südliche Lausitz mit Zittau und Löbau. Friesen lehnte ab. 15 Der König an Savigny, 11. November 1866 (Nachlaß, S. 912 f.). In seinem Dankschreiben bezeichnet Savigny die Worte des Königs als ein unvergeßliches Denkmal der huldreichen Anerkennung seines königlichen Herm, der sich seiner als eines Werkzeuges zur Herstellung des Friedens bedient habe. Nach der unleserlichen Handschrift des Entwurfs scheint es, daß er den Namen Bismarcks auch hier hatte einsetzen wollen, daß er es dann aber - wohl als dem König gegenüber unangemessen - unterließ. 16 Diktat für Keudell (Nachlaß, S. 912). Später, unter dem Eindruck der Kulturkampfereignisse, hat Bismarck den Vertrag noch kritischer beurteilt: "An dem bin ich nicht schuld. Ich lag damals todkrank in Putbus. Den hat Savigny zu verantworten, der als Ultramontaner den Dresdener Hof nach Kräften schonte und ihnen mehr militärische

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Sachsen eine versöhnlichere Haltung eingenommen. Trotz seiner harten Verhand lungsführung hat es zwischen Savigny und Friesen keinerlei Mißhelligkeiten gegeben. Ihr gegenseitiges Verhältnis blieb von menschlicher Wärme geprägt. Auch die beiden Herrscherhäuser sind sich, wie der Besuch des Königs und des Kronprinzen in Berlin bezeugt, durchaus freundschaftlich begegnet. Die Friedensverhandlungen mit Sachsen stellen im dienstlichen Wirken Savignys zweifellos den Höhepunkt dar. Hier bewegt er sich ganz in seinem eigenen Revier. Der Dank seines Königs beweist ihm ein Maß an Vertrauen, das ihm zugewachsen war. Bismarcks kritische Bemerkungen bleiben ihm zunächst noch unbekannt. Beim Vertragsabschluß kann er nicht den Eindruck haben, als hätte sich ein Schatten zwischen beide gelegt.

Selbständigkeit ließ, als gut war. Als ich oberflächlich von der Stipulation hörte, gratulierte ich ihm; als ich mir aber die Paragraphen genauer ansah, nahm ich meine Gratulation zurück (Nachlaß, S. 812, Anm. I).

Die Verfassung des Norddeutschen Bundes und der Bruch mit Bismarck Savignys Mitarbeit bei der Fonnulierung der Verfassung des Norddeutschen Bundes erfolgte zunächst unter glücklichen Auspizien. Außer Bismarck und Thile war keiner so mit der Vielschichtigkeit des Problems vertraut wie er. Er kannte die Empfindlichkeiten an den Höfen der Mittel- und Kleinstaaten und hatte als Bundestagsgesandter die WiderspTÜchlichkeit der deutschen Frage unittelbar miterlebt. Er wußte sich auch auf den Ministerpräsidenten, seinen Freund, einzustellen. Sein Verhältnis zum König war hannonisch und vertrauensvoll wie eh und je. Seit dem badischen Feldzug genoß er sein besonderes Wohlwollen, das in fast regelmäßigen Besuchen in Koblenz, in die auch seine Gemahlin einbezogen wurde, einen denkwürdigen Ausdruck fand. In einer späteren Aufzeichnung von Marie's Hand heißt es: "Wir waren im Herbst 1866 und Winter 1867 sehr oft zum Tee der Königin Augusta, zu der Savigny schon von Baden her in näheren Beziehungen stand. Dort war auch immer der König, der sich gern von Savigny über den Fortgang der Verhandlungen und Arbeiten Vortrag halten ließ. Ich hatte den Eindruck, daß der König diese Vorträge und die Art von Savigny, die Geschäfte zu behandeln, sehr gern hatte." Manches spricht dafür, daß Savigny sich selbst erboten hat, sich mit den Vorarbeiten der Verfassung zu beschäftigen. Der Gedanke lag nahe. Auch Bismarck mußte im femen Putbus daran gelegen sein, daß die Dinge vorangetrieben wurden. Als Savigny nach dem Abschluß der Friedensverhandlungen zu einem gemeinsamen Essen mit den Unterhändlern der kontraktierenden Staaten einlud, nannte er in einem kurzen Schreiben an ihn sich "seinen alten Freund und derzeitigen Handlanger." Deutlicher konnte er Bismarcks Führerschaft in der Behandlung aller anstehenden Fragen kaum zum Ausdruck bringen. Die betreffende Kabinettsordre, durch die er mit den Vorarbeiten beauftragt wurde, ist undatiert, darf aber etwa auf Anfang November angesetzt werden. Es ist nicht recht begreiflich, warum Bismarck, wenn er schon wochenlang abwesend war, nicht die Konturen der auszuarbeitenden Verfassung vorher festgelegt hat. Einen so vorgegebenen Rahmen dann zu füllen, wäre keine unlösbare Aufgabe gewesen. Vennutlich waren seine Vorstellungen noch nicht ausgereift, so daß die nachgeordneten Räte weitgehend auf sich selbst angewiesen waren. Möglicherweise hat Bismarck seine Ansichten nicht vorschnell, d. h. vor seiner Rückkehr nach Berlin, preisgeben wollen, um sich die letzte Entscheidung vorzubehalten. Er ließ sich nicht gern in die Karten sehen und war stets darauf bedacht, das Kraftfeld seiner Gedanken vor unerbetenen Indiskretionen zu schützen. Er wußte von dem Vertrauen, das Savigny beim König genoß, und von den Beziehun-

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gen, die das Ehepaar zum Hof unterhielt. Seine Aufmerksamkeit war dabei vor allem auf Augusta gerichtet, und gerade deren Wohlwollen hatte Savigny des öfteren erfahren. Ihm war bekannt, daß der König ihn aufgefordert hatte, mit der Ausarbeitung zu beginnen und ihm zu gegebener Zeit darüber vorzutragen. Zu Keudells Aufgaben gehörte es, den Ministerpräsidenten von all diesen Vorgängen zu unterrichten. Dieser Umstände muß man sich erinnern, will man das allmählich aufkeimende Mißtrauen gegen Savigny verstehen. Es war Bismarck ein unterträglicher Gedanke, untätig zusehen zu müssen, wenn andere im Zentrum der Macht Entscheidungen anbahnten, die sein ureigenstes Werk betrafen. Sein Mißtrauen ist nicht plötzlich erwacht. In seinem Putbuser Diktat vom 22. Oktober heißt es, daß er Savigny sehr dankbar wäre, wenn er ihm seine Ansichten über die Bundesverfassung mitteilen wollte. I Er fügt hinzu, daß der König dabei nicht vorzeitig "ins Gefecht gezogen" werden möge, da sonst Entwicklungen eingeleitet werden könnten, die hernach schwer wieder aus der Welt zu schaffen seien. Die Zeit der Wirksamkeit von derlei Einflüssen müsse möglichst kurz bemessen werden. "Wir Fachleute," so heißt es weiter, "müssen unter uns einig sein, bevor die Sache zur Entscheidung gestellt wird, sonst verliert sich nachher der Meinungsstreit ins Bodenlose." Für den Herbst 1866 ist ein nicht näher datierter, noch unausgereifter Verfassungsentwurf, bestehend aus zehn Artikeln, von Savignys Hand anzusetzen. 2 Danach sollte das Bundesgebiet aus denjenigen Staaten bestehen, die schon dem Deutschen Bund angehört hatten, mit Ausnahme der österreichischen und niederländischen Landesteile. Die gesetzgebende Gewalt sollte vom Bundestag in Gemeinschaft mit einer periodisch einzuberufenden Nationalvertretung ausgeübt werden. Ausführlich werden die militärischen Fragen abgehandelt. So sollte die Landmacht des Bundes aus einer Nord- und einer Südarmee bestehen. In Krieg und Frieden sollte der König von Preußen "Bundesoberfeldherr der Nordarmee", der König von Bayern diese Stellung für die Südarrnee einnehmen. Die Beziehungen zu den deutschen Landesteilen Österreichs sollten mit dem zunächst einzuberufenden Parlament durch besondere Verträge geregelt werden. Der Entwurf ist nie wieder aufgegriffen worden. Die Arbeiten an den Vorentwürfen wurden von verschiedenen Seiten aufgenommen. Max Duncker hat in Bismarcks Auftrag einen solchen Entwurf ausgearbeitet, der freilich dessen vorbehaltlosen Beifall nicht finden sollte, da er ihm "zu zentralistisch ... für den dereinstigen Beitritt der Süddeutschen" vorkam. Robert Hepke, der aus Posen stammende, in der Paulskirche als Presseagent tätig gewesene, jetzt als Wirklicher Geheimer Legationsrat im Außenministerium wirkende Philologe, hatte es bei der Niederschrift seines Entwurfs "Bundesakte des I 2

Bismarck, Diktat, Putbus, 22. Oktober 1866 (Nachlaß, S. 911). Ein Exemplar dieses elfseitigen Entwurfs befindet sich im Familienarchiv.

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Norddeutschen Bundes" etwas einfacher. Inzwischen hatte nämlich Bismarck selbst am 19. November in Putbus seine "Unmaßgeblichen Ansichten über Bundesverfassung" diktiert; sie waren u. a. auch für Savigny gedacht, der seinerseits gerade am Tage zuvor einen aus neunzehn Artikeln bestehenden Entwurf fertiggestellt hatte, den er nun aber nach dem Vorliegen des Bismarck'schen Diktats kassierte bzw. mit Hepkes Unterstützung zu einem neuen Text umarbeitete. Bismarcks "Unmaßgebliche Ansichten", in denen er, abweichend von allen früheren Äußerungen, bei der Stimmenverteilung nicht an den engeren Rat der Bundesversammlung, sondern an das Plenum anknüpfte und entsprechend dem neuen territorialen Besitzstand für Preußen 17 von insgesamt 43 Stimmen reklamierte, enthielt auch eine für Savigny wohlklingende Bemerkung, daß nämlich "unser bisheriger Bundestagsgesandter das Präsidium führen und vielleicht Mitglied des Staatsministeriums sein solle." Jetzt galt es, Hepkes Entwurf auf der Basis der "Unmaßgeblichen Ansichten" aus- und umzugestalten. Das ist dann auch durch Hepke und Savigny geschehen. Der Entwurf umfaßte jetzt neunzehn Artikel, wobei die Artikel vier und fünf "über die Bildung des Bundestages auf Grund des Diktats des Herrn Ministerpräsidenten vom 19. November" als Varianten hinzugefügt wurden, desgleichen eine Variante des Artikels 15, der sich mit der Organisation des Heeres, der Stellung des Oberfeldherrn, den Bundeskontingenten etc. befaßte. Nachdem noch zwei weitere Äußerungen Bismarcks vom 21. und 28. November über das Indigenat sowie über Vergehen gegen Verfassung und Existenz des Bundes zu berücksichtigen waren, umfaßte das ganze Dokument jetzt zwanzig Artikel. Am 1. Dezember hat Lothar Bucher diesen "Savigny'schen Verfassungsentwurf' Bismarck zugeleitet. Es handelte sich dabei mithin 1) um die Schlußredaktion der Verfassung in 20 Artikeln, 2) um die von Bucher formulierten begleitenden "Motive" und 3) um die Neuredaktionen der Artikel vier und fünf sowie die Variante zu Artikel 15. 3 Gedrängt vom König, ihm den Verfassungsentwurf vorzulegen, geleitet von dem Gefühl, dem Ministerpräsidenten nicht vorgreifen zu dürfen, sondern seine Rückkehr abwarten zu müssen, hat sich Savigny für das letztere entschieden: es sei Bismarcks Sache, das Werk dem Monarchen vorzulegen. Am 1. Dezember kehrte Bismarck nach Berlin zurück. Wenn er schon bald gegen Savignys Entwurf mancherlei Einwendungen erhob, so gibt es dafür zwei 3 Entwurf der Verfassung des Norddeutschen Bundes (20 Artikel): "Motive" zu den einzelnen Artikeln nebst ausführlicher "allgemeiner" Einleitung in acht Spalten; neue Fassung der Artikel 4 und 5; Variante zu Artikel 15 (sämtlich im Familienarchiv). Über den zwischenzeitlichen Stand der Beratungen vgl. den Brief des Lübecker Senators Th. Curtius an den Ministerresidenten der Hansestädte in Berlin, Dr. Krüger, vom 23. November. Savigny hatte eine mehrtägige Erholungsreise nach Hamburg und Lübeck unternommen, von der er am 23. November nach Berlin zurückkehrte. In Lübeck hatte er dem Senator Dr. Curtius einen Besuch gemacht (Nachlaß, S. 913 f.). Einige der hier angezogenen Äußerungen Bismarcks sind jetzt auch leicht zugänglich in: "Werke in Auswahl", Bd. 4, S. 7 ff. Zur Genesis der Verfassung des Norddeutschen Bundes ist das große Werk von Otto Becker unverzichtbar.

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Erklärungen: Bismarck hatte seine Vorstellungen sowohl nach ihrem materiellen Inhalt als auch nach den Motivierungen seiner Pläne nicht mit letzter Prägnanz enthüllt, vielleicht nicht einmal enthüllen wollen. Andererseits hat Savigny sich nicht bis in die letzten Tiefen der Bismarck'schen Vorstellungen hineinzudenken vermocht. Während er noch gewisse tradierte Elemente des alten Bundes übernehmen möchte, sofern nur für den Bund ein Höchstmaß an Sicherheit verbürgt war, hat Bismarck doch an eine Weiterentwicklung seiner bisherigen Bundespolitik gedacht - alles vorrangig auf sein Ziel ausgerichtet, eine möglichst unaufdringliche, phychologisch fein berechnete Herrschaftsform Preußens über das übrige Deutschland zu errichten. Otto Becker hat die Unterschiede und Gegensätzlichkeiten zu dem Savigny'schen Verfassungsentwurf offengelegt und kommt zu dem Schluß, daß hier bereits eine der Ursachen für die bald einsetzende Entfremdung zu suchen ist. Er lotet die Meinungsunterschiede viel tiefer aus, als sie sich dem Leser in einer ersten Überprüfung darstellen. Ihm entgeht nicht, daß Savigny in manchen Fragen wie etwa der noch nicht endgültig geklärten Behandlung Sachsens sich erheblich der Auffassung des Königs genähert hat, daß Savigny in anderen Punkten seinen Putbuser Anregungen nicht vorbehaltlos gefolgt ist, wie Bismarck es beispielsweise in der Frage der Rekrutierung der Armee gewünscht hatte; er übersieht nicht, daß auf dem Gebiete der bundeseigenen Verwaltung Savigny im Gegensatz zu Bismarck den Einzelstaaten erheblich mehr Kompetenzen einräumen möchte; er vermerkt, daß Savigny der dem Bundestag zur Seite stehenden Bundes-Admiralität nicht nur die Leitung der Angelegenheiten der Kriegsflotte, sondern auch die "obere Leitung der dem Bunde zugewiesenen Angelegenheiten der Handelsmarine und des Bundes- Konsulatswesens" anvertrauen möchte, worin Bismarck leicht eine Begrenzung der Kompetenzen des preußischen Außenministeriums sehen mußte. 4 Nach Beckers Überzeugung leiten sich diese Mißverständnisse nicht aus einem bewußten Widerstand gegen Bismarcks Verfassungskonzept ab, sondern wohl daraus, daß Savigny dieses nicht mit letzter Klarheit durchschaut hat. Daß diese Erkenntnis infolge der nicht deutlich konturierten Pläne Bismarcks nur schwer zu gewinnen war, hat im Ministerpräsidenten wohl die Ansicht aufkommen lasen, in Savigny nicht auf jeden Fall und für alle Zukunft einen Depositär seiner eigenen Vorstellungen zu haben. Das war nicht von Anfang an so. Als Savigny, einer Aufforderung Bismarcks folgend, am 30. Oktober zur Berichterstattung nach Putbus reisen wollte, hat Gräfin Bismarck durch Keudell diesen Besuch absagen lassen, weil sie zu viele Stunden geschäftlichen Verkehrs mit Savigny befürchtete. Das war sicher ohne Vorwurf gemeint. "Streicheln Sie Charles etwas von mir," hatte sie scherzend hinzugefügt, "damit er nicht übelnehmende Magenschmerzen be4 Die auffallend ausführliche Behandlung des Schiffahrts- und Marinewesens (von 22 Spalten des Savigny'schen Entwurfs befassen sich sechs und eine halbe Spalte allein damit) führt Frau von Schönberg auf den Einfluß des Prinzen Adalbert von Preußen zurück, mit dem Savigny in einem auf gegenseitigem Vertrauen beruhenden Gedankenaustausch stand.

15 Real

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kommt." Sie wußte, wie ausführlich Savigny sein konnte, und war darauf bedacht, unnötige Anstrengungen von ihrem Mann fernzuhalten. Etwa zur gleichen Zeit hatte Gräfin Bismarck sich in einem weiteren Brief an Keudell vertrauensvoll geäußert: "Savigny danken Sie bitte sehr für seinen freundlichen Brief und sagen ihm, Bismarck hätte sich recht gefreut über seine Nachrichten und gemeint: Savigny ist jetzt ein wahrer Schatz für mich." 5 Noch in den ersten Dezembertagen hält diese freundliche Atmosphäre an. Als Savigny davon spricht, daß er zur Regelung verschiedener Privatangelegenheiten wie auch zur Auflösung seines früheren Hausstandes nach Frankfurt zu reisen gedenke, äußert Bismarck die Absicht, ihm, gemeinsam mit ihm selbst, die Verhandlungen mit den nach Berlin entbotenen deutschen Ministern zu übertragen. Er verbindet damit "so freundschaftliche und ehrende Äußerungen", daß Savigny sofort zusagt und nun erwartet, zu einer eingehenderen Besprechung der festzustellenden Vorlagen aufgefordert zu werden. Dennoch tritt gerade in diesen Tagen die Entfremdung erstmalig hervor. Am 7. Dezember erhielt Savigny eine Mitteilung Lothar Buchers, nach der die Redaktion eines neuen Entwurfs in Angriff genommen sei. Die nicht erhaltenen Äußerungen Bismarcks vom gleichen Tage ließen bei ihm erhebliche Zweifel an seiner jüngsten Zusage aufkommen. So schreibt er ihm am 8. Dezember "Ihre gestrigen Äußerungen ... haben mich in dieser Voraussetzung irre gemacht und mich zur Annahme veranlaßt, daß Sie selbst eine neue Bearbeitung der Verfassungsvorlage allein in Angriff genommen haben, und sonach ist mein Zweifel ein sehr gerechtfertigter, ob es überhaupt noch in Ihrer Absicht liegt, diese Angelegenheit speziell mir anzuvertrauen."6 Auch der betont freundliche Fortgang des Briefes kann Savignys Enttäuschung nicht verbergen: " ... es ist ... lediglich der Wunsch, meinerseits in der Sache nichts zu versäumen, und dann auch dem Könige, welcher meine Beschäftigung mit der Verfassungsfrage veranlaßt hat, wenn ich mich bei ihm vor meiner Abreise abmelde, sagen zu können, weshalb ich ohne Pflichtverletzung im gegenwärtigen Augenblicke an meine Privtangelegenheiten denken darf. Bei Ihrer Antwort, verehrter Chef und Freund, bitte ich dringend, lassen Sie sich nur durch das sachliche Interesse bestimmen und fürchten Sie ja nicht, mich durch irgend eine Änderung Ihrer früheren Pläne zu verletzen. Ich darf es wohl sagen, weil ich Ihre persönlich so freundschaftlichen Gesinnungen für mich kenne und sie auf das herzlichste erwidere. Ihr treu ergebener Freund Savigny." Man wird nie mit letzter Sicherheit sagen können, wo die tiefsten Gründe der Entfremdung zu suchen sind. Vielleicht sind Einflüsse aus dem Ministerium hinzugekommen, wo man in Savigny wohl einen unerwünschten designierten Minister witterte. Näher liegt, daß gerade damals das Ehepaar Savigny häufiger 5 Keudell, a. a. 0., S. 319. 6 Savigny an Bismarck, 8. Dezember 1866 (Nachlaß, S. 916 f.). Ein etwas abweichender Text im Bismarck-Jahrbuch, VI, S. 47 f.

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beim abendlichen Tee zu Gast im Schlosse war. Königin Augusta hat mit Bekundungen ihres besonderen Wohlwollens gegenüber beiden Savignys nicht gespart. Wer das als nicht spannungsfrei zu bezeichnende Verhältnis Bismarcks zur Königin kennt, darf vermuten, daß Bismarck hier eine Kraft sich entwickeln sah, die schon bald seine eigenen Kreise stören konnte. Es wäre völlig abwegig, Savigny hier etwa in der Rolle eines Frondeurs zu vermuten. Aber von Bismarck weiß man, daß er fremde Einflüsse von der Gestaltung seiner Politik stets fernzuhalten gesucht hat. Savigny drängte sich das schmerzliche Gefühl auf, von seinem Freunde bei der Klärung einer geschäftlich bedeutsamen, ihm so vertrauten Angelegenheit beiseitegestellt zu sein. Otto Becker weist auf die Folgen hin, die sich schon in diesem Stadium für Savigny ergeben konnten: daß Bismarck ihm nicht einmal den Schein einer Mitarbeit zugestand, lasse darauf schließen, "daß nun auch sein Plan, ihn zum Präsidialgesandten zu machen, in Frage gestellt war. War dies der Fall, dann mußte schon früher verwirklicht werden, was die Putbuser Gedanken erst von einer späteren Entwicklung erwarteten, die Verbindung der preußischen Ämter Bismarcks mit dem Amt des Bundesministers."7 Wir wissen nicht genau, wie Bismarck Savignys Brief vom 8. Dezember aufgenommen hat. Manches spricht dafür, daß er fühlte, gegen ihn etwas zu weit gegangen zu sein. Der Briefwechsel mit Thile dürfte diese Deutung erlauben. Konnte dieser ihm Aufschluß geben über die Ungewißheit, die in dem Briefe zum Ausdruck gekommen war? Offenbar hatte Thile den Ministerpräsidenten angetroffen, als dieser gerade Savignys Brief erhalten hatte. Bismarck war anscheinend ziemlich irritiert, und Thile hat in einer nicht erhaltenen Zuschrift diesen Eindruck an Savigny weitergegeben. Nur so scheint dessen Brief vom gleichen Tage an Thile verständlich. 8 "Sagen Sie unserem Chef," so schrieb er ihm am 9. Dezember, "daß mir allerdings die Sache am Herzen liegt, um die es sich handelt, dann aber auch der Mann, welchem die große Sache zunächst anvertraut ist und den ich seit dreißig Jahren meinen Freund nennen kann, und daß mir infolgedessen der Gedanke, ihm eine Verlegenheit bereiten zu können, ganz fern geblieben sein muß, als ich meine Anfrage an ihn richtete, ob er mir die Verhandlung über die Verfassung, auch wenn er mit meinem Entwurf nicht zufrieden und in wesentlichen Punkten nicht einverstanden sei, dennoch glaube anvertrauen zu sollen. Daß ich ihm mit dieser Anfrage lediglich von jedem Engagement mir gegenüber liberieren wollte, glaube ich auf mein Wort versichern zu können . . . Meine Privatangelegenheiten stehen von dem Augenblicke an vollständig zurück, wo meine Anwesenheit hier nötig wird. Schließlich werden Sie mir aber auch unserem Chef gegenüber bezeugen wollen, daß mich der bloße Gedanke, ihm durch meine Anfrage leid getan zu haben, wahrhaft schmerzt. Wenn Graf Bismarck also mir mit vollem Vertrauen auch ferner einen Teil seiner 7 Otto Becker, a. a. 0, S. 122. 8 Savigny an Thile, 9. Dezember vormittags (Entwurf im Familienarchiv, Nachlaß, S. 918). Der im folgenden zitierte Antwortbrief Thiles vom gleichen Tage im Nachlaß, S.919. 15*

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Arbeit übertragen will, so stehe ich zu jeder Stunde bereit und werde so gewissenhaft in seinem Sinne handeln, wie ich dies während der gemeinschaftlichen Friedensverhandlungen und während seiner Abwesenheit getan habe ... Bin ich dagegen unserem Chef jetzt weniger bequem, was ja auch möglich ist, so versteht es sich von selbst, daß ich ohne alle Umstände und in jeder beliebigen Form von einer ferneren Mitwirkung bei diesem Geschäft zurücktrete. Er ist der Schonung bedürftig wie ich, und das möchte ich am wenigsten vergessen bei allem, was ich tue und lasse. In diesem Sinne bitte ich Sie herzlich: erklären Sie unserem verehrten Chef, was ich gemeint habe und wozu ich noch in jeder Stunde ihm gegenüber bereit bin. Einer weiteren Explikation bedarf es dann gar nicht, nur um eine Antwort, womöglich noch heute, möchte ich Sie bitten, damit ich weiß, woran ich bin." Thile hat nach einer weiteren Unterredung mit Bismarck den Brief noch am selben Tage beantwortet: ".. . Das Ergebnis derselben muß ich für so völlig befriedigend und die Auffassung des Chefs so durchaus der in Ihrem Briefe ausgesprochenen entsprechend halten, daß ich die Sache damit eigentlich als erledigt ansehen kann. B. wünscht nichts sehnlicher, als daß Sie ihm bei den am 15. beginnenden Verhandlungen als zweiter Repräsentant zur Seite stehen; er ordnet es als selbstverständlich an, daß Sie beide sich über die der Versammlung vorzulegenden Elaborate in ihrer definitiven Fassung vorher miteinander in völliges Einvernehmen setzen müssen, bittet aber, ihm hierzu bis dahin Zeit zu lassen, bis sein Anteil an den Vorarbeiten vollendet sein wird. Bei den ewigen Störungen und Unterbrechungen (morgen und übermorgen wieder durch Hofjagd!) und bei der Schonung, die B. sich auferlegen muß, werden darüber abermals mehrere Tage vergehen, und der terminus fatalis des 15. oder 17. wird sehr nahe heranrükken. Da Sie und B. aber das Terrain völlig übersehen und beherrschen, so werden Sie auch in wenig Stunden viel erledigen können ... Mir scheint nach Obigem, wie gesagt, zu weiteren Äußerungen gegen B. meinerseits kein Anlaß mehr vorzuliegen, vielmehr alles wieder en regle zu sein." Savigny durfte damit zufrieden sein. Der Zusammenarbeit am Verfassungswerk schien nichts mehr im Wege zu stehen. In der Tat hat Savigny an den weiteren Arbeiten am Verfassungswerk zunächst noch den erwarteten Anteil gehabt. Bismarck hielt es wohl für angebracht, sein Verhandlungsgeschick und seine Bekanntschaft mit zahlreichen Vertretern demnächstiger Bundesgenossen entsprechend einzusetzen. Zunächst noch an den Sitzungen des Staatsministeriums vom 12. und 14. Dezember teilnehmend, war es seine Aufgabe, als zweiter Kommissar auf der Grundlage des nunmehr auf Bismarck zurückgehenden Entwurfs mit den Bevollmächtigten der Regierungen zu verhandeln. Ein Exemplar des aus 69 Artikeln bestehenden Entwurfs befindet sich noch heute im Familienarchiv mitsamt den zahlreichen Korrekturen in roter Tinte und den Bleistiftzusätzen von seiner Hand - offenbar Verbesserungen, die sich aus den Beratungen ergaben. Am 17. Dezember konnte er seiner in

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Frankfurt sich aufhaltenden Frau berichten: "Mit Bismarck habe ich die Versammlung eröffnet, heute mit ihm konferiert, alles in bester Form ..."9 Es ist nicht erkennbar, daß Bismarck schon jetzt den Gedanken aufgegeben hätte, Savigny zum Präsidialgesandten zu machen. Es scheinen sich jedoch schon unterschiedliche Auffassungen von dem mit diesem Amt verbundenen Kompetenzbereich anzubahnen. Es war nicht zu erwarten, daß Bismarck bereit gewesen wäre, die Hauptlast der Verantwortung und der Geschäftsleitung zu delegieren oder mit Savigny zu teilen. Es liegen aber auch keine Zeugnisse dafür vor, welche Vorstellungen etwa Savigny von seinem zukünftigen Amte hatte. Vordergründige Überlegungen, auf die wiederum Otto Becker aufmerksam gemacht hat, kamen hinzu: Bismarck war im Begriff, die liberalen und nationalen Kräfte der bisherigen Landtagsopposition dem Norddeutschen Bunde dienstbar zu machen. Eine sich anbahnende Zusammenarbeit mußte letztlich auch auf die Innenund Wirtschaftspolitik übergreifen. Konnte da eine Persönlichkeit wie Savigny - als Katholik und Verfechter konservativer Prinzipien - nicht hindernd im Wege stehen? Freilich, noch war er unentbehrlich. Niemand kannte so wie er die geheimen Hoffnungen der kleineren Staaten; niemand wußte seine Gesprächspartner so treffend einzuschätzen, und niemand verfügte über so viele Kontakte zu den Verbündeten von morgen wie er. Bei dem besonderen Wohlwollen, welches das Königspaar ihm entgegenbrachte, tat Bismarck gut daran, keine personalpolitische Krise demonstrativ heraufzubeschwören. Die Tragik bestand letztlich darin, daß Bismarck nach seinem Amtsverständnis die Einheitlichkeit in der Politik des Norddeutschen Bundes, zu der auch die Beziehungen zu den Süddeutschen gehörten, sicherzustellen hatte, daß aber andererseits in den "Unmaßgeblichen Ansichten" das Wort vom "Präsidium" stand, das Savigny zugedacht war. Dieser Begriff erschien damals noch so grenzschwach, daß Savigny ihn expansiv auslegen konnte, wie Bismarck dieses niemals zugestehen durfte. Wenn Savigny Präsidialgesandter und damit Stimmführer der siebzehn preußischen Stimmen wurde, wie sollte dann dieses Amt harmonieren mit den Kompetenzen des preußischen Außenministers? Wäre es überhaupt durchzusetzen gewesen, daß ein Bundesbeamter (Savigny als Bundeskanzler) weisungsgebunden an den preußischen Außenminister dieses Amt wahrnehmen sollte? Im Grunde konnte nur eine Vereinigung der Ämter des preußischen Ministerpräsidenten (und Außenministers) und des Bundeskanzlers bzw. des Präsidialgesandten und Stimmführers im Bundestag (d. h. Bundesrat) einen Ausweg bieten. Oder sollte vielleicht die Stellung des Bundeskanzlers nur die eines überdimensionalen Geschäftsführers im Bundesrat sein? Die Frage verlangte schon bald eine Klärung. Savigny scheint die bald nach der Jahreswende verstärkt spürbare Zurückhaltung Bismarcks ihm gegenüber in ihrer Tragweite nicht erkannt zu haben. Die spärlichen, uns erhaltenen Äußerungen klingen so, als befände er sich noch in 9

Savigny an seine Frau, 17. Dezember 1866 (Nachlaß, S. 920).

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vollem Einvernehmen mit ihm. Die kurzen Berichte über die auszuhandelnde Militärkonvention mit Sachsen lassen keine pessimistische Deutung zu. So heißt es in einem undatierten, wohl aus den letzten Dezembertagen stammenden Brief: "Ich wünsche Ihnen nur Angenehmes mitzuteilen, und das wird mir heute leicht, denn die Sachen lassen sich ganz gut an. Die Bevollmächtigten, welche ich heute gesprochen habe, sind ganz vernünftig. Weimar, Gotha, Hessen und einige andere gehen guten Mutes an die Geschäfte. Ich glaube, wenn wir die Dinge ruhigen und guten Mutes nehmen und gar keine Sorge verraten, auch Sachsen gegenüber nicht, so werden wir bald Land sehen, auf welchem die preußische Fahne am Bundesmaste weht. Morgen sind Sie vielleicht so freundlich, mir eine Unterredung zu gewähren." Und dann schreibt er am 7. Februar: "In der Voraussicht, daß ich diesen Abend zu allseitiger Befriedigung die Konferenzen abschließen werde, will ich die sämtlichen Bevollmächtigten morgen zum Henkersmahle bei mir vereinigen um 5 Uhr. Der Erzeuger der großen Idee wird hoffentlich seinem alten Freunde und dermaligen Handlanger die Freude nicht abschlagen, ihn bei sich zu sehen. Haben Sie Lust dazu und erlaubt es Ihr Befinden, so seien Sie der Unsere! Ihr treuer Savigny."10 Wer so schreibt, hat weder Argwohn, noch vermutet er das nahe Ende einer jahrzehntelangen Freundschaft. Aber es existiert auch ein Brief der Johanna von Bismarck an Keudell, der ein ganz anderes Licht auf jene Tage wirft. Am 3. Januar schreibt sie: " ... Gestern erschienen abends zum ersten Male Savignys: so feierlich förmlich, korrekt, daß wir sämtlich kalte Hände bekamen von der regelrechten, eingerahmten, wohlerzogenen Unterhaltung, die man im Mittelsalon führte, während Bill im Nebenzimmer den lautesten ausgelassensten Unsinn trieb." 11 Hinter diesen Zeilen verbirgt sich eine auf Abstand gegenüber Savigny bedachte Haltung Bismarcks. Es ist nicht die Sprache einer selbstverständlichen und unbefangenen Freundschaft. Es darf vermutet werden, daß die Anfang Januar beginnende entscheidende Verhandlungsphase mit einer von Bismarck ausgehenden Entfremdung belastet war. Savigny wurde sich dessen erst allmählich schmerzlich bewußt. Die Innenseite der lange Zeit nur verschwommen erkennbaren Verhandlungen ist durch Otto Becker aufgehellt worden. Wir wissen recht genau, inwieweit Savigny hierbei die Detailarbeit geleistet hat. Das Hauptgewicht hat hier weniger auf den Gesamtkonferenzen als auf den Einzelverhandlungen gelegen, und hier hat es an Zusammenstößen Savignys mit einzelnen Bevollmächtigten nicht gefehlt. So gab es z. B. schwierige Verhandlungen mit dem Vertreter Hamburgs und Oldenburgs, Sonderbesprechungen mit den Mecklenburgern und dem Bevollmächtigten Hessen-Darmstadts, während sich die Verhandlungen mit den thüringischen Staaten erheblich einfacher gestalteten. Wo es zu Zusammenstößen kam, richteten sich die Pfeile in erster Linie auf Savigny. Für keinen 10 Savigny an Bismarck, undatierte Briefe sowie der Brief vom 7. Februar 1867 im Bismarck-Jahrbuch, VI, S. 48 ff. (einer der undatierten Briefe nach einer orthographisch fehlerhaften Abschrift auch im Nachlaß, S. 923). 11 Johanna von Bismarck an Keudell, 3. Januar 1867 (Nachlaß, S. 921).

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Beteiligten war es ein Triumphmarsch durch eine zäh sich hinwälzende Materie. Die eingebrachten Amendements waren zu unterschiedlich in ihrem Gewicht und oft zu wenig auf das Ganze des Bundes gezogen, als daß Savigny sie leicht hätte akzeptieren können. Hier mußten die Meinungen der Ressortminister eingeholt, dort die Entscheidungen Bismarcks oder des Staatsministeriums angerufen werden, und schließlich war die Zustimmung des Königs erforderlich, eines Herrschers, der unbeeindruckt vom Zwang der Zeit an seinen Vorstellungen zu messen gewohnt war, was die Instanzen ihm vortrugen. Geduld war geboten. Wenn sich die Verhandlungen zu langsam hinzogen, suchte man die Schuld bei Savigny, während Bismarck im Urteil vieler Konferenzteilnehmer oft viel günstiger dastand. Savigny konnte unnachgiebig sein und sich auf das Interesse Preußens berufen - mit dem Hinweis, daß ohne Preußen ein Norddeutscher Bund nicht möglich sei und die politische Zukunft der kleineren Staaten sich dann von selbst erledigen würde. Dahinter stand der Zwang, auf die Entscheidungen des Königs, Bismarcks, des Staatsministeriums, auf die Voten der Fachminister zu warten, denn letztlich war er doch nur das ausführende Organ aller. Dabei nahmen auch nicht unmittelbar verfassungsbezogene Fragen viel Zeit in Anspruch. Am schwierigsten war die Bundeskriegsverfassung. Hier waren die preußischen Vorstellungen am bestimmtesten, und doch handelte es sich hier um eine Materie, deren Regelung die Bundesfürsten mit besonderem Argwohn verfolgten. Endlich war es soweit: mit einer Reihe von Änderungsanträgen geringerer Wichtigkeit erklärte sich Bismarck einverstanden, während andere Wünsche, die dem Bundesstaat einen zu unitarischen Charakter gegeben hätten, zurückgewiesen wurden. Am 7. Februar verständigten sich die Konferenzteilnehmer auf den so gestalteten Entwurf. Was noch blieb, war die Ratifizierung durch die einzelnen Regierungen und die Zustimmung des Norddeutschen Reichstages. "Die Versammlung hat den besten Verlauf genommen, und alle unsere Wünsche sind befriedigt," schrieb Savigny an Bismarck, "so daß Sie in die Thronrede einen warmen Passus über die Befriedigung mit dem Resultat der Verhandlungen, die mit allseitiger Zustimmung eine definitive Feststellung des zur Vorlage zu bringenden Verfassungsentwurfs erzielt haben, aufnehmen können. Ich rechne mit Sicherheit auf Ihr Erscheinen bei Tisch und habe dies den Bundesbrüdern mitgeteilt." 12 Ob Bismarck an dem Essen teilgenommen hat, kann nicht sicher vermerkt werden. Einige Bevollmächtigte wie Hermann Jakob von Bertrab, Staatsminister in Schwarzburg-Rudolstadt, und Christian Bernhard von Watzdorf, der Vertreter von Sachsen-Weimar-Eisenach, waren schon abgereist. In der Mittagsstunde des 9. Februar wurde mit dem Schlußprotokoll im Staatsministerium der Verfassungsentwurfvollzogen. Am Nachmittag stellte Savigny die Verhandlungsbevollmächtigten dem König vor. 13 Savigny an Bismarck, 7. Februar 1867 (Nachlaß, S. 927). Kurz zuvor hatte der König das folgende Billet an Savigny geschickt: "Für den Fall, daß die fremden Minister dem Schluß der (preußischen) Kammer beiwohnen möchten, wollen Sie den Herren sagen, daß ich dieselben alsdann erst um drei Uhr empfangen 12 13

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Damit war Savignys Aufgabe gelöst. Als ein Problem von nicht geringerer Kompliziertheit erwies sich die Militärkonvention mit Sachsen. Das Land war der politisch, wirtschaftlich und militärisch bedeutsamste Gliedstaat des Bundes. In Dresden war man sich dessen bewußt, andererseits hegte Preußen ein geschicht1ich bedingtes Mißtrauen gerade gegen diesen Staat, der den Aufstieg Preußens seit dem 18. Jahrhundert immer auf der Gegenseite begleitet hatte. Die Hauptlast der Verhandlungen lag bei den militärischen Sachverständigen. Auf preußischer Seite war es der General Albrecht von Stosch, der im Kriege Oberquartiermeister der zweiten Armee gewesen war, zweifellos ein Mann von politischem Gespür. 14 Aber alles, was Sachsen betraf, war zugleich auch von politischem Gewicht, und insofern war auch Savigny damit befaßt. Gegenüber Hans von Könneritz, dem Nachfolger Hohenthais als Gesandtem in Berlin, hatte er schon am 2. Dezember zu erkennen gegeben, daß Preußen überzeugende Garantien für die militärische Integration Sachsens verlangen werde. Man möchte in Berlin hierin keine nur vorübergehende Maßnahme erblicken, sondern überzeugt sein, daß auf Sachsen "wie auf eine preußische Provinz zu zählen ist". Als Könneritz diese Eröffnung nach Dresden berichtete, blitzte noch einmal die ganze Schwere der bevorstehenden Verhandlungen auf. König Johann, so schrieb er erregt, werde sich niemals fügen. Im einzelnen stießen die Forderungen hinsichtlich der Ernennung der Generäle und Festungskommandanten, der Garnisonsorte und des Fahneneides auf entschiedenen Widerspruch. Bismarck hat noch unmittelbar vor dem zu erwartenden Besuch König Johanns in Berlin gegenüber Könneritz Verständigungsbereitschaft angedeutet. Er könne zwar auf die Bestimmung der Garnisonen nicht verzichten, aber in der Frage des Fahneneides zeigte er Entgegenkommen. Was die Ernennung der Generäle betraf, verwies er auf die Kronprinzenpartei, deren Forderungen er jedoch nicht teile. Der sächsische Oberst von Brandenstein, der dem Gesandten beigegeben war, konnte seinem Kriegsminister berichten, daß man in Berlin die besondere Stellung Sachsens im militärischen System des Norddeutschen Bundes anzuerkennen bereit war. Die Folge war, daß er nun seinerseits mit der Ausarbeitung eines sächsischen Gegenentwurfs beauftragt wurde, und mit diesem kehrte Friesen dann am 2. Januar 1867 nach Berlin zurück. Dennoch sind die Verhandlungen äußerst schwierig gewesen. Bismarck witterte allenthalben einen tiefer reichenden Widerstand: Sachsen biete alles auf, seine Armee der Befehlsgewalt des Bundesfeldherrn zu entziehen und sie auch im Kriegsfalle in der Hand zu behalten. Weisungsgemäß eine harte Linie verfolgend, bestürmte Savigny seinen Verhandlungspartner, den nutzlosen Widerstand in der Eidesfrage aufzugeben. In der Tat zeigten die sächsischen Unterhändler sich werde, wenn die Toiletten dies verlangen; ich bin nach der Feier im Schloß, in meinem Palais bis vier Uhr anwesend. Benachrichtigen sie Bismarck hiervon." (Familienarchiv). 14 Albrecht von Stosch (1818 - 1896), 1861 Chef des Generalstabes des IV. Korps, 1870/71 Generalintendant für das Verpflegungswesen des deutschen Heeres, anschließend Chef des Generalstabes der deutschen Okkupationsarmee in Frankreich; seit 1872 Chef der Admiralität, zugleich Staatsminister und Bevollmächtigter beim Bundesrat.

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gegenüber der sich versteifenden Haltung Bismarcks zugänglicher. Am 19. Januar glaubte Savigny melden zu können, "daß die Sachsen in der Militärfrage ernsten Widerspruch nicht mehr erheben werden." Er empfahl, am Fahneneid und an dem Recht der Generalsernennung unbedingt festzuhalten, dagegen in der Frage der Garnisonierung "die Perspektive auf Konzessionen nicht abschneiden zu wollen." 15 Was dann Fabrice, der sich in Dresden sofort um neue Instruktionen bemühte, von dort mitbrachte, klang zuversichtlich: "Herr von Könneritz war gestern bei mir und teilte mir mit, allerdings nur vertraulich, daß Herr von Fabrice mit der Autorisation aus Dresden zurückgelangt sei, in Beziehung auf die Militärkonvention weitere Schwierigkeiten nicht zu machen, namentlich auch nicht in Beziehung auf den Fahneneid und die Generalsernennung." 16 Was das Recht des Bundesfeldherrn betraf, dem sächsischen Korps im Kriegsfall einen neuen General zu geben, so empfahl die kurze Formulierung: "Mit befohlener Mobilmachung hört die Sonderberechtigung eines königlich sächsischen Armeekorps im Bundesheere auf." In einer Unterredung fand Bismarck dann alles bestätigt, was er verlangt hatte: Sachsen stimmte der Eidesleistung auf den Bundesfeldherrn ebenso zu wie dem Garnisonsrecht. Bismarcks Zorn war verraucht. Dann aber stießen Bismarck und Roon am 26. Januar beim König und dem Militärkabinett auf erneute Forderungen: es handelte sich um die Formulierung der Übergangsbestimmungen zur Besetzung Sachens, namentlich der Besetzung von Dresden, Leipzig und Bautzen, um die Ernennung des Höchstkommandierenden in Sachsen durch den König von Preußen als Bundesfeldherrn und schließlich um die Möglichkeit, einer von dem Zivilkommissar von Bonin aus Dresden gemeldeten preußenfeindlichen Stimmung entgegenzuwirken. Noch einmal wurde Fabrice mit den entsprechend vorgenommenen Änderungen nach Dresden geschickt. Vergebens hatte sich Bismarck beim König gegen eine schärfere Fassung der Forderungen ausgesprochen. Fast entschuldigend meinte Bismarck zu Fabrice, kein sächsischer Gesandter hätte sich mehr der Interessen Sachsens annehmen können als er (Bismarck), aber er verschweige nicht, daß beim König in wesentlichen Punkten nur wenig durchzusetzen sei, und Savigny fügte hinzu, Preußen müsse unbedingt auf der Ernennung des Armeekommandanten bestehen; es werde aber nach der Konstituierung des Norddeutschen Bundes in der Okkupationsfrage Zugeständnisse machen. Man werde Dresden in vier bis sechs Wochen nach der Veröffentlichung der Bundesverfassung räumen, wenn es in der Frage des Armeekommandanten nachgebe. Wiederum lag die Entscheidung in Dresden. Hier herrschte gegen Preußen eine dermaßen gereizte Stimmung, daß alle bisherigen Zugeständnisse jederzeit widerrufen werden konnten und ein völliger Bruch nicht mehr auszuschließen war. Indes kam es doch noch zu einer Entspannung. Die Wende deutete sich an, als Savigny in einem undatierten, wohl auf den 7. Februar anzusetzenden Billet 15 16

Savignyan Bismarck, 19. Januar 1867 (Nachlaß, S. 921 f.). Savigny an Bismarck, undatierter Entwurf (22. Januar 1867?) im Familienarehiv.

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an Bismarck bemerkte: "General von Stosch war bei mir und meldete: General von Fabrice hatte anfangs erklärt, auf die andere Fassung, welche die Militärkonvention bei dem Könige erhalten, nicht eingehen zu können. Später habe er sich zu anderen Besprechungen entschlossen und hoffte, einige Modifikationen bei Ihnen zu erzielen. General von Stosch glaubt, daß Fabrice schließlich auf alle wesentlichen Punkte der neuen Fassung eingehen werde, nur auf einen nicht: in Beziehung auf das Ernennungsrecht des Bundesfeldherm für die Stelle des höchstkommandierenden Generals in Sachsen. Dies betreffe die Person des Kronprinzen von Sachsen, der sich nur von seinem Vater und nicht von unserem König werde ernennen lassen wollen. Ich finde diese Bedenken unbegründet und eine prinzipielle Ausnahme von den Bestimmungen der Verfassung gerade in diesem Punkte wegen weiterer Exemplifikationen höchst gefährlich. Vielleicht ließe sich ein moyen terme finden, indem der König nur für den vorliegenden Fall den Kronprinzen auf Vorschlag des Königs von Sachsen als kommandierenden General akzeptierte. General von Stosch soll bis zu Tränen aufgeregt gewesen sein. Schließlich soll er aber auch in der Dresdener Besatzungsfrage sich ergeben haben." 17 Savigny war unerbittlich. In der Nacht zum 7. Februar verlangte er ultimativ eine Entscheidung über Annahme oder Ablehnung des von Stosch in amendierter Form vorgelegten Vertragsentwurfs. Von weiteren Modifikationen könne nicht die Rede sein. An Friesen schrieb er: "S. M. mein allergnädigster König und Herr, hat nur in der Annahme, daß die Sache nunmehr beendigt ist, in die ihm vorgelegten neuesten Modifikationen gewilligt. Sämtliche derzeitige Zugeständnisse werden bei der Nichtakzeptation sofort zurückgezogen. Dies steht im Rate des Königs fest." 18 Vor der für den folgenden Abend angesetzten Sitzung müsse er wissen, "ob die heute vom König festgestellte letzte Fassung akzeptiert wird oder nicht." Friesen zeigte sich in seiner schnellen Antwort überzeugt, daß König Johann seine Zustimmung nicht versagen werde. Tatsächlich richtete - wohl zur gleichen Stunde - Fabrice an Stosch ein Telegramm, demzufolge der König ihn zur Unterzeichnung der Vereinbarungen ermächtigt hatte. 19 Noch am selben Savigny an Bismarck, o. D. (7. Februar?), (Nachlaß, S. 924). Savigny an Friesen, 6. /7. Februar 1867 (Nachlaß, S. 925). 19 Friesen an Savigny, 7. Februar morgens und Fabrice an Stosch, Dresden, 7. Februar, 1 Uhr morgens (Nachlaß, S. 926). Fabrice überbrachte ein Schreiben Johanns an den König von Preußen, in dem ersterer darlegte, daß er mit seinem Wunsch, selbst den Oberkommandierenden in Sachsen zu ernennen, den Abschluß nicht habe verzögern wollen. In seiner Antwort vom 13. Februar weist König Wilhelm darauf hin, daß eine Aufgabe des Ernennungsrechts lockernd auf die Einheit des Ganzen zurückwirken müsse. Was in der Sache Schmerzliches läge, werde für den König und sein Volk dadurch ausgeglichen, daß der Kronprinz nach wie vor führe. An Savigny schrieb König Wilhelm bereits am 8. Februar: "Die Einlage erhielt ich heute früh (v. GI. v. Fabrice gesendet), die nochmals des Königs von Sachsen Wunsch wegen Selbsternennung des Commandierenden des XII. Corps enthält. Da nun nach Ihren soeben erhaltenen Zeilen eine völlige Übereinstimmung der pp. von gestern datiert ist, so fragt es sich, ob das Schreiben des Königs nicht ,zu spät" kommt? Haben die Sächs. Bevollmächtigten von diesem Schritte des Königs Kenntnis gehabt bei der gestrigen Feststellung? (Nachlaß, S. 926 f.). 17

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Tage nach Berlin zurückgekehrt, unterzeichnete er mit Stosch die Konvention. Mit der Klärung des die Verfassungsberatungen begleitenden militärischen Status Sachsens schienen die letzten aus dem Konflikt von 1866 sich ergebenden Fragen gelöst. Was jetzt folgte, war der Auftakt zu einem neuen Kapitel politischer Wirklichkeit in Deutschland. Für Savignys Lebensweg freilich war das alte noch nicht abgeschlossen. Der tiefe Einschnitt stand noch bevor. Drei Tage nach der am 9. Februar erfolgten Ausfertigung des Schlußprotokolls über die Verabschiedung des Verfassungsentwurfs fanden die Wahlen zum konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes statt. Savignys Aufgabe war es, für die technischen Voraussetzungen eines geregelten Ablaufs der Sitzungen zu sorgen, für die Herrichtung der Räumlichkeiten, die auch das Königspaar zu sehen wünschte, für die erleichterte Teilnahme aller, vor allem der außerpreußischen Parlamentsmitglieder u. a. m. Als der König sich an Bismarck mit der Frage wandte, ob etwa die Reichsinsignien beim Eintritt in den Weißen Saal vorangetragen werden sollten, ob der feierliche Gottesdienst in der Schloßkapelle oder im Dom abzuhalten sei und wie es mit der Ernennung der Reichskommissarien stehe, stellte Bismarck das Billet mit dem Vermerk V (vertraulich) seinem Freunde zu. 20 Bei der Empfindlichkeit der verbündeten Regierungen war hier ein hohes Maß von Feingefühl erforderlich. Ihm oblag es, gemeinsam mit dem Oberhofmarschall Hermann Graf von Pückler die Anordnungen für die feierliche Eröffnung des Reichstages zu treffen. Hinzu kam vieles, was er als Mitglied des Ministeriums des Auswärtigen zu erledigen hatte: da ging es um Verhandlungen mit dem Freiherrn von Oertzen, dem Vertreter beider Mecklenburgs, über die Ratifikation des Bundesvertrags, die Regelung des Elbzolls und wieder einmal um den Fahneneid, um z. T. sehr schwierige Verhandlungen mit dem Freiherrn Peter Ludwig Friedrich von Rössing, dem oldenburgischen Minister, der sich zum Verteidiger weit über Bismarcks Absichten hinausgehender unitarischer Prinzipien aufschwang und sich nur schwer in die neue Verfassungsordnung fügen konnte. Wie weit das Spektrum seiner Aufgaben reichte, kann einem Brief des Prinzen Adalbert von Preußen entnommen werden. 21 Hier sucht er ihn für den Gedanken zu gewinnen, gemäß dem Wunsch des Marineministeriums zur Bekämpfung der Seeräuberei die Stellung Preußens in Ostasien durch den Erwerb eines Stützpunktes mit der Möglichkeit des Baues und der Reparatur von Kanonenbooten zu verstärken. Die Vertreter Sachsen-Weimars und Hessens nahmen seine Zeit in Anspruch. Schließlich hatte er auch als preußischer Bundeskommissar zu wirken. Daß er in dieser ersten Sitzungsperiode im Plenum nur fünfmal das Wort ergriff, besagt nichts über die Tatsache, daß gerade diese Tätigkeit ihm viel Energie abverlangte.

20 Der König an Bismarck, 17. Februar und an Savigny, 22. Februar; der Kronprinz an Savigny, 18. Februar (Nachlaß, S. 933). 21 Prinz Adalbert an Savigny, 29. März 1867 (Nachlaß, S. 943).

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Es war verständlich, daß Savigny auch seine eigene dienstliche Zukunft geklärt wissen wollte. Das Staatsministerium hatte beschlossen, ihm die "Leitung aller auf die Vorbereitung des Zusammentritts des Reichstages bezüglichen Anordnungen zu übertragen." Als ihm dann aber Dokumente zur Unterzeichnung vorgelegt werden, die er nicht vollziehen zu können glaubt, bevor sein amtliches Verhältnis zum Reichstag geklärt ist, bittet er Bismarck, "eine Entscheidung darüber herbeiführen zu wollen, ob überhaupt und in welcher Berührung ich mit dem Reichstage und den anderen Bundeseinrichtungen zu treten haben werde." Davon hinge auch ab, ob er in einer amtlichen Stellung in Berlin verbleibe oder ihm erlaubt sei, nach der zurückliegenden provisorischen Beschäftigung diese als beendet anzusehen und woanders sein Domizil aufzuschlagen. 22 Eine schriftliche Antwort Bismarcks liegt nicht vor. Am 14. Februar schickte er Keudell zu ihm. Ein Brief Savignys an Keudell läßt den Inhalt ihrer Unterredung erkennen. Bismarck war offenbar noch nicht bereit, dem König konkrete Vorschläge für seine künftige amtliche Stellung zu unterbreiten. Es handelte sich dabei vornehmlich um die Definierung dieser Stellung und die Überlassung einer angemessenen Wohnung. Beides sei im Prinzip zugestanden, so faßte Keudell seine Eindrücke zusammen, im Augenblick jedoch unerfüllbar. 23 Für Savigny stellte sich die Frage, ob Bismarck überhaupt noch daran dachte, ihm den Vorsitz im Bundesrat zu übertragen. Er glaubte auch,jene zunächst noch undeutliche Tendenz wahrzunehmen, wonach eine Reihe von Bundesstaaten dem Bundeskanzleramt zu jener Entscheidungsebene verhelfen mochten, auf der letztlich für ihn selbst kein Platz mehr war. Bismarck hat (bewußt oder unbewußt?) in der ersten Phase der Verfassungsberatungen die Stellung des Bundeskanzlers so in der Schwebe gelassen, daß dann für die interessierten Mittelstaaten Raum genug blieb, das Bundeskanzleramt ihren eigenen Vorstellungen anzunähern. Während bis jetzt mit dem Amt nur die umfassende Geschäftsführung des Bundesrates verknüpft zu sein schien, tauchte nun, u. a. von den Oldenburgern ventiliert, der Gedanke auf, den Bundeskanzler zum verantwortlichen Minister zu machen, also eine Lösung anzustreben, die das bisherige Konzept wesentlich veränderte. 24 Bismarck gab sich gelassen. Eine Aufzeichnung der Marie von Savigny gibt eine vielsagende Auskunft: ,,zuletzt war der Zustand so unangenehm, daß Savigny erklärte, er wolle von Berlin abreisen und nicht mehr mitarbeiten. Bismarck kam bei einem Fest im Weißen Saal auf mich zu und sagte: ,Nun, Savigny will fort?' Ich sagte, wir hätten schon länger die Absicht, Berlin zu verlassen. Da sagte Bismarck: ,Das geht nicht, ich muß mit Savigny sprechen.' Dann blieb Savigny noch, und wir zogen einstweilen vom Hotel Royal in das Staatsministerium."25 22 Savigny an Bismarck, o. D. (vor dem 14. Februar) und an Keudell, 14. Februar (Nachlaß, S. 930 f.). 23 Keudell an Savigny, 15. Februar 1867 (Nachlaß, S. 932). 24 Vgl. hierzu vor allem Otto Becker, a. a. 0, S. 220 f. 25 Undatierte Aufzeichnung im Familienarchiv (Nachlaß, S. 935).

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In diesem Augenblick wollte sich Bismarck offenbar von seinem Freunde noch nicht trennen. Er bedurfte seiner Erfahrungen in der Einschätzung der verbündeten Regierungen und wollte durch seine Ernennung zum Bundeskommissar für den konstituierenden Norddeutschen Reichstag auch davon Gebrauch machen. Zudem, auch das wußte er, konnte eine plötzliche Trennung auf das Königspaar wie ein Affront wirken. Vor diesem Hintergrund ließ sich auch Savignys Wohnungsangelegenheit relativ ungestört klären. Nach einem undatierten, vermutlich an Keudell gerichteten Briefentwurf waren Bismarck und Savigny übereingekommen, daß ihm provisorisch als Dienstwohnung das Staatsministerialgebäude Wilhelmstraße 74 vom 1. April an zur Verfügung gestellt werde - provisorisch deshalb, weil das Staatsministerium die Wohnung dem Norddeutschen Bund leihweise überlassen wollte. Dabei sollten die Büros im Erdgeschoß wie bisher verwendet werden, während Savignys Dienstwohnung alle übrigen Räume umfaßte. 26 Wie Bismarck Savigny ausdrücklich wissen ließ, war zum 1. April 1868 für das Gebäude eine andere Verwendung vorgesehen. In einem aufschlußreichen Schreiben an den Finanzminister von der Heydt unterrichtete Bismarck diesen von seinem Beschluß. Die auf mindestens tausend Taler zu veranschlagende lahresmiete sollte den größeren Teil der Kosten decken. Savigny hatte sich bereit erklärt, auf eigene Kosten zunächst einige ,,kleine bauliche Einrichtungen und Reparaturen am Mobiliar" vornehmen zu lassen. Indes erschien es Bismarck "nicht sachgemäß, die Bezahlung dieser Meliorationen aus Staatsmitteln abzulehnen." Die durch die Miete nicht gedeckten Kosten sollten zu gegebener Zeit "auf die für den Norddeutschen Bund, namentlich die Dotierung des Bundeskanzlers, bestimmten Summen zu übernehmen sein." Er bittet den Minister, die Beträge "pro 1867 extraordinär übernehmen zu wollen." Der Brief zeigt zweierlei: 27 er erweist die unbefangene, aber selbstverständliche Fürsorge Bismarcks für seine Mitarbeiter; der Geheime Rechnungsrat Flender hatte als "Vorstand des Staatsministerial-Bureaus" bis jetzt seine Wohnung im Ministerialgebäude gegen eine Miete von 160 Talern innegehabt. Er mußte sie wegen Savignys Übersiedlung nun aufgeben und hatte für seine im dienstlichen Interesse in erreichbarer Nähe gelegene neue Wohnung 475 Taler zu zahlen. Bismarck bittet den Minister, die Differenz von 315 Talern nebst einem Betrag für den Umzug und sonstige Auslagen zu übernehmen, da "deren Erstattung in der Billigkeit zu liegen scheint." Für Savigny ist noch folgendes bemerkenswert: Bismarck erinnert daran, daß dieser seit August 1866 "hier verschiedene diplomatische Verhandlungen geleitet und dadurch neun Friedensverträge sowie die Regierungsvorlage einer Verfassung des Norddeutschen Bundes zum Abschluß gebracht" habe. Er sei "Allerhöchsten Ortes für den Posten eines Vorsitzenden des Bundesrats (Bundeskanzlers) designiert." "Wiewohl diese Ernennung," so heißt es weiter, "nicht vor dem 26 27

Nachlaß, S. 935, Anm., Bismarck an Savigny, 7. März 1867 (Nachlaß, S. 937 f.). Bismarck an von der Heydt, 7. März 1867 (Nachlaß, S. 937 f.).

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gesetzlichen Inslebentreten der Bundesverfassung wird erfolgen können, so erscheint es doch erforderlich, dem Herrn von Savigny schon jetzt eine Dienstwohnung provisorisch zu überweisen, weil einerseits demselben nicht zugemutet werden kann, nachdem er die über das Maß der Arbeitskräfte hinaus andrängenden wichtigen Geschäfte mir bereitwilligst abgenommen und deshalb den Aufenthalt in einem Gasthofe bereits in den achten Monat hinein verlängert hat, auf eine angemessene Wohnung für sich und seine Familie noch länger zu verzichten, andererseits die schnelle Beschaffung und Einrichtung einer für eine große Familie passenden und zugleich für die Repräsentationspflichten des Bundeskanzlers und die Aufnahme seines Bureaus geeigneten Wohnung mit unverhältnismäßig großen Opfern verknüpft sein würde." In dem Brief ist zweimal die Rede von Savignys "Bundeskanzler-Gehalt" und der "Dotierung des Bundeskanzlers", und schließlich heißt es: " ... wenn ich erwäge, daß dem Bundeskanzler, gleich einem Gesandten, bis zur Vollendung eines besonderen Bundesgebäudes eine auskömmliche Mietsentschädigung und Einrichtungsgelder nicht füglieh versagt werden können ..." Fazit: Bis zu diesem Zeitpunkt war Savigny noch für das Amt des Bundeskanzlers vorgesehen, das jedoch nur die Stellung eines Vorsitzenden des Bundesrates involvierte und noch nicht als die entscheidende Schaltstelle der Macht des Norddeutschen Bundes konzipiert war. Insofern schienen die Lebensumstände Savignys sich nicht ungünstig zu entwickeln. "Du kannst Dir denken," schrieb Marie an ihren Vater, "daß die schöne und ergiebige Tätigkeit meines Mannes mir große Freude macht ... Daß die immerhin, besonders während der Verhandlungen über die Verfassung, sehr anstrengende Arbeit ihn hin und wieder ermüdet hat, ist wohl sehr natürlich."28 Aus der Reife seiner Jahre resumierte Graf von Arnim nach einem "herzlichen Glückwunsch zu dem so erfreulich vollbrachten schweren Werke" mit den folgenden Worten: "Wenn ich noch an die Zeit denke, wo Du Dich mit Händen und Füßen gegen den Tausch des friedlichen und langweiligen Brüssel mit dem Frankfurter Posten wehrtest, und wenn ich mir vergegenwärtige, was Du dort und im Gefolge der dortigen Stellung jetzt an wichtigen und mit Gottes Hilfe erfreulichen Leistungen und Erfolgen hinter Dir hast, so sieht man erst, wie gut es ist, überall dem Rufe zu folgen, den Gott ohne unser Eingreifen an uns ergehen läßt." Savigny antwortete mit Worten der Genugtuung: "Du hast wohl recht gehabt in dem, was Du mir rietest, als der Ruf an mich erging, in Frankfurt die preußisch-deutsche Politik zu vertreten. Ohne Deine ruhigen, bestimmten und festen Ratschläge hätte ich damals wahrscheinlich den Mut nicht gehabt, diese schwierige Aufgabe zu übernehmen ... Zweimal ist es mir zuteil geworden, im Namen Preußens in Frankfurt das Geschäft zu erkundigen. Zuerst im Mai 1849, als ich im Namen des Königs Friedrich Wilhelms IV. dem Reichsverweser Johann unsern Scheidebrief überreichte, dann 28 Marie von Savigny an ihren Vater, 26. Februar 1867 (Nachlaß, S.936); zum folgenden Graf von Arnim an Savigny, 23. Februar und Savignys Antwort vom 7. März, ebenda, S. 934 und 938.

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im Jahre 1866, wo ich in feierlicher Sitzung aus dem Bundestage schied. Diese Fügung allein schon ist ein sehr günstiges Geschick. Im übrigen habe ich Gott auch nur zu danken, daß mir die Möglichkeit gegeben worden ist, einer erfolgreichen Politik an Bismarcks Seite und zuweilen in seiner Vertretung unmittelbar unter den Augen des Königs zu dienen. Andere hätten es wahrscheinlich ebenso gut gemacht; allein dankbar muß man dennoch sein, wenn einem im großen und ganzen nichts mißlungen ist ... Zum 1. April sollen wir das Staatsministerialgebäude beziehen, allerdings nur provisorisch, bis ein Bundespalais beschafft sein wird; ob wir das noch erleben, weiß ich nicht. Zum Bundeskanzler hat man mich designiert. Die Stelle selbst muß aber erst aus der Verfassung in das Leben gerufen werden." Die verborgene Tragweite dieser letzen Zeilen konnte Savigny nicht ahnen. Die Verfassungsberatungen des Reichstags standen noch bevor. Nach dem Verfassungsentwurf sollte der vom Bundespräsidium zu ernennende Bundeskanzler nur den Vorsitz im Bundesrat führen und die Bundesratsgeschäfte leiten. Er wäre ein vom Bundespräsidium und vom Bundesrat abhängiges geschäftsführendes Verwaltungsorgan ohne Ministerrang gewesen. Weisungsgebunden an den preußischen Außenminister, wäre er ohne Einfluß auf die Zielrichtung der siebzehn Bundesratsstimmen. Er wäre dem Reichstag nicht verantwortlich gewesen, wie umgekehrt der Reichstag den an den Außenminister gebundenen Bundeskanzler nie hätte zur Verantwortung ziehen können. Für dieses so begrenzte Amt war Savigny vorgesehen. Gegen dieses Konzept erhoben sich vor allem die Abgeordneten des Fortschritts, die nach einem parlamentarisch verantwortlichen Bundesministerium zur Führung der Bundesgeschäfts verlangten. Damit war, wenn zunächst auch verworfen, die Richtung gewiesen. Zwar scheiterte in der Folge auch der Nationalliberale Bennigsen, dessen Antrag letztlich auf ein parlamentarisch verantwortliches kollegiales Bundesministerium unter Vorsitz des Kanzlers hinauslief. Sein abgewandelter erneuter Antrag brachte dann am 27. März die Entscheidung: jetzt war nicht mehr die Rede von den "selbständigen Vorständen der Verwaltungszweige", also von Bundesministerien, wohl aber von der "Ministerverantwortlichkeit für den Bundeskanzler", ein Amendement, das der Reichstag dann mit großer Mehrheit annahm 29 • Bismarck hat sich gegen diese Wende, die den Bundeskanzler zum parlamentarisch verantwortlichen Minister machte, nicht gesträubt, die Aufwertung sogar gutgeheißen. Mit der Annahme des Bennigsen'schen Antrags (27. März) wurden Savignys eigene Vorstellungen illusorisch. Jetzt sollte der Bundeskanzler ein dem Reichstag verantwortlicher Bundesminister sein, unmittelbar oberstes Bundesorgan, alleiniger Träger der Bundesexekutive, demgegenüber der Bundesrat, wenn auch mitgestaltend und kontrollierend, de facto an die zweite Stelle zu TÜcken hatte. Mit Bennigsens Amendement waren die Verantwortlichkeiten geklärt. Nicht einverstanden mit der von Bennigsen zunächst gewollten Einführung mehrerer verant29

Becker, passim; Huber, Verfassungsgeschichte, III, S. 658 f.

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wortlicher Bundesminister, billigte Bismarck jetzt die unmißverständliche Aufwertung des Bundeskanzlers. Er hat es so formuliert: "Die Instruktion des Bundeskanzlers kann m. E. nur vom preußischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten ausgehen, oder der letztere muß selbst Bundeskanzler sein." Savigny hat die Tragweite der Entscheidung nicht verkannt. Warum aber hat er nicht unmittelbar nach jenem 27. März seine dienstliche Stellung zu klären gesucht? Die Abstimmungen im Reichstag waren an seinen eigenen Vorstellungen vorbeigegangen. Vertraute er zu sehr dem Wohlwollen des Königs, den Äußerungen Bismarcks vom 19. November oder denen vom 7. März? Der Monarch hatte ihm wiederholt das Amt des Bundeskanzlers zugesagt. Andererseits ist Bismarck einer klärenden Aussprache mit Savigny aus dem Weg gegangen. Verbot ihm die Rücksicht auf den König, so demonstrativ die eigenen Zusagen an Savigny zu widerrufen? Bismarck scheint bewußt die ganze Frage im Halbdunkel gelassen zu haben. ,,Personalfragen lassen sich nicht diskutieren," so hat er sich damals sinngemäß zu Keudell geäußert; sie müßten sich entwickeln, wie ihre Natur es verlange. Aber er hat sich zu Keudell auch konkreter ausgesprochen. Als dieser ihm berichtete, daß Savigny ihm gesagt habe, es werde nützlich sein, ihn zum Bundeskanzler zu ernennen, um die Verstimmung vieler Katholiken über die Verdrängung Österreichs und die weitgehenden Annexionen durch die Berufung eines Katholiken an die Spitze des Bundes abzuschwächen, fand er bei Bismarck kein Echo. Er kenne Charles Savigny seit der Jugend als einen braven und ehrlichen Menschen, aber er habe das Unglück gehabt, sich immer in privilegierten Stellungen zu befinden und das Erwerbsleben, auf das es jetzt so wesentlich ankomme, nicht kennengelernt. Sein Geist bewege sich in gewissen formellen Geleisen; in der Ausführung genauer Instruktionen werde er immer korrekt verfahren, aber neu auftauchenden Fragen gegenüber öfters versagen. Seine Vorarbeiten für die Bundesverfassung hätten viel zu wünschen übrig gelassen, und daß er der Leitung der Bundesgeschäfte auf die Dauer gewachsen sein dürfte, könne er nicht glauben. Wenn Savigny meine, daß Gegner wie Mallinckrodt und Windthorst durch sein Präsidieren versöhnt werden könnten, so sei das eine Illusion. Er sähe auch voraus, daß er als Bundeskanzler selbständigen Vortrag beim König beanspruchen würde; das ginge aber nicht neben ihm; zwei Personen dürften in derselben Sache nicht ständigen Immediatvortrag haben. 30 Ob Bismarck auf einen ihm günstigen äußeren Anlaß wartete, sich von ihm zu trennen, liegt nahe; erwiesen ist es nicht. "Bismarck hüllt sich in Schweigen über meine 30 Schönberg-Mskr. Vgl. auch Keudell, a. a. 0., S. 361 ff. Bismarcks Gespräch mit Keudell ist auf die Zeit nach dem 12. März anzusetzen. Josepha von Schönberg weist darauf hin, daß es nach Savignys Auffassung galt, die Bildung einer konfessionellen Front innerhalb des Norddeutschen Bundes zu verhindern und diesem Ziel durch die Berufung eines kirchentreuen katholischen Bundeskanzlers zu dienen. Andererseits hat sich Bismarck auch gern (so bei der Behandlung der nationalen Ansprüche der Polen) auf den Katholiken Savigny berufen, indem er betonte, daß er selbst ein ebenso entschiedener und zuverlässiger Bundesgenosse gegen Angriffe auf kirchliche Rechte sein werde wie sein katholischer Kollege Savigny.

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Stellung," äußerte sich Savigny nach Keudells Bericht, "ich glaube, er möchte selbst Bundeskanzler werden, aber warum sagt er es dann nicht? Wir sind doch alte Freunde, und ich habe ihm manchen Dienst geleistet." Am 17. April hatte der König den Reichstag geschlossen. In den nächsten vier Wochen blieb Savigny von den weiteren Erörterungen über die Ausgestaltung des Bundeskanzleramtes krankheitshalber ausgeschlossen. Als er Ende Mai seinen Dienst wieder aufnahm und ihn die Verhandlungen über die nassauischen Vermögens angelegenheiten sehr beanspruchten, ergaben sich noch immer keine neuen Aspekte. Vor allem war ihm eines nicht bekannt: am 29. Mai hatte das Staatsministerium beschlossen, mit Rücksicht auf die dem Bundeskanzler im Artikel 17 der Verfassung auferlegte Verantwortlichkeit dieses Amt Bismarck als dem Minister des Auswärtigen zu übertragen. Auf diesen Beschluß bezog sich Bismarck in seinem Votum für das Staatsministerium vom 18. Juni, wobei er sich über den Aufbau des Bundeskanzleramtes äußerte und zu erkennen gab, daß er angesichts des Umfanges der Geschäfte einen Stellvertreter für die weniger wichtigen Gegenstände benötigte, den er nach Artikel 15 der Verfassung befugt sei, aus den Mitgliedern des Bundesrates zu wählen und dem analog zur alten Reichsverfassung der Titel eines Bundesvizekanzlers beizulegen sein dürfte, wobei er festzustellen nicht unterließ, daß das unmittelbare Dispositionsrecht des Bundeskanzlers über die preußischen Bundesbeamten galt. 31 Der Leiter einer solchen durch die Fülle der Geschäfte bedingten Behörde werde natürlich an seine Instruktionen gebunden sein; er könne keinen Ministerrang beanspruchen, wohl aber Präsident genannt werden. "Suchen Sie mir für diesen Posten einen Mann womöglich von bürgerlicher Herkunft, der in Zoll- und Handelssachen vorzugsweise erfahren." Keudells Antwort: "Der Mann scheint mir gegeben: Delbrück. Mit ihm könnte in diesen Fächern schwerlich einer konkurrieren." 32 "Richtig," bemerkte Bismarck, "ich werde an ihn denken." Von alledem erfuhr Savigny nichts, und das konnte wohl auch nicht sein, da Bismarck den König bald darauf zur Weltausstellung nach Paris begleitete und Savigny einen Kuraufenthalt in Karlsbad anzutreten im Begriff war. Geblieben war ihm nur die wiederholte Zusicherung des Königs, an dessen Tafel er noch am 3. Juni geladen war, sowie die zurückliegenden Aussagen Bismarcks. Beide hatten ihre Zusagen nicht widerrufen, aber die Dinge waren in Fluß und folgten den ihnen innewohnenden Gesetzen. Da erreichte ihn in Karlsbad die Zeitungsnachricht, daß Bismarck selbst das Amt des Bundeskanzlers übernehmen werde. Dann überbrachte ihm ein Kanzleidiener des Außenministeriums ein vom 3. Juli datiertes Schreiben Thiles, dessen Tragweite sofort abzuschätzen war. 33 Im Auftrage Bismarcks teilte Bismarck, Werke, VI, S. 413, Nr. 818. Keudell, a. a. 0., S. 363. Martin Friedrich Rudolf(seit 1896 von) Delbrück (18171903), mit der Zoll- und Zollvereinspolitik eng vertraut, Anhänger des Freihandels, 1867 Präsident des Bundeskanzleramtes, 1871 des Reichskanzleramtes, fortan Bismarcks vertrauter Mitarbeiter auf diesen Gebieten bis 1876. 33 Thile an Savigny, 3. Juli 1867 (Nachlaß, S.948). Der diesem Brief zugrunde liegende Brief Bismarcks an Thile vom 30. Juni steht im Briefwerk, Bd. 14/11, S. 727 f. 31

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dieser ihm mit, daß seine Ernennung zum Bundesvizekanzler beabsichtigt sei. Er solle Ministergehalt und Ministerwohnung bekommen und die regelmäßigen Geschäfte des Präsidiums zu leiten haben. "Ich werde," so hatte Bismarck hinzugefügt, "als Kanzler nur die Contrasignatur haben, die niemand als der Ministerpräsident in den Ressorts der betreffenden preußischen Ministerien wird üben können." "Soweit mein kurzer, aber inhaltsschwerer Auftrag," hatte Thile hinzugefügt, "dem ich meinerseits nur die Bitte hinzufüge: lassen Sie mich ein baldiges und freudiges Ja! erhalten." Bei der Formulierung seines Briefes hatte sich Thile wörtlich an Bismarcks Auftrag gehalten. Nur ließ er bezeichnenderweise den Satz weg: "Vor allem muß bald constatirt werden, ob Savigny will, sans phrase." Damit lag das Angebot des Vizekanzlerpostens auf dem Tisch. Die Entscheidung lag bei Savigny. Hat Bismarck sie bewußt aus der Hand gegeben und mit Savignys Ablehnung gerechnet? Und zweitens: warum lehnte Savigny ab? Josepha von Schönberg vermutet, daß das Angebot auf den König zurückging. Für ihn war das nach beiden Seiten sich richtende Wort von der Vasallentreue ein konstitutives Element seiner Überzeugungen. Andererseits konnte er sich nicht dem Erfordernis verschließen, daß Bismarck die Hand an der Schaltstelle der Macht und der Verantwortung halten und behalten mußte. So lag es ihm nahe, und es erschien auch, sachlich gesehen, als wünschenswert, das Amt eines Vizekanzlers einzurichten. Wilhelm I. durfte hoffen, damit seine Zusage eingelöst zu haben. Die Bewilligung eines Vortragsrechts bei ihm konnte Bismarck verhindern. Schwieriger war, die geheimen Zugänge zum Königspaar zu verstellen. Er durfte nicht zulassen, daß neben ihm ein anderer das Ohr des Monarchen hatte. Im übrigen hätte auch für Savigny die Einsicht nahe gelegen, daß Bismarck die Verantwortung nicht mit ihm oder einem anderen teilen konnte. Aber das Amt des Vizekanzlers war doch auch ein politisch und gesellschaftlich hoch zu veranschlagendes Amt. Vertreter des Regierungschefs zu sein, mußte seinen Inhaber hoch über die gesamte Ministerialbürokratie hinausheben und ihn neben die Staatssekretäre stellen. Vermutlich hätte Savigny auch zugestimmt, wenn die Zusagen von ehedem nicht bestanden hätten oder wenn Bismarck in einer viel früheren Phase der Entwicklung offen mit ihm gesprochen hätte. Sie hatten sich nicht "auseinandergelebt" , sondern sich von jeher in ihrer menschlichen Verschiedenheit respektiert; sie wußten um die Gegensätzlichkeit ihres Naturells, sie wußten aber auch, worin sie übereinstimmten: in der Vertrautheit mit der Materie, in dem Dienst für Preußen und seinen König, in der Ablehnung all der Kräfte, die in einem beinahe unkontrollierbar anmutenden politischen Emanzipationsprozeß nach oben drängten. Sie waren und blieben konservative Hierarchisten und wußten sich getragen vom Vertrauen ihres Herrn. Aber konnte das alles genügen, den vor Jahrzehnten begonnenen Weg gemeinsam bis ans Ende zu gehen? Eines ist sicher: wie den meisten Zeitgenossen fehlte auch Savigny die Einsicht, daß hier ein politischer Genius am Werke war, der mit den damals gängigen Maßstäben nicht ohne weiteres zu messen war. Eine weniger sensible Natur hätte vielleicht das Angebot angenommen und wäre an der Seite des Freundes verblie-

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ben, aber Savigny, ohnehin leicht erregbar und immer sehr empfindlich reagierend, wenn er seine dienstliche Laufbahn gefahrdet sah, hat stets nach einem eigenen, von ihm selbst zu verantwortenden Freiheitsraum gestrebt. Mit den Möglichkeiten des diplomatischen Dienstes vertraut, hätte er abschätzen können, welches Übermaß an Arbeit auf ihn als den Stellvertreter Bismarcks zugekommen wäre. Das hätte freilich eine beizeiten vorzunehmende Kompetenzabgrenzung vorausgesetzt, wofür jedoch Bismarck wiederum schwerlich zu haben gewesen wäre und um die zu kämpfen Savigny nicht robust genug war. Statt dessen gewann er den Eindruck, daß Bismarck seiner nicht mehr bedurfte und die alte Freundschaft aufzulösen bereit war. Am 5. Juli hat Savigny Thiles kurzen Brief vom 3. Juli ausführlich beantwortet. 34 Man kann sich der Wirkung dieser geradlinigen Nachzeichnung der äußeren Vorgänge der Krise nicht entziehen. Nicht weniger spricht aus den Zeilen die beherrschte Verärgerung über die ihm zuteil gewordene Behandlung. Er sagt nicht ja und nicht nein, aber der Tenor weist auf das Nein. "Wenn es sich jetzt aber darum für mich handeln soll," so schreibt er, "eine feste und bestimmte dienstliche Stellung in Berlin einzunehmen, so wäre es nach meinen sachlichen und persönlichen Erfahrungen mehr wie Leichtsinn, wenn ich mir im voraus nicht denjenigen Grad von Selbständigkeit und Unabhängigkeit in dem mir zu übertragenden Amte klar und sicher festgestellt wüßte, ohne welchen eine Stellung, welche nach außen gleichermaßen wie nach innen hin eine einflußreiche sein soll und muß, nicht gedacht werden kann." Es war keine Antwort "sans phrase", wie Bismarck sie erwartet hatte. Die sich hier anschließenden Briefe kann man nur mit Beklemmung lesen. Es handelt sich zunächst um zwei Briefe Bismarcks vom 9. Juli an Thile und Savigny.35 Gegen den ersteren äußert er sich unverblümt: er sieht in Savignys Brief eine Absage und möchte ihn über Abeken an den König gelangen lassen. Wollte Savigny nicht noch umgehend zusagen, so stünden seiner Ansicht nach mehrere Kandidaten zur Auswahl zur Verfügung. 36 "Es braucht nicht notwendig ein Diplomat zu sein," schreibt er, "im Gegenteil, der Mann muß vielseitiger und im Innern bewanderter sein, als Diplomaten meistens sind. In dieser Beziehung ist mir die Wahl von Savigny von Hause bedenklich gewesen; er war, als Erbe der Bundestradition, als Führer der Verhandlungen während meiner Krankheit der gegebene Faden, an dem sich die Sache fortspann. Aber seine steifstellige 34

Savigny an Thile, Karlsbad, 5. Juli 1867 (Nachlaß, S. 950 f.).

35 Bismarck an Thile sowie an Savigny, 9. Juli 1867 (Nachlaß, S. 952 ff.). Vgl. auch

Savigny an Bismarck, 19. Juli und an den König, 19. und 30. Juli (ebenda, S. 954 ff.). 36 Bismarck nennt als Kandidaten den Diplomaten Karl Anton Philipp von Werther, Emil von Richthofen (Gesandter bei den Hansestädten und beiden Mecklenburgs), Karl von Scheel-Pies sen (Oberpräsident in Schleswig-Holstein), Eduard von Möller (Oberpräsident in Hessen-Nassau), Delbrück, Friedrich Albrecht zu Eulenburg (Innenminister), Botho zu Eulenburg (Mitglied des Reichstags) sowie den Abteilungsleiter im Finanzministerium Günther. 16*

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Empfindlichkeit und seine Ungewohntheit im Verkehr mit weniger privilegierten Menschenklassen machen ihn für parlamentarische und administrative Verhältnisse weniger wirksam, als er es seiner sonstigen Begabung nach sein könnte. Ich bin nicht so unglücklich, als ich schicklicher Weise scheinen muß, wenn er bei seiner Weigerung verharrt. Nach den Erfahrungen dieses Winters ist das Zusammenwirken von einer Woche mit ihm durch sechs Wochen boudieren jederzeit zu bezahlen, und das reibt mich auf. Er ist zu anspruchsvoll, oder ich habe nicht die Zeit, ihm den Hof zu machen; hätte ich sie, so ginge es. Wenn dem Könige Savignys Brief und seine Antwort vorliegt, so wird S. M. sich zu entscheiden geruhen, ob einer der eventuellen Kandidaten, die oben genannt, genehm ist ..." Bismarcks Brief an Savigny ist ähnlich entschieden, doch zugleich von betonter Freundlichkeit und Höflichkeit. Das läßt schon die Anrede erkennen: Verehrtester Freund! Er bestätigt ihm, daß es seine auch vom König gebilligte Absicht gewesen sei, ihm die Stellung des Bundeskanzlers, wie sie der Verfassungsentwurf vorgesehen hatte, zu übertragen. Aber die Revision des Entwurfs habe die Stellung verändert, insofern jetzt "der Kanzler bis zu einem gewissen Grade, wenn nicht rechtlich, doch faktisch, der Vorgesetzte des preußischen Staatsministeriums geworden" sei. Somit habe der Kanzler alle Verfügungen der Bundesgewalt verantwortlich zu kontrasignieren; demzufolge könne "der Kanzler nur zugleich Präsident des preußischen Staatsministeriums sein, wenn die neue Maschine überhaupt fungieren soll." Ursprünglich sei der Bundeskanzler als der höchste, aber doch als ein Beamter des auswärtigen Ministeriums gedacht gewesen, der vom Chef dieses Ministeriums seine Instruktionen zu empfangen gehabt hätte - also eine "Art von Bundespräsidialgesandter mit parlamentarischer Tätigkeit, aber unter der Verantwortlichkeit des ihm vorgesetzten auswärtigen Ministers von Preußen, dessen faktischer Vorgesetzter der Kanzler dagegen ... wird, sobald er selbst unter eigener Verantwortung kontrasigniert." Dann folgt der entscheidende Satz: "Solange ich aber die jetzige Stellung innehabe und dem Könige für dieselbe verantwortlich bin, kann ich einem Bundeskanzler oder Vizekanzler neben mir keine politische Selbständigkeit und damit verbundene Verantwortung und keine politische Mitwirkung über die Kompetenz eines meine Instruktionen, wie sie aus meinem Vortrage beim Könige sich ergeben, befolgenden Beamten des auswärtigen Ministeriums einräumen und kann dem Amte des Vizekanzlers keinen anderen Grad von Unabhängigkeit verbürgen, als den eines Botschafters im Auslande oder eines früheren österreichischen Präsidialgesandten. "Wie Savignys Entscheidung auch ausfallen sollte (wegen des für Anfang August vorgesehenen Zusammentritts des Bundesrats war Eile geboten), so beteuert Bismarck, daß er "jeden Anteil an den Geschäften unseres Vaterlandes mit Vertrauen in seinen (Savignys) Händen sehen würde", und er sei sicher, "daß eine etwaige sachliche Meinungsverschiedenheit Ihren Glauben an die Gefühle der Freundschaft und Dankbarkeit, die mich für immer Ihnen verbinden, nicht berühren kann."

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Konnte Bismarck ihn mit diesem Brief überzeugen? Eine geringe Möglichkeit weiterer Zusammenarbeit schien zu bestehen. Am 16. Juli aus Karlsbad zurückgekehrt, begab sich Savigny noch am selben Abend zu Thile. Die von diesem als unglücklich empfundene Unterredung war der Ansatzpunkt zu Savignys ausführlicher Antwort auf Bismarcks Brief. Er beklagt sich darüber, daß Bismarck ihm nicht schon unmittelbar nach der Revision des Verfassungsentwurfs in einer vertrauensvollen Aussprache die Nowendigkeit erläutert hatte, das Bundeskanzleramt selbst zu übernehmen. Der leiseste Anstoß hätte genügt, sofort von jeder weiteren Beteiligung an den Verfassungsarbeiten zurückzutreten. Ein solches Verfahren hätte er jedenfalls von ihm als Freund erwarten dürfen. Ihm dieses offen zu sagen, sei er ihrer alten, oft bewährten Freundschaft schuldig. Er stellt klar, warum er das jeder Selbständigkeit entbehrende Amt eines Vizekanzlers nicht übernehmen könne; er verhehlt nicht, daß er von der Stellung des Bundeskanzlers zum Staatsministerium und seinem Präsidenten eine von Bismarck abweichende Vorstellung habe. "Wenn ... prinzipiell festgestellt wird," so fährt er fort, "daß die Aufgabe des Bundeskanzlers dem preußischen Ministerpräsidenten und Minister der auswärtigen Angelegenheiten zufallen muß, als ein natürlicher Ausfluß seiner Stellung, oder gar nur als ein Nebenamt, so liegt die Befürchtung sehr nahe, daß der leider noch wenig befestigte Glaube an eine lebensfähige Zukunft und selbständige Entwicklung des Bundesstaats stark erschüttert, der baldige Übergang in den Einheitsstaat aber noch allgemeiner als unvermeidlich erwartet werden wird." Menschliche Enttäuschung mischen sich hier mit Meinungsverschiedenheiten, welche die Qualitäten der Bismarck'schen Reichsgründung unmittelbar berühren. Das bedeutete die Trennung. Savigny konnte seine Auffassung "um so unbedenklicher und unbefangener darlegen, als (wie er schreibt) meine Person mit der Ordnung dieser Fragen nicht mehr in Konnex steht." Er schließt mit dem Wunsche, daß es Bismarck noch lange beschieden sei, dem König und dem Vaterlande die ersprießlichsten Dienste zu leisten, und bedankt sich für das jahrelang ihm geschenkte Vertrauen, das es ihm ermöglichte, "wenn ich bei einigen Ihrer wichtigsten Arbeiten durch den König zur Mitwirkung berufen ward."37 Nicht daß Bismarck versucht gewesen wäre, doch noch die Trennung zu vermeiden, aber eine gewisse Ratlosigkeit wird der Leser den Zeilen entnehmen, die Johanna von Bismarck tags darauf an Keudell richtete. 38 Sie selbst sei froh, schreibt sie, daß es mit Savigny nichts geworden sei, "weil ich in seinem Dasein eine unerschöpfliche Quelle von Ärger und Mißhelligkeiten aller Art sah. Sein 37 Savigny an Bismarck, 19. Juli (Nachlaß, S. 954 ff.). Dort auch der Begleitbrief an Thile, in dem es heißt: "Ich danke Gott, daß ich jetzt mit dem Gefühle aus meiner amtlichen Tätigkeit scheiden kann, bewußt niemand gekränkt, jedenfalls aber auch niemals meine Lippen mit einer Unwahrheit befleckt zu haben ..." Sein Brief an Bismarck wurde korrigiert und geändert und dann vom 19. Juli datiert. 38 Johanna von Bismarck an Keudell, 20. Juli (Keudell, a. a. 0, S. 374). Der anschließend zitierte Brief an Thile vom 21. Juli in Bismarcks Briefwerk, Bd. 14/ H, S. 733.

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sehr empfindlicher Brief ist mir gewaltig "Wurscht" und nur insofern unangenehm, weil er Bismarck eben etwas präokkupiert, der doch hundertmal gutmütiger ist als ich." Bismarck schickte Savignys Brief an Thile mit der Bitte zurück, ihn dem König vorzulegen. Es sei ganz die frühere Goltzische Theorie, schreibt er, zwiespältiger Immediatvortrag in Sachen der auswärtigen Politik. "Ich hatte kaum erwartet, daß er sich zu diesem Ziele ganz offen bekennen würde, da ich ihm von Anfang an rückhaltlos gesagt hatte, daß ich den Kanzler, wie er damals und für ihn gemeint war, als abhängig von den Instruktionen des auswärtigen Ministers auffaßte. Nicht einmal die wirklichen Staatsminister sind zu Immediatvorträgen ohne Concurrenz des Ministerpräsidenten berechtigt." Savigny war nicht von der Art, daß er um das Amt des Bundeskanzlers gekämpft hätte. Es wäre auch aussichtslos gewesen. Weder am Hof noch in der Ministerialbürokratie besaß er Freunde, die ihr Schicksal mit dem seinigen verbunden hätten. Wenn er schon ausschied, dann wollte er vor den Augen des Königs in völliger Integrität dastehen. Auf seinen jahrelangen Dienst für die Krone sollte auch jetzt kein Schatten fallen. An jenem 19. Juli, als er seinen Brief an Bismarck richtete, wandte er sich auch an den König mit der Bitte, ihm jetzt, da ihm "zur Zeit eine spezielle dienstliche Aufgabe nicht gestellt worden ist, zu erlauben, von dem ihm schon früher gewährten Urlaub noch weiter Gebrauch zu machen."39 Er verband damit seinen Dank für die vielen Beweise der Gnade und des unschätzbaren Vertrauens, das er ihm in den letzten Jahren entgegengebracht habe. Durch Heinrich Abeken wissen wir, wie der König reagierte. 4O Danach zweifelte der König keinen Augenblick daran, daß nach der letztgültigen Verfassung nur der Ministerpräsident auch das Amt des Bundeskanzlers übernehmen konnte. Vor der Revision des Verfassungsentwurfs habe er allerdings beabsichtigt, Savigny zum Bundeskanzler zu ernennen. Jetzt aber sei eine andere Lage gegeben. Bismarcks Darlegungen seien in jeder Hinsicht korrekt. Das werde auch Savigny bei Erwägung aller Umstände einsehen. Andererseits habe dieser einen Anspruch darauf, über die einem Vizekanzler zugewiesenen Funktionen genau unterrichtet zu werden, bevor er sich entscheide. Wir wissen nicht, ob Savigny von dieser dezidierten Äußerung des Königs Kenntnis hatte. Aus seinem Urlaubsgesuch vom 19. Juli geht es nicht hervor. Im übrigen war der König von Savignys Ablehnung des Vizekanzlerpostens nicht völlig überzeugt. Am 22. Juli ließ er durch Abeken bei Thile anfragen, ob Savignys Urlaubsgesuch als Ablehnung aufzufassen sei. Thiles telegraphische Antwort vom folgenden Tag bezeichnete die Ablehnung als definitiv. Sein Urlaub wurde ihm bewilligt - "unter Anerkennung seiner vortrefflichen Dienste im laufenden Jahr, wobei ihm jedoch ... ins Gedächtnis zurückzurufen ist und ich angenommen hätte, er werde Vizekanzler sein wollen." 39 Savigny an den König, 19. Juli 1867 (Nachlaß, S. 957). Schönberg-Mskr. Ergänzend die Randbemerkungen des Königs auf dem Begleitbrief Thiles zu Savignys Schreiben vom 19. Juli (Nachlaß, S. 957 f.). 40

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Um auch die letzte Unklarheit im zeitlichen Ablauf der Ereignisse zu beseitigen, hat Savigny am 30. Juli in einem Immediatschreiben den Hergang noch einmal geschildert. 41 Er wollte damit den Monarchen überzeugen, daß ihn "weder Motive persönlicher Ehrsucht noch Wankelmut" geleitet hatten, als er sich nicht dazu entschließen konnte, die erst noch zu schaffende Stelle eines Vizekanzlers zu übernehmen. Es sei ihm während seiner Krankheit weder vom Ministerpräsidenten noch einer anderen Persönlichkeit eine Andeutung über die Abwandlung der ihm zugedachen Stellung zuteil geworden. Diese habe er vielmehr erst Anfang Juli durch Thile erhalten. Aus der Reihenfolge der Tatsachen und der beiliegenden Schriftstücke möge der König ersehen, daß ihm durch den Ministerpräsidenten vor dem 3. Juli keine Kenntnis von einer Veränderung des betr. Postens gegeben wurde und ihm mit dem neu zu bildenden Amt des Vizekanzlers keineswegs angetragen worden sei, zugleich Staatsminister und als solcher im Staatsministerium wie die übrigen Minister eine mitberatende Stimme zu haben und daß er seinerseits nie Titel, Rang und Gehalt ins Gespräch gebracht habe, sondern nur von derjenigen Ausstattung von Befugnissen die Rede war, "ohne welche ich nach gewissenhafter Überzeugung E. K. M. in der mir speziell zugedachten amtlichen Aufgabe nicht dienen zu können glaube." Zunächst unbefristet beurlaubt, ist im auswärtigen Ministerium wohl erwogen worden, den Zweiundfünfzigjährigen bei nächster Gelegenheit erneut im diplomatischen Dienst zu verwenden. Konstantinopel und St. Petersburg wurden in diesem Zusammenhang genannt, indes ernst gemeint konnten diese Pläne nicht sein. Dafür lagen diese diplomatischen Schauplätze zu weit außerhalb seines bisherigen Tätigkeitsreviers. Die Öffentlichkeit scheuend, sollten die Spannungen der letzten Zeit nach Savignys Wunsch nicht nach draußen dringen. Als die Berliner ,,Post" eine ihn im Grunde verletzende Mitteilung brachte, hat er zäh, wenn auch nur mit halbem Erfolg um eine Richtigstellung gekämpft. 42 Es hat auch nicht in seiner Absicht gelegen, alle Verbindungen zu Bismarck abreißen zu lassen. Vieles deutet darauf hin, daß er, wenigstens vorerst, an ihre Beibehaltung geglaubt hat. Sein dienstlicher Aufenthalt in Berlin ging dann schnell dem Ende zu. Thile hatte ihm bedeutet, daß es ganz in seinem Belieben stehe, wann er die Wohnung im Staatsministerialgebäude aufzugeben gedenke. Schon nach Trages abgereist, erreichte ihn ein Brief Keudells, der ihm "eine recht unangenehme Angelegenheit" nahezubringen suchte. 43 Der inzwischen zum Präsidenten des Bundeskanzleramtes ernannte Rudolf von DelbTÜck verlangte zunächst drei Räume in dem Gebäude, die Keudell nun in höflichen Worten bald freizumachen bat. Zugleich kündigte er ihm an, daß der bisher im Herrenhaus untergebrachte Bundesrat im September Savigny an den König, 30. Juli 1867 (Nachlaß, S. 958 f.). Vgl. Nachlaß, S. 959 ff. Die Pressefehde dürfte hauptsächlich den Ausschlag dafür gegeben haben, daß nun die Verbindung zu Bismarck ganz abriß. 43 Keudell an Savigny, 13. August 1867 (Nachlaß, S. 966 f.). 41

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ebenfalls mehrere Räume beanspruchen werde. Um ihrem Mann unter den obwaltenden Umständen einen weiteren Aufenthalt in Berlin und etwa damit zusammenhängende Erörterungen zu ersparen, nahm es seine Frau auf sich, die Wohnungsangelegenheit abzuwickeln. Die Zelte wurden abgebrochen. Was Keudell schon am 15. Februar 1867 an Savigny geschrieben hatte, galt mehr denn je auch jetzt: "Wie glücklich wäre ich, wenn ich ein Mittel sähe, über die weite Kluft zwischen den beiderseitigen Anschauungen eine BTÜcke zu schlagen, und wenn es mir beschieden wäre, dabei tätig zu sein ..." Damit nahm Savignys vor Jahresfrist unter so glücklichen Auspizien begonnene Tätigkeit ihr unglückliches Ende. Am beständigsten war sein Verhältnis zu Thile bis zuletzt gewesen. Bei aller Loyalität hat auch er sich zuweilen kritisch über Bismarck geäußert, so etwa: er sei nicht nur "maximus in maximis", sondern manchmal auch "minimus in minimis". 44 Solange Savigny und Bismarck wie in Karlsruhe und Frankfurt aus der Entfernung miteinander agierten und dem gleichen Werke dienten, herrschte Harmonie. Im täglichen Nebeneinander war dagegen für beide kein Platz. Dabei stand Bismarck unter dem Gesetz seines Werkes, das er zu vollenden und auszugestalten und damit geschichtlich zu verantworten hatte. Er blieb darauf bedacht, daß das hierfür erforderliche Instrumentarium ihm unverkürzt zur Verfügung blieb. Savigny, fasziniert von dem ihm zugesagten' Amt des Bundeskanzlers, hätte, sozusagen einen Schritt hinter dem Freunde stehend, auch als Vizekanzler einen bedeutenden Rang gehabt. Es ist letztlich unbegreiflich, wieso er den Gedankengängen Bismarcks nach der verfassungsrechtlichen Umgestaltung dieses Amtes nicht glaubte folgen zu können. Daß bei einem Verbleiben im Amt sich auch für die Zukunft Reibungen einstellten, brauchte nicht die Ausnahme zu sein und konnte gar zur Regel werden. Im unmittelbaren Nebeneinander bedeutender Persönlicnkeiten belasten sie oft die Atmosphäre. Das hat auch Bismarck in der letzten Phase seiner eigenen Kanzlerschaft erfahren müssen.

44 Gustav v. Diest, Aus dem Leben eines Glücklichen. Erinnerungen eines alten Beamten, Berlin 1904, S. 420; vgl. auch Jos. Sass in: Preuß. Jahrbücher, 1929, S. 268.

Neue Wege, Ziele, Freundschaften Savigny hat es immer als beglückend empfunden, dem Staat und dem König seine Kräfte zu widmen. Er hatte früh gelernt, überpersönlichen Werten zu dienen und Enttäuschungen in dem Bewußtsein hinzunehmen, als dienendes Glied letztlich doch in einern höheren Ordnungszusammenhang eingebettet zu sein. Dienst am Staate war für ihn jene Daseinsqualität, ohne die er sich seine eigene Persönlichkeitskultur nicht vorzustellen vermochte. Jetzt, vor der Krönung seiner Laufbahn, karn für ihn das jähe Ende, kein Sturz, wie man wohl meinen könnte, aber ein Ausscheiden unter sehr enttäuschenden Umständen. Hätte man ihm, etwa in Karlsruhe, vorausgesagt, er würde sein öffentliches Wirken dereinst als Oppositionsführer in einern Parlament des allgemeinen Wahlrechts beschließen, er hätte mit Erstaunen und Verbitterung reagiert. Er hat den Parlamenten keinerlei tieferes Verständnis entgegengebracht. Es wäre für ihn unvorstellbar gewesen, auf diesem Markt des politischen Lebens handelnd hervorzutreten. Von den hier nach vorn drängenden Kräften der Masse und der Zahl fühlte er sich abgestoßen. Was den jetzt Zweiundfünzigjährigen beschäftigte, war zunächst der Wunsch, Abstand von den Ereignissen zu finden und sich auf die einsame Burg seines Bewußtseins zurückzuziehen. Andererseits verlangte seine ungebrochene Arbeitskraft bald wieder nach eigener Entfaltung. Die Verwaltung seines Vermögens und die Regelung unaufschiebbarer Familienangelegenheiten konnten ihn nicht ausfüllen. Immerhin hatte sich in Trages mancherlei angestaut, das keinen Aufschub duldete. Hier hat er sich von Ludwig Rößler, einern Mann seines besonderen Vertrauens, gern beraten lassen. Schon seine Vorfahren hatten zu den Savignys in freundchaftlichen Beziehungen gestanden. Einer von ihnen hatte den Kanzler von Crantz beraten und 1727 beim Erwerb von Trages mitgewirkt. In der folgenden Generation ist wiederum ein Rößler als Vermögensverwalter hervorgetreten und hat etwa seit 1750 jenem Christian Karl Ludwig von Savigny gedient, der als Neffe das Erbe des Johann Karl von Crantz angetreten und seinerseits bis 1759 fern von seinen Besitzungen in Zweibrücken gelebt hatte. Jetzt zog Savigny Ludwig Rößler an sich, um seine ordnende Hand über Trages zu halten, während er noch die Stellung eines Bundeskanzlers vor sich sah. Rößler hat bei alledem offenbar eine glückliche Hand gehabt. Als Savigny daran ging, für seine große Familie eine angemessene Heimstatt zu beschaffen, war er es nämlich, der ein Projekt hervorholte, das einst sein Urgroßvater in mehreren Entwürfen für Christian Karl Ludwig von Savigny für die Erweiterung des Pavillons oberhalb der beiden Herrenhäuser zu einern Wohnsitz ausgearbeitet hatte. Savignys Großmutter hatte sich diesen Ausbau gewünscht, indes war die Verwirklichung des Vorhabens wohl an der Sparsamkeit ihres Gatten gescheitert. 1

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Nun wurde der Gedanke wieder aufgegriffen; der Architekt war wiederum ein Rößler, ein Neffe des erwähnten Ludwig Rößler. Dem Pavillon, den Crantz um 1748 hatte errichten lassen und dem Savigny während seiner Frankfurter Zeit noch ein Zimmer aufbauen ließ, wurden jetzt beiderseits Flügel angefügt, die im Grundriß dem heutigen Massivbau entsprechen. Einstöckig und nur aus leichtem Fachwerk ausgeführt, wurde es schon nach wenigen Jahren nötig, die baufallig gewordenen Teile zu erneuern. Das ist dann auch geschehen, aber es war keine endgültige Lösung. Savignys Gemahlin hat 1884 bzw. 1890 schließlich die beiden Flügel in massiver Bauweise zweistöckig errichten lassen. Diese Umund Ausbauten haben nicht immer den Beifall der Nachfahren gefunden. Gelegentlich haben Gründe der Sparsamkeit zur Zurückhaltung gemahnt. Indes griff Savigny einen anderen Plan um so entschlossener auf. Bald nach dem Tode seiner Mutter, die immer gewünscht hatte, an der Seite ihres Gatten in Trages bestattet zu werden, ging er daran, für die Familie eine Gruftkapelle zu errichten. Der Kölner Diözesanbaumeister Vinzenz Statz 2 , auf den in den rheinischen und westfälischen Landen die Entwürfe zahlreicher Sakralbauten sowie die Um- und Erweiterungsbauten vieler Herrensitze zurückgehen, legte auch für den Kapellenbau in Trages mehrere Entwürfe vor. Etwa 1868 war das Gebäude im Rohbau fertig; nach dem Kriege von 1870/71 konnte die innere Einrichtung und schließlich die Einweihung vorgenommen werden. In Preußen hatte Savigny eine Gefährdung der katholischen Interessen bislang kaum wahrnehmen können. Jetzt aber waren in Rom wie in manchen Teilen des ehemaligen Deutschen Bundes Entwicklungen eingetreten, die ihn sehr erregten. Sie betrafen die innerkirchliche Situation, die von der Diskussion um das Unfehlbarkeitsdogma, der Stellung des Papstes sowie der Existenz des Kirchenstaates inmitten einer laizistisch-indifferenten Umwelt gekennzeichnet war. Rom und der Kirchenstaat sahen sich zunehmend von Italien bedroht. Wer vermochte abzusehen, wielange noch Napoleon seine Hand über beide halten konnte! Bei einem Aufenthalt in Rom in der Umgebung seines Schwagers, des Gesandten Harry von Arnim, hatte er Gelegenheit, sich über die Lage der Kirche zu informieren. Nach Deutschland zurückgekehrt, waren es nicht die Eindrücke der historischen und künstlerischen Monumente, die ihn in den nächsten Jahren bestimmten, sondern die kirchenpolitische Situation diesseits wie jenseits der Grenze, die ihn mit Vorrang beschäftigte. Angedeutet hatte sich dieses schon bei den Verfassungsberatungen im Frühjahr 1867. Als es sich darum handelte, festzulegen, was der Beaufsichtigung durch die Bundesgesetzgebung unterliegen sollte, wozu nach den Wünschen einiger Abgeordneter auch die Bestimmungen der preußischen Verfassung über die Rechte der katholischen Kirche gehörten, gab Savigny als I Ich folge hier der nichtveröffentlichten Niederschrift Adolf von Savignys "Erinnerungen an meinen seligen Vater" aus dem Besitz der Frau Angela Gräfin von der Schulenburg. 2 Vinzenz Statz (1819-1898), ursprünglich Schreiner, trat 1841 in die Dombauhütte ein, 1863 - 1890 Diözesanbaumeister in Köln.

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Bundeskommissar eine bezeichnende Erklärung ab: er bemerkte, "daß wir, d. h. die preußische Regierung, als wir den Verfassungsentwuf unseren mitverbündeten Regierungen vorgelegt haben, das religiös-sittliche Gebiet der Autonomie der einzelnen Staaten entschieden nicht entzogen wissen wollten." Es werde künftig an Gelegenheit nicht fehlen, diese Frage erneut anzuregen; vorerst möge man mit Dank hinnehmen, was durch die Bundesverfassung an Fortschritten geboten werde. Das war keine Preisgabe eigener Überzeugungen, sondern die kluge Umgehung etwaiger Schwierigkeiten. Wichtig für ihn war, daß die in Preußen gültigen Regelungen nicht etwa dadurch in Frage gestellt wurden, daß sie in die Mühle der Bundesgesetzgebung gerieten, die nach seinem Urteil schon bald liberale oder gar kirchenfeindliche Züge aufweisen mußte. Um den Rückhalt Preußens im Norddeutschen Reichstag zu stärken und die katholischen Bevölkerungskreise näher an die von dem protestantischen Preußen betriebene Bundespolitik heranzuführen, hat sich Savigny bemüht, die ihm bekannten katholischen Abgeordneten möglichst für die freikonservative Fraktion und somit für die Unterstützung der Bundespolitik zu gewinnen. Zu diesen gehörte der ihm von Frankfurt her befreundete, jetzt in Köln geWählte Stadtpfarrer Eugen Theodor Thissen, der seinerseits bereits versucht hatte, Savigny in seiner Vaterstadt Aachen als Kandidaten für die Wahl zum konstituierenden Reichstag aufstellen zu lassen. Er war damit auf Widerstand gestoßen - vor allem, weil Savignys Name gar zu sehr mit der Politik Bismarcks verknüpft schien. Als Thissen sich dann nach Fulda wandte, erwies sich zwar, daß der Bischof und andere einflußreiche Geistliche eine Kandidatur Savignys wohl begrüßt hätten, aber man hatte sich dort schon auf den Bürgermeister festgelegt. Schließlich hatte Thissen in Köln versucht, unter Verzicht auf die ihm selbst angetragene Wahl Savigny ins Gespräch zu bringen. Auch dieser Versuch scheiterte; Savigny schien als Ortsfremder kaum geeignet, sich gegen einen liberalen Kandidaten durchzusetzen. Savigny hat damals mit zahlreichen Theologen, insbesondere mit Mitgliedern des Episkopats, ältere Verbindungen wieder aufgenommen und neuere geknüpft. Von dem seine rheinische Gemütsart nicht verleugnenden Thissen war schon die Rede. Mit Johannes Janssen, dem relativ spät ins Priesteramt gelangten Theologen und Historiker, verband ihn schon seit seiner Frankfurter Zeit eine enge, unbelastete Freundschaft. Mit Heinrich Förster, dem Fürstbischof von Breslau, der einst in der Paulskirche einen westfälischen Wahlkreis vertreten hatte, traf er sich in ernsten Gesprächen über das Unfehlbarkeitsdogma wie mit Karl Josef Hefele, dem Bischof von Rottenburg, dem Mainzer Wilhelm Emanuel von Ketteler oder auch dem Limburger Oberhirten Peter Josef Blum. Man könnte an Konrad Martin von Paderborn erinnern, an Christoph Florentius Leonhardt Kött, den Bischof von Fulda, an zahlreiche Kleriker wie etwa an den Mainzer Generalvikar Professor Heinrich, an den Seminarregens Komp aus Fulda und andere mehr. 3 Es waren oft nicht in erster Linie die theologischen Probleme, die

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ihn mit ihnen zusammenführten, zumal er nach eigenem Urteil über die Sachkompetenz kaum hinreichend verfügte, sondern die Sorge um die Geschlossenheit der Kirche in einer ihr fremd gewordenen Umwelt. Von Thissens Bemühungen abgesehen, deutete sich schon vor seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst die Möglichkeit an, parlamentarisch tätig zu werden. Die erste Anfrage, sich als Kandidat für die Wahl zum Norddeutschen Reichstag zur Verfügung zu stellen, kam aus dem Wahlkreis Koblenz-St. Goar. Der Landrat Freiherr Raitz von Frentz 4 - vielleicht war er Savigny schon seit einer Begegnung mit der Königin Augusta bekannt - bat ihn unter Hinweis auf seine Mitwirkung beim Zustandekommen der Norddeutschen Bundesverfassung um seine Zustimmung, ihn für die bevorstehende Wahl aufzustellen. Die vom 11. Juli datierte Anfrage beantwortete er schon bald mit einem ausführlichen, zustimmenden Schreiben. 5 Ohne selbst schon an eine Kandidatur gedacht zu haben, nehme er das ehrenvolle Anerbieten "ohne Zögern" an; er habe zwar keine parlamentarische Vergangenheit aufzuweisen, aber er habe im diplomatischen Dienst mitgewirkt, und die hierbei gewonnenen Erfahrungen könnten die - einzige - Legitimation bilden, seine Berufung in den Norddeutschen Reichstag zu rechtfertigen. 3 Zu den hier genannten Persönlichkeiten: Eugen Theodor Thissen (1813 - 1877), Stadtpfarrer in Frankfurt, Ehrendomherr, Domkapitular in Limburg, 1867 kurze Zeit Mitglied des Reichstags (WK Köln), Anlehnung an die Freikonservativen, 1871 Mitglied des Zentrums. - Johannes Janssen (1829-1891), katholischer Historiker und (ab 1860) Theologe, Verfasser einer achtbändigen "Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters" (seit 1877) mit deutlicher Akzentuierung der Kultur- und Sozialgeschichte. - Heinrich Förster (1799 - 1881), Domkapitular in Breslau, vorübergehend Abgeordneter der Paulskirche, 1853 Fürstbischof von Breslau, lehnte das Unfehlbarkeitsdogma ab, unterwarf sich aber schließlich, 1875 abgesetzt (Kulturkampf), regierte jedoch von dem in Österreich gelegenen Schloß Johannisberg aus sein Bistum weiter. - Karl Josef Hefele (1809-1893), 1837 Professor der Kirchengeschichte in Tübingen, im Vormärz Mitglied des württembergischen Landtags, 1869 Bischof von Rottenburg, Gegner des Dogmas, das er als letzter deutscher Bischof erst im April 1871 anerkannte. - Wilhelm Emanuel von Ketteler (1811 -1877), ursprünglich Jurist, aus Protest gegen das preußische Vorgehen im Kölner Kirchenstreit (1837) aus dem Staatsdienst ausgeschieden, dann Theologe, Abgeordneter der Paulskirche, Mai 1850 Bischof von Mainz, 1871/72 im Reichstag, Vorkämpfer einer christlich orientierten Sozialpolitik. - Peter Josef Blum (1808-1884), Theologieprofessor in Limburg, 1842 Bischof daselbst, im Kulturkampf abgesetzt, hielt er sich 1876 in der Verbannung als Gast des Fürsten Löwenstein auf Schloß Haid in Böhmen auf. - Konrad Martin (1812-1879) 1844 Theologieprofessor in Bonn, 1856 Bischof von Paderborn, im Kulturkampf abgesetzt, zu Festungshaft verurteilt. - Christoph Florentius Kött (1801-1873), 1848 zum Bischof von Fulda gewählt, aber erst im Mai 1849 von Vicari konsekriert. - Georg Ignaz Komp (1828-1898), 1860 Professor am Priesterseminar in Fulda, 1861 Regens, 1894-98 Bischof von Fulda, denn Erzbischof von Freiburg, verstarb jedoch auf seiner Reise nach Freiburg am 11. Mai 1898 in Mainz. 4 Jakob Freiherr Raitz von Frentz (1826-1884), Landrat des Kreises Koblenz und Kreis-Polizei-Direktor, 1867 freikonservativer Abgeordneter des Norddeutschen Reichstages. 5 Savigny an Raitz von Frentz o. D. (Juli 1867), (Nachlaß, S. 963 f.).

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Die Kandidatur in Koblenz-St. Goar war noch nicht endgültig geklärt, da erreichte ihn eine vom 7. August datierte Anfrage aus dem Kreise Gleiwitz, wo in Vereinen organisierte katholische Bevölkerungsteile ihn als Kandidaten vorgeschlagen hatten. Savigny gab eine hinhaltende Antwort: er habe kürzlich eine gleichlautende Anfrage aus Koblenz erhalten, aber seitdem noch nichts wieder gehört (12. August). Grundsätzlich könne er dem in ihn gesetzten Vertrauen in Gleiwitz wie in Koblenz entsprechen. Nur wünsche er, daß die Aufstellung seines Namens nicht Anlaß gebe, die konservativen Stimmen zu zersplittern. Die Befürchtung war begründet. Savigny erhielt nämlich ein vom gleichen Tage datiertes Schreiben des Herzogs von Ujest 6 aus Slawentzitz, in dem dieser darlegte, daß er sich selbst um die Wiederwahl in seinem bisherigen Wahlkreis Tost-GleiwitzLublinitz bewerbe, daß aber ein Teil des katholischen Klerus nach Aussagen eines "hervorragenden Mitgliedes der klerikalen Partei" Savigny als Gegenkandidaten aufzustellen im Begriff sei. Damit gerate er in die peinlichste Lage: er möchte auf die Wiederwahl, die durch die Unterstützung sämtlicher Gutsbesitzer und mehrerer Städte aussichtsreich sei, nicht verzichten; andererseits sei ihm peinlich, mit ihm (Savigny) zu konkurrieren. "Nicht ohne Kampf', so schrieb er, entschließe er sich zu der Bitte an Savigny, auf die Kandidatur zu verzichten. Seine Aufstellung sei nur eine konfessionelle Demonstration und könne nur Zwiespalt ins konservative Lager tragen und der Fortschrittspartei nützen. Er werde einen Wahlkampf mit ehrlichen Waffen kämpfen, auch wenn seine Gegner ihn als Feind der Kirche verdächtigten. Savigny antwortete loyal: auch er möchte eine Zersplitterung der konservativen Kräfte vermeiden und hätte seine Bedenken gegenüber den Gleiwitzern noch bestimmter formuliert, wenn ihm gegenwärtig gewesen wäre, daß der Herzog den Kreis Gleiwitz schon früher vertreten hatte. Er werde verstehen, wenn er dem fürstbischöflichen Kommissar Kühn anheimstelle, von der Kandidatur abzusehen und hierzu die geeigneten Schritte einzuleiten. 7 Vielleicht war Savignys Verzicht verfrüht. Kühn jedenfalls bestritt die Gefahr einer Begünstigung der Fortschrittspartei, die nicht einmal daran gedacht habe, einen eigenen Kandidaten aufzustellen. Mit der Ablehnung seiner Kandidatur habe Savigny jedenfalls den katholischen Wählern die Möglichkeit eines Sieges genommen, zumal jetzt die Masse der zwischen materiellen Hoffnungen und ihrem katholischen Gewissen Unentschiedenen abfallen konnte, ohne sich damit etwa in den katholischen Tageszeitungen zu kompromittieren. "Ich selbst könnte," so fährt Kühn fort, "nach Eingang E. E. gefl. Mitteilungen vom 22. nichts weiter 6 Hugo Herzog von Ujest, Fürst zu Hohenlohe-Öhringen (1816-1897), neben seiner Herrschaft Öhringen besaß er große Fideikommißliegenschaften in Obersch1esien, die unter König Wilhelm I. von Preußen im Jahre 1861 zum Fürstentum Ujest zusammengefaßt wurden. Der Herzog gehörte 1867 bis 1876 als Freikonservativer dem Reichstag an; außerdem war er erbliches Mitglied des preußischen Herrenhauses. 7 Unterm 22. August informierte Savigny den fürstbischöflichen Kommissar über den Briefwechsel zwischen ihm und dem Herzog.

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tun als schweigen und den nunmehr gewissen Ausfall der Wahl im Sinne des Akatholizismus als eine Zulassung Gottes auffassen."8 Diese unerquickliche Korrespondenz war noch nicht ausgestanden, als Savigny ein drittes Angebot erhielt. Ein uns nicht näher bekannter Oberregierungsrat Eichhorn, nach den vorliegenden Berichten könnte es der Sohn seines Paten, des Kammergerichtsrats Johann Albrecht Friedrich Eichhorn, gewesen sein, der als Kultusminister die vielzitierte katholische Abteilung eingerichtet hatte, eröffnete ihm, daß er ihn als Kandidaten für den Wahlkreis Leobschütz vorgeschlagen habe. Dieser Grenzkreis, so ließ er ihn wissen, gelte als schwierig; hier fehle der konservative Rückhalt der Rittergutsbesitzer. Die einzige Möglichkeit, dies zu ändern, liege in diesem vorwiegend zur Diözese Olmütz gehörenden Kreis beim katholischen Klerus, von dem er bereits die Zusage erhalten habe, sich für die Wahl Savignys einsetzen zu wollen, sofern dieser seine Zustimmung zu einer Kandidatur vorweisen könne. Savigny antwortete offen: in Koblenz und Gleiwitz sei ihm bereits eine Kandidatur angetragen worden. Aus Rücksicht auf den Herzog von Ujest scheide Gleiwitz aus und aus Koblenz liege ihm noch keine weitere Nachricht vor. Er sei bereit, die von Eichhorn betriebene Kandidatur anzunehmen; {alls er aber in Koblenz gewählt werde, behalte er sich vor, zwischen einer solchen Doppelwahl zu optieren. 9 Am 17. September meldete sich Raitz von Frentz erneut: er übermittelte ihm einige Anfragen, die auf noch im Wahlkreis bestehende Bedenken zurückgingen. So hatte ihm der Landrat Movius aus St. Goar ein Schreiben des Bürgermeisters Syn!e aus Boppard zugeleitet, demzufolge dieser bei der Werbung für Savignys Kandidatur immer wieder auf die gleichen Bedenken gestoßen sei: er habe keine "parlamentarische Vergangenheit"; man möchte wissen, welcher der großen Parteien, den Konservativen oder der Freikonservativen Vereinigung, er sich gegebenenfalls anzuschließen gedenke. 10 Movius fügte hinzu, daß man Savignys Schreiben an Frentz zu allgemein gehalten finde und daher weitere Auskünfte wünsche. Boppard sei ein wunder Fleck im Kreise, wo unter dem Einfluß des fortschrittlichen Abgeordneten Emil Mallmann gegen die konservativen Kräfte gewählt werde. Jetzt käme es darauf an, Mallmann und seine Freunde in der eigenen Gemeinde zu besiegen. Savigny gab erschöpfend Auskunft. 11 Er werde sich der Freikonservativen Vereinigung anschließen; er habe zwar keine parlamentarische, wohl aber eine "politische" Vergangenheit, und hier sei er jederzeit als konservativer Katholik hervorgetreten. Hinsichtlich der zu erwartenden steuerlichen Belastung drückte er die Erwartung aus, daß "die neuen Bundeseinrichtungen geeignet 8 Nach dem Schönberg-Mskr. 9 Fast gleichzeitig wurde Savigny von Graf Oppersdorff aus Geppersdorf im Leobschützer Wahlkreis gebeten, dem Leobschützer Angebot den Vorzug zu geben. 10 Dem Bürgermeister war auch die Frage nach Savignys Stellung zu etwa neu aufzulegenden Steuern gestellt worden. 11 Savigny an Raitz von Frentz, o. D. (Entwurf aus der zweiten Septemberhälfte (Nachlaß, S. 967 f.).

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seien, Preußen bei wesentlichen Ausgabeposten zu entlasten, indem die mitverbündeten Staaten zu deren Aufbringung mit herangezogen werden." Zu einer "Aufstellung eines politischen Programms" oder zur Abgabe bindender Erklärungen war er jedoch nicht bereit. Erwartungsgemäß brachten die Wahlen Anfang September ein für Savigny sehr günstiges Ergebnis. Mit überwältigender Mehrheit setzte er sich sowohl in Koblenz-St. Goar als auch in Leobschütz durch. Er entschied sich für das Koblenzer Mandat. Damit kehrte Savigny unter so gänzlich veränderten Auspizien nach Berlin zurück. In der freikonservativen Fraktion traf er auf eine Reihe politisch engagierter Katholiken. Manche hatten schon früher einmal seine Wege gekreuzt; andere treten jetzt in sein Gesichtsfeld. Wir stoßen auf die Namen Frankenberg und Oppersdorff, auf den Breslauer Kirchenrechtler Ludwig Gitzler, den Domkapitular Künzer, den Herzog Viktor von Ratibor und andere mehr. Für die Anfänge seiner parlamentarischen Tätigkeit fließen die Quellen spärlich. Er war stellvertretender Vorsitzender der Kommission für die Beratung des Gesetzentwurfs über die Verpflichtung zum Kriegsdienst. Indes sind auch hierüber kaum Einzelheiten überliefert. Wir wissen, daß er sich intensiv mit verschiedenen Vorlagen zur Praktizierung der Verfassung beschäftigt hat. Die nivellierenden Amendements zum Freizügigkeitsgesetz, die insbesondere von der Fortschrittspartei betrieben wurden, erregten seinen Widerspruch. Preußen habe zu viel übernommen, äußerte er sich einmal zu dem Abgeordneten Frankenberg, es werde noch lange dauern, um zu amalgamieren, was fremd und widerstrebend sei. Der militärische Oberbefehl komme zwar ausschließlich dem König zu, aber man sollte doch auch den kleineren Staaten einen gewissen Raum belassen. Die Bundesinstitutionen seien unverhältnismäßig stark auf Bismarck zugeschnitten, gab er einmal zu bedenken. Im übrigen verdichtete sich sein Verhältnis zu den führenden Mitgliedern seiner Fraktion so schnell, daß der Herzog von Ratibor sowie Hans Heinrich Fürst von Pless ihn schon bald dafür gewannen, sich auch als Kandidat des Kreises PlessRybnik für die bevorstehenden Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus zur Verfügung zu stellen. Dem Einfluß der beiden Standesherren dürfte Savigny zu verdanken haben, daß er mit großer Mehrheit gewählt wurde. Seine Beziehungen zu dem schlesischen Wahlkreis sind nicht sehr eng gewesen, wie denn überhaupt sein Blick mehr nach dem Westen gerichtet gewesen ist. Mit den Koblenzer Gesinnungsfreunden unterhielt er jedenfalls sehr enge Kontakte. Die Belange der Bevölkerung haben ihn viel beschäftigt - am meisten vielleicht, als es sich um die von der Bevölkerung lebhaft gewünschte Eisenbahnlinie längs der Mosel handelte. 12 12 Mitte Oktober 1867 übermittelte Raitz von Frentz ihm die Anregung, hier ein Landtagsmandat anzunehmen. Nach zwei konservativen Reichstagswahlen, schreibt er, sei die Opposition eingeschüchtert und die Landbevölkerung eher für einen konservativen Kandidaten zu gewinnen. Savigny, in Pless-Rybnik schon gebunden, lehnte ab. Raitz von Frentz trat nun selbst als konservativer Kandidat auf. Schließlich wurde Savigny auch noch aus dem Fraustadt-Kröbener Wahlkreis (Provinz Posen) eine Kandidatur angeboten.

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Wie schon angedeutet, hat sich Savigny damals auch verstärkt der religiösen und kirchlichen Belange angenommen. Hier fühlte er sich unmittelbar angesprochen. Unbefangener als bisher konnte er sich jetzt einschalten. Er wußte, wie sehr gerade katholische Bevölkerungskreise ihm vertrauten. Peter Josef Blum, der Bischof von Limburg, übersandte ihm am 19. Oktober 1866 ein Exemplar eines Hirtenbriefes, den er aus Anlaß der durch die Patente vom 3. Oktober erfolgten Vereinigung des Herzogtums Nassau und des Gebietes der Freien Stadt Frankfurt mit Preußen an seine Diözesanen gerichtet hatte. 13 Es fehle ihm in Berlin jeder Anknüpfungspunkt, schreibt er, und doch sei ihm für die nächste Zeit "dortselbst ein Rückhalt und Vertreter um so notwendiger, je rühriger der Troß der sogenannten Fortschrittspartei ... alle Mittel anwendet, um die pflichtgemäße Treue und Anhänglichkeit der Katholiken an ihre frühere Landesherrschaft und ihren Widerstand gegen die revolutionären und glaubensfeindlichen Tendenzen der Wortführer jener Partei als fanatischen Preußenhaß darzustellen." Von Wiesbaden sei jedoch bisher noch nichts geschehen, um diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Komme die Regierung den Katholiken entgegen, so heißt es weiter, und sei sie darauf bedacht, so rasch wie möglich die Beeinträchtigungen der kirchlichen Autonomie und der katholischen Schulinteressen nach Maßgabe der preußischen Verfassungsbestimmungen und Verwaltungsmaximen zu beseitigen, so werde gerade der verläßliche Teil der Bevölkerung sich bald in die neue Ordnung finden und sich von Herzen dem König und seinem Hause zuwenden. Eine ähnliche Bitte um Vermittlung ging Savigny auch aus seiner Heimatdiözese Fulda zu. Otto Trott zu Solz, der Vorsteher der dortigen Ritterschaft, erbat schon im Dezember 1866 seine Vermittlung: er habe durch den Bischof von Fulda erfahren, daß eine Verfügung aus dem Ministerium des Innem über die Jesuitenpastorisation erfolgt sei, die in Widerspruch zu der in Preußen praktizierten Gerechtigkeit gegenüber den Katholiken und ihren Oberhirten stehe. Der Bischof habe den Erlaß noch nicht weitergegeben und sich dieserhalb nochmals an das Ministerium gewandt. Aus den Akten ist nicht zu entnehmen, ob Savigny eine Möglichkeit sah, sich einzuschalten. Wie vielschichtig die Anliegen waren, die an ihn herangetragen wurden, geht auch aus einem Brief des Ministerialdirektors Kraetzig l4 an ihn vom 27. Januar 1867 hervor: sich auf einen Wunsch des Bischofs von Limburg beziehend, sollte er alles daran setzen, die Aufhebung des vom Regierungspräsidenten Gustav von Diest 15 verhängten Verbots des 13 Blums Brief an Savigny vom 19. Oktober sowie der Hirtenbrief (gedruckt bei G. A. Schlinck in Limburg, 10 Seiten) im Familienarchiv. 14 Adalbert Kraetzig (1819-1887), Ministerialdirektor und Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat im Kultusministerium, bis 1871 Leiter der katholischen Abteilung, 1871/73 Mitglied des Reichstags, seit 1873 Kameraldirektor der Reichsgrafen Schaffgotsch in Hermsdorf; der Brief an Savigny bei W. Real, Katholizismus und Reichsgründung, S 62 ff. 15 Gustav von Diest, preußischer Verwaltungsbeamter (u. a. Regierungspräsident in Danzig, Merseburg und Wiesbaden; während des Krieges von 1866 Zivilkommissar in den Kriegsgebieten von Nassau, Frankfurt und Kurhessen.

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Mainzer Volksblattes für Nassau rückgängig zu machen. Kraetzig war nicht sehr zuversichtlich: ohne Zustimmung Bismarcks werde der Innenminister eine einmal getroffene Maßnahme des Regierungspräsidenten nicht aufheben können. Ob aber Bismarck im gegenwärtigen Augenblick dafür zu haben sei, erscheine ihm sehr fraglich. In Unkenntnis der bereits eingetretenen Entfremdung zwischen Bismarck und Savigny riet Kraetzig, gegebenenfalls diskret bei Bismarck in dem angedeuteten Sinne zu sondieren. Viel Erfolg verspreche er sich nicht. 16. Wie die innerdeutschen kirchenpolitischen Positionen beschäftigten Savigny damals auch die in Rom anstehenden Entscheidungsprozesse. Garibaldis letzter, an den Franzosen gescheiterter Marsch auf Rom erregte auch die deutsche Öffentlichkeit. In der Thronrede bei der Eröffnung des Abgeordnetenhauses im November 1867 nannte der König als seine Aufgabe, "einerseits dem Anspruche meiner katholischen Untertanen auf meine Fürsorge für die Würde und Unabhängigkeit des Oberhauptes ihrer Kirche gerecht zu werden, und andererseits den Pflichten zu genügen, welche für Preußen aus den politischen Interessen und den internationalen Beziehungen Deutschlands erwachsen." Das hieß doch letztlich: gegenüber der italienischen Einheitsbewegung Zurückhaltung zu üben und einem Anwachsen der "ultramontanen" Partei keinen Vorschub zu leisten. Ob die Zusicherungen der Thronrede allen katholischen Kreisen wirklich genügten? Eine diplomatische Intervention zugunsten des Kirchenstaates wurde jedenfalls im deutschen Westen immer dringender verlangt. Vor diesem Hintergrund ist auch Savignys Eintreten zugunsten des Papstes zu sehen. Von einem Entwurf Peter Reichenspergers ausgehend, hatte der Breslauer Domkapitular Dr. Künzer seinen Fraktionsgenossen Savigny über die Absicht mehrerer katholischer Abgeordneter informiert, eine entsprechende Adresse an den König zu richten. Künzer hielt den Zeitpunkt für einen solchen Schritt nicht für geeignet und empfahl auch Savigny, damit bis zum Schluß der Session zu warten. Zudem müsse das Dokument von sämtlichen oder doch der überwiegenden Mehrzahl der katholischen Abgeordneten unterzeichnet werden. Der Plan scheint dann im Sande verlaufen zu sein. Weder die polnischen Abgeordneten, noch die katholischen Kreise der nationalen Parteien, auch nicht die dem Parlament angehörenden Beamten waren bereit, den Entwurf Reichenspergers zu unterzeichnen. Immerhin zeigt die Episode, daß man sich bereits im Vorfeld einer Aktion der katholischen Abgeordneten befand. Die letztlich ergebnislos verlaufenen Erörterungen einer Intervention zugunsten des Papstes erreichten Savigny in einem sehr labilen Zustand. Graf von 16 In Kraetzigs Brief vom 27. Januar heißt es zum Schluß: "Ich ... verspreche mir nach dem, wie sich gewisse Dinge unter dem Schutz der Behörden in Nassau eben zutragen, weder für das Mainzer Blatt irgend einen guten Erfolg, noch glaube ich, daß die katholischen Interessen überhaupt, solange die Zügel der lokalen Verwaltung in den Händen bleiben, in denen sie jetzt sind, eine gerechte und unbefangene Würdigung finden werden - trotz der patriotischen Hingebung des Herm Bischofs."

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Arnim-Boitzenburg, der Grandseigneur aus der Uckermark, war nach längerer Krankheit am 8. Januar 1868 gestorben. Savigny hat den Tod des Schwiegervaters überaus schmerzlich empfunden. Er hatte seinen Weg stets warnend und ratend, in jedem Falle aber helfend begleitet und dabei einen bestimmenden und formenden Einfluß auf ihn ausgeübt, bedenkend, wo es ihm erforderlich schien, bestärkend, wo er zauderte, kritisch abwägend, wo das Für und Wider der persönlichen Entscheidung im Wandel der Stimmungen des Augenblicks es gebot. Im Gedankenaustauch mit ihm hatte sich seine auf Preußen gerichtete Staatsgesinnung ausgeprägt und war ihm die Pflege der tradierten Werteordnungen zur Selbstverständlichkeit geworden. Das sollte auch so bleiben, als er - nicht ohne Groll - das Staatsministerialgebäude in der Berliner Wilhelmstraße verlassen mußte. Das mag auch der König so empfunden haben, als er ihm, der zunächst nur beurlaubt war und am 28. Februar 1868 in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde, für seine ausgezeichneten Dienste seinen tiefempfundenen Dank aussprach. Etwas anderes kam hinzu: Savigny war keine physisch robuste Natur. Ein nicht näher zu bestimmendes, aber vielfach bezeugtes Augenleiden hatte ihn seit seiner Jugend bedrückt. Nun treten Magenbeschwerden hinzu, die ihm die Arbeit manchmal zur Plage werden lassen. An der Eröffnung des Zollparlaments und einem sich anschließenden Essen im Schloß nimmt er noch teil. Im Sommer 1868 verbringt er in Trages noch eine erholsame Zeit. Dann aber muß er an den Präsidenten des Norddeutschen Reichstags ein Urlaubsgesuch richten: er kann den Sitzungen vorerst nicht mehr beiwohnen. Er hatte es in der letzten Zeit ohnehin nur mit Unterbrechungen vermocht. Eine im Herbst 1868 unternommene Erholungsreise in die Schweiz bringt keine Linderung. Er legt sein Mandat für den Kreis Pless-Rybnik nieder. Mehrere Fraktionskollegen bestürmen ihn, es doch zunächst noch beizubehalten, um nach der Genesung an den Landtagsarbeiten wieder teilhaben zu können. Vergebens! Eine dringende Bitte des Herzogs von Ratibor erreicht ihn schon nicht mehr in Deutschland. 17 Jetzt, wo auch seine Frau häufiger zu kränkeln beginnt, schlägt ihr Schwager, Graf Harry Arnim, der Gesandte in Rom, vor, in die Stadt am Tiber zu kommen. Über Nizza und Genua führt die Reise, und dann sieht Savigny seit seiner Kindheit zum ersten Mal die Ewige Stadt wieder. Tatsächlich beginnt sein Gesundheitszustand sich zu stabilisieren. Mehr als damals beeindrucken ihn jetzt die Denkmäler der Kunst und der Geschichte. Allenthalben ist wahrzunehmen, wie das von Pius IX. für das nächste Jahr geplante Konzil Bewegung und Anteilnahme ausgelöst hat. Die organisatorischen und theologischen Vorbereitungen waren längst angelaufen. Der Palazzo Caffarelli, der Sitz des Gesandten, wurde zu einem Ort der Begegnung vieler herausragender Persönlichkeiten, unter denen die Gegner eines Unfehlbarkeitsdogmas offensichtlich überwogen. Savigny hat Gelegenheit, mit 17 Zu dem Entschluß, das Mandat niederzulegen, vgl. Siegmund von Arnim an ihn, 7. November 1868 (Nachlaß, S. 969).

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Theologen und Laien unterschiedlichster Richtung Verbindungen aufzunehmen oder ältere Verbindungen zu erneuern. Mit römischen und deutschen Jesuiten sucht er das Gespräch. Groß ist die Freude, als er einige der Patres, die ihn vor fast vierzig Jahren im Collegium Romanum unterrichtet hatten, wiedersieht. Seine Töchter werden später noch oft von der Privataudienz der ganzen Familie bei Pius IX. erzählen. Zu einer politischen Unterhaltung mit dem Haupt der Kirche kommt es nicht. Offensichtlich ist man in Rom bestrebt, gegen Besucher ohne amtlichen Auftrag Zurückhaltung zu üben. Im Frühjahr 1869 nach Deutschland zurückgekehrt, muß er sofort feststellen, daß die Unfehlbarkeitsfrage hier die heftigste Erregung hervorgerufen hat. Als sich, von einem Komitee unter Führung Peter Reichenspergers, Windthorsts, Edmund Jörgs u. a. betrieben, eine größere Anzahl katholischer Laien zu dem sogenannten "Berliner Laienkonzil" zusammenfanden, gingen die Wogen über eine an die in Fulda versammelten Bischöfe zu richtende Adresse sogleich sehr hoch. 18 Theologische Fragen und Aspekte der Opportunität wurden gleichermaßen erörtert. Sprachen sich die einen für eine schnelle Veröffentlichung der Adresse aus, so befürchteten die anderen hiervon eine Schwächung der kirchlichen Autorität. Savigny, der neben Mallinckrodt an der Versammlung teilnahm, sah seine Aufgabe darin, die Notwendigkeit der Unfehlbarkeitserklärung, ähnlich wie Mallinckrodt, zu verteidigen. Ohnehin nicht geneigt, die theologischen Probleme ganz auszuloten, trug er keine Bedenken, sich der Autorität des kirchlichen Lehramtes zu unterwerfen. Er hat seine Auffassungen unbeirrt vertreten und hierzu einen außerordentlich regen Briefwechsel mit zahlreichen Mitgliedern des Episkopats und sonstigen Mitgestaltern auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene unterhalten. 19 Wo er konnte, hat er den Gedankenaustausch gesucht; wo es ihm geboten schien, hat er im Sinne seiner Überzeugungen festigend und beruhigend einzuwirken gesucht. Als sein jüngerer Freund Johannes Janssen die schwersten Kämpfe heraufziehen sieht, reagiert er souverän und läßt erkennen, wie festgefügt er im Ordnungssystem seiner Kirche steht. Er könne seine "melancholische Auffassung" nicht teilen, schreibt er und fährt dann fort: "ich lebe . in dem Gefühl, daß die katholische Kirche zu siegen im Begriff steht, weil sie, die einzige wahrhaft ideelle Macht auf Erden, sich durch nichts einschüchtern, durch nichts zum Aufgeben und Modifizieren ihrer Prinzipien bestimmen läßt. Gottlob, bin ich kein Theologe, also plagen mich auch keine Skrupel wegen dieser oder jener Interpretation. Nur eines steht mir unbedingt fest: die Autorität kommt von oben, nicht von unten; in der Kirche ist sie sakramentaler Natur ... "20 18 Vg. hierzu Jörg an Savigny, 12. Juli 1869 (Nachlaß, S. 970 f.). Joseph Edrnund Jörg (1819-1901) redigierte seit 1852 die "Historisch-politischen Blätter". 19 Hierzu gibt es jetzt viele Belege, die z. Z. der Herausgabe der Briefe und Aktenstükke aus Savignys Nachlaß noch unerreichbar waren. Savignys Urenkel Rüdiger Frhr. v. Schönberg hat sie wieder aufgefunden und dem Familienarchiv zugeführt. Sie sind inzwischen von W. Real unter dem Titel "Katholizismus und Reichsgründung"(Paderbom 1988) veröffentlicht worden und beziehen sich zumeist auf Savignys letztes Lebensjahrzehnt.

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So beschäftigen ihn weniger die theologischen als die kirchlichen und kirchenpolitischen Fragen. So verfolgt er mit Aufmerksamkeit den sogenannten Breslauer Schulstreit zwischen dem Magistrat und dem Ministerium über den christlichen Charakter zweier Gymnasien. Ihn entrüstet der Moabiter Klostersturm, bei dem es zu Ausschreitungen des Pöbels gegen die erst ein Jahr zuvor eingeweihte kleine Niederlassung der Dominikaner kommt. Ihn erbittert bei den Verhandlungen der Petitionskommission des Abgeordnetenhauses über einen Sturm von Petitionen zur Aufhebung von Klöstern und Domstiften der unverblümt feindselige Bericht des Abgeordneten Gneist,21 demgegenüber der Regierungskommissar Joseph Linhoff sich ganz in der Defensive befindet. Bismarck hält sich zunächst zurück, wie er das auch im Falle des als außerordentlich schroff geltenden Oberpräsidenten Karl von Horn beweist. 22 Als bei der parlamentarischen Behandlung der erwähnten Klosterpetition auf Grund eines von zahlreichen liberalen Abgeordneten getragenen Antrags zur Tagesordnung übergegangen wurde, rief dieser Affront bei den in Rom weilenden Bischöfen ernste Besorgnis hervor. Dieser und ähnlicher Vorgänge sollten wir uns erinnern, um Savignys Stellung im Parlament zu verstehen. Im Norddeutschen Reichstag hatte er sich den Freikonservativen angeschlossen. In diesem Kreise der Großagrarier, der Industriellen und der hohen Staatsbeamten glaubte er, eine angemessene politische Heimstätte zu finden. Aber er mußte bald feststellen, daß aus den Reihen der Altliberalen Kräfte hinzustießen, die in ganz anderen Kategorien zu denken und zu handeln gewohnt waren als er selbst. Vordem Hintergrund der kirchenpolitischen Erregung jener Monate suchte er im Winter und Frühjahr 1870 jenseits der freikonservativen Fraktionsgemeinschaft vermehrt Anschluß an Gleichdenkende, die ihm bereits aus dem kirchlichen Leben der Hauptstadt bekannt waren und geeignet schienen, gemeinsam mit ihm den Zusammenschluß für die demnächst anstehenden Wahlen vorzubereiten. Andere kamen hinzu: Abgeordnete, die seine Sorge um die kirchenpolitischen Verhältnisse teilten, Beamte aus der katholischen Abteilung des Kultusministeriums, süddeutsche Katholiken, die sich zuweilen als Mitglieder des Zollparlaments in Berlin aufhielten. Manche waren ihm schon von Karlsruhe her bekannt wie etwa der Oberhofgerichtsrat Franz Karl Friedrich 20 Savigny an Janssen, 11. Mai 1870 (Nachlaß, S. 972 f.). Der Brief bezieht sich auf einen bislang nicht veröffentlichten Brief Janssens an Savigny vom 30. März. (Katholizismus und Reichsgründung, 100 ff.) 21 Heinrich Rudolf von Gneist (1816 - 1895), Professor der Rechte in Berlin. - Joseph Linhoff (1819-1893), seit 1859 in der katholischen Abteilung des Ministeriums, 1866 Vortragender Rat. 22 Karl von Horn, Oberpräsident in Posen, 1869 in Ostpreußen. Vgl. Bismarcks Urteil über ihn in dem Brief an Delbrück vom 11. Okt. 1869 (Werke, 14/ II, S. 762 f.). Horns selbstgerechte Maßnahmen hatten den Zorn der katholischen Bevölkerung erregt. Um weiteren Beschwerden zuvorzukommen, bat Bismarck den König um Horns Versetzung nach Ostpreußen und empfahl für Posen einen Katholiken, "dessen Treue E. K. M. versichert sind, damit den Umtrieben, welchen der sonst treue polnische Bauer auf religiösem Gebiet unterliegt, die Spitze abgebrochen werde."

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Roßhirt 23, der einst als Vertrauensmann der badischen Regierung bei den römischen Verhandlungen der fünfziger Jahre mitgewirkt hatte und jetzt - Mitglied des Zollparlaments - viel in Savignys Hause verkehrte, oder Otto Dahmen, der einst im großdeutschen "Reformverein" hervorgetreten war und der badischen Zweiten Kammer angehörte und ihm gegenüber jetzt die Hoffnung ausdrückt, Preußen möge den Katholiken in Baden jene Freiheit verschaffen, die es seinen eigenen Landeskindern gewähre. Es wäre auch Rudolf Probst zu nennen, der katholische Rechtsanwalt und großdeutsche Demokrat aus Württemberg, der nach einem späteren Zeugnis niemals vergessen kann, "wie belehrend und erquikkend die Anregungen waren", die er bei Savigny empfangen hatte. Aus all diesen Zeugnissen ist der Wunsch zu entnehmen, für die bevorstehenden Wahlen mit einem eigenen Programm hervorzutreten. Schon befaßte sich sein Fraktionsgenosse, der Kirchenrechtler Ludwig Gitzler, mit den Vorbereitungen der Reichstagswahlen in Schlesien und erstellte ein Verzeichnis bisheriger und jetzt in Aussicht genommener Abgeordneter in den vorwiegend katholischen Bezirken, ein Unternehmen, das noch mit der Führung des katholischen Volksvereins in Breslau abgestimmt werden sollte. Savigny hat damals kein eigenes Wahlprogramm ausgearbeitet, aber mancherlei Notizen bestätigen doch seine Mitarbeit. Anklänge an das von Peter Reichensperger am 11. Juni 1870 in der Kölnischen Volkszeitung veröffentlichte Wahlprogramm sind nicht zu verkennen. Andere Anregungen kamen aus Münster, wo vor allem Mallinckrodt sich um eine Klärung bemühte. Eine in Savignys Nachlaß befindliche Abschrift läßt zweifelsfrei seine Handschrift erkennen. Mallinckrodt hat diesen Entwurf nach Berlin mitgenommen, wo er Grundlage einer weiteren Besprechung wurde; Kraetzig und Savigny haben hierbei zahlreiche Notizen und Randbemerkungen hinzugefügt. So stammt z. B. von Savignys Hand der einleitende Satz: "Wir wollen der Wahrheit, dem Rechte und der Freiheit dienen, in Treue gegen unseren angestammten König, als die von Gott geordnete Obrigkeit, in Anhänglichkeit an unser engeres preußisches und in Liebe zu unserem weiteren deutschen Vaterlande."24 Die weiteren "Kardinalpunkte" - so bezeichnet Savigny sie - befassen sich mit der Beibehaltung der Selbständigkeit der Kirche, der Freiheit des religiösen Bekenntnisses, mit der Schule und dem "heiligsten Recht der Eltern, dem Recht auf christliche Erziehung ihrer Kinder," mit dem Verhältnis des Norddeutschen Bundes zu den Einzelstaaten, mit dem Drängen der herrschenden Parteien zum Einheitsstaat, das geeignet sei, das Gefüge des preußischen Staates zu lockern. Dazu heißt es: "Deshalb wollen wir nur in dem Notwendigen die Einheit, d. h. ein Zusammenfassen und Fortentwickeln der Gesamtkräfte der Nation nur auf den in der Verfassung des Norddeutschen Bundes vorgezeichneten Gebieten, in allen übrigen aber wol23 Franz Karl Friedrich Roßhirt (1820-1887), Oberhofgerichtsrat in Mannheim und Heidelberg, lange Mitglied der Zweiten Kammer, in der er sich schon bald dem sogenannten katholischen "Festungsviereck" (Reinhold Baumstark, Franz Xaver Lender, Ferdinand Bissing und Jakob Lindau) anschloß. 24 Nach dem Text des Entwurfs im Familienarchiv.

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len wir die Unabhängigkeit und freie Selbstbestimmung der Bundesländer erhalten wissen." Die weitere Anspannung der Steuerkraft solle unterbleiben und die Ansprüche des Militärstaates wie die Militärlasten insgesamt sollten sich innerhalb "billiger Grenzen" halten. 25 Es folgen Aussagen, die ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Grundbesitz, Kapital und Arbeit betreffen und eine wirtschaftliche Sicherung des Arbeiterstandes verlangen. Die Hilfe zur Behebung sozialer Mißstände liege zum größeren Teil auf dem der volkswirtschaftlichen Arbeit, der Sitte und der Leistung der christlichen Nächstenliebe. Es müsse daher von der Regierung verlangt werden, "daß sie allen, den gesetzlichen Boden nicht verlassenden Bemühungen zur Lösung der sozialen Aufgabe freien Lauf läßt und daß sie insbesondere auch den im kirchlichen Boden wurzelnden Bestrebungen zur Heilung der sozialen und sittlichen Schäden unserer Zeit nicht mit Vorurteil und Mißtrauen begegnet, ihnen vielmehr Schutz und Förderung angedeihen läßt." Einer Anregung August Reichenspergers folgend, fragte der Oberpfarrer Ludwig Stroux 26 am 3. Juli 1870 bei ihm an, ob er bereit sei, eine Kandidatur für den Wahlkreis Monschau-Malmedy-Schleiden sowohl für den Reichstag als auch für den Landtag anzunehmen. Savignys nicht gerade verheißungsvolle Antwort erfolgte bald. 27 Dem parlamentarischen Leben von Haus aus fremd, erläutert er, habe er nur deshalb in den beiden Häusern ein Mandat angenommen, "weil es sich in den betreffenden Wahlkreisen darum handelte, einen Vertreter von ausgesprochen katholischer Gesinnung zu finden." Aus gesundheitlichen Gründen habe er das Mandat für Ratibor-Pless-Rybnik niederlegen müssen, das Reichstagsmandat für Koblenz aber beibehalten. Für die bevorstehende Legislaturperiode sei er kaum bereit, ein Landtagsmandat anzunehmen, und für den Reichstag nur dann, wenn sich kein geeigneterer katholischer Kandidat fände. Äußerstenfalls konnte man also auf ihn zurückgreifen. Zugleich deutete er seine Bedenken an, unter den derzeitigen Umständen der Regierung im voraus gewisse Beschränkungen hinsichtlich der künftigen Kontingentierung und der Dienstzeit aufzuerlegen. Er würde sich dazu jedenfalls nicht entschließen können. Savignys Brief fiel in eine Zeit höchster politischer Spannung. Der Kriegsausbruch machte allen Erwägungen über eine weitere parlamentarische Tätigkeit vorerst ein Ende. Savigny, einstweilen mit seiner Familie wieder nach Berlin zurückgekehrt, stellte sich erneut dem auswärtigen Dienst zur Verfügung. Der König ließ ihm seine besondere Anerkennung ausdrücken, und Bismarck beeilte sich, durch Thile "dem Wirklichen Geheimen Rat von Savigny seinen Dank für 25 Hier folgt eine Einschaltung von Savignys Hand: "insofern man nur zu den erprobten Grundsätzen der frühren preußischen Finanzverwaltung zurückkehrt und deren strenge Kontrolle auch auf die Bundesfinanzen ausdehnt." 26 Matthias Ludwig Stroux (1833-1916), seit 1868 Oberpfarrer in Monschau, 1911 Ehrendomherr in Köln, päpstlicher Geheimkämmerer. 27 Savigny an Stroux, 10. Juli 1870 (Nachlaß, S. 973 f.).

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die in so patriotischer Gesinnung gewährte Unterstützung in so ernster Zeit auszusprechen." 28 Freunde glaubten schon, Savigny sei, zur Unterstützung und Stellvertretung Thiles, wieder ganz in den aktiven Dienst zurückgekehrt. Adalbert von Rosenberg, sein Kollege von einst und jetzt Gesandter in Stuttgart, gratulierte ihm zu dieser Wendung der Dinge. Friedrich Eichmann, den Savigny einst in die Künste des diplomatischen Dienstes eingeführt hatte, war nicht weniger erfreut und übermittelte aus Dresden zugleich auch Friesens Mitfreude über seine Wiederverwendung. Vorwiegend mit den deutschen Angelegenheiten befaßt, trat Savignys Tätigkeit bald wieder in den Hintergrund, als mit dem Näherrücken der militärischen Entscheidung die damit zusammenhängenden Fragen fast ausschließlich von Bismarck selbst wahrgenommen wurden. Zugleich aber trat mit dem Ende des Konzils und der Liquidierung des Kirchenstaates ein außenpolitisches Problem besonderer Schwere in den Mittelpunkt. Wo er konnte, suchte er Verständnis für die schwierige Lage des Papstes zu wecken und andererseits gegenüber allen drohenden schismatischen Bestrebungen für die Aufrechterhaltung der Einheit zwischen Bischöfen und Gläubigen tätig zu sein. Er war darauf bedacht, falsche Entschließungen der Regierung in der römischen Frage möglichst zu verhindern. So hat er beizeiten seine Ansichten über die nach dem Konzil zu beobachtende Haltung zu formulieren gesucht. Dem Bischof von Fulda gegenüber bringt er zum Ausdruck, daß "je klarer und bestimmter sich unsere verehrten Oberhirten ... als vollständig vereint mit dem Papst und den von ihm verkündeten Ansprüchen (auf der bevorstehenden Fuldaer Bischofskonferenz) aussprechen werden, um so mehr ihr Ansehen ... auch bei den Regierungen sich fest begründen wird. Ein Bischof, welcher den gläubigen Teil seiner Diözese, Klerus wie Laien, nicht vollständig in Treue und Opferwilligheit hinter sich hat, gilt auch bei den Regierungen nur noch wenig." Zum Schluß heißt es: "Nach meiner Empfindung steht es um die Zukunft der katholischen Interessen in Deutschland nur dann gut, wenn unser hochwürdigster Episkopat ... recht fest und bestimmt seine Solidarität ... so außer Frage stellt, daß weder Freund noch Feind im Zweifel sein können."29 Neben der inneren Geschlossenheit des deutschen Katholizismus verfolgte Savigny mit großer Sorge die Entwicklung in Rom. Durch die Gesandtschaftsberichte genau über die Zuspitzung der Lage informiert, waren seinem helfenden Einfluß nur sehr enge Grenzen gesetzt. Bei alledem suchte Bismarck im Hintergrund zu bleiben und einen Konflikt mit dem Papst und den deutschen Katholiken zu vermeiden. Eine Intervention in Rom war von ihm kaum zu 28 Thile an Savigny, 31. Juli und Bismarck an Thile, 18. August 1870 (Nachlaß,

S.975).

29 Savigny an Bischof Christoph Florentius Kött von Fulda, 1. September 1870; Antwort des Bischofs vom 2. September sowie der gemeinsame Hirtenbrief im Familienarchiv.

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erwarten. Dennoch mußte sie nach dem Tage von Sedan eher möglich erscheinen als noch wenige Wochen zuvor. Immerhin war der Münchener Nuntius schon mit einer diesbezüglichen Bitte hervorgetreten, und angesichts der Zurückhaltung Österreichs suchte der bayerische Gesandte Freiherr Pergier von Perglas zu erfahren, ob von Berhn aus Vorstellungen in Florenz erhoben worden waren. Von Thile informiert, äußerte Bismarck seine Bedenken gegen eine Einwirkung auf die italienischen Angelegenheiten. Als Thile am 12. September noch einmal bei Bismarck anregte, in Florenz vorstellig zu werden, hat dieser - vielleicht nicht zu Unrecht - Savigny hinter der Aktivität des Unterstaatssekretärs vermutet. Wozu er sich bereit fand, war der Hinweis auf die schon vor Jahren nach Florenz ergangene Bemerkung, derzufolge das Interesse Preußens an der römischen Frage als "bedingt und beschränkt durch das Bedürfnis der katholischen Untertanen" gekennzeichnet worden war. 30 Als Thile am 19. September in einem Telegramm an Bismarck den Plan des Papstes ventilierte, eventuell nach Belgien ins Exil zu gehen, fügte er hinzu, er habe Arnim angewiesen, jede auch nur indirekte Einladung des Papstes nach Preußen zu vermeiden; aber sei jetzt nicht Fulda ins Auge zu fassen? hatte er hinzugefügt. Bismarck lehnte unmißverständlich ab. Eine Übersiedlung nach Preußen würde Verlegenheiten und Gefahren mit sich bringen; jedenfalls dürfe keine dahin zielende Initiative ergriffen werden. Damit waren die Grenzen abgesteckt. Nach einer Bemerkung Harry Arnims blieb der Papst auf einem Raum von der Größe des Lustgartens beschränkt. Konnte es wirklich genügen, wenn Bismarck in Florenz die Hoffnung aussprechen ließ, daß die italienische Regierung die Freiheit und Würde des Papstes auch dann achten werde, wenn dieser genötigt sei, Rom zu verlassen? Die Lage spitzte sich weiter zu, als Garibaldi, um seiner Überwachung zu entkommen, auf französischem Boden eine italienische Freischar gegen die deutschen Truppen aufstellte. Ob sich nicht doch noch nachträglich eine Intervention zugunsten des Papstes bewerkstelligen ließ? Vielleicht konnte es gelingen, unter den deutschen Katholiken eine Bewegung zugunsten des Papstes hervorzurufen. Sollte auch dann der König bei seiner Zurückhaltung bleiben? In einem Brief an den ihm seit längerer Zeit bekannten Grafen Chamare vom 1. Oktober hat Savigny seine Anregungen entwickelt. 31 Er halte es für nötig, schreibt er, "daß sich aus allen Diözesen der preußischen Monarchie möglichst viele katholische Stimmen erheben, welche sich recht bald in zahlreichen Petitionen an S. M. den König wenden und dessen 30 Bismarck, Werke, VI b, S. 491, Nr. 1798. Thile fragte am 12. September: "Könnte nicht in Florenz in irgendeiner Form Verwahrung gegen Maßregeln eingelegt werden, die dem Papst persönlich Gefahren bereiten? Die Wirkung auf unsere Katholiken wäre vortrefflich." (Werke, VI b, S. 496, Nr. 1803). Moritz Busch hat später eine Äußerung Bismarcks überliefert: "Der gute Thile ist ganz in Savignys Stricken; er ist außer sich, daß wir den Papst nicht gerettet haben." (Busch, I, S. 245). 31 Johann Graf von Harbuval-Chamare-Stolz (1834-1895), schlesischer Rittergutsbesitzer, 1873 -1893 im Reichstag (Zentrum). Der Brief ging ihm verspätet zu, da er als Malteserritter im Felde stand.

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Hilfe zur Wiederherstellung der Freiheit und Unabhängigkeit des Hl. Vaters ... direkt in Anspruch nehmen, und zwar unter ausdrücklicher Berufung auf die von dem Könige in der Thronrede vom 16. November 1867 gegebenen Zusagen." Eine solche Aktion werde vor allem dann ihren Eindruck nicht verfehlen, wenn sie in allen Teilen Preußens gleichzeitig erfolge. Sie kam in der Tat schnell in Gang. In Schlesien warb Gitzler für sie. Der Bischofvon Münster griff die Anregung auf. In Limburg wünschten die Domkapitulare Klein und Thissen sich ebenfalls anzuschließen. Der Bischof von Hildesheim wandte sich dieserhalb unmittelbar an den König. Zahlreiche Eingaben aus Theologen- und Laienkreisen liefen in schneller Folge im Hauptquartier des Königs in Versailles ein, so daß Bismarck sich schon am 19. Oktober veranlaßt sah, von dem Kultusminister Mühler eine gutachtliche Äußerung über die Bedingungen der Freiheit und Unabhängigkeit des Papstes zu erbitten, "die wir im Interesse der norddeutschen Katholiken bei Verhandlungen über die Rechte des Papstes zu vertreten haben werden." Die Unterzeichner der Eingaben bzw. einige Bischöfe sollten veranlaßt werden, sich vertraulich darüber zu äußern, welches Minimum der Forderungen an Italien zu stellen sei, und auf welchem Wege sie meinten, daß der König vorzugehen habe, ob mit Gewalt, durch Verhandlungen mit der italienischen Regierung oder mittels eines europäischen Kongresses. 32 Mühler hat die Weisung fast wörtlich an die Ordinariate weitergegeben. Als erster wandte sich der Limburger Domkapitular Klein hilfesuchend an Savigny. Die Anfrage sei einer doppelten Auslegung fähig, gab er zu verstehen, einer positiven mit der Möglichkeit der Herstellung eines guten Einvernehmens mit dem Episkopat und einer negativen, indem sie sich als eine den Bischöfen gestellte Falle erweisen könnte. Savigny kam der Bitte nach, formulierte seine "Andeutungen über die Art der Beantwortung der vom Minister gestellten Fragen" und ließ diese nach mehrmaliger Überarbeitung mehreren Ordinariaten zugehen. 33 Die Souveränität im römischen Gebiet mit unbeschränkter Landeshoheit, betonte er, sei der Inbegriff derjenigen Bedingungen, die man seit der kulturgeschichtlich angenommenen Begründung des christlichen Zeitalters allseitig für unerläßlich gehalten habe. Die Unabhängigkeit des Hl. Stuhles sei in völkerrechtlich geordneten Zeiten niemals bestritten worden. Savigny empfiehlt sofortige Verhandlungen und erhofft sich von einem entschiedenen Protest Preußens gegen die bereits vollzogene Vergewaltigung des Hl. Stuhles ein Zurückweichen Italiens und ein Einschreiten ganz Europas in einem wiedererwachten Rechtsgefühl. Preußen bliebe dann der Ruhm des Erfolges gesichert. Es wäre die erste friedliche Entfal32 Bismarck, Werke, VI b, S. 553, Nr. 1876. Vgl. auch W. Reichle, Zwischen Staat und Kirche. Das Leben und Wirken des preußischen Kultusministers H. v. Mühler, Berlin 1938, S. 315 ff. Mühlers Gutachten wurde am 29. Dezember Bismarck zugeleitet. - Heinrich von Mühler (1813 - 1874), ursprünglich pietistischen Gedanken nahestehend, war von 1862-1872 Kultusminister. 33 Text der "Andeutungen ..." im Nachlaß, S. 979 ff.

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tung seiner in einem glorreichen Kriege gewonnenen Machtstellung, "der größte Lohn zudem für die Treue der Hunderttausende von katholischen Kriegern ... und das sicherste Fundament für das gerechtfertigte Vertrauen, welches alle Katholiken in Deutschland dem neuen Schirmherrn entgegenzubringen wünschen." In einem Begleitschreiben an den Bischof von Hildesheim heißt es erläuternd: ". . . Darum ist die Antwort der Hochwürdigsten Herren Bischöfe von, höchster Wichtigkeit; es darf vor allem kein Atom der Rechtsansprüche des Hl. Vaters vergeben werden; zugleich aber muß der Faden einer Verständigung mit unserer Regierung weitergesponnen werden. Die dargereiche Hand muß ergriffen, dann aber bis zu einer wirklichen Restitution des Hl. Vaters in die Souveränität auf seinem Gebiete festgehalten werden." Savigny teilt mit, daß sowohl Kraetzig wie der Erzbischof von Gnesen-Posen mit ihm übereinstimmten. Ledochowski sei ins Hauptquartier abgereist. Seine Fahrt in Berlin unterbrechend, hatte er hier Gelegenheit, die Problematik noch einmal ausführlich zu erörtern. Savigny hielt es für nützlich, daß die Bischöfe noch vor der Beantwortung des Mühler'schen Zirkulars auch Ledochowskis Eindrücke kennenlernten. Dieser wollte seinerseits auf der Rückreise von Versailles den Erzbischof Melchers von Köln informieren, um eine Verständigung der Bischöfe sicherzustellen. Aus Köln, Fulda, Limburg, Münster und vielen anderen Stellen erhielt Savigny wortreiche Zustimmungen, und er hat seinerseits noch auf anderen Wegen versucht, für eine Intervention zu werben. 34 Indes kehrte Ledochowski nach einer zwar freundlichen Aufnahme im Hauptquartier mit zwiespältigen Eindrücken zurück. Savigny wußte, wie schwierig es war, Bismarck für eine Aktion zu gewinnen, die nicht unmittelbar im Interesse Preußens oder des Norddeutschen Bundes lag. Seine Bemühungen um eine Intervention zugunsten des Papstes liefen parallel mit einer neuen Phase seiner parlamentarischen Tätigkeit. Stroux hatte ihn in Monschau ins Gespräch gebracht, nachdem er sich eine Möglichkeit errechnet hatte, statt der (wie bisher) beiden protestantischen Abgeordneten zwei katholische, nämlich Savigny und August Reichensperger, in den Landtag zu schicken. Savigny stimmte seiner Kandidatur zu, sofern die konservativ und christlich gesinnten Notabilitäten des Wahlkreises in Ermangelung eines anderen katholischen Kandidaten ihn durchzubringen bemüht seien. 35 Er hatte Erfolg: am 16. 34 Josepha von Schönberg weist auf mehrere Entwürfe für Mitteilungen an die Presse hin. Sie zitiert aus einer Notiz von Savignys Hand (offenbar aus einem Entwurf oder einer Abschrift eines Briefes der Königin an ihren Gemahl) die folgenden Zeilen: "Die katholische Bewegung zugunsten des Papstes nimmt immer größere Dimensionen an. Dabei rechnen die Katholiken bei uns sowohl als am Rhein und Westfalen als wie in Schlesien mit Sicherheit darauf, daß Deine Intercession ihren Wünschen gerecht werden wird. In allen darauf bezüglichen Adressen, welche in sämtlichen Diözesen umlaufen, ist, wie ich höre, in durchaus loyaler und patriotischer Gesinnung auf Deine Hilfe als die mächtigste in Europa Bezug genommen. Gut ist es, wenn die Leute durch das, was möglicherweise für die Unabhängigkeit des Papstes sich noch erreichen läßt, in ihrem Vertrauen noch bald bestärkt und nicht etwa in antipreußischem Sinne von unseren Gegnern bearbeitet werden."

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November 1870 als Abgeordneter des Kreises Monschau-Malmedy-Schleiden gegen den Industriellen Dr. Strousberg in den Landtag gwählt, schrieb ihm August Reichensperger am 23. November aus Köln: " ... Ich wollte erst die Wahlgewässer etwas ablaufen lassen, aus welchen nunmehr, Gottlob, eine Kammer aufgetaucht ist, welche für unsere Sache etwas hoffen läßt." Es gereiche ihm zur besonderen Freude, daß er in Monschau das goldene Kalb (Strousberg) zu Fall gebracht habe. Das große We1trätsel, die Römische Frage, scheine ihm in ein etwas günstigeres Stadium zu treten. Er regte an, sich am Abend vor der Eröffnung der Kammer in einem noch zu bestimmenden Berliner Lokal einzufinden. Mit ihm war auch Schorlemer-Alst, der erst kurz zuvor als Malteserritter aus dem Kriege heimgekehrt war und nun, mit den parlamentarischen Bräuchen noch nicht vertraut, von Savigny eingeführt zu werden wünschte. 36 Die Gründung einer Mittelfraktion bahnte sich damit an. Es sollte eine betont katholische Fraktion sein. "Savigny meint," so schrieb Peter Reichensperger seinem Bruder, "wir müßten wieder eine katholische Fraktion gründen. Mallinckrodt ist zwar nicht unbedenklich, wünscht aber evtl. eine "katholische Volkspartei aus uns zu machen, so daß ich einem desfallsigen Streite zunächst entgegensehe; wir werden jedenfalls in der neuen Fraktion verdammt heterogene Elemente zusammenfinden."3? Die folgenden Tage sollten eine gewisse Klärung bringen. "Wie soll und kann eine künftige Fraktion heißen?" fragt Mallinckrodt am 7. Dezember, "darüber zerbrechen sich manche den Kopf. Ich hatte früher ,katholische Volkspartei' proponiert und jetzt ,konservative Volkspartei' vorgeschlagen. Savigny, Windthorst, Schorlerner stimmen zu; andere habe ich über diesen Namen noch nicht gesprochen. Savigny, Reichensperger und Kehler werden zum ersten Zusammentritt eingeladen." 38 Das ist dann auch geschehen. Savigny, Kehler und Peter Reichensperger erließen an alle gesinnungsverwandten Abgeordneten für den 13. Dezember, den Tag vor der Eröffnung des Parlaments, die Einladung. Bei einem gemeinsamen Essen und der sich anschließenden Gründungsversammlung im Keller des "Englischen Hauses" ging es um die Freiheit und Selbständigkeit der Kirche, die organische Weiterentwicklung des Verfassungsrechts, um Namen und Charakter der Fraktion u. a.m. Es gab offenbar eine recht lebhafte Auseinandersetzung. Während der mit Savigny befreundete Geistliche Rat Müller aus Berlin für eine ,,katholische 35 Eine gleichzeitig von seiner heimischen Gemeinde Somborn aus betriebene Aufstellung war wohl nicht ernsthaft gemeint. - Über Savignys politische Gedankenwelt vgl. auch E. L. v. Gerlachs Brief an ihn vom 26. Oktober 1870 (Nachlaß, S. 978 f.). 36 Burghard Frhr. v. Schorlemer-Alst (1825 -1895), Offizier, dann Landwirt, Gründer der westfalischen Bauernvereine, 1870-1889 im Abgeordnetenhaus, wiederholt auch im Reichstag, Gründer des "Vereins katholischer Edelleute in Westfalen", 1881 päpstlicher Geheirnkämmerer. 3? Peter Reichensperger an seinen Bruder August, 27. November 1870 (0. Pfülf, Hermann von Mallinckrodt, 1901, S. 325). 38 O. Pfülf, Mallinckrodt, a. a. 0, S.325. - Friedrich von Kehler (1820-1901), Legationsrat, Reichstagsabgeordneter.

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Fraktion" warb, empfahl Künzer einen Verbleib der katholischen Abgeordneten bei ihren jeweiligen Fraktionern, was wiederum Reichensperger und Savigny ablehnten. Wie schwierig die Diskussion war, zeigte sich daran, daß Künzer und Windthorst die Tischgesellschaft vorzeitig verließen. Schließlich einigte man sich auf einen von Reichensperger angesteuerten Komprorniß, wonach man von einer Erneuerung der vormaligen katholischen Fraktion abzusehen beschloß, um eine auch Nichtkatholiken offenstehende Fraktion ins Leben zu rufen. Schließlich wurde auch die Gründung eines katholischen Blattes eingeleitet, das vom 1. Januar 1871 an als "Germania" erscheinen sollte. 39 Schon die zweite, unmittelbar vor Weihnachten erschienene Probenummer berichtete von der Konstituierung der Fraktion. Über Savignys Anteil an dieser Prozedur hat es abweichende Äußerungen gegeben. Schon Josepha von Schönberg hat darauf hingewiesen, daß die Frage nicht ohne Blick auf die in der Familie überlieferte Auffassung zu beantworten sei. Hier galt es stets als sicher, in ihm einen Hauptträger des Gedankens eines politischen Zusammenschlusses der katholischen Abgeordneten zu sehen. Grundlage dafür sind die mündlichen Berichte der Marie von Savigny sowie ihre späteren Aufzeichnungen, die Savignys zweiter Sohn Adolf seiner eigenen Darstellung zugrunde gelegt hat. Danach pflegte Savigny gern ihm nahestehende katholische Abgeordnete oder sonstwie führende Persönlichkeiten zu Tisch zu laden, um in kleinem Kreise Fragen gemeinsamen Interesses zu besprechen. Oft hat auch Marie an diesen Zusammenkünften teilgenommen und davon zuweilen ihren Kindern erzählt. So erfahren wir von einem Abendessen, an dem Windthorst und Mallinckrodt teilnahmen und bei dem Savigny seine ganze Beredsamkeit aufwandte, um beide für einen Beitritt zu einer katholischen Fraktion zu gewinnen. Besonders Mallinckrodt, so wird berichtet, habe bei dieser Gelegenheit seine Bedenken "mit größter Zähigkeit immer wieder geltend gemacht."4O Damals standen sie sich noch ziemlich fremd gegenüber. Windthorst nahm am kirchlichen Leben bei weitem nicht den Anteil wie in den späteren Jahren. Keiner hat so wie Savigny an einem Ausgleich innerhalb des Kreises katholischer Abgeordneter gearbeitet. Seine Integrationskraft sollte am Ende auch evangelischen Politikern den Weg offen halten, sofern ihre konservative Grundhaltung unbestritten war. Peter Reichenspergers Wort von den "heterogenen Elementen" innerhalb der Fraktion traf die Wirklichkeit. Hier gab es groß- und kleindeutsche Überlieferungen, süddeutsche und damit oft antipreußische Einstellungen neben den Verfechtern einer unter preußischer Führung erreichten Reichseinheit, rheinisch-liberale 39 Aufruf zum Abonnement, Prospekt (bereits vom November 1870 datiert), desgl. der vom 19. November datierte Sozietätsvertrag im Familienarchiv. Über all diese Vorgänge bringen die wiederaufgefundenen Teile des Savigny-Nachlasses sehr viele Einzelheiten; sie enthalten u. a. auch die Protokolle über die Gründung und die ersten Aktivitäten der Zentrumsfraktion. 40 Hierbei bemerkte Mallinckrodt: "Sie bringen sie (die katholischen Abgeordneten) doch nie unter einen Hut."

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Grundhaltungen neben hochkonservativen Denkgewohnheiten westfälischer und schlesischer Grundbesitzer, und schließlich kam Windthorst aus dem Lande der Welfen. Föderalistische Kräfte mochten gegenüber den unitarischen überwiegen, aber niemand wollte mit dem Makel partikularistischen Eigensinns gezeichnet sein. Hier war eine Integrationskraft vonnöten, die letztlich auch ein unbestreitbares Ja zur Reichsgründung in sich schloß. Savigny war der Repräsentant dieser Prinzipien. Es überrascht nicht, daß er auch zum Vorsitzenden der Fraktion gewählt wurde. 41 In einer Begrüßungsansprache 42 weist er darauf hin, wie sich allenthalben in katholischen Kreisen der Wunsch durchgesetzt habe, "daß die Vertreter, welche man deshalb gewählt, weil sie auf festem christlich-kirchlichen Boden stehen, sich wiederum in eine parlamentarische Vereinigung zusammenschließen sollen." Nur so werde es gelingen, das der Kirche und der christlichen Schule in Preußen zustehende Recht zu schützen. In allen übrigen Fragen werde sich eine Verständigung erzielen lassen. Er hielt es nicht für ratsam, sich von vornherein an ein politisches Programm zu binden, und empfahl eine Kommission, die alsbald ein Statut für ihr parlamentarisches Zusammenwirken entwerfen sollte. An der am folgenden Abend, dem 14. Dezember, wiederum im "Englischen Hause" abgehaltenen Versammlung nahmen außer Savigny, Kehler, den beiden Reichenspergern, Schorlemer-Alst, Mallinckrodt noch etwa dreißig Mitglieder der neuen Fraktion teil. Im Mittelpunkt stand die Frage nach ihrer Benennung. Die zuvor eingesetzte Kommission hatte "Fraktion des Zentrums" vorgeschlagen; dagegen wandte sich, von mehreren Teilnehmern unterstützt, Freiherr von Loe, der seinerseits "Katholische Volkspartei" vorschlug. Mallinckrodt lehnte beide ab: man solle von vornherein eine andere Position beziehen und sich "Konservative Volkspartei" nennen. Schorlerner wiederum erinnerte daran, daß er auch von Protestanten gewählt worden sei, und neigte dazu, vorerst "Fraktion des Zentrums" zu unterstützen. Schließlich wurde auch "Fraktion der verfassungstreuen Katholiken" vorgeschlagen. Da meldete sich Windthorst zu Wort: die gegen das Wort ,,katholisch" geltend gemachten Bedenken überzeugten ihn nicht. Von evangelischer Seite würden ohnehin nicht viel hinzukommen; er sprach sich für den Kommissionsvorschlag aus. In der sehr lebhaft verlaufenen Sitzung blieb die Entscheidung noch offen. Auf Mallinckrodts Vorschlag wurde Savigny bis zur definitiven Konstituierung zum "Diktator" ernannt. Der Ausdruck war scherzhaft gemeint. 41 Savigny war bemüht, gläubige Protestanten gegen die liberalen Kirchenfeinde (als solche betrachtete er sie) zu gewinnen. Dem galt auch die Pflege seiner freundschaftlichen Beziehungen zu Ernst Ludwig von Gerlach. 1873 ins Abgeordnetenhaus gewählt, schloß er sich auf Savignys Wunsch als Hospitant dem Zentrum an. 42 Savigny, Entwurf einer Ansprache vor den katholischen Abgeordneten, o. D. (Familienarchiv). Am Tage darauf wurde die Wahl wiederholt: Savigny erhielt 40 von 41 Stimmen, Peter Reichensperger 38, Windthorst 34, Pfarrer Elkemann 30, Schorlemer 26. Im 2. und 3. Wahlgang wurden außerdem noch Gajewski und Graf Praschma zu Vorstandsmitgliedern gewählt.

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Auch die dritte Sitzung, am 15. Dezember und nun erstmalig im Abgeordnetenhaus, brachte keine Klärung. Man beschloß die gekürzte Veröffentlichung der Satzung in einigen Blättern, die Entsendung Mallinckrodts als Repräsentanten der Fraktion zur Konstituierung des Parlaments und schließlich auf Savignys Vorschlag, es beim ,,zentrum" zu belassen und die eventuelle Hinzufügung eines erläuternden Untertitels (vorgeschlagen wurde: "Verfassungspartei", "Volkspartei" und "Verfassungsmäßige Volkspartei") bis zum Eintreffen sämtlicher Mitglieder zu vertagen. Bis zur nächsten Sitzung (16. Dezember) waren bereits 52 Abgeordnete der Fraktion beigetreten. Jetzt zeichneten sich auch schon die ersten Aktivitäten ab: so wurde Savigny vorgesehen, der Kommission zur Beratung des Etats des Ministeriums des Auswärtigen zu präsidieren. Am 19. Dezember folgte die endgültige Konstituierung. Zum Vorsitzenden wurde Savigny mit 39 von 40 Stimmen gewählt. (Schorlemer erhielt 32, Windthorst 28). Dann wandte man sich den nächsten Reichstagswahlen zu. Auch hier eine entsprechende Fraktion zu gründen, bedurfte keiner weiteren Debatte. Es galt nur noch, sich über zweitrangige Fragen zu verständigen. Man sprach über Fragen der Organisation und der Werbung, über die Einschaltung der Presse, über die Verwendung des Begriffes "Kirche" oder "anerkannte christliche Religionsgemeinschaften". Man erörterte auch, ob man von Berlin als dem zentralen Ausstrahlungsort für die Durchsetzung politischer Ziele auszugehen, oder ob man im Reich anders als im Norddeutschen Bund der regionalen Arbeit den Vorrang einzuräumen habe. Windthorst verwies darauf, daß die Tätigkeit des Klerus bei den letzten Wahlen zu den besten Erfolgen verholfen habe, daß daher die kirchliche Organisation die "gegebene Maschinerie" sei und man ohnehin mit kirchlich gesinnten Protestanten werde rechnen können. Die Formulierung eines politischen Programms fand wenig Unterstützung. Reichensperger empfahl, von Fall zu Fall die eigenen Auffassungen zu formulieren. Andere sahen in einem Programm gar die Gefahr, die mühsam gebildete Fraktion wieder aufzulösen. Dann zeichnete sich eine immer deutlichere Übereinstimmung ab: die beiden Reichensperger votierten für einen nichtkonfessionellen Namen der Fraktion und sahen sich darin von Savigny, Mallinckrodt, vor allem aber von Schorlemer unterstützt. Windthorst, mehr als seine Freunde als Pragmatiker handelnd, schloß sich am Ende an, wenngleich ihm bewußt blieb, daß der Fraktion so oder so das Attribut "katholisch" oder ,,klerikal" anhaften würde. So verständigte man sich schließlich: ,,zentrum" klang neutral und schien am geeignetsten, die Spannweite von "Konservativer Volkspartei" (Mallinckrodt und Schorlemer) und "Freikonservative Volkspartei" (August Reichensperger) zu überbrücken. Angesichts der liberalen Grundströmungen des Jahrhunderts stieß die Gründung der Zentrumsfraktion vielerorts auf Kritik. Dabei war unerheblich, daß eine Reihe katholischer Abgeordneter sich fernhielt, um nicht mit dem Makel des "Klerikalismus" gezeichnet zu werden. Einflußreiche Zeitungen wie etwa die "Norddeutsche Allgemeine Zeitung" hielten sich nicht zurück. Moritz Busch, der Kriegsberichterstatter im deutschen Hauptquartier,43 lieferte eine Reihe von

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Beiträgen, die in ihrer pauschalen Verleumdung der "Ultramontanen" Thiles Bedenken erregten, so daß dieser sich warnend an Bismarck wandte. Zunächst den Einfluß Savignys witternd, hielt er es jedoch bald für geboten, mäßigend auf Busch einzuwirken. Das Bewußtsein, auch im protestantischen Norden bestehen zu können, hat in der Folge zur Gründung der "Germania" geführt, die unter ihrem ersten Redakteur Pilgram und dann unter Paul Majunke als das offizielle Sprachrohr des Zentrums zu gelten hatte. 44 Auf die frühen Aktivitäten des Zentrums hat Savigny einen durchaus bestimmenden Einfluß ausgeübt. An der von konservativer Seite eingeleiteten Erörterung einer Neujahrsglückwunschadresse an den König nahm er mit August Reichensperger in der Absicht teil, "die Demarkationslinie zwischen Politischem und Nichtpolitischem so scharf wie möglich zu ziehen." Es hat mancherlei Einsprüche bei der Formulierung des Textes gegeben, ehe die von Reichensperger, Mallinckrodt und dem Freiherrn von Loe 45 gewünschten Modifikationen von der Fraktion und schließlich auch der gesamte Text im Abgeordnetenhaus einstimmig gebilligt wurden. Schwieriger waren die Auseinandersetzungen innerhalb der Fraktion über die römische Frage. Als Loe am 9. Januar eine Interpellation an die Regierung zu richten beantragte, ob und was sie zum Schutze der Würde und Unabhängigkeit des Papstes zu tun gewillt sei, stieß er auf erheblichen Widerspruch. Man könne sich von einer solchen Aktion keinen Erfolg versprechen, hieß es jetzt, sondern werde sich vielmehr neuer Angriffe der Gegner aussetzen. Peter Reichensperger meinte, eine solche Interpellation gehöre vor den Reichstag; im Abgeordnetenhause errege der Antrag nur neue leidenschaftliche Angriffe. Savigny und Windthorst stimmten ihm bei, und Loe zog darauf seinen Antrag zurück. Wichtiger waren die Vorbereitungen der Reichstagwahlen. Der von August Reichensperger formulierte Wahl aufruf vom 11. Januar 1871 verzichtete auf jedes programmatische Detail. 46 Dennoch wurde vieles deutlich: die Abgeordneten sollten die politische wie auch "die kirchliche Freiheit und das Recht der Religionsgemeinschaften gegen mögliche Eingriffe der Gesetzgebung sowohl 43 Moritz Busch (1821-1899), politischer Schriftsteller, 1870 Leiter des Pressebüros und Kriegsberichterstatter in der Umgebung Bismarcks. Vgl. M. Busch, Graf Bismarck und seine Leute während des Krieges mit Frankreich, 2 Bde., Leipzig 1878, hier I, S. 245 ff. 44 Friedrich Pilgram (1819 - 1890), 1846 konvertiert, 1870 Hauptschriftleiter der "Germania". - Paul Majunke (1842-1899), Jurist und Theologe, 1869/70 Redakteur der Kölnischen Volkszeitung, 1871/74 Chefredakteur der "Germania", 1874/74 im Reichstag (Zentrum), dann Pfarrer in Hochkireh. 45 Felix Frhr. v. Loe-Terporten (1825 -1896), Gutsbesitzer, 1859/67 Landrat in Kleve, 1868 -1870 Mitglied des Norddeutschen Reichstags, 1870-1876 und 1890 des preußischen Abgeordnetenhauses, Gründer des Mainzer Vereins der deutschen Katholiken (1872) und des Canisius-Vereins (1879), Präsident der Katholikentage 1868 und 1877. 46 Text des Wahl aufrufs vom 11. Januar 1871 in "Katholizismus und Reichsgründung" , 226 f.

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als gegen feindliche Partei bestrebungen" entschieden zu wahren wissen. Es wurde auch schon über die Nominierung der Wahlkandidaten gesprochen. Schwieriger gestalteten sich die Bemühungen, auch Nichtkatholiken für die Ziele der Fraktion zu gewinnen. So suchte Savigny den sächsischen Minister von Friesen für die Sammlung der konservativen Kräfte in seinem Lande zu interessieren; ihm den Wahl aufruf zuleitend, legte er ihm dar, wie nötig es doch sei, "die ewigen Grundsätze des Rechts und der Religion wieder zur Geltung zu bringen." Dem sächsischen Edelmann kamen indes vielerlei Bedenken: er glaubte Anzeichen kirchlich-ultramontaner Streitbarkeit wahrzunehmen; ihm entging nicht, daß welfisch- hannoveranische Tendenzen sich abzeichneten; die große Anzahl der Geistlichen unter den Unterzeichnern des Aufrufs ließ gerade in Sachsen keinen besonderen Erfolg des Aufrufs erwarten. 47 Tatsächlich sprachen sich auf evangelischer Seite nur vereinzelt Stimmen im Sinne Savignys aus. Selbst Ludwig von Gerlach hat hier manche Vorbehalte geäußert. 48 Wer das Herantasten der katholischen Abgeordneten an die neue politische Wirklichkeit des Reiches verfolgt, erkennt, daß in der Gründungsphase der Zentrumsfraktion alle Fäden über Savigny liefen. Niemand schien so geeignet wie er, sie nach außen zu vertreten; niemand war so wie er mit dem Ansehen eines früheren Amtes ausgestattet; niemand verfügte über so viele gesellschaftliche und amtliche Beziehungen, die es jetzt einzusetzen galt. Wie verworren zuweilen in der Frühphase des Partei wesens die Verhältnisse waren, zeigen auch die Umstände, unter denen Savigny in den Reichstag gewählt wurde. Der Vorstand des katholischen Lesevereins in Koblenz hatte ihn als Kandidaten für die Reichstagswahl aufgestellt. Savigny hatte angenommen und seinerseits gebeten, den Landrat Raitz von Frentz zu informieren. Dieser hatte, Savignys Zustimmung voraussetzend, mit Genehmigung des Oberpräsidenten die ihm zur Verfügung stehenden Organe eingesetzt und gleichsam als vorbereitenden Schritt eine Anfrage an die dortige Geistlichkeit gerichtet, ob ihr Savignys Kandidatur genehm sei. Der Klerus stimmte zu, und Savigny wurde im März 1871 mit großer Mehrheit gewählt. 49 Er hatte 7 100 Stimmen erreicht - viel im Vergleich zu den 800 des nationalliberalen Kandidaten. Aber der freikonservative, in letzter Stunde von der Regierung lancierte Breslauer Domkapitular Künzer war auf 1 480 Stimmen gekommen. Das mußte aufhorchen lassen. Dr. Müller und Dr. Duhr, die beiden Vorsitzenden des Lesevereins, haben sich dazu geäußert: man habe sich nicht zu einem Zusammengehen mit der freikonservativen Regierungspartei entschließen können, sondern ein selbständiges Auftreten für geboten gehalten. Bei der 47 Von den 51 Unterzeichnern des Aufrufs waren dreizehn Geistliche; die Liste wurde angeführt von Savigny, Peter Reichensperger, Windthorst und Elkemann. - Über Savignys Versuch, in Sachsen Stimmen zu sammeln, vgl. auch Rich. v. Friesen, Erinnerungen, In, S. 239. 48 Gerlach an Savigny, 11. Januar 1871 (Familienarehiv). 49 Savigny an den Vorstand des Lesevereins, 20. Januar 1871 (Nachlaß, S.983), ergänzend Schönberg-Mskr.

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letzten Landtagswahl habe die Regierung einen Kandidaten aufgestellt, dem kein Katholik seine Stimme habe geben können. Die katholische Partei würde der Regierung desorganisiert gegenüberstehen, wenn sie sich jetzt mit ihr verbunden hätte. Selbständiges Vorgehen sei erforderlich gewesen. 50 Savigny war von den Aktivitäten des Hintergrundes nicht beglückt. In einem Antwortschreiben vom 15. März auf einen nicht erhaltenen Brief Savignys vom 10. März sucht Raitz von Frentz die Vorgänge zu erläutern: er hatte mit Zustimmung des Oberpräsidenten den Apparat für Savignys Wahl in Bewegung gesetzt, sich auch mit der Koblenzer Geistlichkeit besprochen; dann habe der Leseverein seine Kandidatur betrieben und ein entsprechendes Zirkular an die Geistlichen erlassen. Er habe die betreffenden Pfarrherren beschworen, daß Savigny nicht allein vom Leseverein aufgestellt werde, sondern auch ihm bei der Bildung des Komitees und der Formulierung des Wahlaufrufs eine Mitwirkung eingeräumt werde. Beides sei ihm zugesagt, aber die Zusage dann nicht eingehalten worden. Offenbar habe der Leseverein nebst einem Teil der Geistlichen in den ländlichen Gebieten eine Koalition mit der Regierung nicht gewollt. Das Vorgehen des Vereins hat Raitz von Frentz irritiert, dennoch hielt er an Savignys Kandidatur fest. Savigny mußte den Eindruck gewinnen, daß Künzers Kandidatur auf die Regierung zurückging. Tatsache ist, daß der Oberpräsident den Wahlaufruf des Lesevereins nicht gutgeheißen hat, aber auch keine Veranlassung sah, in die schon angelaufenen Bestrebungen einzugreifen. Künzers Aufstellung ist vermutlich nur von engagierten Privatpersonen, unter ihnen wohl auch einige hohe Regierungsbeamte, betrieben worden. Savigny fühlte sich jedenfalls mit Recht brüskiert, von der Gefahr einer Spaltung unter den Katholiken ganz abgesehen. Erst recht konnte er seine schweren Bedenken nicht länger verbergen, als Künzer für den Wahlkreis Glatz in den Reichstag gewählt wurde. Der Entwurf eines in die zweite Märzhälfte anzusetzenden Schreibens an einen Unbekannten, vermutlich ist es Kraetzig, ist uns erhalten. 51 Jede verletzende Äußerung meidend, beklagt er tief, wie hier der Name eines "an und für sich würdigen und pflichttreuen Priesters mißbraucht und dem Domkapitular eine Rolle zugewiesen werde, bei welcher er ... die größte Gefahr läuft, seinen priesterlichen Charakter in ein ganz falsches Licht zu stellen ... , um schließlich in eine Lage zu geraten, welche durch die kirchenfeindlichen Elemente im Reichstage sehr leicht bis zum Zerrbild des von ihnen herbeigesehnten ersten Ausdrucks des Schismas innerhalb der katholischen Elemente Deutschlands gestempelt werden könnte." Der Brief war wohl auch für die Augen des Fürstbischofs Dr. Förster gedacht. Denn in Kraetzigs Brief an Savigny vom 20. März heißt es: " ... Künzer hat an mich geschrieben, da 50 In einer Nachschrift heißt es, Künzer sei zwei Tage vor der Wahl von der Provinzialregierung aufgestellt worden und habe die Stimmen fast aller Protestanten auf sich vereinigt (Schönberg-Mskr.). 51 Savignys Brief o. D. (März 1871) im Nachlaß, S. 990 f.

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der Fürstbischof ihm meinen Brief mitgeteilt. Sein (Künzers) Brief ist ein fast asketischer Klageerguß über die Verfolgung seiner Feinde, zu denen nun auch ich noch übergetreten bin ... Er kommt natürlich in den Reichstag und betrachtet in seiner Verblendung sein Mandat als Gottes Stimme, das, was von katholischer Seite gegen ihn geschehen ist, als Kelch, den er nun in aller Demut Gott aufopfert. Soweit ist es mit diesem Manne schon gekommen." Nicht überall fielen die Wahlen so günstig aus wie in Westfalen und der Rheinprovinz. Enttäuscht war man über Schlesien. Hier hatten die Freikonservativen sich durchgesetzt. Künzer war in Glatz gewählt worden; in Leobschütz war Kehler seinem liberalen Gegner unterlegen. Der schlesische Großgrundbesitzer Karl Rudolf Friedenthai war in Neiße, der Herzog von Ujest in Gleiwitz und Arthur Graf von Saurma-Jeltsch in Beuthen gewählt worden. In den Reihen des Zentrums war niemand damit zufrieden, daß von den 38 Freikonservativen 33 aus Preußen gekommen waren und von diesen wiederum allein aus Schlesien siebzehn. Ähnlich schwierig war die Lage in Baden. Im Januar hatte sich Savigny an Reinhold Baumstark gewandt, den Kreisgerichtsrat in Konstanz, der als Mitbegründer der katholischen Volkspartei in Baden und Abgeordneter der zweiten Kammer dem "Katholischen Festungsviereck" gegen den Minister Jolly angehörte, aber dieser hatte ihm keine konkrete Hoffnung gemacht. 52 Eine nicht ganz aussichtslose Antwort hatte ihm Dahmen gegeben: er verschwieg nicht, daß die katholische Partei einen schwierigeren Stand hatte als vor dem Kriege, insofern als die süddeutschen Katholiken überwiegend dem großdeutschen Gedanken gehuldigt hätten, dieser sich aber inzwischen erledigt habe. Immerhin hoffe Dahmen, einige katholische Kandidaten durchzubringen. Er nannte den Bischof Ketteler, den Dekan Franz Xaver Lender, den Kaufmann Jakob Lindau, den Oberhofgerichtsrat Franz Karl Roßhirt, vielleicht auch den Baron von Bodman oder den Baron von Stotzingen. Insgesamt aber mußte der Ausgang der Wahl enttäuschen. Ketteler und Lindau waren gewählt worden - mehr nicht. In Württemberg war es kaum anders. In dem zu 91 % katholischen Biberach-Leutkirch war der Freikonservative Wilhelm Fürst zu Waldburg-Zeil, in Ravensburg freilich der großdeutsche katholische Demokrat Franz Rudolf Probst gewählt worden. Dahmen setzte seine Hoffnungen auf die Freunde in Westfalen und der Rheinprovinz. Roßhirt nennt als Grund für das schlechte Ergebnis, "daß wir eine Parteiregierung haben, die unseren Gegnern ihren ganzen reichen Apparat zu Gebote stellt," und bedauert die Furchtsamkeit seiner Landsleute - furchtsam im Vergleich zu den Wählern im Rheintal. Am 21. März sollte sich der neue Reichstag konstituieren. Savigny und Peter Reichensperger hatten alle diejenigen, die sich auf der Basis des Programms vom 11. Januar der Zentrumsfraktion anzuschließen gedachten, für den Abend 52 Baumstark von Savigny, 29. Januar 1871 (Nachlaß, S.984). Otto Dahmen war ebenfalls Mitglied der Zweiten Kammer in Baden.

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des 20. März zu einer Vorberatung eingeladen. Der Entwurf der Ansprache Savignys läßt bereits die Akzente erkennen, die ihre Parlaments arbeit bestimmen sollten: 53 man werde die Freiheit der Kirche und ihrer Institutionen, vor allem die Freiheit der christlichen Schule gegen alle Angriffe verteidigen und bei der Neubegründung des öffentlichen Rechts die "föderale Natur der in der Verfassung enthaltenen Bestimmungen scharf betonen und an ihrer weiteren Ausbildung im Gegensatz zum Unitarismus mit Entschiedenheit festhalten." Ein dichtes Bündel ernster Fragen war damit angesprochen. Die Zusammenarbeit in der Fraktion verlief zunächst nicht so harmonisch, wie Savigny gewünscht hatte. Manche Abgeordnete waren einander auch persönlich noch fremd. Zu unterschiedlich nach Herkommen und Temperament, galt es dem Vorsitzenden, zu glätten und auszugleichen und die nicht immer leichte Verständigung mit den aus Bayern kommenden Freunden herbeizuführen. 54 Sachliche Meinungsunterschiede stellten sich bald heraus, die wohl deshalb nicht bis zum letzten ausgetragen wurden, weil sie von Anfang an von wichtigeren, das ganze Parlament beschäftigenden Fragen überdeckt wurden. So hat es schon bei der Formulierung einer Adresse als Antwort auf die Thronrede einen heftigen Disput mit der nationalliberalen Mehrheit gegeben, hatten doch die Zentrumsabgeordneten in dem Entwurf eine Handhabe gesehen, auch die geringste diplomatische Intervention zugunsten des Papstes von vornherein auszuschließen. Es blieb ihnen nichts übrig, als einen Gegenentwurf, wenn auch ohne Aussicht auf Annahme, einzubringen. Erwartungsgemäß kam es auch bei der Beratung der von Peter Reichensperger beantragten Übernahme der Grundrechte der preußischen Verfassung in die revidierte Reichsverfassung zu erheblichen Spannungen innerhalb der Fraktion. Die föderale Struktur des Reiches konnte, wie schon 1867, eine Beeinträchtigung der Kompetenzen der Bundesstaaten nicht zulassen, und dem stimmten jetzt auch die bayerischen Abgeordneten des Zentrums zu. In ihrem Lande war niemand daran interessiert, die geltenden Gesetze durch unnötige Debatten im Reichstag in Frage stellen zu lassen. Nicht minder heftig stießen innerhalb der Fraktion die Ansichten über die Gewährung von GrafifIkationen an Reservisten und Landwehrmänner und von Dotationen an verdiente Heerführer aufeinander. Bismarck hatte sich dafür eingesetzt und von einem "Herzenswunsch des Kaisers" gesprochen. Die Abstimmung vom Juni 1871 war für die Fraktion eine schwere Belastungsprobe. Einige Abgeordnete wie Ketteler, Freiherr von Thimus, auch Mallinckrodt enthielten sich der Stimme, andere wie die beiden Reichensperger und Savigny sprachen sich dafür aus; die Mehrheit lehnte ab. Windthorst drohte gar mit seinem Austritt, nachdem Peter Reichensperger die Dankbarkeit gegen den König als überzeugendes Motiv für die Bewilligung der Dotation hervorgehoben hatte. 55 Es ist vor allem Savignys Text im Nachlaß, S. 989 f. Karl Bachern, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei, Köln, 1927/32, hier III, S. 141, 238 und öfter. 55 Ludwig v. Pastor, August Reichensperger, 2 Bde., Freiburg 1899, hier II, S. 30. 53

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Verdienst, die Fraktion durch die Stürme des Anfangs gesteuert zu haben. Was er erreichte, gelang ihm weniger durch den Aufwand rhetorischer Mittel- darin waren ihm manche Parteifreunde überlegen - als durch das entschärfende, letztlich überzeugende Gespräch. Die divergierenden Meinungen zu vereinen, war um so nötiger, als die politische Führung sich anschickte, die Auseinandersetzung mit den politischen Kräften des Katholizismus schonungslos aufzunehmen. Seit der sich abzeichnenden Aufhebung der katholischen Abteilung des Kultusministeriums hatte Kraetzig empfohlen, sich nicht für die Übertragung der Kultusangelegenheiten auf das Justizministerium gewinnen zu lassen. Wie er sah auch Savigny hierin einen entscheidenden Schritt auf dem Wege zu einer völligen Laisierung des Unterrichtswesens und der Aufhebung jeder gerechten und paritätischen Wahrnehmung der katholischen Interessen. Erschwerend kam hinzu, daß sich die regierungsfreundliche Presse immer deutlicher gegen Savigny persönlich richtete. Kaum war der evangelische Abgeordnete von Lenthe als Hospitant in die Zentrumsfraktion aufgenommen worden, da erinnerte man sich hier, daß er anläßlich des Truppeneinzuges im hannoverschen Provinziallandtag eine Rede gehalten hatte, die "nicht im deutschen, sondern im französischen Sinne" gelegen war, und damit stand auch Savigny unversehens im Mittelpunkt einer gehässigen Zeitungspolemik. 56 Die sich hier widerspiegelnde Gesamtatmosphäre konnte den Schritt, den er ohnehin zu tun entschlossen war, nur noch beschleunigen: Anfang 1868 in den einstweiligen Ruhestand getreten und während des Krieges sich noch einmal zur Dienstleistung zur Verfügung stellend, reifte in ihm jetzt der Entschluß, nach insgesamt fünfunddreißig Jahren endgültig aus dem Dienst zu scheiden. Thile wurde gebeten, seine diesbezügliche Immediateingabe empfehlend dem Kaiser zuzuleiten. 57 Das vom 3. August datierte Bewilligungsschreiben spricht von der "Bezeigung des Allerhöchsten Wohlwollens und der vollen Anerkennung langjähriger treuer und erfolreicher Dienste," jedoch Thiles Begleitschreiben vom 4. August ließ keinen Zweifel daran, daß alles in allem das aus Bad Ems eingetroffene Dokument der letzten Wärme und Verbindlichkeit entbehrte. Ob die Verstimmung über sein parlamentarisches Hervortreten bis zu den Stufen des Thrones gedrungen war? Savignys Dankschreiben ging folgerichtig über Thile, freundlich und ehrfurchtsvoll dankend für die wohlwollenden Worte und die Ordensverleihung, indes Thile gegenüber klingen seine Worte herzlicher und bewegender; er könne es sich nicht versagen, schreibt er, ihm, dem Staatssekretär, nochmals zu versichern, daß er dem langjährigen freundschaftlichen und amtlichen Verkehr mit ihm die dankbarste Erinnerung bewahren werde. 56 Ernst Ludwig von Lenthe (1823 - 1888), hannoverscher Rittergutsbesitzer; zu der Zeitungspolemik vgl. Nachlaß, S. 992 f. 57 Savigny an Thile, Entwurf, o. D. (Mitte Juli 1871). Der Abschied wurde bewilligt unter gleichzeitiger Verleihung des Kronenordens erster Klasse mit dem Emailleband des Roten Adler-Ordens (Nachlaß, S. 994 f.).

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Damit hatte Savignys letzte Bindung an die Dienstmechanismen aufgehört zu bestehen. Die Korrespondenzen mit den Kollegen treten zurück. Schmerzlich wird ihm die Diskrepanz bewußt, die sich zwischen dem von ihm immer noch so geliebten Staatswesen und den Kräften, die es auf kirchenpolitischem Gebiet zu steuern haben, auftut. Dafür verdichtet sich jetzt der Gedankenaustausch mit Gesinnungsgenossen und neuen Freunden. Vielleicht ist ihm damals keiner so nahe gekommen wie Ernst Ludwig von Gerlach, der gleich ihm sich eingebettet wußte in das historisch gewordene Preußen und dennoch mit Beklemmung verfolgte, wie dieses Staatswesen sich auf kulturpolitischem Gebiet so unbedenklich den Strömungen des Indifferentismus überließ. S8 Auch Gerlach war bemüht, die Gesinnungsgemeinschaft zu vertiefen. Persönliche Begegnungen mehren sich; Besuche bahnen sich an. Sie korrespondieren über Nutzen und Notwendigkeit einer christlichen, vor allem einer katholischen Presse und erörtern die Kriterien, die für ein Blatt wie die "Germania" zu gelten hatten. Gerlach hat versucht, auf den Chefredaktur Paul Majunke einzuwirken und dabei der Übereinstimmung zwischen Katholiken und Protestanten das Wort zu reden. Daß ihm dies nur begrenzt gelungen ist, war ihm nicht anzulasten. Majunke war ein streitbarer, von Emotionen nicht freier Publizist, geneigt, gegen den Protestantismus zu polemisieren. Der sich zuspitzende Kirchenkonflikt hat Savignys ganze Arbeitskraft absorbiert. Die von dem bayerischen Kultusminister Lutz S9 betriebene Inanspruchnahme der Hilfe des Reiches gegen die "maßlosen und ultramontanen Umtriebe" in diesem Lande führte zu jenem Zusatz im Strafgesetzbuch, der als "Kanzelparagraph" die Politik der Ausnahmegesetzgebung einleitete und auf Reichsebene im Juli 1872 im Jesuitengesetz kulminierte. In Preußen hatte das Schulaufsichtsgesetz vom März 1872 das Erziehungswesen dem omnipotenten Staat weitgehend überlassen. Kultusminister von Mühler, von liberaler und konservativer Seite, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, gleichermaßen angegriffen, nahm seinen Abschied. Er war nicht der Mann, sich in dieser sturmbewegten Zeit zu behaupten. Kraetzig hat ihn wohl richtig beurteilt, als er an Savigny schrieb, er hätte bei seinem reichen Schatz an Kenntnissen und Erfahrungen einer der hervorragendsten Kultusminister Preußens werden können, wenn er mit seinen sonstigen Eigenschaften auch Charakterfestigkeit verbunden hätte. - Mit Adalbert Falk 60 , dem schlesischen Pastorensohn und neuen Kultusminister, war das Schulaufsichtsgesetz eher durchzubringen und rigoros, zu praktizieren. Bismarck ist, zuweilen mit Unbehagen, den Weg seines Ministers mitgegangen und hat seinerseits versucht, diese Politik in Rom zu rechtfertigen und dabei auch Savigny zu S8 Savigny an Gerlach, 30. Juni 1871 (Nachlaß, S. 992) und Gerlach an Savigny, 18. Juli. (Katholizismus und Reichsgründung, 281 f.) S9 Johann Freiherr von Lutz (1826-1890), Jurist, 1867 bayerischer Justizminister, 1869 zusätzlich auch Kultusminister, kompromißloser Vertreter des Staatskirchentums. 60 Paul Ludwig Adalbert Falk (1827 -1900), 1872-1879 Kultusminister, wurde auch von der protestantischen Orthodoxie abgelehnt.

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desavouieren. 61 So verhärteten sich die Fronten. Savigny hat wiederholt mit demonstrativen Gesten zu erkennen gegeben, wie ernst ihm die Verteidigung eigener Überzeugungen war. Sein Sohn Adolf erinnert sich einer Begegnung seines Vaters mit dem damaligen Regierungspräsidenten von Wiesbaden, dem Grafen Botho zu Eulenburg. 62 Savigny hatte seine Frau mit mehreren Kindern zur Festigung ihrer Gesundheit nach Wiesbaden übersiedeln lassen. Gelegentlich selbst von Berlin herübergekommen, traf es sich, daß er und Eulenburg sich auf einem Spaziergang begegneten. Eulenburg suchte Savigny zu bewegen, einen Aufruf zugunsten der Errichtung des Nationaldenkmals auf dem Niederwald, der zu seinem Amtsbezirk gehörte, zu unterschreiben. Savigny lehnte ab. Vergebens versuchte der Graf, ihn umzustimmen. "Dem Hinweis auf den patriotischen Zweck," so berichtet der Sohn, "setzte er mit Schärfe entgegen, daß durch die kirchenfeindlichen Maßnahmen, welche damals die Regierung und die Reichstagsmehrheit um die Wette gegen die Katholiken in Gang brachten, diese aufs tiefste verletzt seien. Sie seien nicht in der Stimmung, sich an solchen Kundgebungen zu beteiligen, während ihnen der Kulturkampf ans Leben ging." Mit der Ausnahmegesetzgebung gegen die Jesuiten verdichtet er seinen Verkehr mit ihnen. Die Erziehung seines damals fünfzehnjährigen Sohnes Adolf vertraut er ihnen an. Er schickt ihn auf die Stella Matutina in Feldkirch. Der Sohn hat uns die Reise anschaulich geschildert. Nach einem tränenreichen Abschied führte sie über Heidelberg nach Stuttgart, wo es eine kurze Begegnung mit dem Zentrumskollegen Probst gibt, ehe man über Landau und Bregenz ans Ziel kommt. Den Patres war Savignys Name längst bekannt. Sie sehen in ihm den katholischen Politiker und den Freund ihres Ordens und zögern nicht, ihr Wohlwollen auch ihrem neuen Zögling zu erweisen, während dieser für die österreichischen, französischen und süddeutschen Mitschüler schon bald nur der "Berliner" ist. Auf der Rückreise besucht Savigny den Bischof Hefele in Rottenburg. Vermutlich verband er mit dieser Begegnung den Wunsch, den Oberhirten, der seit dem Konzil dem öffentlichen Leben ziemlich ferngestanden hatte, wieder enger mit den parlamentarischen Vertretern zu verbinden. Wie ein späterer Besuch Hefeles in Trages beweist, war sein Bemühen nicht ohne Erfolg. Freilich ist sein Verhältnis zu dem Bischof nicht von so unbefangener Herzlichkeit gewesen wie etwa zu den Reichenspergern, wie denn Savigny bestrebt gewesen ist, Abstand zu halten und seine eigenen Kreise nicht stören zu lassen. So läßt auch nichts darauf schließen, daß eine besonders enge persönliche Verbindung zu Ketteler bestanden hat. Beide kannten sich seit langem, aber daß sie sich etwa seit dem badischen Kirchenstreit näher standen, ist unbewiesen. Als man in Berlin erwog, bei Ketteler wegen einer eventuellen Kandidatur für den erzbischöflichen Stuhl von GnesenPosen zu sondieren, schreibt Savigny, der Bischof sei ihm zwar persönlich 61 Bismarck an Tauffkirchen, den bayerischen Gesandten beim Hl. Stuhl, Entwurf, o. D. (Anfang 1872), (Nachlaß, S. 996). 62 Botho Wend Graf zu Eulenburg (1831-1912),1869 Regierungspräsident in Wiesbaden, 1873 Oberpräsident in Hannover, 1878 Innenminister.

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bekannt, aber er sei ihm erst einmal begegnet. 63 Jetzt, wo sie sich in der Reichstagsfraktion wiedersehen, begegnen sie sich mit Hochachtung und Wohlwollen, aber von einem tieferen Gedankenaustauch, sei es über politische, sei es über religiöse oder kirchliche Fragen, hören wir nichts. Dem widerspricht auch nicht die Tatsache, daß der Bischof Taufpate seines jüngsten Kindes werden sollte. Kühl und letztlich unfruchtbar blieb auch sein Verhältnis zu Reinhold Baumstark, dem politischen Einsiedler vom Bodensee. Sein und seiner Feunde Versuch, ihn für ein Reichstagsmandat zu gewinnen, sollte scheitern. Baumstark hat die Politik der Reichstagsfraktion immer heftig kritisiert, ja die Gründung des Zentrums und seine führenden Persönlichkeiten als verhängnisvoll für den kirchlichen Frieden,letztlich sogar als Ursache des Kulturkampfes angesehen. Ihn bekümmerte die drohende Selbstisolierung, der die katholischen Kreise sich aussetzten, zumal als der zu einseitigen Urteilen neigende Mann wahrzunehmen meinte, daß partikularistische, in seinen Augen gar reichsfeindliche Kräfte in der Fraktion sich zu sammeln begannen. Das war nicht die Sprache, die Savigny verstand. Beide haben sich persönlich nicht gekanrtt. Im Herbst 1872 ist eine Begegnung in Konstanz an einem unvorhergesehenen Zufall gescheitert. Wäre sie zustandegekommen, sie wären einander fremd geblieben. Hier gab es kaum Gemeinsamkeiten. Viel enger waren die Kontake zu dem inneren Kreis der Fraktion, zu Thissen etwa, der im Winter 1872/73 ein gern gesehener Gast in seiner neuen Berliner Wohnung in der Roonstraße war, oder auch zu Gerlach, der nach seinen eigenen Worten seinen Auftrag darin sah, "Verbindung zu stiften zwischen den deutschen ,Ultramontanen' und den preußischen Konservativen." Mit Bismarcks kleindeutscher Reichsgründung hat er sich nie befreunden können. Im Kulturkampf sah er nicht zuletzt auch eine Lähmung der konservativen Kräfte. Hauptsächlich auf Windthorsts Betreiben trat er im Abgeordnetenhaus als Hospitant der Zentrumsfraktion bei. Savignys Verbindung zu ihm reichte weit über die Fragen der Alltagspolitik hinaus bis in die Tiefen letzter persönlicher Übereinstimmung über den Sinn des Lebens. Verletzt sich fühlend von Bismarcks Herrenhausrede vom 10. März 1873, war Savigny hoch beglückt, bei Gerlach eine bergende Bastion uneinnehmbarer Lebensmaximen zu finden. 64 Die Pflege all dieser Verbindungen war auch deshalb geboten, weil die Praktizierung der schnell aufeinander folgenden Gesetze geeignet war, Zwiespalt unter den Katholiken, selbst im Episkopat, zu stiften. Man wußte, daß außerhalb Preußens, vor allem in Bayern und der Diözese Straßburg, wegen der Anzeigepflicht bei der Anstellung von Geistlichen ähnlich vorgegangen wurde, wie es jetzt per Gesetz in Preußen durchgeführt werden sollte. Verwahrung einzulegen gegen die einseitigen Eingriffe in das Leben der Kirche, erschien selbstverständlich, aber über die praktische Bewälti63 64

Savigny an Bismarck, 11. März 1865 (Nachlaß, S. 856 ff.). In einer persönlichen Erklärung hat sich Savigny am 12. März 1873 in der ..Germa-

nia" verteidigt (Nachlaß, S. 1 (00).

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gung der neuen Situation war man in den Ordinariaten keineswegs einig. Manches hielt man für diskutabel, über anderes schien eine Vereinbarung mit der römischen Kurie erreichbar zu sein. Kraetzig indes legte dar, warum es unmöglich war, mit der Regierung über die Gesetze zu paktieren. Er empfahl einen einstimmigen Protest der Bischöfe und des Kirchenvolks, selbst wenn einzelne Bestimmungen, für sich allein genommen, vielleicht noch annehmbar waren. Savigny hat sich die Empfehlungen des Freundes zu eigen gemacht. Aus den wiederaufgefundenen Nachlaßteilen geht hervor, wie gerade er für ein geschlossenes Auftreten des Episkopats gekämpft hat. Diese Geschlossenheit war keineswegs selbstverständlich. Bischof Peter Joseph Blum aus Limburg hatte seinem Domkapitular Thissen die Frage vorgelegt, ob die Bischöfe nach der Verkündung der Gesetze unterscheiden sollten zwischen dem, worauf sie vielleicht eingehen könnten, und dem, was völlig unannehmbar war. Thissen hat die Frage rundweg verneint: der Episkopat dürfe Staatsgesetze über innere Angelegenheiten der Kirche nicht anerkennen. Blum war glücklich, sich bestätigt zu sehen, war doch von anderer Seite seines Kapitels, etwa dem Domkapitular Klein, auch die gegenteilige Meinung zu hören. Fast gleichzeitig - am 8. März - wurde Savigny von Blum gebeten, "mit den hervorragenderen Mitgliedern der Zentrumsfraktion die Frage in ernstliche Erwägung zu ziehen, ob nicht die katholischen Abgeordneten dahin sich vereinigen sollten, nach stattgehabter Debatte über die kirchenfeindlichen Gesetzentwürfe in dem geeigneten Momente etwa unmittelbar vor der letzten Abstimmung durch einen Wortführer zu erklären, daß ... denselben nichts anderes erübrige, als gegen das unberechtigte Beginnen, durch die landesherrliche Gewalt die Religionsrechte der Katholiken ... zu beeinträchtigen, einen tatsächlichen Protest dadurch zu erheben, daß sie den Sitzungssaal verließen." Savigny hat eine derartige demonstrative Geste als politischen Fehler abgelehnt. Er wußte sich darin einig mit allen führenden Mitgliedern der Fraktion, von Windthorst bis Mallinckrodt und von Thissen bis zu den Reichenspergern. 65 Der Kampf, so schreibt er, bewege sich nicht wie früher auf dem Boden historischer und vertragsmäßiger Rechte. Darum seien auch die Waffen von einst nicht mehr zu verwenden. Proteste unter Bezugnahme auf das einstige Reich, seine Verträge und Kapitulationen, auf das Bundesrecht, auf Zusagen aus älteren oder neueren Zeiten könnten zu keinem Erfolge führen. Savignys realistische Einschätzung der Wirkung eines Vorgehens, wie es der Bischof zu erwägen gegeben hatte, hat ihren Eindruck beim Episkopat nicht verfehlt. So blieb es bei der in der Fraktion festgelegten Linie: weil die Regierung die Gesetze als Ganzes eingebracht hatte, mußten sie auch als Ganzes abgelehnt oder angenommen werden. Neben seiner Tätigkeit in den beiden Berliner Parlamenten war Savigny bestrebt, auch draußen in der Provinz die gemeinsamen Ziele und Positionen zu verteidigen. Als die der Fraktion nahestehenden Honoratioren der Stadt Paderborn 65 Bischof Blum an Savigny, 8. März 1873 (Katholizismus und Reichsgründung, 334 ff.); Savignys Antwort vom 27. März im Nachlaß, S. 1 001 ff.

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Windthorsts gelegentliche Anwesenheit zum Anlaß nahmen, zu einer festlichen Versammlung der Zentrumsvertreter der westfälischen Wahlkreise einzuladen, erschien unter den dreihundert Teilnehmern am 5. August 1873 auch er. 48 Hier traf er mit ihnen allen zusammen, und die Gespräche mit dem Bischof Konrad Martin sollten noch mancherlei fruchtbare Begegnungen nach sich ziehen. 67 Im Vordergrund stand naturgemäß sein eigener Wahlkreis. Zu seinen Freunden in Monschau-Schleiden-Malmecty unterhielt er vielerlei Verbindungen, so etwa mit dem Oberpfarrer Stroux in Monschau,