Die Tagebücher der Hildegard von Erffa, 1889–1900: Ein preußisches adliges Frauenleben im späten 19. Jahrhundert 9783111237404, 9783111220468

Hildegard von Erffas’s (1874–1945) diary provides a vivid impression of the life of an aristocratic woman in the Saxon p

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German Pages 606 [612] Year 2023

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Die Tagebücher der Hildegard von Erffa, 1889–1900: Ein preußisches adliges Frauenleben im späten 19. Jahrhundert
 9783111237404, 9783111220468

Table of contents :
Dank
Inhalt
Editorische Anmerkungen
„Wenn ich nicht wäre, was ich bin“ (1. 5. 1889): Familie, adliges Leben, und Monarchie im Deutschen Reich des späten 19. Jahrhunderts
Band I: Tagebuch von 1889 bis 1891
Band II: Tagebuch von 1891 bis 1893
Band III: Tagebuch von 1893 bis 1895
Band IV: Tagebuch von 1895 bis 1897
Band V: Tagebuch von 1897 bis 1899
Band VI: Tagebuch von 1899 bis 1900
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Register

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Die Tagebücher der Hildegard von Erffa, 1889–1900

Die Tagebücher der Hildegard von Erffa, 1889–1900 Ein preußisches adliges Frauenleben im späten 19. Jahrhundert Herausgegeben von Silvia Böcking und Felix Böcking

ISBN 978-3-11-122046-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-123740-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-123786-2 Library of Congress Control Number: 2023940032 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Hildegard von Erffa, porträtiert von Sabine von Krosigk, © Katharina Ebrecht Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

In liebevollem und dankbarem Andenken an unseren idealen Leser Thomas Böcking (1943 – 2023)

Dank Zusammen mit unserer Nichte und Cousine, Dr. Katharina Ebrecht, der Urenkelin der Tagebuchschreiberin Hildegard von Erffa, haben wir die Idee für die vorliegende Quellenedition entwickelt. Wir danken ihr für die Überlassung der handgeschriebenen Tagebücher, die Zusammenstellung der Familienfotos, ihre akribische Durchsicht der Edition und die Erlaubnis zur Verwendung von Sabine von Krosigks Porträt ihrer Schwester Hildegard. Ebenso danken wir Almuth Criegee, Dr. Sabine von Mutius und dem Staatsarchiv Stuttgart für die Erlaubnis zur Verwendung ihres Bildmaterials. Zu großem Dank verpflichtet sind wir auch unserem Onkel und Großonkel Ruprecht von Butler, Generalmajor a. D., für seine umfassende Hilfe mit Namen, historischen Ereignissen und militärischen Fachbegriffen. In seinem 99. Lebensjahr ist ihm vieles noch präsent, was wir nicht mehr wissen und auch schwer rekonstruieren können. Viele seiner Kenntnisse bezieht er aus den Erzählungen seines Vaters, Karl von Butler, der häufig in den Tagebüchern genannt wird. Im Verlag De Gruyter haben Dr. Rabea Rittgerodt und Annika Padoan dieses Buchprojekt mit Interesse, Verständnis, und steter Ermunterung begleitet. Dafür danken wir ihnen besonders gerne.

https://doi.org/10.1515/9783111237404-001

Inhalt Editorische Anmerkungen

XI

„Wenn ich nicht wäre, was ich bin“ (1. 5. 1889): Familie, adliges Leben, und Monarchie im Deutschen Reich des späten 19. Jahrhunderts 1 Band I: Tagebuch von 1889 bis 1891 Band II: Tagebuch von 1891 bis 1893

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Band III: Tagebuch von 1893 bis 1895

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Band IV: Tagebuch von 1895 bis 1897

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Band V: Tagebuch von 1897 bis 1899 Band VI: Tagebuch von 1899 bis 1900 Literaturverzeichnis Abbildungsverzeichnis Register

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Editorische Anmerkungen Im Text der Tagebücher haben wir Hildegard Freiin von Erffas Rechtschreibung und Grammatik beibehalten und nur dort ergänzt, wo es zum Verständnis notwendig ist. Ergänzungen sind in eckigen Klammern gekennzeichnet. Zu den Eigenheiten von Hildegard Freiin von Erffas Stil gehört die Verwendung von thüringischen und schwäbischen Begriffen, letztere sicher aufgrund des Einflusses ihrer Mutter, Elisabeth Freifrau von Erffa, geborene Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen. Im Hinblick auf die Rechtsschreibung sind zwei unterschiedliche Tatsachen zu beachten. Zum einen ist Hildegard Freiin von Erffas Rechtschreibung zum Teil willkürlich, so erscheint etwa ihre jüngere Schwester im Text verschiedentlich als Sabina und Sabine. Zum anderen existieren, gerade bei adligen Familiennamen, oft verschiedene gleichberechtigte Varianten, zum Beispiel Freiherr von Boineburg, Freiherr von Boyneburg und Freiherr von Boyneburgk. Die Namen aller auffindbaren Personen in diesen Tagebüchern sind bei ihrer ersten Nennung mit einer Fußnote annotiert. Weitere Hinweise nehmen die Herausgeber*innen gerne entgegen.

https://doi.org/10.1515/9783111237404-002

„Wenn ich nicht wäre, was ich bin“ (1. 5. 1889): Familie, adliges Leben, und Monarchie im Deutschen Reich des späten 19. Jahrhunderts Eine weitere Quelle zum deutschen Adel im späten 19. Jahrhundert, von denen bereits etliche vorliegen – muss das sein? Dass deutsche Historiker im frühen 21. Jahrhundert immer noch vor Gericht ihr Recht verteidigen müssen, kritische Urteile über die Rolle einzelner vormals hochadliger Familien bei der Wegbereitung der nationalsozialistischen Verbrechensherrschaft in Deutschland zu veröffentlichen, zeigt, dass zur Rolle des Adels in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert offensichtlich noch nicht alles gesagt ist. Wenn ich nicht wäre, was ich bin, wäre ich nichts Lieberes, als ein Junge, ginge nach Roßleben, lernte viel und fleißig und beschützte und leitete meinen Herzensbruder dort. Doch ich bin auch so zufrieden, und werde nie […] Thränen darüber vergießen, dass ich kein Junge bin. – Gott hat mich auf meinen Platz gestellt; deshalb will ich ihn, ohne Klage, zu seiner Ehre ausfüllen und nach seinem Wohlgefallen leben. (1.5.1889)

Mit diesen Sätzen kommentiert Hildegard Freiin von Erffa als 15-jährige den Abschied ihres Bruders Georg, genannt Jörge, in das Internat Klosterschule Roßleben. Viele der Themen, die in den Tagebüchern später wiederkehren, so zum Beispiel die ungleich bessere Erziehung für adlige Jungen, oder Hildegards Tendenz, die Ordnung der damaligen Gesellschaft als göttliche Fügung zu erklären, finden wir bereits hier, erst wenige Wochen, nachdem sie begonnen hat, Tagebuch zu führen. Die Tagebücher erstrecken sich über den Zeitraum von 1889 bis 1910. Hildegard erhält das erste Tagebuch im Alter von 14 Jahren zu ihrer Konfirmation von ihren Eltern. Möglicherweise nach dem Vorbild ihrer Patentante Hildegard Freifrau von Spitzemberg, inzwischen bekannt als Autorin detaillierter Tagebücher über die Berliner Gesellschaft, führt Hildegard Freiin von Erffa lückenlos Tagebuch bis 1900, in das Jahr ihrer Hochzeit mit Wolf von Trotha, und dann noch einmal von 1903 bis 1910, als sie schon Mutter von drei Kindern ist.¹ „Wenn ich nicht wäre, was ich bin“ – dieses Zitat zeigt, wie sehr Hildegards Gedanken mit ihrer Wahrnehmung ihres gesellschaftlichen Hintergrunds verknüpft sind. Die drei wesentlichen Themen in Hildegards Leben in diesen Jahren sind ihre Familie, der Adel im weiteren Sinn, und die Monarchie. Ein kurzer Blick in Hildegards Familienumfeld erlaubt uns, ihre Tagebuchaufzeichnungen im Kontext ihres Aufwachsens zu sehen. 1 Der letzte Band der Tagebücher beschäftigt sich ausschließlich mit dem Aufwachsen von Hildegards Kindern, und ist nicht Teil dieser Edition. https://doi.org/10.1515/9783111237404-003

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„Wenn ich nicht wäre, was ich bin (1. 5. 1889)“

1 Die Familie Hildegards Vater Hermann Freiherr von Erffa (1845 – 1912) stammte aus dem thüringischen Uradelsgeschlecht von Erffa.² Er war Besitzer von Schloss Wernburg, Kreis Ziegenrück,³ in der zum Königreich Preußen gehörenden Provinz Sachsen, und von Rittergut Oerlsdorf bei Sonneberg, im Herzogtum Sachsen-Meiningen. Der Wernburger Betrieb umfasste 471 ha, und der Oerlsdorfer Betrieb 80 ha. Nach dem Schulabschluss in Roßleben, dem Jurastudium in Bonn, wo er Mitglied derselben Studentenverbindung war, zu der auch der spätere Kaiser Wilhelm II. gehörte, und dem landwirtschaftlichen Studium in Hohenheim kehrte Hermann nach Wernburg zurück und bewirtschaftete seine Güter. Seit 1874 war er Amtsvorsteher des Amts Wernburg und seit 1876 Abgeordneter des Kreises Ziegenrück im Provinziallandtag in Magdeburg. 1886 wurde er in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt, dem er bis zu seinem Tode 1912 angehörte, zuletzt als dessen Präsident. Er war Mitglied der Deutschkonservativen Partei, und preußischer Kammerherr.⁴ Durch dieses Amt war er Mitglied sowohl der preußischen Legislative wie auch der Exekutive, was nach modernem Verständnis ein Indiz für die mangelnde Gewaltenteilung im Königreich Preußen ist. Für Hermann waren wohl Abgeordneten- und Kammerherrenamt beide ein Dienst dem preußischen König und deutschen Kaiser gegenüber, und es ist anzunehmen, dass er diese beiden Ämter nicht als miteinander im Konflikt stehend empfand. Hildegards Mutter, Elisabeth, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen (1846 – 1910), stammte ebenfalls aus einer dem Dienst an ihrem Landesherrn verpflichteten adligen, freiherrlichen Familie, aus dem Königreich Württemberg. Ihr Vater Karl Freiherr Varnbüler von und zu Hemmingen (1809 – 1889) war königlich württembergischer Staatsminister, württembergischer Kammerherr, und nach seiner Pensionierung als Staatsminister Reichstagsabgeordneter für die Deutsche Reichspartei. Hildegards Patentante Hildegard geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen (1843 – 1914), die Schwester ihrer Mutter Elisabeth, war nach ihrer Heirat mit dem württembergischem Diplomaten Karl Freiherr von Spitzemberg (1826 – 1880) eine prominente politische Gastgeberin in Berlin, und die Verfasserin eines detaillierten, bereits veröffentlichten Tagebuchs über die Berliner Gesell-

2 Als uradelig werden Familien bezeichnet, die ihre Ahnenreihe bis vor das Jahr 1400 zurückverfolgen können. 3 Von 1945 bis 1994 im Landkreis Pößneck, heute im Landkreis Saale-Orla. 4 Kammerherren waren männliche Mitglieder von adligen Familien, die an den Höfen von regierenden Häusern ehrenamtliche Verwaltungstätigkeiten ausübten. Sie wurden durch den jeweiligen Landesherrn ernannt. Ihr weibliches Pendant waren Hofdamen.

1 Die Familie

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schaft.⁵ Hildegards Onkel Axel Freiherr Varnbüler von und zu Hemmingen (1851 – 1937), im Familienkreis als liebenswürdiger Sonderling betrachtet, war zunächst preußischer Landrat, und dann württembergischer Diplomat in St. Petersburg, Wien, und Berlin (als württembergischer Bevollmächtigter beim Bundesrat). Seiner Frau Natascha, geb. Gavriliuk (1871 – 1930), geschiedene Siemens, die er in St. Petersburg kennengelernt hatte, gelten einige von Hildegards spitzesten Bemerkungen. Als Mitglied des Liebenberger Kreises um Philipp Graf von, später Fürst von Eulenburg (1847– 1921), war Axel Freiherr Varnbüler von und zu Hemmingen bestens politisch vernetzt, und auch mit dem Kaiser bekannt. Wohl auch wegen seiner Zugehörigkeit zum Liebenberger Kreis wurde Axels Ehe von Hildegard und ihren Eltern Hermann und Elisabeth mit Zurückhaltung aufgenommen. Hildegards fünf Geschwister sind Margarethe (Mag), Sabina (Bibs), Georg (Jörge), Burkhart, und Rudolf (Rudi). Margarethe von Erffa (1873 – 1944) heiratete mit 19 Jahren den Landwirt Hermann Freiherr von Rotenhan (1858 – 1942), der erst das elterliche Gut Lauchröden bei Eisenach und dann den gesamten elterlichen Besitz Neuenhof bewirtschaftete. Hildegard ist von Hermann erst sehr positiv beeindruckt; mit der Zeit werden ihre Kommentare über ihn zunehmend negativ. Sabina von Erffa (1876 – 1974) heiratete mit 31 Jahren den preußischen Landrat und späteren Regierungsdirektor Dietrich von Krosigk (1865 – 1932). Alle drei Schwestern wurden von Gouvernanten zuhause in Wernburg erzogen. Neben einer ständigen Gouvernante, Fräulein Luise Mangelsdorf, haben die Geschwister auch zeitweise eine englische Gouvernante, Miss Lewis. Neben der Erziehung durch die Gouvernanten erhalten die Schwestern auch praktische Erziehung zur Haushaltsführung. So erhält Hildegard zu Weihnachten 1890 „ein Kochkleid (da Margarethe und ich diesen Sommer kochen lernen sollen, zu Vaters Entsetzen)“ (1890, Eintrag nicht datiert). Während die Schwestern zuhause erzogen wurden, besuchten die drei Brüder das Internat Klosterschule Roßleben, das auch ihr Vater Hermann schon besucht hatte. Georg (Jörge) von Erffa (1877– 1937) studierte nach dem Abitur in Roßleben in Halle und Göttingen Landwirtschaft und Jura, war preußischer Landrat erst in Putbus auf Rügen und dann in seinem Heimatkreis Ziegenrück. Dies blieb er, bis er 1921 aufgrund von politischen Differenzen mit der neuen preußischen sozialdemokratischen Regierung seinen Abschied nahm,⁶ und das Gut Wernburg nach

5 Hildegard von Spitzemberg, Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg, geb. Freiin v. Varnbüler. Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des Hohenzollernreiches, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1960. 6 Nach einer Verordnung des Preußischen Ministerpräsidenten vom 26. 2.1919 konnten politische Beamte, wozu auch Landräte gehörten, aufgrund „der Umbildung des Staatswesens“ um ihre Entlassung bitten, „wofür ihnen die Regierung einen ‚ausnahmsweisen, frühen Eintritt‘ in den Ruhe-

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„Wenn ich nicht wäre, was ich bin (1. 5. 1889)“

Verpachtung wieder selbst bewirtschaftete. Georg von Erffa heiratete 1908 Luise von Wegnern (1883 – 1969), Tochter des schaumburg-lippischen Staatsministers Martin von Wegnern (1855 – 1897). Luise von Wegnern erscheint in diesen Tagebüchern bereits als Kind – „trotz eines goldenen Herzens und eines aufrichtigen Charakters sehr schwer zu behandeln, – heftig bis zur Sinnlosigkeit, lärmend und rücksichtslos, mit ihren 15 Jahren noch ein rechtes Kind“ (1898, Eintrag nicht datiert) –, weil Hildegard ihrer Cousine, der verwitweten Frau von Wegnern, Fanny geb. Freiin von Stein von Nord- und Ostheim (1864 – 1941), Luises Stiefmutter, mehrfach bei der Haushaltsführung hilft. Burkhart von Erffa (1879 – 1904) studierte nach dem Abitur in Roßleben Jura, und schloss dieses Studium mit der Promotion ab. Nach dem Studienabschluss besuchte er die damalige deutsche Kolonie Deutsch-Südwest Afrika, heute Namibia, um dort seinem Interesse an zoologischen Studien nachzugehen. Als der HereroAufstand begann, meldete er sich zur deutschen Schutztruppe, und fiel 1904 im Alter von 24 Jahren. Rudolf von Erffa (1881 – 1972), der als jüngerer überlebender Sohn von seinem Vater das Rittergut Oerlsdorf erbte, studierte Jura, und war von 1917 bis 1945 preußischer Landrat in Angermünde in der Uckermark. Im Gegensatz zu seinem Bruder Georg diente er auch in der Weimarer Republik und später im Dritten Reich noch als Landrat. In seinen Erinnerungen beschreibt er diese Entscheidung als Ausdruck seiner Verantwortung für die Bevölkerung des Kreises Angermünde.⁷ Rudolf von Erffa blieb Landrat in Angermünde bis zur notwendigen Flucht vor den Russen im Frühjahr 1945. Er heiratete 1913 Bertha Freiin von Bibra (1892 – 1993).

2 Adliges Leben Über den Kreis der Familie hinaus geben Hildegards Tagebücher einen Eindruck vom Leben des deutschen Adels vor dem Zusammenbruch durch den Ersten Weltkrieg und die Revolution von 1918. „Fast alle [waren] vom Land und von guter Familie“ (1898, Eintrag nicht datiert) schreibt Hildegard über die Gäste einer Abendeinladung in Berlin 1898, wobei beides für sie gleichbedeutend ist. So wurde es damals auch im Deutschen Adelsblatt formuliert. Stephan Malinowski zitiert zu diesem Thema eine Rede von Oldwig von Uechtritz bei einem Familientag aus dem Jahr 1890, die im Deutschen Adelsblatt abgedruckt wurde:

stand gewährte“. Eberhard Pikart, Preußische Beamtenpolitik 1918 – 1933, in: Viertelsjahrshefte für Zeitgeschichte, 1958/2, S. 122 f. 7 Rudolf von Erffa, Erinnerungen, ohne Datum, S. 81, 108.

2 Adliges Leben

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Der grundbesitzende Adel ist der Urstock des Standes, mit welchem dieser selbst steht und fällt. Von ihm werden die in den Städten lebenden Glieder wesentlich die Gedanken, Neigungen und Vorstellungen zu empfangen haben, in denen sich der Adel zu bewegen hat, wenn er sich selbst treu bleiben, seine Natur bewahren will.⁸

Entscheidend ist hier der Besitz, nicht die eigene Bewirtschaftung des Besitzes – Wernburg z. B. wurde, wie viele andere Güter, für lange Zeit von einem Pächter bewirtschaftet. Der gesellschaftliche Führungsanspruch des Adels entsteht also in der Praxis nicht aus der oft verklärten – schon bei Vergil (Nihil melius, nihil viro libero dignius, nisi agricultura) – eigenen Mitarbeit in der Landwirtschaft, sondern aus den Besitzverhältnissen. Marx trägt deswegen mehr zum Verständnis bei als Vergil, der sicher auch in Roßleben gelehrt wurde. Mit den Besitzverhältnissen einher ging eine patriarchalische Struktur der ländlichen Gesellschaft, in der den Adligen auch nach dem Ende der Leibeigenschaft (in Preußen erst 1810 endgültig abgeschafft) eine dominierende Rolle im Leben der Landbevölkerung zukam. Je nach Familie äußerte sich diese Rolle mal als Fürsorge, mal als Bevormundung, oder auch als Mischung aus beidem. In Hildegards Tagebüchern manifestiert sich diese Rolle zum Beispiel, als sie Patin eines Sohnes des Wernburger Gärtners wird. Teil ihrer Rolle als Patin ist finanziell: „ich muss ihm einen Patenbrief mit 10.M. schenken, ein Häubchen, Käppchen, Jäckchen, und Armbändchen schenken“ (1890, Eintrag nicht datiert). Ihre Teilnahme an der Taufe sieht Hildegard auch als soziale Aufwertung des Täuflings und seiner Eltern: „die Gärtnereileute schickten mir einen Patenbrief und waren sehr geschmeichelt und dankbar, als ich annahm“ (1890, Eintrag nicht datiert). Hildegards Bericht über das Essen nach der Taufe ist in ähnlichem Ton verfasst: „es fiel kein unfeines Wort und es war ergötzlich, wie diese einfachen Leute alle Gebräuche der feinen Welt im kleinen Maßstabe mitmachten“ (1890, Eintrag nicht datiert). Hildegards menschliches Interesse an ihren nichtadligen Nachbarn in Wernburg ist sicher nicht anzuzweifeln, wohl aber scheint es ihr am Verständnis für die Härten und Entbehrungen des ländlichen Lebens zu fehlen. Als die Ernte 1894 von schlechtem Wetter bedroht ist, beschreibt Hildegard den Effekt eines plötzlichen Wetterumschwungs in folgenden Worten: In der Nacht zum Samstag weckte uns zwar ein Gewitter mit Regengüssen, das das Dreschen abermals vereitelte, aber heute lacht der blaueste Himmel und was Arme hat, der Gärtner, sämtliche Mädchen, alles ist freiwillig ins Feld hinausgezogen. Das ist ein freudiges, dankbares Schaffen! Wir genossen die Sonne auf andere Weise, saßen im Garten, und ließen uns von Kessows ihre italienische Reise beschreiben. (26. 8.1894)

8 Oldwig von Uechtritz, „Land und Stadt“, Deutsches Adelsblatt, 1891, S. 21, in: Stephan Malinowski, Vom König zum Führer, Frankfurt: Fischer, 2004, S. 60.

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„Wenn ich nicht wäre, was ich bin (1. 5. 1889)“

Kurz darauf beschreibt sie ein Kaffeetrinken im Freien wie folgt: „es war so einfach und nett, ganz wie arme Leute, die auf dem Feld ihre einfache Mahlzeit halten.“ (September 1894, Eintrag nicht datiert). Der Gegensatz zwischen Land- und Stadtleben ist ein stetig wiederkehrendes Motiv in Hildegards Tagebüchern. Ihre identitätsstiftende Landbindung geht einher mit gesellschaftlicher Gewandtheit auf dem Hauptstadtparkett. Einerseits genießt sie den gesellschaftlichen Verkehr in Berlin, die glänzenderen Feste, die oft besser als ihre provinziellen Tanzpartner tanzenden Herren, und die Aufmerksamkeit von mehr jungen Männern der Gesellschaft, besonders auch der Offiziere der vornehmen preußischen Regimenter. Andererseits betont sie jedes Mal, wenn sie nach Wernburg zurückkehrt, wie glücklich sie dort ist. So schreibt sie zum Beispiel im März 1896 nach der Rückkehr aus Berlin: Wie gut haben wirs [sic] doch auf dem Land! Unser Leben fließt still und einförmig dahin, ohne Ereignisse, ohne Hetzerei; es ist so grundverschieden von unserem Berliner Leben, daß ich manchmal staune, wie man sich in beiden so wohl und vergnügt fühlen kann; für die Dauer ziehe ich das Landleben vor. (15. 3.1896)

Der Gegensatz zwischen Land- und Stadtleben in Hildegards Gedanken geht einher mit einer ambivalenten Einstellung zur Moderne. So schreibt sie einerseits von sich und ihrer Schwester Margarethe als „modernen, aufgeklärten, selbständigen Frauen des 19. Jahrhundert“ (Oktober 1897, Eintrag nicht datiert). Als Musikliebhaberin sieht sie sich durch ihre Verehrung für die Musik Richard Wagners auf der Höhe ihrer Zeit: „alte Leute können, glaube ich, Wagner nicht würdigen; es ist so anders, als die Musik, die in ihrer Jugend Mode war.“ (11. 2.1896) Andererseits missbilligt sie die Neuerwerbungen des Direktors Hugo von Tschudi (1851 – 1911) für die Berliner Nationalgalerie als „nur Secession“ (29.1.1897): Es ist gewiss richtig, in einer Galerie die Produkte jeder Zeitrichtung aufzunehmen, aber warum man aus derselben gerade das Allerhässlichste heraussuchen muss, verstehe ich nicht. An einer verzeichneten Kuh, die in einem grünen Grasgarten steht, kann ich nichts Stimmungsvolles sehen, wenn es auch veraltet und ungebildet sein mag, dies zu äußern. (29.1.1897)

Neben der Landbindung der adligen Familien ist die zweite wichtige Prägung in Hildegards Leben eine bedingungslose Bewunderung des Militärs. Der Dienst in der Armee relativiert selbst schlechte Umgangsformen, die Hildegard penibel beschreibt. Über eine Abendeinladung in Rudolstadt notiert sie: „überhaupt ist das Bataillon mit einigen Ausnahmen von so gemeinen Elementen zusammengesetzt – adlige u. bürgerliche – daß wenn sie nicht den bunten Rock trügen, man nicht mit ihnen verkehren würde“ (14.11.1891). Das III. Bataillon des 7. Thüringischen Infanterieregiments Nr. 96, das in Rudolstadt kaserniert war, und seit 1867 zur preußi-

2 Adliges Leben

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schen Armee gehörte, war an einem Extrem der sozialen Skala der preußischen Armee. Am anderen Ende befanden sich Kavallerie- und Garderegimenter. Offiziere von technischen Regimentern wie der Artillerie werden von Hildegard nicht namentlich erwähnt. Ihr Bericht über eine Parade auf dem Tempelhofer Feld in Berlin 1894 lässt eine klare Präferenz für die Kavallerie erkennen: Die vielen Infanterie- und Artillerieregimenter wirken für unmilitärische Zuschauer doch nur durch die Masse, den Glanz und die Ordnung des Vorbeimarsches. Bekannte erkennt man sehr schwer, da die Herren mit den Helmen einander alle ähnlich sehen […]. Wie prachtvoll sahen die Kürassiere mit ihren herrlichen Pferden, ihren blanken Kürassen und Helmen aus. Weniger gut sahen die Dragoner aus, die auch nicht so gut beritten sind. (31. Mai 1894)

Aller Marinebegeisterung der wilhelminischen Gesellschaft zum Trotz gilt Hildegards Interesse nur der Armee. Im ganzen Tagebuch wird nur ein einziger, bürgerlicher Marineoffizier, mit dem sich ihre Freundin Anni v. Imhoff erst ver- und dann sehr schnell entlobt, namentlich erwähnt. In Hildegards sozialem Leben in Berlin spielen Marineoffiziere offensichtlich nur eine geringe Rolle, während sie die Armee mit einigem Verständnis beschreibt, und auch notiert, wie sehr sie die Lektüre der Aufzeichnungen des Feldmarschalls Helmuth von Moltke (1800 – 1891) genießt (September 1890, nicht datiert). Als Moltke wenig später verstirbt, kommentiert Hildegard: „Ich weiß niemanden, den ich mehr achtete u. verehrte als ihn; sein bescheidenes, edles, großes Leben fand einen schönen Abschluss in diesem plötzlichen, ruhigen Abscheiden, u. er wird jetzt, vereint mit seinem Heldenkaiser, seinen Lohn empfangen.“ (29.4.1891) Das dritte große Thema im Leben des Adels, das Hildegard beschreibt, ist Partnersuche, Verlobung, und Ehe. In ihren Tagebüchern sehen wir, wie in Deutschland im späten 19. Jahrhundert adlige Verlobungen zustande kamen. Hildegards Verlobung erinnert sehr an Theodor Fontanes Roman „Effi Briest“, der genau zu dieser Zeit, von Oktober 1894 bis März 1895, in Fortsetzungen in der Deutschen Rundschau abgedruckt wurde. Nachdem sie ihren zukünftigen Mann, Wolf von Trotha (1863 – 1943), kennengelernt hat, geht die Verlobung sehr schnell. Hildegard begegnet ihm auf Sylt, wohin sie ihren Vater zur Kur in eine Pension begleitet hat. Als junge adlige Dame kann Hildegard Wolfs Familie sofort einordnen – die Familie der Freiherren von Trotha stammt aus dem Saalekreis, damals in der Provinz Sachsen gelegen, und die Bekanntschaft beginnt, weil die im Sylter Kurort versammelten Adligen hauptsächlich untereinander verkehren. Wolf ist mit seinem jüngeren Bruder Gebhard für acht Tage in Sylt, und es stellt sich schnell heraus, dass sie beiden bereits begegnet ist – Gebhard von Trotha als Tischherrn bei dem Merseburger Landrat Arthur Graf von Clairon d’Haussonville (1866 – 1913), und

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„Wenn ich nicht wäre, was ich bin (1. 5. 1889)“

Wolf von Trotha in seiner Funktion als Vortänzer⁹ bei den Magdeburger Bällen der adligen Familien in der Provinz Sachsen, den sogenannten Magnatenbällen. Hildegard hat dezidierte Ansichten dazu, wie man einer jungen Dame richtig den Hof macht. Über den Umgangston im Schloss Eyrichshof der Familie von Rotenhan zum Beispiel notiert sie: „Ich glaube, dass sich viele Männer durch das ewige Courmachen und flirtations in Eyrichshof abgestoßen fühlen. Dies Spielen mit einem so heiligen Gefühl wie die Liebe ist nicht recht und gefällt auch niemandem, als den Bamberger und österreichischen Herren, die dort verkehren, entweder junge Dachse, oder alte Gecken, beides keine Freier für die doch netten, im Grund guten Mädchen.“ (5. 8.1893). So ist sie auch Wolf von Trotha gegenüber zunächst von einer gewissen Skepsis: „Da kam mir zum ersten Mal zum Bewusstsein, dass er mir den Hof machte – aber ich sagte mir sofort: „Wenn jemand acht Tage nach Sylt geht, so will er ein bisschen baden, segeln, Hummer essen und die Cour machen – das gehört zum Seebad! Und die anderen Herren tun es ja auch!“ (August 1900, Eintrag nicht datiert). Ihre Meinung ändert sich jedoch, und nachdem Hildegard und Wolf ein einziges Mal einen längeren Spaziergang gemacht haben, hält Wolf bei ihrem Vater um ihre Hand an. Dieser erzählt Hildegard erst nach Wolfs Abreise aus Sylt von dem Antrag, und gibt ihr eine Woche Zeit zum Überlegen. Hildegard schreibt daraufhin an ihre Mutter in Wernburg, die durch Hildegards Brief erstmals von Wolfs Antrag erfährt, und ihr Vater zieht bei einem befreundeten Ehepaar von Krosigk, das ebenfalls in Sylt zur Kur ist, Erkundigungen über Wolfs Verhältnisse ein, die offensichtlich zufriedenstellend sind. „Mit 25 überlegt man doch schon etwas länger“ (August 1900, Eintrag nicht datiert), schreibt Hildegard und willigt dann hocherfreut ein. Ihre Mutter ist zuerst schockiert: „Mutters Briefe, die anfangs wirklich herzzerreißend waren, wurden infolge von Jörges Einfluss und meiner schriftlichen Beredsamkeit etwas ruhiger und froher, sodass ich endlich erreichte, dass noch von Sylt aus dem armen Wolf eine Antwort geschickt ward.“ (August 1900, Eintrag nicht datiert). Hermann von Erffa lädt Wolf von Trotha per Brief nach Wernburg ein, wo nach Hermanns und Hildegards Rückkehr aus Sylt die offizielle Verlobung erfolgt. (August 1900, Eintrag nicht datiert). Damit ist Hildegard, als sie sich verlobt, die zweitälteste der drei Schwestern – Margarethe heiratet mit 19, Sabina mit 31. Wolf von Trothas Antrag ist aus zwei Gründen erfolgreich – Hildegard entwickelt ihm gegenüber romantische Gefühle, und er ist für ihre Eltern ein akzeptabler Schwiegersohn. Die Tagebücher enthalten aber auch Beispiele von erfolglosen Anträgen, und von den unterschiedlichen Maßstäben, die adlige Familien an die Ehen

9 Als Vortänzer bezeichnet wurde ein Herr der Gesellschaft, der bei Bällen den jeweiligen Tanz eröffnete, soweit dies nicht durch ein Mitglied eines regierenden Hauses erfolgte. Je nach Hof wurde der Vortänzer durch den Hofmarschall oder einen der Kammerherren ausgewählt.

2 Adliges Leben

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ihrer Söhne und Töchter legten. 1899, ein Jahr vor Wolf von Trothas Antrag, ist Hildegard zu Besuch bei ihren Verwandten Karl Freiherr von Künßberg (1860 – 1937) und Bessy (Elisabeth) Freifrau von Künßberg, geb. Freiin von Lerchenfeld (1873 – 1951) in Schloss Wernstein. Von dort reist sie mit ihrem Vetter Heinrich Freiherr von Künßberg (1864 – 1940) weiter nach Bayreuth, um die Festspiele zu besuchen. In Bayreuth wohnt sie bei einer weiteren Tante Künßberg, Marie Freiin von Künßberg. Heinrichs Eintreffen in Wernstein kommentiert Hildegard wie folgt: Am selben Tag wie ich kam H., wie sich später herausstellte, mit sehr bestimmten Absichten. Sein Besuch konnte mir weiter nicht auffallen und ich bin so daran gewöhnt, mit Vettern ohne Nebengedanken zu verkehren, daß ich mir nicht das Geringste schwanen ließ. Instinktiv, ich weiß nicht woher – hatte ich aber doch das dumpfe Gefühl, schon seit Jahren, als ob mir mit ihm einmal etwas passieren würde. (2.9.1899)

Es folgen verschiedene Spaziergänge mit Heinrich zu zweit, mehrfach möglich gemacht von der gemeinsamen Tante Marie Künßberg, und akzeptabel, weil Hildegard und Heinrich Cousine und Vetter waren. Nach seiner Abreise aus Bayreuth denkt Hildegard schon, sie habe sich Heinrichs Interesse eingebildet, erhält dann aber einen eindeutigen Brief und einen Rosenstrauß von ihm. „In meinem Inneren war ich sehr unsettled, obwohl mein Entschluss vom ersten Moment an fest stand [sic]. Aber der Gedanke an den armen, schüchternen guten Menschen machte mich sehr unglücklich“. (2.9.1899) Nach ihrer Rückkehr nach Wernburg zieht Hildegard ihre Eltern ins Vertrauen, und ist dankbar, dass diese sie selber entscheiden lassen. Daraufhin lehnt sie Heinrichs Antrag per Brief ab (2.9.1899). Als sie wenig später ihre Reaktion auf die Predigt bei der Hochzeit ihres Vetters Karl von Erffa (1865 – 1911) mit Elisabeth Gräfin von Schwerin (1869 – 1964) beschreibt, fühlt sie sich in ihrem Beschluss bestätigt: Ich hörte fast atemlos zu, bis ich die Idee im Kopfe hatte: ‚Wie würde es sein, wenn du nun hier mit H. stündest?‘ Jedes Wort bestätigte mir, dass das einfach entsetzlich wäre, dass ich bei dieser hohen und idealen Auffassung der Ehe, wie er sie da schilderte, nichts empfinden würde als die bitterste Reue, eine namenlose Leere, und dass ich wahrscheinlich jammervoll weinen würde an meiner Hochzeitsfeier. (27.9.1899)

Hildegard entscheidet sich gegen die Heirat mit Heinrich von Künßberg, und für die Heirat mit Wolf von Trotha auf der Basis ihrer Gefühle. Dass sie ihren Eltern in den Tagebüchern dafür dankt, dass sie ihr die Entscheidung überlassen, zeigt, dass diese elterliche Einstellung damals noch nicht selbstverständlich war. Zwei Beispiele aus den Tagebüchern belegen, was für eine Rolle der finanzielle Hintergrund eines potentiellen Schwiegersohns oder einer Schwiegertochter spielte. Über einen Verehrer ihrer Kusine Hanna Freiin von Spitzemberg (1877– 1960) schreibt sie: „Der lange Kleist ist, wie es scheint, ganz verschossen in sie; er macht ihr riesig den Hof,

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allerdings in einer so auffallenden, ich möchte fast sagen primanerhaften Weise, dass man wohl an keine ernstlichen Absichten zu denken braucht. Er ist ja auch viel zu arm und Hanna scheint ganz kühl, wenn sie ihn auch als Tänzer und Anbeter sehr gern hat.“ (8. 2.1896) Als Herr von Kleist um Hanna von Spitzembergs Hand anhält, wird er aufgrund seiner finanziellen Verhältnisse abgewiesen (27. 2.1896). Als Hildegards Vetter Fritz Freiherr Varnbüler von und zu Hemmingen (1862 – 1922) Amalie Hagenbucher, ein bürgerliches Mädchen heiratet, vermutet sie, dass ihr Vetter auf diese Weise seine finanzielle Position verbessern möchte: „Er hat ja keinen Pfennig Geld und musste ein reiches bürgerliches Mädchen heiraten, aber so tief brauchte er nicht zu greifen“ (Ostern 1891, Eintrag nicht datiert). Eine standesgemäße Heirat war das vordringliche Ziel der damaligen adligen jungen Mädchen und Frauen. Auch dies ändert sich durch die Revolution von 1918. Während Hildegard und ihre vier verheirateten Geschwister alle adlig heirateten (in die, bzw. aus den Familien v. Rotenhan, v. Trotha, v. Krosigk, v. Wegnern, und v. Bibra), heiratete schon in der nächsten Generation nur noch eines von fünf Kindern ihres Bruders Georg (genannt Jörge) adlig. Im Gegensatz zu ihren Brüdern war adligen jungen Damen der Zugang zur Universität durch gesellschaftliche Konventionen auch dann noch stark erschwert, als er bereits formell möglich gewesen wäre. Hildegards Mutter, Elisabeth, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen, war vor ihrer Heirat ausgebildete Krankenschwester; unverheiratete adlige alte Damen lebten bei ihrer verheirateten Verwandtschaft, mal mehr, mal weniger geduldet, oder in einem adligen Damenstift. Die Familien v. Erffa und v. Stein unterhielten gemeinsam ein Damenstift in Bayreuth, das Hildegard als junge Frau besichtigt, als sie zu den Festspielen in Bayreuth ist. Halb scherzhaft stellt sie sich hier ihr Leben als alte Stiftsdame mit einem Mops und einem Kanarienvogel vor (2.9.1899). Eine standesgemäße Heirat war aber die beste Option, und die einzige, die als wirklich erfolgreich galt. Daher sind die vielen Nachrichten über neue Verlobungen in den Tagebüchern von so herausragender Wichtigkeit. Hildegards viertes großes Thema in ihrer Beschreibung des adligen Lebens ist wie man sich benimmt, und wie nicht. Beispiele ihrer Meinungen über vermeintlich ungezogene Kinder und unfeine Offiziere haben wir bereits gesehen. Besonders kritisch aber ist sie über das Benehmen von verheirateten adligen Damen. Der Gräfin Soden (1841 – 1908) in Neustädtles und ihren Töchtern hält Hildegard in den Tagebüchern den Zustand ihres Hauses vor: „Wasser kostet doch nichts und fünf Frauen sollten ein Haus im Stand halten können, auch ohne große Mittel“ (20. 2. 1898). Hildegards Tante Bessy Freifrau von Künßberg, geb. Freiin von Lerchenfeld, ist „in Ton und Wesen so gewöhnlich und unweiblich, wie es, glaube ich, nicht schlimmer sein kann. Sie spricht Sachen vor uns jungen Mädchen und Herren, die ich nicht einmal meiner Mutter wiederholen mag und sucht etwas in den ge-

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meinsten Unanständigkeiten.“ (26.4.1896). Ihre schärfste Kritik gilt aber ihrer Tante Natascha Freifrau Varnbüler von und zu Hemmingen: Natascha war allein mit den Kindern inmitten anarchischer Dienstbotenzustände, die sie nicht im Geringsten störten. Der Kutscher war fortgejagt worden, der Jäger besorgte die Pferde, der französische Koch ging auf die Jagd mit dem Diener, offiziell den ganzen Tag, die Küchenmagd kochte und die Katzen holten aus der offenen Speisekammer Braten auf Braten. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre, ein fest gegründetes Haus so rasch zerfallen zu sehen. (1898, Eintrag nicht datiert)

Sind dies Erwartungen an Angehörige ihrer eigenen Klasse, so lohnt sich ebenfalls ein Blick auf marginale Gruppen der damaligen Gesellschaft. Eine besondere Stellung nehmen hier Pfarrer ein, deren Status ambivalent ist. Hildegards Neffe Hans Martin Freiherr von Erffa (1911 – 1998) beschrieb die Ehe seiner Großtante Sophie Schwarz, geb. Freiin von Erffa (1841 – 1882) mit dem Heidelberger Stadtpfarrer Friedrich Schwarz (1841 – 1910), wie folgt: „man hielt die Pastoren beinahe für standesgemäß und sagte sich: besser den als gar keinen“.¹⁰ In einer Gesellschaft, die die Monarchie als gottgegeben ansah, wurden Pfarrer neben ihrer Bildung auch durch ihre staatstragende Funktion aufgewertet. Hildegard erwähnt einen adligen Pfarrer in Ziegenrück, Herrn von Gerlach, dessen Bruder Offizier bei den 1. Gardedragonern ist (1. 3.1893). Der Pfarrer in Friedrichswerth (Stammsitz der Familie von Erffa, aber damals schon nicht mehr in Familienbesitz) hingegen ist „ein junger, fetter, bäurischer kleiner Dorfpfarrer, gutmütig und harmlos, aber von einer an Dummheit grenzenden Unbedeutendheit.“ (28.11.1897). Bei allem Respekt für das Amt der Pfarrer bleibt für Hildegard ein Gefühl der Ambivalenz über deren soziale Stellung. Pfarrer Palmer in Neuenhof, dem Gut der Schwiegereltern von Hildegards Schwester Margarete Freifrau von Rotenhan, und seine Frau etwa haben „die große Güte der alten Rotenhans und die Verwöhnung nicht sehr gut vertragen und erlauben sich zuweilen ganz ungehörige Dinge“ (9. 3.1894). Hildegards negative Urteile über manche protestantischen Pfarrer beruhen auf Äußerlichkeiten wie Aussehen, Umgangsformen, oder Dialekt. Ganz anders verhält es sich mit ihrer Meinung über den Katholizismus. Der Kulturkampf zwischen der deutschen Reichsregierung und der katholischen Kirche ist bereits vorbei, als Hildegard beginnt, ihr Tagebuch zu schreiben. Der Zentrumspolitiker Ludwig Windthorst (1812 –1891) ist deswegen auch nur eine Randfigur in den Tagebüchern. Im deutschen Kontext ist der Katholizismus für Hildegard vor allem eine Frage der sozialen Stellung; Amalie Hagenbucher, die Verlobte von Hildegards Vetter Fritz

10 Hans Martin von Erffa, Genealogisches und biographisches über die Familie von Erffa, München, 1987, privat, S. 29.

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Freiherr Varnbüler von und zu Hemmingen, ist „die Tochter eines Holzhändlers und einer österreichischen katholischen Mutter u. gehört selbst in dem kleinen Heilbronn nicht zur besten Gesellschaft.“ (Ostern 1891, Eintrag nicht datiert). Hildegards ganzer religiöser Eifer gilt dem katholischen Ritus. Nach einem Besuch des Vespergottesdienstes in der römischen Kirche Trinità del Monte 1899 schreibt sie: „[wie] so oft beim katholischen Ritus geht der Inhalt unter den Formen verloren und man kann sich des Gedankens an die Proben und Studien, die zur exakten Ausführung dieser Kniefälle gehören, nicht erwehren. Ein sinniges, hübsch erdachtes und hübsch ausgeführtes, sehr zahmes Ballett. Weiter war es nichts!“ (April 1899, Eintrag nicht datiert). Weitaus schlimmer als die katholische Liturgie ist für sie jedoch die Reliquienverehrung. In der Basilika San Lorenzo fuori le mura besichtigen Hildegard und ihre Familie das Grab Pio Nonos¹¹, welches sich gegenüber von dem Rost des Heiligen Laurentius befindet. Für Gläubige wird der Schrank, der diese Reliquie umschließt, geöffnet, und wir sahen gerade, wie eine Schar Negermädchen voll andächtiger Scheu mit ihren Lippen die Blutflecken auf dem Rost berührten. Der Gedanke, daß man die armen, unwissenden Heidenkinder von ihren Idolen zu diesem Götzendienst bekehrt, hat etwas sehr Schmerzliches. (April 1899, Eintrag nicht datiert)

Hildegards Reaktion auf die Italienreise mit ihrer Familie ist ein entschiedener Antikatholizismus: Ich bin früher sehr lax gegen die katholische Kirche gewesen, weil mich vieles an ihr, ihre Disziplin, Einigkeit und Klugheit anzog. Aber nach Allem was ich in Rom, besonders in der Karwoche gesehen und gehört habe, ist das vorbei. Ich bin ein viel überzeugterer Protestant [sic] geworden und muß mich hüten, nicht intolerant gegen die andere Konfession zu werden, die Katholiken nicht mit der Lehre zu verwechseln! (April 1899, Eintrag nicht datiert)

Ein drittes Beispiel für Hildegards Wahrnehmung von Gruppen, die nicht in ihr patriarchalisches Schema passen, sind Juden. Hildegard und ihre Eltern verkehren mit verschiedenen reichen jüdischen Familien in Berlin. Nachdem sie bei einem Ball im Savoy-Hotel in Berlin bei einer Frau von Radowitz,¹² geb. Gerson (1847– ?), zu Gast war, notiert sie: Das Fest war schön und glänzend und gar nicht protzig. Trotzdem gab es Leute, die die Nase rümpften und schnoddrige Bemerkungen über Juden etc. machten. Ich finde, es lässt sich nichts sagen, wenn ein Mensch Antisemit aus Überzeugung ist und auf dem Standpunkt steht,

11 Giovanni Maria Mastai Ferretti (1792 – 1878), als Pius IX. Papst 1846 – 1878. 12 Verheiratet in dessen zweiter Ehe mit Clemens von Radowitz (1832 – 1890), preußischer Generalleutnant.

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mit Juden, auch wenn sie längst getauft sind, nichts zu tun haben zu wollen. Ich billige diesen Grundsatz nicht, aber ich kann ihn begreifen. Wenn Menschen aber zu Juden ins Haus gehen, Diners essen, Bälle mitmachen und dann hässliche Witze machen, so finde ich dies im höchsten Grad unfair und gemein. Das findet man aber leider recht oft. (8. 2.1896)

Andererseits beschreibt sie bei einem Besuch am Wannsee den Maler Gustav Richter (1869 – 1943), den Sohn ihrer Gastgeberin Cornelie Richter, geb. Meyerbeer (1842 – 1922), als „rechten Judenbengel“ (31. 5.1894).

3 Politik und Monarchie Hildegards Verständnis von Politik ist untrennbar mit ihrem Verständnis der Monarchie verbunden. Im Zentrum steht hier der deutsche Kaiser, der als preußischer König auch ihr Landesherr, d. h. der regierende Bundesfürst im Teil des Deutschen Reichs, in dem sie aufwächst, ist. Hildegard verehrt den Kaiser sowohl als Persönlichkeit, wie auch als Verkörperung eines politischen Systems, das sie nicht in Frage stellt. Ihr Tagebuch beginnt 1889, im ersten Jahr nach dem Dreikaiserjahr 1888.¹³ Wilhelm I. erscheint in den Tagebüchern daher nur als historische Person, Friedrich III., der ihren Vater Hermann zum Kammerherrn ernannt hat, wird gar nicht erwähnt, und ihre Bemerkungen konzentrieren sich deswegen ganz auf Wilhelm II. Als sie Gast bei der Einweihung des Denkmals für Wilhelm I. am Deutschen Eck in Koblenz durch Wilhelm II. ist, verdichten sich ihre Gefühle für beide Kaiser, und für die Monarchie im allgemeinen: „Vom Ehrenbreitstein dröhnten die Böller, an allen Ufern schossen die Truppen Salut, alle Glocken begannen zu läuten, die Fahnen wehten und die Menge schrie Hurra und schwenkte Hüte und Tücher – es war ein Moment, wo auch ich stolz war, ein Deutscher [sic] zu sein und ein so herrliches Vaterland zu eigen zu haben.“ (Oktober 1897, Eintrag nicht datiert). Dieselbe Verbindung zwischen visuellem Eindruck, patriotischem Gefühl, und Bewunderung des Kaisers als Person findet sich auch in Hildegards Bericht über die Manöver in Potsdam 1894: „Welches schöne Bild bekam man von der Macht Preußens, der Armee, der Monarchie, als der Kaiser in Gardes du CorpsUniform die Front heruntersprengte und auf sein Kommando all diese Menschen wie der Blitz gehorchten.“ (31. 5.1894).

13 Das Jahr 1888 wurde als Dreikaiserjahr bezeichnet, weil Friedrich III., der seinem Vater Wilhelm I. als deutscher Kaiser und preußischer König nachfolgte, nach nur drei Monaten Regentschaft verstarb. Ihm folgte sein Sohn Wilhelm II.

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Ihre Verehrung für den Kaiser erhält sich Hildegard auch, als dieser mit Bismarck, dem politischen Helden ihrer Kindheit und frühen Jugend in Konflikt gerät. Als sie Bismarcks Rücktritt beschreibt, ist Hildegard noch sehr um Balance bemüht: Fürst Bismarck hat seine Entlassung eingereicht und erhalten. Es ist nicht im Groll geschehen; auch ist keiner Partei ein Vorwurf zu machen. Selbstverständig [sic] ist es, dass der junge, thatkräftige [sic] Kaiser Verbesserungen und Neuerungen vornehmen möchte; aber selbstverständig ist auch, dass der alte, betagte Kanzler gern an alten, erprobten Einrichtungen hängt. Trotz der gegenseitigen Liebe harmonisierten ihre Ansichten nicht. Der Kanzler, groß wie er ist, sah es für das Beste des Staates an, zu gehen und, mit schwerem Herzen willigte der Kaiser ein […]. (25. 3.1890)

Schnell neigen sich Hildegards Sympathien dem Kaiser zu. Nach Moltkes Tod notiert sie: „[Er] ging auf der Höhe seines Ruhms vondannen [sic]; während der letzte der Paladine, Bismarck, viel von seiner Größe verloren hat. Möge nach seinem Tode die Welt vergessen, was für Schatten in letzter Zeit seine Größe trübten, u. sich erinnern, was er für Deutschland war und that [sic]!“ (29.4.1891). Die Aussöhnung zwischen dem Kaiser und Bismarck 1894 nimmt sie mit Begeisterung auf, rechnet sie dem Kaiser an, und konstatiert, im Gegensatz zu ihrer ursprünglichen Reaktion, dass Bismarck im Groll seinen Rücktritt eingereicht hatte: Es wäre doch ein Schatten in Deutschlands Geschichte gewesen, wenn der Mann, dem es so viel verdankte, in Ungnade sein Leben beschlossen hätte; dass er jetzt mit solcher Begeisterung und Liebe wieder aufgenommen ward, wie wird es dem greisen Mann wohltun und wieviel Herzen wird es dem Kaiser gewinnen. Das Wort des im Groll scheidenden Bismarck: „Le roi me reverra“¹⁴ hat sich nun erfüllt, aber schöner und besser, als irgendjemand zu hoffen wagte. (28.1. 1894)

In den Tagebüchern finden wir nur eine Gelegenheit, bei der Hildegards Kaisertreue ins Wanken gerät. 1899 steht im Preußischen Abgeordnetenhaus die Abstimmung über die Finanzierung des Mittellandkanals an. Dieser ist für den Kaiser ein Prestigeprojekt, wird aber von ostelbischen Grundbesitzern als Bedrohung gesehen, weil er den Transport von billigen Importgetreide, vor allem aus Amerika, bis in den ostelbischen Teil Preußens ermöglichen würde, wodurch die ostelbischen Grundbesitzer ihre wirtschaftlichen Interessen bedroht sehen. In der entscheidenden Abstimmung stimmen eine Reihe von konservativen Abgeordneten gegen die Finanzierung des Mittellandkanals.¹⁵ Unter ihnen sind auch preußische Land-

14 „Der König wird mich wiedersehen“. 15 Wilfried Loth, Das Kaiserreich. Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung, München, dtv: 1996, S. 109; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Machtstaat vor der Demokratie, Mün-

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räte und Kammerherren. Hildegard kommentiert die Reaktion Wilhelms II. in folgenden Worten: Dann folgte Schlag auf Schlag die Vergeltung, ich möchte es fast Rache nennen, die S.M. auf das Scheitern seines Lieblingsprojektes folgen ließ. Zuerst wurden die Landräte abgesetzt – dann die Kammerherrn [sic] mittels Dekrets „vom Hoflager verbannt“! Wir persönlich nahmen die Sache nicht tragisch, aber für den Kaiser, für die Regierung sind es Schritte, die jeder Deutsche nur tief beklagen kann. (2.9.1899)

Nipperdey nennt diesen Schritt ein „verfassungsrechtlich mehr als zweifelhaftes Verfahren“.¹⁶ Auch Hildegards Kommentar dem Kaiser gegenüber ist fast schon kritisch. Dieser Kommentar ist jedoch eine Ausnahme; Hildegards Verehrung für Monarchen erstreckt sich selbst auf ausländische Monarchen wie Napoleon III. So schreibt sie über die Sedanfeier 1890: „Die Gefangennahme des Kaisers war ja nicht entscheidend oder endend für den Krieg, und über die Demütigung eines gestürzten Kaisers so zu triumphieren, finde ich nicht schön. Ich finde Napoleons Gefangennahme mehr Mitleid erregend.“ (2.9.1890). Für den heutigen Leser ist die historische Parallele zwischen dem späten deutschen Kaiserreich, das Hildegard erlebt, und dem römischen Kaiserreich, dessen historische Überreste sie bei einer Italienreise mit ihren Eltern und ihrer Schwester kommentiert, verlockend: „ich fing an, zu verstehen, dass die römischen Kaiser in frevelhaftem Wahnsinn sich Gott gleich zu sein dünkten und dass diese ganze Herrlichkeit so rasch, so unglaubhaft rasch, in Trümmer sinken musste!“ (1899, nicht datiert). Für Hildegard gibt es hier keine Parallele, sondern den Gegensatz zwischen dem untergegangenen Römischen Reich, und dem Deutschen Reich, in dem sie lebt. Hildegards Bewunderung gilt gleichzeitig der Person und dem Amt des preußischen Königs und deutschen Kaisers. Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen (1880 – 1925), der gleichzeitig mit ihrem Vater und ihr zur Kur in Sylt ist, erscheint in den Tagebüchern zunächst in sehr positivem Licht: „Er ist ein hübscher, großer Mensch, ein rechter Hohenzoller, sehr musikalisch, klug und gut erzogen und gefiel uns allen im näheren Verkehr ausgezeichnet.“ Als der Prinz sich aber während einer Dampferfahrt betrinkt, schreibt Hildegard: „Wäre der Prinz ein anderer gewesen, so hätte man gesagt: der dumme Junge hat sich die Nase begossen und ist recht albern; da er ein Prinz war, fand man ihn witzig und belachte ihn!“ (Herbst 1900, Eintrag nicht datiert.)

chen: C.H. Beck, 1998, S. 718 f.; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 3 (Von der„Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, 1849 – 1914), München: C.H. Beck, 2008, S. 1009. 16 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, S. 719.

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Während der Kaiser über Kritik erhaben ist, gilt dies nicht im selben Maß für die deutschen Bundesfürsten. Als Hildegards Eltern 1889 mit ihren Kindern das der fürstlichen Familie Reuß, ältere Linie, gehörende Schloss Burgk im heutigen SaaleOrla-Kreis besichtigt, schreibt Hermann von Erffa „ins Fremdenbuch als ‚Kammerherr S.M. des Kaisers und Königs von Preußen‘, um den Preußen-feindlichen Fürst zu erfreuen!“ (31.7.1889). Andererseits gelten für Fürsten auch im Umgang mit jungen Mädchen offenbar andere Regeln als für andere Herren. 1898 ist Hildegard bei ihren Verwandten Max von Butler (1834 – 1909) und seiner Frau Maria von Butler, geb. Freiin Schenck zu Schweinsberg (1841 – 1928) in Meiningen zu Besuch. Zu Ehren von Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen (1826 – 1914) werden durch Mitglieder der Meininger Gesellschaft unter Anleitung von Georgs II. dritter Frau, der ehemaligen Schauspielerin Ellen Franz (1839 – 1923), mit Georg II. in morganatischer Ehe verheiratet als Freifrau von Heldburg, lebende Bilder einstudiert. Hildegard bekommt die Rolle der Madonna zugeteilt, nach dem Vorbild einer Jugendzeichnung von Georg II. Als der Herzog wegen einer Erkältung nicht an der Vorführung teilnehmen kann, lässt er Hildegard alleine im Kostüm der Madonna bei sich erscheinen. Dieses Treffen beschreibt Hildegard wie folgt: Mit einem herrlichen Äußeren – er erinnert an die edelsten deutschen Heldengestalten – verbindet er die zartesten, angenehmsten Formen und die Haltung eines vollendeten alten Kavaliers. Er war ganz entzückt, sein altes Bild getreu im Leben wiederzufinden und konnte sich gar nicht satt sehen an Faltenwurf und Farben. Er strich und zupfte noch etwas am Mantel, bat um Erlaubnis, mein Haar ordnen zu dürfen und ließ mich meine Stellung probieren. Dazwischen murmelte er immer wieder: „Magnifique! Ich bin sehr zufrieden! Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Liebenswürdigkeit, mir diese Freude zu machen!“ – Dann sagte er: „Es ist schade, daß ich nicht katholisch bin – ich würde Sie anbeten!“ (7. 3.1898)

Hildegard sieht die Bundesfürsten insgesamt kritischer als den preußischen König und deutschen Kaiser. So schreibt sie über ihren ersten Besuch bei Hof, in Rudolstadt, der Hauptstadt des Fürstentums Schwarzburg-Rudolstadt: „Also gestern war ich zum ersten Male bei Hofe; dies Ereignis hat mir aber weder einen Eindruck gemacht, noch mich irgendwie aufgeregt. Prinzen sind doch auch Menschen u. gegen die kleinen Höfe habe ich immer etwas demokratische Gesinnungen.“ (7.6. 1891). Das Prinzip der Monarchie aber ist für Hildegard über jeden Zweifel erhaben. Insbesondere der Rolle des Parlaments, wie in der preußischen Verfassung von 1850 vorgesehen, steht Hildegard ablehnend gegenüber. Nach einem Besuch im Preußischen Abgeordnetenhaus 1895 schreibt sie „Für mich ist der Parlamentarismus entschieden nichts und ich freute mich die ganze Zeit, daß [sic] Vater nicht an

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Hammersteins¹⁷ Stelle am Ministertisch saß.“ (29.1.1895). Der Begriff „liberal“ ist für sie ein negatives Urteil. So schreibt sie über ihren Onkel Max von Butler, der als Geheimer Staatsrat im Ministerium des Herzogtums Sachsen-Meiningen tätig ist: „Das Betrü benste [sic] ist, daß niemand ihm seine Aufopferung dankt, daß die Gutgesinnten ihm fast einen Vorwurf daraus machen, daß er sich zum Werkzeug eines so liberalen Herrn hergibt“ (1898, Eintrag nicht datiert). Ebenso negativ behaftet ist der Begriff „Demokraten“. Als ihr Vater Hermann zu Bismarcks 80. Geburtstag nach Friedrichsruh reist, berichtet er von unzählbaren Gratulationen, erwähnt aber auch, dass keine offizielle Gratulation des Reichstags erfolgt war: „Dagegen wurde eine Gratulation des Reichstags von der Majorität der Mitglieder, von Welfen, Polen, Demokraten etc. abgelehnt. Die zwei Präsidenten legten darauf ihr Amt nieder, es entstand furchtbare Aufregung und durch ganz Deutschland geht ein Schrei der Entrüstung über diesen Reichstag.“ (31. 3.1895) Bismarcks Kritik an Wilhelm II. kommt von innerhalb der politischen und sozialen Elite der preußischen Gesellschaft, und Hildegard bringt Bismarck gegenüber auch dann noch ein gewisser Verständnis auf, als sie ihn schon vollständig für seinen Rücktritt verantwortlich macht. Eine gänzlich andere Herausforderung der politischen Ordnung erfolgte durch die neue Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD). Im preußischen Abgeordnetenhaus waren der SPD durch das Dreiklassenwahlrecht Grenzen gesetzt. Für den Reichstag hingegen galt das allgemeine, gleiche, und direkte Männerwahlrecht, weswegen die SPD hier wesentlich stärker vertreten war. Während Hermann von Erffa viel Zeit und Mühe auf seine politische Karriere im preußischen Abgeordnetenhaus verwendete, stand er der Institution des Reichstags ablehnend gegenüber. So wurden z. B. die Reichstagswahlen 1890 von der ganzen Familie in Wernburg verfolgt. Hildegard schreibt darüber: Donnerstag waren die Wahlen. Leider siegten viele Socialdemokraten [sic]. Auch in unserem Kreise kommen Lucius¹⁸ und ein greulicher Schneider Reißhaus zur Stichwahl.“ […] Der Vater weckte die Mutter in der Nacht, indem er ihr die 11 Socialdemokraten [sic] in Wernburg aufzählte. (23. 2.1890)

In einem Brief an seinen Bruder Eduard vom Januar 1884 kommt Hermanns Haltung zum Reichstag und zur Stellung der Arbeiter deutlich zum Ausdruck:

17 Ernst Georg Freiherr von Hammerstein-Loxten (1827– 1914), preußischer Landwirtschaftsminister 1894 – 1901. 18 Ferdinand Lucius (1830 – 1910), Deutsche Reichspartei, Abgeordneter für den Wahlkreis Erfurt, Schleusingen, Ziegenrück 1890 – 1893.

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Ich habe nie daran gedacht, im II. Meininger Wahlkreis zu kandidieren und würde, wenn mir wirklich eine Candidatur angeboten würde, wozu jedoch bei meiner bekannt conservativen und agrarischen Gesinnung gar keine Möglichkeit vorliegt, dieselbe nicht acceptieren, weil ich gar keine Lust hätte, meinen anständigen Namen von dem Sonneberger Proletariat und Fabrikgesindel in den Dreck reißen zu lassen, im übrigen kümmere ich mich um diese Wahl gar nichts, mag aufgestellt werden wer will!¹⁹

Hildegards eigene Meinung zu den Anliegen der Sozialdemokratie entspricht der ihres Vaters. Am 30. April 1890 schreibt sie in ihr Tagebuch: Morgen ist der verhängnisvolle 1te Mai, der Tag für den die Socialdemokraten [sic] der ganzen Welt arbeiten. Alle Arbeiter in Europa sollen morgen die Arbeit in den Fabriken einstellen, als Beweis, daß sie die Herren der Welt. Man fürchtet, dass Revolution daraus entstehen wird. Wir sind gerade so exponiert zwischen Pößneck und Ranis. Die Maurer in Ranis streikten schon vorgestern. Sie warfen dem Maurermeister Beck die Fenster ein, warfen ihn auf den Boden, rissen ihm den Schlafrock herunter und prügelten ihn. Es ist doch empörend. (30.4.1890)

In den vorherigen Bemerkungen haben wir einen Eindruck von Hildegard von Erffa als Person und als Tagebuchschreiberin bekommen; in diesem Teil der Einleitung möchte ich nun den Stand der relevanten Sekundärliteratur zusammenfassen, und andeuten, wie Hildegard von Erffas Aufzeichnungen den Stand der Forschung reflektieren und erweitern.

3.1 Unterscheidungen innerhalb des Adels Bei der Lektüre der Sekundärliteratur fällt zunächst auf, wie sehr das oberflächlich kohärente Konzept des Adels bei näherer Betrachtung eine Vielzahl von Sachverhalten beschreibt. Das Genealogische Handbuch des Deutschen Adels, umgangssprachlich nach seinem ursprünglichen Erscheinungsort Gotha genannt, unterscheidet zwischen fünf verschiedenen Handbüchern: den Handbüchern der Fürstlichen, Gräflichen, und Freiherrlichen Häuser, und der Adligen Häuser Teil A (Erhebung in den Adelsstand vor 1400) und Teil B (Erhebung in den Adelsstand nach 1400).²⁰ Zum Vergleich: Das Bayerische Adelsarchiv unterscheidet ebenfalls zwischen fünf Rängen, wenn auch etwas anders formuliert: Fürsten, Grafen, Freiherrn,

19 Schloßarchiv Ahorn, ohne Signatur, Hermann v. Erffa an Eduard v. Erffa, 24. Januar 1884. 20 O.A., Genealogisches Handbuch des Adels. Freiherrliche Häuser, Bd. 17, Limburg a. d. Lahn: C. A. Starke, 1994.

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Ritter, und „Adlige mit dem Prädikat ‚von‘“.²¹ Diese erste Art der Unterscheidung gibt uns also bereits fünf mögliche Kategorien, nach Adelsrang. Stephan Malinowskis wichtige Studie zum deutschen Adel und dem Nationalsozialismus nennt neben dieser Trennungslinie vier weitere: Region, Konfession, Anciennität und Ansehen der Familie, und soziale Position nach Besitz, Ausbildung, und Beruf.²² In der sozialen Kategorie unterscheidet Malinowski aufgrund der wirtschaftlichen Verhältnisse der jeweiligen Familien die drei Unterkategorien Grandseigneurs, Kleinadel, und Adelsproletariat. Dazu könnte man als sechste Trennungslinie noch die politische Gesinnung nehmen, und innerhalb dieser wieder die Unterkategorien ob die politische Treue primär dem Kaiser oder primär dem Landesherrn (wo verschieden) galt, und die Einstellung zum parlamentarischen System, und als siebte Trennungslinie Gender. Bevor wir nun die Nützlichkeit dieser Unterscheidungskriterien an einigen konkreten Fällen betrachten, noch eine Bemerkung zur zahlenmäßigen Entwicklung des Adels im deutschsprachigen Raum. Wie Dominic Lieven anmerkt, sind selbst im begrenzten geographischen Raum von Zentral- und Westeuropa verschiedene Adelssysteme zu finden.²³ Der wesentliche Unterschied zwischen dem britischen und dem im deutschsprachigen Raum verbreiteten Adelssystem ist die Vervielfachung aller Titel unterhalb der Standesherren im deutschsprachigen Raum für männliche Nachkommen, sogenannte Agnaten. Ein Beispiel: Ferdinand Freiherr von Erffa (1796 – 1864) hatte zwei Söhne die ins erwachsene Alter überlebten, Hildegards Vater Hermann Freiherr von Erffa (1845 – 1912) und seinen älteren Bruder Eduard (1826 – 1897). Eduard wiederum hatte vier Söhne, und Hermann drei Söhne. In nur drei Generationen erhöhte sich dadurch die Anzahl von drei titelführenden Agnaten, Ferdinand und seinen Brüdern Eduard (1793 – 1856) und August (1809 – 1864), die beide kinderlos verstarben, auf sieben.²⁴ Dies unterscheidet sich wesentlich vom britischen System, in dem derselbe Titel nur einmal vererbt werden kann.²⁵ Hatte die Vergrößerung der Anzahl der adligen Namensträger einerseits den Effekt, das Weiterbestehen des Familiennamens abzusichern, so war es andererseits klar, dass, außer in den am meisten be-

21 O.A., Genealogisches Handbuch des in Bayern immatrikulierten Adels, Bd. 28, Neustadt a. d. Aisch: Degener, 2010, S. 13*. 22 Malinowski, Vom König zum Führer, S. 36. 23 Dominic Lieven, The Aristocracy in Europe, 1815/1914, New York: Columbia University Press, 1992, S. XVII. 24 Eckart von Stutterheim, Bibliothek familiengeschichtlicher Arbeiten, Band 51 (Erffa. Beitrag zur Genealogie und Geschichte der Freiherren von Erffa), Neustadt a. d. Aisch: Degener, 1997, S. 49 – 58. 25 Höflichkeitstitel für Nachfahren des britischen Hochadels ausgeschlossen – diese können aber nicht vererbt werden, und erlöschen daher nach einer Generation.

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güterten Familien, auch männliche Nachfahren ihren Lebensunterhalt zu verdienen hatten, weil der Grundbesitz der Familie die immer größere Zahl von Nachfahren nicht hätte weiter unterhalten können. Hildegards überlebende zwei Brüder waren beide als Landräte im preußischen Staatsdienst beschäftigt. Von ihren vier Ahorner Vettern bewirtschaftete nur einer das Gut, während die anderen drei Juristen bzw. Offizier waren.²⁶ Nützen wir nun Malinowskis fünf Kriterien, ergänzt durch politische Haltung und Gender, ergibt sich für Hildegards Vater Hermann Freiherr von Erffa folgende Zusammenfassung: Hermann Freiherr von Erffa, 1845 – 1912 1. Region: Provinz Sachsen 2. Konfession: protestantisch 3. Adelsrang: Freiherr 4. Anciennität/Ansehen: hoch/hoch 5. Sozialer Status: Besitz unterdurchschnittlich (Land- und Forstwirtschaft); Stellung/Besoldung hoch (Präsident des preußischen Abgeordnetenhauses). 6. Politische Ansicht: konservativ, königstreu 7. Gender: männlich Um diese Knappheit der Information zu erreichen, sind Vereinfachungen nötig. Während Wernburg politisch und administrativ gesehen Teil der Provinz Sachsen war, war der Kreis Ziegenrück auf allen Seiten von thüringischen Gebieten umgeben, und die historischen Wurzeln der Familie von Erffa liegen eindeutig in Thüringen. Der komplexe Eintrag in der Kategorie des sozialen Status spricht für sich. Kategorie 6 ist für Adlige in preußischen Landesteilen weniger nützlich, weil ihr Landesherr gleichzeitig der deutsche Kaiser war. Dass selbst eine so knappe Zusammenfassung nützlich sein kann, zeigt aber zum Beispiel der Fall des Herrn von Kleist, der von den Eltern von Hildegard Freiin von Erffas Kusine Hanna Freiin von Spitzemberg als potentieller Ehemann ihrer Tochter abgelehnt wird, weil er ihre wirtschaftlichen Erwartungen nicht erfüllt: Herr von Kleist 1. Region: Pommern 2. Konfession: protestantisch

26 Hier ist anzumerken, dass nicht jedes Hofamt bezahlt war, bzw. nicht unmittelbar bezahlt wurde. Der Hof- und Staatsdienst war deswegen mehr mit der Erwartung als dem unmittelbaren Erhalt eines Gehalts verbunden. Siehe von Kamp, S. 133.

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3. 4. 5. 6. 7.

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Adelsrang: adlig, Familie vor 1400 geadelt Anciennität/Ansehen: hoch/hoch Sozialer Status: Besitz nicht vorhanden; Stellung/Besoldung gering. Politische Ansicht: konservativ, königstreu Gender: männlich

Hier sehen wir, dass innerhalb des Adels sehr wohl genau unterschieden wurde, und dass ein Malus in einiger einzigen der sieben Kategorien, besonders aber der Kategorien 2, 3, und 5 schon reichen konnte, um eine mögliche Verbindung zweier Familien zu verhindern. Bei bürgerlichen Heiratskandidatinnen konnten die Größe ihrer Mitgift und anzunehmenden Erbschaft einen solchen Malus ausgleichen, aber das soziale Stigma der nichtadligen Herkunft blieb. Wendet man dasselbe Schema auf Hildegard selbst an, so ergibt sich dasselbe Ergebnis wie für ihren Vater, außer in Kategorie 7, die uns daran erinnert, dass höherer sozialer Status nicht für alle Angehörigen einer Familie gleiche Rechte bedeutete. Es liegt daher nahe, die Stellung verschiedener Adliger aus der Perspektive der Intersektionalität zu betrachten. Dieses Konzept der Soziologie erklärt, dass der Status eines Individuums von verschiedenen Kriterien definiert wird, und dass dasselbe Individuum daher Eigenschaften von hohem und niedrigem Status in derselben Person kombinieren kann. Die meisten Dimensionen dieser komplexen Identität lassen sich z. B. als Netzdiagramm darstellen, wie unten am Beispiel von Hermann von Erffa.

Abb. 1: Hermann Freiherr von Erffas gesellschaftliche Stellung, als Netzdiagramm visualisiert, Quelle: Verfasser.

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Auch dieses Netzdiagramm kommt nur durch Vereinfachung zustande. Die Region ist nicht abgebildet, weil sich keine sinnvolle Reihung der Gebiete des Deutschen Reichs nach numerischen Werten von hoch nach niedrig bzw. niedrig nach hoch ergibt. Die numerischen Werte auf der Achse Religion (3 = protestantisch, 2 = katholisch, 1 = jüdisch) sind nach preußischen Verhältnissen gewählt; für Landesteile mit katholischen Fürsten wären die Werte für protestantisch und katholisch umgekehrt. Die Anzahl der Werte auf den Skalen für politische Ansichten (von 0, sehr liberal, bis 5, sehr konservativ), Ansehen/Anciennität, und sozialen Status sind willkürlich gewählt. Bei allen Beschränkungen zeigt das Netzdiagramm aber doch, aus wie vielen einzelnen Dimensionen die adelige Identität bestand, und welche Vielfalt von Identitäten der Begriff „der Adel“ verbirgt. Der Gedanke, alle Adligen seien oder glaubten dies oder das ist dabei so irreführend wie analytisch einfältig. Wohl mag es einen Einfluss des kollektiven Standesinteresses zur Verteidigung der adligen Privilegien gegeben haben. Das gilt analytisch aber genauso für Handwerker oder Facharbeiter. Der Gedanke hingegen, dass allein die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie über die politische Gesinnung aller ihrer Angehörigen entscheidet, ist entweder ein Ausdruck des Vulgärmarxismus, oder aber die stillschweigende Übernahme der Idee des Adels als einer besonderen Existenz gerade durch seine schärfsten Kritiker.

3.2 Wirtschaftliche Grundlagen der adligen Existenz im 19. Jahrhundert Die wirtschaftliche Situation der Familie von Erffa, wie auch des Landadels in Preußen (d. h. einschließlich der Provinz Sachsen) insgesamt, wurde im 19. Jahrhundert von drei Kernfakten geprägt: der Abschaffung der Leibeigenschaft als Teil der Stein-Hardenbergschen Reformen 1807, der Abschaffung der Grundsteuerbefreiung für adligen Grundbesitz 1861, und der Organisation des Erffaschen Besitzes in Wernburg als Fideikommiss. Die Abschaffung der Leibeigenschaft war, anders als erwartet, für viele adlige Grundbesitzer keine wirtschaftliche Katastrophe, sondern die Abschaffung eines ineffizienten Systems. Realleistungen und Dienstpflichten wurden vielfach durch Geldleistungen ersetzt (nachdem die Abschaffung der Leibeigenschaft nicht mit Enteignungen einher ging, blieben die ländlichen Bodenbesitzverhältnisse unverändert). Alternativ dazu konnten adlige Grundbesitzer ihr Land auch selbst bewirtschaften, meistens mit Hilfe eines professionellen Verwalters. Aufgrund der so bewirtschafteten größeren Fläche war ein Skaleneffekt möglich. Die Abschaffung der Grundsteuerbefreiung hingegen war für viele adligen Grundbesitzer viel problematischer, auch wegen der benötigten finanziellen Vorleistung, die flüssige Geldmittel notwendig machte. Die Errichtung eines Fidei-

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kommisses schließlich machte die Veräußerung von (meist adligem) Grundbesitz durch freie Willenserklärung unmöglich. Was für eine Existenz ermöglichte der Erffasche Besitz in Wernburg? Für das Jahr 1907 sind 190 ha Äcker und Wiesen und 275 ha Wald verzeichnet.²⁷ Für den Waldbesitz ist der Vergleich mit einigen der in den Tagebüchern erwähnten Familien interessant: die Familie von Hildegards wenig geliebtem Schwager, Hermann von Rotenhan, besaß einen Waldbesitz von 508 ha als Teil von Gut Neuenhof. Die Familie von Butler, deren Sohn Karl Hildegard mit seiner Sportlichkeit beeindruckt, als er mit dem Fahrrad von Dietlas nach Wernburg fährt, besitzt 428 ha Wald als Teil von Gut Dietlas (neben weiterem Besitz bei Coburg). Unter dem Besitz ihrer Bekannten ist der Erffasche Waldbesitz am ehestens mit dem der Familie von Beulwitz vergleichbar, die als Teil von Gut Löhma 261 ha Wald besaßen.²⁸ Verglichen mit den adligen Waldbesitzern ähnlichen oder gleichen Ranges in der Gegend war die Familie von Erffa damit eher am niedrigen Ende des Vermögensspektrums angesiedelt. Derselbe Eindruck ergibt sich bei einem Vergleich mit den Durchschnittswerten für als Fideikommiss organisierte Besitze des niederen Adel in der Provinz Sachsen zu dieser Zeit: im Jahr 1907 war die durchschnittliche Betriebsgröße eines niederadligen Fideikommißbesitzes 791 ha Gesamtfläche, der durchschnittliche Acker- und Wiesenbesitz 412 ha, und der durchschnittliche Waldbesitz 304 ha.²⁹ Sowohl der Erffasche Gesamtbesitz, wie auch die land- und forstwirtschaftlichen Teilflächen lagen damit unter dem jeweiligen Durchschnitt, zum Teil signifikant. Die Fläche des Betriebs ist eine nützliche Vergleichsgröße, erlaubt aber keinen Rückschluss auf die Beschaffenheit und Produktivität des Bodens. Eine detailliertere Bewertung erlaubt die Höhe des Grundsteuerreinertrags, errechnet für den preußischen Kataster, der die Bemessungsgrundlage für die neuzeitliche preußische Grundsteuer, eingeführt 1861, bildete. Dieser Kataster wurde in den Jahren bis 1865 erstellt. Für jedes steuerpflichtige Grundstück wurde durch eine örtliche Kommission auf Kreisebene ein mittlerer Ertrag errechnet. Die Steuerlast für jedes Grundstück ergab sich aus dem Anteil des Ertrags des Grundstückes am Gesamtertrag des Kreises, der wiederum von der Provinz und vom Regierungsbezirk seine

27 Eduard Müller, Der Großgrundbesitz in der Provinz Sachsen. Eine agrarstatistische Untersuchung, Jena 1912, S. 99 – 101, in: Anne von Kamp, Adelsleben im bürgerlichen Zeitalter. Die Freiherren von Erffa im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Neustadt a. d. Aisch: Gesellschaft für Fränkische Geschichte c/o Verlag PH.C.W. Schmidt, 2010, S. 274. 28 Alle Zahlen aus Flächenbestands – und Personalnachweisung der Thüringer Staatsforstverwaltung nach dem Stande vom 1. Januar 1926, S. 50 – 52. Dieser Vergleich setzt eine geringe Besitzfluktuation voraus. 29 Müller, Der Großgrundbesitz in der Provinz Sachsen, S. 124–f.

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Steuerlast zugewiesen bekam.³⁰ Unter den Micquelschen Finanzreformen von 1891 wurde die Grundsteuer als Steuereinnahmequelle den Gemeinden zugewiesen. Für das Jahr 1907 ergab sich für den Wernburger Besitz ein Grundsteuerreinertrag von 6950 M.³¹ Auch der Grundsteuerreinertrag des Wernburger Betriebs lag signifikant unter dem Durchschnittswert der niederadligen Fideikommißbesitze in der Provinz Sachsen, 15,762 M.³² Vererbung gemäß der Primogenitur, wie in den meisten adligen Familien üblich, entsprach einem Familienverständnis, das die Agnaten als Träger der Familientradition überhöhte, und innerhalb der Agnaten wiederum dem ältesten Sohn eine besondere Rolle zuwies. Bei den hier diskutierten Betriebsgrößen war Grundbesitz aber auch nur durch strikte Primogenitur zusammenzuhalten. Den Wernburger Besitz erbte Hildegards ältester Bruder, Georg. Hildegards überlebender jüngerer Bruder, Rudolf, erbte Oerlsdorf, einen kleineren Besitz bei Sonneberg, den er als Nebeneinkunft neben seiner Arbeit im Staatsdienst betrachtete. Im Fall der Familie von Erffa war die strukturelle Benachteiligung der Töchter durch einen Familienvertrag von 1783 geregelt, dem zufolge Erffasche Töchter auf ihr bereits damals bestehendes Erbrecht an väterlichem und mütterlichem Besitz zu verzichten hatten.³³ Diese Regelung wurde im gemeinsamen Testament von Hermann von Erffas Eltern, Ferdinand von Erffa und Emmy von Erffa von 1862 bestätigt.³⁴ War Hermann von Erffas Bewirtschaftung seines Guts erfolgreich? Im Jahr 1895 bezeichnete er das Gut Wernburg, als „fast schuldenfrei“, und war in der Lage, eine Hypothek von 15.000 M aufzunehmen, um seinen Grundbesitz zu erweitern.³⁵ Zumindest als Politiker stand Hermann von Erffa dieser Art von Besitzerweiterung zwiespältig gegenüber; im Landtag der Provinz Sachsen hatte er sich bereits 1882 wie folgt geäußert: [I]ch habe als Grundbesitzer naturgemäß den Wunsch meinen Besitz auszudehnen und muss mich eigentlich über jeden Grundbesitz freuen, der neben mir ausgeschlachtet wird, der neben mir auf eine Menge Kinder übergeht, die ihn nicht halten können, sondern ihn verkaufen

30 Grundsteuergesetz für das Königreich Preußen, 21. Mai 1861/8. Juni 1861, https://www.verfassun gen.de/preussen/gesetze/leiste1860-1869.htm, abgerufen 14. 5. 2023. 31 Müller, Großgrundbesitz in der Provinz Sachsen, S. 120 f., in: von Kamp, Adelsleben, S. 274. 32 Müller, Der Großgrundbesitz in der Provinz Sachsen, S. 124 – 125, in: von Kamp, Adelsleben, S. 274. 33 Anne von Kamp, Adelsleben im bürgerlichen Zeitalter. Die Freiherren von Erffa im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Neustadt a. d. Aisch: Gesellschaft für Fränkische Geschichte c/o Verlag PH.C.W. Schmidt, 2010, S. 188. 34 von Kamp, Adelsleben, S. 45. 35 von Kamp, Adelsleben, S. 274.

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müssen, von Rechts wegen freuen. Ich thue [sic] es aber nicht, weil ich einen kräftigen und leistungsfähigen Bauernstand zu erhalten wünsche.³⁶

Sein Enkel Hans Martin schreibt in seinen Erinnerungen, dass sein Großvater „in den ersten Jahren viel mit der Modernisierung der Landwirtschaft zu tun [hatte], die unter dem bisherigen Pächter Bies auch sehr heruntergekommen war“.³⁷ Hans Martin von Erffa vermerkt auch wesentliche Investitionen seines Großvaters in den Wernburger Betrieb: „auf dem Hof ließ der Großvater in den achtziger Jahren große neue Stallgebäude und inmitten des Hofs ein Wirtschaftshaus errichten, und überall wurde, was mehr als hundert Jahre vernachlässigt worden war, weil niemand ständig im Schloss wohnte, instandgesetzt, verschönt oder neu gemacht“.³⁸ Diese Baumaßnahmen erwähnt auch Anne von Kamp, und erklärt sie mit „Geldgeschenken des durch den lukrativen Hopfenhandel wohlhabend gewordenen Schwiegervaters Karl von Varnbühler [sic]“.³⁹ Demnach war Hermann von Erffa aktiv an der Bewirtschaftung seines Besitzes beteiligt, unter Zuhilfenahme eines professionellen Verwalters, dessen Rolle während der Abwesenheit Hermann von Erffas in Berlin zur Wahrnehmung seines Mandats im preußischen Abgeordnetenhaus besonders wichtig war. Genaue Daten zur Anzahl des Erffaschen Personal in Wernburg im Haushalt sowie in Land- und Forstwirtschaft sind nicht erhalten, aber Hildegard von Erffas Tagebücher erwähnen eine Köchin, mehrere Dienstmädchen, einen Diener, einen Verwalter, einen Förster, und verschiedene Arbeiter. Die Tatsache, dass dieses Etablissement aus dem Wernburger Betrieb, ggf. mit Zuwendungen von Hermann von Erffas Schwiegervater Karl Freiherr Varnbüler von und zu Hemmingen finanziert werden konnte, und dass Hermann von Erffa seinen Betrieb im Jahr 1895 als „fast schuldenfrei“⁴⁰ bezeichnen konnte, legen nahe, dass er seinen Betrieb zumindest nicht defizitär bewirtschaftete. Dass er sich die Holzrechte für seinen eigenen Wald vor Gericht von den örtlichen Bauern erstreiten musste,⁴¹ zeigt, wie sehr sich die Machtverhältnisse zwischen Grundherrschaft und Bauern im späten 19. Jahrhundert bereits verschoben hatten.

36 von Kamp, Adelsleben, S. 257. 37 Hans Martin Freiherr von Erffa, Genealogisches und biographisches über die Familie von Erffa, S. 46. 38 von Erffa, Genealogisches und biographisches über die Familie von Erffa, S. 45. 39 von Kamp, Adelsleben, S. 275. 40 von Kamp, Adelsleben, S. 274. 41 von Kamp, Adelsleben, S. 92.

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3.3 Charakter der wilhelminischen Politie und Gesellschaft Was für ein Staat war das späte Kaiserreich? Was haben Hildegard von Erffas Tagebücher dem heutigen Leser darüber zu sagen? Die Reaktionen auf Hedwig Richters Buch Demokratie: eine deutsche Affäre zeigen, dass die These vom deutschen Sonderweg, in dem ein strukturelles Modernisierungsdefizit vom deutschen Kaiserreich in die nationalsozialistische Diktatur führt, immer noch ein wichtiger Teil jeglicher Debatte über das deutsche Kaiserreich ist. Ein ständig wiederkehrendes Thema in Hildegards Tagebüchern ist die Spannung zwischen einer ererbten politischen und sozialen Ordnung, und den Veränderungen des späten 19. Jahrhunderts. Hildegard von Erffa zitiert in den Tagebüchern einen Brief ihres Onkels Axel Freiherr Varnbüler von und zu Hemmingen an seine Schwestern Elisabeth von Erffa und Anna Hofacker, der eine Gesellschaft im Umbruch beschreibt: [Wie] klar es einem wird aus diesen Kontrasten, dass auf dem Land allein noch ein fester Halt ist für unsere gesellschaftliche und staatliche Ordnung – auch nicht überall mehr – nicht in Schlesien mit seinem katholischen Klerus und seinen österreichischen, leichtlebigen Magnaten – nicht bei Euch in Euren Thü ring‘schen [sic] Fabrikbezirken⁴² – nicht bei uns im Strohgäu⁴³ mit seinen demokratischen, reichen Bauern – vielleicht bei Euch noch auf der rauhen [sic] Alb⁴⁴ – aber nirgend [sic] so noch, wie in den alten preußischen Provinzen, wo in harter Arbeit und strenger Pflichterfüllung, im frommen Gottesglauben, im Dienst für König und Vaterland die alten, grundangesessenen Geschlechter verwachsen sind mit der Landbevölkerung. Auch diese letzte Veste freilich wird schon umstü rmt – möchte man ihr Entsatz bringen, ehe sie fällt! (18.7.1895, Brief datiert 14.7.1895)

Für Axel Freiherr Varnbüler von und zu Hemmingen und für seine Nichte Hildegard Freiin von Erffa waren die beschriebenen Veränderungen größtenteils negativ; eine Herausforderung, sogar Bedrohung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung, die sie kannten und als richtig betrachteten. Hildegards Aufzeichnungen suggerieren oft eine feste, einheitliche monarchische Ordnung, die durch die Veränderungen des späten 19. Jahrhunderts herausgefordert wird. Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass das Preußische Abgeordnetenhaus erst seit der Preußischen Verfassungsurkunde von 1850 bestand, und damit nur unwesentlich älter als der deutsche Reichstag war. Anders ausgedrückt: die alte Ordnung war weit weniger alt,

42 Wernburg, der Besitz von Elisabeths Mann Hermann Freiherr von Erffa, lag geographisch (wenn auch nicht administrativ) in Thüringen. 43 Im Strohgäu im Königreich Württemberg lag der Besitz Hemmingen der Familie von Varnbüler. 44 Axel Freiherr Varnbüler von und zu Hemmingens Schwester Anna (1836 – 1925), verheiratet mit dem württembergischen Oberlandstallmeister Cäsar Hofacker (1831 – 1896), lebte mit diesem auf dem Landgestüt Marbach auf der Schwäbischen Alb, ebenfalls im Königreich Württemberg.

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als Hildegards Aufzeichnungen suggerieren. Das 19. Jahrhundert, insbesondere in seinen letzten Jahrzehnten, war ein Zeitraum der stetigen Veränderungen.⁴⁵ In der Debatte um den Mittellandkanal befinden sich der Kaiser und die konservativen Agrarier auf unterschiedlichen Seiten der Debatte. Auch dies weist darauf, hin, dass die Politik und Gesellschaft des Kaiserreichs nicht entlang einer einzigen Achse zwischen Fortschritt und Parlamentarismus einerseits und Tradition und Monarchie andererseits verstanden werden kann, weil der Kaiser sich selbst als Reformer sah (aber eben nicht als Demokrat). Das Standardwerk zur deutschen Gesellschaftsgeschichte, Hans-Ulrich Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1700 – 1990, kommt zu der überraschenden Schlussfolgerung, dass das Kaiserreich zu gut, nicht zu schlecht funktionierte, sodass sich vor dem verlorenen Krieg nie eine Mehrheit für eine demokratische Revolution fand.⁴⁶ So einleuchtend dies ist, setzt Wehler dennoch voraus, dass es nur einen möglichen Modernisierungskurs, Demokratisierung, gab, anstatt die Möglichkeit einer nichtdemokratischen Modernisierung in Betracht zu ziehen. Warum hätten die Eliten um den Kaiser das Land demokratisieren wollen, wenn sie selber keine Demokraten waren, und wenn ihnen das politische System stabil genug erschien? Von ideologischen Gesichtspunkten wie der Idee des Herrschers von Gottesgnaden einmal ganz abgesehen. Wehler kann sich nur eine demokratische Herrschaftsform als wirkliche Modernisierung vorstellen. Damit überträgt er die Maßstäbe seiner Zeit, und seines passionierten Eintretens für den deutschen Nachkriegsstaat auf sein historisches Objekt, und bringt sich so um ein besseres Verständnis der politischen Welt des Kaiserreichs. Was finden wir an deutschen Besonderheiten in Hildegards Tagebüchern? Ihr Antikatholizismus, Antisemitismus und Antiziganismus, so sehr sie den heutigen Leser abstoßen, waren in anderen europäischen Gesellschaften des späten 19. Jahrhunderts ähnlich verbreitet. Gleiches gilt für ihr mangelndes Verständnis für die körperlichen Härten und Entbehrungen des Lebens der Arbeiterklasse, und ihre mangelnde Bereitschaft, über die Forderungen der Sozialdemokratie auch nur nachzudenken. Bei ihrer Geringschätzung des parlamentarischen Systems, trotz der langjährigen parlamentarischen Arbeit ihres Vaters, ist man dem Sonderweg schon näher. Hier ist der Kontrast insbesondere mit dem britischen parlamenta-

45 Siehe auch Hedwig Richter, Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich, Berlin: Suhrkamp, 2021, S. 8. 46 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 3 (Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, 1849 – 1914), München: C.H. Beck, 2008, S. 1265 – 1266; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 4 (Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten, 1914 – 1949), München: C.H. Beck, 2008, S. 203 – 205.

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rischen System sichtbar. Die politischen Beschränkungen des deutschen Kaiserreichs sind in der Geschichtswissenschaft bereits ausführlich beschrieben. Um das Wesen dieser Epoche zu erfassen, ist es nun eine intellektuell produktivere Vorgehensweise, zu sehen, was es für Freiräume und Flexibilitäten im späten deutschen Kaiserreich gab. Hildegard Freiin von Erffas Tagebuch, oft sehr zielsicher, gewandt und treffend, manchmal auch spitz und verletzend, immer mit einer sehr charakteristischen Perspektive, ist dafür ein guter Ausgangspunkt. Felix Böcking

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Abb. 2: Die Familie, 1884: Burkhart, Hildegard, Margarethe, Sabine (vorne), Rudi, Elisabeth, Jörge, Hermann, Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, P10 Bü 1747 / Fotograf: Carl Hempel.

Band I: Tagebuch von 1889 bis 1891 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibet, und ich in ihm, der bringet viele Frucht; denn ohne mich könnet ihr nichts thun. Ev. Joh. 15,5 Wenn alle untreu werden, So bleib‘ ich dir doch treu, Daß Dankbarkeit auf Erden Nicht ausgestorben sei. Für Dich umfing mich Leiden, Vergingst für mich im Schmerz, Drum geb‘ ich Dir mit Freuden Auf ewig dieses Herz. Novalis

1889. Wernburg, 17.4. Zu dem schönsten Tage meines Lebens, dem Tage meiner Konfirmation, erhielt ich von meinen lieben Eltern dieses Tagebuch. Ich schreibe es nicht für andere, sondern nur für mich, für mich ganz allein und verfolge dabei einen dreifachen Zweck; 1. möchte ich meine Schrift und meinen brieflichen Styl, die beide nicht sind, wie sie sein sollten /ob aus Mangel an Übung, ob aus Dummheit, weiß ich nicht, hoffe aber aus ersterem Grunde/, gerne bessern; 2. Denke ich es mir schön, nach langen Jahren die Erinnerungen an die Kindheit aufzufrischen und zu erfahren, wie man als Kind gedacht, gesprochen und gehandelt hat; 3. Wünsche ich, daß dies Buch dazu beitragen soll, mich selbst kennen zu lernen, da doch die wahre Selbsterkenntnis ein Schritt weiter auf dem Wege der Besserung, dem schmalen Pfade des Lebens ist, von dem ich in keiner Beziehung abweichen will. Wenn daher diese drei Pläne in Erfüllung gehen, so hat dies Buch seinen Zweck erreicht und ich kann mit Befriedigung auf mein Werk schauen. Ich greife zunächst zurück auf Palmsonntag, den 14., den Tag unserer Konfirmation. Obwohl ich mich noch vor einem Jahre fast vor diesem Tag gefürchtet hatte – aber ohne Grund – so hatte doch Herrn Pfarrer Hahmanns guter Unterricht und meine größere Reife dazu genügt, diese dumme Angst ganz zu vernichten. So konnte ich dem wichtigen Tage, wenn auch mit Ernst, so doch mit Freude entgegenschauen. Er wurde noch ernster durch des lieben Großvaters Varnbüler¹ Tod. Nachdem er den März und Februar hier verlebt hatte, wollte er den Rest des Anmerkung: Bei den folgenden Fußnoten handelt es sich um Erläuterungen der Herausgeber. 1 Karl Freiherr Varnbüler von und zu Hemmingen (1809 – 1889), Württembergischer Staatsminister und Mitglied des Reichstags. https://doi.org/10.1515/9783111237404-004

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Band I: Tagebuch von 1889 bis 1891

Winters in Berlin zubringen. In der Nacht vom 21. zum 22. wurde er von seinem alten Leiden, Gallensteinbildung, angefallen. Von unserer Mutter, die durch Gottes Fügung gerade dort weilte, gepflegt, von allen seinen Kindern umgeben, starb er am 26. d. M., an Lungenentzündung. – Selbst seine Feinde rühmten von ihm: „Stark, fürwahr der Löwensieger; stärker, der sich selbst bezwang.“ Wir aber, seine Enkel sagen von ihm: Er war groß an Geist, reich an Liebe, treu im Leben, darum auch gewiß von Gott gelohnt im Himmel. Am Palmsonntag wachte ich um 6 Uhr auf, hatte also Zeit, mich zu sammeln, mich zu Gott im Gebet zu erheben. Gestärkt standen Margarethe und ich nun auf, legten unsere Konfirmationskleider (Caschmir mit Mären)² an und gingen in den Saal, wo wir die Segenswünsche von Onkel August Beulwitz und den Eltern empfingen. Letztere überraschten uns mit schönen, in Sammet gebundenen Gesangbüchern. Mit schwarzseidenen Shawls, grauen Handschuhen versehen gingen wir ins Pfarrhaus unter strömendem Regen. Das Vaterunser, was die liebe Mutter vorher mit uns gebetet hatte, hallte uns im Herzen nach. Im Pfarrhaus erklärte uns der Herr Pfarrer die Liturgie, betete mit uns und ging zur Kirche, gefolgt von uns im feierlichen Zuge. Wir traten durch das Mittelportal ein und setzten uns auf die ersten Plätze rechts. Links vom Altar saßen die Mädchen, von Wernburg Pauline Stumpf, Alma Keilitz und Anna Geinitz; rechts die zwölf Jungen, von Wernburg, Arno, Metzel, Streit, Erfurt, Günther, Krause. Nach dem Gesang: O heilger Geist, kehr bei uns ein, der Liturgie und dem Lied: Meinen Jesum laß ich nicht, folgte die Rede über das Evangelium, den Einzug in Jerusalem. Es war herrlich, wie er sich zuerst an die Eltern, dann an die Pathen und zuletzt an uns Kinder wandte. Man sah so, wie er dabei war, es kam ihm so von Herzen, daß es uns zu Herzen ging: die Bodelwitzer weinten jedenfalls bitterlich. Ich konnte nicht weinen, aber was ich in dieser seligen Stunde gedacht, kann ich nicht ausdrücken. Gott aber weiß es, und er wird auch mein kindliches Stammeln: Hosianna, Herr hilf! gehört und erhört haben, er wird mir, das, was ich im Herzen gelobte, auch im Leben halten helfen. Nach der Rede sagte Arno Lucius das Glaubensbekenntnis, Margarethe den Taufbund auf mit einer Ruhe und Sicherheit, die ihr schönes Organ noch mehr zur Geltung brachte. Wir mußten darauf einige Fragen mit „Ja“, „Ja, das wollen wir“, „das werden wir“ beantworten, worauf die eigentliche Einsegnung folgte. Zuerst kamen die Jungen, dann wir beide und die anderen Mädchen. Margarethe bekam den Trauspruch der Eltern: „Sei getreu bis in den Tod“ etc., ich einen meiner Lieblingssprüche: „Ich bin der Weinstock, Ihr seid die Reben; bleibet in mir und ich in Euch, so bringt Ihr viel Frucht, denn ohne mich könnt Ihr nichts thun“. Joh. 15,5. Ja,

2 Marderpelz.

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ich will meinen Spruch befolgen; wie eine Rebe will ich mich mit den Ranken des Glaubens an meinen Erlöser klammern und er, der Getreue, wird mir Kraft und Mut dazu geben! Nun kniete ich mit meiner lieben Schwester nieder. Der Herr Pfarrer segnete uns mit den Worten: „der Segen des allmächtigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes komme auf Euch und bleibe bei Euch nun und immerdar.“ Als alle eingesegnet waren, sang man einen Wechselgesang zwischen der Gemeinde und den Konfirmanden. Als der Herr Pfarrer nun sagte: Lasset uns beten und sich selbst mit allen Konfirmanden kniete, die Glocken dazu feierlich erschallten, da ward mir so wohl, so heilig zu Muth, ich fühlte: „Gott war nah“. Erst nach dem Segen erhoben wir uns wieder. Ich fühlte mich so durchdrungen von Liebe gegen Gott und die Nächsten, daß ich nach dem Schluß meiner Nachbarin, Anna Geinitz, die Hand schüttelte, worüber sie sehr beglückt schien. – Heimgekommen überraschten uns die lieben Eltern mit Büchern, ich bekam: Kommunionbuch von Kapff, Willst du gesund werden? von Funcke und das Tagebuch. Onkel Schlotter schenkte uns: die Christenlehre im Zusammenhang von Zeschwitz. Darauf bekamen wir von verstorbenen und lebenden Verwandten so vielen Schmuck, daß ein ganzer Tisch damit bedeckt ward. Ich erhielt: Vom seligen Großvater Varnbüler eine goldene Uhr, die ich von da an trug, von der sel. Großmutter Erffa³ eine silberne Stehuhr, von der sel. Tante Erffa⁴ eine goldene Schlangenkette mit Medaillon; von der Gräfin Zeppelin ein goldenes Armband, von Edda⁵ „Kommet zu mir“ von Hoffmann, von Onkel August bekam ich dasselbe schöne Bilderwerk und ein reizendes Armband; von Tante Hildegard [Spitzemberg] sind mir sechs goldene Löffelchen und von Tante Anna Stein⁶ auch ein Geschenk in Aussicht gestellt. Die Tanten Künßberg schenkten uns fränkischen Bauernschmuck, Tante Pauline Varnbüler japanische Schmuckkästchen und Tante Natalie Nähteller. Wenn ich noch hinzufüge, daß wir 13 Briefe und 23 Glückwunschkarten erhalten haben, so kann man sich von unserem Aufbau einen Begriff machen. Uns erfreuten weniger die Geschenke, als die Liebe, die aus allen spricht. Bei Tisch, wozu Pfarrers eingeladen waren, hielt erst Onkel Beulwitz, dann der Vater Toaste. Nachmittags gingen die Geschwister mit Frl. Mangelsdorf ⁷ in das Luther-Festspiel in Poessneck. Schimmelschmidts kamen mit Elfriede, welche ich, da sie keine Spielgenossen fand, das Vergnügen hatte, zu unterhalten. Nun, das konnte ich nach all der Freude schon

3 Emmy Freifrau von Erffa, geb. von Baumbach (1801 – 1877). 4 Sophie Freifrau von Erffa, geb. Freiin von Berlichingen (1818 – 1880), wurde in der Familie „die selige Tante“ genannt. 5 Edda Ziller, früheres Kindermädchen der Erffa’schen Familie, die Hildegards Vater erzogen hatte. 6 Anna Freifrau Stein von Nord- und Ostheim, geb. Freiin von Erffa (1839 – 1916), Schwester von Hildegards Vater. 7 Erzieherin der Kinder, die mit im Schloß lebte.

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in den Kauf nehmen. Den Rest des Tages verbrachten wir still, Onkel Beulwitz reiste ab. Freudig gingen wir ins Bett, freudig und dankbar für den schönsten Tag unseres Lebens. Vielmals habe ich schon gesagt: dies war der schönste Tag; aber bald wurde er durch einen noch schöneren Tag verdrängt, da wir an demselben nicht von Menschen, sondern von Gott beschenkt wurden, nicht ein irdisches Fest feierten, sondern ein Fest für die Ewigkeit. Der Montag, 19.4., Dienstag und Mittwoch wurde mit Schreiben von Dankesbriefen und Lesen vom Communionbuch ausgefüllt. Dienstagnachmittag brachte der Condolenzbesuch von Weidenhammers eine kleine Abwechslung. Irene Weidenhammer ist auch am Sonntag konfirmiert worden. Der Geist des armen Mädchens, das von jeher nicht ganz zurechnungsfähig war, ist durch den Tod ihrer Mutter noch mehr zerrüttet. Ohne ihre junge, lebhafte Lehrerin, Frl. Brandt, wäre daher die Unterhaltung höchst unerquicklich. So verlief auch dieser Besuch zur Zufriedenheit. Der Gründonnerstag, der 18. war ein für uns bedeutender Tag, da wir an demselben zum ersten Male mit unseren Eltern zum Tisch des Herrn gehen sollten, und zwar abends um 7 Uhr. Wir aßen deshalb um 4 Uhr zu Mittag. Nach Tisch ließ sich Direktor Straubel mit Frau melden und hinderte uns, die letzten Stunden mit den Eltern zu verbringen. Wir hatten an dem Tage einen Beweis des Wortes: der Mensch siehet, was vor Augen ist, der Herr aber siehet das Herz an. Von unserem Gärtner Thomas sagten alle von Herrn Pfarrer bis auf die Kinder: das ist ein recht unchristlicher Mensch, geht sonntags nicht in die Kirche, lehrt seinen Jungen nichts von Gott etc., etc. Gestern nun kommt der Gärtner zur Mutter um Blumen zu bringen. Sagt dabei mit bebenden Lippen: „Gnädige Frau, ich gehe zum Abendmahl, ich bitte gnädige Frau um Verzeihung.“ Ist das nicht beschämend? Auch wir hatten uns Verzeihung von Eltern und Lehrern erbeten und konnten mit versöhntem Herzen uns aufmachen ins Pfarrhaus. Dort hielt der Herr Pfarrer eine Ansprache an die Konfirmanden, Margarethe sagte das Sündenbekenntnis auf, und wir gingen im Zug in die Kirche, jeder aber mit seinen Eltern zusammen in die Stände. Die Beichtrede handelte von Offenbarung 3,20: Siehe ich stehe an der Thür und klopfe an etc. Dann gingen wir vor den Altar mit den lieben Eltern. Nach Gesang und Gebet, bat der Herr Pfarrer, daß die Eltern und Kinder sich zum Zeichen der Versöhnung die Hand reichen sollten. Das war schön! Nun nahmen wir das heilige Abendmahl, zuerst der Vater mit Margarethe, dann die Mutter mit mir. Ich kann nicht beschreiben, was ich empfand; nur das will ich sagen, daß mir die Gnade zuteil ward, den Segen des Sakraments zu fühlen und im Glauben und allem Guten bestärkt zu werden. Bei strömendem Regen kehrten wir nach Hause zurück, erwärmten uns durch einen heißen Grog und gingen zur Ruhe.

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Ich muß hier noch einen Vorfall erzählen, der sich schon am Mittwoch abspielte und uns besonders angeht: Ein Fund auf Vaters Altenburg. Ich werde die Einzelheiten aus der Pößnecker Zeitung abschreiben: Ein Fabrikarbeiter war beim Versteckspielen auf der östlichen Seite der Altenburg in die Molle’sche Höhle gekrochen und hatte dabei einen Stein fortgestoßen, wobei er ein Geldklimpern vernahm. Er suchte und fand eine Anzahl Münzen, nahm sie in die Fabrik, wo er sie verschleuderte und z. B. ein 20 Frankstück für eine Mark verkaufte. Man stutzte und meldete der Polizei den Fall. Diese nahm den Burschen ins Gebet, welcher nun das Nähere erzählte. Die gefundenen und verkauften Münzen mußte er zurückgeben und mit Polizisten die Höhle durchsuchen. Ein ganzes Taschentuch von Münzen wurde zur Stelle gebracht und auf dem Rathaus geprüft. Es ergab sich daß es Thaler, Gulden, Franks, Kreuzer etc. im Wert von 300 Mark waren. Neben den Münzen wurden Reste eines Strumpfes gefunden, auch ein verrostetes Schloß. Man glaubt, das Geld stamme von Holzen’s Adam, der zeitweise auf der Altenburg nächtigte, sehr sparsam und arbeitsam war und die Gewohnheit hatte, Geld zu verstecken. Er war zeitweilig geistig gestört, aber ganz harmlos. Daß er sein Geld versteckt, dann vermißt habe und den Ludwig Molle (vulgo Bildermolle) im Verdacht habe, es genommen zu haben, sei allbekannt. Er starb aber vor vielen Jahren schon. Dem Besitzer der Altenburg, Frhn. von Erffa ist bereits Anzeige gemacht worden. –

Sonntag, 21ten April. Am Karfreitag gingen wir früh alle zur Kirche und hörten eine gute Predigt. Ich schreibe die Einteilung, weil sie mir besonders gut gefiel: drei Kreuze auf Golgatha, 1. Das Kreuz zur Linken, eine Warnungstafel; 2. Das Kreuz zur Rechten, ein Wegweiser; 3. Das Kreuz in der Mitte, ein Lebensbaum. Am Nachmittag war herrliches Wetter; wir freuten uns des endlich anbrechenden Frühlings und pflückten einen großen Straß Osterblümchen. Am Abend hatten wir eine lange Unterhaltung über glänzendes Elend im Militär. Der Vater sagte, wir sollten uns die Lehre daraus nehmen, uns nie für bloße Uniformen zu begeistern. Das laufe ich keine Gefahr; was geht mich ein buntes Kleid an, ehe ich weiß, was darin steckt? Sonnabend, 20. war Scheuer – Räum – und Backfest. Die Osterkuchen und Ostereier gelangen herrlich. Doch hatten wir an dem Tage auch eine große Enttäuschung. Wir hatten so schöne Pläne gemacht: Margarethe und ich sollten auf acht Tage zu Onkel und Tante Schlotter⁸ nach Dittersdorf bei Schleiz. Nun schrieb leider die Tante, der Onkel sei zu leidend, um uns aufnehmen zu können. Am 1. Mai kommt die Miß, also läßt sich der Besuch nicht nachholen. Es nützt ja nichts, sich zu grämen; deswegen laß ich’s sein, aber schade, jammerschade ist es doch, der arme Onkel tut mir am leidsten dabei. –

8 Pfarrer Bernhardt Friedrich Schlotter (1826 – 1898) war mit Karoline, geb. Freiin von Künßberg (1825 – 1898), einer Cousine von Hildegards Vater verheiratet.

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Am Nachmittag ging der Vater mit Burkhart nach Oppurg zu Dédiés. Die Pflegekinder von Frl. Ida waren da, mit denen er sich köstlich amüsierte. Montag 21. Der gestrige Ostersonntag war so schön, so sonnig und warm, kurz, rechtes Osterwetter. Die Predigt war eine Bußpredigt, es war nach meinem Geschmack zu wenig Osterfreude darin. Ich liebe, wenn einem das Herz vor Freude und Glaubenszuversicht aufgeht, daß auch bei Betrübten der Stein vom Grabe springt. – Am Nachmittage kamen die Pfarrerskinder mit ihrer Mutter zum Eiersuchen. Ich bekam bei der Verteilung 4 Eier und ein Osterhäsle. Wir gingen im Garten spazieren. Jörge und Huber paßten unten auf, daß die Spaziergänger keinen Unfug trieben. Wir lieben nicht, daß er sich zum Polizeispitzel macht, er ist auch viel zu grob dazu. So brüllt er Blumensuchende Damen an: Naus! Naus! Und dergleichen mehr. Mit der Frau Pfarrer wurde dann unsere künftige Stundeneinteilung und Tätigkeit in der Wirtschaft besprochen. Dann gingen wir wieder spazieren bis zum Abendbrot. Montag, 22., war eigentlich ein recht langweiliger Tag. Wir bildeten uns steif und fest ein, daß Beusts⁹ kommen würden. Da dies nun nicht der Fall war, lauerten wir her und hin, lungerten herum, da wir nichts unternehmen wollten, warteten vergeblich, und waren alle mehr oder weniger schlechter Laune. Warum, weiß ich nicht: Eigentlich war es recht dumm. Das Wetter war Aprilwetter, sodaß man sich nicht weit wagen durfte. – Am Vormittag hatten wir in Poeßneck Blumenkarten gekauft zur Erinnerung für jeden unserer Mitkonfirmanden. Am Nachmittag trugen wir sie aus, verbaten uns aber jeglichen Danksagungsvers. Wenigstens hatte uns dieser langweilige Tag den Entschluß fassen lassen, uns nicht wieder nur aus Dummheit zu langweilen. So hatten wir doch etwas Gutes davon! Ich glaube, es gehört zu einem Tagebuch, daß man sich und seine Familie vorstellt. Gut, so will ich denn beginnen. Wir wohnen also im gesegneten Thüringerlande, da, wo die Kleinstaaterei am ärgsten ist. Wir haben 5 kleine Staaten so in der Nähe, daß die Leute, in deren Lande Bußtag ist, sich gleich in das nicht büßende Nachbarland begeben und sich um die Kirche drücken können. Doch sind wir Preußen, und was für Patrioten! Wage kein Mensch, den Kreis Ziegenrück über die Achsel anzusehen, denn ohne ihn wäre Preußen kein Preußen! Doch nun, ohne Spott, wir wohnen in einer Enklave der Provinz Sachsen, im Kreise Ziegenrück, in Wernburg, unserem lieben, trauten Schloß Wernburg, unserer Heimat. Unser lieber

9 Familie von Beust, Gutsnachbarn auf Schloss Nimritz. Das Ende der Ehe von Albert Joachim Freiherrn von Beust (1837– 1911) mit Armgard Freifrau von Beust, geb. Freiin von Beust (1850 – 1925) ist ein fortwährendes Thema in den Tagebüchern. Das Ehepaar wurde 1895 geschieden, und Armgard Freifrau von Beust heiratete 1896 Georg Freiherrn von Hardenberg (1858 – 1932).

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Vater¹⁰ ist Amtsvorsteher in diesem Bezirk, Rittergutsbesitzer, Landwirt, Rittmeister der Landwehrkavallerie, k. Kammerherr, etc. Unsere Mutter, Elisabeth von Erffa, geb. von Varnbüler,¹¹ und wir 6 Kinder, bilden die ganze Familie. Die 3 Buben haben den 3 Mädchen den Vortritt gelassen ins Leben, obwohl sie sonst nicht entsprechend höflich sind. Zuerst kommt Margarethe,¹² jetzt 16 Jahre alt, meine liebe Schwester, mit der ich erst gespielt, dann gelernt habe, mit der ich confirmiert worden bin. Sie ist ruhig, ernst, gemessen, langsam, zuweilen ein wenig empfindlich, aber sehr gut und lieb, sie wird mir Huschel wegen ihrer Ruhe immer zum Vorbild gestellt. Nach mir kommt Sabine,¹³ 13 Jahre alt, sehr lebhaft und weichherzig, teilnehmend und manchmal so, daß es naseweiß wird. Sie wird einmal gut singen lernen; ist aber, glaub ich, nicht sehr zum Lernen angelegt. Dann kommen die Buben, zuerst der 12jährige Jörge,¹⁴ der jetzt auf Schule kommt. Er ist nicht gerade fein, sehr begabt, sehr praktisch, sehr weichherzig, nur, leider, wohl ein wenig leichtsinnig. Er ist mein Lieblingsbruder, weil er so ein rechter Junge ist, der gerne Abenteuer hat, gerne prügelt, und zu jedem lustigen Unternehmen aufgelegt ist. Ganz anders ist Burkhart,¹⁵ 9 Jahre alt; er ist wohl sehr klug, aber sehr unpraktisch, sehr ungeschickt, sehr reizbar und heftig. Nun wird er noch von uns oft geneckt und gereizt, sodaß oft, zwischen den beiden Brüdern namentlich, Unfrieden entsteht. Burkhart ist jedoch in der Schule, wie bei andern sehr beliebt, wegen seiner Höflichkeit, Liebenswürdigkeit und seinem Anstand, den er wohl im Grunde am meisten besitzt. Er ist, sozusagen, Straßenengel=Hausbengel. Er ist begeisterter Naturforscher und wird es, bei seiner Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit, weit bringen. Nach ihm kommt unser Nesthäkchen, Rudi, von uns allen verzogen, aber nur wenig; er ist schlau, ein kleiner Tücker, sehr stark mit seiner linken Hand¹⁶ und gewitzt in allen Kampfesarten. Erzogen werden wir durch Fräulein Luise Mangelsdorf aus Prenzlau, die seit 5 Jahren bei uns ist und die wir alle sehr lieben. Nachdem ich nun diese Lücke ausgefüllt, fahre ich in der Beschreibung weiter fort:

10 Hermann Freiherr von Erffa-Wernburg (1845 – 1912). 11 Elisabeth Freifrau von Erffa, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen (1846 – 1910). 12 Margarethe Freifrau von Rotenhan, geb. Freiin von Erffa (1873 – 1944). 13 Sabina (Sabine) von Krosigk, geb. Freiin von Erffa (1876 – 1974). 14 Georg (Jörge) Freiherr von Erffa (1877– 1937). 15 Burkhart Freiherr von Erffa (1879 – 1904). 16 Hildegards jüngster Bruder Rudolf von Erffa (1881 – 1972), genannt Rudi, hatte von Geburt an einen verkürzten rechten Arm.

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Dienstag, 23. gingen wir ein wenig zu Frau Pfarrer, didschten herrlichen Mohnkuchen in Kaffee und schwätzten. Herr Pfarrer war sehr erkältet und zog sich bald zurück. Mittwoch, 24. arbeitete ich tüchtig mit der Mutter auf dem Boden. Ich fühle manchmal eine solche Arbeitskraft und- Lust in mir, daß ich immer weiterarbeiten möchte. Amma kam, und ließ sich viel von uns erzählen, da wir so vergeßlich waren, sie nicht dazu (zur Konfirmation) einzuladen. Am Nachmittag fuhr der Wagen vor, um uns nach Nimritz zu bringen. Margarethe erhielt solches Nasenbluten, daß wir lange warten mußten. Endlich fuhren wir ab, begegneten Beusts aber in Pößneck und kehrten mit ihnen um. Sie blieben nur eine Stunde, ließen uns aber Mia für die Nacht da. Sie erzählte uns viel vom Stift;¹⁷ doch fiel uns auf, daß das Bestreben der Mädchen dort, nur darauf gerichtet ist, das Gebot schlau zu umgehen, während doch das richtige wäre, es zu befolgen. Trotzdem unterhielten wir uns herrlich; Mia schlief in unserer Stube. Den nächsten Morgen, Donnerstag, 25., spielten wir Tischkroquet, sahen Bücher an, und machten uns dann auf, Sabine und ich, Mia auf die Bahn zu begleiten. Der Schmutz war bodenlos; dazu hatte Mia solches Eisenbahnfieber, daß wir rannten und eine halbe Stunde infolge dessen auf dem Bahnhof warten mußten. Herr von Beust wollte Mia nicht allein reisen lassen, wenn auch nur 10 Minuten, deshalb schickte er Herrn von Münchhausen und Conrad, um sie zu holen. Wir warteten, bis sie alle drei abdampften und gingen dann nach Hause. – Am Nachmittag war großes Strumpfprobieren, was nicht erquicklich war. Dann wird schon eifrig zu Jörges Abreise Vorbereitung getroffen; am Sonntag reist er mit den Eltern, zuerst nach Sömmerda zu Kronbiegels,¹⁸ dann nach Roßleben.¹⁹ Freitag, 26. war ein rechter Regentag, für das Gut Wernburg ein wichtiger Tag, weil das Gesetz, daß sich alle Wernburger trockenes Holz aus unserem Walde holen durften, endlich aufgelöst wurde. Wegen dieses Termins aßen wir um 4 Uhr zu Mittag. Sonst fiel nichts Besonderes vor, desto mehr aber Sonnabend, 27.; den ganzen Nachmittag packten wir Jörges Koffer. Nachmittags kam Joachim Beust mit Herrn von Poellnitz und Herrn von Trotha; die letzteren haben eben in Roßleben ihr Abiturientenexamen bestanden. Margarethe und ich, hernach auch die Mutter 17 Das „Freiadlige Magdalenenstift“ in Altenburg, in dem Generationen von Töchtern des Landadels erzogen wurden. 18 Besitzer der Munitions- und Metallwarenfabrik Dreyse und Collenbusch in Sömmerda. 19 Die 1554 gegründete Klosterschule Roßleben mit Erbadministratur der Familie von Witzleben. Dort wurden die Söhne des Landadels erzogen.

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unterhielten sie, bis Frau von Raven mit ihrer Mutter und ihren Töchtern kam. Elisabeth ist mit uns konfirmiert, sie ist zu lieb und nett, jetzt aber ganz besonders. Hertha hat leider ein sehr schlechtes Zeugnis; sie tut auch so männlich und burschikos, ganz das Gegenteil ihrer sanften, weiblichen Schwester. Die jungen Herren fuhren mit der Bahn nach Nimritz²⁰ zurück. Wir erhielten von unseren Eltern die Erlaubnis mit Ravens auch nach Nimritz zu fahren. Wir nahmen Elisabeth in unseren Wagen, um noch mehr mit ihr schwätzen zu können. In Nimritz begannen wir gleich mit lebenden Bildern. Sehr schön fielen sie nicht aus, da wir nur einige alte Ballkleider und Shawls hatten. Alle Bilder waren sich ähnlich. Es kamen zur Aufführung: die Heilige Elisabeth mit den Rosen; „Nein“ (ein abgewiesener Liebesantrag), Dornröschen; Vergangenheit und Zukunft, (Mia und ich), Der Trompeter von Säckingen. Es macht viel Mühe und Tratsch und sieht dann nicht entsprechend schön aus. Ich hätte lieber ein hübsches Spiel gemacht. Wir saßen beim Abendessen sehr gedrängt; ich saß so förmlich eingepreßt zwischen Joachim und Herrn von Trotha, daß ich, um mein Butterbrot zu streichen, die Hände weit ausstrecken mußte; Herr von Trotha begoß mich mit Sauce und Joachim legte beim Vorlegen seinen Arm in eine Schinkenplatte. Von seinem Vater aufgefordert seine Nachbarinnen zu unterhalten, drehte er sich verlegen zu Hertha und mir und sagte: „Erzählt mir was!“ Geistreiche Unterhaltung!! Nach Tisch wurde die Bildstellerei fortgesetzt. Dann setzten wir uns noch ein wenig zusammen. Plötzlich sagte der Herr von Beust: „Conrad, biete den jungen Damen Cigarren an.“ Conrad gehorchte und kam auch zu mir. Ich dachte zuerst, es wären Schokoladencigarren. Als ich mich aber überzeugte, daß es richtige kleine Cigarren, (Cigaretten keineswegs) waren, dankte ich natürlich, entrüstet über eine solche Aufforderung. Meine Entrüstung nahm zu, als ich sah, wie Hertha, Mia, Conrad und Frau von Raven ihre Cigarren anzündeten und nach Herzenslust, wie wenn sich das von selbst verstände, rauchten. Mia tat es noch anständig, Hertha legte sich hintenüber, paffte und blies Ringe in die Luft und meinte gleichgültig: „Nun mit der Zeit lernt man das Rauchen ja ganz gut.“ Frau von Raven hielt eine lange Rede, wie entsetzlich, unanständig und schädlich sie das Rauchen für Damen fände, wie ihr Mann es ihr nie erlaubte und wie er empört sein würde, Frau und Tochter rauchen zu sehen etc. Während sie das sagte, rauchte sie aber fortwährend auf häßliche Weise. Die alte Frau von Beust sprach sich sehr entschieden gegen das Rauchen aus und freute sich, daß wir es nicht taten. Elisabeth weigerte sich standhaft trotz allen Spottes. Erst um halb 11 Uhr kamen wir an und gingen gleich zu Bett. Das war ein schöner Tag. – – – Traurig und ernst war der folgende Tag, ein rechter Gegensatz zum Vergangenen; am Sonntag, 28., sollte unser lieber Ältester, unser Jörge, das Elternhaus verlassen. Es ist ein

20 Schloß der Familie von Beust.

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großer, ernster Schritt, so jung, so allein, in das Leben hinauszutreten, neue Menschen, neue Sitten kennenzulernen, aber auch neue Versuchungen zu bestehen. Wir empfinden mehr als er, was es heißt, nun allein, ohne leitende Eltern zu leben. Ich hoffe das Beste, daß er unser liebes altes Jockele mit dem warmen Herzen bleibe, nur an der Oberfläche, in Manieren etc., etwas geschliffen, gehobelt werde. Ich will recht treu für ihn beten; dann bin ich sicher, daß Gott ihn schützen und leiten wird, wie es am besten für ihn ist. Für wen man betet, der kann nicht verloren werden. – Es ging dem guten Jungen sehr nah, als er Abschied von uns nahm und, von den Eltern begleitet, der Fremde zueilte. Er kommt in Roßleben auf August Kronbiegels Zelle; deshalb wollen ihn die Eltern Kronbiegels noch selbst empfehlen. – Endlich hat der alte Regen aufgehört. Gestern Nachmittag hatten wir so schönes Wetter, daß wir fast den ganzen Tag draußen waren und von den herrlichen Veilchen pflückten, die überall verstreut sind, wie ein blauer Teppich sich ausbreiten. – Wir schlafen jetzt in der Eltern Betten, da unser Fußboden frisch gestrichen wird. Montag, 29.4. gingen wir zu Königs. Else König hatte ein großes Zahngeschwür, weshalb wir uns fast nur mit Clara unterhielten und italienische Ansichten mit ihr besahen. Die Glückliche hat mit ihrem Vater eine herrliche italienische (oberitalienische) Reise gemacht, Monaco, San Remo, Mailand, Neapel etc. Die beiden Mädchen haben unnötigerweise jetzt italienisch gelernt, sie können es in dem kleinen Pößneck wirklich gar nicht brauchen. Dienstag, 30. April, erhielten wir ein Telegramm von den Eltern: „Jörge gut nach Tertia gekommen!“ Das war eine frohe Botschaft! Wir sandten sie durch Burkhart an die Pößnecker Lehrer, die sich redlich gemüht haben um Jörges Vorbereitung. – Am Nachmittag war Margarethe bei der alten Gärtnerin, die ihr die Hochzeit der Prinzeß Moritz von Altenburg lang und breit beschrieb und u. a. sagte: „Der Küster zündete die Kadaver (Kandelaber) in der Kirche an!“ Es war zum Totlachen! – In der Walpurgisnacht hatten wir Gewitter, sodaß wir alle aufwachten und Sabine in unser Bett kroch. Während des Gewitters kann ich immer so gut beten: Ich fühle, Gott ist allgegenwärtig, er ist nah; dazu kommt die Angst vor dem Einschlagen und ich bitte Gott immer um Verzeihung für Alles, im Falle, daß mich der Blitz treffen könnte und ich bald dem Richterstuhle Gottes mich nähern könnte. Das Gewitter ging bald vorüber und wir schliefen bald ein. Mittwoch, 1. Mai, begannen unsere Stunden wieder. Wir pflückten Veilchen für die Eltern. Der Regen in der Nacht hatte sie leider erblassen gemacht. – Um halb 11 Uhr kamen die Eltern an. Wir blieben noch eine Stunde auf und ließen uns erzählen. Jörge ist also nach 4stündigem Examen wirklich aufgenommen worden, und zwar nach Tertia. Als er bei der feierlichen Aufnahme dem Rektor durch Handschlag bekräftigen mußte, daß er fleißig sein werde, sagte dieser: „Du hast deine Sache gut

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gemacht.“ Viele Bekannte trifft er dort und viele Söhne von Vaters Bekannten taten ihre Söhne dies Jahr nach Roßleben: Rauchhaupts, Hohenthals, Wiedelebens etc. Die Mutter richtete Jörge dann seine Zelle ein, die er mit 5 Anderen teilt: Kronbiegel, Richter, Bethmann, Bennecke und Schütz. Die Mutter freute sich immer, wenn sie die langen Gänge hin und her ging über die vielen frischen Jungens, die jedes Mal dienerten, wenn sie eine Dame oder einen Lehrer erblickten. Die ganze Einrichtung des Klosters ist ausgezeichnet, bis auf die Schlafzellen, kleine Mansardenstübchen, von deren Decke der Kalk in die Betten bröckelt. August Kronbiegel ist sehr tüchtig und fleißig, dabei so väterlich mit Jörge, daß wir ganz beruhigt sein können. Der Vater hat dem Jörge verboten, in die sog. „Blase“ einzutreten, ein heimlicher Bund zwischen einigen Buben vom Quartaner bis zum Primaner. Diese Verbindung hat aber den Nachteil, daß die Großen die Kleinen verführen und in Folge dessen Beust, Bethmann, Kanitz, Wartensleben etc. sitzengeblieben sind. – Dann nahmen die Eltern traurigen Abschied von Jörge und verbrachten die Nacht in Bucha bei Breitenbauchs. – Erst gegen 12 Uhr kamen wir zur Ruhe. – Wenn ich nicht wäre, was ich bin, wäre ich nichts Lieberes als ein Junge, ginge nach Roßleben, lernte viel und fleißig und beschützte und leitete meinen Herzensbruder dort. Doch ich bin auch so zufrieden, und werde nie, wie Susanne Landry mit 20 Jahren noch Thränen darüber vergießen, daß ich kein Junge bin. – Gott hat mich auf meinen Platz gestellt; deshalb will ich ihn, ohne Klage, zu seiner Ehre ausfüllen und nach seinem Wohlgefallen leben. Zu meinem Schrecken bemerke ich eben, daß ich über eine Woche vergehen ließ, ohne mein Tagebuch zu führen; es fiel aber auch nicht viel vor. Montag, 5., kam Frl. Latendorf, um sich der Mutter vorzustellen. Vom Mittwoch an wollte sie uns Musikstunden geben. Sie war eine Schülerin von Luis Köhler, der uns nur durch entsetzlich ärmliche vierhändige Klavierstücke bekannt war. Wir wurden in den Salon gerufen und Margarethe und ich verabredeten uns, nichts Absprechendes über diesen Herrn zu sagen. Aber – kaum sitzen wir feierlich herum, fährt Sabine heraus: „Ach ja, die gräßlichen Stücke von Köhler“ – sie hielt inne, durch einen kräftigen Puff von mir zum Schweigen ermahnt. Frl. Latendorf, eine Ostpreußin, ist groß, brünett und hat auf dem Leipziger Konservatorium ein ausgezeichnetes Zeugnis erhalten.– Für Mittwoch, 8., erwarteten wir unsere Engländerin, Margarethe und ich fuhren hinunter, um sie abzuholen. Unterwegs fragt sie mich: „Der Zug kommt doch von Saalfeld? „Natürlich“, sag‘ ich, „kommt er von Saalfeld.“ Wir waren also im Wartesaal, Margarethe in einer komischen Aufregung und Eisenbahnfieber. Endlich kommt der Zug von Gera, wir sehen die Ein – und Aussteigenden vorbeigehen, der

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Zug dampft ab; wir warten und warten und frieren. Endlich kommt Geinitz ²¹an: „Was kommen Sie denn nicht; das Fräulein sitzt längst im Wagen.“ Das war ein Spaß. Sie war von Gera gekommen und hatte uns gründlich verfehlt. Nun stiegen wir ein und brachten sie glücklich an. Miss Lydia Lewis, das jüngste von zehn Kindern, ist groß, rot, sommersprossig, ganz hübsch und sehr lustig. Die folgenden Tage waren sehr heiter, da wir uns durch Zeichen verständlich machen mußten; sie kann weder gut Deutsch noch Französisch und wir nicht Englisch. Wir lernen es jetzt mit Dampf aus den Anschauungsbüchern für Babys. Sonnabend, 11., benutzten wir den Regen, um uns in Ranis²² als konfirmiert vorzustellen. Die Mutter sagte mir vorher, ich dürfe meine Handschuhe nicht herunterziehen, ehe sie es tat. Das war mir recht unbequem. Kaum hatte ich daher die Mutter an ihren Handschuhen ziehen sehen, als meine, hui! herunter waren. – Wir unterhielten den kranken Ludwig. Der Junge war so schön mit seinen großen Augen, seinen langen Haaren und seiner Blässe, wie ich noch nie ein Kind gesehen. Das arme Kind hat schon so lange chronische Nierenentzündung und kann nicht hinaus in die schöne Natur, ja, darf sich nicht einmal bewegen im Bette. Er spielt schön mit der Ziehharmonika und improvisiert rührend melancholische Lieder. Wir tranken Kaffee in der Halle und fuhren nach 5 Uhr zurück, wo uns der von Berlin zurückgekommene Vater mit spitzgeschorenem Bart überraschte. Es freut uns, daß er nun hierbleiben kann und nicht in das heiße Berlin zurück muß. Sonntag, 12., kamen Jörges frühere Lehrer, Herr Kessow und Frau, die Herren Löther und Kircheisen zu Tisch. Frau Kessow ist eine reizende, kleine, lebhafte Frau; sie erzählte, daß Conrad Beust, der 5 mal die Woche den Mittagstisch hat, oft sagt: „Ne, Frau Kessow, mit Spargeln kommen Sie mir nur nicht; das und das kann ich nicht essen und andere Schleckigkeiten mehr. Oder er sagt: Sie denken gar nicht, was das für ein molliges Gefühl ist, wenn ich nach Hause komme und feure meinen Ranzen in die Ecke; dann hat mir niemand was zu sagen.“ Es ist doch ein unverschämter Kerl; schade, daß er mit seinen guten Fähigkeiten nicht besser erzogen wird. Ich saß neben Herrn Kircheisen; er war aber zu schüchtern zu irgendeiner Unterhaltung. Mary sprach Französisch mit Miß Lewis, worauf sie Herr Löther komplimentierte über ihr geläufiges Englisch. Nachmittags kamen Dédiés. Frau Dédié ist in großer Sorge um ihren schwindsüchtigen Sohn. Der arme Mensch reist von Bad zu Bad, von Kurort zu Kurort, ohne

21 Kutscher der Familie von Erffa. 22 Burg der Freiherrn von Breitenbauch.

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Heilung zu erlangen. Gesundheit ist doch ein köstliches Gut und doch – wie oft vergesse ich, Gott dafür zu danken! Dienstag, 14., war um 5 Uhr ein solches Regen – und Hagelwetter, daß das Wasser bis in die Küche schoß, in der Lehrstube aus der Wand heraus floß und die Gerste, Kohlrabi und Zwiebel ganz verregnet und fortgeschwemmt wurde. Die Privatschule hatte den großen Schulspaziergang gemacht und die armen Kinder kamen bis auf die Haut naß, sehr betrübt zurück. Mittwoch, 15. predigte Gott selber mit Ernst den Bußtag mit einem so starken Gewitter, wie ich noch nie eins gesehen. Von vier Seiten zu gleicher Zeit grollte oder knatterte der Donner, die grellen Blitze waren bald strahlen-, bald schlangen- bald pyramidenförmig. Wir betrachteten von der Veranda aus dies herrliche wenn auch erschütternde Schauspiel. Gefürchtet habe ich mich gar nicht; ich habe mich nie gefürchtet vor einem Gewitter. Das Ärgste wäre doch, daß ich erschlagen würde, und vor dem Tod fürchte ich mich ja nicht. Nicht, daß ich weltschmerzliche Ideen hätte. Oh nein, ich lebe sehr gern, aber wenn es im Himmel noch schöner als auf Erden ist, warum sollte ich nicht gern sterben? Donnerstag, Freitag und Sonnabend, 18. waren auch Gewitter, der Blitz schlug einmal in den Veilchenhügel, gerade gegenüber unseren Fenstern. Der Donnerschlag war wirklich erschütternd. – Wir fangen schon an, Englisch mit der Miß, die übrigens sehr nett ist, zu sprechen, oder vielmehr zu radebrechen. Dienstag, den 21., gingen wir zur Stadt mit Miß Lewis und kauften zu Rudis Geburtstag ein. Ich nahm bei Knopfe das erste, beste Spiel und tat dabei einen glücklichen Griff. Das Spiel, von uns die Ferkeljagd getauft, macht uns allen, selbst den Eltern, viel Spaß. – Kaum hatten wir in Pößneck unsere Kommissionen beendet, als ein Gewitter begann. Wir suchten bei Pfütschens Schutz und unterhielten uns infolge dessen eine halbe Stunde lang mit Frau Pfütsch, einer guten, aber ungebildeten Frau. Als der Regen nachließ, machten wir uns auf den Weg und kamen gut nach Haus. Mittwoch, 22. kam Baron Taube zu Tisch. Der arme Mensch kann bei seinen schlechten pekuniären Verhältnissen nicht länger in Weimar bleiben und geht nach Ulm in ein anderes Regiment. Die Tante Taube kann ihn nicht unterstützen und er selbst hat wenig Vermögen. Sonnabend 23. kamen Beusts mit Conrad und Gerti. Außer einigen kleinen Unarten waren sie ganz lieb, auch hielt sie wohl Frl. Mangelsdorfs Autorität in Schranken.

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Mir ist wirklich der einfache, folgsame Gärtnersjunge Hugo lieber als der hochnasige, ungezogene Conrad von Beust, wenn er sich auch noch so viel auf seinen Adel einbildet. Adel muß edel sein, sonst ist es nur ein getünchtes Grab und hat keinen Wert. Es ist heute ein herrlicher, sonniger Sonntag. Es ist prachtvoll im Garten, die Geranien, der blaue und weiße Flieder, Goldregen, Kastanie, Rotdorn, alles blüht. Der Flieder duftet herrlich, die Pfingstrosen bereiten das Pfingstfest vor, oh es ist so herrlich hier! O ich möchte fliegen, singen, tanzen vor Freude über die schöne Natur. Geh aus mein Herz und suche Freud in dieser schönen Sommerszeit an Deines Gottes Gaben! Ja Gott ist zu gut, zu gnädig, das erkennt man am besten im Frühling in der Natur. Der 24. und 104. Psalm klingt mir im Herzen wieder bei dieser Herrlichkeit. – O Gott, erhalte mir ein so frohes Gemüt und solche Freude an deiner Schöpfung! Sonntag 26. hatte Burkhart 5 Schulkameraden eingeladen. Wir ließen die Buben allein und machten mit dem Vater einen prachtvollen Spaziergang über Limberg, Ratsholz und Vorwerk. Sabine und ich waren so leichtsinnig, für 3 Mark in der Roten-Kreuz-Lotterie ein Loos zu nehmen. Ich glaube nicht, daß ich etwas gewinne; es ist dann wenigstens nicht in der Tasche eines alten Bankiers, sondern dient einem guten Zweck. Mittwoch, 29. machten wir einen Spaziergang nach Bodelwitz und sahen uns die Kirche an. In der Seitenkammer neben derselben befindet sich ein uraltes Madonnenbild, in Holz geschnitzt, wohl aus der gotischen Zeit stammend. Der Kantor Unbehaun spielte uns ein Präludium auf der Orgel vor. Es war ein seltsamer Kontrast, das weiche, ausdrucksvolle Spiel, und die arbeitsharten, dicken, braunen Hände. Wir gingen nun nach Haus und ließen uns nach dem Marsch die frische saure Milch trefflich munden. Donnerstag, 30., am Himmelfahrtstage, wurde ich schon um 5 Uhr grausam aus meiner Ruhe gestört, durch Miß Lewis und Margarethe, die nach Bodelwitz zu 7 Uhr in die Kirche wollten. Ich ging nicht mit, da ich hier eben dieselbe Predigt höre, und – offen gestanden – zu faul dazu war. Doch, da ich nicht mehr schlafen konnte, setzte ich mich in den Garten und schrieb nach Roßleben an meinen lieben Jörge. Wir gingen in die Kirche, arbeiteten für Mutters Geburtstag und gingen auf den Hesselberg. Mit den Eltern ging ich in die Villa Conta, traf aber nicht Else Conta. So saß ich dann dabei und hörte zu, was die Conta’schen Damen sprachen, oder was sie nicht sprachen, denn sie sind zu verlegen und lassen meistens nur die Herren reden.

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Freitag gingen wir zu Königs, um die Mutter abzuholen. Sie sind unsere Leidensgefährten, da sie bei Fräulein Latendorf wie wir nur kleine einhändige Etüden von Köhler spielen dürfen. Auch macht es ihnen viel mehr Mühe als uns. Freilich hatten wir schon ähnlichen Anschlag in Berlin gelernt. Sonnabend, 1. Juni gossen wir eifrig. Einen so frühen Sommer hatten wir noch nie. Im Mai und Anfang Juni, wo wir sonst teilweise noch heizten, fliegen jetzt schon Glühwürmchen, ist der Flieder, die Pfingstrosen schon verblüht, die Rosen beginnen zu blühen. Es ist eine solche Hitze, daß es in unseren kühlsten Stuben 18 – 20 Grad hatte; draußen im Schatten hatte es 25 Grad.Von Montag an nehme ich um 5 Uhr ein kaltes Bad, sonst vergehe ich. Es werden zu Mutters Geburtstag Gartenmöbel bestellt; deshalb sahen wir sie abends bei Herrn Albert an. Er erzählte von seinen 5 Brüdern. Das Schicksal dieser 5 Alberts ist zu verschieden: 2 sind Wirte und kommen kärglich durch, der eine ist ein reicher Bauer, der eine Pfarrer und der fünfte ein wohlhabender Hamburger Kaufmann. Es muß schwer sein, da ein brüderliches, freundliches Verhältnis zu unterhalten. – Jörge war Himmelfahrt mit Melchior in Bucha²³ und gefiel Breitenbauchs sehr durch seine Munterkeit. Sonntag, 2. Juni wurde Rudis Geburtstag vorausgefeiert. Er erhielt nette Gartengeräte, von mir das „Schweinespiel“, Schmetterlingsnetz, Malkasten und Seife von den anderen, nebst vielen Kleinigkeiten. – Zu Tisch kam Amtsgerichtsrat Müller und Frau. Sie ist eine entfernte Cousine des Vaters, da sie in erster Ehe mit einem Bibra verheiratet war. Er ist sehr häßlich, aber sehr gelehrt und klug und interessierte sich sehr für Mutters Münzensammlung. Sie blieben zum Abendessen, obwohl der Vater schon um 5 Uhr nach Thale im Harz zum Rittertag der Johanniter abreiste. Nachmittags kamen Dédiés mit Frl. Hannchens Freundin, Fräulein von Kiesewetter. Diese war recht liebenswürdig, quälte sich ab, mit Miß Lewis Englisch zu sprechen, während Frl. Hannchen, die ausgezeichnet Englisch kann, nur aus Eigensinn nicht sprach; sie ist ein rechter Racker! Während der folgenden Woche passierte nichts hervorragendes, als daß die Eltern zu Schmidts nach Neustadt fuhren und wir sie bei herrlichem Mondenschein an der Altenburg abholten. Frau Roth, die die Eltern über Pfingsten eingeladen hatten, lehnte ab, versprach aber, Emmy über eine Woche zu uns zu schicken. So holten wir sie um 9 Uhr mit Miß Lewis ab. Der Bahnhof wimmelte an dem Sonnabend. Soldaten, Schüler und Studenten, besonders Ferienausflügler. Nach einigem Suchen fanden wir Emmy glücklich. Bis Halle war sie gut gereist. Danach aber

23 Ebenfalls im Besitz der Familie von Breitenbauch, die 1906 ihren Namen in Breitenbuch umänderte.

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mußte sie in ein Nichtrauchercoupé mit sehr flegeligen Leuten, die sie durchaus zu sprechen zwingen wollten. Am Sonntag, den 9. hörten wir eine gute Pfingstrede, schwätzten mit Müsi, sodaß sich Miss Lewis wunderte, daß wir noch Sprachstoff hätten. Abends machten wir im Mondenschein einen Spaziergang auf den Limberg über das Rathsholz zurück. Müsi ist wirklich reizend liebenswürdig und zeichnet so gut, daß ich überzeugt bin, daß sie eine große Künstlerin werden wird. Pfingstmontag, 10. ging ich mit der Mutter in die Kirche um die Ehre der Familie zu retten und hörte eine herrliche Missionspredigt. Am Nachmittag fuhren wir allesamt nach Nimritz. Schon vorher hatten wir Müsi gesagt: „Du wirst dich wundern;“ wirklich wunderte sie sich über die Unordnung und Respektlosigkeit der Kinder gegen die Eltern.²⁴ Es war ziemlich langweilig. Nur das Tanzen war nett. Ein Soldat, der auf Urlaub war, spielte auf zum Tanze auf einer Ziehharmonika, obwohl der Vater Zweifel hegte, ob ein Soldat in Urlaub am zweiten Feiertage noch nüchtern sei. Es war aber ein ganz ordentlicher Mensch. Das Abendessen oder vielmehr Büffet war ziemlich wild, da Gerti und Conrad recht unartig waren. Annemarie von Nathusius aus Rudolstadt war mit in Nimritz in den Ferien und war entschieden die netteste von den drei Mädchen. Elisabeth Raven hatte im Stift Lungenentzündung und mußte gleich nach Luckow zurück. Schade! Sie ist zu nett. Wir machten Schreibspiele, die aber nicht besonders wurden, da Miß Lewis sie nicht verstand und die Kleinen dabei tobten. Beim Zurückfahren kamen wir gerade an die Eisenbahnbrücke, als der Schnellzug um die Ecke sauste. Erst als die Laternen glänzten, hörten wir ihn, so leise geht er. Die Mutter ließ uns alle aussteigen, ich flog eher, als daß ich hüpfte, vom Bock herunter. Unsere Schimmel hielten sich brav, sodaß wir glücklich anlangten. Der Vater teilte uns mit, daß vier Zigeunerwagen in den Zeilbäumen lagerten. Mit einigen Kirschen, Strümpfen und Spielsachen bewaffnet, machte sich die ganze Familie, vom Vater beschützt, auf den Weg. Es ist nicht zu beschreiben, wie frech Kinder, Frauen, Männer uns anbettelten. Dabei sahen sie uns so flehend mit ihren schönen schwarzen Augen an, daß wir gleich alles verschenkten. Es liegt etwas romantisches in der Zigeunernatur, die Stürme des Lebens, Ruhelosigkeit einer festen Heimat vorzuziehen, der Witterung zu trotzen, nur, um wie die Vögel unter dem Himmel frei und unabhängig zu sein. Wenn ich auch nie ein solches ruheloses Leben wählen würde, so heimelt mich doch die Freiheit, ja die Wildheit dieser Leute fast an.

24 Bei Familie von Beust.

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Sonntag, 30.6.89. Mit Schrecken sehe ich, daß ich fast 3 Wochen verstreichen ließ, ohne mein Tagebuch zu schreiben. Erst war es der lieben Emmy Aufenthalt, der mich daran hinderte und nach deren Abreise am 22. waren wir so mit Vorbereitungen zu Mutters Geburtstag beschäftigt, daß ich nicht zum Schreiben kam. Ich sage daher nur, daß die Eltern mit Margarethe Mittwoch, 26. verreisten, um Gabelentzens in Münchenbernsdorf und Wurmbs in Postendorf zu besuchen. Ich hatte nicht die Absicht, mich hier inzwischen zu langweilen und arrangierte deshalb ein Abendessen auf der Altenburg.Von 5 Uhr an vergnügten wir uns oben mit Lesen und Klettern. Nachdem wir den Inhalt unseres Freßkorbes um 7 h geleert, streckten wir uns ins Gras zu Gesellschaftsspielen. Schon die ganze Zeit über gingen einige Vorschußvereinleute (der Verein hatte gerade in Pößneck Sitzung) an uns vorüber. Jetzt aber kam ein Trupp von 20 – 30 Herren an uns vorbei und stellte sich vor uns auf. Die Gebildeten grüßten, die Ungebildeten schrien und boxten sich, die Mittelsorte glotzte und machte mehr oder minder geistreiche Bemerkungen über die Gegend. Alle waren fremd. Ich wurde um ein Dorf gefragt und, da ich es wußte, von allen Seiten mit Fragen bestürmt. Endlich stellte ich mich in die Mitte und erklärte langsam, wie ein Kastellan, die ganze Gegend. Ein Herr, der uns für Pößnecker hielt, meinte neckend: „Ich höre, Pößneck soll bald preußisch werden.“ „So, das glaub‘ ich nicht, sag‘ ich ruhig. Darauf sagt er wieder: „Und dann – werden Sie auch mit Preußen werden müssen.“ Jetzt spielte ich eine Pointe aus. Mit Triumph sagte ich: „Oho! Wir sind schon längst Preußen!“ Alle staunten und lachten. Frl. Mangelsdorf stellte uns vor, worauf sich ergab, daß ein Bauer aus Lind, der eine Herr aus Meiningen war und die Tanten Künßberg sehr gut kannte; der eine, ein dicker Bierbayer tat, als ob er mit dem Vater in Berlin ein Paar Scheffel Salz gegessen hätte. Erst spät gelangten wir glücklich nach Wernburg, trotz eines Trunkenboldes, der uns quer über den Weg fiel. Freitag, 28. holten Bibs²⁵ und ich die Eltern in Orlamünde ab. Das zweistündige Warten dort war etwas peinlich, da wir nicht mit Geinitz in das alte Wirtshaus wollten und daher bei einem starken Gewitter„an der Saale hellem Strande“ saßen. Dann gingen wir auf den Bahnhof, wo die Eltern mit der von ihrem Ausflug beglückten Margarethe antrafen. Sonntag, 30.6.1889 war der lieben Mutter Geburtstag. Man soll ja immer dankbar zu Gott aufsehen, aber am Geburtstage kann man es doch immer am wärmsten mit freudeerfülltem Herzen.Von Jahr zu Jahr sehe ich es besser ein, was wir an unserer lieben Mutter haben und danke Gott vielmals dafür. – Wir hatten aus Zerstreutheit

25 Spitzname der Schwester Sabine.

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6 Sträuße bestellt. Es war doch wehmütig als der Vater sich mit dem 6. Strauß an Jörges Platz stellte, um ihn zu vertreten. – Die Mutter erhielt: vom Vater 4 Bücher, Gartenstühle, Malsachen, eine Brosche; von Miß Lewis und Fräulein Mangelsdorf Bücher; Margarethe hatte ein Gartenkissen, Sabine und ich sechs Obstservietten, Burkhart einen Fingerhuthalter und Rudi eine kleine Etagere gearbeitet. Am Nachmittage kamen Beusts mit den Kindern. Ich spielte wilde Spiele mit Letzteren wie ein Kindskopf, und hielt durch meine Autorität und durch meine starken Arme die Buben im Zaum. Montag, 1. Juli, gratulierten wir der Frau Pfarrer und leiteten den Nähschulkaffee. – Es waren wieder Zigeuner da; ein kleiner Bube, den ich nach seinem Namen frug, sah mich an und sagte: „Waß abenn Sie denn da fürr Gollt an ihrnn Zähne, Fräulain?“ Die freche, habgierige Gesellschaft, die selbst meine Goldspange in den Zähnen gerne stähle, ist doch zu komisch. Weiter war bis heute (Donnerstag, 4.7.) nichts los. Morgen, Freitag, kommt Jörge; ich freue mich unbeschreiblich, ungeheuer, unmenschlich auf ihn – eben so, wie sich eine Schwester auf ihren Bruder freut, nur 10 Mal mehr, weil ich ihn so sehr liebe und es das erste Mal ist, daß er auf Ferien kommt. Freitag, 5.7., waren wir eben beim Grafen in der Pause, als zwei Telegramme kamen. Das eine von Onkel Axel,²⁶ war sehr überraschend; es meldete ihn nämlich für 11 Uhr (also in 10 Minuten) an. Das andere von Tante Hildegard zeigte ihre Ankunft um 9 Uhr an. Die Geschwister stürzten auf den Bahnhof, ich half die Gastzimmer richten. Der Onkel kam glücklich an mit einem herzigen Dachshundle, „Fleckle“ oder „Tatata“ genannt. Er hatte viel mit der Mutter zu sprechen, daher wir gut unsere Generalprobe machen konnten. Es glückte ganz gut, nur Margarethens Kostüm befriedigte uns nicht; es wird noch verändert. – Um halb 10 h kam Tante Hildegard,²⁷ Lothar und Hanna²⁸ an um halb 11 h Jörge. Der liebe Bub sieht wohl und frisch aus und war sehr glücklich, wieder im Elternhaus zu sein. Samstag zogen wir in allen Gärten, Ställen etc. herum, Jörge schoß 6 Spatzen, alle anderen fehlten. Nachmittags spielten wir Croquet und Kegel und machten einen herrlichen Spaziergang nach dem Limberg. Wir lagerten uns, besahen die schöne Aussicht und schwätzten. Nur ungern gingen wir wieder nach Hause. Der Abend 26 Axel Freiherr Varnbüler von und zu Hemmingen, Diplomat, (1851 – 1937), Bruder von Hildegards Mutter. 27 Hildegard Freifrau von Spitzemberg, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen, (1843 – 1914), Schwester von Hildegards Mutter. 28 Hildegard von Spitzembergs Kinder.

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war herrlich und die Rückkehr sehr lustig. Onkel Axel mit kurzen blauen Samthosen, weißem Filzhut und spitzen Lackschuhen wurde als Wunder angestaunt, obwohl wir den Leuten einzureden suchten, daß er schlesische Landratsuniform trüge. Mittwoch, 10.7. Vorigen Sonntag gingen wir zur Kirche, spielten Croquet in heißer Mittagsglut, bis daß wir uns wie gebratene Bratwürste fühlten. Lothar reiste um 5 Uhr ab, wobei wir ihn bis zur Bahn begleiteten. Es wäre höflicher gewesen, wenn wir unsere nachträgliche Geburtstagsaufführung noch vor ihm gemacht hätten. Wir waren aber am Sonnabend alle zu dumm gestimmt, um sie zu machen und am Sonntag macht es zu viel Tratsch. So führten wir sie am Montag auf; den Inhalt des kleinen Stückes will ich nur kurz erzählen: Am 1. Oktober berät sich die Gouvernante (Miß Lewis) mit Eva, einer Cousine des Hauses, da ihre zukünftigen Schülerinnen Charlotte und Fanny (Sabine stellte Fanny, ich Charlotte vor) nicht zu Hause sind. Um den Charakter der Kinder kennen zu lernen, verkleidet sich die Erzieherin in eine alte, häßliche Krämersfrau, Eva in eine steife Gouvernante. Die letztere drillt die Kinder streng und ungerecht ein, während erstere dieselben durch Putz und Näschereien zu verführen sucht. Lotte besteht die Probe, während Fanny Leichtsinn und Putzsucht zeigt. Zuletzt ist ein großer Versöhnungsakt. Burkhart stellte einen dummen Diener, Rudi einen frechen, kleinen Bruder dar. Margarethe spielte die „Eva“. Das Anziehen ging gut von Statten. Wir waren alle in Rokoko, Sabine in blau, ich in rosa. Die Buben mit Zöpfen und Atlaswesten sahen reizend aus. Zuerst hatten wir alle Lampenfieber in Gestalt von Angstbauchweh; dann klappte alles gut. Rudi namentlich spielte so komisch, so herrlich, daß das Lachen kein Ende nahm. – Nach der Aufführung gingen wir auf den Haselberg, wir lagerten uns mit Onkel Axel auf einen Felsen und schwelgten über die schöne Aussicht. Dienstag reiste Onkel Axel ab. „Ich sehe ihm mit Trauer nach, weil es zu traurig ist, daß er nicht heiratet“, sagte die Mutter mir, als ich sie fragte, ob sie sich nicht über Onkels Besuch freue. Ach es ist zu schade; gerade ihm mit seiner melancholischen Gemütsart täte eine Frau so not. Auch Frl. Mangelsdorf reiste am Dienstag in den Harz, um nach einigen Ausflügen in die Ferien nach Prenzlau zu gehen. So haben wir nun auch Ferien. Die ersten Ferientage sind nie sehr erquicklich. Was man alles tun wollte in den Ferien, was man ausführen und unternehmen wollte, wird bei Seite geworfen, man lebt wie ein Schmetterling in den Tag hinein, hier und da ein Vergnügen kostend. Solche süße Freude ist ja recht schön, aber man hat nicht das befriedigende Gefühl, etwas geleistet zu haben.

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Donnerstag kamen Meisenburgs ohne Heimchen und Hollebens mit Tella zum Diner. Es war ein totlangweiliger Nachmittag; 26 Grad im Schatten, unbequeme, heiße Kleider, von Fliegen erfüllte Stuben, die kindische, uns allen unsympathische Tella, – alles dies gestaltete den Nachmittag zu einem recht langweiligen und dummen. Später gingen wir ins Pfarrhaus um die Nichte von Pfarrers, Gretchen Höpfner, ein nettes, lebhaftes Mädchen zu besuchen. Freitag 12. gingen wir aufs Vogelschießen. In der einen Bude spielten zwei Hunde „Diana“ oder „Herr Professor Weiß“, der sehr gut rechnete und ein kleines Tanzhündchen. Als die Frau sagte: „Es giebt nur meinen Vater und mir in dieser schönen Kunst!“ platzte ich mit Lachen heraus. In der anderen Bude sahen wir eine Südseeinsulanerin und einen Neger, der glücklich war, englisch mit Miß Lewis sprechen zu können. Auf dem Rückweg kamen wir in einen argen Platzregen, der uns bis auf die Haut durchnäßte. Sonnabend kam Hella Zeppelin mit ihrer Gouvernante, Frl. Hochstätter an; da sie in einen falschen Zug gestiegen waren, um 5 h statt um 1 h. Dienstag ging ich mit Jörge nach Nimritz im Freyawagen.²⁹ Wir hatten großes Glück, da wir keinen Regentropfen bekamen, während es sonst die ganze Zeit regnete. Wir trafen Beusts zu Hause. Zuerst schwätzte ich mit Mia, was sehr nett und gemütlich war. Nachher war es ziemlich langweilig. Ich stritt mich mit Herrn von Beust, weil er Jörge fortwährend Cigarren anbot, indem er sagte: „Was einem daheim von den Eltern verboten ist, darf man bei anderen erst recht tun.“ Diese moralischen Grundsätze sind wirklich traurig. Mittwoch reiste Tante Higa³⁰ mit Hanna und Sabine nach Hemmingen ab. Da Hanna immer dort so einsam ist, so wurde Bibs uns auf 5 Wochen entführt. Sie freute sich sehr, doch war der Abschied traurig. Die Mutter und Margarethe weinten und ich dichtete eine Elegie über den Tod eines Mädchens. Donnerstag erwarteten wir Zeppelins, die aber nicht kamen, da sie ungeschickter Weise nicht abtelegraphiert hatten. Jörge stand schon mit einem Sacke bereit, um die Forellen nötigenfalls zu fangen. Nachmittags kam Joachim Beust mit einem Kadetten von Restorff. Sie waren ganz bescheiden und nett. Wir mußten sehr lachen, daß Restorff die Margarethe fragte: „Nichtwahr, Sie sehen doch auch auf das

29 Der Wagen hieß offensichtlich nach dem Pferd, das ihn zog. 30 Hildegard Freifrau von Spitzemberg.

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Lernen wie auf einen Blödsinn runter?“ Margarethe antwortete: „Durchaus nicht, ich lerne sehr gern“, worauf er sehr erstaunt schien. Freitag kamen wirklich Zeppelins. Sie waren entzückt über Wernburg, besonders über die Altenburg. Der Graf hatte drei Luftballons mitgebracht, um sie oben loszulassen. Da aber zwei löchricht waren, so verbrannten sie leider. Den dritten verklebten wir zu Hause und ließen ihn auf dem Stern los. Langsam und majestätisch erhob er sich, verschwand in den Wolken und fiel bei den Eichen, wo ihn die Buben holten. Vielleicht lassen wir ihn noch einmal steigen. Zeppelins waren sehr liebenswürdig, aber doch freuen wir uns, nun endlich wieder allein zu sein. Die Mutter schenkte mir ein reizendes Buch „Der Trotzkopf“ von Emmy von Rhoden, weil ich nichts zu lesen hätte und so traurig wäre. Es ist wahr, ich war die letzte Zeit sehr melancholisch; ich fühlte mich einsam, weil die Mutter mit der Tante, Sabina mit Hanna, Mag mit Miß Lewis war. Jetzt, da ich nie anhaltend traurig sein kann, geht es wieder ganz gut. Sonntag, 21. kam Frau von Beust mit Mia, Joachim und dessen Freund. Mia war sehr nett. Sie las mir vier Briefe vor, von zwei Freundinnen, von Frieda Breitenbauch und von Hertha. Sie waren alle sehr amüsant und inhaltsreich, Herthas war sehr albern wie sie selbst. Er begann gleich: Ich habe mich nicht verlobt etc. etc. Ich finde das dumm und unpassend mit 14 Jahren! – Nachher gingen wir spazieren, wobei Herr von Restorff sehr lustige Anekdoten aus seinem Pagenleben erzählte. Eine Anekdote von den kleinen Prinzen gefällt mir gut; ich will sie herschreiben. Eines Tages verprügelt der kleine Kronprinz den Eitel Fritz. Dieser schreit und heult, bis der Kaiser dazu kommt und den Kronprinzen zankt. Dieser aber bleibt dabei: „Ich bin Kronprinz und kann den hauen.“ „Gut“, sagt da der Kaiser, „du bist Kronprinz, aber Ich bin Kaiser und kann dich auch hauen“. Darauf prügelte er ihn ganz ruhig durch; er ist überhaupt glücklicherweise streng mit seinen Söhnen. – – – Beusts fuhren erst um ½ 10 Uhr fort mit Fohlen, die so wild waren, daß Joachim sie den ganzen Weg über führen mußte. Montag ging ich mit dem Vater und Miß Lewis auf den Mittelbühl, in die Krähenhütte und über die Dennigswiese zurück. Wir freuten uns über die schöne Weizenund Hafer Ernte. An einer kleineren Ähre zählte ich 32 Körner. – Am Donnerstag brechen wir vermutlich zu unserer Tour ins preußische Oberland auf und gedenken am Sonnabend zurück zu sein. Freya und Huber werden mitgenommen; in Dittersdorf bei Schlotters und in Löma bei Beulwitzens wird kurze Rast gemacht. Hoffentlich bleibt das Wetter schön.

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Mittwoch, 31.7. Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen, drum nahm ich meinen Stock und Hut und tät das Reisen wählen. So kann auch ich jetzt sagen, denn wir sind von unserer 4-tägigen Tour nun glücklich zurückgekehrt. Am Mittwoch war es noch sehr unentschieden, ob wir gehen würden, da es öftere Regenschauer gab. Wir hatten aber den Koffer gepackt und harrten sehnsüchtig auf einen Sonnenstrahl. Der Morgen sollte entscheiden. Das war ein Hangen und Bangen in schwebender Pein! Am Donnerstagmorgen um 5 Uhr prüfte der Vater das Wetter; es sah nicht vielversprechend aus, doch stieg das Barometer. Das gab den Ausschlag. Punkt 7 Uhr zogen wir ab: Voran die Freya mit dem kleinen Gepäckwagen, der mit 9 Regenschirmen und dem hoch flatternden roten Schmetterlingsnetz besteckt war, dann Huber und die ganze Familie in sehr leichten und bequemen Reisekostümen. Siehe da! Das Wetter heiterte sich auf und hinauf ging es an dem frischen, herrlichen Morgen, durch Bahren,³¹ hinein in das waldige, blau aus der Ferne winkende Oberland. Es war uns allen gar leicht und fröhlich zu Mut. Unvermerkt kamen wir nach Knau, wo wir in einer Lichtung frühstückten. Dann gingen wir zum Pfarrer, den die Mutter ein wenig kannte. Es war eine Pfarre, wie sie im Buch steht: großes, helles, reinliches Haus, blumenreicher, gepflegter Garten, eine sanfte, ordentliche Pfarrfrau, ein alter, freundlicher Pfarrer und eine lustige Tochter. Die beiden letzteren begleiteten uns fast bis Plothen. Der prachtvolle große Moosteich dort erfüllte uns fast mit Neid. Während wir in Plothen auf einen Führer warteten, fragte der Vater die gaffende Dorfjugend; „Ist der Kirchturmknopf recht fest; wir möchten gern ein Seil dort anbinden. Wenn ihr 10 Pfennige gebt, fangen wir die Vorstellung an.“ Es war zum Totlachen! – Um 1 Uhr langten wir sehr hungrig in Dittersdorf an und wurden herzlich von Onkel und Tante empfangen. Wir trafen dort außer der Pflegetochter Marie, eine Frau Lehrer Schürer mit ihrem zweijährigen Mädele Dora, genannt „Henneli“. Das Pfarrhaus ist sowohl von außen als von innen wunderschön mit laubenreichem, schattigem Garten; bis um 6 Uhr nur konnten wir verweilen, da wir zur Nacht noch nach Schleiz wollten. Wir gingen noch zwei Stunden und langten sehr ermüdet im Bairischen Hof an, auf eine gute Nachtruhe hoffend. Doch o, weh; wir wurden schon von schallender Tanzmusik empfangen, vom Wirt vertröstet, daß der Auslernball der Tanzschule schon!! um 12 Uhr aus wäre. Wir gingen bald zu Bett. Ich schlief mit Miß Lewis, d. h., ich versuchte, zu schlafen. Nach thüringischer Art waren unten, oben, rechts und links mächtige Federsäcke. Endlich machten wir es wie im Biwak, wickelten uns in Mäntel und schliefen leidlich. Anders die armen Eltern. Die Tanzmusik hätte eingeschläfert, wenn nicht das unanständige Geschrei und Gekreisch in den Pausen gewesen wäre. Der Vater donnerte in die Ballgesellschaft hinein. Umsonst! Endlich nahm der Ball

31 Ort im Saale-Orla Kreis in Thüringen.

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ein Ende, doch nun kam neues Elend. Jörge und Burkhart schliefen einträchtig in einem Bett, bis plötzlich Burkhart, der in Dittersdorf zu viel Blancmange gegessen, recht stark nach Speyer reiste.³² Als der Vater das gräßliche Schauspiel beleuchtete, wurde Jörge so von Ekel bewegt, daß er nachfolgte. Der arme Vater war ratlos und schloß kein Auge. Trotzdem ging es am Freitag früh gleich nach der Bergkirche, der Begräbnisstätte der Reuß j. L.³³ Sie ist hochinteressant; wertvolle Malereien und Schnitzereien, mehr altertümlich als schön zu nennen, schmücken sie. Im Hotel trafen wir Schlotters, die die Mutter in ihren Wagen nahmen, während wir zu Fuß über Heinrichsruh nach Burgk gingen. Eine halbe Stunde vor Burgk stiegen auch Schlotters aus und nun verfolgten wir alle einen Weg, der nach dortigen alten hölzernen Röhren der „Röhrenstieg“ genannt ist. Ganz schmal, führt er oben an den Wänden eines großen bewaldeten Bergkessels entlang. Von jeder Stelle sieht man ein schönes Bild: die im Tale sich windende silberne Saale, die bewaldeten, sanft gerundeten Höhen, das aus Tannenwald auftauchende, alles überragende Schloß Burgk mit seinen alten Türmen, – es war ein prachtvoller Blick. Das Innere war weniger sehenswert. Es wundert mich, daß der Besitzer der Burgk, der Fürst von Reuß ä. L.³⁴ es so bewohnen mag. Es hat prachtvolle Räume, mit der Einrichtung, die seit einem, mehreren Jahrhunderten dort ist. Ich begreife, daß man das Alter ehrt, aber unter solchen alten, nach Moder riechenden Bettvorhängen möchte ich doch nicht schlafen. – Der Vater schrieb sich ins Fremdenbuch als „Kammerherr S.M. des Kaisers und Königs von Preußen“, um den Preußen-feindlichen Fürst zu erfreuen! – Nichts ermüdet wohl so sehr als Reihen von uninteressanten Zimmern und Sälen mit leerem Magen besehen. – Wir drängten daher zum Essen, das schmutzig gekocht und nicht abnorm für einen so viel besuchten Ort wie Burgk war. Danach zeichneten wir, außer der Mutter recht häßlich und erfreuten uns an der unbezahlbaren Aussicht. Nachdem wir in einem gräßlichen, zugigen Bretterhause Kaffee getrunken, nahmen wir Abschied von den lieben Schlotters und ließen uns von einem alten Führer nach der Klostermühle bringen, die eine halbe Stunde weit sein sollte. Nachdem der Vater ihn nach einer Stunde fragte, wie weit es in Wahrheit sei, sagte er 2 Stunden und fügte hinzu: „Man muß immer den Herrschaften Mut machen.“ Endlich langten wir an, riefen „Hol über“ und ließen uns über die Saale setzen. Um neun etwa gelangten wir in Saalburg, unserem zweiten Nachtquartier an, zu ermüdet, um noch etwas zu sehen. Die freundlichen Wirtsleute führten uns in die großen, reinlichen Stuben, wo wir uns auf die weichen Betten warfen und

32 Mundartlich für speien. 33 Jüngere Linie 34 Ältere Linie

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schliefen wie die Dächse, nicht ohne daß ich es nicht vorher fertig gebracht hätte, ein Rouleau herunterzuwerfen. Am nächsten Morgen weckte uns Vaters Weckruf. „Aufstehn“, worauf die Mutter mit „Landregen“ antwortete. Ja, leider! Es goß in Strömen, das Barometer sank und sank, die Wetterseite war von tiefstem Grau; schon wollte der Vater nach Wernburg zurück, als – die Sonne durchbrach. Wir blieben und unternahmen einen Rundgang um die Stadt. Saalburg, vor zwei Jahren abgebrannt und neu aufgebaut bietet eine Fülle von Reizen und sagte mir mehr zu als das stolze Burgk. Das Städtchen liegt malerisch auf einem Bergrücken hingestreckt. Die Überreste von alter Zeit sind eine alte Mauer und ein ehrwürdiger, altersgrauer Turm dessen Spitze sich in der glitzernden Saale spiegelte. Nachdem wir diese Naturschönheiten bewundert, gingen wir in die Färber‘sche Villa. Sie ist von einem enorm reichen Geraer Fabrikanten und steht den Besuchern offen. Zu unserem Erstaunen wurden wir selbst in die Schlafzimmer geführt und hätten, da wir teilweise allein waren, recht gut Nippsachen einstecken können. Dieses Vertrauen in alle Besucher ist charakteristisch für den von der Industrie noch unverdorbenen Zustand der Oberländer. – Von jedem Fenster genießt man einen herrlichen Anblick auf die Berge, die Saale und den Turm. – Wir wurden von der Geschmacklosigkeit der Einrichtung, die durch gestickte Kissen, gehäkelte Deckchen, karierte Teppiche, moderne Rumsteherle gestörte Renaissance sehr unangenehm berührt. Nach dem reinlich und gut gekochten Mittagessen nahmen wir Abschied von den netten Wirtsleuten und setzten zu Wagen unsere Reise fort, zunächst nach der an der Saale gelegenen Marmorschleiferei, die wir ansahen. Es war sehr interessant zu sehen, wie die grauen, unebenen Blöcke mit Sägen, Wasser und Sand in Platten gesägt wurden, wozu man eine Woche braucht – bei einem Blocke. Dann werden sie mit der Hand in verschiedene Formen, Tischplatten, Fenstersimse, Tröge gemeißelt, mit Bimstein, Kalk, Blei und Schmirgel poliert, was sehr angreifend scheint. Wir sahen auch prachtvolle fertige Sachen. Als Andenken nahmen wir Steine mit und fuhren durch den Wildpark und Marienstein nach Weidmannsheil. Wir tranken im Försterhause sehr dünnen Kaffee und besahen das Jagdschloß des Fürsten von innen, während die Mutter es skizzierte. Dann fuhren wir in prachtvollem Wald nach Gottliebsthal, wo wir zu Fuß, vom Wagen gefolgt nach dem Heinrichsstein gingen. Plötzlich wurden wir von starkem Regen überrascht und suchten wir Schutz unter den Bäumen. Es war ein ermüdender Weg nach dem Heinrichstein, doch wir wurden reichlich belohnt durch das sich uns dort bietende Bild. Der Regen hatte die ganze Natur erfrischt und verschönt. An jedem Blatt hing noch ein glitzernder Tropfen, unten schlängelte sich die Saale und über der prachtvollen Landschaft wölbte sich der Friedensbogen: Es war unvergleichlich schön.

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Noch eine halbe Stunde Wagenfahrt, da erreichten wir das freundliche Ebersdorf, kamen, obwohl uns am Tage vorher abgesagt worden war, in der „Krone“ unter. Wir hatten sehr hübsche Stuben, bis auf den Vater, der mit den Brüdern in der Kutscherkammer logierte. Nachdem wir den Reisestaub abgeschüttelt, gingen wir alle zu Frau von Meysenbug, die in Abwesenheit ihres Mannes ein nettes Marschallhaus bewohnt. Sie machte viel Sums, (wenigstens mit uns), wegen der „geringen Hütte“, die sie hier bewohnte, (was ganz überflüssig war), freute sich sehr über unsern Überfall und war sehr liebenswürdig. Im Gasthaus aßen wir zu Abend, wobei der noch rüstige 80-jährige Wirt uns mit nicht immer sehr feinen Anekdoten unterhielt. Die Betten waren gut, aber kurz, doch schliefen wir gut. Am Sonntagmorgen zeigte uns Heimchen den schönen, großen, fürstlichen Park, den Blumengarten, die Schwäne, etc. Zum Gottesdienst gingen wir zu den Herrnhutern. Der gefüllte Betsaal, die weißen Häubchen der Schwestern, bei Witwen mit weißen, bei Frauen mit blauen, bei Jungfrauen mit rosa, bei Kindern mit roten Bändern garniert, die Liturgie, der sanfte Gesang, alles machte einen feierlichen Eindruck. Ein junger Mann, ohne Talar, sprach einfach und verständlich. An dem sehr guten Mittagessen nahm Frau von Meysenbug mit Heimchen teil. Nun aber lenkten wir unsere Schritte heimwärts. Frau von Meysenbug hatte der Mutter ihren Hofwagen zur Verfügung gestellt, die Mutter nahm die zwei kleinen Buben und uns beiden Großen mit. Unterwegs brach ein furchtbarer Regen los, der Wagen mußte schnell geschlossen werden. Als wir in Remptendorf anlangten, rief die Mutter: „Springt in die erste offene Thür!“ Ich befolgte den Befehl und geriet in den Entenstall, indem es nicht gerade sehr rein war. Der Vater, Miß Lewis und Jörge standen tropfend in einem alten Schuppen. Miß Lewis‘ Kleid war so naß, daß Huber es auswringen mußte. – Glücklicherweise hörte der Regen bald auf, sodaß wir gut über Liebengrün und Liebschütz gehen konnten. Der Weg von Liebschütz nach Ziegenrück, zum Teil der Saale entlang, ist reizend. Schon sahen wir Ziegenrück in nächster Nähe vor uns liegen, schon glaubten wir uns in Sicherheit, da! Plötzlich ein Donnerschlag und der Regen prasselte nieder. Wir wurden bis auf die Haut naß, in den zehn Minuten vom Eingang des Städtchens, vorbei am Vogelschießen bis zum Gasthofe. Die getreue Amma eilte herbei und half uns beim Umkleiden. Dank der vorsichtigen Mutter saßen wir bald beim Vesper in trockenen Kleidern, Strümpfen und Schuhen. Nur Miß Lewis, die unvorsichtigerweise kein zweites Kleid mitgenommen hatte, sah im grauen Unterrock und schwarzen Shawl sehr possierlich aus. – Wir hatten die Schimmel mit dem Jagdwagen nach Ziegenrück kommen lassen und fuhren bald nach Hause. Trotz des schneidenden, kleinen Blasius, waren wir auf der Rückfahrt sehr ausgelassen. Jörge und ich machten schlechte Witze, Margarethe und Burkhart gaben die Zuhörer ab und lachten in einem fort. Um 8 Uhr langten wir in Wernburg an. Rudi sagte: „In der Fremde ist es schön, und zu Hause doch am Schönsten“, und wir stimmten alle bei. Der Vater meinte: „Derhäm is Derhäm.“ Und wir alle, obwohl

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wir sehr dankbar und befriedigt über unsere Landpartie waren, freuten uns über die Heimat, zunächst auf die guten weichen Betten. Nachdem wir noch ausgepackt, taten wir uns auch ein Bene mit Schlafen an, und am nächsten Morgen erschien Burkhart, als der letzte zwar, erst um 11 Uhr auf der Bildfläche. Wir können sagen, daß wir auch diesmal großes Glück auf unserer Landpartie gehabt haben und immer wird sie uns in einer freundlichen Erinnerung bleiben. Mittwoch war Vaters Geburtstag. Gotthart Erffa feierte ihn mit uns. Er war am Dienstag in 14 Stunden von Naumburg hergelaufen. – Vaters Geburtstagstisch war sehr klein diesmal, weil Mutters Hauptgeschenk in dem Malen des Erkers bestand. Sonst schenkte sie 3 Bücher und ein Album mit allen ihren Reisebildern, Aquarellen und Zeichnungen. Margarethe und ich hatten einen kleinen Vorhang in Vaters Erker gestickt, leider aber nur zur Hälfte fertig gebracht. Jörge hatte ein großes Stück Marmor mit dem Taschenmesser geschliffen und in goldenen Lettern „Saalburg“ darauf geschrieben, Burkhart hatte eine Karte von unserer Partie gezeichnet und Rudi einen Soldaten gemalt. Das gute Bibsle³⁵ hatte einen wunderschönen Brief von Hemmingen geschrieben. – Später sagten wir unsere Gedichte, nur ich nicht, da ich mir auf der Partie einen gehörigen Schnupfen zugezogen habe. – Am Abend kam der Herr Landrat, um zu gratulieren und blieb zum Abend. Montag, 19.7. Über zwei Wochen habe ich vergehen lassen, ohne in mein Tagebuch zu schreiben. Zeit hatte ich nun zwar in den Ferien, aber keine Lust. Und ohne Lust etwas, auch das Geringste zu tun, ist mir in den Ferien höchst unangenehm. Jetzt, da alles wieder „nach des Dienstes immer gleichgestellter Uhr“, geht, will ich mein Versäumnis nachholen. Diese Ferien waren selten genußreich und schön; zwar hatten wir in der 2. Hälfte derselben gar keinen Besuch, doch tat uns allen das hübsche, gemütliche Beisammensein wohl. Ein schwerer Tag, besonders für die Mutter, war Jörges Abschied. Wir hoffen, daß er kein Heimweh bekommt; wie man sagt, findet sich dasselbe stärker nach den ersten Ferien als nach dem ersten Abschiede ein. Ich kann das begreifen. Das erste Mal wirkt der Reiz der Neuheit, es treten viele neue Eindrücke herzu, das Leben ist ein so ganz anderes, daß zum Heimweh nicht viel Zeit bleibt. Das zweite Mal, nachdem man alle Freuden, alle Genüsse des Elternhauses genossen, liegt die Sache anders. Man vergleicht, findet daheim alles besser und schöner und dann – kommt Heimweh. Unser Jörge mit seinem leichten, lustigen Sinne bleibt hoffentlich davor bewahrt. Der Vater brachte ihn nach Sömmerda und ging nach Vehra. Die folgenden 2 Wochen waren noch sehr hübsch. Ich klebte, malte, las, zeichnete, puppelte, nähte, recht, wie ich es liebe. Nachmittags machten

35 Die Schwester Sabine.

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wir Spaziergänge, z. B., nach Brandenstein, Öpitz in den Wald, aufs Vorwerk u.s.w. Auch Besuche wurden gemacht nach Nimritz und Schlettwein, zwei Häuser, ganz verschiedene Familien, andere Sitten, andere Gedanken und doch ähnlich in der traurigen Tatsache, daß in beiden keine wahre, schöne Harmonie herrscht, die von den Eltern ausgeht; die Gottesfurcht, der Glaube, ein glückliches Verhältnis zwischen Vater und Mutter atmen allein diese wohlthuende Harmonie aus, an der alles Glück gedeiht; unserem Hause ist sie von Gott verliehen.

Abb. 3: Der Garten in Wernburg, zeitgenössisches Foto, Quelle: Privatbesitz / Digitalisierung: Matthias Raum.

Einmal waren Margarethe und ich mit den Eltern zu Tisch zu Motzens eingeladen. Das alte Schloß, malerisch in den Saalbergen gelegen, der herrliche Garten, die Rosen, eine schmale Schlucht, vom rauschenden Bächlein durchflossen, ein Wasserfall, alles entzückte uns. Die beiden Mädchen, Stiftkinder, sind arme, kränkliche Kinder, von denen eine geistig sehr zurückgeblieben. Ein Vetter, der sich den Fuß verstaucht hatte und liegen mußte, ein herziges kleines Schwesterchen, mit denen wir spielten, brachten Abwechslung in das Croquetspiel.

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Gerne würde ich längere Zeit in dieser herrlichen Gegend wohnen. Am Freitag fanden unsere Ferien in einer sehr gelungenen Partie nach Lausnitz, die Miß Lewis, Margarethe und ich allein unternahmen einen glänzenden Schluß. Wir aßen mit Wurmbs zu Mittag, machten Entdeckungsreisen durch Haus, Garten, Feld und Wald. Ich freundete mich bald mit den Mädeln und Lothar an. Es gefällt mir, daß letzterer noch nicht wie Joachim Beust den großen Herrn spielt, sondern echt bubenhaft tollt, rennt, dumme Witze macht etc. Es war ihm sogar unangenehm, daß ich ihn „Sie“ nannte, denn als er uns beim Abschied die Hände schüttelte, sagte er: „das nächste Mal duzen wir uns.“ Wir lachten alle sehr. Statt um 5 Uhr kamen wir erst um 10 Uhr sehr vergnügt zu Hause an. Sonnabend wurden Margarethe und ich photographiert. Am Abend kam Frl. Mangelsdorf zurück und heute hat der Ernst des Lebens zu allseitiger Zufriedenheit die süße Bummelei verdrängt. Und nun mit neuer Kraft, neuem Fleiß an die Arbeit! Durch!!! – – – – Mit dem angestrengten Arbeiten war es nichts, da wir viel Besuch in der vergangenen Woche hatten. Schon am Dienstag kamen Tante Fanny, Gretchen und Tity. Wir holten sie ab, wurden aber vom Sturm beinahe fortgeblasen. Der Mutter, die gegenwärtig von einem hohen Gerüste aus Vaters Erker malt, waren Tante Fannys Ratschläge sehr lieb, wir unterhielten uns trefflich mit Gretchen. Tity ist im Gegensatz zu Rudi noch geistig sehr unentwickelt, aber, wie dies bei Nachzüglern oft vorkommt, doch oft altklug und unnatürlich. Doch ist sie im Grunde ein gutes Mädele. Am Donnerstag reisten sie wieder ab. Miß Lewis und ich holten unsere Photographien bei Hempel ab. Leider sind die Doppelbilder nicht so hübsch geworden. Margarethe sieht auf allen ernst und alt aus. Ich finde meine recht ähnlich, nur verschönert. Wenn Sabine kommt, wird ein Gruppenbild gemacht. Freitag früh reiste Frl. Mangelsdorf nach Nürnberg, um Sabine zu holen, die, infolge eines Inserats im Merkur, Reiseanschluß bis dorthin gefunden. Zum Essen kamen die lieben Schlotters, und die uns allen unbekannte Tante Ida. Es war reizend. Es gibt Menschen, in deren Nähe man sich immer wohl fühlt. – Wir spielten vor, Margarethe entschieden am hübschesten. Sonnabend brachte uns unser liebes Bibsle wieder. Obwohl von der langen Reise sehr ermüdet, sieht sie sehr frisch und gesund aus und war ganz erfüllt von ihren Reiseerlebnissen. Zuerst fuhr sie mit ihrer Reisebegleitung, einer sehr spießigen Frau Möbelfabrikantin Mühle, einer amerikanischen Familie und einem sehr netten Franzosen. Sie fand glücklich Frl. Mangelsdorf in Nürnberg, übernachtete dort und fuhr am

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nächsten Morgen früh fort. – Am Abend hatte ich große Sehnsucht nach Jörge. Es war mir ganz unbegreiflich weshalb, ließ sich aber nicht ändern. Ich weinte mich in den Schlaf und erwachte am Sonntag sehr vergnügt. Am Sonntag kamen zum Abendessen Wurmbs, mit einem alten Kinderonkel, Herrn von Grünewald und einem ebenso reichen als unbedeutenden Grafen Görz. Herr von Wurmb erzählte Miß Lewis bei Tisch, daß er im Zoologischen Garten in Berlin an Rheumatismus leidende Giraffen mit Flanellhosen gesehen habe und noch anderes dummes Zeug, sodaß wir nicht aus dem Lachen kamen. Am Ende der Woche begann eine rechte Besuchszeit. Sonnabend war der Rudolstädtische Minister von Stark mit Frau und sehr netter 20jähriger Tochter Helene zum Essen da. – Gegen Mittag kam zu unserem Schrecken Rudis Schreiblehrer Herr Müller zur Stunde. Der arme Mensch war zum ersten Male von einer schweren Brustfellentzündung aufgestanden, war aber aus Pflichtgefühl – elend, wie er war – zur Stunde gekommen, aber brach hier beinah zusammen. Die Mutter machte ihm einen Vorschlag, auf den er dankbar einging. Am Montag zieht er auf zwei Wochen zu uns in Sommerfrische, wohnt im Küchele, geht viel spazieren und wird oft gefüttert. Sonntag waren Oberforstmeister Hollebens (genannt „Hasenmaxens“), sehr liebe alte Leute, die von Wernburg ganz entzückt waren, mit Frl. von Imhoff, einer alten, dürren, liebenswürdigen Ex-Hofdame da. Montag, 2.9. war Sedanfest.³⁶ Zum Aktus ging nur der Vater, da Burkhart nichts aufsagte. Nachmittags hatten Sabine, Rudi und ich die Erlaubnis, mit Frl. Mangelsdorf zu dem Feste zu gehen, das die Privatschule im Opitzer Rosengarten gab. Zuerst war eine Art Museum zu sehen mit allerhand Kuriositäten: Einem Spucknapf aus der Arche Noah, Davids Harfe, Marterwerkzeuge in Gestalt eines Rohrstockes, einen von Varus im Teutoburger Wald verlorenen Stiefel nebst Streitäxten der Germanen, ein Faß ägyptische Finsternis und anderen Unsinn mehr. Darauf war großes Lotto, genannt Tombola. Sabina und ich hatten auch eine Karte und setzten uns zu uns bekannten Pößnecker Mädchen. Zuerst war eine sehr monotone Vorstellung mit bedrückenden Verlegenheitspausen. Zuletzt wurde es aber sehr lustig, und obgleich wir nichts gewannen, unterhielten wir uns doch trefflich mit Else Conta, den kleinen Teutschers und mit Gabriele Himmelmann. Wir schlürften sehr 36 Jahrestag der Schlacht von Sedan. Die Niederlage und Kapitulation der kaiserlich französischen Armee 1870 nach der Schlacht von Sedan, und die Gefangennahme und Absetzung Kaiser Napoleons III. galten als vorentscheidend für den Ausgang des deutsch-französischen Krieges 1870 – 1871. Im deutschen Kaiserreich als Feiertag begangen.

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schlabberige Limonade und gingen mit Pfarrers zurück. Burkhart und Rudi hatten Büchertasche und bunte Bleistifte gewonnen, Else Hahmann nichts, weshalb sie knauntschig war. – Abends sahen wir uns die Freudenfeuer auf den Bergen und ein von Burkhart veranstaltetes Feuerwerk an. Dienstag kam Frau Generalsuperintendent Trautvetter aus Rudolstadt; am Mittwoch holte sie ihr Mann selbst ab. Sie ist eine ebenso fromme und gläubige als geistreiche, anregende Frau. Dabei kann sie so lebhaft von ihren, allerdings zahlreichen Erlebnissen erzählen, daß man sich jedes Mal mehr von ihr angezogen fühlt. Der Vater und ich begleiteten sie beide um 9 Uhr auf die Bahn. Auf dem Rückweg sprachen wir nur von Räuber – Diebs – und Geistergeschichten. Der Vater freute sich, daß ich im Dunkel der Altenburg dabei nicht gruselig wurde. Warum aber denn auch? Donnerstag fuhren Margarethe, Miß Lewis und ich mit den Eltern nach Langenorla.³⁷ Die alte Frau von Beust war kürzlich aus Westerland auf Sylt zurückgekehrt und erzählte uns mit Entzücken von ihrem dortigen Aufenthalte. Sie sieht sehr wohl aus und ist von erstaunlicher Geistesfrische. – Auf dem Rückwege sahen wir uns die neue Eisenbahn von Jüdewein nach Orlamünde an. Sie wird jetzt von einem Teile des Eisenbahnregiments vollendet, um am 1. Oktober eröffnet zu werden. Der Bahnhof in Jüdewein ist ganz großartig mit buntem Schieferdach. Sonnabend, 7.9. kam unser neuer Flügel aus Barmen an. War das aber eine Geschichte, ein Heben, Stoßen, Drücken, bis er die Treppe hinauf, in den Saal gebracht war. Er ist von Eichenholz, sehr groß und sieht einfach – nobel aus. Die Spielart ist ausgezeichnet, die unteren Töne sehr voll, oben aber könnte ein wenig mehr schmelzender Klang nicht schaden. Dienstag war der Vater zur Tierschau in Saalfeld; heute, Mittwoch, 11., ist er nach Hamburg gereist zur Tarif-Versammlung und kommt Freitag wieder. Donnerstag, 12, reiste die Vistations-Kommission durch Wernburg und nahm bei Hahmanns ein kaltes Frühstück ein. Wir sahen sie vom Pförtchen aus vorbeifahren, und knixten, als uns der Generalsuperintendent grüßte. Später ging die Mutter ins Pfarrhaus und lud alle Herren zu Mittwoch in 8 Tagen ein.

37 Besitz von Karl Hermann Freiherr von Beust (1815 – 1884) und Marie Freifrau von Beust (1827– 1899), Eltern von Armgard Freifrau von Beust, geb. Freiin von Beust (1850 – 1925).

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Freitag war Eröffnungsgottesdienst in Ziegenrück. Frl. Mangelsdorf, Margarethe und ich fuhren hin und nahmen Frau Pfarrer nebst ihrer Freundin mit. Es war ein herrlicher Tag, das Städtchen war mit Guirlanden, Kränzen und beflaggter Ehrenpforte geschmückt; die Fahnen wehten und die Glocken läuteten. Nachdem wir bei dem blinden Mädchen und bei Amma gewesen, stellten wir uns vor der Kirche zu den anderen Pfarrfrauen. Von allen Seiten kamen die Pastoren der Ephorie mit ihrem Talar unter dem Arm angeschwirrt. Wir suchten und fanden gute Plätze in der Kirche. Als die Glocken läuteten, kam der feierliche Zug in die Kirche, voran der liebe, alte Generalsuperintendent und Herr Landrat. Die Predigt, in welcher er den Nutzen der Visitation für Stadt und Gemeinde, für Geistliche und Lehrer beschrieb. Die Schulkinder sangen wunderschön einen Psalm; der alte Rektor spielte sehr schön die Orgel. Das einzig Störende war, daß Herr Pfarrer, in die Predigt versunken, die Schlußliturgie vergaß und nach dem Gesang eine längere Pause entstand. Als die Geistlichen aus der Kirche kamen, grüßte der Generalsuperintendent die Damen und dann noch Margarethe allein. Von dem Moment an grüßten uns in einem fort Herren. Wir nahmen von Pfarrers Abschied und fuhren allein nach Hause. Am Abend kam der Vater zurück und erzählte uns eine Roßlebener Nachricht, die uns erschreckte. Am Anfang der Woche drängten sich alte Schüler zur Andacht ins Kloster und führten sich ungebührlich auf. Busenius wies sie hinaus, worauf alle scharrten und trampelten. Vom Rektor mit Verlust des Ausgehens bestraft, revoltierten Ober- und Untersekunda und Unterprima offen und brachen aus. Da löste der Rektor die ganzen Klassen auf, die Schüler schickte er alle nach Hause. Es herrscht jetzt großer Aufruhr; eine Comission wird entscheiden, ob die Unschuldigen wieder zurückkommen dürfen. Ich bin recht froh, daß Jörge noch in Tertia ist, denn es wäre doch recht schmachvoll gewesen, wenn auch nur vorläufig, geschasst zu werden. Um Melchior Breitenbauch und Richter täte es uns leid. Dagegen wäre eine Reform, besonders ein Beschränken des Trinkens recht günstig. Montag reiste der Vater mit Nimrod nach Örlsdorf zur Hühnerjagd. – Die Mutter reiste Dienstag nach Rudolstadt zur großen Konferenz der Inneren Mission. Seidewitz aus Frankfurt, ein junger, bedeutender Pfarrer hielt eine herrliche Festpredigt. Außerdem waren Vorträge über Diakonissenwesen, weibliche Dienstboten etc. Erst Mittwochabend kam der Vater zurück.Von Sonntag früh an nahm der Vater teil an der Kirchenvisitation. Auf besonderen Wunsch der Bodelwitzer hielten zwei Herren der Comission, Schniewind und Schmalenbach in Bodelwitz Gottesdienst. Wir Kinder gingen hin und hatten es nicht zu bereuen. Braun hielt eine prachtvolle Predigt, die schönste, die ich je gehört. Man hätte in der vollen Kirche eine Stecknadel fallen hören können. Er sprach so wahr, so anrührend, daß alle Frauen zuletzt laut schluchzten. Dann war Prüfung der Schulkinder durch Schniewind. Die Kinder hatten so Angst, daß sie manches, was sie gut wußten, nicht heraus brachten. – Nachmittags gingen Frl. Mangelsdorf und Miß Lewis zum Missionsfest nach Ranis.

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Sonntag, 29.9. Eine ereignisvolle, uns allen wohl unvergeßliche Woche liegt hinter uns, die Generalkirchenvisitation in Wernburg. Montag und Dienstag waren ausgefüllt mit Vorbereitungen. Alle Hände und Füße waren in Bewegung. Was gab es auch alles zu thun! Zuerst zogen wir mit Stock und dem Freyawagen in den Wald, an einem taufrischen, herrlichen Morgen, und holten Moos, Heidekraut, Fichten etc. Das Gewächshaus war in eine Bindehalle verwandelt. Alle unsere Mädchen, die Gärtnerfamilie und wir saßen und banden Kränze von Morgen bis Abend. Am Dienstag schmückten wir Kirche, Haus, Thor und Tisch. Fast alle Vorbereitungen wurden beendet. Wir waren aber alle ein wenig abgerackert. Trotzdem fuhr ich um 9 Uhr mit Burkhart auf die Bahn, um Herrn Generalsuperintendenten Trautvetter abzuholen. Nach einigem Umherirren fanden wir ihn auch glücklich, brachten ihn herauf und gingen zu Bett. Mittwoch standen wir früh auf und begaben uns um 9 Uhr durch das mit Guirlanden und Ehrenpforten geschmückte Dorf unter die Dorflinde, wo die Gemeinde zum Empfange versammelt war. Beim Klange der Glocken fuhr die Comission in 4 Landauern an. Die Dorfjugend sang „Laßt mich gehen“, Else Hahmann sagte ein von Margarethe verfaßtes Begrüßungsgedicht, Herr Pfarrer und der Vater begrüßten sie kurz, worauf Generalsuperintendent Schultze mit herzlichen Worten antwortete. Margarethe und ich setzten uns als zur konfirmierten Jugend gehörig auf die erste Bank unten und hatten noch Zeit bis zum Anfang des Gottesdienstes uns die Kirche anzusehen. Sie war prachtvoll. Die Wände des Altarraums waren mit Schnetteln³⁸ tapeziert, in welche Silberdisteln gesteckt waren; Gruppen von Kalthauspflanzen standen in den Ecken, alle Säulen waren mit Guirlanden und Waldrebe umwickelt. Von Chor zu Chor zogen sich Guirlanden, auf deren Kreuzungspunkte war eine große Blumenkrone befestigt; dazu Kreuze und Kränze in Massen, prachtvolle Rosen auf Altar und Taufstein, die rotsamtene Bekleidung mit goldenem Kreuz, alles das machte einen herrlichen Eindruck. Nun zog die Kommission herein und setzte sich zu beiden Seiten des Altars. Wir saßen sehr eng in unseren Bänken, da massenhaft konfirmierte Mädchen kamen, und keine auf die rechte Seite gehen wollte aus Respekt vor Superintendent Brauns Barett, das er dort deponiert hatte. – Herr Pfarrer hielt die Liturgie, darauf sang ein Kinderchor: Tröste, tröste mein Volk, rede freundlich mit Jerusalem; nun folgte Herrn Pfarrers Predigt über Hebr. 11, 8 – 10. Die Predigt war gut und durchdacht. Das Thema lautete: Versuchet Euch selbst! 1. Wie stehst Du zu Gott? 2. Wie stehst Du zur Welt? Dann folgte Dr. Schultzes herrliche Ansprache über die drei großen Rezepte: Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Genügsamkeit, und der Mann, von dem die Arzenei zu holen ist. – Schniewind grüßte die Schulkinder nebst unseren 3 Kleinen. Die Schule

38 Gehacktes Fichtenreisig.

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soll am besten von allen im Kreise geantwortet haben. Alle Fragen wurden mit einer Frische und Freudigkeit beantwortet, die ein glückliches Lächeln nach dem anderen auf des Generalsuperintendenten Gesicht hervorrief. Nachdem Bilder verteilt waren, gingen die Konfirmierten (wir natürlich mit) vor den Altar. Schmalenbach hielt eine innige, herrliche Ansprache über den Glauben. Nur waren die wenigen Fragen so schwierig und so sonderbar gestellt, daß sie fast nie beantwortet wurden und die jungen Leute höchst naseweis sich über die dummen Fragen ausließen. Ein Mädchen neben mir bekam auf einmal Nasenbluten, konnte nicht herausbefördert werden und legte sich beinahe auf mich drauf. Wir verließen die Kirche dann und Dr. Renner sprach mit Hausvätern und Hausmüttern über Kindererziehung. Da die ganze Comission bei uns essen wollte, außerdem alle anwesenden Geistlichen der Ephorie, so hatten wir noch manches zu thun. Es war sehr zweifelhaft, ob ich mitessen könnte, im letzten Momente aß dann aber Sabine mit mir mit. Es war ein stattlicher Trupp, als sie hier anlangten, fast lauter Geistliche. Es waren die geistliche Comission, bestehend aus Generalsuperintendenten Schultze, Dr. Renner aus Wernigerode, Superintendent Schmalenbach aus Mennighüffen, Superintendent Mendelson aus Mansfeld, Superintendent Braun aus Carow, Superintendent Schniewind aus Langensalza, Pfarrer Wächtler aus Halle und unser Herr Pfarrer; außerdem der Landrat, Ulrich, Schröter, Menzel, Frau Pfarrer, Füßlein, Junkelmann. Ich saß bei Tisch neben Wächtler, der uns reizend unterhielt, lustige Geschichten erzählte, mir aber der wenigst Bedeutende erscheint; Braun war ganz in seine Abendpredigt versenkt, Mendelson scheint sehr geistreich und machte viele schöne Allegorien, Ulrich aß und lächelte holdselig zu den Schmeicheleien, die ihm die anderen über sein Aussehen weismachen. Miß Lewis saß unter den beiden letzteren – bleich, stumm und steif –, probierte eine englische Conversation mit Ulrich anzuknüpfen, die aber scheiterte, da er ihr Englisch für schlechtes Deutsch hielt und ganz baff war. Nach Tisch blieben wir im Salon und unterhielten uns. Schniewind und Wächtler waren sehr lustig und eroberten der Kleinen Herz. Am allerbesten gefiel mir der gute, alte, liebe Schmalenbach, der wenig sprach, aber mit seinen vergeistigten, großen Augen so freundlich aussah. Zum Kaffee kamen noch zwei Lotzes, Vater und Sohn, und entschlossen sich, zur Nacht zu bleiben. – Nachdem der Generalsuperintendent den neuen Flügel geprüft und belobt hatte, sangen alle einen Choral und dann fuhren die meisten nach Ranis. Abends predigte Braun über das Wort: Wo gehest Du hin? Es war eine gewaltige Predigt über die letzten Dinge, die alle Zuhörer erschütterte, auch mich, obwohl mir die Bodelwitzer noch besser gefiel. Am Donnerstag fuhren und gingen wir nach Ranis mit den Lotzes, wo der Generalsuperintendent durch die Endpredigt und durch das Abendmahl die Visitation schließen wollte. Was ich hörte war ausgezeichnet, bedauerlich war nur, daß ich

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höchst wenig hörte. Wir saßen so weit, daß wir vom Lauten nur den Schall, vom Leisen gar nichts hörten. Wir gingen nach der Predigt gleich nach Hause, während der Vater blieb. Am Abend fuhr die Commission fort. Den folgenden Tag war ich wehmütig gestimmt bei dem Gedanken, daß solche Tage erst in 100 Jahren wiederkommen. Die folgenden Tage waren still, fast öde. Freitag kam Jörge in Michaelisferien und mußte uns viel vom Schülerstrike erzählen. Er ist wenig gewachsen, sieht aber frisch und gesund aus. Weiter fiel nichts vor, außer daß Onkel Max von Butler auf fünf Minuten, gleich einer Sternschnuppe, erschien. Es war ja sehr freundlich, daß er kam, aber so kurz war zu schade. Sonntag, 24.11. So lange habe ich nicht geschrieben, fast zwei Monate lang nicht. Es ist eine Schande, ich will es gestehen. Ich greife nicht weit zurück, sondern sage nur, daß wir sehr netten Besuch von Wegnerns hatten, auch Frl. Jettina Holleben war eine Woche da. Vor drei Wochen gingen wir mit den Eltern zum heiligen Abendmahle. Es brachte mir Segen, obwohl ich mit Furcht und Zittern ging. Wir lasen zur Vorbereitung Predigten von Huhn. Montag zog ich keine Jacke draußen an, weil ich mich abhärten wollte. Die Mutter warnte mich, aber ich war leichtsinnig. In Folge dessen erkältete ich mich und blieb die ganze nächste Woche an Kopfweh und Magenerkältung im Bett. Ich fühlte mich sehr, sehr elend, so elend, daß ich dachte: „Nun stirbst Du vielleicht und durch eigene Schuld.“ Gott sei Dank konnte ich Sonnabend wieder aufstehen, doch nur um mich Sonntag an Gelbsucht zu legen. Unglücklicherweise wollten wir gerade zu der Zeit auf zwei Tage nach Leipzig, wo die „Meininger“ jetzt spielen. Am Dienstag der folgenden Woche endlich paßte es. Ich armes Wurm konnte aber natürlich, grüngelb, wie ich war, nicht mit. Es war mir doch etwas trübselig, als die Mutter mit Miß Lewis und Margarethe abfuhr; ich tat aber recht vergnügt, um ihnen die Freude nicht zu verderben und der Mutter nicht das Herz schwer zu machen. Wir verlebten sehr stille, aber hübsche Tage. Ich stand wieder auf, tat aber nichts wie zeichnen, malen, vom Blatt spielen, essen und Selterwasser trinken. Wir lasen uns eine Geschichte vor, die „Non cras, sed hodie“ hieß und zuletzt so schauderhaft wurde, daß wir Rudi verboten, zuzuhören. Donnerstag kam die Mutter mit den anderen zurück, entzückt von den „Meistersingern“ und begeistert von „Julius Cäsar“. Sie brachten viele Weihnachtseinkäufe mit und die lieben Eltern schenkten uns allen zusammen für die Voliere: drei Zeisige, eine Dompfäffin, einen Distelfink und zwei reizende Zwergpapageien, grasgrün, einen mit weißen und einen mit grünem Kopfe. Sie sind ganz unzertrennlich und schmiegen sich immer eng aneinander.

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Heute ist Totenfest, ich kann aber noch nicht mit in die Kirche. Die ekelhafte Gelbsucht! Es ist mir versprochen, daß ich nach Weihnachten nach Leipzig darf, aber ich glaube nicht, daß es dazu kommt. Es ist auch nicht nötig. Es gibt Enttäuschungen und zerstörte Freuden im Leben, und es ist zuweilen gut, wenn es nicht immer so geht, wie man selbst will. Ehe ich heute schließe, will ich noch von einer schönen Einrichtung schreiben, die die Mutter ins Leben gerufen. Um die Mädchen des Dorfs von den verderblichen Spinnstuben abzuziehen, versammelt die Mutter alle Montag bei uns in der Küche. Ungefähr zwanzig sitzen wir um einen großen Tisch mit kleinen Handarbeiten. Es wird ein hübsches Buch gelesen, gesprochen, Tee getrunken und ein Volks – oder geistliches Lied gesungen. Es dauert von 8 – 10 Uhr und dürfen alle Mädchen von 14 – 20 Jahren sich einfinden. Unser „Jungfrauenabend“ scheint so zu gedeihen, daß Herr Pfarrer dasselbe für die Burschen gegründet hat. – Außerdem sammeln wir Zigarrenspitzen, Briefmarken und milde Beiträge in eine Büchse, bis wir genug haben, um eine schwarze Altarbekleidung für die Kirche anzuschaffen. Es wird freilich lange dauern, doch zeigen sich die Mädchen sehr willig und nett. Zuerst freilich waren sie schüchtern und bedeppert, tauten aber bald auf. – Ich zog gestern eine Armenpuppe (für 30 Pfennig, aber groß und schön mit offenen Haaren) an, nämlich dunkellila Kleid mit hellem Band und weißem Schürzchen. Sie sieht wirklich niedlich aus. Mit Weihnachtsgeschenken bin ich bis auf das Einbrennen der Ledersachen fertig, aber Armensachen habe ich noch viele zu machen. Der Großmutter schenke ich ein Fußkissen, Tante Anna einen Schlummerpuff, Tante Marie ein Lederkissen, Edda einen Arbeitsteller. Da gibt es viel zu sticheln, zu stricken, zu zeichnen und zu malen. Dienstag, 10.12. war mein Geburtstag. Schon 15 Jahre lang habe ich gelebt, und wie schnell habe ich sie gelebt. Das letzte Jahr war ein wichtiges und ernstes für mich gewesen. Ich dachte an meine Konfirmation und faßte gute Vorsätze. Ich wurde sehr reich beschenkt, nämlich mit einer Winterjacke, einem Messer, sehr vielen Holzsachen zum Bespritzen, einer Diana-Büste, einem Arbeitskorb, zwei Federhaltern, einem Kalender, Bilderbogen, Pinsel, Farben, und zwei englischen Büchern: „Tom Brown’s schoolyears“³⁹und „Misunderstood“.⁴⁰ Letzteres ist so traurig, daß es mich ganz unglücklich für einige Tage machte. Es ist schön, so viele Liebesbeweise zu erhalten, auch, wenn diese später einmal ausbleiben, so hat man süße, liebe Erinnerungen.

39 Thomas Hughes, Tom Brown’s schoolyears, 1857. Ein englischer Klassiker, der im Internat Rugby spielt. 40 Florence Montgomery, Misunderstood, 1857 bei Bernhard Tauchnitz in Leipzig erschienen.

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Donnerstag, 12. war Diner mit Landrats, Beusts und Wurmbs. Es war sehr ungemütlich. Herr von Beust nahm alles übel und krakehlte oft; Herr von Wurmb neckte und der Vater beschwichtigte. Den 19. sollte der Kaiser nach Hummelshain⁴¹ kommen. Der Vater war eingeladen. Die armen Kahlaer hatten für 1800 M. Ehrenpforten und elektrische Beleuchtung hergerichtet. Aber, o weh, Kaiser und Kaiserin bekamen Influenza, eine moderne Seuche, und telegraphierten ab. Es dauern mich die vielen Menschen, die hergerichtet und hingereist, auch der Herzog, der Hofhalt, Theater und Marstall umsonst mitgeschleppt hatte. – Der Vater hatte den Vorteil, nun auch zur Jagd eingeladen zu werden und sah die Kaisertheatervorstellung, übernachtete und kam sehr erkältet, aber sehr befriedigt zurück. Montag, 23., wurde die Krippe gerichtet, wobei Margarethe und Jörge helfen mußten. Ich ging mit Miß Lewis in entsetzlichem Regen- und Sudelwetter nach der Stadt, um die letzten Besorgungen zu machen. Puh! Der Schmutz spritzte uns bis ins Gesicht. – Am Abend zeichnete ich noch schnell ein tanzendes Mädele nach Thumann,⁴² da drei Zeichnungs- und Malpläne gescheitert waren. Dienstag war der ersehnte Heiligabend, der schönste Tag des Jahres. Am Morgen früh fuhr uns Huber nach Ranis, um der Familie Fritsche in Ranis unsere eigene Bescherung, (größtenteils selbstgearbeitete Kleider, Mützen, Müffchen etc.) zu bringen. Die Kinder wurden zu unserem Empfang gerade gewaschen; eins saß schön gekämmt, noch im Hemdchen, auf dem Tisch. Die Kleider paßten wie angegossen, die Kinder waren wohlerzogen und zutraulich, die Frau dankbar: Es war eine sehr fröhliche Weihnachtsbescherung. Zu Hause wurden wir mit der Nachricht empfangen, daß Onkel Axel um 2 Uhr käme. Die Mutter war zu sehr erschreckt und in Gedanken bei der einsamen Großmutter, um sich sogleich freuen zu können, doch als der liebe, lange Onkel kam, war großer Jubel. – Der Nachmittag verstrich mit Besuchen und Bescherungen bei alten Leuten im Dorf. Es ist schön, zu geben, ehe man selbst beschenkt wird. Leider konnten wir nicht im Schnee in die Kirche wandern, auch mußte Rudi wegen Hustens zu Hause bleiben, aber die Ansprache im Gotteshause über die unbegrenzte Vaterliebe Gottes war so bewegend, daß alles andere zurücktrat, um einer seligen und fröhlichen Weihnachtsstimmung Platz zu machen. Nicht lange hatten wir in dunkler Stube geharrt, als die Tür sich öffnete, um uns vor den glänzenden Christbaum, die strahlende Krippe zu lassen. Nach dem

41 Das 1885 erbaute Schloß Hummelshain war die Jagd- und Sommerresidenz der Herzöge von Sachsen-Altenburg. 42 Paul Thumann (1834 – 1908), damals bekannter Illustrator und Porträtist.

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Gesang von „O du fröhliche“ etc, sagte die Mutter: „Sucht Eure Tische!“ das war bald getan. Aber nicht so bald war ich fertig mit dem Ansehen meiner Sachen. So viel Schönes, scheint es mir, habe ich noch nie bekommen. Ich fand nämlich: Einen Polierapparat, und sehr schöne Spritzsachen, 5 Bilderbogen, einen Regenschirm, Taschentücher, einen Unterrock, Schürzen, Pelzhandschuhe, Müffchen, einen rosa Shawl, eine Schlittschuhtasche, ein Reisenecessaire, einen reizenden Spitzenkragen, Seife, Photographie, ein Skizzenbuch, eine goldene Uhrkette, einen Taschenbleistift und zu meinem Entzücken fünf Bücher: Die Fritjofsage, Eine alte Jungfer von Nathusius, Im Banne der freien Reichsstadt von Br. Augusti, The story of a short life, The dove in the eagle’s nest. – Mit Margarethe zusammen erhielt ich einen großen Schreibtisch in unser Zimmer und eine reizende Schreibtischgarnitur, bestehend aus Tintenfaß, Federschale, Falzbein und Papierschere. Die lieben Eltern, wie reich haben sie wieder jedes einzelne von uns bedacht! Es wäre zu lang, alle Geschenke der andern anzuführen, so will ich mich auf die Hauptgeschenke beschränken. Vaters Hauptgeschenke bestanden in zwei eingebrannten Stühlen und einem Gehpelz, Mutters in Dachspeiern,Vorhängen und Büchern, Frl. Mangelsdorfs in einem Bild von Wernburg und Hemden, Miß Lewis in einem Elfenbeinfächer und Schillers Werken. Margarethe hatte ungefähr dasselbe wie ich, Sabina ein Taubenhaus, ein Kleid und Pelzstiefel, Jörge Ponygeschirr und Nagelkasten zur Ziernagelarbeit, Burkhart und Rudi reizende, von der Mutter selbst fabrizierte Indianerrüstungen, Baukasten und Schraubendampfer, Onkel Axel Aschenbecher, Buch und Zigarettentasche. Der Onkel hatte einen monströsen Familienfreßkorb mitgebracht, nahm ihn beständig auf die Knie und sagte nur: „Eßt!“ Wir kamen diesen Mahnungen so lange nach, bis die Mutter den Korb in Verwahrung nahm. Leider reiste der Onkel schon Mittwoch früh wieder ab. Die Feiertage verliefen schön und ruhig. Einmal fuhren wir nach Nimritz, trafen dort aber Influenza an. Von allen Seiten, von Rudolstadt, Meiningen, Berlin, Dresden etc. fielen ihr, dieser gräulichen Krankheit alle unsere Bekannten zum Opfer. Sonntag kamen die Beust‘schen Kinder; wir tanzten Quadrille und Lancier, damit Margarethe sich für den nächsten Winter übt. Wir beiden erhielten die erste Balleinladung zu Minister Starcks nach Rudolstadt. Ich mußte wirklich lachen über den Gedanken, ich mit 15 Jahren auf einem Balle. Margarethe dürfte schon, wenn die Mutter nicht noch in Trauer wäre. Montag ward alles aus dem Saale geräumt; am Mädchenabend die Krippe noch einmal angezündet. Langsam erlosch ein Lichtchen nach dem andern und traurig gingen wir ins Bett. Ach, dachte ich, alles, alles geht fort, die Krippe, das alte Jahr, der Vater, der Jörge. Aber lange halten solche Gedanken nicht bei mir an. Sobald ich mich auf etwas freue, und das tue ich immer, verfliegt die Wehmut. So freute ich mich auf Sylvester und schlief vergnügt ein.

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Dienstag, Sylvester, legte sich die Mutter an Influenza. Trotzdem verbrachten wir den Abend lustig mit Punsch, Bleigießen und Quartettspielen. Leider verpaßten wir das 12 Uhr Läuten, warteten eine halbe Stunde und wünschten uns erst um halb eins Glück und Segen. – Was wird das neue Jahr bringen, Krieg oder Frieden, Freud oder Leid. Oh! Ich bin ganz getrost, Gott ist ja unser Schutz, auch im neuen Jahre!

1890 Am Neujahrstage gingen wir in die Kirche und liefen nach Tisch zum ersten Male Schlittschuh. Miß Lewis, Rudi und Conrad fingen an. Nachher führten Sabine, Burkhart und ich auf dem Puppentheater„Tischlein deck‘ dich“ etc. auf. Es ging ganz gut, nur das Ende war tragisch. Alle drei knieten wir auf dem Tische. Am Schluß vergaß Sabine das Geld für den Esel, Burkhart kam in Wut und begann auf sie loszudreschen; sie machte ein Gesicht zum Weinen und ich sprach die Schlußworte und ließ den Vorhang plumpsen. Wir hatten Entree zum Wohl der Sammelbüchse verlangt und erhielten 1 M 30. Nun der Anfang ließ sich hören! Nächstens gelangt „Kalif Storch“ zur Aufführung. – Wir genossen die Ferien so lang als möglich, bis am 5ten, Sonntag, Sabine und ich uns an Influenza legten. Montag nahm die noch kranke Mutter mit schwerem Herzen Abschied von Jörge, der sich seit Weihnachten nicht wohl fühlte. Margarethe ging zum Glück mit. Billet und Gepäckschein war schon gelöst, als Jörge umsank und eine entsetzliche Speyer – reise erfolgte. Margarethe zwang ihn, wieder mitzukommen. Wie erstaunt waren wir, als das heulende, kranke Schülerlein bei uns eintrat. Er lag eine Woche recht krank. In Pößneck klatschte man, er hätte sich mit Absicht überfressen, um nicht nach Roßleben zu müssen. Er war natürlich wütend über „diese kolossale Unverschämtheit“, wir selbstverständlich mit. Er reiste ab, ebenso der Vater nach Halle, Merseburg und für den Winter nach Berlin. Wir drückten uns auf allen Sofas herum, Stock meldete sich ab, die Mädchen schlichen umher, nur Frl. Mangelsdorf, Miß Lewis und Margarethe hielten sich auf dem Damm. Erschüttert wurden wir durch Todesnachrichten von Gerock, Döllinger, Kaiserin Augusta, am meisten durch die des Fürsten von Rudolstadt. Dieser hünenhafte, kräftige Mann, in 3 Tagen an einer Bronchitis gesund und tot. Es ist erschütternd. – Der Vater, kaum in Berlin, reiste wieder nach Rudolstadt, kam aber weder auf dem Hin – noch auf dem Herweg. Stock ging mit der Uniform nach Rudolstadt. – Der neue Fürst soll sehr tüchtig von Herrn Trautvetter ermahnt worden sein.

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Den 31.1. war Margarethens siebzehnter, Fräulein Mangelsdorf 53. Geburtstag. Da die heimtückische Influenza den Sabinas verschluckt hatte, so wurde er erst jetzt mitgefeiert. Es war ein sehr reicher Geburtstagstisch. Am besten gefiel mir von Sabinas Sachen ein Kinderkopf aus Gyps, von Margarethes Apoll und 2 Hyacinten, von Frl. Mangelsdorfs die spanischen Brüder und zwei großmächtige Pantoffeln. Ich schenkte: ein Markenkästchen, ein Falzbein, und ein Brillenfutteral mit Spritzarbeit. Der Vater telegraphierte, die Großmutter ebenso. 16. Februar 1890. Der Vater ist jetzt da, weil der Landtag, der Reichstagswahlen wegen, vertagte. Er war bei einem sehr interessanten Diner eingeladen, das der Reichskanzler dem Kaiser und noch 20 Herren im Ganzen gab. Dem Kaiser gefiel es so gut, daß er erst um 11 Uhr ging und seinen Wagen von 9 Uhr an warten ließ. Er war sehr freundlich gegen den Vater, redete ihn als alten Bekannten an und bedauerte, nicht mehr an den Preußendiners⁴³ teilnehmen zu können. Den 9. kam Geheimerat [sic] Lucius zur Wahlrede nach Ziegenrück, blieb aber dreimal stecken. Nächsten Dienstag will der Vater eine Wählerversammlung in Crölpa halten, da es in unserem Kreise schlecht mit den Wahlen aussieht. Mittwoch war die Mutter mit Margarethe zu einer musikalischen Soiree in Nimritz; heute gehen sie zum Diner nach Ranis. Freitag besuchten wir, d. h., Miß Lewis, Margarethe und ich die Ravens in Langenorla. Die armen Dinger haben von ihrer Rippenfellentzündung beide ein Exsudat zurückbehalten und müssen, die eine von Stift und Konfirmation fort, nach Hummelshain mit ihrer Großmutter siedeln, vier Stunden täglich im Walde gehen, frottiert werden, Lebertran nehmen etc. Wir fuhren in der Orlabahn, im einzigen Coupé II. Klasse mit drei Männern, die unerlaubt qualmten, husteten und spuckten. – Wir überraschten Frau von Beust mit Hertha gerade bei Tisch. Elisabeth lag im Bett und auf dem Sofa. Wir mußten, obwohl wir satt waren, Hasenbraten und Klöße essen. Dann gingen wir mit Hertha und Frau Pfarrer Steps einen sehr steilen Waldweg, daß Hertha ganz erschöpft war. Margarethe blieb und schwätzte mit Elisabeth. Wir tranken einen ordentlichen Ditschkaffee und machten Spiele bis halb 7 Uhr, wo unser Zug ging. – Burkhart war unterdessen in einer Menagerie und bei Schneiders zu dem aus Kartoffelsuppe bestehenden Mittagessen eingeladen. Komisch ist es, daß reiche Fabrikanten sich mit dem zu Mittag begnügen, was unseren Dienstboten als Abendbrot zu wenig dünkt.

43 Diners des Corps Borussia Bonn, in dem sowohl der Kaiser als auch Hermann von Erffa seit Studententagen Mitglied waren.

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Sonntag, 23. 2. Letzten Sonntag, während die Eltern in Ranis waren, machten wir lebende Bilder: 1. Königin Luise und Napoléon, 2. Yah! Ya! 3. Diogenes. 4. Iphigenie. 5. Armut. Das Ganze war Lydia zu Miß Lewis‘ Ehren. In Ranis hörte die Mutter eine sehr komische Diebsgeschichte, die ich hier einfügen will: In Opitz wohnt eine gewisse Frau Kohl, die zwar einen kranken Mann und eine epileptische Tochter hat, aber einen erwachsenen, kräftigen Sohn; die auch selbst viel verdienen könnte, wenn sie arbeitete, anstatt immer zu betteln und vorzuheulen. Fast alle 14 Tage kam sie zu uns oder nach Ranis. Neulich nun hat Frau Landrat Schlachten und zwar hängt der Kessel in einem Raum an der Büreautreppe. Die Kohl geht ins Büreau, riecht das Schlachten, schleicht zum Kessel und zieht eine kochende Leberwurst heraus. Mit derselben unter dem hinteren Jackenschoß tritt sie ins Büreau. Da platzt die Wurst und langsam tröpfelt es ihr am Rock herab. Der Sekretär sah kleine Dampfwölkchen aus ihrer Jacke steigen und entlarvte die Diebin. Erst leugnete sie, tat, als ob sie in Ohnmacht fiele und sagte zuletzt: Ja, ich habe sie genommen, aber nur für meine Tochter, weil frisch gekochte Leberwurst so gut für Epilepsie ist. Ohne auf diese Lügen zu achten, setzte sie Frau Landrat an die Luft. Donnerstag waren die Wahlen. Leider siegten viele Socialdemokraten. Auch in unserem Kreise kommen Lucius und ein gräulicher Schneider Reißhaus zur Stichwahl. In Wernburg hatte Lucius (kons.) 58, Reißhaus (soz.) 11, Meschelsohn (freis.) 2 Stimmen. – Nein diese Wahlen machen eine Aufregung! Bei allen Mahlzeiten wird von Stichwahl, Wahlkreis, Fortschritt u. a. geredet; selbst die Kleinen sprechen von Reißhaus. Der Vater weckte die Mutter in der Nacht, indem er ihr die 11 Socialdemokraten in Wernburg aufzählte. Gestern verlieh der Fürst Günther von Schwarzburg dem Vater den Hausorden 1ter Classe. Doch stimmten wir alle darin überein, daß uns Lucius′ Wahl viel mehr freuen würde. Am Abend kam ein reizendes weißes Wollenkleid für Margarethe von der Souci aus München. Nach der Stichwahl, zu welcher der Vater zurückkommt, findet die Berliner Reise statt. Heute reist er nach Berlin zum Landwirtschaftsrat. Wir haben herrliche Eisbahn und laufen schon Polonaise und Quadrillen. Sonntag, 23.3.90. Mit Schrecken sehe ich, daß ein Monat verstrichen ist, ohne daß ich schrieb. Ich hatte nämlich den Schlüssel in mein geheimes Fach verloren, ihn aber glücklicherweise neulich auf dem Kirchweg wiedergefunden. Nun habe ich viel nachzuholen! Montag, den dritten März reisten die Eltern mit Margarethe und Miß Lewis nach Berlin. Die Mutter denkt, ich bin betrübt, daß ich zu Hause bleiben muß. Ich war

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aber sehr vergnügt, namentlich wohl durch das Bewußtsein, mich nützlich machen zu können. Ich gab alles heraus und bestellte auch das Essen. Freitag gingen wir zum Nachmittag zu Pfarrers. Miß Lewis kam am Abend sehr erfüllt von Berlin zurück. Sie war sehr nett, sehr gesprächig, erzählte sehr viel und schwärmte von Nordlandpanorama und der „Anna-Liese“, einem reizenden Schauspiel. – Ich las sehr viel, auch „Das Heidehaus“ von Glaubrecht. (Kann aber nicht begreifen, wie Frau Pfarrer mir 15jährigem Backfisch ein so verfrühtes, unpassendes Buch borgen kann.) Sonntag, 9. 3. kochten wir mit den Hahmannskindern auf dem kleinen Herd, das alte Menü, wie immer: Griessuppe, Kotteletten mit Kartoffeln, Pfannkuchen mit Äpfelbrei. Nachher mußten wir Rudis Ritterschlag beiwohnen. Burkhart als würdiger Bischof, Else als holde Ehrenjungfrau, alles war gelungen. Conrad, der als dappiger Knappe Stirnrunzeln und vehementes Geflüster hervorrief, machte uns sehr lachen. Freitag, 14. 3., kam die Mutter mit Margarethe von Berlin zurück. Margarethe hat sich herrlich amüsiert, war im Tell, im Concert der Hermine Spiess, bei Dejeuners, Diners, Abendgesellschaften und hat zwei Mal bei Richters im Tanzkränzchen getanzt. – Die Mutter brachte uns außer Bonbons reizende lederne Jockeymützen und mir Glanzlederschuhe mit. Wir hofften sehr, daß Eva, die ja auf ein halbes Jahr in Berlin ist, zu Ostern zu uns kommen würde, doch will es ihr Vater nicht erlauben. Jörge bringt aber seinen Freund Hohenthal mit, da bei ihm zu Haus Scharlachfieber herrscht. Dienstag, 15. 3., gingen wir zu Königs, um Else zu ihrer Verlobung mit Herrn Thalmann in Pößneck zu gratulieren. Else war sehr glücklich und sprach sehr verständig, was sie alles lernen müßte. Sie gefiel mir so gut wie noch nie. Von der Hochzeit ist noch keine Rede, da der Bräutigam 24, die Braut 17 Jahre alt ist. Nächstens wollen sie heraufkommen. Dienstag, 25. 3. Am 18. des Monats ist ein Weltereignis geschehen: Fürst Bismarck hat seine Entlassung eingereicht und erhalten. Es ist nicht im Groll geschehen; auch ist keiner Partei ein Vorwurf zu machen. Selbstverständig ist es, daß der junge, thatkräftige Kaiser Verbesserungen und Neuerungen vornehmen möchte; aber selbstverständig ist auch, daß der alte, betagte Kanzler gern an alten, erprobten Einrichtungen hängt. Trotz der gegenseitigen Liebe harmonisierten ihre Ansichten nicht. Der Kanzler, groß wie er ist, sah es für das Beste des Staates ein, zu gehen und, mit schwerem Herzen willigte der Kaiser ein und ernannte ihn in zwei, ebenso herzlichen als dankbaren Erlassen zum Herzog von Lauenburg und Generaloberst mit der Würde eines Generalfeldmarschalls. – Der große Mann, der seit 30 Jahren

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sein Vaterland erhoben, groß und mächtig gemacht, der Löwe, vor dessen Schachzügen die Welt zitterte und erstaunte – er geht. Fürst und Volk bringen ihm Achtung entgegen, aber daß die Trauer über solchen Verlust nicht allgemeiner ist, ist traurig. Möchten die segensreichen Thaten dieses größten Mannes seines Jahrhunderts uns noch ferner Segen bringen! Als Reichskanzler ist Caprivi ernannt, eine Wahl, deren Weisheit dem Kaiser hoch angerechnet werden muß. Herbert Bismarck kommt wahrscheinlich nach Constantinopel, denn, wie das Pößnecker Blatt dazu meint „der Bosporus ist auch eine schöne Gegend.“ Heute war ich beim Zahnarzt, um mir meinen ersten Zahn plombieren zu lassen. Es tat sehr weh. Frl. Mangelsdorf wunderte sich, daß ich nicht wenigstens au schrie. Aber ich genierte mich vor dem Menschen und ballte meine Fäuste, um nicht zu schreien. Wir haben fast Maiwetter, es ist zu heiß zum Spazierengehen, auch hatten wir schon Gewitter. Sonnabend, 30., kam Burkhart freudestrahlend mit herrlicher Zensur als Quintaner nach Hause. Er hat nur 1 und 1 – 2, nicht einmal eine 2. Jörge telegraphierte: Als Zweiter nach Obertertia versetzt. Am Abend kam er mit seinem Freund Lothar Graf Hohenthal, da dessen Geschwister in Berlin Scharlach haben. Er ist sehr begabt, weiß sehr viel, ist ein wenig frech, aber sehr lebendig und natürlich. Den ersten Tag nannte er Sabine, den 2ten mich, den 3ten selbst Margarethe „du“. Er betrachtet uns so als seine älteren Schwestern, daß er sich neulich vor uns umzog und zu Margarethes Schrecken im Unterhösle dasaß. Er schwätzt in einem fort; Jörge ist viel stiller, aber auch tiefer. Palmsonntag hatten wir eine erhebende, herrliche Feier in der Kirche. Anna Albert, Mutters Pathchen wurde konfirmiert. Zum Nachmittagskaffee gingen wir zu Alberts. Es war heiß und langweilig, besonders da wir die anderen Geschwister in der Frische des Haselbergs wußten. Die ersten Tage der Woche vergingen unter Spaziergängen und Vorbereitungen zum heiligen Abendmahl. Es war Gründonnerstagabend, sehr schön und heilig. Der Mond schien friedlich zum Fenster auf uns herein. Auch Miß Lewis ging mit uns, obwohl sie Baptistin ist.

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Spät am Abend kamen Onkel und Tante Erffa.⁴⁴ Sie waren bei Emmy⁴⁵ in Frankfurt gewesen und wollten Ostern wieder daheim sein. Der Onkel ist recht taub geworden, ist aber auch schon 62 Jahre alt. Karfreitag gingen wir in die Kirche und machten nachmittags einen Spaziergang auf den Haselberg, wobei wir uns um Apfelsinen balgten. Sonnabend reisten Onkel und Tante ab; Lothar, Jörge und ich fuhren nach Nimritz, fanden aber niemand, da alle beim Photographen waren. – Wir halfen, 70 Eier zu färben, da die Mutter anderes zu tun hatte. Auch zeichneten Sabine und ich einige Eier; es war schwer, doch brachten wir viel zustande: einen Frosch, einen Ritter, einen Neger, einen Teufel und einen Bauer, der Zahnweh hat. Am Ostersonntag hatten wir ein rechtes Kinderfest. An Jörges 13. Geburtstagsfeier, bei der er sein erstes großes Gewehr erhielt, schloß sich der Gottesdienst an. Mitten ins Essen fielen Fräulein Voigt mit zwei Beustschen Kindern und den Schulzenschen Zwillingen ein. Der Vater war ärgerlich, weil er solche unterbrochene Opferfeste nicht leiden kann. Die Suppe hatten wir ganz ausgegessen, doch vom übrigen war ganz genug für alle da. Nachmittags kamen die kleinen Hahmanns und Ludwig Breitenbauch. Wir machten Spiele bis zum Eierverstecken. Leider mußte die Beustsche Sippschaft gleich nach dem Kaffee fort. Wir anderen unterhielten uns herrlich bis zum Abend. Montagabend kam Graf Hohenthal, um seinen Jungen zu besuchen. Sie scheinen sehr ruhig über Familienverhältnisse zu denken. Der Vater gab Lothar weder bei Ankunft noch Abreise einen Kuß und dem Jungen war es höchst unangenehm, mit auf die Bahn fahren zu müssen. Wir hatten den Besuch von zwei Brautpaaren, nämlich Herr Thalmann mit Else König und Herr Pastor Bünger mit Gretchen Höpfner, Frau Pfarrers Nichte. Das erste Brautpaar war recht schüchtern, das zweite, die Braut wunderhübsch, der Bräutigam klug, und beide sehr angenehm. Dienstag reiste Graf Hohenthal wieder ab. – Abends kamen Frau von Beust mit Joachim und Mia. Letztere ist konfirmiert worden und sprach sehr nett und ernst mit mir über ihre Konfirmation. Wir spielten, wie jetzt alle Tage Schreibspiel, bis sie fortgingen.

44 Eduard Freiherr von Erffa, (1826 – 1897), älterer Bruder von Hildegards Vater mit seiner Frau Bertha, geb. Freiin von Bibra (1836 – 1913). 45 Deren Tochter Emmy (1860 – 1941), verheiratet 1885 mit Dietrich Freiherrn von Speßhardt.

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Freitag mußte der Vater nach Rudolstadt, um für seinen Orden zu danken. Wir gingen zu Fuß nach Nimritz, um Herrn von Beust zum Geburtstage zu gratulieren. Wir sahen ihn mit der Cigarre zum Fenster herauslehnen, doch erschien er nicht. Gewiß hat er wieder einmal dem Vater etwas übel genommen. Wir spielten das hergebrachte „Räuber und Prinzessin“, ruderten auf ihrer Pfütze herum und tranken Bier, das so schlecht war, daß wir es zwei Tage lang im Magen spürten. Dann holten wir den Vater in Jüdewein ab und gingen mit ihm zurück. Sonntag, 13.4. war ein wunderhübscher Tag. Miß Lewis, Margarethe und ich waren zu Elisabeth Ravens Geburtstag eingeladen. In Jüdewein trafen wir Fräulein von Münchhausen, die auch eingeladen war. Sie beschützte uns auf der Hin- und Rückfahrt. Ravens holten uns ab mit ihrer sehr netten Gesellschafterin, Frl. Kertscher. Wir aßen ein Geburtstagsessen mit ekelhaft süßem Maitrank, wobei die alte Frau von Beust eine sinnige, reizende Ansprache an Elisabeth hielt. Wir spielten Rate- und Schreibspiele, bei denen die geistreiche alte Frau von B. die Seele war. Elisabeth hatte einen sehr kleinen Geburtstagstisch, da ihre Geschenke noch nicht alle angekommen waren. Wir fuhren mit einer neuen Lehrerin der Privatschule bis Jüdewein, wo uns der Vater abholte. Montag ging Rudi zum ersten Male in die Privatschule. Er ist in die Vorsexta aufgenommen und stolzer, städtischer Schüler geworden, denn die Privatschule hat der Staat übernommen und in die Bürgerschule verlegt. Sie haben jetzt wunderschöne Schulräume und einen leidlich großen Spielplatz. Nachmittags reisten die beiden Roßlebener ab. Jörge weinte und Hohenthal machte gezwungene, hastige Witze, um seine Rührung zu verbergen. Auch unsere Stunden fingen Dienstag wieder an; doch ist es gerade nicht schlimm damit. Der Vater schoß Donnerstag einen Auerhahn in Friedebach. – Wir machten eine interessante Entdeckung, nämlich, daß unter dem Mörtel der Wände in der Kapelle, Bilder, Sprüche und Widmungen gemalt sind. Wir kratzten und schabten weiter und fanden, daß zwei verschiedene, aber dem Inhalt nach gleiche Malereien und drei verschiedene Schriften und Bordüren übereinander gemalt sind. Der Vater schrieb noch vor seiner am Sonntag erfolgten Abreise an den Altertumsverein der Provinz. Dieser schickte nun letzten Mittwoch den 23ten einen Dr. Schmidt aus Halle, der die Sache in Augenschein nahm und drei Tage bei uns blieb. Die ältesten Malereien, nur in gelb und rot, stellen den Heiligen Martin, den Patron der Kapelle, die Madonna nebst einer anderen Heiligen, und verschiedene Familienbilder dar und stammen aus dem Anfange des 15. Jahrhunderts. Aus späterer Zeit stammen die Nachahmungen derselben Bilder und die Bilder Georgs von Brandenstein mit Frau und vielen Kindern, darunter gut erhalten ein Mönch, ein Kanonikus und eine Jungfrau

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im gelben Kleide. Eine Schrift heißt: Ich kleines Maidlein hieß Barbara Tambs von Hackberg und ward von der Landgräfin aus Hessen, der alten Herzogin aus Thüringen, die geborne von Brandenstein gewest …. geschickt, um mit dieser Jungfrau Margarethe …. doch weiter können wir leider nicht lesen. Wir zeigten Dr. Schmidt die aus dem 11. Jahrhundert stammende Bodelwitzer Kirche und alle unsere Altertümer. Er ist ein äußerst kunstverständiger, weitgereister Mann, spricht neun Sprachen, malt und war fast in jedem europäischen Land, auch in Nord – und Südamerika. Freitag reiste er wieder ab. – Sonnabend gab uns Herr Pfütsch die letzte Stunde und kam Sonntag zu Tisch. Herr Landrat kam einen Augenblick, um uns zu sagen, daß Ilse einen Sohn bekommen habe. Er war glückstrahlend und auch wir freuten uns sehr. Montag wollten die Mutter und ich nach Jena. Aber der Vater schrieb so entzückt von der Blumenausstellung und sehnte sich so nach der Mutter, daß sie sich aufmachte, und mit Retourbillet nach Berlin reiste. Heute erwarten wir sie zurück. Morgen ist der verhängnisvolle 1te Mai, der Tag für den die Socialdemokraten der ganzen Welt arbeiten. Alle Arbeiter in Europa sollen morgen die Arbeit in den Fabriken einstellen, als Beweis, daß sie die Herren der Welt. Man fürchtet, daß Revolution daraus entstehen wird. Wir sind gerade so exponiert zwischen Pößneck und Ranis. Die Maurer in Ranis streikten schon vorgestern. Sie warfen dem Maurermeister Beck die Fenster ein, warfen ihn auf den Boden, rissen ihm den Schlafrock herunter und prügelten ihn. Es ist doch empörend. – Nun Gott nehme uns in seinen gnädigen Schutz; dann kann uns ja nichts geschehen. Der gefürchtete 1. Mai ging vorüber, Gott sei Dank, sang – und klanglos. Die Mutter kam ganz entzückt von der Blumenausstellung zurück, besonders über ca. 100 Azaleenbäumchen in allen Farben, 1 m hoch, aber so breit, daß die Eltern zusammen sie nicht umspannen konnten, große bunte Blütenbälle. Auch prachtvolle Orchideen und schwarze Calla waren da. Die Mutter reiste mit dem Landrat zurück; alles war auf seinem Posten. Erfurt und Thomas saßen mit Amtsmiene und Amtsmütze den ganzen Tag auf der Elsensruh auf der Lauer. Sie waren aber beinahe die einzigen Feiernden. Auf der Altenburg blies ein harmloser Naturfreund Flöte und zwei Jungen zogen eine alte Ofenröhre als Kanone in Pößneck herum. Keine Fabrik stellte die Arbeit ein. – Nicht allein bei uns, nein, in fast allen Ländern war es still. In Frankreich und Amerika gab es ein Krawällchen, ohne viel Bedeutung. Der Vater sprach gegen Windhorst für die evangelische Kirche, später fertigte er Rickert ab, worüber große Freude entstand. Der arme Vater muß Jungfern suchen! Da unsere Elise, Heimweh vorschützend, absegelte. Sonnabend fuhr die

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Mutter mit den Kleinen nach Lausnitz. Seit Sonntag bis Freitag hatte ich rheumatische Schmerzen in den Zähnen, dem Ohr und den Augen. Es war zum Rasendwerden. Ich lief zwei Mal zum Zahnarzt, der aber nicht helfen konnte. Ich wurde so nervös, daß ich keinen Lärm mehr hören konnte. Am Sonnabend machten wir großen Bibliothekssturz; ich kniete in glühender Hitze, um Bücher auszulüften und zu putzen, wodurch meine Schmerzen sich verzogen. Freitag war ich noch zu elend, um wie die Fräuleins und Margarethe und Sabine den großen Spaziergang der Privatschule mitzumachen. Ich blieb mit der Mutter zu Hause und rauchte! zu meiner großen Belustigung. Die anderen machten den Spaziergang über das schöne Hummelshain nach der Leuchtenburg, wo sie, da es zwei Stunden regnete, sich die Zeit mit Tanzen und Spielen vertrieben. Frl. Mangelsdorf machte sich verdienstvoll, indem sie der ganzen Schule zum Tanze aufspielte. Dienstag, 13. Mai. Heute früh ist Miß Lewis nach England zurück. Sie ist trotz aller äußerer Kälte ein liebes, feines, warmfühlendes Mädchen und Margarethe besonders wird sie sehr vermissen. Sie beschenkte uns noch zum Abschied, die Mutter mit „Donnovan“, Sabine mit „St. Winifred“, Frl. Mangelsdorf mit einer Handtasche und die Kleinen mit Photographien von Molle. Margarethe und ich fanden heute Morgen unter unseren Kopfkissen „The young stepmother“⁴⁶ und „Unknown to History“⁴⁷, zwei Bücher, die wir uns sehr gewünscht. Wir hatten die ganze Nacht geschlafen darauf und uns noch über die Härte unserer Kopfkissen geärgert; die Mutter schenkte Miß Lewis einen Ring, worauf steht „Gott schütze Dich“. Heute ist Großvaters Geburtstag; wir erwarten die Großmutter für heute Abend. Die liebe Großmutter ist schon bald zwei Wochen da; wir haben uns recht zusammen eingelebt. Wir lesen ihr abwechselnd vor und gehen mit ihr spazieren. Unser Stundenplan ist jetzt neu geregelt. Margarethe hat fast gar keine Stunden mehr und muß viel im Haushalt helfen. Ich habe sehr wenig Stunden; Geschichte und Geographie mit Sabine; English, Französisch und Wissenschaftliches lese ich allein für mich. Täglich habe ich ungefähr 4 Stunden; ich bin also nicht überlastet. Der Vater kam Sonnabend, 17., von Berlin, muß aber leider wieder nach Pfingsten zurück. Donnerstag hatte Vaters Landwirtschaftlicher Verein in Ranis eine glänzende Tierschau. Herr von Mendel kam von Halle und hielt einen sehr guten Vortrag. Er ist ein sehr gescheiter, lustiger Österreicher. Am Vormittag wurde das Vieh betrachtet und bestimmt. Nachmittags kam, wie der Vater sagte, „das ewig Weibliche“ an. Wir

46 Charlotte Mary Yonge, The young stepmother or a chronicle of mistakes (1865). 47 Charlotte Mary Yonge, Unknown to history, a story of the captivity of Mary of Scotland (1881).

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sahen fast die ganze Nachbarschaft, alle Schulzen und viele Bauern dort. Um vier Uhr war die Preisverteilung. Wir erhielten den Hauptpreis und einen 1. Preis für Rindvieh. Sehr komisch war ein kleiner Zwischenfall. Als eine Herde prämierter Frankenschafe am Vorstandstisch vorbeigetrieben wurde, rannte der Leithammel unter den Tisch, und alle Schafe nach; sie drückten sich zwischen den wohllöblichen Vorstand hinein, der sie mit Mühe wieder einfing. – Nach Beendigung der Feier gingen wir zu Landrats auf die Burg⁴⁸ aßen Kaffee und Plumcake, und sahen uns ein reizendes neuangelegtes Plätzchen an. Breitenbauchs haben den Schloßberg in reizende Anlagen verwandelt. Im kühlen schönen Abend fuhren wir zurück, während der arme Vater im heißen Wirtshaussaal mit irgendeiner Frau Schulzin Polonaise tanzen mußte. Morgen ist das liebe Pfingstfest; da gilt es, Stuben und Herzen vom Staub zu putzen und die Herzen aufzuschließen für Gottes Gnade. Sonnabend, 31. Mai 1890 Pfingsten, das liebliche Fest liegt hinter uns. Ja, der Pfingstsonntag war wirklich lieblich, herrlich. Das prächtigste, heiße Wetter machte es uns möglich, im Garten zu sitzen. Der Vater las eine reizende Novelle, die Freiherrn von Gemperlein,⁴⁹ eine hübsche österreichische Geschichte vor. Später machten wir einen Spaziergang auf den Haselberg. In unserem Park wogten indessen ganze Volksmassen auf und ab, sodaß wir lieber den Garten vermieden. Am zweiten Pfingstfeiertag sagten sich Mohls zu Tisch bei uns an. Herr von Mohl war Gesandter in Amerika, in Ägypten, Zeremonienmeister in Japan und hat sich jetzt bei Neustadt angekauft, leider aber wie die Katze im Sack – ein Gut, das ihnen gar nicht gefällt. Frau von Mohl war so lebendig und angenehm, er aber so müde, daß er ¾ Stunde in Vaters Stube schlief. Das Bubele ist sehr nett, und unterhielt sich herrlich auf dem Hammelschießen im Dorfe, wo ihn die Buben natürlich hinschleppten. Der Nachmittag verlief zu gegenseitigem Wohlgefallen. Dienstag fuhr der Vater mit Burkhart und mir nach Nimritz, um Herrn von Beust zu besänftigen, der ihm, scheint es, etwas übel genommen hatte. Leider war Mia nicht in die Ferien gekommen, sodaß sich Frau von Beust die ganze Zeit mit mir beschäftigen mußte. Joachim, seinen Freund Jagow und 2 junge Hoboms, Söhne des früheren Pfarrers, sahen wir nur eine Viertelstunde, da sie dann fortfuhren. Ich ging dann mit Frau von Beust spazieren, spielte ihr vor und unterhielt mich mit ihr,

48 Familie von Breitenbauch in Ranis. 49 Von Marie von Ebner-Eschenbach.

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bis wir aufbrachen. Vater und Herr von Beust sprachen sich nicht aus, sondern waren ganz friedlich, was mich recht freute. Es hat sich so abgekühlt, daß man nicht mehr draußen sitzen kann. Heute hatte es nur noch fünf Grad Wärme. Vielleicht haben sich die „Gestrengen Herrn“⁵⁰ verspätet. Montag, 9. Juni 1890 Sonntag, 1. Juni feierten wir im Voraus Rudis Geburtstag. Das liebe kleine Kerlchen war seelenvergnügt, besonders über einen Skalp, den ihm Sabine kunstvoll aus Handschuhleder und Pferdehaaren verfertigt hatte. – Montag fuhr die liebe Großmutter fort. Der Mutter erweckte der Abschied traurige Erinnerungen an letztes Jahr, wo der Großvater fortfuhr, um nie mehr zurückzukehren. – Am selben Tag fuhr der Vater noch einmal nach Berlin, ist aber Sonnabend für immer wieder zurückgekehrt. Dienstag kam Frau Generalsuperintendent Trautvetter mit ihrer 14jährigen Tochter Dorothee. Mutter wie Tochter sind sehr angenehm und sympathisch und während die Mütter Gedanken austauschten, schwätzten wir Mädchen, was das Zeug hielt. Donnerstag lag Frau Trautvetter bocksteif im Bett an Migräne, wir gingen mit Dorothee zur Schafwäsche, pflückten Flockenblumen und tranken Dünnbier. Es war sehr heiß, da wir später ein Gewitter hatten; im Walde war es herrlich frisch und erquickten wir uns an Walderdbeeren. Freitag kam Tante Linchen Schlotter⁵¹ mit ihrer Adoptivtochter Frl. Marie Hoffmann und Tante Marie Künßberg. Letztere wird wohl drei Wochen bei uns bleiben; Tante Linchen, Frl. Marie und Trautvetters verließen uns schon Freitagabend. Außerdem hatten wir einmal nachmittags Besuch von Pfarrer Trainer und seiner Marie. Sie ist so nett, so lebendig, daß es uns leid thut, sie nicht näher zu haben. Es wäre eine anregende Freundin für Margarethe.

Sonntag, 15. Juni 1890. Montag ging der Vater zum Fischereiverein nach Rudolstadt. Wir konnten nicht mit, weil wir nichts anzuziehen haben. Die Schneiderinnen lassen uns im Stich, die neue Jungfer kann nichts, sodaß wir ganz abgerissen und schmutzig herumlaufen. Der Vater brachte Frau von Imhoff mit aus Rudolstadt. Sie ist gut befreundet mit Tante

50 Gemeint sind wohl die Eisheiligen. 51 S. Anm. 8.

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Marie und wünschte sie zu besuchen. Während ihres Aufenthalts hier half sie der Mutter, ihre sehr wertvollen alten Spitzen zu ordnen. Eine große venezianische, 9 m lang, taxierte sie auf 1000 M. im Wert. Wir erhielten zwei überaus freudige Nachrichten: Wurmbs in Porstendorf erhielten am 5.d. ein Mädchen, Wurmbs in Lausnitz am 6.d. einen Buben. Das ist doch nett! Rudi ist doch ein rechter Schlingel. Gestern, nachdem er den ganzen Tag getobt und lustig gespielt hatte, fand ihn die Mutter blaß und krank auf dem Sofa liegend. Er wurde zu Bett gebracht, reiste nach Speyer und war bald wieder besser. Auf einmal sagte er: „Mutter, du, Mutter, meinst du, es könnte daher kommen; nur ganz klein war er! Ich habe heute einen Cigarrenstummel vom Vater gefunden; da hab ich ihn angesteckt, bin auf die Dorfstraße gegangen und hab nur ein paar Züge geraucht; da wurde es mir gleich so schrecklich schlecht. Na! Ich rauch! So bald nicht wieder!“ Was haben wir gelacht, der kleine Kerl mit einer schweren Cigarre! Hoffentlich ist es ihm entleidet, nach diesen traurigen Versuchen. Sonntag, 22.6. 1890 Montag reiste Tante Marie ab. Wir machten noch vor dem Abschied schöne Pläne, nämlich, unsere diesjährige Fußtour über Lehesten, Kronach und Wernstein zu machen. Das wäre herrlich! Dienstag machten wir einen unglücklichen Versuch, Königs zu besuchen. Da sie aber auf einer Hochzeit waren, mußten wir, heiß und durstig, wie wir waren, wieder herauflaufen. Mittwoch kam zu unserer Freude Tante Anna Hofacker⁵² mit Eva. Die zwei Tage, die sie blieben, verstrichen wie im Traum. Da es Regenwetter war, saßen wir den ganzen Tag beisammen, arbeiteten und schwätzten. Eva ist zu nett, noch gar nicht so reif und erwachsen, wie ich sie mir dachte. Sie spielte uns vor, wirklich meisterhaft. Durch Professor Barths guten Unterricht hat sie sich recht vervollkommnet. Auch ich spielte vor, aus dummer Angst sehr schlecht; doch meint die Tante, daß ich Talent hätte und mich nicht brauche entmutigen zu lassen. Über unsere, besonders Sabines Zeichenproduktionen, war sie sehr entzückt. – Wir dichteten mit Eva eine Ode zu Hannas Geburtstag, deren Hauptinhalt war, daß sie sich nicht überfressen

52 Anna Hofacker (1836 – 1925), verwitwete Freifrau Schott von Schottenstein, geb. Freiin von Varnbüler von und zu Hemmingen, Schwester von Hildegards Mutter.

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und brav und sittsam sein sollte. Leider reiste unser lieber Besuch Freitagabend wieder ab, da sie Onkel Cäsars⁵³ Ärger fürchteten, wenn sie zu spät kämen. Den Sonnabend, der etwas öde war, benützten wir zum Aufräumen und zu einer Veränderung unseres Zimmers. Es ist jetzt viel netter, und der Flügel, der sonst im Finstern stand, hat jetzt schönes Licht. Dienstag, 1ten Juli Sonntag, 22., als ich zuletzt schrieb, kamen Beusts und Frau Superintendent Thielebein. Burkhart hatte, auf großes Flehen hin, vier Schulkameraden einladen dürfen. Er lief schon den ganzen Vormittag herum, ganz aufgeregt, um alles schön zum Scheibenschießen herzurichten. Seine Freunde waren sehr lustig und nett und unterhielten sich herrlich. Montag war der Vater in Sonnenburg, um mit 120 anderen zum Rechtsritter des Johanniterordens geschlagen zu werden. Die Feier soll ausnehmend feierlich und schön gewesen sein. Da unser Generalsuperintendent am Donnerstag zur Investitur unseres Pfarrers zum Superintendenten und zur Einweihung unserer neu hergerichteten Kapelle kommen wollte, so hatten wir viel zu schmücken. Die Kirche wurde vom Dorf aus geschmückt, sehr reich, da die Gemeinden des Kreises 132 Kränze und viele Guirlanden schickten. Mittwochabend kam der Generalsuperintendent und wurde vom Gesangverein empfangen, worauf er eine kleine Ansprache hielt. Er ist sehr rüstig, braucht nur fünf Stunden Schlaf und ist noch geistig sehr frisch. Donnerstag um neun Uhr riefen die Kapellenglocken mit hellem Klang. Die sämtlichen Geistlichen der Ephorie begaben sich in die Kapelle, in der außerdem nur wir, Landrats, die Pfarrfrauen und unsere Leute sich befanden. Der Generalsuperintendent hielt eine herrliche Ansprache über: Denn der Herr ist in seinem heiligen Tempel; alle Welt sei stille vor ihm. (Hab. 3,20). Was er über das Stillesein vor Gott sagte, gefiel mir am besten.– Die Kapelle ist sehr hübsch. Über dem mit rotem Behang geschmückten Altar wölbt sich ein blauer Himmel mit goldenen Sternen. Das große Fenster haben Bibs und ich mit Diaphanien⁵⁴ beklebt. Die Bänke und Emporen sind braun gebeizt; letztere von sehr schönen geschnitzten Säulen getragen. Die Kapelle soll zu Kindergottesdiensten und Katechisationen benützt werden.

53 Cäsar Hofacker (1831 – 1896), württembergischer Oberlandstallmeister. 54 Transparentbildern.

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Um 10 Uhr war die Investitur über: „Meinen Frieden lasse ich Euch“. Dann folgte eine prachtvolle Begrüßung der Lehrer und darauf eine Konferenz mit den Pfarrern. Bei den letzteren durften wir nicht beiwohnen. – Danach aßen alle Geistlichen bei Albert, alle Pfarrfrauen und die Mutter bei Hahmanns. So waren wir allein den ganzen öden Nachmittag. Abends saßen wir mit den Eltern und dem Generalsuperintendenten im Garten. Er erzählte aus alten Zeiten, als er in Posen und im Haag war. Es war so hübsch und gemütlich! Wir mußten ihm schon am Abend Lebewohl sagen, da er am nächsten Morgen um 5 Uhr aufbrach. Sonntag hielt die Mutter den ersten Kindergottesdienst ab. Erst hatte sie so große Angst, daß sie das Singen vergaß. Dann aber ging es sehr gut vonstatten. Es kamen ca. 30 – 40 Kinder zwischen 6 und 10 Jahren. Sie saßen wie die Schwalben gedrängt, aber wußten recht viel. Wir drei Mädchen bildeten den Sängerchor. Am Nachmittag war Nähschulkaffee. Nachdem alle reizende Blumen gebracht und denselben Glückwunschvers hergeleiert hatten, bekamen sie in der Küche Kaffee und machten dann bis sieben Uhr Spiele. Die Jungens spielten mit großem Eifer mit. Burkhart besonders war Hahn im Korbe. Den Montag war Mutters Geburtstag. Schönes Wetter, viele Blumen und Briefe gestalteten ihn zu einem wunderschönen. Wir feierten ihn wegen der Buben erst um 12 Uhr. Die liebe Mutter erhielt von uns drei Gartenkissen, von den Buben vergoldete und beklebte Töpfchen, außerdem ein Nähnecessaire, einen Sonnenschirm, das „Leben der Gräfin Reden“ und Azaleen. – Am Nachmittag kam Frau von Beust, Gerti und Frl. von Münchhausen. Sie war äußerst liebenswürdig. Margarethe und ich spielten vierhändig vor, Lucrezia Borgia⁵⁵ und Egmont-Ouvertüre.⁵⁶ – Wir begleiteten Beusts bis an die Altenburg. Gerti wollte gar nicht wieder fort und hing sich an Bibs, ihre Schwärmerei. Donnerstag, 3. Juli Gestern war ein anstrengender Tag, eine Doktorfahrt nach Jena. Um 8 Uhr fuhren Mutter, Sabine, Rudi und ich nach Jena mit der Orlamünder Klingelbahn. Zuerst gingen wir zu Professor Seidl, wo die Mutter ihre Lunge untersuchen ließ. Gott sei Dank fand er sie ganz gesund. Nun gingen wir zur Hofrätin Schulz, die wir nicht fanden. Wir wollten in die Privatklinik von Professor Riedel. Kein Mensch wußte den Weg; bis wir nach langem Herumirren und vergeblichem Fragen das Haus gefunden, war es 12 Uhr geworden. Rudis Arm ward untersucht; dann ward Sabine chloroformiert und ihr zwei Zähne ausgerissen. Das Operationszimmer ist ganz von

55 Oper von Donizetti. 56 Von Ludwig van Beethoven.

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grünem Glas; der Kautschuktisch zur Operation, die blanken Messer und Sägen machen einen gräßlichen Eindruck. Rudi und ich saßen während der Operation voll Angst im Wartezimmer mit zwei kranken Männern, die unheimliche Stille, der große Hunger und Langeweile griffen uns so an, daß Rudi ganz blaß wurde und ich heulte. Auch die Mutter durfte beim Chloroformieren nicht dabei sein. Sabine vertrug alles gut, spürte gar keinen Schmerz und wurde gleich nach der Operation in eine Decke gewickelt, von einem Gehülfen die Treppen hinauf gebracht, zu Bett gelegt und von Schwestern gepflegt, während die Mutter und ich zum Ohren – und Nasenprofessor Kessel gingen. Wir mußten lange warten. Ich vertiefte mich solange in Anschauen von Polypen – und Geschwürbildungen, bis es mir ganz übel wurde. Kessel ist ein kluger, aber komischer Mann. Als ich hereinkam, sagte er: „Ist dies der Patient? Sie sehen ja recht leidend aus? Ein gesunder Rotkopf“. Er ließ mich zur Probe riechen, lesen, sah mir in den Hals und verordnete mir ganz einfache Mittel, die meinen Schnupfen bald vertreiben würden. Ehe wir gingen, lehrte er mich noch allerlei, fand mich gelehrig und schüttelte uns zum Abschied beide Hände und klopfte mich väterlich auf den Rücken. Ein kurioser Mann! – Nachdem wir Sabine und Rudile abgeholt hatten, gingen wir zu Frau Hofrätin Schulz und nun begann der nettere Teil unserer Reise. Die liebe, freundliche Frau hatte mit dem Essen bis 3 Uhr auf uns gewartet und war uns durch zwei Kliniken nachgelaufen, leider aber immer verfehlt. Wir tranken Kaffee auf ihrer hübschen Veranda, begrüßten ihre fünf Buben und ihr herziges Mädele, und unterhielten uns sehr gut. Um fünf Uhr ging unser Zug, gerade, als wir auf der Saale gondeln wollten. Das war recht schade! – Wir fuhren zurück mit Frau König und Klara, die auch in Jena gewesen waren. Sonnabend, 5.7. Gestern erwarteten wir Jörge mit dem letzten Zug. Die Eltern waren mit Mag [Margarethe] in Lausnitz und Oppurg und wollten ihn auf dem Rückwege abholen. – Doch kam er schon um 7 Uhr ganz stillchens an. Er hatte diese Veränderung seines Plans erst um 10 Uhr geschrieben. Da konnte es ja nicht mehr ankommen. Er ist gewachsen, aber sehr mager und wie ein Sträfling geschoren. Den 18. Juli 1890 Wir haben schon zwei Wochen Ferien, ohne daß ich geschrieben. Die erste Woche war nichts los als schauderhaftes Regenwetter. Es war elend. Wir malten und kleisterten. Im Übrigen lagen wir herum und sangen: „Ach du lieber Augustin“ mit dem Zusatz: „Raps ist weg, Heu ist weg“. Es war zum Verzweifeln. Am Sonntag endlich hellte es sich auf. Wir hatten einen kurzen, aber sehr interessanten Besuch von Herrn Gössel, dem Magnetiseur und Masseur aus Dresden, der Jörges Augen so merkwürdig geheilt. – Es ist großartig, was Gott diesem Menschen durch das Hellsehen, selbst der Gedanken, für eine Kraft gegeben und daß er dieselbe nicht

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mißbraucht, noch den Größenwahn hat, ist doch vertrauenerweckend. Wenn er einen Menschen bei den Händen nimmt, nicht einmal ansieht, so sieht er den ganzen inneren Körper, jeden Muskel, jeden Nerv, weiß die Gedanken, kann die Zukunft und die Todesstunde des Betreffenden sehen; dabei ist er so magnetisch, daß er bis Königsberg aus der Ferne wirken kann. Ohne einen zu berühren, kann er das Blut aus den Händen z. B. abziehen und in die Fußspitzen lenken. Bei Tisch kann er bei 30 – 40 Personen die Gedanken jedes Einzelnen lesen. Wenn er ins Weinglas sieht, sieht er deutlich die Gegend, in welcher der Wein gewachsen. – Er fand uns alle ganz gesund, gab uns viele Hausmittel, besonders für Rudis Arm, und erzählte uns viel und interessant. Wir hatten Frau Trautvetter zu Herrn Gössel einladen wollen, doch sagte er sich nicht vorher an und blieb nur bis 5 Uhr. Dienstag kam Tity Beulwitz mit ihrem Fräulein Sophie zur Sommerfrische hierher. Den Nachmittag ging der Vater mit Margarethe und mir – die Mutter war krank – nach Arnshaug bei Neustadt zu Mohls. Herr von Mohl holte uns in Neustadt mit den zwei ältesten Kindern ab; der schattenlose Weg nach Arnshaug war entsetzlich. Sie haben ihr Möglichstes und zwar sehr viel getan, sodaß es von innen recht hübsch ist. Wir sahen wundervolle japanische Lacksachen, seidene Kleider, Photographien, Elfenbeinschnitzereien und eine große japanische Puppe. Frau von Mohl war reizend liebenswürdig. Margarethe unterhielt sich lange mit der alten Frau von Mohl, die stocktaub ist, ich mit einer jungen Französin und den vier Kindern: Irene, Hans, Hedwig und Waldemar. Letzterer ist ein herziger Schelm. Wir aßen zu Abend und gingen um 9 zur Bahn, wohin Herr und Frau von Mohl uns begleiteten. – Gestern wollten wir nach Nimritz,⁵⁷ erfuhren aber in Pößneck durch Konrad, daß niemand zu Hause sei. Wir hatten schon Billets genommen, gingen aber unverrichteter Sache wieder zurück. Heute sind Vater, Jörge und Burkhart nach Örlsdorf ⁵⁸ abgereist; Burkhart bekam, da die Lehrer ihn sehr lobten, zwei Tage vor den Ferien frei und war strahlend vor Wonne und Glück. Die Mutter geht morgen mit uns drei Mädchen nach Rudolstadt. Tity und Rudi müssen mit Frl. Sophie haushalten. Donnerstag, 24. Juli Unsere Rudolstädter Tour war sehr gelungen; wir hatten ein feines Plänchen gemacht. Früh um 11 Uhr fuhr die Mutter mit uns 3 Mädchen über Saalfeld nach Rudolstadt, wo uns Frl. Jettina Holleben, Dorothee Trautvetter und deren sehr nette junge Französin Madeleine empfingen. Sabine zog gleich mit letzteren ab, um die 2 Tage in Cumbach zu verbringen. Wir übrigen machten Kommissionen und gingen

57 Schloß der Familie von Beust. 58 Rittergut der Erffa‘schen Familie im Herzogtum Meiningen.

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dann zu Minister Starks, die etwas mit uns verwandt sind. Herr von Stark war sehr lustig und freundlich, sie etwas steif, die beiden Töchter Helene und Elisabeth reizend nett. Sie sind hübsche, frische, gescheite Mädchen, in ganz Rudolstadt beliebt. Wir aßen dort zu Mittag; es war ziemlich umständlich, da der Diener draußen stand, immer geklingelt wurde und der Sohn ewig aufstehen und servieren helfen mußte. Wir gingen dann in den Garten, in das nette Zimmer der Mädchen und schwätzten zusammen. Um 5 Uhr trennten wir uns; die Mutter ging zu Frl. Jettina, um dort zu übernachten und den nächsten Tag nach Cumbach zu gehen. – Margarethe und ich wurden von Starks auf die Bahn gebracht, fuhren aber nicht bis Jüdewein, da es sonst zu spät geworden wäre, sondern nur bis Langenorla. Zwar hatte die Mutter frühere Einladungen, zur Nacht bei den Nachbarn zu bleiben, abgelehnt, weil sie ihre Töchter nicht wie Regenschirme ausleihen will; aber diesmal ward eine Ausnahme gemacht. Die alte Frau von Beust, Ebeth, Mia und Hertha empfingen uns an der Bahn. Alles hatten sie uns herrlich bereitet: Wir hatten Schlaf – und Wohnzimmer und wurden herrlich gefüttert. Wir spielten Quartett, wurden um 10 Uhr zu Bett geschickt. Sonnabend früh weckte uns um 8 Uhr das Klingelbähnchen. Um 9 Uhr kamen wir herunter, fanden aber nur Frau von Beust; die Mädchen lagen noch in den Federn, nach dem Frühstück machten wir einen „kleinen“ Spaziergang nach einer ausgegrabenen Kirche im Walde. Sie ist der letzte, wohlerhaltene Überrest eines im 15. Jahrhundert zerstörten Dorfes. Der Weg erwies sich aber so weit, daß wir erst um 12 Uhr sehr erhitzt zum Essen kamen. Nach Tisch ruhten wir uns aus, wobei ich ein ganzes Buch verschlang. Darauf spielten wir bis sechs Uhr, trafen die Mutter auf der Bahn und fuhren dann nach Haus, wo inzwischen der Vater mit den Buben eingetroffen war. Jörge war glückstrahlend, besonders über ein Bad im Örlsdorfer Teich. Burkhart hatte sich wieder einmal überfressen und wurde weidlich geneckt. Sonntag war die erste Katechisation in der Kapelle. Es kamen wenige, doch war die Ansprache sehr schön und feierlich. Am Abend kam Tante Hildegard⁵⁹ mit Hanna. Letztere ist sehr gewachsen und sieht groß und hübsch aus. Dienstag fuhren die Eltern mit Margarethe nach Porstendorf,⁶⁰ wo sie das jüngste Kind aus der Taufe hob. Die Erbgroßherzogin, die auch Gevatter stand, war sehr freundlich gegen Margarethe.

59 Hildegard Freifrau von Spitzemberg, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen, Schwester von Hildegards Mutter. 60 Schloß der Familie von Wurmb.

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Auch wir verlebten einen lustigen Tag, da die liebe Tante sich uns ganz widmete. Wir tanzten, sangen, lasen und spielten zusammen; auch Schreibspiele wurden gemacht, wobei Burkhart bei berühmten Männern auf J den Jüngling von Nain schrieb. Am Mittwoch kamen die Eltern erst zurück. Samstag war ein reizender Tag. Am Abend kamen die ganzen Altenburger und Buchaer Breitenbauchs, zehn Mann hoch, und da wir unser zwölf waren, so gab das ein schönes Gewühl. An zwei Tischen wurde zu Nacht gegessen und danach auf allseitiges Verlangen Quadrille getanzt. Die Tante spielte über eine Stunde lang. Zuletzt tanzten wir eine Quadrille, bei der sich auch die Verheirateten beteiligten. Um elf Uhr trennten wir uns. Anna ist hübscher geworden; sie sieht so gescheit aus und gefällt mir besser als Gretchen. Melchior und Arthur sind Riesen-Schlackse, aber beide nette angenehme Schlackse. Sonntag, 27. war die Taufe in Lausnitz, zu der die Eltern und Margarethe fuhren. Da die noch nicht Erwachsenen, leider selbst Frieda als richtige Cousine nicht eingeladen waren, so hatten wir sie zu uns gebeten, und zwar Elisabeth und Hertha Raven, Mia Beust, Frieda und Sabinchen Breitenbauch. Ravens mußten schon ungemütlicher Weise um 5 Uhr wieder fort. Elisabeth tat, als ob sie von dem kurzen Weg herauf sterben müßte, legte sich mit einem Buch den geschlagenen Nachmittag in eine Ecke und war ganz ungenießbar. Frieda hatte sich um eine Stunde geirrt und sah Ravens nur noch eine halbe Stunde. Als letztere aber weg waren wurde es sehr nett. Die Tante spielte mit, Schreibspiele, Räuber und Prinzessin etc. Mittwoch 30. Juli Gestern Mittag reiste die liebe, liebe Tante mit Hanna ab. Die Hemminger erwarten sie sehnlichst. Zu meiner Freude hat die gute Tante mich für den Dezember auf vier Wochen zu sich eingeladen. Wenn Margarethe zum Carneval ausgeht, muß ich ja dann zu Haus bleiben. Ich hatte gar keine Entschädigung verlangt, bin aber sehr dankbar und froh. Bis jetzt wird diese Aussicht als großes „Wauwau“ benützt, wenn ich ungeschickt oder faselig bin. Donnerstag den 31. wurde Vaters Geburtstag sehr hübsch gefeiert. Um 9 Uhr zog die ganze Familie/ inclusive Tity Beulwitz und Frl. Sophie in den Wald hinauf; nachdem wir uns an Wurst und kaltem Kaffee gelabt, kamen die Gedichte an die Reihe. Tity war so verlegen, daß sie steckenblieb, wieder anfing, wieder steckenblieb und schließlich das „Angebinde“, ein Tintenwischer in Gestalt eines Schmetterlings dem Vater ins Gesicht schleuderte. Es war zu lächerlich. –

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Wir pflückten zwei Körbe voll Pfiffer⁶¹ und gingen dann zurück. Am Abend stellten wir auf der Veranda Lebende Bilder und führten das Wort „Vater“ auf. Die einzelnen Bilder, bei denen außer 6 Kindern noch Tity und die zwei Hahmanns mitwirkten, waren: Vestalinnen, Araberlager, Traubenernte, Edelfräulein, Rokoko. Am hübschesten soll „Vestalinnen“ und „Rokoko“ ausgesehen haben. Ich war einmal Vestalin und Araberfrau. Zu letzterem Bild wurden wir mit Cacao gebräunt. Der Vater und Pfarrers sahen zu und waren sehr entzückt. Freitags waren wir in Nimritz. Es war Hertha allein da, weil Mia in Ludwigshof war. Wir spielten das übliche Räuber und Prinzessin. Hertha tut sehr erwachsen, aber die Albernheit guckt aus allen Ecken hervor. Übrigens war es recht nett und gemütlich. Sonntag war Margarethe zur Tafel in Hummelshain, um vorgestellt zu werden.⁶² Der Herzog lud sie zum Hofball nach Altenburg ein. Dies war ihr premier pas dans le grand monde. ⁶³ Es ist doch recht nett, eine Schwester zu haben, die ausgeht, besonders wenn es eine ist, die viel erzählt und einem Schokolade vom Nachtisch mitbringt. Die Eltern luden den Herzog auf Donnerstag zum Essen ein. Jörge reiste nach Roßleben ab und nahm Sabine mit bis Porstendorf, wo sie einige Tage bleiben darf. Auch Tity ward von ihrer aus Kissingen kommenden Mutter abgeholt, sodaß es recht leer war. War das am Dienstag und Mittwoch ein Putzen und Reinemachen durchs ganze Haus. Die Eltern dachten, der Herzogsbesuch wäre eine herrliche Gelegenheit zum Herrichten des Hauses, Hofes und Gartens. Auch waren alle Leute von Scheuergeist, Aufräumwut und Reinlichkeitseifer beseelt. Für uns war es schrecklich ungemütlich und ermüdend. Endlich am Donnerstag war alles blitzblank, der Hof und Garten gehackt und gerecht, alles mit Blumen und Blattpflanzen geschmückt. Der Tisch war reizend garniert mit Farnkraut, roten Malven und Kapuzinern. Margarethe und ich hatten weiße Shirtingkleider mit hellblauen Gürteln an. Der Herzog kam eine Viertelstunde zu früh mit einem alten General Scheffler, Herrn von Schulenburg, seinem Hofmarschall, und Herrn von Sydow, seinem Adjutanten. Außerdem kamen H. von Beust, H. von Wurmb und die zwei Herren von Breitenbauch. Da H. von Motz nicht kam, durfte ich mitessen. Das Essen war herrlich gekocht, das Servieren ging schnell und die Herren waren sehr lustig. Der Herzog ging spazieren, sah sich alles an, äußerte aber fast nichts. Er hatte die Absicht, um sechs Uhr wieder fortzufahren, wurde aber

61 Mundartlich für Pilze. 62 Beim Herzog von Sachsen-Altenburg. 63 Erster Schritt in die große Welt.

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daran verhindert durch ein starkes, endloses Gewitter. Der Herzog mußte hier zu Abend essen und wäre beinahe hier zur Nacht geblieben. Erst um halb zehn konnte er fort. Für uns war es sehr lustig; wir spielten mit den Kleinen und Kavalieren Schwarzer Peter und setzten zu aller Ergötzen Herrn von Schulenburg eine Nachtmütze auf. Der Herzog spielte Whist mit einigen anderen Herren. Der alte General heißt in Altenburg mit Spitznamen Karl der Grobe, war hier aber wirklich reizend liebenswürdig. Er spielte uns prachtvoll vor, den Lohengrin. Er hat so viel Kraft und doch solche Weichheit des Spiels, daß es ein Genuß ist, ihn zu hören. H. von Beust ging zuerst fort in hohen Reitstiefeln, Reithosen und Regenmantel von Vater. Da ihm alles zu lang war, sah er äußerst komisch aus. Der ganze Herzogsbesuch war sehr gelungen. Sonnabend, 10.8. kam Onkel Lutz mit Clémence und Hänschen, um uns Sabine wiederzubringen. Der Onkel war sehr aufgeräumt und behaglich, wie seit langer Zeit nicht. Clémence ist ein liebes, sanftes Mädchen. Wenn das arme, kranke Kind nur ihren Eltern noch erhalten bleibt. Sie konnten auch wegen ihr nicht hier übernachten. Wie schade! Die Buben haben sich beide verdorben. Burkhart hat leichten Magen – und Darmkatarrh; bei Rudi scheint es nur Magenverstimmung in Folge von Überfressen zu sein. Heute (Dienstag, 13.8.) ist er wieder aufgestanden. Auch Sabine liegt an Cholerin, die jetzt in der Gegend ist, zu Bett. Freitag machten die Eltern, Margarethe und ich einen genußreichen Ausflug zu Amtsgerichtsrats Müllers. Wir fuhren mit der Bahn nach Saalfeld, nahmen dort einen Wagen und fuhren zunächst vors Landratsamt, wo wir einen kurzen Besuch machten. Dann ging es weiter nach Beulwitz. Dies ist ein hübsches Herrenhaus mit Pachthof und Garten. Es ist eine große Scheune da, die von oben bis unten mit alten, guten Sprüchen bemalt ist. Herr und Frau Müller freuten sich sehr über unseren Besuch und zeigten uns viele schöne alte Sachen. Wir aßen zu Mittag, sahen alles an und gingen dann in den Garten. Er ist recht groß und wohlgepflegt mit hohen Blutbuchen und einem 100jährigen, herrlich blühenden Granatbaum. Alle Plätze und Wege haben Namen; da gibt es z. B. „Hellespont, Tränenheim, Philosophenweg, Poseidons Fichtenhain, Korinths Landesenge, Platz der glücklich und der unglücklich Liebenden etc. Diese Sitte ist ja veraltet, gewährte uns aber viel Spaß. Wir tranken Kaffee und unterhielten uns bis 8 Uhr, wo wir zur Bahn fahren mußten. Ich habe mich bei diesen alten, gescheiten Leuten viel besser unterhalten als z. B. in Nimritz mit Altersgenossen, die nur von Quatsch und Kleidern reden wollen.

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Sonnabend, 16.8. kamen Dorothee Trautvetter mit ihrer Französin Mlle Madeleine. Dieser Besuch war schon seit langem geplant und waren wir sehr erfreut, daß sie drei Tage bleiben durften. Heute, Mittwoch, 20.8. haben wir sie zur Bahn gebracht. Da diese letzten Tage sehr heiß waren, so leisteten wir wenig; wir lasen, spielten Kegel und gingen einmal nach Ludwigshof. Gestern kam Frieda herüber. Dorothee und Frieda sind beide so nette Mädchen. Ich weiß nicht, welche ich lieber habe. Dorothee ist ernster und tiefer, aber mit Frieda, die lebendig und lustig ist, kann man sich so gut unterhalten. Sie will, daß wir ihr schreiben sollen und wir sind ganz einverstanden. Mittwoch, 27.8. Seit einer Woche sind die Ferien zu Ende und das süße Bummelleben hat nun ein Ende. Doch empfanden wir den Unterschied keineswegs schmerzlich, wir haben ja wenig Stunden und die jetzigen geordneten Verhältnisse sind ganz angenehm. Fräulein Mangelsdorf kam mit wunderschönem Ratelier zurück und versüßte uns den Stundenanfang durch Mitbringerles und Schokolade. Sie schenkte mir eine kleine Bismarckbüste und das Bismarckbüchlein, das ich mir schon lange gewünscht. Wir freuen uns, Frl. Mangelsdorf wieder unter uns zu haben, denn, da sie nun sechs Jahre bei uns war, so gehört sie ganz zur Familie. Letzte Woche waren wir in Ludwigshof, um Frieda noch einmal zu sehen. Sie ist ein zu liebes, lustiges Ding. Sabine, sie und ich spielten zwei Stunden im Dunkeln Haschemann und machten aus, daß wir nächstes Jahr noch keine Damen sein wollten und unser ganzes Leben lang dies Spiel noch manchmal spielen. Das letzte will ich nicht versprechen. Ich glaube aber auch, daß Sabine und Frieda mit 60 Jahren nicht mehr toben. Sonntag machten wir einen herrlichen Waldspaziergang en famille und kehrten mit Pfiffern reichbeladen zurück. Dienstag waren die Eltern in Neustadt zu Tafel bei Erbgroßherzogs und begleiteten sie noch in ein Dilettantenkonzert, sodaß sie erst um halb eins heimkehrten. Die Mutter holte sich dabei einen tollen Schnupfen und liegt heut zu Bett. Ich habe jetzt ein sehr interessantes Buch gelesen: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000. Es ist ein ideales Zukunftsgemälde, nur scheinen die Menschen unserer Zeit nicht reif dafür. Könnte ich aber in einer Welt wie die in diesem Buch beschriebene, leben, ich wollte es lieber heute als morgen.– Jetzt lese ich „Olle Kamellen“ von Reuter und nun ich mich in das Plattdeutsch gefunden, bin ich ganz entzückt über diese treuen, wahren, volkstümlichen Schilderungen eines kernigen, deutschen Volksstamms. Nebenbei lese ich Moltke und W.

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Müller und erfreue mich jedesmal an den geistvollen, heiteren Berichten des großen Schweigers. Den 2. September hatten wir eine sehr nette Sedanfeier.⁶⁴ Wir gingen nämlich mit der Privatschule am Nachmittag in den Vereinsgarten, wo Musikaufführungen, Deklamationen und drei allegorische Aufführungen in Kostüm stattfanden. Zwischenhinein trank man Kaffee, ging auf und ab und unterhielt sich. Beusts, Breitenbauch und viele Bekannte trafen wir dort. Frl. Latendorf war pikiert, daß Margarethe sich nicht länger mit ihr abgab, nannte sie stolz und hochmütig, sodaß wir uns recht ärgerten über sie. Erst gegen Abend zogen wir nach Hause und sahen auf allen Bergen die Freudenfeuer leuchten. Ich fände es schöner, wenn man den Gedenktag einer Schlacht, z. B. den 1. September feierte. Die Gefangennahme des Kaisers war ja nicht entscheidend oder endend für den Krieg, und über die Demütigung eines gestürzten Kaisers so zu triumphieren, finde ich nicht schön. Ich finde Napoleons Gefangennahme mehr Mitleid erregend. Mittwoch und Donnerstag verbrachten die Mutter, Margarethe und ich im lieben Pfarrhaus in Dittersdorf. Onkel Schlotter ließ uns in Neustadt abholen, sodaß wir etwa um 2 Uhr dort ankamen. Wir hatten so viel zu sprechen über Gössel,⁶⁵ über Berlin und nächsten Winter, über Kapellenweihe und Funke, daß es Mitternacht wurde und der Nachtwächter bedenklich unter den Fenstern tutete, bis wir zu Bett gingen. Den nächsten Morgen liefen Margarethe und ich in Garten und Feld umher, erkletterten eine durch eine Windhose entwurzelte, 4 ½ m im Umfang messende Buche, und halfen dann Frl. Mariechen beim Kochen. Wir hatten uns vierhändige Stücke mitgenommen und erfreuten den Onkel durch Musik. Wir wunderten und freuten uns, daß der Onkel Herrn Gössels Heilkraft nicht mißtraut oder sie gar für Sünde hält. Am Freitag fuhren wir fort. Es war solch ein schöner Besuch, solch ungetrübtes Zusammensein mit guten, lieben Menschen in der Friedensatmosphäre eines christlichen, gottesfürchtigen Pfarrhauses, sodaß es unmöglich war, nicht etwas Bleibendes von dieser Zeit mit hinweg zu nehmen. Sonnabend waren Frau von Mohl und ihre herzige Kinderschar da, um Abschied zu nehmen, da sie zu Michaelis nach Berlin ziehen. Im Gegensatz zu dieser bewegten Woche war die folgende recht ruhig. Das Hauptereignis war die Taufe der kleinen Charlotte in Schlettwein,⁶⁶ zu welcher die

64 Jahrestag der Schlacht von Sedan. 65 Heilmagnetiseur aus Dresden. 66 Das Rittergut in Schlettwein war im Besitz der bürgerlichen Familie Schroth.

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Eltern mit Margarethe fuhren. Es war netter, als sie gedacht hatten. Zwar bildeten die Eltern die Tischdekorationen, wie der Vater schon vorher vermutete, zwar war die Taufrede entsetzlich schwach und der Pastor überhaupt ein Bauer, so kamen sie doch ganz vergnügt zurück, mit Blumen und Bonbons beladen. Endlich, endlich ist der letzte Erntewagen drin. Gott sei Dank, so können wir sagen, denn die Ernte ist doch nicht so schlimm, wie man gedacht und die Armen brauchen nicht zu hungern diesen Winter. Mittwoch, der 17. September Vorgestern ist die Mutter mit Margarethe abgereist. Sie haben Rundreisebillet über Wernstein, München, Kreuth und Ahorn und werden wohl 14 Tage ausbleiben. Margarethe freute sich hauptsächlich auf München und auf die Wagenfahrt nach Kreuth in den bayerischen Alpen, den ganzen Tegernsee entlang. Es muß herrlich sein. Morgen reist der Vater zur Jagd nach Örlsdorf, bis dahin haben wir den Haushalt zusammen geführt und bestellten immer Vaters Lieblingsspeisen. Frieda Breitenbauch schrieb gestern zum ersten Male, einen gelungenen Brief, sie schreibt so natürlich, daß man glaubt, sie schwätzte mit uns. Mitten im Brief kommt auf einmal: Ich Schaf! Oder: Ach du meine Zeit! Etc. pp. u.s.w. Dienstag, 30. September 1890 Letzten Sonnabend kamen die Mutter, Margarethe und Jörge zurück, sodaß die ganze Familie vereint war. Ich freute mich so auf Mutters Ankunft wie noch fast nie. Denn wenn wir uns hier auch nicht langweilten, so war doch Frl. Mangelsdorf, durch Verantwortung gedrückt, höchst krittlich – gelinde gesagt -, zankte in einem fort auf Sabine und Rudi, verstieg sich sogar zu einigen Maulschellen, und verbitterte uns das Leben. Burkhart war sehr nett und verständig und mir eine große Stütze. Wir zwei besänftigten Frl. Mangelsdorf, die übrigens seit letzter Woche wieder reizend zu uns ist. Sonntag, 21.9. fuhren wir nach Ziegenrück, besuchten Amma, machten einen Spaziergang nach der Waldkanzel und tranken dann einen guten Kaffee. Alsdann lagerten wir uns auf in die Saale ragenden Felsen und schauten in die Wellen. Ich weiß nicht, warum mir Wasser so wohl tut. Einen See oder Fluß zu sehen, ist mir eine wonnige Erquickung, und da ich in nächster Umgebung diese nicht haben kann, so liebe ich sie doppelt. Frl. Mangelsdorf ließ sich erbitten, Kahn mit uns zu fahren und so genossen wir auch dies herrliche Vergnügen eine Stunde lang. Es war der alten Amma und Rudis erste Wasserfahrt, die beide höchst entzückte. – Jetzt sind Michaelisferien, doch feiern nur die Buben. Die Mutter erfreute uns durch Mitbringerles, mich durch einen Sonnenschirm und eine Photographie des Münchener Kindels. Mutters Reise war durch das Wetter begünstigt und wäre auch ganz gelungen, wenn nicht ein dunkler Schatten auf die Freude fiele. Es ist in unserer Familie etwas

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sehr Trauriges vorgefallen. Gotthard Erffa,⁶⁷ der schon zwei Wahnsinnsanfälle hatte, aber als geheilt betrachtet wurde, hatte sich nach glücklichem Assessorexamen mit Illa Künßberg⁶⁸ verlobt. Das anhaltende Arbeiten und die Gemütsaufregung verursachten nach nur zwei Tagen einen neuen Anfall und gerade, als die Mutter mit Margarethe in Ahorn war, kam die Schreckensnachricht und der Patient ward von seiner Mutter geholt. Die armen Eltern und die arme junge 18jährige Braut tun mir zu leid. An eine Heirat ist jetzt nicht zu denken, da Gotthard in Lebensgefahr ist und die Eltern Künßberg ihre Tochter keinem geisteskranken, wenn auch sonst vorzüglichen Menschen geben können. Wenn Gott nicht hilft und eingreift, so kann es zu traurigen Komplikationen kommen. Wir erhalten täglich Nachricht und fürchten bei jedem Klingelton, daß ein Telegramm kommt. Die Mutter war den armen Ahornern ein rechter Trost. Sie sprach Gotthard und fand ihn sehr matt und schwach, aber klar und nicht aufgeregt, doch geht dem Tobsuchtsanfall meistens Schwäche voran. 19. Oktober Seit wie lange habe ich nicht geschrieben? Ich muß mich wirklich schämen. Doch nun muß ich nachholen mit Hülfe von Mutters Diarium. Sonntag, 5.9. hatten wir den Besuch von Schimmelschmidts mit Elfriede. Sie ist durch die Pension ganz zivilisiert worden und war recht nett und fröhlich. Montag kam unser Vetter Siegmund Stein⁶⁹ mit seiner jungen Frau,⁷⁰ einer Wienerin, die er uns vorstellen wollte. Sie ist groß, blond und hübsch, reizend nett, frisch und liebenswürdig. – Ehe sie kam, besprachen wir großartig, ob sie der Vater Sie oder Du nennen sollte; doch als sie ankam, löste sie sofort die Frage, indem sie uns alle sechs, darauf selbst den Vater abküßte und Du nannte. Das hätte eine steife Norddeutsche nie gethan und doch ist es so natürlich und herzlich. Siegmund ist auch sehr lustig und neckt sie in einem fort. Sie nennen sich Miberling und Siberling und lachen zusammen wie glückliche Kinder. Am Mittwoch verließen sie uns wieder; sie kamen von Wien, hatten Rundreisebillets, da sie dieselben aber nicht zu gleicher Zeit genommen hatten, verschiedene, sodaß er über Linz und sie über Gmunden reisen mußten. Ein Glück, daß dies nicht auf der Hochzeitsreise passierte.

67 Gotthard Hartmann von Erffa, (1862 – 1910), später Königl. preuß. Landgerichtsrat in Naumburg, litt an damals noch unerkanntem Diabetes. 68 Mathilde von Künßberg (1872 – 1925), das Paar heiratete 1896. 69 Siegmund Freiherr Stein von Nord- und Ostheim (1860 – 1922). 70 Maria Freifrau Stein von Nord- und Ostheim, geb. Freiin von Döpfner (1867– 1931).

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Freitag kamen Schulenburgs auf einen Tag von Hummelshain herüber mit ihrer 14jährigen Ebba. Sie ist sehr wenig hübsch, scheint aber gescheit und angenehm. Sie lehrte uns ein neues Schreibspiel, welches sofort mit Begeisterung gespielt wurde. Sonntag, 12.9. war ein glänzender Abschluß der Michaelisferien und Vorfeier von Burkharts Geburtstag. Ich hatte ihm eine Friedenspfeife geschnitzt und eingebrannt. Nachmittags hatte er Freunde eingeladen und spielte mit ihnen Fußball, Wettrennen mit Hindernissen und eine Art Topfschlagen ohne Topf. Am Abend führten wir den Freischütz auf dem Puppentheater auf. Ich hatte elendes Kopfweh, doch mußte ich mitspielen. Die Szene von der Wolfsschlucht gelang herrlich. In der Mitte ein Zauberkreis von Totenschädeln um einen brennenden Kessel, am Himmel eine Geisterbeschwörung, die wilde Jagd, dazu Blitz, Donner, Sturmesheulen, Geisteswimmern und bengalisches Licht, das war genug, um unsere Zuhörer zu begeistern und gruseln zu machen. (Der Donner wurde durch Kullern von Bocciakugeln hervorgebracht.) Montag brachten wir Jörge auf die Bahn. Obwohl er nie etwas von Gefühl äußert, immer schweigsam und zurückhaltend ist, so wird ihm der Abschied doch immer schwer. Der gute Kerl, wenn er nur mehr schriebe! Sonst fiel nichts vor, als ein Diner mit Bülows und Schmidts und ein Besuch von Herrn von Henning. Ich erinnerte mir ihn gar nicht mehr, doch gefällt er mir sehr. Sonntag, 2. November Wieder sind zwei Wochen vergangen, und nur noch eine Woche, dann dampfe ich mit dem Vater nach Berlin. In dieser einen Woche muß noch viel geschafft werden, sowohl Weihnachtsarbeiten, als meine Toilette in Stand zu setzen. Ich bekam zwei sehr hübsche Kleider von der Souci, Margarethe ihre erste ausgeschnittene Taille und zwei sehr schlecht sitzende wollene Kleider. Die Mutter war sehr deprimiert und hat ganz den Mut verloren, um die besseren Kleider dort machen zu lassen. An Weihnachtsarbeiten machte ich einen einfachen Arbeitsbeutel für die Großmutter, einen gemalten Brotteller für Edda, einen gemalten und gebrannten Arbeitsbeutel für Tante Marie und eine Briefmappe für Tante Higa. Doch komme ich jetzt recht in die Hetze, namentlich mit Armensachen. Sonnabend, 26.10. kam unsere Cousine Marie Künßberg und blieb acht Tage. Sie ist reizend nett, hat Interesse für alles, für Zeichnungen und Singen, für Haushaltungs – und Toilettensorgen. Wir machten viele Spaziergänge mit ihr, auf die Altenburg, den Limberg und einmal nach Ranis. Marie war entzückt über das prachtvolle Schloß und den Schloßberg, auf dem uns der riesengroße Hans herumführte und sich sehr freundlich mit uns unterhielt. Marie tat es so wohl, nach Herzenslust lachen und fröhlich sein zu können, denn in Wernstein macht sie Illa und ihre

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unglückliche Verlobung zu traurig. Von Gotthard laufen immer noch nicht bessere Nachrichten ein. Am Mittwoch kam Karl Künßberg, blieb einige Tage und reiste gestern mit seiner Schwester zurück nach Wernstein. Einmal hatten wir ein kleines Diner, wozu Dediés und Wurmbs mit Lothar eingeladen waren. Letzterer ist noch kein blasierter Herr, sondern ein natürlicher, frischer Junge. Wir spielten mit ihm Blindekuh, Schreibspiel und aßen dann Äpfel im Tagelohn. Mit uns war er ganz natürlich, aber mit Marie sprach er so respektvoll, als wenn er einen Vorgesetzten vor sich habe. Einmal, als wir am Abend sangen, kam Sabines Zopf ans Licht und fing lichterloh an, zu brennen, ohne daß wir es bemerkten. Mit einem Mal sprang zu unserem Entsetzen Karl auf Sabine zu, als ob er sie fressen wollte, und drückte glücklich die Flammen aus. Es ist nur wenig Haar verbrannt. Die Mutter erlebte eine große Freude und Überraschung. Die liebe Großmutter hat nämlich ihren Brautschmuck geteilt und jeder ihrer drei Töchter ein Geschmeide daraus machen lassen. Die Mutter erhielt eine Halskette, mit Anhänger, Brosche und Nadel von Brillanten und Perlen. Als ihr der Vater den Schmuck auf das Bett schob, war sie zuerst wie erstarrt vor Schrecken, dann aber fing sie an zu weinen. Wir hatten eher einen lauten Freudenausbruch erwartet und waren ganz versteinert. Doch war die Mutter erkältet und nervös, sodaß die Rührung sie übermannte. 8. November 1890 Alles liegt schon zum Packen bereit, denn morgen, hurrah! Geht es nach Berlin. Ich bin wohl ausgerüstet mit drei Kleidern und guten Ermahnungen. Heute Abend kommen Pfarrers und Herr Löffler, der mit der Mutter Rudis Stunden in Dresden besprechen soll. Wir hatten in dieser Woche Besuch von dem „silbernen Wilhelm“ Baumbach und ein kleines Jagdessen mit Breitenbauchs. Auf einen Tag kam auch Frau Trautvetter, kurz, es war eine bewegte Woche. Berlin, 11.11.90 Es kommt mir noch wie ein Traum vor, daß ich hier am Schreibtisch in Lothars Stube sitze, Hanna nebenan üben höre und der Wagenlärm der Potsdamer Straße zu mir heraufdringt. Doch will ich der Reihe nach erzählen. Der Vater und ich fuhren also um 5 Uhr fort, stiegen in ein überheiztes Coupé, worin ein ganz höflicher Bayer saß. Bald stieg ein streitendes altes Ehepaar und eine sehr geschwätzige junge Frau ein, die von einer eben verheirateten Schwester und deren Mann begleitet wurde. Sie fühlte sich nun verpflichtet, diesem jungen Paar Verhaltensmaßregeln zu geben und flötete zum Fenster heraus: „Oskar, du weißt ja, was mir am Herzen liegt“ etc. In Weißenfels erfuhren wir, daß wir schon zwei Stunden

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früher ankämen und schrieben auf eine Visitenkarte ein Telegramm an die Tante. So wurde ich richtig von Lothar empfangen und hierher gebracht. Nachdem wir noch eine Flasche Bier geleert, gingen wir todmüde zu Bett. Mir war es doch ein bißchen bedrückt zu Mut, ob ich alle Ermahnungen befolgen würde, und wie es gehen würde; doch betete ich und schlief bald ein. Gestern, der 10.11., war schon ein sehr lustiger Tag. Am Vormittag schrieb ich eine Karte an die Mutter, packte aus und freundete mich mit Frl. Günzel an. Nach dem Gabelfrühstück gingen wir zu Frau von Moser, die den Abend vorher angekommen. Sie saß steinunglücklich in einem noch verhüllten Salon, und bemitleidete sich und ihren Hund, mit dem sie einen wahren Kultus treibt. Zuletzt kam auch Herr von Moser und sprach sehr freundlich mit mir. Danach sahen wir das neue Lessingdenkmal an, zu gleicher Zeit der alte Prinz Georg, der mit der Tante sprach. Während Hanna mit Frl. Günzel herein mußte, ging ich noch mit der Tante zu Bonwitt, Mme Petrus und zur Corsettmacherin. Wir begegneten Rauchs, Webers und Günther Jagow, und hörten von Ersterem, daß Renata Harrach sehr krank sei. Die armen Harrachs sind nun, nachdem sie vier Kinder verloren, so ängstlich, daß sie das Schlimmste fürchten. Hoffentlich wird es bald besser mit dem armen Kind. Dienstag, 11.11., kam ich zu spät zum Frühstück, was mir recht unangenehm war; doch hatte mich das Mädchen zu leise geweckt; so war ich unschuldig daran. Wir sahen uns in der Nationalgalerie Einzelausstellungen von Genz und Steffeck an. Letzterer hat wunderschöne Pferde und einige gute Portraits; der andere hat fast nur ägyptische Vorbilder. Landschaften in Öl sind wundervoll, in Blei sehr mäßig. Sein Haupttalent scheint mir Figur und Köpfe. Am besten gefiel mir ein auf Pergament gemaltes Bild „Mirjam an der Quelle“. Nachher sahen wir Bilder von Bendemann. Den Dienstag kommen meistens Studenten und Lothars Freunde zur Tante. Gestern kamen zum Essen Raoul Richter und Oleg Herman.⁷¹ Wir unterhielten uns herrlich und spielten das neue Schreibspiel von Herrn von Schulenburg. Als wir im tollsten Lachen waren, kam Prinz Arenberg und blieb bis halb zwölf. Die jungen Leute gingen bald fort und die Tante las uns aus „Pinchens Brautfahrt“ von Stinde vor, bis wir vor Lachen fast unter dem Tische lagen. Mosers machen jetzt ihre ersten Besuche. Wir sahen sie in schöner Toilette und mit eleganter Mietequipage vor Böttcher halten.

71 Oleg Freiherr von Herman.

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Mittwoch sahen wir uns die Ehrengeschenke Moltkes an; die Vase vom König von Sachsen finde ich geschmacklos, die Sachen bis auf einige schöne, recht wenig hübsch. – Viel interessanter war mir das ethnographische Museum, in welches wir nachher gingen. Wir hielten uns hauptsächlich an Japan und China, wo es schönere Sachen gibt, als bei den uncivilisierten Völkern. Am Abend gingen wir zum ersten Male ins Concert, und zwar in die Philharmonie, wo Barth mit Orchester spielte. Am Besten gefiel mir die Tannhäuser-und Medeaouvertüre und ein Concertstück von Weber. Hanna war auch mit, da sie Geschmack an Musik bekommen soll, beschäftigte sich aber mehr mit Bayern in unserer Loge, die ein Kind von 2 – 3 Jahren mit hatten. Dies Wurm hatte schon einen Ring und trank zu unserem Gaudium ein ganzes Seidel Bier. Als wir zurückkamen, trafen wir den Vater und Lothar bei der Tante und labten uns an Bier und Butterbrot. Donnerstag, 13.11. machte ich Besorgungen mit der Tante und kam in allerlei schöne Läden. Unter anderem gingen wir zu Madame Petrus, wo wir prachtvolle Kleider für die Hochzeit der Prinzeß Viktoria⁷² sahen; besonders die Kleidchen für die kleinen Edinburghs⁷³ waren reizend: rosa, weiß und hellblau. Um 7 Uhr holte uns Oleg in die Urania ab. Zuerst besahen wir die Instrumente und setzten die Maschinen in Gang, dann gingen wir ins Theater.Von einer Tribüne hielt ein Herr einen Vortrag über die Werke des Wassers und erklärte die dazu passenden Landschaften, die hinter dem Vorhang erschienen. Es waren dies: die erratischen Blöcke bei Rüdersdorf, die Herrmannshöhle, der Brocken, Rügen, die Lofoten, Island, Helgoland, Jan Mayen und der Nordpol. Der Vortrag war sehr populär, der Redner sprach affektiert und mit übertriebenem Pathos. Oleg erklärte uns alles herrlich und war sehr nett gegen uns. Freitag erhielt die Tante eine Einladung zur Gala-Oper und hatte infolgedessen viel Besorgungen zu machen, wobei Hanna und ich sie begleiten durften. Am Abend hatte die Tante ein großes Diner, wozu der Vater kam. Er las mir zwei Sätze aus einem Brief von der Mutter vor und sagte mir Adieu, da er morgen auf drei Tage nach Wernburg geht. – Wir durften nicht mitessen und gingen in ein Konzert in der Philharmonie, gegeben von Barth (Klavier), Hausmann (Cello) und de Ahna (Violine). Es war wundervoll, das Konzert von vorgestern war nichts dagegen. Entzückend

72 Viktoria Prinzessin von Preußen, (1866 – 1929) genannt Moretta, war die zweite Tochter des Kronprinzen Friedrich und seiner Frau Viktoria, spätere Kaiserin Friedrich. Kaiser Wilhelm I. und Bismarck verlangten von ihr eine Auflösung des Verlöbnisses mit Alexander Battenberg, sie heiratete im November 1890 Fürst Adolph von Schaumburg-Lippe. 73 Die Töchter von Viktorias Onkel Alfred Duke of Edinburgh, dem späteren Herzog von SachsenCoburg und Gotha.

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war das es-moll Quartett von Schumann und das Trio c-moll von Mendelssohn; zuerst das Cello so tief und voll, dann die Violine ganz leise und das Klavier hell und weich; es war einzig. Ich war, wie man bei uns sagt, „weg“. Am Sonnabendvormittag brachten wir Hanna ins Lyceum und sahen uns während zwei Stunden im Kunstgewerbemuseum mit Genuß und Interesse um. Ich traf auch Emy Roth; sie kam am selben Tag wie ich hier an und ist zu meinem großen Trost noch ein ganzes Stück kleiner wie ich. Ich war mit der Tante zu Bonwitt und während sie anprobierte, fand ich in der Zeitung, daß man Billette in die Bildergalerie zum Ansehen des Hochzeitszuges erlangen könnte. Sofort fuhren wir ins Hofmarschallamt, fanden alle Billets vergeben. Doch schrieb die Tante an den Grafen Pückler und bekam zwei Billette. Morgen also werden Frl. Günzel und ich hingehen; natürlich sind wir glücklich. Hanna und ich machten ganz allein einen Besuch bei Mohls. Wir wurden als Frl. von Erfeld gemeldet und mußten eine Weile warten; Frau von Mohl war herzlich und nett, die Kinder herzig und er langweilig und dumm wie immer. Er fragte mich, ob der Kletterwein im Winter abfiel oder grün bliebe, machte Andeutungen, daß die Kaiserin ein Kind erwartet und ärgerte mich. Wir mußten uns mit zum Frühstück setzen, er führte mich und Hanna trottete hinterdrein. – Am Nachmittag nahm ich teil an der Handarbeitsstunde von Hanna und Else Weber; sie fingen ein Nähtuch an und stellten sich ziemlich ungeschickt an. – Die Tante aß bei Delbrücks, kam aber um 10 Uhr wieder, wo sie der Prinz besuchte. Sonntag, 16.11. gingen wir nicht zur Kirche, weil niemand Gescheites predigte. – Zum Essen kam Herr von Usedom, Klaus, Tante und Onkel Below. Der Onkel erstaunte sich über mein Wachstum, er war sehr aufgeräumt und heiter, sodaß wir das Essen über gar nicht aus dem Lachen kamen. – Nach Tisch kam Ellen Lucius, um Hanna noch zu sehen, ehe sie für immer nach Ballhausen gehen. Es wird hier bedauert, daß Lucius⁷⁴ den Abschied erhalten. Am Abend kamen wieder Belows mit Claus und Mosers. Wir Jungen hörten sehr andächtig zu, wie die Alten über Politik sprachen und unterhielten uns dabei ganz gut. Montag mußte Hanna schon um zwei Uhr mit den Stunden anfangen. Deshalb ging ich zu Emy Roth. Sie war sehr nett und machte mir gar keinen so eingebildeten Eindruck mehr wie früher. Ich ging mit ihr und einer reizenden schweizer-ameri-

74 Robert Freiherr Lucius von Ballhausen (1835 – 1914), von 1879 – 1890 preußischer Landwirtschaftsminister.

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kanischen Dame um den neuen See spazieren. Dann tranken wir Tee und schwätzten zusammen. Emy wünscht brennend, in die Bildergalerie zu gehen, ist aber zu demokratisch, um den befohlenen kleinen Gesellschaftsanzug anzuziehen. Die alte Republikanerin! Dienstag, 18.11. Gestern war die große Galaoper, wozu die Tante eingeladen war. Sie hatte ein weißes Atlaskleid, mit hellblau garniert, ihre neue Diamantenriviera⁷⁵ und einen neuen roten Abendmantel. Sie sah pompös aus, wie eine Königin. Lothar, Frl. Günzel und ich erwarteten sie. Um 11 Uhr befiel uns solcher Heißhunger, daß wir in der Speisekammer räuberten und ein nächtliches Gelage in der Küche hielten. – Die Braut soll sehr gelangweilt ausgesehen haben; sie hat vom dritten Tag an ihre Verlobung bereut und ist unausstehlich mockig gegen jedermann. Auch ist sie schlecht angezogen und zeigt ihre Abneigung gegen ihn öffentlich, indem sie nie mit ihm tanzt, ihm den Rücken dreht etc. Dienstag waren Hanna und ich bei Bethmanns zum Essen eingeladen. Ich sah Dora nur einen Augenblick, doch lang genug, um zu sehen, daß sie eine Schönheit ist, groß, schlank und graziös. Sie war mit ihrer Mutter eingeladen, so aßen wir mit Freda, der lustigen Fräulein Philippi und den zwei Cousinen Stolberg zusammen. Die jüngere, Armgard, ist sehr groß, die ältere, Marie-Lenore ist taubstumm, entzückend hübsch und lieblich und spricht schon ziemlich verständlich Deutsch und Französisch. Nach dem Essen machten wir Schreibspiele bis halb neun, wo wir nach Hause fuhren. Hier fanden wir Oleg, Ompedas, Graf Seckendorf und Graf Lerchenfeld. Der Mittwoch war der große Hochzeitstag. Am Vormittag mußte ich zu Harrachs und Frau Richter, um etwas auszurichten. Die Gräfin war noch nicht auf, ich wurde nicht gemeldet und mußte eine Stunde lang wohl warten, bis eine Kinderfrau sich meiner erbarmte. Zu Tisch kam der Vater und brachte mir viel Grüße von allen Lieben daheim. Wir warfen uns in Toilette. Ich zog mein hellblaues Kleid an und steckte rotbraune Chrysanthemen ins Haar. Frl. Günzels Anzug war aus alten Sachen der Tante zusammengestückelt. Mit Friedrich auf dem Bock fuhren wir glückstrahlend ins Schloß, gelangten unter furchtbarem Gedränge in die Bildergalerie und glücklich in die erste Reihe. Hier standen wir nun 3 ½ Stunden. Gegen

75 Ein Schmuckstück, beispielsweise ein Armband oder ein Collier, bei dem sich die verarbeiteten Farbsteine oder Diamanten dicht an dicht nebeneinander reihen und somit an einen funkelnden Fluss (franz. rivière) aus Edelsteinen erinnern.

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Abend wurde ein Seil gespannt und nur eine schmale Gasse freigelassen. Durch diese Lästerallee passierten nun alle Botschafter, deutschen Gesandten und Eingeladenen. Es gab wenig schöne Frauen, oft waren auch die Toiletten alt und schlampig. Sehr hübsch waren Gräfin Hohenthal, Frau von Bethmann, Frau von Moser und Frl. von Rauch. Um fünf Uhr kam der Hochzeitszug glänzend von Seide, herrlichem Damast, Pelz und Schmuck, die Braut sah verheult und unfreundlich aus, er recht gut; der Kaiser und der Prinz Heinrich eingewickelt in ihre roten Adlermäntel, die brillant aussehende Kaiserin Friedrich, die kleinen Edinburghs in ihren rosa Kleidchen, die Herzogin selbst mit ihrem Zobel und ihrem russischen Schmuck, der schöne Prinz Max von Baden, Moltke, Windhorst und viele andere zogen dicht an uns vorbei. Die Kaiserin war kurz vorher hingefallen und sah verstört aus. Wahrhaft reizend und jugendlich waren die Brautjungfern, weiß mit roten Nelken, die Schaumburgschen Farben. Am schönsten von allen aber war Prinzeß Leopold.⁷⁶ Diesen langen Zug sahen wir zweimal, hin und zurück von der Kapelle. Dann wurden wir herausgeworfen und suchten unsere Mäntel aus einem wahren Chaos heraus. Im Hinausgehen sahen wir 30 Platten voll Hummer, riesige silberne Suppenschüsseln und viele Tassen. Gestern, Donnerstag, 20. November, wollte der Vater mit mir in den Tell gehen, gab aber sein Billet an Frl. Günzel, welche mit Hanna und mir hinging. Zu Hannas großer Aufregung saß Lothar über uns im 1. Rang. Die Szenerie war wundervoll. Der Rütli, der Vierwaldstädter See und Stauffachers Haus gefielen mir am besten. Tell gab Herr Nesper und Bertha Amanda Lindner. Sehr gut gefiel mir Oettinghausen und Walter Fürst, auch Gertrud und Hedwig waren gut, Arnold von Melchthal aber sehr übertrieben. Ich begreife, daß sein Schmerz groß ist, doch solch Schreien, Heulen, Schluchzen und Rasen tut mir weh zu hören. Oettinghausens Tod, Tells Rückkehr und der Gesang der barmherzigen Brüder gefiel mir am besten. Der Sturm wird so natürlich gespielt, daß ich beinah Angst bekam. Wir promenierten mit Lothar im Foyer herum und fuhren mit ihm nach Hause, wo wir die Gräfin Harrach antrafen. Sie ist eine zu liebe, sympathische Frau, wenn sie auch momentan sehr angegriffen aussieht. Freitag, 21.11., gingen Frl. Günzel und ich ins Nordlandpanorama. Es ist das schönste, das ich je gesehn. Die schöne blaue See und die traurigen grauen Berge bilden einen wirksamen Kontrast. Frl. Günzel hatte einen Schwächeanfall und setzte sich hin.

76 Helene Duchess of Albany, geb. Prinzessin von Waldeck und Pyrmont (1861 – 1922), Witwe von Prinz Leopold, Duke of Albany (1853 – 1884), des achten Kindes von Queen Victoria und Prinz Albert, der 1884 an Hämophilie gestorben war.

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Plötzlich beugte ich mich vor und rief: „O diese entzückende Bucht!“ Bums, fiel mein Taschentuch über die Balustrade hinab ins Panorama. Als die anderen Beschauer auf der anderen Seite waren, setzte ich mich auf den Boden, hing meine Beine durch die Balustrade herunter und zog mit den Füßen mein verunglücktes Tuch herauf. Diese Procedur war zwar geschickter als sie anständig war, doch hatte sie den Erfolg, daß Frl. Günzel so lachte, daß sie ganz wohl war. Am Abend ging ich zu Asta Kurowsky. Sie ist groß und hübsch und in ihrem Benehmen schon ganz Weltdame, obwohl sie noch nicht konfirmiert ist. Sie zeigte mir ihr hübsches großes Zimmer und einen alten geschnitzten Kleiderschrank, den sie von ihren Ersparnissen für 120 M. in Nürnberg gekauft hat. Sie war äußerst liebenswürdig wie immer, doch ist ihr nicht ganz mit der Wahrheit zu trauen. Emy kam auch; die ist ja im Grund tüchtiger und sicherer, aber so mokant und zurückhaltend. Nachdem wir allerhand zusammen geschwätzt, gingen wir zum Tee herunter und blieben bis halb zehn. Ich stieg in Friedrichs Gunst dadurch, daß ich ihn nicht warten ließ, sondern gleich ging. Sonnabend unternahm ich nichts, da gräßliches Regenwetter war. Es ist überhaupt eine Schmutz- Schlamm und Gießwoche, die menschenunwürdig ist. Am Abend ging ich mit in Hannas Tanzstunde zu Webers. Hochbergs kamen nicht. So tanzten nur Webers, Hanna und Bürgers. Die Mädchen machten zuerst ihre Pas und Compliments, danach der unglückliche Fritz ganz allein. Herr Freising, der alte Tanzlehrer, sieht noch sehr wohl aus und ist sehr geduldig und freundlich, besonders gegen die Kleinen. Irma konnte die Chassées gar nicht begreifen und trampelte herum wie ein kleines Murmeltier. Sonntag gingen Frl. Günzel und ich schon um ½ 9 Uhr in die Dreifaltigkeitskirche und hörten eine ausgezeichnete Predigt von Dryander⁷⁷ über: Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes: 1. Die Hoffnung, 2. Die Mahnung, die wir aus diesen Worten entnehmen sollen. Wie er die irdische Ruhe mit der himmlischen verglich, war meisterhaft. Kaum zurückgekehrt, gingen wir in ein Philharmonie-Conzert unter der Direktion von Bülow und der Mitwirkung von Zur Mühlen.⁷⁸ Letzterer allein befriedigte mich. Cello ward schlecht gespielt und alle Orchesterstücke waren teils ungedruckte, teils von Bülow ausgegrabene Sachen und so schwere Musik, daß die wenigsten etwas davon verstanden. Ohne den Schluß abzuwarten, gingen wir fort. Zum Essen kamen Lothar und ein Vetter Hans Seuder, ein mordslangweiliges Kadettle. Der Prinz kam, um mit uns spazieren zu gehen, doch war das Wetter zu

77 Ernst Dryander (1842 – 1923), Schloßprediger. 78 Raimund von Zur Mühlen (1854 – 1931), legendärer Tenor.

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schlecht. Es kamen im Lauf des Tags Herr von Kraker, der junge Lerchenfeld, Herr Metzler, Raoul Richter u. a.m. Ich spielte mit Lothar vierhändig Märsche, danach Whist. Der Kadett sah sich einen ausgestopften Fischmenschen an, kam aber zum Abendessen wieder. Montagvormittag ging die Tante mit mir zum Zahnarzt. Er will mir drei Zähne plombieren und die Festigkeit der Vorderzähne erproben. Nachdem wir noch Besorgungen gemacht, gingen wir zum Frühstück zu Mosers und besahen das ganze Haus von oben bis unten. Der blödsinnige Bruder Richard ist ein sehr gutmütiger, unschuldiger Mensch und freute sich kindisch, daß die Tante ihn einlud. Er betrachtete sie mit ganz zärtlichen, rührenden Blicken. Karl Moser, der Sohn, der für langweilig gilt, unterhielt sich ganz gesprächig mit mir; ich holte ihn aber auch tüchtig aus, sodaß er antworten mußte. Am Abend nahm ich ein Bad und legte mich mit einem herrlich reinlichen Gefühl ins Bett. Dienstag, 25.11. ging ich mit der Tante zuerst zu Roths, wo ich ein halbes Stündchen mit Emy plauderte, dann ins Panorama, das alte Rom. Dies gefiel mir außerordentlich. Die Landschaft verlor durch das trübe Wetter, doch die Menschen sind sehr gut gezeichnet und die Beleuchtung superb gemacht. Zum Essen kamen einige junge Herren: Claus, Lothar, Karl Moser, Herr Metzler (zwar kein junger Herr) und der junge Graf Lerchenfeld. Er studiert hier und wird durch seinen Onkel erzogen, wobei ihm die Tante behülflich sein soll. Er ist recht gescheit, aber unangenehm, ein Gemisch von Verlegenheit, bayrischer Ungehobeltheit und flegeliger Süffisanz; dabei solch Besserwisserwoller. Was ich auch mit ihm sprach, immer widersprach er und auf so unliebenswürdige Weise, daß ich ihn zuletzt allein ließ. Er scheint recht strebsam, doch ganz unerzogen. Nach Tisch spielten Lothar, Claus und Karl Moser, letzterer am besten; obwohl er am wenigsten Talent hat, ist es doch sehr fleißig und geschult. Wir tanzten auch ein wenig, wobei ich meine Schuhe verlor, zuletzt sogar eine Quadrille à la cour in Tantes kleinem Salon. Herr Metzler tanzte mit und setzte sich mit mir ein wenig ins Nebenzimmer, um mir Briefe von der Mutter vorzulesen. Mittwoch und Donnerstag verlebten wir ruhig; desto mehr aber unternahmen wir zu Ende der Woche: Freitag ging ich mit der Tante in einen Bazar für den christlichen Verein junger Männer, wo auch Eßwaren und Armensachen verkauft wurden. Dadurch wird auch die Provinz herangezogen, die sonst wenig zu Bazaren giebt. Am Abend waren wir und Else Weber bei Lucius zum Essen eingeladen. Es hieß zum Thee, doch bekamen wir keinen, sondern ein vollständiges Mittagessen. Danach vergnügten wir uns mit Schreibspielen und aßen Bonbons. Sonnabend gingen wir zum ersten Male zur Eisbahn. Das Eis war gut und lief ich noch ganz leidlich. Auf dem Rückweg taten uns aber die Füße so infam weh, daß wir hinkten und humpelten wie Krüppel. Abends war Hanna in einer Kindergesellschaft, wo recht

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unnötig und verfrüht, Lieutenants und Referendare eingeladen waren, die mit den Mädele tanzen mußten und sie ganz als Damen betrachteten. – Mich holte der Vater ab, um mit mir den Lohengrin zu sehen. Ich war ganz entzückt. Elsa ward von Frau Sucher dargestellt. Sie sang sehr gut und ist groß, schön und stark mit langem goldenem Haar. Wunderschön ist die Szene, wo Lohengrin angefahren kommt und die, wo Elsa vom Balkon heruntersingt. Beim Hochzeitszug stolperte eine Brautjungfer und fiel der Länge nach hin, sodaß ihre Frisur sich ganz auflöste. – Der Vater brachte mich wieder zurück und ging nach Hause, da er morgen früh nach Dresden gehen will. Sonntag ging ich mit Frl. Günzel in die Garnisonskirche und hörte eine sehr gute Predigt von Frommel. Am Nachmittag gingen wir zu Webers, wo zur Vorfeier von Irmas Geburtstag ein großes Kinderfest stattfand. Es waren da: die sechs sehr wohlerzogenen netten Hochbergs, Mohls, Hirschfelds, Ellen Lucius, Emy Roth, Mimi Marwitz, Alice Dirksen, Mimosa Clausen u. a.m. Zuerst wurde auf der Rutschbahn gerutscht, Emy und ich wie verrückt immer mit, dann wurde getanzt nach dem etwas unregelmäßigen Spiel einer Klavierspielerin. Dazwischen hinein machten wir Scharaden: Herold, Plaudertasche, und Sprichwörter: das dicke Ende kommt noch, viele Köche verderben den Brei etc. Der sehr lustige Hauslehrer verkleidete sich als Derwisch und machte allerhand Kunststücke. – Nachdem wir ein riesiges Abendbrot genossen, gingen die Kleinen fort und wir Großen tanzten eine entsetzliche Quadrille, bei der keiner wußte, was er tun sollte, und dann Polka und Walzer. Um 9 Uhr gingen wir nach Hause. Frl. Günzel war bei Herrn von Kos, die Tante bei Mosers; das ganze Nest also ausgeflogen. Montag, 1. Dezember passierte nichts Besonderes; wir liefen Schlittschuh auf elendem Eis. Am Abend war ein kleines Diner zu Ehren der Erbprinzessin zu Fürstenberg. Wir aßen allein; Hanna ging nach Tisch in den Salon; ich wollte nicht; ich bin doch zu alt, um als Dessert zu figurieren. Die Geschwistern [sic] schickten Trauben, die leider unterwegs erfroren. Dienstag machte ich mit der Tante Besorgungen. Wir hatten dann wieder einen sehr netten, unterhaltenden Herrenabend, zudem Oleg, Claus, Raoul Richter, ein sehr lustiger Herr Dörtenbach und ein Freund von Oleg: Herr Eyde kamen. Letzterer ist Norweger und obgleich er hier studiert, spricht er doch noch gebrochen Deutsch. So erzählte er mir eine Geschichte und sagte immer: der Pferd, sie mussen etc. Claus und Raoul spielten etwas Klavier, letzterer sang auch eine selbstkomponierte Arie: Du braune Katharina pp. Später kam noch der Vater und sagte mir, daß die Mutter von Freitag bis Sonntag hierher kommt und in meinem Bett schläft, während ich auf der Chaiselongue liege. Frl. von Faber, die ihr beim Einkaufen behülflich sein soll, muß nämlich Mitte December mit der Kaiserin Friedrich nach England. Daher

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dieser plötzliche Entschluß. Mittwoch verlebten wir ganz ruhig. Donnerstag hatten Hanna und ich einen Riesenspaß. Wir gingen nämlich mit Oleg ins Wallnertheater in die „Pension Schöller“. Zuerst war eine ganz amüsante levée du rideau, „Die Hemdsärmel“ betitelt, dann folgte das Stück, bei welchem Schweighofer gastierte. Die Geschichte ist etwa folgende: Ein alter Herr vom Lande hat den absonderlichen Gedanken, eine Soirée in einer Heilanstalt mitzumachen und wird von einem unnützen Neffen in eine Pension gebracht, in welcher lauter verdrehte Leute sind: Ein grimmiger Major, eine Schriftstellerin, ein Afrikareisender, eine Mutter, die allen ihre heiratsfähige Tochter anpreist und ein angehender Schauspieler, der n anstatt l sagt. Mit diesen allen unterhält sich der Held, betrachtet sie als Geisteskranke und erschrickt zu Tode, als sie alle bei ihm erscheinen, wobei sehr lustige Scenen vorkommen. Oleg krümmte und schüttelte sich ordentlich vor Lachen. Sehr befriedigt kehrten wir heim, Oleg brachte uns bis ins Haus. Freitag, 5. holte ich Hanna ab und ging mit ihr in einen kleinen, nicht sehr schönen Bazar im Herrenhaus. Nach Tisch blieb ich zu Hause und erwartete den Vater, der die Mutter abholte. Ich freute mich, sie so wohl wiederzusehen. Am Abend nahm sie mich mit in Tannhäuser. Ich hatte noch mehr Genuß als vom Lohengrin, da ich einige Melodien kannte. Frl. Leisinger als Elisabeth und Betz als Eschenbach waren wundervoll, Sylva als Tannhäuser nicht bei Stimme. Das Ballett und die neue Ausstattung waren süperb. Am besten gefiel mir der Abendstern, der Pilgerchor und Elisabeth am Cruzifix. Das Stück hat zwar Längen, doch ist das Ganze herrlich. Es war erst um 11 Uhr aus, sodaß wir spät zur Ruhe kamen. Sonnabend war ich mit der Mutter und Frl. von Faber von 10 Uhr bis 1 Uhr und von 2 Uhr bis 5 Uhr bei Gerson. Dazwischen aßen wir im christlichen Hospiz, sehr christlich vielleicht, aber sehr schmutzig. Wir wurden bei Gerson sehr gut bedient und kauften billig und zwar: ein schwarzseidenes, ein weißes Damast – und ein gelb goldiges Kleid für die Mutter; ein weißseidenes und zwei weiße Tüllkleider mit Atlastaillen für Margarethe. Bei den Confektions: zwei Abendmäntel, ein Regen-, Plüschmantel und eine weiße und eine fraise Sortie de bal. ⁷⁹ Wir kamen nicht sehr müde nach Haus; während die Mutter ruhig bei der Tante blieb, ging ich mit in die Tanzstunde und freute mich über die Fortschritte der Buben. Sonntag, 7.12. ging ich mit der Mutter zu Dryander in die Kirche. Er predigte das Jüngste Gericht, welches die Pfarrer jetzt häufig predigen. Zum Essen kam Claus und

79 Ein erdbeerfarbener Abendmantel

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nachher ein Besuch nach dem anderen: Frau von Winterfeldt, Herr Dörtenbach, der kleine Kadett, Herr Tavel, Herr Dr. Miquel und seine kleine, nette Tochter, die sich mit Hanna befreunden soll. Um fünf Uhr reiste die Mutter zurück nach Dresden. Claus brachte sie auf die Bahn und spielte dann den ganzen Abend Whist mit uns. Ich sehe zu und lerne dabei. Montag, 8. kaufte ich ein Soireenkleid für meine geliebte Schwester, grüner Seidenpoplin mit Seidenmull. Bei Herzog⁸⁰ [sic] ist ein Gedränge und ein Lärm, um den Verstand zu verlieren. Am Abend kam der Prinz und erklärte uns einmal verständig Whist. Bald, bald sind die schönen Tage von Aranjuez vorbei, da ich schon Sonnabend fort muß und doch wie schön wird es in Wernburg werden zur Weihnachtszeit! Dienstag, 9.12. machte ich Einkäufe für die Geschwister und kaufte mir für 10 M., (eine Summe, die mir der Vater zu diesem Zweck geschenkt), ein Tintenfaß und einen Handspiegel. Mittwoch war mein 16ter Geburtstag, der erste, den ich nicht in Wernburg bei den Eltern verlebte. Die liebe Tante that alles, um mich dies vergessen zu lassen, sodaß ich keinen Moment Heimweh hatte. Die Tante schenkte mir einen schönen Muff, Hanna ein Arbeitskörbchen und ein Hundchen aus Bronze, Frl. Günzel ein Kissen, die Geschwister zwei Photographien, Rudi einen Teller, die Eltern ein englisches Buch: „Stray pearls“ von Yonge. ⁸¹ Therese und Lothar brachten mir herrliche Rosen. Ich ging am Nachmittag mit der Tante spazieren. Donnerstag nahm ich Abschied von Emy, sie war nicht wohl, da sie sich überfressen, war aber wieder ganz munter. Dann fuhr ich mit Frau Roth und wurde von ihr bei Richters abgesetzt. Auch dort verabschiedete ich mich und holte die Tante zu Besorgungen ab. Freitag schrieb mir der Vater, er werde mich Sonnabend abholen, zur Heimreise, und zwar schon um acht Uhr morgens. Da mußte ich mich mit dem Packen eilen, doch packte ich so fest, daß alles bequem in den Koffer ging. Am Abend ging ich noch mit Frl. Günzel in ein Konzert der Amalie Joachim.⁸² Noch nie hörte ich so

80 Wohl Kaufhaus Rudolf Hertzog, Berlin, Breite Strasse 13, bis nach dem 2. Weltkrieg überregional bekanntes Kaufhaus. 81 Charlotte Mary Yonge, Stray Pearls, Memoirs of Margaret de Ribaumont, Viscountess of Bellaise, erschien 1882. 82 Amalie Joachim, geb. Schneeweiß (1839 – 1899), Sängerin, verheiratet mit dem Geiger Joseph Joachim (1831 – 1907).

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schön singen, so voll und weich und glockenrein, bald neckisch, scherzend, dann ernst und tief. Dazu sang sie Eichendorffs Lieder und Schumanns Schwanengesang, alle meine Lieblingslieder: Das Meer erglänzte, Ich stand in dunklen Träumen, Rauschendes Bächlein; der Doppelgänger. Else Weber war auch da, ging aber bald fort. Den nächsten Morgen um acht Uhr nahm ich Abschied von allen, dankte der lieben Tante vielmals und verließ das Haus, in dem ich eine so schöne Zeit verleben durfte, und bald darauf Berlin, um der lieben Heimat zuzufahren. Im Coupé war es kalt und abscheulicher Rauch, der Zug schottelte so, daß wir beinahe seekrank wurden; wir aßen Lebkuchen, mit denen der Vater sich seinen gelben Handkoffer vollgepackt hatte und warme Würstchen. In Pößneck wurden wir von Margarethe abgeholt und hier mit Jubel empfangen. Am Abend kam die Mutter mit Rudi und Gretchen Beulwitz von Dresden; wie froh waren wir, wieder alle vereinigt zu sein. Die Woche darauf hatte ich viel zu erzählen, mußte mich leider sofort in diesem Sibirien hier erkälten und war einige Tage ziemlich elend. Sonnabend, 20.12. kam Jörge; er sieht sehr gesund und frisch aus und ist auch viel lustiger. Dienstag, 23.12. Jetzt steht Weihnachten vor der Tür, Baum und Krippe sind geschmückt, es war schon Backschlacht und Scheuerfest, an denen ich mich – zu meiner Schande – gar nicht beteiligte. Das ganze Haus ist bereitet; möchten es unsere Herzen auch sein, die Weihnachtsbotschaft mit ihrem Segen und Frieden zu erlangen und empfangen. Am zweiten Feiertage werde ich zum ersten Male Pate stehen, und zwar beim kleinen Sohn von Thomas.⁸³ Er ist Freitag, 12.12. geboren und wird Gustav genannt werden. Es ist, so viel man bis jetzt sehen kann, ein netter kleiner Kerl mit blauen Augen und schwarzem Haar. Ich muß ihm einen Patenbrief mit 10 M., ein Häubchen, Käppchen, Jäckchen und Armbändchen schenken, den Geschwistern eine Zuckertüte, der Wartefrau 3 M. Den heiligen Abend machten wir eine Schlittenfahrt auf das Vorwerk, wo wir Hartwigs, eine arme Holzhackerfamilie mit sieben Kindern besuchten. Wir hatten uns angemeldet und fanden daher alles herrlich aufgeräumt, die Kinderchen blitzblank gewaschen nach der Orgelpfeife sitzend. Wir ließen sie ein Weihnachtslied singen und verteilten dann. Die Kinder waren so vergnügt, die Mutter ganz überwältigt vor Freude. – Wir machten dann eine Fahrt durch den glitzernden weißen Wald, mit doppelter Weihnachtsfreude im Herzen: der seligen des Gebens

83 Der Wernburger Gärtner.

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und der erwartungsvollen des Empfangens am Abend. Welche war wohl die größere von beiden? Die Christmette war schön und feierlich: wenn mich auch die Predigt nicht befriedigte, so hat man doch angesichts zweier glänzenden Christbäume, abends in einer Kirche seine eigenen Gedanken und das sind keine schlechten. Die Bescherung war wie immer, schön und harmonievoll und was mehr ist: echt christlich. Die Eltern haben uns alle wieder reich bedacht. Ich bekam eine Reisetasche und Reisenecessaire, eine Photographie: Psyche am Wasserspiegel, ein Samtbarett, ein Tintenfaß, ein Portemonnaie, ein Kochkleid, (da Margarethe und ich diesen Sommer kochen lernen sollen, zu Vaters Entsetzen), Bilderbogen, Briefpapier, ein Briefbeschwerer zum Bemalen, einen Handleuchter, Seife, Pinsel, Karten, Kalender, Handschuh, Taschentücher, Messer, und drei Bücher: Die letzten Maltheims, The greatest thing in the world und The Draytons and the Davenants. Von Tante Marie erhielt ich auch ein Buch: „Mädchenjahre“ von Beeg. Margarethens Tisch zierten Ballstoffe, Blumen, Mäntel, Fächer und Shawls, Sabine Zeichen – und Malsachen; Jörge war ganz Jagd; Burkhart glücklich über zwei französische Hasen, Rudi über einen jungen Seidenspitz, genannt Müffle. Ich schenkte der Mutter einen Handspiegel, den ich bei Hulbe in Berlin gekauft. Wir waren sehr glücklich; traurig dagegen muß das Weihnachten in Ahorn gewesen sein. Gotthard ist zwar wieder so wohl, daß er in eine Stellung geht, aber die Verlobung mit Illa ist gelöst. Am ersten Feiertag hatten wir Tagelöhnerbescherung und Besuch von Hahmanns und verschiedenen Leuten, die etwas geschenkt bekommen. Wir lasen und spielten zwei reizende Spiele, die wir erhalten: Halma und Kriegsspiel. Am Nachmittag liefen wir Schlittschuhe; leider darf Sabine nicht, bis sie alle ihre Nägel hat. Der zweite Weihnachtsfeiertag war ein wichtiger Tag für mich. Ich stand zum ersten Mal Pate und zwar beim jüngsten Kind unseres Gärtners. Ich mußte ganz allein Gevatter stehen, da alle übrigen Paten abwesend waren. Die Gärtnereileute schickten mir einen Patenbrief und waren sehr geschmeichelt und dankbar, als ich annahm. Mit einer großen Zuckertüte für die Geschwister des Täuflings versehen ging ich um zwei hinüber, worauf der Zug sich in Bewegung setzte. Ein kleiner Zug war es; da der Vater nicht ging, so bestand es nur aus der Hebamme, der Mutter und mir; die arme Frau war sehr schwach, das Kind ist erst drei Wochen alt, und gerührt. Die Taufe war so spät bestellt worden, daß keine Schulkinder zum Singen da waren und wir auf den Pfarrer warten mußten. Die Taufrede war sehr schön; zuerst wurde die Mutter, dann ich ermahnt, unsere Pflicht an dem Kind zu tun; meine besteht ja hauptsächlich in Fürbitte; doch will ich dies treu erfüllen. Das kleine nette Bubele ist Gustav genannt worden und ist ein netter, munterer Kerl. Nach der Taufe tranken wir Kaffee, Sabine war mit als Freßgevatter; ich legte dem Kind 10 M. unter

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das Kopfkissen, das ist Sitte hier, und ließ es dann schlafen. Nachdem wir Kaffee und Mohnkuchen in Massen vertilgt hatten, gingen wir fort, um am Abend zu einem solemnen Essen mit Kantor und Küster wiederzukehren. Wir zwei saßen auf dem Sofa, gegenüber die drei Männer, die Frau war jetzt ganz Magd, servierte und aß im Nebenzimmer. Es gab Bouillon, Gänsebraten, Salat, Hasenbraten, Kartoffeln und zum Nachtisch für uns Heidelbeeren, für die anderen Zigarren. Es war gut gekocht; auch fehlte es nicht an Appetitt. Wir führten ganz gebildete Konversation, bis auf den Küster, der so zimperlich war, daß er nicht zu bewegen war, sich neben Sabine zu setzen. Wir wurden sehr fêtiert, es fiel kein unfeines Wort und es war ergötzlich, wie diese einfachen Leute alle Gebräuche der feinen Welt im kleinen Maßstabe mitmachten. Um neun Uhr gingen wir fort, sehr heiß, sehr satt, sehr eingeraucht, aber doch befriedigt. Die Taufe war nicht elegant, aber gut und passend gewesen; die Leute meinten es so gut und das ist doch die Hauptsache. Am Sonnabend kam Frl. Jettina; ich holte sie ab und hatte die ganze Zeit Gewissensbisse, weil ich durch Schusseligkeit mich rechts gesetzt hatte. Am Sonntag kamen Beusts, die ganze Familie, und Herr von Hardenberg. Wir liefen Schlittschuh, wobei ich das Pech hatte, einzubrechen und in den Schlamm versank. Es war nicht angenehm, auch ärgerte es mich, daß die Brüder, anstatt mich zu bedauern und herauszuziehen, nur über das beschmutzte Eis jammerten. Die Tage bis Neujahr wurden durch Briefschreiben, Lesen und Besuche ausgefüllt und durch eine gemütliche Silvesterfeier beschlossen. Mir ist Silvester kein ungetrübter Freudentag; ich möchte das alte Jahr festhalten, das liebe, alte Jahr, das mir so viel Schönes gebracht und wenn ich auch nicht zaghaft in das neue sehe, so kann ich doch mit dem besten Willen nicht lustig beim Jahreswechsel sein. Doch nun mit Gott ins neue, gesegnete Jahr

1891 10. Januar. Leider habe ich bis heute, den Tag von Mutters Abreise nicht geschrieben, und kann und will es nicht nachholen. Es war ein Trubel von Jörges Abreise, großer Packerei und Vorsorgen für die Zurückgebliebenen. Jetzt sind sie also fort, auch der Vater, Stock und Marie. Ich hoffe, daß sich Mag gut amüsiert und viel tanzt, die Mutter sich nicht erkältet, dann also hat der Aufenthalt in Berlin seinen Zweck erfüllt. Nur Rudi weinte beim Abschied, wir nicht. Ganz gemütlich und angenehm ist mir solche lange Trennung auch nicht. Warum aber der armen Mutter den Schmerz noch vergrößern und Mags Freude und Erwartung trüben? Am Abend im

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Bett, wenn es dunkel ist, kann man sich ja einige Tränen gewähren. Man ist dann doch zu müde dazu.

7. Februar. Wie lange ich nicht geschrieben habe und gerade jetzt, wo man doch meinen müßte, ich hätte Zeit wie Luft. Doch ist mein Tageslauf so angefüllt von Haushaltführen, Stunden, Üben, gemeinsamem Lesen und Briefe schreiben, daß ich immer beschäftigt bin. Wir lebten den Januar ruhig, doch hatten wir fast jeden Sonntag ein Extravergnügen. Auch sind wir so lustig und haben uns immer so viel zu erzählen, daß wir nie vom Tische aufstehen wollen. Einmal besuchte mich Irene Weidenhammer. Sie ist ein sehr gutes Ding und ist aus einem verscheuchten, dummen, stummen Kind eine ganz selbständiges, unterhaltendes, und was besser ist, tüchtiges Mädchen geworden. Sie lud uns ein, weshalb wir am 16. hinfuhren. Toni Kramer, ihre Freundin war da und beide waren sehr liebenswürdig. Es war recht nett, nur so kalt in der Stube, daß man den Atem sah. Den Sonntag darauf war Lotterie in Ranis. Wegen des entsetzlichen Wetters durfte nur Burkhart mit unseren 20 Loosen hin. Er brachte eine Tasse, Hosenträger und einen Pfropfenzieher mit, außerdem einen großen Kuchen, den er, bei der Auktion desselben, für 55 Pfennig erstanden hatte. Jede Woche einmal gehen wir ins Pfarrhaus und haben schon mehrere vergnügte Abende dort verbracht. Wir erhielten zwei Todesnachrichten, eine von dem schwindsüchtigen Dedié, die andere von Schimmelschmidt – Rockendorf; die eine Erlösung von schweren Leiden, die andere ein plötzlicher Schlag; hier die Eltern gebeugt und dankbar, dort die vielen unversorgten Kinder am Grabe! So kommt der Tod, vielmehr so schlägt der Herr! Sonntag, 25. war Schultanz. Wir sahen zu, wie unsere Buben sich produzierten – immer mit den hübschesten Mädeln – und tranken dort Kaffee. Konrad und Else Hahmann zeigten sich so ungeschickt, daß wir an Kaisers Geburtstag zu ihnen gingen und sie etwas tanzen lehrten. Herr Superintendent tanzte auch etwas; so pedantisch, so abgezirkelt, daß man die Tanzstunde merkte. Natürlich hat er ja keine Übung, nur brauchte er nicht tun, als ob er Sabine und mir lehren wollte, wie man es macht; wir können es doch besser als er! So haben wir auch unser Ballvergnügen, während Mag in Berlin schwelgt. Sie hat schon getanzt bei Wedell, Goßler, Hohenthal, Solemacher, Versen und auf dem Cavalierball, hat viel getanzt, und ist an ihrem Geburtstag sehr gefeiert worden, hat außerdem Soireen, Theaterbesuche, Galaoper etc. genossen, und sich herrlich unterhalten. Ich freue mich so mit für sie und genieße alles in Gedanken mit. Am 5. Und 6. verkaufte sie im großen Bazar bei der Kaiserin Friedrich und heute war sie bei der großen Defiliercour.

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Wir feierten Frl. Mangelsdorfs Geburtstag am 1. in Saus und Braus. Der Geburtstagstisch war groß, da ihre Verwandten sie reich bedacht. Am Nachmittag kam Frau Superintendent und die Kinder, mit denen wir Scharaden machten. Wir führten den Namen „Mangelsdorf“ in elf Bildern auf. Nämlich: Moses (die ägyptische Königstochter mit zwei Sklavinnen) Armut (Eine jammervolle, zerlumpte Familie auf faulem Stroh) Nimrod (in natura) Gelimer, Erlkönig (ein dunkles Zimmer mit weißen Gespenstern und dem bedauernswerten Vater), Königin Luise und Napoleon, Saul bei der Hexe von Endor (mit Geistererscheinung des Samuel), Drusus, Orakel, Robert der Teufel, Fütterung der wilden Tiere. Dies der Knalleffekt, wo wir uns alle, in Pelze gewickelt, auf das Futter stürzten das uns Conrad als Tierbändiger vorwarf. Alles war wohlgelungen, Frl. dankbar und beschämt, Frau Superintendent sehr erstaunt, da sie uns nicht so viel zugetraut hätte. Dann folgte ein lustiges Abendessen mit Punsch und Pfannkuchen, Knallbonbons und Toasten. Bis zum Zubettgehen wurde dann getanzt und aufgeräumt. Es war ein wunderschöner Tag, der Glanzpunkt dieses einsamen Winters. Den 7. Februar gingen wir nach Ranis, um Landrats zu besuchen und ein Gehseil in die Kleinkinderstube zu tragen. Leider hatten letztere freien Nachmittag und Landrats begegneten wir auf dem Wege nach Pößneck. Also ein doppelter Metzgergang! Burkhart war sehr ungnädig darüber und dummte auf dem Rückwege recht unberechtigterweise, da wir doch eben so wenig wie er Schuld hatten. Montag (Fastnacht) fuhr er zu Willy Schimmelschmidt hinüber, erkältete sich, sodaß wir ein richtiges Influenza-Lazarett bekamen von Rudi, Burkhart und Sabine. Sie waren bald wieder auf, doch bald legten sich Sabine und ich und haben wir nun eine Woche von Elend und Schnupfen hinter uns. Schließlich holten wir den Doktor; doch war er launisch und eilig, wollte zuerst nicht kommen und war sehr einsilbig. Das Dumme ist nur, daß wir sowohl von Ranis als Lausnitz Einladungen haben und ihnen nicht folgen können. Margarethe und die Mutter mußten auch wegen Influenza den einzigen Hofball versäumen; rechte Geduldsproben, die man in gedrückter Krankenstimmung schlecht trägt. Freitag überfielen uns die Wurmbschen Kinder mit Gouvernante und Karl Wilk. Letzterer hat soeben das Fähnrichsexamen bestanden und hat sich recht nett gemacht. Wir spielten und tobten, trotzdem mir, die eben aus dem Bett kam, nicht sehr wohl war. Die ruhigen Spiele fanden mehr Anklang, bis Wurmbs um 6 Uhr fortfuhren. Wilks haben rechte Not; sie ist leber- und gallenleidend, Helene hat ihr altes Rückenmarkleiden, dazu die schlechten pekuniären Verhältnisse, Unfrieden im Haus und in der Familie. Sie müssen ein trauriges Leben haben, die Armen!

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Wir beabsichtigten, am Sonntag ein Genesungsfest zu feiern, doch war es eher ein Schnupfenfest; denn wir, sowohl als die Eingeladenen, Frau Superintendent, Irene, Else und Konrad konnten kaum aus den Augen sehen; trotzdem waren wir lustig, tanzten, Lancier zu sieben Personen! Und aßen dann von einem Baumkuchen, den uns der Vater dazu geschickt. Die guten Eltern denken so viel an uns und geben uns häufig Nachricht, was uns so schön auf dem Laufenden erhält. Es ist angenehm zu wissen, wo die fernen Lieben jetzt sind, was sie tun und sehen. Es gibt der Phantasie solch weiten Spielraum und gibt Anlaß zu vielen Vermutungen und Fragen. Dienstag, 3. März. Jetzt habe ich wieder Schreibstoff. In der Woche zwar fiel nichts vor; wir erholten uns langsam und wurden sehr erfreut durch eine Einladung zum Essen um zwei Uhr von Frau von Wurmb. So fuhren wir alle am Sonntag nach Lausnitz. Wir nahmen den geschlossenen Wagen und machten die Fenster auf, was bekanntlich mehr zieht, als im offenen Wagen; aber Frl. Mangelsdorfs Gemüt war doch beruhigt. Wir wurden mit Jubel von den Kindern und Karl Wilk empfangen und unterhielten uns sehr gut mit ihnen. Frau von Wurmb war sehr liebenswürdig und freundlich, er war aufgeräumt und riß schlechte Witze. Auch erzählte er uns, daß er in einem Winter 54 Bälle mitgemacht habe! Nach dem Essen tanzten wir auf dem Vorplatz, wozu ein Diener Harmonika spielte, gingen heraus und spielten Quartett. Im Laufe des Nachmittags kamen Dediés. Wir sahen sie zum ersten Mal seit ihrem Verluste; doch erschienen sie eher erleichtert und empfanden die Erlösung des Sohnes als solche, wie es mir schien. Herr Dedié fragte mich, ob ich nicht fast aus Neid gestorben sei, da sich Mag so gut unterhielte. Er fragte im Ernst und ich ärgerte mich, daß er mir so gemeine Gesinnung zutraut. Das wäre noch besser. Im Ganzen hatten wir uns sehr gut unterhalten und kehrten um 7 Uhr befriedigt heim. Herr von Wurmb nennt mich noch „du“ und bringt einen oft in Verlegenheit, doch habe ich seine Art gern: Er ist so gutmütig und so lustig. Am Montag hielt ich den Mädchenabend allein ab, da Frl. M. von der Influenza ergriffen ward. In dieser Woche gingen wir zum letzten Male in das Pfarrhaus, und da die Mutter und Mag am 10.3. kommen wollen, werden die Zimmer eifrig in Stand gesetzt. Sonntag, den 8. fuhren wir Kinder nach Ranis, wo gerade ein Beamtendiner stattfand. Glücklicherweise waren sie schon eben vom Tisch aufgestanden; die Herren rauchten in Herrn Landrats Zimmer und wir erzählten Ilse von Berlin. Ilse erwartet im Mai wieder ein Kind, ihr Bub läuft schon. Montag machten wir unseren letzten Besuch ab und gingen zu Königs. Klara zeigte uns reizende auf Holz gemalte Köpfe; sie hat viel Talent, aber gar keine Anleitung. Else heiratet im Herbst und ist bedeutend netter. – Morgen, morgen kommen die Mutter und Mag; ich freue mich

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unbeschreiblich, denn es war doch öfters recht einsam, besonders für mich, die ich nicht so viel Stunden mehr habe. Mittwoch, 18.3. Schon eine Woche sind sie da, und ich habe mich noch nicht aus meinem Freudentaumel erholt! Erst eine Woche sind sie da und wieviel haben sie nicht schon erzählt! Mag, die das frühe Zubettgehen nicht gewohnt ist, erzählte mir abends im Bett bis halb zwölf von ihrer ersten Saison. Sie hat sich herrlich unterhalten, viel getanzt, sich mit zwei Dohnas und Else Maltzahn sehr angefreundet. Im Übrigen ist sie die liebe Alte geblieben. Das gab ein Auspacken, ein Bewundern der schönen Kleider und des Mitgebrachten! Ich erhielt ein herziges Arbeitstäschchen, ein neues Tagebuch, Bonbons, und eine Photographie von Margarethe. – Das Schönste ist doch, daß sie selbst da sind; ich merke erst jetzt, wie sehr sie mir gefehlt. Ich machte mit ihnen Besuche im Pfarrhaus und in Ranis. Der Vater kommt Donnerstag, 19.3., der Jörge und Volki und Hans Wurmb, deren Eltern noch in Italien sind, kommen Sonnabend in die Osterferien. Das wird nett. Für den Sommer und Frühling erwarten wir die Großmutter, Tante Pauline, Schwarzens, Emy Roth, einen kleinen Grafen Schwerin, und auf ganz kurze Zeit vielleicht Hirschfelds und ZietenSchwerins. Mit letzteren haben die Eltern sich diesen Winter befreundet. Freitag, 3. April Nun haben wir unseren Jörge wieder hier als stolzen Sekundaner. Er fühlt sich doch etwas gehoben, nun nicht mehr Amboß, sondern auch Hammer sein zu dürfen. Onkel Lutz brachte seine beiden Buben, hielt sich aber nur 30 Minuten auf der Bahn auf, weshalb die Eltern unten waren, und reiste dann nach Italien zurück. Volki ist ein hübscher großer Kerl, verträgt sich herrlich mit Jörge, ist zwar wild, aber manierlich. Hans ist ein herziger, guter kleiner Kerl. Leider ist Schnee und Eis in den Ferien gewesen, daß die fünf wilden Jungen oft im Zimmer sitzen mußten. Wir gingen am Palmsonntag in ein Konzert des Pößnecker Gesangvereins, wo die Jahreszeiten gegeben wurden. Die Chöre waren reizend; die drei Solisten aus Leipzig waren mäßig, aber billig. Frl. Latendorf setzte sich zu uns. Wir waren mit Frau Superintendent gegangen, da Frl. M. erkältet war und saßen in der letzten Reihe, hörten aber ganz gut. Am Gründonnerstag fuhr ich mit den Buben nach Nimritz. Herr von Beust war aus gewissen Gründen unsichtbar; die anderen aber sehr liebenswürdig. Hertha, Helene von Zedtwitz, eine sehr nette Cousine und eine Französin aus dem Stift waren zu Besuch. Mia bleibt jetzt für immer zu Hause; so werde ich sie wohl oft sehen. Intim werden wir schwerlich werden, dazu gehen unsere Erziehung und unsere

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Grundsätze zu weit auseinander. Karfreitag war still und schön, wie er es sein soll. Sonnabend färbten wir Eier, ein ganz neues Vergnügen für Wurmbs. Schluß des 1. Bandes

Abb. 4: Ansicht von Wernburg, zeitgenössischer Stich, Quelle: Privatbesitz / Digitalisierung: Matthias Raum.

Band II: Tagebuch von 1891 bis 1893 Jesus Christus gestern und heute und derselbige auch in Ewigkeit! Sing, bet’ und geh auf Gottes Wegen, Verrichte deine Pflicht getreu, Trau ihm und seinem reichen Segen, So wird er täglich bei dir neu. Denn wer nur seine Zuversicht Auf Gott setzt, den verläßt er nicht!

Ostern 1891 Der Ostersonntag war der Glanzpunkt der Ferien. Um dem Vater die langweiligen Besuche in der Umgegend zu ersparen, luden die Eltern die ganze Nachbarschaft zu Nachmittag und Abend ein, sodaß wir im Ganzen 37 Personen waren. Es kamen die Lausnitzer,¹ die Raniser² mit Ludwig und Diez und einem ganz jung verheirateten, unausstehlichen Ehepaar von Hartmann, die Nimritzer³ mit Helene Zedtwitz und Mlle Ménegaux, einer sehr angenehmen Französin aus dem Stift; aus Langenorla Hertha Raven, Herr u. Frl. von Holtzendorf. Die zwei letzteren sind Verwandte von Beusts, sehr unvermögend, weshalb man sich wundert, daß er bei der Garde ist. Nach dem Kaffee versteckten die jungen Herren und wir Eier, Schokoladen- und Zuckersachen. Das Suchen dauerte so lang, daß nur wenig Zeit zu einigen Gesellschaftsspielen blieb. Das Abendessen verlief sehr gut. Nur am Erwachsenentisch wurde serviert. An unserem legten Margarethe und ich vor und die Mädchen trugen die Teller herum, während unsere Buben mit Genuß das Einschenken besorgten. Nachdem der Saal ausgeräumt worden war, wurde von Klein und Groß getanzt. Mia und Hertha tanzen beide nicht gut, und das arme Frl. von Holtzendorf hat so schwache Knöchel, daß sie öfters hinfällt. Jörge und Volki bedeckten sich mit Lorbeeren und sahen in ihren weißen Turnschuhen sehr nett aus. Zuletzt tanzten wir einen Lancier, der gut klappte, nur unser Carrée, mit den kleinen Wurmbs ging gar nicht vonstatten. – Nachdem wir uns abgekühlt, fuhren unsere Gäste fort. Es war ein wunderschönes Fest und haben wir den Eindruck, daß sich alle gut unterhalten haben. Die Feiertage verbrachten wir ruhig zu Hause. Am Donnerstag, 2.4. fuhren wir nach Nimritz, wo wir die alte Frau von Beust, Hertha, Frl. von Holtzendorff, Leon Schulz aus Jena und einen etwas merkwürdig aussehenden Herrn von

1 Familie von Wurmb. 2 Familie von Breitenbauch. 3 Familie von Beust. https://doi.org/10.1515/9783111237404-005

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Schönberg trafen. Herr von Beust machte einen Scherz mit Helene Zedtwitz. Er ließ durch Jörge ein Telegramm schreiben des Inhalts, daß ihre Mutter wünsche, sie sollte den nächsten Morgen nach Berlin abreisen. Als sie es erhielt, war sie furchtbar erschrocken, wollte gleich packen und war ganz alteriert. Auf einmal kam ihr der Gedanke, daß sie angeführt sein könnte; sie bat, es ihr zu sagen, wurde aber so gequält, bis sie zu weinen anfing. Eigentlich war es ein grausamer Spaß. – Einen netteren machten wir mit Hänschen; wir schickten ihm ein Paket von seinem Onkel, aus welchem er aus unzähligen Papieren einen alten Hering wickelte. Das unschuldige Geschöpf merkte den Witz gar nicht u. sagte: „Aber dass Onkel Sigismund so etwas tun konnte.“ Die Ferien gingen leider rasch zu Ende u. als die drei lustigen Buben am Montag abreisten, der Vater am Dienstag nach Berlin fuhr und Rudi zu einer zweiten Massagekur nach Dresden in die Pension Oppelt brachte, kam uns das Schloß wie verödet vor; denn wenn auch der Lärm manchmal ohrenzerreißend war, so fehlte uns das lustige Leben doch sehr, die Mutter nahm es am schwersten; doch kam schon am Mittwoch die Großmutter,⁴ sodaß ein neues Leben begann. Wir erzählten viel von Berlin und kamen oft erst spät ins Bett. Jetzt lesen wir am Abend einen amerikanischen Kriminalroman „Hand und Ring“ von Green; derselbe ist ausgezeichnet geschrieben, aufregend und spannend in einem Maße, daß einem der Atem vor Angst vergeht. Wir haben scheußliches Aprilwetter, naß u. kalt; Schnee, Regen, Wind und Graupeln wechseln ab. Wir haben deshalb nichts unternommen; Helene Tielebein besuchte uns einigemal. Sie wohnt im Dorf bei Alberts, geht aber oft nach Pößneck. Seit Ostern haben wir einen neuen Stundenplan; ich habe nun mit Geographie u. Geschichte aufgehört und habe nun Kunstgeschichte bei der Mutter nach Lüpke,⁵ viel Musik, Englisch Lesen etc. Neulich wurden wir in große Aufregung versetzt durch die Nachricht, daß sich Dora Bethmann mit einem Herrn von Kessel verlobt hat. Die Mutter hätte für die bildschöne Tochter eine vornehmere Partie gewünscht u. ist etwas enttäuscht, denn der Bräutigam ist weder reich, noch vornehm, aber gut und klug. Dora ist strahlend vor Glück und er desgleichen. Das ist doch die Hauptsache! Zwei Nachrichten erhielten wir außerdem: Siegmund und Maria Stein haben ihren ersten Sohn erhalten; u. Fritz Varnbüler hat sich verlobt. Daß dieser vielversprechende Jüngling eine dumme Partie machen würde, war vorauszusehen, obwohl das Faktum dadurch nicht erfreulicher ist. Die Braut, Amalie Hagenbucher, ist 17 Jahre alt, die Tochter eines Holzhändlers und einer österreichischen katholischen Mutter u. gehört selbst

4 Henriette Freifrau Varnbüler von und zu Hemmingen, geb. von Süßkind (1815 – 1902). 5 Wilhelm Lübke, Grundriß der Kunstgeschichte, Stuttgart 1860

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in dem kleinen Heilbronn nicht zur besten Gesellschaft. Er hat ja keinen Pfennig Geld und mußte ein reiches bürgerliches Mädchen heiraten, aber so tief brauchte er nicht zu greifen. Donnerstag, 29.4. Vorgestern reiste die Großmutter nach dreiwöchigem Besuch ab. Diese Zeit war sehr genußreich; sie ließ sich bestimmen, noch länger zu bleiben, um den Vater noch zu sehen. Ich habe ihr oft vorgelesen u. Briefe für sie geschrieben, hauptsächlich aber wurde erzählt. Rudi sah sie leider nicht mehr. Er kommt Sonnabend erst. Die Mutter, die sich seit Wochen schlecht fühlte, entschloß sich mit schwerem Herzen, ihn selber abzuholen, um Gössel⁶ zu konsultieren. Sie nimmt sich ja jegliche Reise schwer und dazu kam die Sorge, daß sie irgendein innerliches Leiden oder Übel habe. Heute nun erhielten wir ein Telegramm, das uns ihre Ankunft nächsten Sonnabend anzeigte. Sie muß dann sofort nach Rudolstadt, um das arme Gretchen Beulwitz noch zu sehen. Ihr Leiden hat einen so schnellen Fortschritt gemacht, daß sich nun zu den übrigen gräßlichen Schmerzen auch noch Atembeschwerden gesellen u. ist es sehr die Frage, ob die Mutter sie noch lebend antrifft. Es würde ihr sehr leid tun, wenn sie zu spät käme. Am 24. April Abends starb Moltke,⁷ ein Todesfall, der alle erschütterte; betrübte kann man kaum sagen, da nach so langem, segensreichen Leben ein so sanfter, leichter Tod ihm zu gönnen war. Jetzt nach seinem Tode kann man ihn ja glücklich preisen! Ich weiß niemanden, den ich mehr achtete u. verehrte als ihn; sein bescheidenes, edles, großes Leben fand einen schönen Abschluß in diesem plötzlichen, ruhigen Abscheiden, u. er wird jetzt, vereint mit seinem Heldenkaiser, seinen Lohn empfangen. Er ging auf der Höhe seines Ruhms von dannen; während der letzte der Paladine, Bismarck, viel von seiner Größe verloren hat. Möge nach seinem Tode die Welt vergessen, was für Schatten in letzter Zeit seine Größe trübten, u. sich erinnern, was er für Deutschland war und tat! Endlich ist es Frühlingswetter; es wird auch Zeit. Wir machten mit dem Vater einen Spaziergang nach Brandenstein u. Ranis, wobei uns die Sonne schon tüchtig auf den Rücken brannte. Sonnabend 2. Mai kam unser Rudilein⁸ aus Dresden zurück. Er ist rund wie eine Wachtel, hat 3 Pfund zugenommen. Sein kleiner Arm hat sich so gekräftigt, daß er jetzt damit schreiben kann und da es für seine Haltung sowohl als für sein Auge besser ist, rechts zu schreiben, so wurde beschlossen, ihn auf ein halbes Jahr aus der Schule zu nehmen; Frl. M. und Herr Hoffmann geben ihm Privatstunden, u. ich Taktschreiben! Sonntag kam die Mutter an. Gössel hat nichts Beunruhigendes an ihr finden können, was uns alle erleichterte, obwohl ich 6 Damals berühmter Heilmagnetiseur in Dresden. 7 Helmuth von Moltke d. Ä. (1800 – 1891), preußischer Generalfeldmarschall. 8 Rudolf von Erffa (1881 – 1972), der jüngste Bruder von Hildegard, der von Geburt an einen verkürzten Arm hatte.

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sagen muß, daß ich nie an eine solche Möglichkeit glaubte. Wenn ich im Zweifel über etwas bin, halte ich mich immer an die helle Seite. Es ist Zeit zu trauern, wenn das Unabänderliche geschehen ist und finde ich unnötig, sich darum im Voraus zu sorgen. Die Mutter fuhr von Dresden aus auf einen Tag nach Rudolstadt, um Abschied von Gretchen zu nehmen. Sie kam sehr bewegt zurück, es muß furchtbar sein, so ohne die geringste Hoffnung ein liebes Kind leiden zu sehen, ohne ihm helfen zu können! Zwei Nachrichten freudiger Art erhielten wir: Elisabeth Harrach verlobte sich mit dem Grafen Vitzthum und Ilse Krosigk bekam Zwillinge – Junge und Mädchen. Möge beides zum Segen ausschlagen! Es ist jetzt bei uns wie in einem Wirtshaus; Ankunft und Abreise wechseln ab: so fuhr der Vater nach Berlin u. kommt vielleicht schon heute (9.5.) zurück. Mit unseren Pfingstgästen haben wir Pech dies Jahr, Emy Roth, die Stein’schen Cousinen und Zieten-Schwerins wollten kommen und sind nun alle verhindert. Jörge kommt diesmal auf 3 Tage und bringt seinen Freund Schütz mit.Vielleicht kommt auch Frau von Maltzahn mit ihrer Tochter. Das wäre sehr nett für Margarethe. Noch nie habe ich den Frühling so genossen; er kam sehr verspätet und dadurch mit solcher Macht, daß es uns wie Zauberei scheint. Es grünt, sproßt und blüht, singt u. trillert um uns her, daß man mitjauchzen muß. Übrigens, finde ich, ist man auch besser im Frühjahr! 20. Mai. Die Pfingstferien sind vorübergeflogen wie ein Traum; obwohl in Roßleben nur drei Tage Ferien gegeben werden, so durfte Jörge diesmal kommen und einen Freund mitbringen. Dieser, Schütz, macht Jörges Gefühl alle Ehre; denn er ist äußerst wohlerzogen, höflich u. scheint ein sehr guter Junge zu sein. Es gefiel ihm hier sehr gut, er sagte immer wieder: „ Jörge, Du weißt nicht, wie gut Du es hast!“ Sein Vater ist nämlich furchtbar streng u. nervös u. hat seinen Sohn ganz verprügelt. Wir hatten allerhand große Pläne gemacht, Partien nach der Leuchtenburg u. Hummelshain geplant, aber das regnerische Wetter verhinderte alles. Am ersten Feiertag machten wir einen Spaziergang nach Ranis, wo wir ungefähr zwei Stunden blieben. Hans war auch da, sodaß auch wir Mädchen uns gut unterhielten; die silberne Hochzeit von Landrats ist am 4ten Juni u. soll – leider – in Friedrichsroda gefeiert werden. Es wäre doch netter, wenn in Ranis ein hübsches Familienfest gefeiert würde. Zwar sind wir, Margarethe und ich, mit den Eltern eingeladen, haben aber keine Lust, erst dorthin zu reisen. Die übrige Zeit vertrieben wir uns mit Spaziergängen in die Nähe, Croquetspielen auf unserem neuen Platz etc. Die Nimritzer⁹ sahen wir nicht, hoffentlich kommen die Lausnitzer bald einmal. Kurz vor

9 S. Anm 1 und 3.

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Pfingsten waren wir zum Abendessen dort. Es war alles so einfach und nett. Ich fahre am liebsten dorthin, wenn auch niemand unseres Alters dort ist. In Nimritz ist meistens Gezänk und man muß so auf seiner Hut sein, in Gräfendorf Umstände, wie wenn der Kaiser käme, u. in Schlettwein Langeweile. Wie nett wäre es, wenn wir eine hübsche Nachbarschaft, wie z. B. Bredows hätten! Heute kommt Tity Beulwitz, um hier einen Luftschnapper zu tun. Mit Gretchen geht es momentan besser, es ist immer ein Hin und Her, Auf und Ab der Hoffnung. Wieder eine Verlobung, u. eine, die uns nahe angeht: Hans Erffa¹⁰ mit Margarethe Rotenhan,¹¹ der gute Hans hat lange gewartet u. ist sehr glücklich. Die Braut soll ein reizendes Mädchen sein, hübsch, liebenswürdig und gut. Es wäre zu nett, wenn wir zur Hochzeit eingeladen würden, doch wird es wohl noch lange dauern bis dahin. 27. Mai. Tity u. ihre Mademoiselle kamen glücklich an. Erstere ist groß und sehr blaß. Es tat ihr gut, wenigstens auf einige Tage aus der Leidensatmosphäre zu Haus herauszukommen. Sie genoß dieselben vollauf, spielte Indianer und war heiter, wie unter diesen Umständen eben nur ein Kind sein kann. Die Mlle ist eine bleichsüchtige, sehr ungebildete Französin, der selbst das Erbteil ihres Volkes, die Grazie abgeht; im Übrigen ein sehr gutes Wesen.– Am Freitag machten wir nach einem erfrischenden Gewitter eine Fahrt nach Ziegenrück. Es ist ein einzig malerischer, schöner Fleck. Überall glänzten die Regentropfen, die ganze Natur war erfrischt u. das noch hellgrüne Laub der Birken u. die blühenden Obstbäume hoben sich wirkungsvoll von den dunklen Tannenwänden ab; dazwischen das alte Schloß u. unten die silberne Saale; alles vereinigte sich zu einem wundervollen Ganzen. – Nachdem wir Amtsrichters verfehlt hatten, ging der Vater zum Oberpfarrer, Herrn von Gerlach, während wir zur alten Amma heraufkletterten. Sie ist recht alt geworden u. hat auch Atemnot. Gott möge ihr einmal ein sanftes Ende geben! Wir aßen ein weniges im Schießhaus u. gingen noch ein wenig spazieren. Ehe wir fortfuhren, kam noch der Oberpfarrer eine Viertelstunde, um sich der Mutter vorzustellen. Er scheint sehr angenehm. Es muß viel Freudigkeit und Mut dazu gehören, um in seinen Verhältnissen u. mit seiner Bildung diesen Beruf zu erwählen, u. in einem Nest wie Ziegenrück ohne alle Anregung, wird ihm der Anfang nicht leicht gemacht. Sonntag kam Onkel Beulwitz, um Tity abzuholen u. blieb auf Nötigen bis um 9 Uhr. Am Anfang gab es eine Heulerei, weil Tity sich mit Kaulquappen beschmutzt hatte, Mlle vergessen hatte, sie umzukleiden u. sie beim Empfang fehlte. Der Onkel sieht wohl aus u. war auch so fröhlich als möglich. Es war ihm wohl in unserem glücklichen Heim. Am Montag kamen Frau Dedié mit Frl. Hannchen. Die armen

10 Hans Freiherr von Erffa (1864 – 1929) aus der Ahorner Linie. 11 Margarete Freiin von Rotenhan aus Rentweinsdorf (1868 – 1895).

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Leute haben viel Sorgen, auch pekuniäre. Nicht allein kostete ihnen die Krankheit des Sohnes sehr viel, sondern auch die Koch’sche Einspritzung, die sich Hannchen in Dresden machen ließ u. die ihr so viel wie nichts nützte, kostete 500 M., sodaß sie sich sehr einrichten müssen. Wir luden Frl. Hannchen auf Freitag und Sonnabend ein, damit sie uns etwas Papierblumen machen lehre. Der Vater reiste Mittwoch ab, sodaß wir uns ihr ganz widmen konnten. Ich mochte sie früher nicht leiden, doch hat sie sich mit den Jahren u. durch ihres Bruders Tod vertieft u. hat jetzt ganz gute, vernünftige Ansichten. Sie war sehr nett u. liebenswürdig u. brachte uns etwas Blumenmachen bei. Wir lernten Rosen, Mohn, Chrysanthemen, Astern und Schneeballen u. finde ich, daß es eine sehr nette, lohnende Arbeit ist. Wir wollen einen großen Strauß in die Gruft machen, damit sie nicht so öde aussieht, wenn alle Gräber grünen und blühen. Ich liebe überhaupt keine Grüfte und wünsche, unter freiem Himmel begraben zu werden. Am Sonnabend fuhr ich mit Frl. Mangelsdorf nach Neustadt zum Zahnarzt, derselbe ist sehr schonungsvoll u. tat mir fast nicht weh. Da wir noch drei Stunden Zeit bis zum Abfahren hatten, so machten wir einen Spaziergang nach Arnshaug,¹² durch die Stadt und auf den Markt, kauften uns dann Gebäck u. setzten uns in die Anlagen. Frl. Mangelsdorf war von allem entzückt und genoß die kleine Reise sehr. Das kann ich von mir nicht behaupten; ich war sehr müde. Der Oberpfarrer aus Ziegenrück besuchte die Mutter, und versprach, mit seinen Eltern zu kommen. Die Mutter lud sie darauf alle auf Mittwoch zu Tisch ein. So kamen sie denn und wir hatten selten so netten Besuch. Der alte Herr von Gerlach war still und würdig, aber sehr angenehm; ich saß neben ihm bei Tisch und unterhielt mich sehr gut. Frau von Gerlach war sehr nett, am besten gefiel mir Frl. von Gerlach: sie ist 19 Jahre alt u., ebenso wie ihr Bruder, sehr lustig und liebenswürdig. Wir zeigten ihnen Haus, Gärten, Kapelle und Park und alles schien ihnen gut zu gefallen. Wir gingen mit ihnen zu Superintendentens, von wo sie nach Ziegenrück fuhren. Es sind so gute, liebe Menschen. Ein Kontrast zu diesem netten Besuch war einer, den wir am selben Tage zum Abendessen erhielten: Beusts. Sie waren zwar ganz nett und kam es zu keinem Streit, aber eine Freundschaft, die ihrerseits auf so viel Unwahrheiten, Weltlichkeit u. Leichtsinn beruht, kann nicht erquickend sein. Die Mädchen entbehren uns nicht u. wir mögen sie nicht; sie beklagen sich, daß wir unserer Mutter alles sagten, sodaß wir eigentlich zu keiner gemütlichen Unterhaltung kommen. Man sagt, daß man sich mit Menschen, die man oft sieht, hineinlebt; ich kann aber wohl sagen, daß wir uns mit Breitenbauchs zusammen, mit Beusts auseinanderleben.

12 Stadtteil von Neustadt an der Orla.

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Der Tag, der einem genußreichen folgt, ist gewöhnlich blau. So war auch der Donnerstag, gestern, quer und unerquicklich. Erstens ist es etwas ernüchternd, nach einem festlichen Tag einen rechten Werkeltag leben zu müssen. Man ist mit seinen Gedanken nicht bei der Sache und macht infolgedessen Dummheiten. Dann aber hatten wir uns verschlafen u. kamen nicht zum Frühstück, es regnete unaufhörlich, der Klavierstimmer war im Hause u. marterte uns mit seinem Geklimper; das Schlimmste aber war, daß unser netter Rudolstädter Plan ins Wasser fiel. Wir wollten Freitag u. Samstag nach Rudolstadt, Besuche machen, bei der Prinzeß Audienz haben u. bei Freunden den Abend verbringen. Nun aber kommt der Vater am Freitag über den Sonntag u. die Prinzeß ladet uns auf morgen zur Tafel um drei Uhr ein. So fallen die netten Besuche fort, der langweilige Hofzwang bleibt u. wir können den Vater nicht einmal genießen. Es ist so verzwicktes Pech, daß ich lachen mußte, trotzdem ich ärgerlich war. Ich habe ganz vergessen, daß Mittwoch, 3.6., Rudis 10ter Geburtstag war. Möge Gott den lieben kleinen Kerl behüten! Jörge schickte ihm ein Pfeifchen und ein Gedicht. Es liegt manches verborgen in ihm, was keiner ihm zutraut, weil er so schweigsam ist. Rudi erhielt ein Buch, eine Mappe, ein Schurzfell u. viele Kleinigkeiten. Er feiert seinen Geburtstag Sonntag mit Hahmanns nach. Sonntag, 7.6.91 Also gestern war ich zum ersten Male bei Hofe; dies Ereignis hat mir aber weder einen Eindruck gemacht, noch mich irgendwie aufgeregt. Prinzen sind doch auch Menschen u. gegen die kleinen Höfe habe ich immer etwas demokratische Gesinnungen. Doch ich will von vorne anfangen. Auf dem Bahnhof in Pößneck trafen wir Herrn und Frau von Gerlach mit ihrer Tochter. Sie fuhren auch nach Rudolstadt, sodaß wir die Reise zusammen machen konnten. Wir hatten uns so viel zu erzählen, daß sie wie im Fluge verstrich. Ich bin selten mit Menschen zusammen gekommen, mit denen wir uns so schnell angefreundet hätten, wie mit Gerlachs. In Rudolstadt hatten sich Tante Fanny, Tity, Frau von Holleben, Jella u. Frl. von Holleben eingefunden, um uns zu begrüßen. Wir gingen zu Beulwitzens, konnten aber Gretchen nicht sehen, da sie einen Schwächeanfall hatte. So zogen wir uns an, Kreppkleider mit blauen Bändern, frisierten uns selbst u. fuhren aufs Schloß. Außer der Hofdame, Frl. von Riedel u. dem Hofmarschall, Herrn von Klüber, waren noch Frau von Bertrab u. Frl. von Scheffiatowsky da. Prinzeß Thekla¹³ hatte sich das Bein verstaucht. Kam nicht zum Essen. Nachdem wir lange gewartet, kam Prinzeß Adolph¹⁴ u. machte Cercle, langweilig 13 Prinzessin Thekla von Schwarzburg-Rudolstadt (1859 – 1939). 14 Witwe von Prinz Franz Friedrich Karl Adolph von Schwarzburg-Rudolstadt (1801 – 1875), geb. Prinzessin von Schönburg-Waldenburg (1826 – 1914).

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wie immer! Dann gingen wir zu Tisch. Wir aßen im Säulensaal u. ich hatte Muße, das schöne Silber u. Glas anzusehen, denn von Unterhaltung war nicht die Rede. Frl. von Riedel ist sehr schwerhörig, die Prinzeß einsilbig; die Mutter u. Frau von Bertrab machten schwache Versuche, es entstanden lange Pausen, in denen nur Herr von Klübner u. Margarethe sich eifrig unterhielten. Eine Dummheit machte ich doch, ich ließ meinen Fächer liegen; doch brachte ihn der Lakai später. Wir saßen bei Prinzeß Thekla noch eine halbe Stunde und wurden dann entlassen.– Zu Beulwitzens zurückgekehrt, widmeten wir uns ganz Gretchen. Ich fand sie nach den Beschreibungen, die ich gehört, verhältnismäßig recht wohl aussehend, sie nahm auch regen Anteil an allem und war recht gesprächig. Wir fürchten, daß sie noch lange wird zu leiden haben. Leider ging unser Zug schon um 6 Uhr; wir kamen um 9 Uhr nach Wernburg, wo inzwischen Heinzelmanns aus Stuttgart eingetroffen waren. Die braven, alten Leute machen eine Rundreise u. sind entzückt über alles, was sie hier sehen; es ist jetzt aber auch gerade herrlich hier. Dienstag, 9.6.91 Heute reise ich mit dem Vater nach Berlin u. von da zu 14 tägigem Aufenthalt nach Senzke zu Bredows. Ich war schon lange eingeladen, am Sonnabend bat Herr von Bredow nochmals; da entschlossen sich die Eltern plötzlich, mich jetzt gleich zu schicken. Ich freue mich natürlich sehr, obwohl mir etwas bänglich war, unter lauter fremde Menschen zu kommen. Also ade! Senzke, 11.6.91 Hier sitze ich in meinem hübschen Gaststübchen in dem lieben Senzke. Leider verhindert uns der strömende Regen am Hinausgehen. Also am Dienstag, nachdem wir alles gepackt, nahm ich Abschied und u. ging mit dem Vater zur Bahn. Die Mutter freute sich mit für mich und ließ mich ohne Sorgen fort. Bis Zeitz reisten wir mit dem Landrat zusammen, sodaß wir unsere Reiselektüre gar nicht brauchten. Danach schlief ich, während der Vater seine Rede lernte. In Berlin war ich beim Ankommen so dösig und frostig, daß ich zuerst in einem fort schauerte. Im Beyer’s Hotel hatten sie nur ein Zimmer in einer höheren Etage als Vaters frei, was ihm ungemütlicher war als mir. Es dauerte ewig lang, bis ich ein Federbett bekam, auf das ich mich mehr warf als legte. Von Frau von Mohl fand ich eine sehr liebenswürdige Karte vor. Nachdem ich am nächsten Morgen mit dem Vater beim Zahnarzt gewesen, ihn gezankt und mich über ihn geärgert hatte, kaufte ich mir noch Strümpfe u. ging allein zu Mohls. Ich wurde sehr liebenswürdig empfangen, von den Kindern mit Jubel begrüßt u. mir zu Ehren ein freier Tag gestattet. Frau von Mohl kaufte Schuhe und einen Regenmantel für mich mit mir bei Gerson u. Mannheimer u. frühstückten wir dann bei ihr mit dem Vater. Sie war ganz reizend freundlich u. ist eine zu liebe Frau. Der Vater ging mit mir nach der Kunstausstellung, wo wir aber nur zwei Stunden Zeit hatten. Es war viel zu kurz,

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doch sah ich viel Schönes und war sehr befriedigt von dem „Blind“ von Piglhein.¹⁵ Herr von Bredow sagte mir heute, er könne 2 Tage davor sitzen, ohne müde zu werden. Es ist eine Predigt in dem Ausdruck des Gesichts. Der Vater brachte mich auf den Lehrter Bahnhof, von wo ich alleine fuhr, mit, wie ich hier hörte, einem Frl. von Bredow – Wagenitz , die nächsten Donnerstag einen Vetter heiratet, u. ihrer kleinen, herzigen Nichte aus Berlin. In Paulinaue holte mich Frau von Bredow u. Adla ab. Sie waren sehr freundlich u. bedauerten nur das schlechte Wetter. Adla gefällt mir bis jetzt sehr gut; wir nannten uns sehr bald Du. Auch die herzige, kleine Ulla ist schon sehr zutraulich mit mir. Ich ging bald zu Bett. Adla arbeitet jetzt sehr fleißig an einem Arbeitskorb, den sie zur Hochzeit fertig machen will. Der Regen ließ uns heute früh nicht heraus, doch gehen wir vielleicht abends in „Die Quitzows“,¹⁶ die ausgezeichnet in Friesack gegeben werden. Sonnabend, 13.6.früh. Erst zwei Tage bin ich hier und habe schon so viel gesehen! Am Donnerstag wurde es nichts mit den Quitzows, da Herr von Bredow erst spät von Berlin kam. Dafür machten Adla und ich eine wunderhübsche Fahrt mit den Ponies durch Wald u. Heide. Adla fährt sehr gut und sicher u. ich bin auch gar nicht ängstlich. Es ist ja ganz glattes, ebenes Land, u. doch hat es seine Reize; die Kiefernwälder, die Seen, die Havel bringen Abwechslung in das glatte Land. Und dann ist das viele Fahren doch herrlich. Gestern machten Frau von Bredow, Adla und ich eine Ausfahrt. Wir wollten nach Kotzen und Stechows besuchen, fanden aber das Nest ausgeflogen. So entschlossen wir uns, nach Ferchesa¹⁷ zu fahren. Dies reizend gelegene Schlößchen gehört einer Frau von Knoblauch, ist aber an den Admiral von Kahl vermietet. Es sind drei erwachsene od. halberwachsene Töchter von 18, 17 u. 16 Jahren im Haus. Die älteste ist ein hübsches, nettes Mädchen, aber von der Mutter sehr unterdrückt zu Gunsten der zweiten, einem unangenehmen Mädchen, die schon seit zwei Jahren! ausgeht. Wie sich am Abendessen herausstellte, war gerade ihr 17. Geburtstag. Deshalb waren auch noch 2 Frl. von Hempel aus Friesack u. die zwei lustigen Kotzener Mädchen da. Trotzdem ich ganz fremd war, freundete ich mich sehr bald an. Elli Stechow besonders war sehr liebenswürdig; sie ist ein zu originelles, drolliges Mädchen; trotzdem sie unglaubliche Dinge redet, muß man ihr gut sein, weil sie so natürlich ist. Ferchesa liegt an einem wundervollen Havelsee, auf dem uns der Admiral selbst ruderte. Er war der einzige Herr unter vierzehn Damen, war aber sehr vergnügt, daß uns allen der See so gefiel. Wir blieben bis

15 Bruno Piglhein (1848 – 1894), Maler der Münchner Schule, Gründer der Secession. Das Bild stellt eine blinde Frau in einem roten Mohnfeld dar. 16 Ernst von Wildenbruch, Die Quitzows, Schauspiel um Friedrich I. von Hohenzollern. 17 Eigentlich Ferchesar.

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11 Uhr u. hatten eine schöne Fahrt zurück; Herr von Bredow empfing uns noch und lachte, daß ich gondelte, nachdem die Mutter so ängstlich geschrieben hatte. Heute vor Tisch waren Adla und ich in Pessin, damit sie es nicht krumm nehmen, daß wir sie nicht zuerst besucht haben. Es sind vier erwachsene, ganz nette Frl. von Knoblauch dort. Zwei davon sind riesengroß, wie die Palmen, schlank u. dünn. Sie sind sehr begabt, malen, brennen, schnitzen etc. Wir machten nur einen kurzen Besuch, da wir zu Tisch zurückkommen mußten. Heute Abend kommt ein Pastor Gensichen hierher, der morgen eine Probepredigt halten will. Der Name klingt nicht vielversprechend. Dienstag, 16.6. – Gestern Abend erst sind wir vom großen Rennen zurückgekehrt aus Brandenburg. Also, am Sonntag früh hörten wir eine ausgezeichnete, wundervolle Probepredigt u. auch der Mann selbst gefiel uns allen sehr gut.– Um elf Uhr fuhr dann Herr von Bredow mit Adla u. mir nach Brandenburg, 3 deutsche Meilen von Senzke. Wir fuhren in strömendem Regen ab, doch als wir in Brandenburg bei Tschirschkys ankamen, hatte es sich etwas aufgeklärt. Frau von Tschirschky ist eine reizende, liebenswürdige junge Frau, Bredows älteste Tochter, er ist ein guter, dicker Kürassier u. ihr Töchterchen ist ein herziges Kindchen. Nach dem Frühstück fuhren Herr von Bredow, seine beiden Töchter, Albrecht, sein jüngster Sohn u. ich vor die Stadt auf den Rennplatz u. stiegen auf die Tribüne; sie war schon sehr gefüllt u. ich mußte mich rechts u. links vorstellen. Darauf kam ein Trupp Kürassiere u. Husaren und Herr von Bredow stellte mir zwanzig hintereinander vor, sodaß ich fast von keinem wußte, wie er aussah oder hieß. Das erste Rennen war sehr interessant, da der Sieger den großen Damenpreis erhielt. Hans Tschirschky, der jüngste Bruder von Adlas Schwager ritt auf Burgberg, einem prachtvollen Pferd, das früher Herrn von Bredow gehörte. Er war schon sechs Pferdelängen voraus, des Sieges gewiß, als das Pferd stürzte u. er sich das Schlüsselbein brach, an Kopf und Fuß verletzte. Trotzdem kam er noch als Dritter an, und wurde mit lautem Hurra begrüßt, während der Sieger, ein Herr von Senden, mit Stillschweigen empfangen wurde, dann kamen noch fünf Rennen, denen wir mit Spannung folgten. Ein Herr von Goßler ritt 2 Pferde tot und kam mit seinem eigenen glücklich an. Dazwischenhinein waren verschiedene wolkenbruchartige Regenschauer, die uns durchweichten trotz Schirmen und Mänteln. Zuletzt ging Herr von Bredow mit mir unter die Tribüne, wo Offiziere u. Damen aneinander gedrängt waren u. man durch die Ritzen hindurch den Schmutz von den Füßen der obenstehenden bekam. Herr von Bredow glaubte, die Lust zum Rennen wäre mir ausgetrieben, aber, im Gegenteil, ich finde es wundervoll interessant u. lustig. Die Herren gingen alle ins Kasino, Adla u. ich aßen bei ihrer Schwester mit dem verwundeten Tschirschky zu Abend, und waren, ob-

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wohl er große Schmerzen hatte, sehr lustig zusammen. Adla u. ich schliefen zusammen auf dem Boden, waren aber zu müde, um Unsinn zu machen. Gestern, Montag, blieben wir noch bei Frau von Tschirschky u. gingen mit ihr etwas in der Stadt spazieren. Es war aber sehr windig. Herr von Bredow fuhr nach Berlin und Adla und ich nach Senzke, wo inzwischen Gräfin Waldersee, Frau von Bredows Schwester eingetroffen war. Man warnte mich vor ihr, da alle jungen Mädchen sich vor ihr fürchten sollen. Ich komme aber sehr gut mit ihr aus, finde sie sehr liebenswürdig u. bin gar nicht höflicher oder zuvorkommender als mit jeder alten Dame. Heute früh haben wir eifrig Adlas Hochzeitsgeschenk, einen reizenden Stehkorb, vergoldet, geglättet und genäht. Frau von Bredow fuhr mit einem Wagen voll Kesseln, Formen, Silber etc. nach Wagenitz hinüber u. brachte mir zu meiner Freude eine Einladung zum Polterabend. Bredows haben gewiß dazu beigetragen, aber trotzdem ist es sehr liebenswürdig von den Wagenitzern gewesen. Die Braut soll es sehr gewünscht haben. Mein Kreppkleid ist schön genug, da alle anderen in Kostümen tanzen. Nur die Ärmel ließ ich mir schnell halblang machen von der Gärtnerstochter. Mittwoch Abend. Dienstag Nachmittag fuhren wir mit der Mademoiselle nach Friesack, ließen Adlas beim Rennen vernichteten Hut aufarbeiten u. besuchten Hempels. Es sind wirklich zwei ausgezeichnete, nette, lustige Mädchen; sie zeigten uns ihre Kostüme und ihr Geschenk, einen eingebrannten Tisch. Auf dem Rückwege bemühten wir uns vergeblich, etwas mit der Mademoiselle zu sprechen. Sie ist ein schrecklich verschlossenes, unfreundliches Geschöpf; ich kann gewiß einen Menschen ordentlich ausholen, bringe aber keine Konversation zustande. Ulla kann noch kein Wort französisch u. ist doch solch begabtes Kind. Adla profitiert gar nichts; deshalb soll ihr gekündigt werden. Sehr gebildet scheint sie mir auch nicht. Heute früh kam Adlas Kostüm an. Sie geht als Helgoländerin u. hat einen roten Tuchrock, seidene Schürze, schwarzes Samtmieder, buntes Tuch und eine wunderhübsche grüne Tuchkappe mit Gold gestickt an. Sie trägt dazu ihr schönes, blondes Haar in 2 langen Zöpfen u. sieht wirklich wunderhübsch aus. In Wagenitz ist heute große Probe, aber ohne Herren gewesen. Frau von Bredow sagte mir, wenn ich es sehr wünschte, würde sie mich mitnehmen. Das hieß also: „Bleibe“; folglich blieb ich und machte mit Ulla einen längeren Spaziergang. Sie ist ein süßes, kleines Geschöpf und so zutraulich und anschmiegend mit mir. Es war der erste schöne Abend; trotzdem Adla von der Probe etwas ermüdet war, ging sie mit ihrem Vater und mir im Friedenshain. Herr von Bredow erzählt mir sehr viel; er hat mich gern und verwöhnt mich; aber ich will mich nicht verwöhnen lassen.

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Sonnabend, 20.6.– Die Hochzeit ist vorbei. Es waren sehr schöne, frohe Tage. Ich Glückspilz, daß ich das gerade hier erleben mußte. Doch ich will alles der Reihe nach erzählen. Also am Donnerstag halfen wir die Fremdenzimmer richten, da ziemlich viele Hochzeitsgäste einquartiert waren. Zum Mittagessen um halb 4 Uhr kamen Herr und Frau von Tschirschky, Graf Schlieffen, ein Kürassier, Herr von Jagow und Herr von Zieten von den Husaren und Cuno Bredow und Herr von Fabeck vom Elisabethregiment.¹⁸ Letzterer saß neben mir und ist ein unschöner, aber sehr fröhlicher Mensch mit fromm angeklebten Haaren. Ich trank sehr viel bei Tisch und war zuletzt etwas bedudelt; doch lief ich dann in den Garten und wurde wieder ganz munter. Frau von Bredow fuhr schon um halb 6 Uhr mit Adla im Kostüm und Herrn von Zieten nach Wagenitz. Wir übrigen folgten um sieben Uhr nach. Ich zog mich allein an, frisierte mich sehr hübsch, steckte mir Rosen vor und ließ mir welche von Frau von Tschirschky ins Haar stecken. Ich war einfach, aber hell und jugendlich angezogen und sah, glaube ich, recht frisch aus. Wir füllten gerade den Omnibus aus und kamen ziemlich früh hin. Da 30 Personen, und hauptsächlich junge Leute bei den lebenden Bildern mitwirkten, so war die Gesellschaft ziemlich klein. Ich ließ mich allen Damen vorstellen und ging dann mit den drei jungen Mädchen, die nicht spielten, Fräulein von Arnim und den beiden Ralls in das sehr volle Geschenkzimmer. Die Braut, Lisa Bredow, ist schon 26 Jahre alt, drei Jahre älter als ihr Bräutigam, Graf Bredow. Sie war reizend nett zu mir, begrüßte mich gleich u. kam während des Abends öfters zu mir, fragte mich, ob ich mich amüsiere, etc. Um acht Uhr zogen wir in das Theater, das ein früherer Besitzer mit Logen, Galerien etc. hat bauen lassen und das sich natürlich zu Aufführungen eignet. Ich saß mit zwei Herren bei den alten Damen und sah ausgezeichnet. Zuerst waren allerlei kleine Aufführungen, von den Geschwistern des Brautpaares; dann kamen die lebenden Bilder: Zuerst die heilige Elisabeth mit den Rosen; und dann Wagenitz in 8 Bildern: Winzer, Antrag auf Helgoland, Gratulanten, Ekkehard, Neapolitaner, Ingeborg, Tanzstunde, Zigeuner; zuletzt bei bengalischer Beleuchtung eine Gesamtgruppe. Es würde zu weit führen, wollte ich jedes Bild beschreiben; ich sage nur, daß sie alle sehr gut gelungen waren u. daß mir Ekkehard und der Heiratsantrag, in dem Adla stand, am besten gefielen. Sie hatte eins der hübschesten Kostüme und sah beim Tanzen, dadurch daß sie mehr Farbe hatte, reizend aus. Nach den Aufführungen war Büffet; wir saßen an kleinen Tischen; Adla, Natalie Bredow und ich mit Herrn von Bredow, Herrn von Rheden, Herrn von Fabeck. Dann begann der Tanz in einem leider zu kleinen Saal. Ich hatte nicht gedacht, daß ich viel tanzen würde; ich halte mich für nicht hübsch und war ja ganz fremd in der Gesellschaft. Daher war ich

18 Das 3. Gardegrenadierregiment „Königin Elisabeth“.

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sehr angenehm überrascht, daß ich immerzu tanzte und keine fünf Minuten stand. Ich kannte zwar gar keinen Herrn beim Namen, amüsierte mich aber gottvoll, tanzte im Carré in der Quadrille vor, mit einem Grafen Bredow, der ein berühmt guter Tänzer ist. Einen Blumenwalzer gab es zum Schluß und ich bekam sechs Sträuße dabei. Herr von Fabeck, mit dem ich im Theater und Souper war, brachte mir wieder einen Strauß. Deshalb wurde ich von Herrn von Bredow gräßlich mit ihm geneckt, bis ich eines Tages die Butter anschnitt. Meine Haupt-Tänzer waren Graf Solms, Graf Bredow-Friesack, Bredow-Mückeberg, Achim und Kristoph Bredow-Wagenitz. Um ein Uhr war alles aus; meine Füße taten mir auch so weh, daß ich nicht mehr stehen konnte. Ich schlief auch in einem Zuge bis acht Uhr. Nach dem Frühstück machten wir einen Spaziergang mit allen Gästen. Adla war mit ihren Eltern zur Hochzeit eingeladen. Frau von Tschirschky und ich wohnten der Trauung bei, deren Weihe durch einen Dachshund etwas gestört wurde. Er trieb sich zwischen den Gästen umher und setzte sich dann hinter das Brautpaar. Frau von Tschirschky ist so drollig und nett und brachte mich dauernd zum Lachen. Zurückgekommen, fuhren wir mit Herrn von Tschirschky auf die Pirsch. Es war wonnig, durch Gestrüpp und Wiesen, Gräben und Pfützen, dick und dünn. Er schoß nichts, aber trotzdem unterhielten wir uns herrlich. Adla kam um zehn Uhr sehr vergnügt zurück, worauf alle Brandenburger noch abfuhren. Am Sonnabend erholten wir uns von den Strapazen, indem wir nur gegen Abend eine Fahrt nach Pessin, Hagen, zurück durch das Luch machten. Herr von Bredow zeigte mir seine Ställe in Pessin u. stellte mir die Pächtersleute, recht nette, gebildete Menschen vor. Frau von Bredow hatte eine schlimme Migräne und konnte deshalb auch Sonntag nicht aus dem Hause. Wir, Adla und ich, fuhren mit den Ponies 2 Stunden weit, nach Nennhausen aufs Missionsfest; die Dienstboten fuhren viere lang vor und kamen sich sehr forsch vor. Mademoiselle war schlechter Laune und sagte, es sei ja gleich, ob sie zu Hause oder auf dem Missionsfest sei. Wir tranken sehr schwachen Kaffee und zogen dann in langem Zuge in den Wald auf einen Berg, wo ein kleiner Altar, Kanzel und Bänke im Grünen errichtet waren. Da trafen wir Frau von Kall mit zwei Töchtern und Frau von Stechow mit drei Kindern. Elly war zu komisch, nannte mich bald Sie, bald Du, olles, süßes, kleines Schaf, fragte nach der Hochzeit und sprach über verschiedene Herren, bis die alten Pastorenfrauen sich bedenklich umsahen. Und doch gefällt mir Elly sehr; sie ist so gut, natürlich und liebenswürdig, daß man ihr gut sein muß. Die Liturgie hielt ein Pastor, der furchtbar stottert und nicht g, k, b und p sprechen kann. Dann folgte eine sehr gute Predigt, und vier Nachreden, von denen zwei gut und zwei entsetzlich langweilig waren. Kürze ist nicht allein des Witzes, sondern auch der Predigt Würze, und diese waren so lang, daß wir auf den niederen

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Bänken Krampf in den Füßen bekamen. Nachdem wir im Pfarrhause uns gestärkt hatten, fuhr Herr von Bredow mit Adla und mir durch das Luch zurück. Es ist eine recht märkische Tieflandsgegend, doch zieht es mich an, dieses unbebaute, sumpfige Land, auf dem nur Riedgras wächst, in seiner abendlichen Ruhe; hin und wieder der Schrei eines Reihers oder Kiebitzes, das Abendrot, das sich auf den trüben, zerstreuten Wasserflächen spiegelt, das grüne Gras, das vom leichtesten Fuß berührt, versinkt, dies alles gibt ein fremdartiges, aber reizvolles Bild. – Die Fahrten mit Herrn von Bredow sind sehr unterhaltend; er erzählt Jagd -und Reitgeschichten oder wir sprechen über ernste und heitere Dinge. Montag erhielt Frau von Bredow die Nachricht, daß Albrecht die Masern hat, weshalb sie gleich nach Brandenburg fuhr. Dienstag wollten wir ohnehin, da Frau von Tschirschkys Geburtstag ist. So müssen wir nun allein hin. Adla und ich machten allein einen Dankbesuch in Wagenitz. Frau von Bredow war sehr liebenswürdig, die beiden Töchter u. die beiden Arnims sehr liebenswürdig und lustig, sodaß wir anstatt einer halben, zwei Stunden blieben. In Senzke hörten wir mit Bedauern, daß wir die Pessiner verfehlt. Am Abend hatten wir einen rechten Schreck. Als ich zu Bett ging, hörte ich rufen, lief in das Zimmer der Gräfin Waldersee, die ich blaß und erschöpft auf ihrem Bett sitzend fand. Sie hatte Blut gespuckt und obwohl es nach Ausspruch der Ärzte nichts zu sagen hat, alteriert sie sich immer so darüber, daß sie Tage lang elend ist. Ich gab ihr Wasser u. holte dann Adla, die bis 1 Uhr bei ihr saß. Sie wollte durchaus Zitronen, doch waren diese ausgegangen und nirgends zu haben. Da sie am folgenden Tage etwas besser war, fuhren Adla, Ulla und ich nach Brandenburg zum Geburtstage und trafen bei Frau von Tschirschky noch Frau von Bredow, die erst am Abend in das Masernzimmer ging. Wir bauten ihr den Geburtstagstisch auf, da ihr Mann erst um sechs Uhr zurückkam. Zum Essen kam Hans Tschirschky, der noch den Arm in der Binde trug. Frau von Bredow ging gleich nach Tisch fort; wir aber blieben bis elf Uhr auf dem Balkon sitzen, tranken Bier und unterhielten uns herrlich. Es sind alles so reizend frische und natürliche Menschen, daß man sich wohl mit ihnen fühlen muß. Am nächsten Tage zeigten wir Ulla die Stadt und kauften ihr ein Püppchen. Um vier Uhr nahm ich Abschied von allen in Brandenburg und wir fuhren nach Senzke, wo wir von einem Gewitter überrascht wurden. Leider mußte Frau von Bredow schon am nächsten Tage zurück nach Brandenburg, da die Pflegerin krank war. Da ich Sonnabend früh fortfuhr, mußte ich ihr jetzt schon Adieu sagen. Die letzten Tage machten wir Spazierfahrten und am Abend hatte ich zweimal Ruderstunde bei Herrn von Bredow. Sie sagten alle, daß ich fabelhaft schnell gelernt hätte. Am Sonnabend also nahm ich Abschied von dem lieben Hause, von den mir teuren Menschen, mit denen ich mich so gefunden in der kurzen Zeit. Herr von Bredow

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schenkte mir das Bild von Senzke u. Blumen und sagte, ich wäre jederzeit willkommen in Senzke. Ich hatte das Gefühl, daß sie mich alle lieb haben und der Abschied ward mir schwer. Adla fuhr bis Pessin mit, wo wir kurzen, herzlichen Abschied nahmen. Die Mademoiselle fuhr bis Berlin mit mir, wo mich Frl. Güntzel¹⁹ in Empfang nahm. Ich verlebte drei höchst unglückliche Tage in Berlin. Es ist immer schwer, nach einem schönen, friedlichen Aufenthalt auf der Durchreise in einem nicht so angenehmen Kreise zu sein. Es war glühend heiß, die Tante²⁰ war nach der teuren Kur in Dresden elend und war nicht gut aufgelegt, zog über die Mark im Allgemeinen u. über Herrn von Bredow im Speziellen her. Ich durfte ihr nicht widersprechen, um sie nicht zu reizen u. weinte innerlich vor Ärger. – Ich ging in die Kirche, zum Zahnarzt, in die Kunstausstellung, spazieren, alles bewußtlos und dachte zurück. Montag früh glücklich dampfte ich ab; meine erste selbständige Reise ging gut vonstatten. In Pößneck war Margarethe und um ein Uhr langte ich in Wernburg an, dankbar u. glücklich für die schöne Zeit, die ich verlebt. 22. Juli 1891 Ich habe eine Ewigkeit verstreichen lassen, ohne zu schreiben und da ich nicht alles nachholen kann, so will ich nur die Glanzpunkte berühren: Mutters Geburtstag, an dem wir die Scharade: „Sommernachtstraum“ in drei hübschen Bildern aufführten, eine Visitentournee in Rudolstadt bei allen Bekannten, wo Margarethe und ich als erwachsen vorgestellt wurden, Jörges Ankunft, ein vierzehntägiger Besuch von Anni Imhof, einem reizend frischen, lustigen u. wohlerzogenen Mädchen. Letzten Mittwoch holte ihre Mutter sie ab, Jetzt haben wir Lily Beulwitz zu Besuch u. machen einige Erziehungsversuche an ihr. Letzten Sonnabend begannen die Ferien der Kleinen und Frl. Mangelsdorf reiste früh ab. Um gleich die Freiheit auszunutzen, machten wir gleich Montag eine Landpartie. Die Mutter fuhr mit Margarethe, da letztere sich den Fuß verknackst hatte. Der Vater ging mit uns früh um sieben an einem wonnigen taufrischen Morgen an Gössitz vorbei durch den Schlinggrund nach der Hakenmühle. Wir zogen singend die Saale entlang durch anmutige Täler und hohe Fichtenwälder. In der Mühle blieben wir bis ein Uhr, frühstückten weidlich, die Jungen badeten u. Sabina und ich wateten durch die vielen Steine in der Saale herum. Dann hatten wir einen sehr schönen, aber sehr beschwerlichen Weg nach Ziegenrück, wo wir sehr erhitzt ankamen und zum Oberpfarrer gingen. Wir tranken Kaffee, besahen das originelle alte Haus und die Kirche und machten einen Spaziergang auf die Waldkanzel; wunderschön war eine Kahnfahrt auf der Saale mit Gesang und Scherzen. Nach einem ebenso reichlichen

19 Gesellschafterin der Großmutter Henriette Freifrau von Varnbüler, geb. Freiin von Süßkind (1815 – 1902). 20 Hildegard Freifrau von Spitzemberg.

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wie gemütlichen Abendessen, gingen wir, begleitet vom Oberpfarrer nach Wernburg. Wir waren alle ganz entzückt von seiner gastlichen Aufnahme und von seinem angenehmen, freundlichen Wesen. Auch seine Hausdame, Frl. Pohlmann, ist ein sehr nettes, ältliches Fräulein. Wir hatten 7 ½ Stunden marschiert, freuten uns mit Recht auf unser Bett und schliefen gleich ein. Gestern war ein sehr unruhiger Tag; wir waren sehr emsig bei der Arbeit, da wir zu Vaters Geburtstag eine Aufführung machen wollen, als die Altenburger Breitenbauchs kamen. Wir feierten ein rührendes Wiedersehen; ich stehe ihnen am fernsten, aber Anna und Margarethe sind dick befreundet, sehen sich aber leider nur die kurze Zeit. Kaum waren sie fort, als Lothar Wurmb mit seinen beiden kleinen Schwestern für den ganzen Tag kam. Sie waren sehr nett, aber doch ist es nicht lustig, wenn man alle Hände voll zu tun hat, einen Kadetten, und zwar einen witzig sein wollenden, die ganze Zeit unterhalten zu müssen. In dieser Woche machten Heydens ihren ersten Besuch u. blieben bis zum Abend. Sie sind ein kinderloses Ehepaar, u. haben Obernitz von Motzens gekauft. Frau von Heyden gefällt uns allen besser als er; er widerspricht in einem fort und soll auch recht unangenehm werden können. Das kann ich mir lebhaft denken. Donnerstag fuhren Margarethe und ich nach Wöhlsdorf, um Kirschen zu holen und Irene zu besuchen. Der erste Zweck ward nicht erfüllt, da die Kirschen nicht reif genug waren, bei Weidenhammers aber hatten wir riesiges Glück, da gerade Irenens Geburtstag war. Infolgedessen war Kuchen gebacken, Irene im Sonntagskleid und Armgard W. u. Toni Kramer zu Besuch; so war es nicht allzu langweilig. Doch ärgerte uns die Förmlichkeit der Mädchen. Es hieß die ganze Zeit: Entschuldigen die Damen, bitte setzen sich die Damen etc. Das stört jeden netten Verkehr. Rudi legte sich, wie wir fürchteten, an Ziegenpeter, und da wir alle Sonnabend nach Porstendorf wollten. Sabina u. Jörge reisten schon Freitag, Ansteckung fürchtend, voraus. Da Rudi Sonnabend wieder wohl war, reisten wir alle mit Tity auf einen Tag nach Porstendorf und wurden von Wurmbs u. den drei Tanten Thümmel mit offenen Armen empfangen. Klein-Paula sowohl als Clémence sind beide in ihrer Art sehr hübsch geworden, besonders erstaunte uns die Tante, die in einem weiß und goldenen Gewand sehr hübsch aussah. Die beiden Buben betrachteten uns ganz als Schwestern; überhaupt vergessen wir ganz, daß wir mit Wurmbs nicht verwandt sind. Wir spielten zusammen u. sahen dann die Jungens reiten. Jörges Pferd, ein junges, uneingerittenes Wagenpferd ging mit ihm durch, raste auf jeden Baum am Wege los und ging dann zurück in den Stall. Zuerst erschrak ich sehr, aber dann

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freute es mich, ihn so fest auf dem in Carrière²¹ dahin sausenden Pferde sitzen zu sehen. Gegen Abend fuhren wir alle nach Dornburg in zwei Wagen, gingen zu Fuß auf den Berg zu den drei Schlössern. Wir waren sehr lustig zusammen und die Eltern ließen sich erbitten, Rudi und Burkhart bis Montag in Porstendorf zu lassen; so fuhren wir mit Tity allein zurück. Sie war sehr müde und ziemlich deprimiert über den Verlust ihrer Indianermänner. Deshalb suchten Margarethe und ich sie zu amüsieren, gaben ihr zum Kochen heraus und schickten sie zu Else Hahmann. Sonntag blieben die Eltern allein zu Hause. Margarethe und ich gingen hinüber zu den Altenburgern, wo wir die Buchaer und die Raniser trafen. Es war reizend nett u. gemütlich; deshalb waren wir nicht sehr erbaut, als ein Bote uns nach Wernburg zurückkommen hieß. Es waren nämlich Staatsrats Holleben mit drei Töchtern gekommen, um uns den Gegenbesuch zu machen, da wir sie in Rudolstadt verfehlt hatten. Sie blieben zum Abendessen, wonach wir sie bis Jüdewein begleiteten. Die drei Töchter, wovon die älteste 26, die jüngste 17 Jahre alt ist, sind ganz nette Mädchen, sehr burschikos, etwas albern und gerieten in Verzückung, wenn man von Husaren oder Kürassieren sprach. Die zweite, Fides, ist angenehm und still; Gertrud und Eva sind nicht gerade mein Geschmack. Montag kamen unsere Buben sehr entzückt zurück u. erzählten viel vom Gustav Adolf-Festspiel, das sie in Jena am Sonntag gesehen hatten. Dienstag kam unser neuer Oberpräsident, von Pommer-Esche zum Frühstück zu uns. Er ist sehr würdig und höflich, im Übrigen ein recht angenehmer, ältlicher Herr, wie sich entpuppte, der Bruder von Frau von Delbrück, hat aber, Gott sei Dank, nicht solch schreiiges Organ wie sie! Am Abend war großes Diner in Ranis, wozu aber nur der Vater eingeladen war. Den nächsten Morgen hatte er eine Konferenz in Erfurt, es paßte uns das sehr gut zu unseren Festvorbereitungen. Wir hatten Zeit, noch alles zu lernen, nähen und zusammenzulesen. Mittwoch Morgen besuchten uns Frau Landrat und Frau von Breitenbauch-Bucha mit ihren beiden Töchtern, Grete habe ich sehr gern und wenn sie auch nicht gescheit ist, so ist sie doch ein herzensgutes, reizendes Wesen. Sabinchen ist ein süßes Mäuschen. Am Donnerstag kamen die Altenburger, Ludwig und Hahmanns zur Probe und zum Anprobieren. Generalprobe konnten wir nicht halten, da die Kostüme erst im letzten Moment fertig wurden. So sagten wir nur alle auf und die Mutter gab ihr Urteil ab. Freitag, 31.7. war der Geburtstag, ein wunderschöner, ungetrübter Tag. Die Mutter hatte dem Vater auf den Fries des Vorzimmers die zwölf Bilder des Tierkreises in Renaissancearabesken gemalt. Daher kamen wir auf den Gedanken, die zwölf

21 Schnellstmöglicher Galopp.

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Monate auftreten zu lassen und ihren Glückwunsch auszusprechen. Margarethe und ich machten in acht Tagen vierzehn Gedichte, Sabine u. Jörge fabricierten zwölf Schilder mit den Tierzeichen, die jeder der Monate auf der Brust trug. Außer Tity requirierten wir noch Else und Conrad; Anna, Frieda und Ludwig als Mitspielende. Sie kamen Punkt neun Uhr und um zehn Uhr begann die Aufführung. Wir umstanden im Halbkreis den Vater und zwar: Else Hahmann als Schneemann, Burkhart als Karneval, Sabine als Schäferin, Conrad als Osterhase, Frieda als Maiglöckchen, Tity als Badepüppchen, Margarethe als Ernte, Anna als Reise, Jörge als Jagd, ich als Oktober, Weinernte, Rudi als Koch mit der Martinsgans, Ludwig als Christkind. Ich muß sagen, jeder hatte die Rolle, die am besten für ihn paßte und sahen alle sehr gut aus. Die Mutter als Jahr sprach Prolog und Epilog und soufflierte, wozu aber fast nie Gelegenheit war. Bis zum Essen unterhielten wir uns mit den Gästen. Zum Essen kam Onkel Beulwitz und fühlte sich sehr wohl an dem langen Jugendtisch. Um vier Uhr kamen die Eltern der mitspielenden Kinder. Wir wiederholten die Aufführung und ernteten sehr viel Beifall. Der Vater dankte uns sehr für die Freude, die wir ihm gemacht und das war die Hauptsache. Onkel August holte Tity ab; das liebe Ding wird uns recht fehlen mit ihrem Geschrei und Gejubel. Sonnabend war, wie sich denken läßt, großes Aufräumen. Sonntag aber war mein erstes Diner in der Umgegend und zwar eines in Gräfendorf mit Landrats und Weidenhammers. Ich saß zwischen Irene und Elfriede, unterhielt mich aber sehr gut. Überhaupt war es ein sehr nettes, gemütliches Zusammensein, viel netter als ich mir vorgestellt. Irene schustert sich jetzt bei uns, als ob sie uns zu intimen Freundinnen haben wollte; das möchte ich gerade nicht. Montag den 3. August kam Tante Alice²² mit ihren Mädele an. Sie sind beide herzig; Hilde ein sehr gewecktes, interessantes Kind, Gertraut ein reizendes Dickerle. Der Vater, der sich zuerst gegen die Kinder gewehrt hatte, hat jetzt beim Frühstück immer eines auf dem Knie. Tante Pauline kommt erst nächste Woche. Die vergangene verlebten wir still u. halfen, die Bleichwäsche zu legen. Einen Abend verbrachten wir in Ludwigshof in gemütlicher Weise. Freitag fuhren wir mit Tante Alice nach Ranis, um Ilse und ihren Erbprinzen zu sehen. Ilse ist hübscher als je, dabei so reizend herzlich und vertraulich mit uns, daß wir alle ganz entzückt waren. Antonchen ist ein nettes, strammes Bübchen mit Krosigkschen Augen und Haaren. Die Zwillinge gedeihen gut, sind sich ganz unähnlich.

22 Alice Schwarz, geb. von Wilpert, zweite Frau von Pastor Friedrich Schwarz (1841 – 1910), der in erster Ehe mit Sophie von Erffa (1841 – 1882), Schwester von Hildegards Vater Hermann von Erffa verheiratet war.

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Ich treibe jetzt jeden Tag etwas Italienisch, da im Familienrat beschlossen wurde, daß ich nächsten Winter mit der Großmutter nach Italien gehen soll. Die Eltern gehen mit Margarethe nach Berlin, finden mich aber zum Ausgehen zu jung; hier wollen sie mich auch nicht lassen, da Sabina zu Schlotters kommen soll, um guten Konfirmationsunterricht zu haben. So wird Frl. Mangelsdorf in Urlaub geschickt, das Haus geschlossen und die Buben zu Kessners in Pension gegeben. Das sind unsere Pläne, ob und wie sie sich erfüllen, ist eine andere Frage. Ich würde mich sehr freuen, mit nach Italien zu kommen. Ausgehen läuft mir nicht fort und bin ich ja auch noch sehr jung dafür. Zuerst sollte ich allein mit der Großmutter gehen, doch wäre die Verantwortung zu groß. Jetzt hat die Großmutter Frl. Güntzel engagiert als Gesellschafterin u. denke ich, sie wird auch für mich ein angenehmer Umgang. Sonntag, 16.8. Letzten Sonntag war der Vater unternehmungslustig u. ging mit uns drei Mädchen nach Nimritz.²³ Wir fanden ein leeres Nest, gingen aber nach Oppurg zu Dédiés. Die ganze Familie freute sich sehr über unsern Besuch und bewirtete uns sehr freundlich. Montag und Dienstag verlebten wir still, den Rest der Woche aber sehr bewegt. Mittwoch holten die Mutter und ich Tante Pauline²⁴ ab. Sie ist sehr nett u. liebenswürdig, auch sehr gutmütig, etwas affektiert, etwas koquett, u. sehr redselig, im Ganzen und Großen eine angenehme Tante. Donnerstag, als die Eltern in Ludwigshof ²⁵ waren, kam ein Telegramm von Onkel Axel,²⁶ des Inhalts, daß er um ein Uhr kommen würde. Margarethe und ich entschlossen sich schnell und fuhren auf die Bahn, ihn abzuholen. Er kam auch, natürlich erster Klasse, im bekannten gelben Lamamantel, mit sechs Stück Handgepäck und seiner geliebten Tatata. Leider konnte er nur bis Freitag Abend bleiben, da er nach Bayreuth mußte. Die Mutter und er nutzten die Zeit recht aus, wobei ihnen Tante Pauline etwas im Weg war. Sie fand selten den richtigen Moment, die Geschwister allein zu lassen. Onkel Axel fand ich etwas gealtert, vermutlich durch Dörnbergs Tod; im Übrigen war er gesprächiger und aufmerksamer als sonst. Er wollte die Mutter bereden, mit nach Bayreuth zu gehen; sie schien sehr Lust dazu zu haben, sagte aber trotz unserer Bitten ab. Heute aber, als der Onkel noch einmal telegraphierte, entschloß sie sich schnell zum

23 Schloß der Familie von Beust. 24 Pauline Freifrau Varnbüler von und zu Hemmingen (1828 – 1900), Stiftsdame. 25 Besitz der Familie von Breitenbauch. 26 Axel Freiherr Varnbüler von und zu Hemmingen (1851 – 1937), Diplomat; Bruder von Hildegards Mutter.

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Tannhäuser und Parsifal hinzufahren. Wir alle freuen uns sehr, daß das gute Mutterle sich auch einmal einen Spaß macht. Während Onkel Axels Anwesenheit passierte noch etwas drolliges. Wir sahen einen Herrn mit einer Tasche den Rosenweg herauf kommen. „Unverkennbar ein Pastor“ sagte der Vater. „Ein turistender Pastor“, die Mutter. „In der Tasche“ meinte der Onkel, „hat er gewiß nur eine Zahnbürste und ein Paar gestickte Pantoffeln“. Doch, beim Näherkommen war es? Onkel Friedrich Schwarz,²⁷ der uns und seine Familie überraschen wollte! Die Verblüffung war zu gelungen! – Gestern, Sonnabend besuchte uns Ilse, sie war hübsch u. liebenswürdig wie immer; auch etwas unterhaltender als sonst; da sie sich verpflichtet fühlte, nett Conversation zu machen. Sonnabend 22.8. Letzten Montag reiste die Mutter nach Bayreuth, natürlich mit Herzklopfen u. Aufregung bis zum letzten Moment. Bis sie im Coupé sitzt, ist sie immer ganz betrübt; kaum aber sitzt sie im Zug, so wachen ihre Reiselust und ihr Vergnügen auf. Wir bemühten uns, den Gästen die Abwesenheit der Mutter nicht empfinden zu lassen u. taten unser Möglichstes. Frl. Mangelsdorf war wieder zurückgekehrt, und die Stunden der Kleinen nahmen ihren Anfang. – Wir lebten recht gesellig, hatten Superintendents zum Kaffee, Breitenbauchs zum Abendbrot, Herrn von Gerlach einmal zu Tisch und Herrn Jakob, einen Baumeister, auf einige Zeit zu Besuch. Donnerstag holten wir die Mutter ab. Sie war so entzückt u. begeistert, daß sie nächstes Jahr wieder hin will. Außer der schönen Musik hat sie das nette Zusammensein mit Onkel Axel, Sara u. Graf Moltke sehr genossen. Ich wußte, daß es so kommen würde und tat alles, sie zum Reisen zu bewegen. Zu Freitag waren wir alle zum Diner nach Ranis eingeladen. Ich konnte aber nicht mit, weil kein Platz im Wagen war und ich Tante Pauline Gesellschaft leisten wollte. Ich machte mir auch nichts daraus. – Heute früh war Herr von Münchhausen mit seiner wunderhübschen 15jährigen Tochter bei uns. Er war in Ludwigshof zu Besuch. Leider reisen die Ludwigshöfer heute fort. Wir haben uns recht wenig gesehen, da sie und wir viel Besuch hatten. Margarethe thut dies sehr leid.

27 Pfarrer Friedrich Schwarz (1841 – 1910).

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Freitag, 4. September. Ich kam lange nicht zum Schreiben, ich hatte bei den vielen Gästen nicht Zeit und noch viel weniger Lust: ohne Lust schreibe ich aber grundsätzlich nicht. Jetzt sind wir wieder allein, da Tante Pauline gestern, die lieben Schwarzens uns gestern vor 8 Tagen verlassen haben. Die herzigen Kinder fehlten uns sehr; an die Tante haben wir uns auch sehr angeschlossen und der Onkel ist ein liebenswürdiger, rücksichtsvoller, angenehmer Gast. Er war sehr bewegt beim Abschied; sie sind so dankbar und bescheiden, und die Mutter lüde sie gern jedes Jahr ein, wenn die Tante, die übertriebener Kindertiger ist, dem Vater angenehmer wäre. Die letzten Tage von Tante Paulines Hiersein waren sehr besetzt, Sonnabend fuhren wir nach Saalfeld; u. besahen uns von außen u. innen die schöne gotische Johanniskirche, das Rathaus, die Apotheke, den Ritzerstein. Das Rathaus entzückte mich besonders: der Renaissancestil mit seinen wechselvollen, phantasiereichen Erkern, Türmchen, Balkons etc. ist mir fast der liebste. Der himmelanstrebende gotische ist ja einzig für Kirchen, für andere Gebäude dünkt er mir zu weihevoll. Um vier Uhr holte uns Herrn von Heydens Wagen ab nach Obernitz, wo wir als Gäste einen alten General von Manzard mit Tochter trafen. Obernitz ist hübscher eingerichtet als zu Motzens Zeiten u. hat sehr gewonnen. Frau von Heyden war sehr nett und er auch sehr liebenswürdig; er macht noch einen fast jungenhaften Eindruck und dann war ihm die Bowle etwas zu Kopf gestiegen. Beim Zurückfahren hätte es ein Unglück geben können. Herrn von Heydens Uhr ging vor und hätte der Vater nicht noch 5 Minuten gewartet, so wären wir zwischen Obernitz und Saalfeld gerade mit einem Extrazug zusammen gestoßen. Seit Freges auf dem entsetzlichen Wege zwischen Saale und Eisenbahngeleise umgeworfen haben, fährt die Mutter immer mit Todesangst die gefährliche Strecke. Letzter Sonntag war ein wunderhübscher Tag: die Taufe der Zwillinge von oberen Krauses, bei denen Margarethe und ich Gevatter standen. Die armen Leute, die ihre drei älteren Mädels schon kaum ernähren konnten, waren durch die Geburt zweier Mädchen so verzweifelt, daß wir uns als Paten anboten. Wir gingen hin, um sie in den reizenden rosa Kattuntaufstaat wickeln zu sehen u. steckten ihnen Zettelchen mit den Namen Selma Margarethe und Anna Hildegard an. Durch ein Versehen wurden die Kinder in der Kirche vertauscht, und hätte ich es nicht rechtzeitig gemerkt, so wären sie falsch getauft worden. – Nach der Taufe gab es einen solennen Ditschkaffee, zu dem auch Pastor und Kantor kamen. Die kleinen Geschöpfe sind zu nett; ich begreife nicht, wie man kleine Kinder langweilig finden kann. Es ist doch schon unterhaltend die feinen Gliederchen und komischen Grimassen anzusehen. Nun habe ich schon zwei Patchen, für die ich Rechenschaft ablegen muß. Das ist doch eine große Verantwortung.

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Mittwoch war Sedanfeier in Öpitz. Wir gingen hin und waren so zuvorkommend und höflich wie möglich gegen die Pößnecker Damen. Rudi sagte den „Handschuh“²⁸ auf und erregte allgemeine Heiterkeit. Gestern ist Tante Pauline abgereist. Sie ist eine gute alte Seele und liebt uns alle sehr. Ich finde man kann gegen alte Leute nicht unfreundlich sein. Ist es Ehrfurcht oder ist es nicht vielmehr das Gefühl: Sie sind dem Tode näher und es ist vielleicht die letzte Freundlichkeit, die man ihnen erweisen kann? – Sonntag, 6. September Gestern war ein unruhiger Tag, die Porstendorfer mit Clémence u. die Straußfurter Münchhausens kamen auf einen Tag. Sie waren alle sehr nett, die Tante gut aufgelegt und der Onkel sehr heiter. Clémence wird wunderhübsch, wenn sie sich nur besser hielte! Heute wollten wir uns mit Beulwitzens treffen und einen netten Tag in Hohenwarthe verbringen; doch haben wir des schlechten Wetters wegen abgesagt. Morgen gehen die Eltern mit Margarethe an Hof nach Hummelshain. Montag waren wir in Hummelshain. Da ich auf den Winter noch nicht ausgehe, blieb ich bei Ebba Schulenburg. Sie ist ein gescheites, aber eingebildetes Mädchen; man merkt, daß sie am Hof groß geworden. Wir gingen zusammen zur Wildfütterung und sahen dann das Schloß an. Es sind wundervolle Räume darin, aber man merkt der altdeutschen Einrichtung an, daß sie nach dem Schema eines Baumeisters und nicht nach und nach ich möchte sagen „mit Liebe“ nach dem individuellen Geschmack der Bewohner entstanden ist. Man bewundert sie wohl, aber sie heimelt nicht an, wie es bewohnte Räume sollten. Prinzeß Albrecht u. Landrats waren auch in Hummelshain. Die Eltern blieben noch bei Schulenburgs. Wir hatten eine herrliche Nachtfahrt. Die drei folgenden Tage waren mit dem Langweiligsten, was es gibt, mit Legen u. Rollen der Tischwäsche, angefüllt. Ich will sie mit Schweigen bedecken. Freitag hatten wir ein kleines Diner mit Heydens, Schmidts, Herrn Amtsrichter Aßmann und Herrn von Gerlach. Es waren mehr Herren als Damen, was stets lustiger ist. Auch saß man bei dem herrlichen Wetter im Freien; kurz es war gelungen, heiter und nett.

28 Ballade von Friedrich von Schiller.

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Sonntag, 20.9. Letzten Sonntag haben wir, vom herrlichen Wetter begünstigt, unsere Partie nach Hohenwarte gemacht. Sie verlief etwa so: Um zehn Uhr mit Schwänzung der Kirche nach Könitz, die Mutter und Frl. Mangelsdorf in einem von Knoblauch duftenden Coupé nach Eichicht gefahren, wir in glühender Hitze nach Bucha gestiegen. Um sich selbst und die anderen zu trösten, sprach jeder von einem herrlichen, kühlen Lüftchen; doch bin ich überzeugt, daß es keiner empfunden haben kann.Von Bucha ging es durch den Wald hinab an die Saale. Im Herbst ist der schöne blaue, dem Pflaumenduft ähnliche Ton der Saalberge und Fichtenwälder noch intensiver. Es ist ein Ton, der im Tiefland nicht vorkommt, wohl durch die Verbindung von Berg, Nadelwald u. Wasser hervorgerufen. In Hohenwarthe wateten wir erst mit dem Vater in die Saale u. kühlten die Füße am Wehr. Dann kam Onkel August mit Tity, Mademoiselle, Anni Imhof und Busie Beulwitz. Wir setzten uns zu einem ländlichen Schmaus, aßen Aal, Kartoffeln u. Obst u. tranken Bowle aus Staatstassen. Dann lagerten wir uns an der Saale, bauten Brücken, durchnäßten uns und fuhren auf dem Floß. Es war gemütlich und nett. – Nachdem wir ein Hoch auf den guten Onkel ausgebracht, trennten wir uns. – Dienstag war der Vater in Erfurt beim Kaiser und erhielt den roten (Piepmatz) Adler,²⁹ mit Respekt zu sagen. Der Blumenschmuck der Stadt muß feenhaft gewesen sein. Mittwoch ein ödes kleines Diner mit Weidenhammers, Herrn von Beust, Mia u. Frl. von Münchhausen. Wurmbs konnten nicht und kamen dafür Donnerstag mit einem Ehepaar Friesen. Sie blieben zum Abend, wozu Frau von Beust, Frau von Raven und Elisabeth kamen. Elisabeth ist nach der langen Kur sehr verändert; zwar dick und rund, aber im Wesen eigentümlich. Sie erinnert sich an fast nichts mehr, was vor diesem Jahr passierte, erkannte die Zimmer nicht wieder, fragte mich, als Rudi hereinkam, wer der kleine Junge wäre, kurz, war so sonderbar, daß wir überzeugt sind, ihr Gehirn war auch leidend. Bei der Unwahrheit der Beust-Ravenschen Clique erfährt man natürlich nie, was ihr gefehlt hat. Frau von Raven sieht elend aus, Frau von Wurmb recht wohl: Beide mir nicht sympathisch, dagegen gefiel uns allen Frau von Friesen sehr gut. Die Großmutter hat sich jetzt halb u. halb für Bordighera entschieden, da ihr Cannes zu teuer und zu englisch ist. Mir ist es ganz gleich; ich freue mich sehr auf Italien und weiß, daß es überall schön sein wird. Meine italienischen Studien gehen

29 Den roten Adlerorden.

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nicht so schnell vorwärts, wie ich dachte; es ist doch ziemlich schwer, allein eine Sprache zu treiben. Sonntag, 20.9. trat Burkhart früh um 7 Uhr eine dreitägige Schülerpartie über den Thüringer Wald und Koburg an. Wir fuhren alle, bis auf Rudi nach Caulsdorf zum Missionsfest. Schon die Hinfahrt und die Lage des Dorfes entzückten uns. Im Pfarrhaus trafen wir Superintendentens u. den alten Pastor Unger mit zwei recht netten Töchtern. Er hat mit dem Vater zusammen den roten Adler bekommen und war so bescheiden, daß er den Briefträger zurückholen ließ und immerzu sagte: „es ist ein Mißverständnis! Wie sollte ich zu einem Orden kommen?“ Er ist ein zu lieber alter Mann. – Die Festpredigt in der schönen neuen Kirche hielt unser Superintendent sehr gut; nur war es zum Ersticken heiß in der Kirche. Wir hatten uns mit Heydens verabredet, uns zu treffen, doch blieben sie nur kurz, da sie Motzens erwarteten. Die Nachfeier fand teils im Wirtshaus, teils im Freien statt und hatten wir alle das Gefühl, daß zu viele sprachen und fast alle Reden kürzer hätten sein können. Leider waren zwischen den Reden nicht die kleinsten Pausen, sodaß man kein Wort reden konnte und vor Hunger fast umkam. Es sprachen Franke, Rabe, Liebetraut, Ulrich und Herr von Gerlach. Am besten gefiel mir Liebetrauts Rede; sie war zwar für die Leute zu hoch, aber kurz und gut. Herr von Gerlach sprach praktisch und verständlich; doch war ich, da die Sache bis sieben Uhr dauerte, zu müde, um sie zu genießen. Der Vater reiste vom Missionsfest aus nach Örlsdorf; wir kamen erst sehr spät, doch recht befriedigt zu Hause an. Die Kollekte betrug 90 M und es wäre noch mehr eingekommen, wenn noch bei der Nachfeier gesammelt worden wäre. Die guten Pastoren, wenn sie doch etwas praktischer wären! In der letzten Woche war wieder ziemlich viel los, überhaupt können wir diesen Herbst nicht über Eintönigkeit klagen. Dienstag besuchte ich mit der Mutter Lydia Herpf, um ihr zu ihrer Verlobung mit dem „jungen Mann“ bei Latendorf, der jetzt eine Buchhandlung in Greiz hat, zu gratulieren; sie ist schon 36 Jahre alt, zehn Jahre älter als er, doch behauptete sie, seine Jugend wäre sein einziger Fehler. Was er an ihr findet, weiß ich nicht; aber die Männer haben zuweilen komische Schrullen, was das Hübschfinden betrifft. – Nun ich gönne ihr, daß sie heiratet und freue mich, daß sie aus Pößneck fort kommt. Mittwoch hatten wir zu Tisch den Besuch der alten Frau von Schauroth aus Rudolstadt mit ihrer Tochter Frau von Beulwitz und ihrer Nichte Frl. von Plötz, einer lustigen Baierin. – Was soll ich von den Menschen sagen? Was tut’s, ob sie mir sympathisch oder unsympathisch waren? Nun es war ein Besuch wie viele andere auch. –

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Der Vater kam zurück, enttäuscht über die elende Jagd und Burkhart entzückt von der Tour und von der Koburger Veste. – Von Jörge bekamen wir einen jammervollen Brief aus der Krankenstube. Der Doktor hält ihn für faulkrank, gibt ihm kein Bett und läßt ihn in der Krankenstube frieren und husten. Nun, gestern ist der arme Patient wohlbehalten hier angelangt und sogleich ins Bett gesteckt worden. – Gestern kam auch Frau Trautvetter und versenkte sich sofort mit der Mutter in ergiebige Tête à têtes. Sie genießen und verstehen sich vollkommen und sprechen über die tiefsten Fragen. Es ist nur sehr schade, daß wir auf diese Weise gar nichts haben von der geistreichen und liebenswürdigen Frau. Heute beginne ich meine Weihnachtsarbeiten um sicher fertig zu werden. Sonntag, 4.10.: Erntefest. Frau Trautvetter blieb bis Dienstag, da sie am Montag wegen Migräne ungenießbar war. Die Mutter leistete ihr trotzdem Gesellschaft. So fuhr der Vater mit Margarethe und mir ohne sie zum Diner nach Obernitz. Außer uns waren noch Müllers aus Beulwitz und Landrat Hollebens aus Rudolstadt geladen. Frau von Holleben war sehr gekränkt, daß die Eltern sich nicht bei ihr zum Essen angesagt hatten und begann gleich: „ Ich muß mich mit Ihnen aussprechen; ich bin sehr böse mit Ihnen. Sie wünschen wohl, allen Verkehr mit uns abzubrechen?“ etc. Sie war so leidenschaftlich, daß mir angst wurde; doch besänftigte sie der Vater sofort, indem er gar nicht anfing, sich zu verteidigen. Es war im Ganzen ganz nett; wir besahen uns die schöne Einrichtung. Frau von Heyden war sehr liebenswürdig, sodaß uns die Zeit nicht lang wurde. Noch besser unterhielten wir uns allerdings am Dienstag, wo wir einen Massenbesuch von Starcks, Eltern, Töchtern, Sohn und einer Cousine von uns, Viktoria Baumbach bekamen. Helene und Lisbeth sind reizende Mädchen; bis auf Anni Imhoff, die einzigen netten, die ich in Rudolstadt kenne. Auch Vicky Baumbach, die wir erst kennen lernten, gefiel mir recht gut. Wir schlossen gleich Brüderschaft und unterhielten uns sehr gut mit ihnen. Der Sohn, Referendar, ist recht schweigsam, aber sehr fröhlich. – Frau von Stark ist wirklich recht öde u. die Mutter muß einen recht langweiligen Nachmittag verlebt haben. Es ist mir unbegreiflich, wie eine so langweilige, dürre Frau 2 so reizende, frische Töchter haben kann. Am Freitag hatten wir ein Diner, Schimmelschmidts – Dédiés, was ganz gut verlief. Morgen gedenken wir, zu einer dreitägigen Fußtour nach Paulinzella, Ilmenau, Schneekopf, Schmücke etc. aufzubrechen. Das Wetter macht sich sehr schön; oh! Es wird gewiß herrlich!

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Mittwoch, 9.10. Es ist Mittwoch Abend u. wir sind nicht abmarschiert. Freges aus Abtnaundorf sagten sich für heute an u. da Jörge noch den Husten hat u. die Dreschmaschine bei uns ist, wurde die Partie trotz Sabinas u. der Kleinen Jammern auf das Ende der Woche verschoben. Heute ward der Handkoffer vorausgeschickt und bei gutem Wetter geht es morgen um 7 Uhr fort. Was den heutigen Besuch von Freges betrifft, so war er sehr hübsch. Freges hatten ihre ältesten zwei Töchter Livia und Liesbeth und ihre Gouvernante, Frl. von Dewitz, eine alte Bekannte von Frl. Mangelsdorf, mitgebracht. Beide Mädchen sind sehr nett und angenehm, leider keine so hübsch wie ihre Mutter. Herr von Frege ist ein sehr höflicher, gemütlicher Sachse, er gefällt mir sehr gut. Es war heute wirklich ein lustiger Nachmittag. Freitag, 9.10. Hier schreibe ich schon wieder; wir haben großes Pech gehabt mit unserer Partie. Gestern, nämlich rückten wir in schönen, neuen Blusen, und mit Schirmen bewaffnet, aus. Als wir mit der Bahn in Blankenburg anlangten, begann es schon zu tröpfeln. Trotzdem gingen wir, im Regen singend einen nicht sehr schönen Weg nach Paulinzelle [sic]. Die schöne, alte, aus dem zwölften Jahrhundert stammende Klosterruine machte mir einen großen Eindruck, sei es, daß es die erste war, die ich mit Bewußtsein gesehen, sei es, daß solche großartigen Trümmer einer längstverflossnen Zeit nicht ohne Einwirkung auf uns bleiben können. Noch dazu ist gerade die Zeit der Ritterblüte diejenige, für die ich mich am meisten begeistern kann, wenn ich auch nicht in ihr leben möchte. – Wir sahen die Ruine wohl auch in der günstigsten Jahreszeit. Das schöne, herbstliche Rot u. Gelb, der neben u. aus dem Mauerwerk wachsenden Bäume belebte die rein romanischen Bogen u. füllte die kahlen Fensterhöhlen lieblich aus. Selbst der leise niedertropfende Regen störte das stimmungsvolle Bild nicht. Nachdem wir im Wirtshaus zu Mittag gegessen, wurde der Regen so stark, daß wir beschlossen, den Plan aufzugeben. So fuhren wir zu acht Personen in einem viersitzigen Wagen (allerdings mehr über – als nebeneinander) nach Hause. Trotzdem litt der Humor nicht Schiffbruch und die Stimmung war eine sehr heitere. Als am nächsten Tage das Wetter herrlich war, wurde zwar etwas geschimpft, aber mit Maaß, wie es verständigen Menschen! geziemt. In der Woche darauf segelten Jörge nach Roßleben, Sabina nach Porstendorf, die Eltern und Margarethe nach Wehrda.³⁰

30 Besitz von Friedrich (Fritz) Freiherr von Stein zu Nord-und Ostheim (1830 – 1895), verheiratet mit Anna, geb. Freiin von Erffa (1839 – 1916), Hermanns älterer Schwester.

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Ich hielt den Jungen Haus in dem verödeten Haus. Der Vater u. Sabine trafen bald wieder ein; während Margarethe in Wehrda blieb u. die Mutter nach Marbach u. Hemmingen weiterreiste. Die 14 Tage sind wie im Fluge vergangen. Ich hatte sehr viel zu tun. Da war Obst einzuheimsen, das Haus winterlich herzurichten, für die Krauseschen Zwillinge zu sorgen, zu schreiben u. mich ums Essen bekümmern, da Lina noch unbewandert ist. Trotzdem machte es mir großen Spaß, so schalten u. walten zu dürfen, wenn nicht unsere drei Zimmer -u. Küchenmädchen so ungezogen gewesen wären. Die Abende liefen sie im Dorf herum, unter Tags zankten sie sich u. machten mir Szenen. Es war unerträglich u. bin ich froh, daß die Mutter sie nach ihrer Rückkehr alle fortgeschickt hat. – Auch einen Gast hatte ich: H. von Brauchitsch kam auf 1 Stunde zum Kaffee, den ich einschenken mußte. Alles war gut geraten, nur am Schluß, zum Glück, als der Gast schon weg war, machte ich eine Kaffeeüberschwemmung. Als der Vater nach Örlsdorf abgereist war, kam Mia auf einige Tage. Ich war fast immer mit ihr allein und es war mir lieb, sie auf diese Weise ordentlich kennen zu lernen. Seit sie zurück vom Stift ist, sah ich sie ja nur auf Stunden. Ich nehme viel, was ich gegen sie gesagt habe, zurück; bei den traurigen häuslichen Verhältnissen, ist es ein Wunder, daß sie so nett geworden. Sie ist leidenschaftlich, aber bezwungene Leidenschaft ist mir lieber als Phlegma. Ich finde, es liegt eine gewisse Ungerechtigkeit darin, daß man von einem heftigen Menschen Beherrschung verlangt, während man bequeme Menschen gewähren läßt, indem man sagt: Es ist ihre Natur. Gerade so geht es mit lebendigen u. schüchternen Menschen: man hört viel öfter: „Sprich nicht so viel“ als: „Sprich mehr“. Es ist eben immer dasselbe: Begehungssünden wiegen meist schwerer als Unterlassungssünden. Donnerstag, 29.10. hatten wir hier Missionspredigt mit Nachfeier von zwei reisenden Pastoren. In der Kirche hörten wir eine wirklich ausgezeichnete Predigt von P. Taube, aber – o Schrecken – sie dauerte 5/4 Stunde. Das ist zu lange, wenn es friert und man vor Frost klappert, das ist zu lange, wenn die Leute den ganzen Tag gearbeitet haben. Wir waren brav genug, noch zu der stark besuchten Nachfeier zu gehen und kamen einer Uhrendifferenz wegen erst um elf Uhr nach Hause. Das brachte uns eine väterliche Strafpredigt ein, die uns sehr bestürzte u. Frl. Mangelsdorf auf drei Tage vollständig knickte. Der Vater war so besorgt um uns; las mit uns alle Abend und fuhr mit uns nach Lausnitz. Dort war Frau Leiser gerade gestorben; so blieben wir nur kurz. Sonnabend kam die Margarethe zurück; Dienstag die Mutter; sie mußte in Saalfeld übernachten, stand aber um fünf Uhr auf und überraschte uns um sieben Uhr, zum Teil noch im Bett. Sie hatte sehr viel zu erzählen und erfuhr ich endlich näheres über unsere Pläne für Italien. In den ersten Tagen Januar bringt mich der Vater nach Stuttgart, wo ich einen Ruhetag habe.

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Dann reisen die Großmutter, Frl. Günzel und ich über Zürich nach Genua, bleiben dort einige Tage und gehen dann nach unserem Ziel: – Mentone. Die Großmutter hat sich dazu entschieden, da es warm geschützt und sehr angenehm sein soll. Sara,³¹ die ja Witwe geworden ist, geht mit ihren beiden Buben nach Beaulieu, zwanzig Minuten von Mentone entfernt; wenn es ihr dort nicht gefällt, kommt sie auch zur Großmutter. Sonnabend, 14.11. Wir haben sehr nette, unterhaltsame Tage hinter uns, die wir in Rudolstadt zum Bazar des Frauenvereins verlebten. Frl. Jettina hatte Margarethe und mich zum Verkaufen aufgefordert und zu sich eingeladen. Außerdem wollten uns Beulwitzens, Trautvetters, Imhoffs, Starcks, drei Familien Holleben etc. bei sich haben. Es gab viel Confusion, Schreiberei u. Beratungen, bis alles ohne Verdruß gelöst war. Anni war verreist; so stiegen Mutter und Margarethe bei Beulwitzens, ich bei Trautvetters ab. Wir fuhren Sonntag mit Heydens hin, aßen in Eile, warfen uns in helle Gala und rannten in den Löwensaal, der mit zahlreichen Buden u. noch zahlreicheren Verkäuferinnen (75) angefüllt war. Wir kamen beide in die Japanerbude, die allernetteste, in der Liesbeth Starck, Grete Kirchner u. Emma Rose, als Japanerinnen kostümiert, verkauften. Liesbeth sah reizend hübsch aus und entzückte jedermann. Wir verkauften Tee und japanische Sachen, hatten aber ausverkauft und mußten den zweiten Tag frische Blumen nehmen. Der Handel ging herrlich, alles, was einen guten Rock hatte, kam und kaufte; alles wogte durcheinander, lachte und sprach. Der Hof kam auch und mit ihm die Nachricht, daß sich der Fürst mit seiner Cousine Anna Schönburg verlobt hätte. Man freute sich von Herzen und hofft, daß diese Verlobung nicht wie die vorige auseinander gehen wird und doch endlich eine Landesmutter nach Rudolstadt kommen wird. Da wir uns beim Verkauf stündlich ablösten, so konnten wir viel im Saal lustwandeln. Ich bin gern in einem Gedränge, freue mich an fröhlichen Gesichtern und mache Beobachtungen. Es gab auch viel zu sehen und zu lachen. Da waren alte Biedermänner in altväterischen Röcken, die sich unpraktische Sachen aller Art aufhängen ließen; da waren Schuljungens, junge Mädchen jeder Art in unglaublichen Kleidern und Frisuren; tölpelige Einjährigen und die Presse suchte sich in diesem Gewühl niedlich zu machen. Frl. Jettina sah zu nett aus; im guten schwarzen Kleid und der besten Spitzenhaube lief sie überall herum, strahlend vor Glück über ihr gelungenes Werk. Am Abend war noch ein Konzert, in welchem Frl. Wieck, Schumanns Schwägerin, 31 Sara von Prittwitz und Gaffron, geb. Freiin Schott von Schottenstein (1857– 1944), Cousine ersten Grades von Hildegard, Tochter aus erster Ehe von Anna Hofacker, verwitwete Freifrau Schott von Schottenstein, geb. Freiin von Varnbüler von und zu Hemmingen, Elisabeth von Erffas Schwester Anna.

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spielen wollte. Sie hatte aber Künstlermucken und war im entscheidenden Moment nicht zum Spielen zu bewegen. So spielten und sangen Dilettanten, und unterhielt man sich auch ohne schöne Musik gut. Am Montag machten Margarethe und ich auf eigene Faust Besuche und hatten dabei das Glück, die Menschen, die wir aus Zwang besuchen mußten, alle zu verfehlen. Um zwei Uhr aßen wir bei Forstmeister Hollebens. Frau von Holleben gefällt mir ausnehmend gut. Ich glaube, man findet selten eine kinderlose Frau, die so reizend mit jungen Mädchen verkehren kann wie sie. Es ist ein besonderes Talent, gerade das zu sprechen, was den anderen interessiert: Es gehört dazu viel Takt, aber wohl namentlich ein warmes Herz! Leider mußten wir gleich nach Tisch aufbrechen, da die Pflicht rief. Heute war aber wenig Verkehr und unsere armen Blumen fanden wenig Käufer. Wir waren deprimiert und matt, mußten aber mit dem freundlichsten Gesicht der Welt unsere Waren ausbieten. Zum Trost wurde von acht Uhr an zur Belohnung der Verkäuferinnen getanzt; da es aber dreimal so viele Damen als Herren waren, ging es nicht sehr flott. Zur Polonaise war niemand aus der ersten Gesellschaft engagiert. Da segelte der Major mit Margarethe u. der Onkel August mit mir los. Nachher tanzten wir im Verhältnis viel mit Officieren, Referendaren,Vaters Rechtsanwalt etc. Es war ungerecht, daß die niederen Herren nur mit ihren Damen zu tanzen wagten, unsere Herren auch immer mit diesen Mädchen tanzten, sodaß die Mädchen der ersten Gesellschaft viel standen. Trotzdem war es lustig, ich bekam vier Bouquets und verteilte zwei Orden; war auch sehr vergnügt. Nur ärgerte ich mich, daß die reizende Liesbeth Stark nur einen Strauß erhielt und vom Militair förmlich geschnitten wurde. Überhaupt ist das Bataillon mit einigen Ausnahmen von so gemeinen Elementen zusammengesetzt – adlige u. bürgerliche – daß wenn sie nicht den bunten Rock trügen, man nicht mit ihnen verkehren würde. Es war mein erstes öffentliches Tanzvergnügen, zwar kein sehr feines, aber dafür sehr unterhaltendes. Den nächsten Tag aßen wir bei Beulwitzens und wurden dann von zwölf Menschen auf die Bahn gebracht. Es ist ein Rudolstädter Sport, auf die Bahn zu begleiten; aber trotzdem war es sehr liebenswürdig. Überhaupt werden wir sehr liebenswürdig aufgenommen, daß wir gern ein Tanzfest geben würden, um uns zu revanchieren; doch haben wir ja keine tanzenden Herren in der ganzen Gegend. Sonnabend, 21.11.91. Der Vater ist in Berlin und wird heute Abend zurückerwartet. Er schrieb, daß er wieder in den „Vier Jahreszeiten“ Wohnung genommen. Die Mutter und Margarethe sind sehr vergnügt darüber, besonders da Dohnas auch im selben Hotel wohnen werden. Ich habe erfahren, daß Sara sich für Mentone entschlossen hat u. ich freue mich kindisch, die herzigen Buben ganz in der Nähe zu haben.

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Die Dreschmaschine ist fort und unsere gute Zeit, wo wir den Wagen haben dürfen, hat begonnen. Wir nutzten sie aus, um mit der Mutter nach Ranis u. Nimritz zu fahren. In Ranis trafen wir die sämtlichen Geschwister versammelt; Ilse hatte am Morgen um sechs abreisen müssen, weil ihr Mann dickköpfig war. In Nimritz war Schlachterei; darum blieben wir nur kurz. Sonntag, 22.11. waren wir alle beim heiligen Abendmahl. Es war eine schöne, heilige Feier und stimmte gut zum Totenfest. Ich habe – Gott sei Dank! – noch nie in engster Familie einen Todesfall erlebt, auch sehe ich nicht ein, warum man gerade an dem Tag an die Entschlafenen denken und um sie trauern soll; die Liebe u. der Schmerz können sich doch nicht nach dem Kalender richten. Trotzdem war ich traurig, auch schon die ganze Woche vorher über die Nachricht, daß Rüdiger Below in eine Schweizer Irrenanstalt gebracht werden mußte. Ich kannte ihn ja nur wenig, aber trotzdem hatte ich ihn sehr lieb. Ich glaube, alle hatten den offenen, heiteren, gutmütigen, netten Menschen gern. Vielleicht wird er geheilt, aber wenn nicht? Oh dann wäre der Tod besser als dies langsame Hinsterben. Sonnabend, 28.11. Die letzte Woche war still; wir wollen Montag nach Leipzig und haben viele Vorbereitungen und Notizen dazu zu machen. Gestern war große Kaiserjagd in Hummelshain.³² Der Vater fuhr um acht Uhr hin und kam heute sehr befriedigt zurück. Von Schießen war auf den geringeren Ständen nicht die Rede. Aber Diner, Lustspiel, Gesellschaft und Logis war ausgezeichnet. Obwohl so viele fürstliche und andere Gäste da waren, daß der Herzog von Altenburg 173 Betten hatte aufstellen lassen müssen, waren doch alle herrlich untergebracht; z. B. hatte der Vater zwei schöne Zimmer. Der Kaiser war sehr gut aufgelegt und unterhielt sich über zwanzig Minuten lang über die ernstesten politischen Fragen mit dem Vater. Prinz Heinrich³³ war auch da und entzückte alle sowohl durch sein hübsches, jugendliches Aussehen, als durch seine kindliche Heiterkeit. Als ihn der Vater fragte, ob er auch wie sein Bruder am Morgen schon einige Hirsche erlegt habe, sagte er lachend: „O, was denken Sie, da fällt für den kleinen Bruder nie was ab!“ Mittwoch, 9.12. Hier sitze ich wieder u. schließe mein siebzehntes Lebensjahr würdig … mit einer furchtbaren Schnupfen – Drüsen – u. Halserkältung. Netter, feierlicher Abschluß!

32 Das 1885 erbaute Schloß Hummelshain war die Jagd- und Sommerresidenz der Herzöge von Sachsen-Altenburg. 33 Prinz Heinrich von Preußen (1862 – 1929), jüngerer Bruder des Kaisers.

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Doch, ehe ich fortfahre, will ich von Leipzig erzählen. Wir wollten Montag früh reisen, doch mußten wir wegen Rudi länger bleiben. Am Sonntag Abend nämlich kam Lina kreideweiß, an allen Gliedern zitternd herauf: Rudi sei gestürzt u. habe sich aufgeschlagen. Der Anblick, der sich uns bot, war schauderhaft. Inmitten der heulenden Mädchen stand Rudi, blutüberströmt, seine Kleider damit durchtränkt, auf dem Boden eine Blutlache an der anderen. Sofort wurde der Doktor geholt. Er sagte, daß die Wunde zwar über die ganze Nase gehe u. sehr tief sei, der Knochen aber unberührt sei. Mit vier Nadeln nähte er dann die Fetzen wieder zusammen, wobei der tapfere kleine Kerl nicht muckste und ganz vergnügt schlechte Witze machte. Er hatte mit Conrad Fangens gespielt und der Wind hatte ihm dabei eine schwere Türe an die Nase geschlagen. Der Schreck im ersten Moment war betäubend. Die vier Tage in Leipzig waren eine riesige Strapaze. Um sieben Uhr aufstehen, mit Ausnahme der hastigen Mahlzeiten den ganzen Tag Besorgungen machen, Kleider probieren, zum Zahnarzt gehen, am Abend in ein Theater oder Conzert gehen sind große Anstrengungen. Margarethe ließ sich ein Visitenkleid bei Rößler und ich ein Reisekleid zu dem halben Preis bei Polich machen. Im Übrigen kauften wir sehr viel für mich nach Italien, für Margarethe und für Weihnachten. Einmal waren wir im Theater u. hörten Mitterwurzer³⁴ in vier reizenden Schauspielen. Das erste, „Fortsetzung folgt“ war rührend u. fein, das zweite „Diskretion“ etwas albern; das dritte, „Coeur-Dame“ gefiel mir am besten, obwohl es nicht für unser Alter war; aber Geschichten von verheirateten Menschen gefallen mir immer besser. Das vierte, „Der Knopf“, war herrlich lustig. Einen netten, gemütlichen Abend verbrachten wir bei Freges u. einen sehr genußreichen in einem Gewandhauskonzert. Das wundervolle, großartige Gebäude, die erste Gesellschaft, zwar etwas protzig, aber doch elegant, entzücken auch den Unmusikalischen, aber die herrliche Musik ist doch das Beste. Sabina, die ihr erstes großes Konzert hörte, war ganz hingerissen davon. Freitag langten wir hier an; seitdem habe ich mich mit meinem vernachlässigten Katarrh herumgeschleppt. Jetzt ist er im Abnehmen, u. ich fühle mich ganz wohl. Der Vater ist nach Oerlsdorf zur Jagd gereist. Ich habe heute die letzte Weihnachtsarbeit, einen Lampenteller beendet u. werde mich jetzt auf Armensachen stürzen. Sonntag, 20.12. Mein Geburtstag wurde, da der Vater verreist u. ich erkältet war, letzten Sonntag gefeiert. Es ist eigentümlich, wie von Jahr zu Jahr dieser Tag an Wert

34 Friedrich Mitterwurzer (1844 – 1897), deutsch-österreichischer Schauspieler.

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verliert. Über die Geschenke und mehr über die Liebe, die aus ihnen spricht, freut man sich ja sehr, aber das freudige Gefühl, das man als Kind hat, die „Hauptsache“ an diesem Tage zu sein, fällt doch ganz fort. Ich erhielt einen großen, schönen, braunen Reisekoffer, eine Plaidtasche, eine Weste, einen Gürtel, zwei Bände Goethe, „Seaforth“, ein Märchenbuch u. viele Kleinigkeiten. Der gute Jörge schickte mir einen Kalender u. eine Photographie; der gute, alte Kerl! Die letzte Woche schonte ich mich noch, war zweimal in Pößneck bei der Schneiderin, u. machte Weihnachtseinkäufe. Gestern kam Jörge an; er ist bedeutend gewachsen u. breit geworden. Leider läßt seine Censur zu wünschen übrig; er läßt sich sehr leicht zerstreuen u. wird vielleicht nicht versetzt!

1892 Mentone, Riviera 13.1.92 Am 20. Dezember 1891 schrieb ich zum letzten Male in Wernburg, ehe ich dies Buch einpackte. Heute, nach drei Wochen sitze ich hier in meinem hellen Südzimmerchen; vor mir Palmen, Orangen und Pinien und weiter das mittelländische Meer! Ja, der schöne Plan ist wirklich zur Ausführung gekommen, ich bin in Italien. Weihnachten, so schön und traut es war, übergehe ich. Es ist durch die Reise und namentlich Abreise, in graue Ferne gerückt. Am dritten Feiertag ging mein großes Gepäck ab, Neujahr feierten wir friedlich beisammen u. am vierten um ein Uhr reiste der Vater mit mir ab, um mich der Großmutter in Stuttgart zu übergeben. Ich hatte mich seit des Sommers auf die Reise gefreut, mich in den kalten Novembertagen auf den warmen Süden vertröstet. Doch je näher die Abreise, die Trennung für vier Monate mir rückte, je mehr wurden diese Gefühle von einer Bangigkeit verdrängt. Ich bin nicht sentimental, aber auch nicht von Stein und die Mutter machte mir auch das Herz schwer. Aber ich sagte mir: Es ist unnütz und undankbar, zu trauern, darum Kopf hoch. So kam ich gut über den Abschied hinweg, empfahl Gott meine Lieben. In Stuttgart holte Onkel Cäsar³⁵ uns ab u. blieb bis 1 Uhr mit uns im Hotel Marquart sitzen. Den nächsten Vormittag verbrachte ich bei Tante Holtz u. den mir noch fremden Woellwarthschen Verwandten. Die Zwillinge waren erst etwas schüchtern; danach aber befreundeten wir uns rasch. Unreif finde ich sie nicht, nur

35 Cäsar Hofacker (1831 – 1896), württembergischer Oberlandstallmeister, Ehemann von Hildegards Tante Anna, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen. Sein Sohn Eberhard von Hofacker (1861 – 1928) wurde 1908 in den persönlichen und 1909 in den erblichen Adelsstand erhoben.

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sehr kindlich für 17 Jahre. Nachdem wir gefrühstückt, gingen wir auf die Bahn, wo ich die Großmutter und Frl. Günzel grüßte und dem Vater adieu sagte. Wir dampften im bequemen Salonwagen nach Zürich und ließen, da der Würfel einmal gefallen, alle trüben Gedanken fahren. Es wurde bald dunkel; wir sahen einige liebliche Schwarzwaldthäler und den Hohentwiel. Bei Schaffhausen stieß mich der gutmütige, aber ungeschickte Kondukteur auf die Plattform hinaus, um mir den Rheinfall zu zeigen. Ihn sah ich nicht; wohl aber Schloß Lauffen mit elektrischem Licht, das sich in den Wellen des Rheins spiegelte. In Zürich wohnten wir in Hôtel Victoria. Die Großmutter war unglaublich frisch und wollte z. B. nicht vor zehn Uhr ins Bett; nach der achtstündigen Eisenbahnfahrt wäre fast jede Frau gleich ins Bett, geschweige denn eine 76jährige. Der folgende Tag von Zürich bis Genua, vierzehn Stunden war der anstrengendste, aber fast der genußreichste. Von Zürich bis Zug waren Frl. Günzel und ich sehr enttäuscht, da wir uns sofort auf hohe Berge gefaßt machten. Aber schon der Zuger See, wenn auch grau, gefiel uns und als wir den Rigi mit seiner Serpentinbahn sahen, waren wir ganz entzückt. Schneefelder, Sennhütten und weiße, freundliche Dörfer nahmen zu. Vorbei an Arth-Goldau mit den Trümmern des Bergsturzes, bogen wir durch den Tunnel an den Vierwaldstädter See. Ich hatte ihn mir nicht halb so schön vorgestellt. Wie eine Bergkette scheinen ihn zuerst die alten Riesen mit ihren beschneiten Häuptern einzufassen. Je weiter man kommt, je mehr trennen sie sich; man sieht neue Profile, neue Täler, immer neue Effekte und Bilder. Es liegt eine Weihe auf diesen blauen Fluten, die so still und friedlich in all dem Schnee ruhten. Nachdem wir die große Berglokomotive vorgespannt, ging es weiter durch die wildeste, romantischste Strecke, die man sich vorstellen kann: Übereinander getürmte Felsen, dunkle Felsenspalten und gefährliche Brücken, tief, tief unten die tobende, zischende Reuß, das wilde Kind der Alpen, mehr konnte die wildeste Phantasie nicht verlangen. Der Bahnbau ist ein Kunstwerk; oft fuhren wir einen steilen Berg im Zickzack hinab, bald dicht am Abhang dahin. In Göschenen aßen wir Table d’hôte und fuhren dann in den schwarz gähnenden Gotthardtunnel hinein. Während der achtzehn Minuten dösten wir und wurden nur durch das hell hereinströmende Licht aufgeweckt. Von Airolo an merkten wir einen großen Wechsel. Berge und Schnee gab es zwar ebenso viel, anstatt der Reuß der wilde Ticino, aber bald sahen wir Kastanien und Nußbäume, Pergole mit armdicken Reben und namentlich anstatt der sauberen Dörfer, graue, halbzerfallene Gebäude, halb eingestürzte Mauern, Häuser, die bei uns polizeilich eingerissen werden würden; alles machte einen verwahrlosten Eindruck, was neben der üppigen Vegetation besonders auffällt. Aber doch gibt alles zusammen ein munteres, schönes Bild. Bellinzona. Umsteigen und Warten auf einem häßlichen Bahnhof. Ich bewunderte zwei altertümliche Burgen, die zu beiden Seiten der Bahn liegen. Dann fuhren wir am Lago Maggiore hin und ich werde diese herrliche Stunde nie vergessen. Es

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war Alpenglühen u. die Spitzen der Berge strahlten vom leuchtendsten Rosenrot. Der Himmel, mit Wölkchen durchschossen, die Schneefelder, die dunkelvioletten Spalten, all dies spiegelte sich in den klaren, blauen Wellen. Der Vierwaldstädter See macht einen ernsten, majestätischen Eindruck, während der Lago Maggiore eher den Charakter des Lieblichen, Milden trägt. Hier sahen wir auch den ersten Rosenstrauch in voller Blüte. Es waren weniger die schönen Blumen, als die Gewißheit, im Süden zu sein, die mich fast aussteigen ließ, um mir eine zu pflücken. – In Luino wurde mir von Lazzaronis fast mein Handkoffer fortgerissen und nach Stoßen und Schreien kamen wir endlich auf die Dogana. Mein Koffer wurde oberflächlich untersucht und darauf ein kleines Examen angestellt: De nouvelles choses, Mademoiselle? – Non, Monsieur. – Cigares, Tabac? – Mais non. – C’est bon. Ein Kreidestrich auf den Koffer und ich konnte gehen. Die Nacht war unterdessen hereingebrochen, sodaß wir von den Inseln nichts mehr sahen. In Genua von freundlichen Kaminfeuern und guten Betten empfangen, legten wir uns gleich nieder. Am nächsten Morgen sahen wir uns gleich etwas um; bewunderten Kolumbus‘ Denkmal, umgeben von Orangen und Magnolien. Welche Ironie des Schicksals daß ihm, dem verkannten Sohn, seine Vaterstadt ein Denkmal setzte: A Christoforo Colombo La patria. Sehr unterhaltend war eine Fahrt durch die Straßen nach dem Hafen, wobei wir uns an dem bewegten Straßenleben ergötzten. Soldaten mit großen Federhüten, Officiere mit ihren kleidsamen, weiten Mänteln, Barfüßler u. Abbates, Juden und Neger, eine Menge Bummler obendrein bewegten sich durch die engen Straßen ohne Trottoir. Alle sprachen, gestikulierten, boten ihre Waren feil, sangen und lärmten. Auch belustigte es uns, daß überall Wäsche über die Straße aufgehängt war. Selbst in der via Balbi, dem Stolz der Genuesen, gab es alte Strumpfausstellungen und an den öffentlichen Brunnen wurde gewaschen. Von den Palästen war ich enttäuscht. Ich hatte sie mir wie im Märchen vorgestellt, von Marmor in dunklen, schattigen Gärten; dagegen fand ich sie in engen Straßen zwischen andere Häuser hineingebaut, aus buntem Sandstein mit grünen Läden, prosaische, viereckige Gebäude. Die Treppenhäuser sind zwar herrlich u. der Palazzo Rosso zeichnet sich durch schöne Gemälde und Räume aus, aber befriedigt war ich nur vom Doria. Dicht am Meer u. Hafen gelegen mit herrlicher Aussicht, hebt er sich mit seinen weißen Loggien wirkungsvoll von den Zypressen ab. Im Garten blühten Camelien, Rosen, Nelken u. Veilchen in Fülle. Ja, hier konnte man träumen von vergangenen Tagen, von der Macht und dem Glanz, der, ach so bald geschwunden! Die Großmutter hatte sich zu viel zugemutet; sie war halb erschöpft und legte sich nieder. Aber schon um zwei Uhr war sie wieder ganz frisch, sodaß wir die Fahrt auf der via circonvallazione del monte unternehmen konnten. Wer einen großartigen Eindruck mitnehmen will, sollte sie nicht unterlassen. Das Panorama von den Befestigungen gesehen ist unbeschreiblich, da liegt sie einem zu Füßen, die stolze

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Genova, umgürtet vom blauen Meer, umkränzt von grünen Hügeln, mit ihrem Leuchtturm, ihren herrlichen Gärten, Bildsäulen, großen Gebäuden und schlanken Schiffen, ihrem bunten Leben und Treiben. Wer sie beim Sonnenschein gesehen, wird ihr den Beinamen La Superba nicht verweigern können. Am Nachmittag machten Frl. Güntzel und ich noch einen Gang durch die Stadt und kauften uns bei dem Carlo Felice Photographien. Dann gingen wir in die San Annunziata, obwohl sie uns von außen nicht anzog. Wir wurden überrascht durch ihre Schönheit; alles vergoldet, bemalt oder marmorn, macht sie einen prächtigen und doch harmonischen Eindruck. Ins Hotel zurückgekehrt, setzte ich mich mit dem Opernglas ans Fenster und machte Studien, bis es dunkel ward und ein elektrischer Globus nach dem andern in der Balbi angezündet ward. Den nächsten Morgen um 9 Uhr setzten wir unsere Reise fort. Die Bahn führt am Meer entlang, vorbei an Pegli, Noli, Savona, Bordighera, San Remo und Ventimiglia, wo Zollrevision war. Um 3 Uhr langten wir hier an und stiegen im Hôtel des Ambassadeurs ab. Beinahe wäre unsere Rosa sitzen geblieben. Sie hatte, wie sie sagt, auf den Ruf Mentone gewartet; da nun Menton ausgerufen wurde, stieg sie nicht aus und wurde im letzten Moment, als der Zug schon pfiff, von Frl. Güntzel herausgerissen. Sie verstand natürlich kein Wort von der Sprache und heulte wie eine Magdalene. Am Tag unserer Ankunft unternahmen wir einen kleinen Spaziergang bei großem Wind und besuchten dann Tante Wilma. Die arme ist seit November hier, verlebte ein trauriges Weihnachten und sieht sehr elend aus. Sie verträgt das Klima nicht und mutet sich auch zu viel zu. Am Abend, als wir schon in sehr dürftiger Toilette waren, kam Sara mit ihrer Signorina und machte einen Sturm, daß die Großmutter hier bleiben und nicht nach Hotel Alessandra gehen sollte. Frl. Güntzel und ich unterstützten sie darin, da es aus vielen Gründen bequemer hier ist. Alessandra ist zwar schön und hat einen herrlichen Garten; aber ist sehr teuer, 1/2 Stunde von der Stadt entfernt, vom Meer zwanzig Minuten gelegen, und sehr steil und bergig. Die Gesellschaft besteht ausschließlich von Engländern und Skandinaviern, was den Verkehr erschweren würde, da die Großmutter nicht englisch spricht. Die Entfernung gab den Ausschlag. Wir wären ganz isoliert; der Verkehr mit Tante Wilma und Sara wäre sehr erschwert, bei schlechtem Wetter nur per Wagen möglich. So bleiben wir hier im Hôtel des Ambassadeurs. Es gilt fast als bestes, ist sehr reinlich und anständig, hat gute Kost, hübschen, kleinen Garten und nur nette, deutsche Bedienung. Am Dienstag den 12. zogen wir hier in den dritten Stock; Großmutter und ich je in ein Süd-, Frl. G. und Rosa je in ein Westzimmer. Es war mir eine Wonne, mich häuslich einzurichten u. meinen Koffer auszupacken. Er ist auf der Grenze nicht berührt worden. Das Biwakleben in den verschiedenen Hotels bekommt man

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so satt; jeden Morgen muß man seine Sachen zusammenlesen. – Wir benützen immer den Lift, sodaß wir das Steigen entbehren und herrlichen Blick auf das Meer und das Cap Martin haben. Ich besuchte Sara noch im Hotel und machte die Bekanntschaft ihrer Buben. Fredi ist ein schönes, ernstes, gutes Kind und tritt etwas in den Hintergrund neben Erich, der ein drolliges, nettes, lustiges, aber sehr verzogenes Kind zu sein scheint. „Eï veut“ ist ein Machtwort, dem sich alle beugen. Sie waren erst etwas scheu, dann aber sehr nett mit der „nouvelle cousine“. Am Sonntag zog Sara um in die Villa Baron, die sie für die Saison gemietet hat. Sie ist geräumig und hell mit großem Garten, das Inventar aber verludert und die Einrichtung unvollständig. Sara war in heller Verzweiflung darüber und namentlich, da ihre Koffer nicht kamen und ihr Erich sich erkältet hatte. Sonntag gingen wir in die kleine Heliotropumrankte, evangelisch-deutsche Kirche. Es ist sehr einfach, Betsaal sowohl als Orgel und Altar und doch rührt dies einfache deutsche Kirchlein in der Fremde wohl manchen, den ein Dom daheim kalt läßt. Auch die Predigt des deutschen Pfarrers Lutiart? [sic] war einfach u. warm, nicht rhetorisch, aber zum Herzen gehend. – Am Nachmittag schrieb ich einen begeisterten Brief nach Hause, beschrieb die Reise und schwärmte von Wärme, blauem Himmel, Rosenduft etc. Es war gut, daß ich damals schrieb, denn hätte ich es an einem Tage letzter Woche getan, so hätte mein Brief nicht so jubelnd geklungen. Denn wir hatten Kälte, Regen, Wind und Schmutz von Montag an. Das war ein trübseliger Einstand. Wir gingen fast nicht aus, nur einmal an den interessanten Hafen und zuweilen schlüpfte ich zu Sara zum Tee; dabei haben wir keine Öfen, und Kaminfeuer röstet die Füße, läßt aber den übrigen Menschen und die Zimmer kalt. Ich kroch beinahe ins Kamin hinein, verbrannte mir fast die Sohlen und hatte doch immer eisige Hände. Im Bett fror ich ohne Plümeau auch, bis ich mir eine doppelte Decke geben ließ. Dabei ward der Himmel grauer und grauer, das Meer ditto, die Straßen schwammen: Es war trostlos und ein Wunder, daß unser froher Mut nicht ausging. Endlich aber wurden wir durch herrliches, sonniges Wetter belohnt. Während wir uns gestern nicht heraus trauten, schreibe ich dies heute früh bei offenen Balkontüren und muß vor der Sonne flüchten. Das Meer glänzt wie ein Spiegel und der Himmel ist leuchtend blau. Mit dem Wetter schlägt auch die Stimmung um und wenn ich die letzten Tage auch nicht traurig war, so könnte ich heute singen und tanzen vor Freude. Gestern, Sonnabend, war wirklich ein herrlicher Tag voll Sonne und Wonne. Sara holte mich zu einer Eselpartie ab, d. h. wir ritten nicht, sondern rannten hinter den Eseln her, auf denen Fred und Erich wie zwei Paschas thronten. Die Tour dauerte

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nur etwa eine Stunde; der Blick war daher auch nicht sehr weit und die Aussicht beschränkt. Nachdem wir etwas im Jardin publique promeniert waren und Sara einem flehenden „una cioccolata da Rumpelmeyer“³⁶ nicht zu widerstehen vermochte, gingen wir in die Villa. Die Buben waren sehr nett und zutraulich, zeigten mir den großen, verwilderten Garten und ließen sich auf allerhand Kletterbäume heraufhelfen. Kurz ich unterhielt mich sehr gut, wie ich es mit Kindern meistens tue. – Dagegen war Sonntag, 17. ein trüber Tag. Am Morgen gingen wir in die Kirche und den Nachmittag verbrachte ich still hier, während Frl. G. einer Einladung Saras zum Kaffee folgte. Ich löse sie gern zuweilen ab, daß sie doch ihren Aufenthalt recht genießt. Die Großmutter pflegte einen Schnupfen und ich verbrachte die Zeit mit Vorlesen, Schreiben und Frieren. Am Abend war ein Conzert während des Abendessens. Ich schwärme nicht für Tafelmusik, aber gar Solis während des Essens anzuhören, ist nicht erquicklich. Wir haben unseren Tag jetzt folgendermaßen eingeteilt: Um halb neun Uhr frühstücken wir unten im Saal, während unsere Zimmer oben gemacht werden. Dann liest Frl. Güntzel aus der Pilgerpostille von Max Frommel und aus Moltkes Briefen vor bis zehn Uhr, wo sie Fredi in der Villa eine deutsche Stunde erteilt. Währenddessen schreiben wir oder gehen bei schönem Wetter aus. Nach dem „lunch“ um zwölf Uhr geht es wieder spazieren bis drei und die Zeit bis ½ 7, wo Dinner ist, benutze ich bald zu einem Besuch bei Sara oder Tante Wilma, bald zum Lesen etc. Nach dem Dinner gehen wir in den Salon, langweilen uns auf anständige Weise bis neun Uhr. Dann folgt ein nettes Plauderstündchen und darauf verschwinde ich unter den weißen Mosquito-Vorhängen. Bei schönem Wetter werden wir länger draußen sein. Was nun die Gesellschaft betrifft, so ist sie recht schlecht. Außer Tante Wilma und uns besteht sie aus einer kreuzbraven, aber sehr unbedeutenden Gräfin Oynhausen, einer Frankfurter angenehmen Frau Zisemann mit amerikanischer Nichte, einem aufdringlichen, geschwätzigen 84jährigen Hamburger Fräulein, einer sehr gemeinen Russin mit ditto Verehrer, einem unhöflichen Holländer und rüpligen belgischen Jüngling, einer Frau Bassano aus Paris; (nach Aussehen eine alte Opernsängerin), einem ganz netten polnischen und englischen Ehepaar, einigen netten Herren und einigen Monte-Carlo-Helden mit abgelebten Zügen, wässerigen oder gierigen Augen, roten Schlipsen und Brilliantnadeln: Je weniger man von ihnen sieht, je besser. Eine alte Frau von Röder mit Tochter ist leider abgereist; Gott sei Dank auch eine Frau von Lepel, semitischen Ursprungs. Montag holte mich Sara ab, um einen

36 „Eine Schokolade bei Rumpelmayer“.

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Besuch bei Dellingshausens zu machen, an die sie von Stuttgart aus empfohlen ist. Wir fuhren mit dem Tram nach Garavan, wo sie in der Villa Laurenti wohnen. Nach einigen Fragen kamen wir richtig an und wurden in einen eleganten Salon geführt. Frau von Dellingshausen ist eine kränkliche alte Frau, und von den vier Töchtern waren nur zwei da, die ältere, Olly, häßlich und alt, die andere, Alma, ein gesundes, frisches Mädchen. Es sind Balten u. kommen seit drei Wintern nach Mentone. Ich habe keine große Vorliebe für Rußland, aber für dreierlei schwärme ich: russischen Tee, russische Zigaretten und das Deutsch der Russen. Wir hielten uns nur kurz auf, lernten noch einen Vetter, Graf Taube kennen und fuhren dann zurück in die Stadt. Bei Sara trank ich darauf Thee und blieb einige Zeit bei ihr. Ich habe sie sehr lieb; sie ist so reizend herzlich und lieb mit mir, holt mich ab und besucht uns sehr oft. Dienstag erhielt ich einen acht Seiten langen Brief von der Mutter, auf den ich sofort mit einem fast ebenso langen antwortete. – Die Eltern haben ihren Haushalt aufgelöst, haben einen äußerst gelungenen Hofball in Altenburg mitgemacht, und sich in Berlin für den Winter eingerichtet. Am Nachmittag gingen Frl. Günzel u. ich nach der Vallée de Menton. Der Blick, den man von oben am Kirchhof hat, ist herrlich; auf der einen Seite die Bucht von Garavan u. Ventimiglia, auf der andern Menton und das Cap Martin. Schade, daß die Wege so steil sind, daß die Großmutter oft nicht mit kann. Mittwoch gingen Frl. Günzel u. ich ins Pfarrhaus, wo einmal in der Woche von zwei bis vier ein Tee für deutsche Frauen und Mädchen, wobei der Bazar beraten wird, stattfindet. Der Pfarrer, Gutjahr mit Namen, gefiel mir sehr gut, ebenso seine Frau, aber im Übrigen fand ich es recht langweilig. In einem Zimmer mit zwölf Mädchen, von denen man nicht einmal den Namen weiß, die sich entweder in ihre Arbeit vertiefen oder unter sich kichern und scherzen, ist es für Fremde nicht unterhaltend. Es war mir schwer, mich zurechtzufinden in dem „Kränzchen“-wesen, ich fand die Unterhaltung so albern und fühlte mich isoliert. Sehr gut gefiel mir eine Frl. Grimm, und eine reizende kleine Amerikanerin. Außerdem eine Karlsruherin, Frl. von Cancrin, Frl. von Eickstädt, Frl. Keller, Frl. Stiege etc., die mir nicht sehr gefielen. Noch langweiliger war es im Zimmer der Frauen und wenn ich mir Sara, die vornehme, elegante Sara, im Kreise dieser spießigen, geschmacklosen, schwätzenden, mit einem Wort „bebbigen“ Damen dachte, so muß ich laut auflachen. – Übrigens muß ich sagen, daß weder vorgelesen noch von Bazar gesprochen wurde; wir unterhielten uns lediglich über den Carneval. Donnerstag machten wir einen Spaziergang nach dem Hügel Madonna und suchten eine Kapelle, die gar nicht existiert. Dann gingen wir nach dem Cap Martin, immer am Strand entlang; die Wellen spritzten bis zu uns herauf und wir sprangen von Stein zu Stein und unterhielten uns herrlich. Der Blick war schön, nur fehlte ihm, was zu jeder italienischen Landschaft gehört: die Sonne.

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Zurückgekehrt empfing ich den Gegenbesuch von den Dellingshausen’schen Mädchen. Sie luden mich dringend zum Thee ein, auch zu einer Eselpartie wollen sie mich auffordern. Am Abend im Salon unterhielt ich mich gestern zum ersten Male gut; zwei Rumänen, die ganz bescheiden und nett scheinen, unterhielten uns mit sehr gewandt ausgeführten Kartenkunststücken. Gestern, Freitag, machte ich mit Frl. Güntzel einen höchst genußreichen Spaziergang in das reizende Gorbiothal, das hübscheste der vier Täler, die Menton durchschneiden. Die Luft bekommt mir so gut, ich fühle mich so leicht u. frei, als ob ich meilenweit gehen könnte. Tante Wilma bat mich, mit ihr in Saras Villa zu gehen. Ich machte mich verdienstlich, indem ich die unruhigen Buben beschäftigte. Mit Fredi befreunde ich mich immer mehr. Gestern Abend war ich allein mit Tante Wilma im Salon, da die Großmutter müde war. – Nun sitzt mir vis à vis ein Graf Ozegovich, ein Kroate, ein leidenschaftlicher Spieler, der mich immerzu anstiert, vertraulich grüßt etc., ich hasse ihn und hielt mich immer fern. Da kommt die taktlose, dumme Gräfin, die recht gut seine Absichten merkte, auf den Einfall, daß ich mit ihm Reversi spielen solle. Ich winkte ab. Umsonst! Sie drehte und wendete die Sache so, daß ich es nicht abschlagen konnte. Ich saß wie auf Kohlen; was würden die Eltern denken, mich mit diesem schauderhaften Subjekt spielen zu sehen. – Auch der eine Rumäne wird schon frech: Es ist eine schlimme Welt. Ich bin überzeugt, daß ich in Berlin in der großen Welt nicht so viel Klippen fände wie hier. Sonnabend machte die Großmutter einen Besuch mit uns beim Doktor Cube. Es gefiel mir ausnehmend gut dort, besser als bei Dellingshausens und Pastors. Die gewandte und lebhafte Frau von Cube, die liebenswürdige Tochter empfingen uns sehr freundlich und baten uns, recht oft zu ihnen zum Thee zu kommen. Am Abend zitterte ich wieder vor meiner slawischen Eroberung und hatte infolgedessen Heimweh nach dem mütterlichen Schutz. Sonntag, 24.1., war ein herrlicher, sonniger Tag. Nachdem wir mit Sara in der Kirche waren, frühstückten wir rasch u. dann rannte ich mit Rosa in die Villa. Sara hat mich zu einer Partie nach Castelar aufgefordert, wo am Sebastianstag ein ländliches Fest stattfindet. Da uns Wagen und Esel zu teuer waren, gingen wir – tutti avanti – zu Fuß. Sara nahm ihre beiden Mädchen mit, um Erich, wenn er müde würde, zu tragen, und der Sohn ihres épicier,³⁷ ein 12-jähriger, sehr netter Junge, zeigte uns den

37 Lebensmittelhändler.

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Weg. Derselbe, ein sogenannter Chemin muletier ³⁸ führt am Kamm des Berges, der Careï u. Menton voneinander trennt, hin. Man hat daher einen herrlichen Blick in die beiden Täler, die Tête de Chien von Monte Carlo, die Annonciada, den hohen, wolkenumhüllten Berceau. Es war dabei so warm, daß wir uns unserer Jacken entledigten und doch noch heiß hatten. Nach 1 ½ stündigem Marsch kamen wir nach Castelar, wo wir dem Tanzen zusahen; die Leute tanzten dieselben Tänze, wie sie bei uns getanzt werden, nur viel gelungener und langsamer. Dann tranken wir einen Kaffee, der wie kalter Rauch u. Spülwasser schmeckte, sahen uns die geschmacklose Kirche an und machten uns auf den Heimweg. Als Erichlein schon anfing, müde zu werden, holte uns der Wagen des Sgr. Migliore, Saras Fleischer ein. Dieser nahm ihn bereitwillig auf seine Knie und Erich fuhr stolz fort, während wir noch den sehr ermüdenden Abstieg von zwei Stunden hatten. Bei hereinbrechender Nacht kamen wir im Hotel an. Der Pastor war inzwischen hier gewesen und hatte sagen wollen, daß der Besuch auch mir gälte, es aber nicht herausgebracht. Von gestern, Montag, weiß ich nichts weiter, als daß Sara Frl. Güntzel mit einem Theekocher und Thee beglückte, daß ich mit Großmutter an den Fuß der Madonna ging, wo sie den Blick aufs Cap Martin sehr genoß und, last but not least, daß ich wieder einen langen Brief von der Mutter erhielt, wonach es ihnen ausgezeichnet geht. – Gestern, Dienstag, gingen wir trotz fürchterlichem Sturm nach dem Cap Martin, aber wir hatten es sehr zu bereuen. Von der Aussicht hatten wir fast nichts und der Rückweg war fast lebensgefährlich. Eine große Pinie fiel über den Weg, die Telegraphenleitung wurde zerstört und wir kamen kaum mehr vorwärts. Zurückgekehrt tranken wir heißen Thee, der uns etwas belebte. – Wir ängstigen uns etwas um die Großmutter, sie hat immer Husten, erkältet sich und kann sich gar nicht akklimatisieren. Der Doktor war zwei Mal da und beruhigt uns ganz. Er hat ihr einige Rezepte geschrieben und Maßregeln über Kost, Ausgehen etc. gegeben. Schlimmer stand es mit Tante Wilma, die eine leichte Influenza zu überstehen hatte, doch soll es ihr jetzt wieder leidlich gehen; ich bin ganz abgesperrt von ihr. Gestern, 27.1., unseres Kaisers Geburtstag, war herrliches, warmes Wetter. Wir gingen in die Kirche, wo ein einfacher, liturgischer Gottesdienst war. Die Gesänge, teils Chor, teils solo, waren nicht sehr schön, aber gut gemeint, ebenso die Predigt. Es hätte mir etwas gefehlt, wenn dieser Tag ganz ohne Sang und Klang im fremden Lande verlaufen wäre. Hier im Hotel trank eine Berliner Gesellschaft dem Kaiser zu

38 Maultierpfad.

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Ehren Seckt, benahm sich aber so laut und unanständig dabei, daß ich mich vor den Franzosen schämte. Unser Patriotismus ist tiefer, aber nicht so gemein. Ich war den Nachmittag bei Sara, lernte bei ihr einen alten, sehr undeutlich sprechenden Amerikaner, Mr. Andrews, kennen und ging dann zu Dellingshausens zum Thee. Viel Verkehr möchte ich nicht mit ihnen haben, da sie etwas langweilig sind und auch zu weit wohnen. Donnerstag, war mir ganz elend zu Mut; ich war sicher, Influenza zu bekommen und schrieb unter Seufzen zwei Geburtstagsbriefe. Einen sehr netten Spaziergang ins Val des primevères machte ich mit Zögern, doch erfrischte er mich so, daß ich noch zu Cubes zum Thee ging. Es war reizend und so gut wie dort habe ich mich lange nicht mehr unterhalten. Außer Frl. von Cube, war die Frl. von Cancrin da, mit der ich mich auch anfreundete. Ich fühlte mich sehr wohl dort, trank einen guten Tee und entdeckte zu allgemeiner Freude, daß Cubes mit Schwarzens bekannt sind, Lily Cube hatte Religionsstunden beim Onkel und war in derselben Pension wie die Tante. Freitag ging die Großmutter, Gottlob, zum ersten Mal wieder aus und Fräulein Güntzel und ich machten einen Gang nach der Grenzbrücke Saint-Louis und nach Grimaldi. Ich war zum ersten Mal dort und war infolge dessen hingerissen, sowohl vom Blick auf Mentone als über die Brücke und die Felsen, die sie umgeben. Da die Großmutter sich entschlossen hat, oben zu bleiben zum Essen, so kommen wir jetzt nie mehr in den Salon und verleben unsere Abende gemütlich, aber langweilig. Es sind jetzt einige nette Engländer und Holländer da, die aber leider nur kurz bleiben. Sonnabend, 30., war der große Tag, an dem die Großmutter Frl. Günzel und mich nach Monte Carlo schickte. Sara ging auch mit Frau von Oppeln, einer russischen Fürstin u. Mr. Andrews. Angekommen, fuhren wir mit dem Aufzug hinauf bis vor das Casino und gingen gleich in die Spielsäle. Diese sowohl als das große Treppenhaus sind prachtvoll. Das Publikum hätte ich mir schlimmer und interessanter gedacht. Ich hatte mich auf auffallende Toiletten, wüste, abgelebte Männer, gierige, halbverzweifelte Gesichter gefaßt gemacht und sah fast lauter harmlose, einfache Fremde oder Spießbürger. Als ich durch einen Zufall allein blieb, war mir gar nicht bange. Gleich zuerst setzte ich und verlor 10 francs, dann gewann und verlor ich abwechselnd, bis mir zuletzt 5 francs Reingewinn blieben. Daran ließ ich mir genügen und ging in den Conzertsaal, wo wir umsonst die Hälfte eines herrlichen Conzerts hörten. Dann tranken wir einen sehr kostspieligen Caffee u. machten einen Gang in den herrlichen Terrassen.

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Die Vegetation ist dort noch üppiger als hier: Palmen, Agaven, Kakteen, Gummibäume, alles findet man dort in reicher Fülle. Dazu der Blick auf das befestigte Monaco und die Tête de chien; es ist ein Paradies, wenn es die Menschen durch ihre Geldsucht nur nicht in eine Hölle verwandelten! Leider ging die Sonne so bald hinter die Wolken und es wurde in Folge dessen so kalt, daß wir schon um 4 Uhr nach Hause fuhren und der Großmutter einen begeisterten Bericht lieferten. Sonntag ging ich allein in die Kirche und hatte dann beim Herauskommen eine sehr komische Begegnung mit dem Herrn Richter, der früher Hauslehrer bei Landrats war und jetzt bei Cancrins ist. Die Welt ist doch klein; überall trifft man Bekannte oder gemeinsame Beziehungen. Den Nachmittag verwandte ich zu einem Spaziergang ins Careïthal mit Sara und den Buben. Dienstag wollen wir etwas unternehmen, wissen nur noch nicht, was. Heute, Montag, war ich ganz allein bei der Großmutter, da Frl. Güntzel nach Nizza fuhr, um Geld zu holen. Eben kam sie begeistert von der eleganten Stadt und von der Heimfahrt an all den beleuchteten Orten vorüber, zurück. Gestern, Dienstag, gab die Großmutter uns Zeit zu einem längeren Spaziergang. Wir wählten Gorbio zu unserem Ziel und, obwohl es 2 Stunden weit und der Weg steil und steinig war, so wurden wir doch durch eine herrliche Aussicht in das romantische Tal belohnt. Das Dorf selbst, auf der Spitze eines Berges gelegen, macht den Eindruck von einem wüsten Räubernest. Überall dunkle Torwege, schmutzige Gassen, halbzerfallene Häuser und bettelnde Kinder. Es wurde uns unheimlich und da es übrigens zu regnen begann, machten wir uns auf den Heimweg. Der Abstieg auf den nassen, rutschigen Steinen war nicht gerade angenehm und wir waren froh, unter Dach und Fach zu kommen. Heute, Mittwoch, war ich doch etwas müde von unserer großen Partie und ging daher zum Pastor zum Nähtag. Wegen des herrlichen Wetters war er sehr mangelhaft besucht, doch lernte ich die jüngere Frl. von Eickstaedt und zwei Frl. von Hauch aus Stuttgart kennen, die mir recht gut gefallen. Heute wurde vorgelesen, leider eine fromme Betrachtung. Ich sage leider, denn es ist dies kein Magnet für lebenslustige Mädchen, die allenfalls wohl arbeiten, aber nicht eine lange Erbauung hören wollen. Die Vorleserin saß unpraktischerweise auf der Schwelle, sodaß wir, da sie rasend schnell las, nur ab und zu ein Wort verstanden. Kurz es war recht verfehlt und unpraktisch. Hauchs haben mich u. Frl. von Eickstädt zu einer Eselspartie für morgen früh geworben und ich freue mich „diebisch“ darauf. Heute, Donnerstag, 4.2., habe ich meine erste Eselpartie gemacht und mich sehr gut unterhalten. Punkt halb zehn war ich am Hôtel de Malte, wo wir ziemlich lange auf Hauchs und noch länger auf die Esel warten mußten. Wir machten nur einen

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kleinen Ritt über die Grenzbrücke nach Garibaldi, wo wir kurz rasteten, um wieder zurückzureiten. Da es meist auf ebener Straße ging, so konnten wir traben, was sehr lustig, auf die Dauer aber ermüdend ist. Es ist zu komisch, wenn so ein Esel nicht mehr weiter will, oder wenn sich zwei aneinander reiben und den dazugehörigen Reitern die Beine zusammenquetschen. Kaum zurückgekehrt, kam Frl. von Dellingshausen, um mich auf morgen zu einer zweiten Eselpartie für einen ganzen Tag nach San Agnese aufzufordern. Es werden wohl zwanzig Menschen von der Partie sein und verspreche ich mir viel davon. Heute war ich bei Cubes u. besuchte Frl. von Cancrin, obwohl sie sich sehr un – commilfaut anzieht. Sonntag, 7.2. Gestern u. vorgestern waren wundervolle Tage, Tage, die immer schöne Erinnerungen bleiben werden und die ich genau niederschreiben will. Freitag fand ich mich mit Esel und Frühstückstasche pünktlich am Jardin publique ein; wie es bei großen Verabredungen meist der Fall ist, war die Hälfte der Teilnehmer krank und einige verhindert. So fanden sich außer Frl. von Dellingshausen und mir und ihr Vetter Herr von Taube, ein junger Herr von Harpe und, als Vater des Ganzen, ein älterer Herr von Wrede ein, der sich unserer sehr gut annahm. Zwar war es nach Großmutters Begriffen nicht ganz schicklich, so ohne Chaperon in die weite Welt zu reiten, aber da die jungen Leute Balten und sehr wohlerzogen sind, so war es nicht so schlimm. Balten denken viel freier und dann kommt es doch am Ende nur auf den Ton und das Benehmen an und das war allerseits sehr gut. Es ist so angenehm, mit vornehmen, anständigen Menschen zu verkehren; man kann so sicher ruhig sein, daß sie höflich und doch nicht frech sind. So ritten wir denn auf steilem, mühsamem Pfade hinauf, hinauf durch Olivenwälder, bis wir an kahle, felsige, unbebaute Bergkuppen kamen. Der Tag war herrlich und der Blick, den wir von der Spitze des Berges genossen, war köstlich. Ich liebe so hoch zu stehen, zu den Füßen ein weiteres, schönes Bild, im Hintergrund das blaue Meer: Alles unten scheint so gering, so unbedeutend; die Luft oben ist so klar und leicht; man fühlt sich wie ein Sieger gehoben und gestärkt. Oben lagerten wir uns in der Ruine der alten Sarazenenburg u. konnten uns nicht losreißen von dem schönen Blick. Es machte mir Spaß, die jungen Leute so exaltiert Natur schwärmen zu hören, wie es nur die überschwenglichen Kurländer können. Auch höre ich im Hôtel so viel Monte Carlo reden, daß es mir wohl thut, wenn auch der schönen Natur ihr Recht wird. Das Dorf San Agnese, auf der Felsenspitze des Berges gelegen, macht einen unwirtlichen, öden Eindruck. Man fragt sich, wie in diesen engen, schmutzigen, verpesteten Gassen, in diesen hohen luft- und lichtarmen Häusern, in diesen dunklen Löchern Menschen wohnen und gedeihen können. Und dennoch scheinen sie ein zufriedenes Völklein. Wir waren stets von einer Herde bettelnder Kinder

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umgeben und ließen uns in ein längeres Gespräch mit ihnen ein. Sie waren sehr unwissend, konnten auch nicht singen; ihre einzige Kunst schien das Betteln zu sein. Nachdem wir uns gestärkt, ritten wir auf gefährlichem Stege über Gorbio hinab und heim durch das liebliche Gorbiotal; daß wir die Nacht darauf herrlich schliefen und den anderen Tag etwas steif waren, wird niemand wundern. Gestern beredeten wir die Großmutter, bei dem herrlichen Wetter, die langgeplante Tour nach Monte Carlo zu unternehmen. Ich habe es ja schon einmal gesehen, aber ohne Sonne, und war deshalb heute ganz entzückt. Solche Gärten, so schön gehalten und angelegt, giebt es wohl nirgends mehr. Von dem zarten, samtenen Rasen heben sich blühende Primel -, Flieder -, Rosen – und Cinerarienbeete hübsch ab; dazwischen stehen Cakteen, Casuarinen, Bananen, Magnolien, riesige Gummibäume, Agaven und viele Arten Palmen, einzeln oder schön gruppiert. Dazwischen lauschige Plätzchen, Bächlein, Grotten, Volieren, 1 Käfig mit Steinböcken, kurz, was man sich an Abwechslung nur wünschen kann. Wir lebten ganz der schönen Natur und der Musik. Das Conzert war ausgezeichnet und befriedigte die Großmutter sehr. Diesmal waren sie sehr streng mit dem Eintritt. Ich log zwar und sagte, ich wäre 18 Jahre alt, aber der Beamte musterte mich mißtrauisch von Kopf bis Fuß und gab mir endlich, meiner langen Kleider wegen, eine Einlaßkarte. – Nach dem Conzert gingen wir noch auf die Terrassen, um Monaco im Abendglanz zu sehen und machten uns dann auf den Heimweg. – Ich hoffe, die Großmutter wird öfters nach Monte Carlo gehen; es ist wirklich ein Paradies und man kann über seiner Schönheit vergessen, daß es die Menschen zur Hölle machen. Heute ist Frl. Güntzel mit den zwei Holländerinnen aus unserem Hôtel, der kleinen, hübschen Pariserin u. dem Kroaten nach San Agnese geritten. Da es kalt war, ging ich nur in die Kirche und werde noch ein wenig zu Sara gehen. Ich schrieb nach Berlin, las der Großmutter vor und verlebte einen stillen, ruhigen Tag. Die letzten zwei Tage waren wieder sehr unterhaltend. Montag nahm mich Sara mit nach Nizza, das ein zweites Paris an Eleganz sein soll. Wir verfehlten leider die Gräfin Henckel, die den sehr hübschen, aber entlegenen Palais Carabacel für den Winter gemietet hat; der Hauptzweck der ganzen Fahrt war also verfehlt. Der zweite, Anprobieren eines Reitkleides bei Redfurn war endlos, sodaß Sara fast ohnmächtig wurde und als wir dann einen Gang durch die Straßen und Promenaden machten, war die elegante Welt nicht mehr da, die Musik am Strande zu Ende und wir sahen Nizza nicht mehr in seinem Hauptglanz. Dennoch gefiel es uns mit seinen schönen Läden u. buntem Leben, ganz gut, aber ich bin froh, daß wir das stillere, aber landschaftlich schönere Mentone mit seinem stillen Landleben zum Aufenthalt gewählt haben. Beim Abfahren verspäteten wir uns und sprangen, als der Zug schon fortfuhr, in ein volles Coupé. In Monte Carlo stieg die alte Prinzessin Lubeska mit

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ihren zwei Söhnen ein und war sehr liebenswürdig. Auf der Hinfahrt waren wir mit der Fürstin Lobanov, der Schwester der Wittwe [sic] Alexander II. von Rußland (der Prinzessin Dolgoroniki) zusammen gefahren. Sie muß einmal sehr schön gewesen sein, ist aber unförmig dick geworden. Sie hat in Mentone die herrliche Villa Stellamare gebaut und muß riesig reich sein. Gestern war die langbesprochene „bataille de fleurs“. Wer sie in früheren Jahren gesehen, sagt, sie sei völlig mißglückt, da der geschmückten Wagen nur zehn waren und die Mentonesen auf den Karneval sparen. Aber uns Neulingen machte das Werfen von Wagen zu Wagen, von Tribüne und Stühlen, großen Spaß. Sara hatte einen Wagen genommen und mich aufgeladen. So fuhren wir von 2 – 4 Uhr in einer langen file ³⁹ und hatten, besonders, wenn man Bekannten begegnete, hitzige Gefechte mit den reizenden kleinen Sträußchen. Die holden Frühlingskinder tun übrigens an Augen und Ohren gehörig weh, und die letzte halbe Stunde artete die Sache gemein aus. Der Plebs warf uns Schmutz, Papier, altes Brot etc. mitten ins Gesicht. Erich fing an zu weinen, aber Fred und ich revanchierten uns durch wohlgezielte Bomben. Von den Wagen gefiel mir ein kleiner dog-cart voll weißgekleideter englischer Kinder am besten. Außerdem war ein Veilchengeschmückter Wagen, indem eine nette lila Veilchendame saß, und ein Wagen voll Maréchal Niel-Rosen mit drei Engländern sehr hübsch. Kurz, ich unterhielt mich gut und auch die Großmutter, die Stühle genommen, fand Freude an dem munteren Treiben. Gestern machte sie einen Besuch bei Reußens und wurde sehr liebenswürdig aufgenommen. Einen Triumph erlebte ich bei der bataille. Der Kroate, ein widerlicher, aufdringlicher Patron sagte am Tag vorher, er würde sich ein Knopfloch für meine Blumen freihalten, jeder meiner Bekannten würde unglücklich sein, keine Blumen von mir zu bekommen etc. etc. Bei der Bataille warf er mir denn auch körbeweise Blumen auf den Kopf, ich aber, natürlich, verhielt mich passiv, verbot auch Fredi bei Todesstrafe, hinzuwerfen. Heute beklagte er sich unten über meine Undankbarkeit, ich ließ ihn aber abblitzen und genoß meine Rache sehr. Er hat mir wirklich die Mahlzeiten mit seinen ekelhaften Schmeicheleien und Zudringlichkeiten verbittert. Gott sei Dank reiste er heute ab und an der table d‘hôte fanden außer mir noch acht Damen riesige Bouquets mit Visitenkarte auf ihrem Platz. Sie wurden aber sehr kühl aufgenommen; ich glaube, jeder freute sich mehr über seine Abreise als über die Blumen. So bewegt die ersten Tage der Woche, so still waren die letzten. Es war auch Mittwoch und Donnerstag so kalt, daß ich, außer einem Besuch bei Cubes nichts vornahm. Wenn die Sonne nicht scheint, wird man hier so apathisch, daß man sich am liebsten ins Bett legte.

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Freitag lockte die Sonne wieder, sodaß die Großmutter mit Sara und mir eine Fahrt nach der Grenzbrücke und über den boulevard Garavan unternahm. Die Beleuchtung war herrlich und da ich diesen Weg zum ersten Mal machte, war ich ganz bezaubert. Ich möchte zu gern die Mutter, überhaupt alle Menschen, die ich lieb habe, hier haben, ihnen die schönen Wege, Blicke, und Aussichten zeigen und ihre Bewunderung hören! Später kaufte ich mit Sara einen Sommerhut für 15 fr. Wir gingen ins erste Geschäft und ich bekam einen wirklich eleganten, hübschen Hut, während man hier in den kleinen Läden nur Schund bekommt. Sara ist so nett und teilnehmend mit mir; doch macht sie mir einen so unbefriedigten, trüben Eindruck; ihr Leben macht ihr keine Freude mehr, sie lebt ihren Jungens zuliebe. Ihr bisheriges Leben war ja verfehlt, aber es ist unnatürlich, daß sie in ihren Jahren nicht Nerv und Frische genug besitzt, sich eine neue Existenz zu schaffen, ein neues, freies, glückliches Leben zu beginnen. Sonntag, 14.2. Gestern kletterten Fr.l Güntzel u. ich auf die Annunciada hinauf. Der Blick vom Klosterhof herab auf Mentone und das Meer erfreute uns sehr, aber wir fühlten uns durch die Capelle oder vielmehr Klosterkirche mit ihren abscheulichen Bildern, geschmacklosen Kränzen etc. abgestoßen. An der einen Wand ist alles bedeckt mit Krücken, Stelzen u. Stöcken, von Lahmen und Kranken, die von Notre dame de L’Annonciade geheilt sein sollen. Heute waren wir auf dem hiesigen Kirchhof, der, malerisch zwischen Ost – und Westbucht gelegen, mit seinen Cypressen einen schönen Blick gewährt. Die Grabsteine sind nicht schön, häßlich und bunt, nirgends ein künstlerisches Monument, wie man es sonst im Süden findet; aber es ist rührend, die Inschriften zu lesen, von Engländern, Deutschen, Russen, Protestanten und Katholiken, die hier alle, im Tode vereint, nebeneinander liegen: Viele junge Leute, die zu spät hier Heilung suchten. Frl. Güntzel ist zu Sara gegangen, ich bin hier einsam, da die Großmutter bei Tante Wilma ist. Die Sonntagnachmitttage sind überhaupt recht öde hier und das Schreiben ist mir auch kein Genuß. Gestern, Montag, pilgerten wir zu Dellingshausens hinaus, da die Großmutter einen Besuch machen wollte. Die zwei aus Rußland gekommenen Töchter waren da und machten uns einen sehr angenehmen Eindruck; dann kletterten wir zu Sara hinauf, leider umsonst. Heute ist abscheulich kaltes Wetter, ich beredete die Großmutter, daheim zu bleiben und ein Kaminfeuer zu machen. Im Lauf des Nachmittags kamen die Buben und durchwühlten alle meine Schubladen. Auch der Pastor kam, natürlich mit einer Bitte und radebrechte mit Signorina ein solches Französisch, daß

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Fredi und ich fast herausplatzten. Er scheint sehr guten Willen zu haben, aber unbegabt und namentlich unpraktisch zu sein. Mittwoch, 17.2., schwang ich mich auf, zum Pastor zu gehen u. fand die Eickstädts, von denen mir namentlich die älteste sehr gut gefällt, Dellingshausens, eine Hauch, Frl. Stiege, Osten-Sackens etc. Es wurde nicht vorgelesen, sondern der Bazar beraten. Ich soll Bier schenken, will es aber nur im äußersten Falle, und dann mit Fredis Hilfe tun, denn die Geschichte kommt mir höchst gemein vor. Um vier Uhr war ich zu Saras Thee geladen, um Frl. von Oppeln kennenzulernen. Ich sah wenig von ihr, doch scheint sie ein bescheidenes, nettes Mädchen zu sein. Ich werde sie besuchen müssen. Wenn sie nur nicht so weit fort wohnte! Gestern, 18.2., wollten wir nach Monaco; da es aber kalt u. windig war, gingen wir nach Monte Carlo ins klassische Conzert. Es befriedigte uns aber gar nicht; außer einer herrlichen Symphonie von Beethoven, wurden nur Stücke von modernen, französischen Komponisten gespielt; die Großmutter blieb leider bis zum Schluß, sodaß wir ganz abgespannt waren. Von dem heißen Saal gingen wir dann auf die windigen Terrassen, wo ich mir eine riesige Erkältung zuzog. Heute habe ich Husten, Heiserkeit u. Schnupfen und werde mich gleich ins Bett legen. Ich hatte heute viel Besuch von Sara, Fredi, Frl. von Eickstaedt, Frl. von Hauch u. der Gräfin, sodaß ich mich nicht langweilte. Heute wollten wir eine Partie auf den Beriau machen, doch es regnet in Strömen. Donnerstag, 25.2. Ich habe seit längerer Zeit nicht geschrieben, obwohl ich, da ich Stubenarrest hatte, recht gut Zeit dazu gehabt hätte. Aber ich war so faul u. energielos, daß ich lieber gar nichts that als lesen, essen und schlafen. So ein Schnupfen in seinen verschiedenen Phasen ist überhaupt das Uninteressanteste, was es giebt und erst gestern erlebte ich wieder etwas. Ich ging nicht in die Schlußberatung zum Pastor, sondern machte mit Sara einen hübschen Spaziergang nach der Lodola, wo Sara mit bewunderungswürdiger Ruhe und Frechheit Rosen raubte. Dann ging ich mit ihr in der Stadt und zur Schneiderin u. trank einen guten Tee. Die Großmutter ist leider wieder krank. Wir fürchteten, daß sie Influenza bekäme, doch hat sie kein Fieber, aber Husten, Kopf – und Rückenschmerzen. Viel Einbildung ist auch dabei, aber sie ist in einer Weise aufgeregt und ängstlich, daß wir großes Mitleid mit ihr haben. Helfen läßt sie sich gar nicht von mir, sondern nur von Rosa und ich führe ein gräßlich zweckloses, einsames und doch ungeordnetes Leben. Dazu bekommt Sara neulich einen Brandbrief aus Berlin von der Mutter, die vom Onkel Below mit seiner Angst vorm Erdbeben angesteckt ist. Sie schreibt für

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den 27. Februar habe Falb kritische Tage für die Riviera, speziell für Mentone angesagt, wir sollten sofort nach Como abreisen, keine Nacht aus den Kleidern, Sara hätte die Verantwortung etc. Wir hatten einen großen Schreck und waren dann recht ärgerlich. Wenn sie sich in Berlin berufen fühlen, uns zu warnen, so sollen sie sich doch erst informieren und es dann ruhig und überlegt schreiben, denn so ein Brandbrief regt uns nur unnötig auf. Für den 28. März sind allerdings kritische Tage prophezeit, aber warum dieselben besonders die Riviera betreffen und ein Erdbeben in Mentone zur Folge haben sollen, ist niemandem recht klar. Nach Como zu gehen, wäre aber ganz verfehlt, da dort Schnee und Eis ist und schon die zwölfstündige kalte Reise Großmutters Tod sein könnte. Vielleicht gehen wir wie Tante Wilma für einige Tage nach Cannes, das noch nie ein Erdbeben gehabt. Am siebten März ist also der Bazar, wie alles, was Pastors tun mit gutem Willen, aber unpraktisch eingerichtet. Mir hielt der Pastor folgende Rede: „da Sie eine der nettesten, frischesten u. lustigsten sind, so wollen wir Sie neben ein Bierfaß postieren, aus dem Sie zapfen und schenken sollen.“ Ich antwortete darauf, daß ich ihm für seine gute Meinung verbunden wäre, aber daß er sich dafür ein älteres Mädchen aussuchen solle, ich bedanke mich dafür. Alles, was recht ist; dafür bin ich zu jung, die Großmutter würde es nie erlauben, und dann bin ich mir auch zu gut, um den lieben, langen Tag neben einem ekelhaften Faß zu stehen, den schmierigen Hahn zu drehen und als Schenkmamsell jedem ersten, besten Herrn Bier kredenzen und, nach der Meinung des Pastors, den Trunk mit meiner edlen Unterhaltung zu würzen. Glücklicherweise beschloß gestern das Comitee, das Faß ganz wegzulassen, da ich mit der ältesten Hauch Blumen verkaufen soll. Ich will sie heute aufsuchen und mich mit ihr verständigen. Gestern war ich bei Hauchs; fand nur die älteste Tochter, die eben von einem Darmkatarrh genesen und noch sehr elend ist. An ihre Stelle tritt die nette, angenehme Frl. Grimm, was mir eine große Erleichterung beim Verkaufen sein wird. Ich wollte, die Großmutter wäre wieder gesund, denn, abgesehen von der Angst, die sie aussteht, führen Frl. Güntzel und ich ein gräßliches Leben. Ich schlafe in Rosas kaltem Zimmer, das meinige sieht aus wie eine Apotheke; ich komme fast nicht heraus und kann doch nicht das Geringste helfen. Sonntag, 28. Die letzten zwei Tage ging es mit der Großmutter schlimmer; der Doktor erklärte, daß sie Influenza hätte und daß sie wohl vierzehn Tage damit zubringen könnte. Daher wurde heute im Familienrat beschlossen, daß ich zu Sara ziehen solle, damit sie mich wenigstens los sind. Ich freue mich, aus dem traurigen Leben herauszukommen, aber es erscheint mir fast wie eine Fahnenflucht; aller-

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dings konnte ich gar nichts helfen, war nur im Weg und muß, da ich nicht alleingehen darf, immer begleitet und abgeholt werden. Zum Vorlesen bin ich noch zu heiser und etwas anderes läßt man mich nicht tun. Es ist mir eine Beruhigung, daß es heute etwas besser geht; der Doktor war sehr zufrieden heute. Das Fieber hat nachgelassen und der Husten ist besser. Freitag war das Wetter so herrlich, daß es mich nicht im Zimmer hielt. Sara war eingeladen und so hielten Signorina, die Buben und ich ein Picknick ab. Mit großen Körben und Flaschen versehen, machten wir uns auf den Weg nach Castelar. Aber als wir zehn Minuten in der Sonne gestiegen, wurde uns unsere Last zu schwer: Wir lagerten uns auf Felsen unter einen Pinienbaum, vor uns die herrlichste Aussicht auf beide Buchten und Cap Martin, und begannen unser ländliches Mahl, eins der behaglichsten und gemütlichsten, das ich je mitgemacht. Die Jungen leisteten großes im Essen und Glasumstoßen, sodaß wir zuletzt auf unserem Plaid wie auf einer Insel saßen. Später holten wir Sara bei Frau von Oppeln ab, worüber sie sehr erfreut schien. Dann kauften wir Masken zum Karneval, der noch am selben Tag seinen feierlichen Einzug in Menton hielt. Wir sahen von unserem Balkon den ganzen Zauber mit an: Ein Fackelzug, einige bunte Lampions und dann ein Riesenwagen auf dem zwei enorme, groteske, abscheuliche Puppen, nach dem Programm S. A. R. Prince Carnaval et son épouse, la Princesse Carnavalesque, sich befanden. Mit Musik fuhr er einmal durch die ganze Stadt u. eröffnete hiermit den Carnaval. Sonnabend ging es Großmutter noch so wenig gut, daß Frl. Güntzel sie nicht allein lassen wollte und ich mit Tante Below und Saras Familie von einem Fenster aus dem Treiben zusah. Ich hatte mir alles viel prächtiger und großartiger vorgestellt; die Wagen und der ganze Zug sahen recht armselig aus. Nachdem wir den Zug mehrmals hatten vorbeiziehen lassen, wagten wir uns heraus und kamen auch glücklich nach Haus. Das Straßenleben ist ja bunt, aber man sieht wenig hübsche Kostüme, da der praktische, aber langweilige Domino seiner Billigkeit wegen alle anderen verdrängt hat. Ich denke es mir viel lustiger mitten in dem Gewühl drin zu sein. Heute war ich bei Sara und fand alle beschäftigt, mein Zimmer zu richten. Die Jungen sind hocherfreut und auch ich freue mich auf morgen. Das Wetter ist grau und abscheulich und Frl. Güntzel und ich hauen uns nächstens aus schlechter Laune. Donnerstag, 3.3.92 Zum ersten Mal schreibe ich aus der lieben Villa Baron, in der ich mich wie daheim fühle; sei es, daß ich Hotelleben und Kost herzlich satt habe, sei es, daß ich Sara so lieb habe, und jugendlichen Umgang so lange entbehrte. Sara tut alles, um mir das Leben mit ihr so angenehm als möglich zu machen und dann sind mir die herzigen Buben eine tägliche Freude. Schon am Morgen tobe ich mit ihnen im Garten umher, klettere auf die Orangenbäume etc. Was mich am meisten freut, ist, daß ich etwas

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mehr Freiheit habe. Im Hotel war ich wie in einem Käfig, mußte, wenn ich einen Moment zu Tante Wilma wollte, um Erlaubnis betteln und wurde bewacht und gehütet wie ein dreijähriges Kind. Besonders das Mißtrauen, das die Großmutter immer hat und zu dem ich ihr keinen Grund gegeben, bringt mich so auf. Ich darf keinen Brief vorlesen; wenn jemand zu Besuch kommt, muß ich herausgehen, ja, sie traut mir nicht zu, ein Glas Wasser einzuschenken. Montag faßten wir uns ein Herz und gingen mit Masken und Kapuzen bewaffnet, auf die Straße, um den Carneval gründlich zu genießen. Aber wir konnten der Confettischlacht keinen Reiz abgewinnen. Die harten Gipskügelchen schmerzten auch durch die Drahtmasken, da die Engländer und die Mentoneser erbarmungslos und grob sind und ein Vergnügen daran finden, recht weh zu thun. Um zu scherzen, zu necken, Arm in Arm mit jedem zu gehen und sich auf Witze einzulassen, waren wir zu schüchtern, da die Masse aus Plebs, Soldaten und einigen Freunden bestand und man Gemeinheiten und Zärtlichkeiten fürchten mußte. Als mich gleich zu Anfang ein stark nach Knoblauch duftendes Subjekt um die Taille faßte und sagte: „Hein! Je te connais, ma petite“, Ich kenne Dich doch, meine Kleine! hatte ich genug. Lustig war es nur, wie wir Eickstaedts erkannten, uns auf sie stürzten und fast erdrosselten und wie wir dann im Hotel Besuche machten. Am Abend wurde der zum bonhomme degradierte Karneval mit sehr mäßigem Feuerwerk verbrannt, das wir, da wir sehr müde, nur vom Fenster aus ansahen. Am Abend hatte mir Sara eingeschärft, beim ersten Gefühl eines Erdbebens auf die Terrasse zu stürzen. Als ich daher an einem starken Donnerschlag erwachte, dachte ich nicht anders, als daß nun alles krachen würde und kam, ganz verschlafen, zu Sara hereingewankt. Es war ein starkes Gewitter und Erdbeben kommt meist bei stillem, sonnigen Wetter. So lachte mich Sara nur aus und ich ging, ach wie gern, ins Bett zurück. Dienstag gingen wir zu Dellingshausens zum Thee. Es ist gewöhnlich sehr langweilig dort. Die Mutter Dellingshausen ist unausstehlich, dadurch, daß sie immerfort widerspricht und streitet; und die vier Töchter, von denen mir nur eine gut gefällt, wirken durch ihre Mehrzahl schon ertötend. Man muß, da sie stets nacheinander kommen, alles viermal erzählen. Und dann trägt die Entfernung auch dazu bei, daß uns diese Besuche nur Pflicht sind. Viel netter finde ich Frl. von Oppel, ein stilles, ernstes Mädchen, bei der ich den gestrigen Nachmittag verbrachte. Sie ist sehr religiös u. wird in einigen Jahren gewiß in ein Kloster gehen, da sie die Vokation dazu zu haben glaubt. Sie begleitete mich ein Stück zurück; dann ging ich allein und kam in einen starken Wirbelwind, der mich fast umriß. Bei hereinbrechender Nacht traf ich Sara, die auch Besuche gemacht hatte. Heute ging ich mit Signorina und den Buben nach den Rochers rouges, die steil abfallen und ihr rötliches Gestein in den blauen Wellen spiegeln.

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Ich sollte in eine Grotte und dort alte Gerippe und Knochen ansehen, aber ich blieb lieber in der freien Luft und bewunderte die schöne Landschaft. Signorina spendete eine Flasche Muscat, der Fredi in eine sehr komische, halb ausgelassene, halb zärtliche Laune versetzte. Zurückgekehrt, begab ich mich, mit einem großen Blumenstrauß versehen, zu Eickstaedts, die mich zu einer großen Abschieds- und Geburtstagsschokolade gebeten hatten. Ich traf dort die mir sehr unsympathischen Hauchs und eine Frau von Beyer mit Tochter. Eickstaedts sind gute, nette Mädchen und scheinen mich sehr liebgewonnen zu haben. Später kamen Pastors, nachdem wir gerade etwas über ihn hergezogen hatten. Daher entstand eine etwas peinliche Stille, die er mit einer salbungsreichen Geburtstagsrede unterbrach. Ich finde, ein Pastor muß im Salon den Predigtton ablegen, denn da paßt er nicht hin, besonders in einen Mädchenkaffee! Sonntag, 6.3. Vorgestern also war der berühmte, langbesprochene Bazar. Ich stand für unsere Begriffe früh auf und stürzte mich im Hotel in Gala, bestehend aus meinem neuen weißen Kleid mit Goldspitze. Ich hatte es zum ersten Mal an und stach gegen die meisten der anderen Verkäuferinnen, die alte, schmutzige Fahnen abtrugen, ab. Das Lokal war unter aller Kritik, klein, eng, schmutzig und kalt. Ein Saal rechts für Büffett und Theetisch und einer links für die Arbeiten (fast nur Horreurs), das war die ganze Herrlichkeit! Zwischen beiden hatte man uns ein Eckchen eingeräumt, zwischen drei Thüren, also in permanentem Zug und der Passage von jedermann. Noch dazu stand die Hausthür offen, sodaß wir zum Entsetzen unseres Doktors (er frug mich heute besorgt, ob ich keine Lungenentzündung habe) und zum Mitleid unserer Bekannten bei einer Hundekälte sozusagen im Freien saßen. Frl. Güntzel saß mit der Cassa im Vorgärtchen und hat noch jetzt Zahnweh davon. Frl. Grimm, eine recht hübsche, nette Russin und ich waren also Blumenfeen und machten glänzende Geschäfte: Für 22 francs hatten wir eingekauft und hatten einen Erlös von 200 francs.Viel ging mit Blumenpacken und Verschicken ein, aber es war sauere Arbeit, diese Kleberei und das Aussuchen der Blumen. Viel lohnender war es, den Herren Blumen ins Knopfloch zu stecken! Bis zwei Uhr war es unterhaltend, aber dann saß ich etwas verloren und gelangweilt neben den wenigen, welken Blumen, die mir geblieben und ärgerte mich über den Pastor. Der Bazar war für ihn veranstaltet worden. Da wäre er lieber weggeblieben, als überall im Weg zu stehen, sich nach den Preisen und Einnahmen zu erkundigen und uns abgeschmackte, blumenreiche Komplimente zu machen, die uns aus seinem Mund nur ärgerten. Dellingshausens waren sehr freundlich und nett und Frl. von Cancrin war reizend, aber die ganze Hauch’sche Clique ist mir zuwider und ich bin froh, daß Sara sich nicht darunter mengte, sondern nur die Buben schickte. Die Reineinnahmen des Bazars betrug 3000 fr., also für Mentone ein glänzendes Resultat und große Freude bei allen Teilnehmern!

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Gestern und heute war noch immer so kaltes, abscheuliches Regenwetter, daß wir am Kaminfeuer am besten aufgehoben waren und nichts unternahmen. Heute war ich zum ersten Mal in der französischen Kirche und hörte Delapierre predigen. Er spricht sehr von Herzen und reißt auch mich fort, schade nur, daß er sich so oft wiederholt. Mittwoch, 9.3. 92 Vorgestern, 7.3. machten wir einen Spaziergang auf dem schönen, geschützten boulevard Garavan und entschuldigten uns bei Frau von Oppel, daß wir ihren Empfangstag ganz ignoriert. Sie schleppte Sara gleich mit sich fort, um eine Villa für den König und die Königin von Sachsen zu suchen. Sie kommen noch diesen Monat, ebenso Tecks. Mentone wird jetzt überhaupt sehr vornehm; die Prinz Wales Familie und die Exkaiserin Eugénie sind bereits auf dem Cap Martin. Letztere möchte ich gerne sehen; vielleicht gehen wir einmal in die Messe, die sie sehr fleißig besuchen soll. Gestern benutzte Sara meinen Aufenthalt, um mit Signorina nach Monte Carlo zu fahren. Ich hütete die Buben, machte trotz kalten Windes einen Spaziergang auf dem Weg nach Castelar und sah mit Fredi ein wenig der zweiten Bataille de fleurs zu. Sie war viel reicher als die erste, eine Menge hübscher Wagen, aber das Wetter war unfreundlich und die Schlacht nicht sehr belebt. Die drei Eickstaedts hatten einen Wagen mit weißen Blumen und bunten Fächern geschmückt und waren glücklich, einen Ehrenpreis davonzutragen. Heute hatte Sara sie zum Thee geladen; sie nahmen Abschied, da sie morgen nach Neapel wollen. Es war eine nette Bekanntschaft; wer weiß, ob wir je voneinander hören! Freitag, 11.3. Gestern war das Wetter noch so unfreundlich, daß es Sara nicht mehr aushielt und mit mir nach Monte Carlo rutschte. Wir waren in einem großen Salonwagen mit so viel Menschen, daß die Gänge voll waren. Mit einem Mal gerieten zwei Damen, eine Mentoneserin und eine Russin in Streit um einen Platz, ohrfeigten sich und stritten sich so, daß ein Polizist kam. Zuletzt mischten sich die Männer drein und die Russin stürzte glühend zu uns, und erzählte, wem es hören wollte die ganze Sache. Die Frauen sagten sich unter anderm: Vous êtes une grossière, malhonnête, je suis une femme d’officier et vous avez gardé les cochons!! ⁴⁰ Es ist doch unerhört, und auch nur in der Nähe von Monte Carlo möglich, daß so etwas in erster Classe vorkommt.– Da klassisches Conzert war, so war überall foule. An die Spieltische kam man kaum heran und in den Conzertsaal war keine Möglichkeit, zu

40 „Sie sind ungehobelt und unehrlich, ich bin die Frau eines Offiziers und Sie haben Schweine gehütet!“

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kommen. Wir waren, da wir noch dazu verloren (ich 10 francs) sehr deprimiert und von der Menge, der Hitze und dem Moschusgeruch angeärgert. Einmal gewann ich 30 francs, verlor sie aber sehr bald wieder, kurz ich fand es nicht einmal interessant und unterhaltend. Heute ist Sara wieder nach Monte Carlo, um die alte Prinzessin Lubecka zu sprechen wegen der Villa für die Königin von Sachsen. Ich blieb still zu Haus und garnierte mir einen Gartenhut für zwei francs. Das Wetter ist eisig, alle Berge sind weiß und wir haben noch nie so kalte Tage gehabt. März ist ja bekannt für schlechtes Wetter, aber wenn es jetzt nicht bald wärmer wird, verzweifle ich an dem Klima von Mentone. Montag, 14.3. Sonnabend war Frl. Güntzel in Nizza um Geld zu holen. Ich leistete daher der Großmutter Gesellschaft und las ihr einige Aufsätze von Nasemann vor und schrieb dann zum ersten Mal von hier an Jörge. Gestern war ich mit Signorina bei De la Pierre in der Kirche u. erhielt einen langen Brief von der Mutter. Es ist mir hier eine solche Freude, Briefe zu bekommen; doch schreibe ich selbst so wenig, daß dies nicht oft eintrifft. Den Nachmittag gingen wir erst zu Hearns, einem reichen, amerikanischen, kinderlosen Ehepaar, das sich hier angekauft hat und dann auf den Empfangstag von Frau von Oppel; die Tochter war nicht da, dafür aber der alte Prinz Lubecka, eine sehr liebenswürdige alte und eine junge Engländerin. Wenn Engländer nett sind, sind sie es doch gewöhnlich in hohem Maß und ich unterhielt mich sehr gut. Dienstag, 15.3. Gestern hatten wir einen furchtbaren Schreck: Ich stand im Eßzimmer, als Erich mit beiden Händen an die Glastür fiel; sie gab nach, zerbrach in tausend Scherben und er fiel mit dem Gesicht in die Glassplitter hinein. Ich war gelähmt vor Entsetzen, riß ihn gleich in die Höhe und untersuchte ihn. Kein Ritzchen, keine Schramme hatte er bekommen. Kinder haben ihren besonderen Schutzengel und wir waren froh, daß Sara nicht da war; sie hätte Todesangst gehabt. Gegen Abend ging Signorina mit Fredi und mir zu einer alten Gräfin Manna, deren Enkelin hier ein Kind erwartete, um Nachrichten zu holen. Die alte, liebenswürdige Dame zeigte uns mit Stolz ihr Urenkelchen, Guido, das trotz seiner 4 Tage schon reizend niedlich mit brauner Haut und dickem schwarzen Haar in seiner rosa Wiege lag. Die Eltern des Kindes, ein 22jähriger italienischer Marchese und eine 18jährige kleine Russin sollen strahlend sein über den Erstgeborenen. – Eine recht italienisch russische Unordnung war in dem Haus; man ließ uns im Vorplatz warten, auf allen Möbeln konnte man im Staub schreiben und auf der Treppe hatte sich eine Katze mit ihrer Brut etabliert. – Von der alten Gräfin Manna war ich ganz entzückt; sie ist so gut gegen alle Menschen und war gegen mich, die

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ihr doch fremd bin, so reizend lieb, fast mütterlich, daß sie mein ganzes Herz gewonnen hat. Es gibt eben eine Liebenswürdigkeit und Höflichkeit des Herzens, die angeboren ist, die nie aufhört und nie erkaltet, weil sie nicht anders kann, als Liebes tun und sagen. Ich glaube wohl, daß sie sich mit gutem Willen erlernen läßt, aber ich glaube nicht, daß sie alsdann so zu Herzen geht wie die natürliche. Heute kam Frl. Güntzel um halb neun Uhr und war sittlich entrüstet, uns noch in den Federn zu finden. Großmutter unternahm ihre erste Ausfahrt und kam sehr vergnügt zurück, da sie ihr so gut getan. Es ist heute endlich wärmeres Wetter und wir unternahmen einen Spaziergang nach der Madonna, wo wir uns in einem schönen Pinienwald sehr gefielen. Leider mußten wir um vier Uhr zurück, da Sara mit mir zum Empfang der Prinzessin Reuß gehen wollte. Die Prinzessin gefällt mir gut und war sehr liebenswürdig, er macht einen unbedeutenderen Eindruck. Freitag, 18.3. Mittwoch war wirklich einmal ein stiller Tag, da Sara nach Monte Carlo fuhr und wir ein Bad nahmen. Sara kam sehr verstimmt zurück, da sie unterwegs ihren Schwager Köckeritz getroffen und er sich auf Donnerstag ansagte. Die ganze Prittwitz’sche Verwandtschaft scheint mir sehr gewöhnlich und namentlich gegen Sara sehr wenig zuvorkommend zu sein. Donnerstag, also, kam der berühmte Onkel Köckeritz, sehr gewöhnlich, klein, schäbig und unbedeutend aussehend. Ich verschwand sofort auf mein Zimmer; da wir ihn aber halbwegs begleiteten, lernte ich ihn noch kennen und er sagte mir einige banale Worte über den Süden. Da das Wetter himmlisch warm und schön war, nahmen wir für die Buben einen Esel und gingen nach dem Cap Martin. Der Spaziergang, die Ruhe dort und der Rückweg waren entzückend. Wir gaben uns ganz der Wonne über die Wärme, über den Frühling, der jetzt wirklich hier eingezogen zu sein scheint, hin. Es war der erste Abend, den wir bis sieben Uhr auf der Terrasse blieben. Der Sonnenuntergang war wundervoll, alle Berge rot beleuchtet und das Meer tiefblau. Nach und nach leuchtete ein Stern nach dem andern, in der Stadt wurde ein Licht nach dem andern angezündet und eine milde, wirklich südliche Nacht senkte sich zum ersten Mal auf uns herab. Heute war es so warm, daß ich in heller Leinwandbluse am Strand saß und zu ersticken glaubte. Ich erkenne Mentone nicht mehr. Alle Straßen sind belebt, der Jardin publique überfüllt; jetzt sieht man erst, wieviel Menschen hier sind. Heute Nachmittag machten wir eine Entdeckungsreise ins Gorbiothal und bekamen von einer alten Frau Orangen geschenkt. Wenn das Wetter nur bliebe; jetzt ist es schön und wonnig. Dienstag, 22.3. Wieder drei Tage liegen hinter mir; aber es waren Tage der Angst und Sorge. Erichlein erkrankte plötzlich an einem sehr schweren Bronchialkatarrh. Dr. Cube, anstatt uns zu beruhigen, ängstigte uns nur noch mehr und Sonnabend

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Abend waren wir ganz down. Es dauert mich zu sehr, ein Kind so leiden zu sehen. Er lag im Halbschlummer, fieberte, wimmerte und hustete in einem fort. Sonntag, Gottlob, war die Krisis überstanden, er atmete leichter und hatte auch etwas mehr Teilnahme. Gestern wurde auch Fredi eines Katarrhs wegen ins Bett gesteckt, sodaß wir viel zu tun hatten, die beiden unruhigen Geister zu beschäftigen. Sonntag ging ich zu Dellingshausens, um der jüngsten, Alma, zu ihrer Verlobung zu gratulieren. Der Bräutigam, ein Herr von Löwis, Estländer, Nachbar und Verwandter von Dellingshausens gefällt mir sehr gut und die Braut war auch sehr strahlend, nett und würdig und sah durch die Freude wirklich hübsch und stattlich aus. Gestern gratulierte ich noch zu einer anderen Verlobung: Frl. von Cancrin mit Herrn von Hütlin. Die Braut machte mir einen sehr kindlichen, naiven, aber doch sehr glücklichen Eindruck. Sie kam mir gleich entgegen: „Hätten Sie das gedacht, daß ich mich in Mentone verloben würde? Ich bin ganz schwindlig. Gestern dachte ich noch an nichts und heute?“ Dann hieß es nach einer Weile: „Aber ich muß „Ihn“ doch zeigen. Er ist so groß, daß ich immer klein neben ihm aussehen werde. Ich will „Ihn“ rufen, aber ich kann mich nicht gewöhnen, ihn „du“ zu nennen!“ Dann kam er, ziemlich schlacksig, mit sehr häßlichem Bart, aber strahlend. Er ist Dr. der Chemie in Freiburg und reist heute schon zurück, worüber die kleine Braut sehr betrübt ist. Gestern fuhr die Großmutter mit Tante Wilma, Frl. Güntzel und mir nach der Mortola, den Gärten des Dr. Hanbury. Es ist ein Garten wie aus einem Feenmärchen. Pflanzen, die man sonst nur in Töpfen sieht, wuchern da in üppiger Fülle. Fast jede tropische Pflanze ist vertreten. Aber es waren weniger die einzelnen seltenen Pflanzen, die mir so gefielen, als der Gesamteindruck, der Reichtum, die Fülle. Da waren Blüten von jeder Form und Farbe, bekannte in nie geahnter Pracht und Menge und wie viel mehr unbekannte, die uns überraschten und entzückten. Herrlich war eine Pergola mit 200 verschiedenen Schlingpflanzen und ein Marmortempelchen mit schönem Blick auf das Meer. Ich möchte zwei Tage lang in diesem Garten bleiben, denn eine halbe Stunde ist zu kurz für diese Menge von Neuem. Wie würde die Mutter dies genossen haben! Das dachte ich bei jedem Schritt und es beschlich mich trotz des schönen Wetters in dieser Naturpracht und Vegetation eine tränenreiche Wehmut, eine heiße, unbestimmte Sehnsucht. Ich wünschte alle meine Lieben herbei; aber ich sehnte mich nach etwas Fernem, Schönen, war es nach der Heimat dieser exotischen Pflanzen oder war es nach einem Traum? Ich habe bis jetzt bloß in Büchern von solchen Phasen gelesen und es kommt mir jetzt ganz komisch vor, aber ich war für kurze Zeit wirklich wie im

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Fieber und kam erst im Wagen auf der Rückfahrt ins rechte Geleise. Ich glaube, es muß die glühende, stechende Sonne gewesen sein! Mittwoch, 23.3. Gestern sollte ich mit der Großmutter zu Reußs gehen. Wir fanden aber alles ausgeflogen, keine Menschenseele weit und breit. Ich klopfte an alle Türen, riß fast die Klingel ab und wendete mich endlich an die Pleß’schen Kinder. Die Prinzeß hatte dem Wetter nicht widerstehen können und Empfangstag fahren lassen. Den Abend war ich bei Cubes, die ich in den letzten Wochen sehr vernachlässigt. Frau von Cube gefällt mir viel besser als ihre Tochter. Heute hatte ich mich verspätet und kam zu spät zur Großmutter, wofür ich morgen gewiß eine tüchtige Strafpredigt bekomme. Am Nachmittag war ich bei Tante Wilma und nahm Abschied von ihr, da sie morgen früh nach Cannes reist. Die arme Tante! Sie hat einen traurigen Aufenthalt gehabt, krank und ohne Mann und Kinder! Sonnabend, 26.3. Heute ist Großvaters Todestag! Wäre er hier, wie viel schöner und genußreicher wäre der ganze Aufenthalt. Es ist mir unbegreiflich, wie die Großmutter ein halbes Jahrhundert mit ihm zusammen gelebt haben kann und dabei so wenig von seinen großen Ideen, hohen Anschauungen angenommen hat, in ihrem ganzen Sein und Wesen so klein und eng geblieben ist. Donnerstag reiste die arme Tante Wilma wirklich ab. Sara begleitete sie bis Nizza und bestellte sich ein Kleid und einen Hut für den Fall, daß sie von der Königin von Sachsen eingeladen wird. Gestern war wirklich einmal ein ganz stiller Tag und heute haben wir auch nur einen kleinen Spaziergang ans Meer unternommen. Die Königin von Sachsen kam heute an. Sara hatte ein wunderschönes Bukett bestellt und wir trugen es vorsichtig ins Chalet d’Italie, wo wir es in den Salon legten. Ich war ganz entzückt davon, ein großer Busch rosa, rote und weiße Hyazinthen, Anemonen, ganz leicht und natürlich zu einer vollen Garbe gebunden. Montag, 28.3. Gestern früh gingen wir in die Messe, um die Kaiserin Eugénie zu sehen. Es wurde ziemlich lange auf sie gewartet und beim Herausgehen drängten sich alle um ihren Wagen und bildeten gleichsam Spalier. Sie ist noch sehr schön und ihr Alter, besonders aber ihr Unglück, umgeben sie mit einer Weihe und Würde, die sie früher wohl nie besessen. Schöne Züge und edle Haltung vergehen ja auch im Alter nicht und die Augen sind, wenn auch erloschen und todtraurig, ganz wundervoll. Als sie, in dunklen Krepp gehüllt, durch die Menge schritt, mit Tränen für die Grüße dankend, die ihr wie Gnadenbrot vorkommen mußten, da entblößten alle diese Republikaner, französische Officiere etc. das Haupt. Wir kamen, gegen sie

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eingenommen, aber als wir sie sahen, empfanden wir Mitleid, nur Mitleid mit der Schwergestraften, der geprüften Mutter. Ich glaube, daß fast nichts so Achtung gebietet, als Unglück, sei es selbstverschuldet, wenn es mit Würde getragen wird. Am Nachmittag waren wir bei Oppels, wo wir eine alte Frau von Borries mit Tochter, Beschwitzens und Mr. Andrews trafen. Diese Empfänge sind immer sehr unterhaltend, weil so viele verschiedene Menschen sich einfinden. Oft herrscht ein ordentliches Sprachengewirr. Donnerstag, 31. März Montag war zu Gunsten der Crèche von Menton ein Conzert und ein Lustspiel, zu dem wir auch Zutritt fanden. Das Conzert war, was Leistungen und namentlich Instrumente betrifft, sehr gering und das Stück „Les 37 sous de Monsieur“ war nach Inhalt dumm und ordinär, nach Ausführung mit Ausnahmen recht mäßig. Ich, die ich noch wenig gelesen, lachte, aber mehr über die Dummheit, als daß ich mich gut unterhielt. Am Ende war die Ziehung der Lotterie, bei der wir mit 45 Losen einen Bon pour un kilo de boeuf ⁴¹ gewannen. Daher mußten wir Dienstag in einem kleinen Lädchen der alten Stadt wie die Bettler unseren Bon zeigen, worauf wir eine ärmliche Lammschulter erhielten, die uns aber gut mundete. Dienstag mußte ich trotz schrecklichem Regenwetter die Großmutter zu Reußs begleiten. Es ist merkwürdig, wie sie, die ihr Leben lang in vornehmer Gesellschaft gelebt hat, Angst vor Fürsten hat. Zu Reußens, die doch gar nichts Besonderes sind, zu gehen, macht ihr Zittern und Herzklopfen und sie ist auch so devot und kriechend, daß Sara und ich uns ansahen und schämten. Außer uns war eine Gräfin Saurma mit Tochter, der eine Sohn Hochberg und zuletzt die Fürstin Pleß mit den Kindern da. Als dann ein Haufen Leute aus dem „Louvre“ kamen, zogen wir uns zurück. Die Großmutter ist aber darin sehr rücksichtslos, daß sie mich nie avertiert, wenn sie gehen will. Man kann sich denken, wie angenehm es für mich ist, wenn der Prinz Reuß auf mich, die mit der Fürstin Pleß spricht, zukommt und mir sagt: „Ihre Frau Großmutter ist soeben fortgegangen.“ Gott sei Dank rannte ich ihr nicht, wie ich zuerst wollte, nach, sondern verabschiedete mich wenigstens anständig von allen. Gestern ging Sara mit ihrer Toilette nach Nizza zu ihrer Schneiderin da furchtbares Regenwetter uns nötigte, immer in Droschken zu fahren und wir außer Anprobieren nichts taten, so war es keine genußreiche Fahrt und wir kamen recht ver-

41 Gutschein für ein Kilo Rindfleisch.

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froren nach Haus. In Nizza sah ich einen Laden voll Aprilfischen, von dem Häring und der Fritura bis zum Lachs und Seezunge, in Zucker, Marzipan und Attrape in einer Fülle und einem Luxus, der Nizza eigen ist. Ich habe heute tüchtig eingekauft, da die Großmutter am Dienstag nach Ostern schon nach Bellaggio will. Wir machten einen Spaziergang am Meer, während die leichtsinnige Sara in Monte Carlo 100 Franken gewann. Sonntag, 3.4. Freitag war der 1. April, weshalb wir eine Menge Briefe und Überraschungen an Fredi und Frl. Güntzel schickten. Am Nachmittag gingen wir zu Mrs. Andrews, die uns gebeten hatte, mit den Kindern einmal in ihren Garten zu kommen. Obwohl wir uns ihren Empfangstag ausgesucht hatten, wurden wir abgewiesen mit dem Bescheid, ein anderes Mal, (wenn sie bei Laune wäre vermutlich), wiederzukommen. Das war auch eine Art Aprilfisch! – Überhaupt sind sowohl Mann als Frau etwas sonderbar und geschupft und kümmern sich fast nicht um die schwindsüchtige Tochter. Dies arme Mädchen sagte neulich zu Frau von Oppell: „I have tried to like my parents, but really I can’t.“ Das ist doch ein trauriges Zeugnis. Gestern war ich zu Cubes zum Thee geladen. Da außer mir nur alte Damen gebeten waren und ich die Tochter Cube auf die Dauer nicht gut leiden mag, so war es nicht gerade heiter. Übrigens war eine tropische Hitze, die jeden Schritt zu einer Anstrengung machte. Auch heute war es so heiß, daß wir, von der Großmutter zum Konzert nach Monte Carlo aufgefordert, ach und weh schrieen [sic]. Glücklicherweise gab sie ihren Plan auf und wir gingen, teils zu Fuß, teils zu Esel nach Roquebrune. Dies Dorf ist sehr malerisch auf einem Felsen gelegen und ist herrlich kühl und zugig gebaut. An dem heißen Tag sahen wir wohl den Zweck der engen Gassen und hohen Häuser ein und labten uns, auf der Straße sitzend, an Landwein und Knoblauchwurst. Besonders genossen wir den Rückweg auf der Corniche. Es tut mir so leid, von hier wegzugehen und nach Bellaggio zieht mich mein Herz gar nicht. Donnerstag, 7.4. – Montag war es so heiß, daß wir erst in der Abendkühle einen Spaziergang auf den Molo machten. Sara und Signorina gingen nach Nizza und ich hatte die Aufgabe, die beiden Buben zu beschirmen, was nicht leicht war. Fredi ist sehr verständig, aber Eï ist das reine Quecksilber und furchtbar reizbar. Trotzdem muß man ihm gut sein, wegen seinem liebenswürdigen, schelmischen Wesen. Gestern und vorgestern waren ruhige Tage: Außer einem langweiligen Thé bei Reußs nur shopping und kleine Gänge in der Abendkühle. Ich schickte gestern eine Schachtel Anemonen an Sabine zur Konfirmation, die ich leider nicht miterleben kann.

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Freitag war ich mit Sara zu einem Thee bei der Prinzessin Lubecka eingeladen. Ich unterhielt mich sehr gut, da Frl. von Oppell, die mir jedes Mal besser gefällt, auch da war und zwei Nichten, eine Gräfin Grachinzka und eine Frau von Bisbing von großer Liebenswürdigkeit waren. Besonders letztere ist eine reizende kleine, graziöse Polin. Am Abend gingen wir zum ersten Male in das alte Mentone, das, amphitheatralisch gebaut, eine Menge der merkwürdigsten Gäßchen, Höhlen, Tunnel, Treppen etc. aufzuweisen hat. Am Abend machte alles noch einen viel geheimnisvolleren Eindruck als am Tag. Freitag lud die Großmutter Sara und mich zu einer Fahrt nach Castillon ein, obwohl das Wetter sehr trübe und unsicher war. Die Fahrt dauerte sehr lang und finde ich es ermüdend, 5 Stunden lang im Schritt zu fahren. Was nun Natur und Aussicht betrifft, so war sie merkwürdig und interessant, aber nicht schön. Kahle Felsenberge, glatte vulkanische Kegel von bizarren Gestalten und Formationen, rauhe Felsenzacken und zerklüftete Bergkämme tragen eher einen schauerlichen, als lieblichen Charakter. Das Dorf Castiglione, auf der Spitze eines hohen Berges gelegen, ist beim Erdbeben vollständig zerstört worden, sodaß die Bewohner alle Trümmer stehen ließen und sich tiefer anbauten. Als wäre das Unglück gestern geschehen, so steht noch alles da, starrende Fensterrahmen, halbe Wände, Geräth und Trümmer. Wie wenn ein Kind eine Spielzeugschachtel umschüttet, so ist alles durcheinandergeworfen und verschüttet. Ich habe mir nie ein Bild vom Erdbeben machen können. Seit gestern kann ich es, aber es wird mir eine furchtbare, traurige Erinnerung sein: die kahlen, grauen, unheimlichen Felsen, darüber ein grauer, schwerer Himmel und das zerstörte Dorf; eine gewaltige Predigt von der Nichtigkeit des Irdischen! Sonntag, 10.4. Gestern war ein höchst gelungener Tag: Signorina und ich fuhren zur Schneiderin nach Nizza und nahmen beide Buben mit. Bei herrlichem Wetter brachen wir auf und nachdem wir alles Geschäftliche erledigt, aßen wir bei dem Concierge des Temple Vaudois im Freien und im Schatten der Kirche und unternahmen dann eine Bummelfahrt am Meer entlang, im Jardin publique und durch die Hauptstraßen. Fredi und ich ergötzten uns an den schönen Läden, die ganz nach Pariser Muster sind. Die elegante Welt war in der Ausstellung und die Menschen, die ich sah, waren nicht anders als in Mentone. Die Rückfahrt bei Mondschein war herrlich und Monaco und Monte Carlo im Lichterglanz einzig schön. Wie wenn die Sterne auf die Erde gefallen wären, so leuchtete es am Meer entlang und Fredi, der sehr viel Freude an der Natur hat, kam ganz begeistert zurück. Ich nahm Abschied von dieser schönen Strecke mit der Hoffnung, sie wiederzusehen. Aber wenn dies auch nicht der Fall ist, ich nehme sie mit mir; denn was man frisch und wahr einmal genossen, bleibt das nicht ein Eigentum fürs Leben?

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Ich glaube es und solang mir Gott so viel Freude schickt, genieße ich sie aus vollem Herzen; kommt dann einst Leid (und ich weiß, es wird kommen), so bleibt mir die Erinnerung meiner schönen, herrlichen Tage, als Trost und frohes Gedenken. Heute ist Sabinas Konfirmation; möge es ein recht gesegneter Tag für sie sein. Es thut mir leid, nicht zu Haus zu sein, aber es wäre undankbar, zu murren und in Gedanken war ich heute viel daheim. Da die Großmutter Dienstag schon reisen will, nahm ich Abschied von Frl. von Oppell u. den teuren? [sic] Dellingshausens; von ersterer mit Bedauern, da ich sie wirklich lieb gewonnen und doch vermutlich nicht wiedersehe. Das ist eben schade bei solchen Reisebekanntschaften, daß man so bald auseinandergerissen wird. Montag nahm ich Abschied von Monte Carlo; aber es war ein Abschied, bei dem ich Haare ließ, nämlich 20 M., die mir der Vater erlaubt hatte, zu verspielen. Trotzdem ärgerte ich mich über mich, über Monte Carlo, über alles eigentlich; abgesehen, daß das Spiel den Charakter verdirbt, schadet es der Laune und dem moralischen Gleichgewicht! Karfreitag, 15. Letzten Sonntag entschloß sich die Großmutter, am Ostermontag auf zehn Tage nach Venedig zu gehen; der Bellaggio-Plan gefiel nur Frl. Güntzel, die ihn gemacht und es bedurfte nur des Beispiels und Sturms von Sara, um sie sowie die Großmutter umzustimmen. Ich bin selig! Venedig, mein Traum, mein größter Wunsch, das mich mehr zu sehen verlangt als Rom und Florenz, so ausgiebig kennenzulernen, ist doch zu herrlich. Hoffentlich ist gutes Wetter, sonst soll es traurig wie in einem Sarg dort sein. Ich habe viel zu thun gehabt, mein Gepäck vorauszuschicken und Abschiedsbesuche zu machen. Ich ging auch zum Pastor, der mir einige Predigten hielt und mich in seiner Tapsigkeit auf jede Weise ärgerte. Ich kam mir vor wie eine Katze, die man gegen den Strich streichelt und hatte Mühe, nicht grob zu werden. Bei Cancrins, Cubes, Frl. von Gall etc. war es viel netter u. gemütlicher. Das gehört doch nicht zum Christentum, daß man alle Leute vor den Kopf stößt und ärgert! Ich hatte sehr gute Nachrichten von Wernburg: daß Sabinens Konfirmation sehr schön und feierlich verlaufen u. daß Jörge als Vierter nach Obersekunda versetzt, eine gute Zensur und das Einjährig-Freiwilligen-Zeugnis mitgebracht hat. Ich freue mich so darüber, da ich es nicht erwartet hatte. Heute war ich natürlich in der Kirche; aber hier ist der Karfreitag gar kein so großes Fest wie bei uns: die Läden sind alle offen, die Weiber waschen, alles geht bunt in die Kirche, kurz, es ist fast wie am Wochentag. Es berührte mich unangenehm, denn es sind doch alles Christen.

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Sonntag, 17. Heute, am Ostersonntag schreibe ich zum letzten Mal von hier, da alles fix und fertig gepackt ist und wir morgen früh um neun Uhr Menton verlassen. Ich machte Abschiedsbesuche mit Sara, die schon Dienstag abreist. Heute ging ich zum letzten Mal in die deutsche Kirche. Die Predigt war warm und ging zu Herzen. Da sagt der alte Dachs im selben Atem von der Kanzel herunter: Vorgestern ist ein Schnupftuch in der Kirche verloren worden; es kann bei mir abgeholt werden. Patsch! Das war eine Ohrfeige! Sammlung und Andacht war dahin; die Jungen verbissen das Lachen, die Alten ärgerten sich. Es war zu dumm, und auch recht unpassend. Bei Reuß, Lubecki und Frau von Wisbing etc machten wir Besuch und wurden fast überall angenommen. Es ist aber niemand, von dem ich ungern scheide. Wernburg, 3.5.92 Endlich wieder in dem alten, lieben Nest angelangt! Es ist doch etwas eigenes um die Heimat. Ich kann nicht denken, daß mir die schönste Fremde, das Paradies auf Erden, mir jeden lieben, teuren Fleck Erde ersetzen kann. Und, obwohl der Winter mir viel Freuden schaffte und die letzte Woche in Venedig allem die Krone aufsetzte, so möchte ich doch um keinen Preis wieder einen ganzen, langen Winter fern von allen Lieben verbringen. Der Abschied von Mentone ward mir nicht schwer, obwohl es im Scheiden schöner aussah als je vorher. Einen letzten Blick auf das tiefblaue Meer, auf das lachende Gestade, auf das waldige Cap, die roten, steilen Felsen und den malerischen Kirchhof, einen letzten Gruß hinauf zu der lieben Villa Baron und ich lehnte mich zurück, schloß die Augen und dachte die ganze Zeit noch einmal durch: sie war reich an Freuden, an Genüssen, aber nicht ohne Bitterkeiten und Enttäuschungen. In der Erinnerung, das hoffe ich, sollen erstere die letzteren vertreiben und mir Mentone als den reizenden Aufenthalt zeigen, der es wirklich ist. Die Reise war lang und kalt; kaum hatten wir den Appenin durchfahren, empfing uns Schneegestöber und den Vormittag in Mailand wehte ein kalter Wind. Milano machte mir keinen großen Eindruck in der kurzen Zeit: eine schöne, neue Stadt, ohne Individualität, elegante Läden, schöne Gebäude etc. Nur eins entzückte mich und bleibt mir unvergeßlich: der Dom. Ich habe inzwischen auch in Venedig schöne Kirchen gesehen, aber keine kommt dem herrlichen Gebäude gleich. Der gotische Stil ist doch der heiligste, reinste für Kirchen; er dünkt mich das Werk eines wahrhaft frommen Gemüts. Keine Verzierung, keine Schnörkelei stört das Auge; alles, von der kleinsten Säule bis zum Spitzbogen, vom bunten, matten Glasfenster zum schlanken Turm atmet Harmonie, wahre Kunst. Es ist ein echter Gottestempel, dazu geschaffen, Andacht zu erwecken! – Den Turm bestieg ich später; trotzdem es mir zum ersten Mal im Leben leise schwindelte, stieg ich bis zur Spitze und genoß einen herrlichen Blick auf eine Schneebergkette und die geschäftige Stadt.

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Nachmittags trug uns die Bahn über Verona, Vicenza und Padova nach dem stolzen Venedig. Leider regnete es in Strömen, aber als wir auf der langen Brücke, die die Stadt mit dem Festland verbindet, dahinfuhren, als wir die Türme und Häuser langsam aus dem Wasser aufsteigen sahen, als mein liebster Traum anfing, Wirklichkeit zu werden, da klopfte mein Herz laut vor Freude. Venezia! Ein Volksgewühl, das schrie und stieß, bis wir vor der Bahnhofshalle anlangten.Vor uns lag der Canale Grande, ein Gondelgewirre, aus dem mit großem Geschick die Gondoliere eine nach der anderen lösten und entwirrten. In zehn Minuten lagen wir geborgen und glitten unter dem schwarzen Regendach dem Hotel d’Italie, unserem Bestimmungsort zu. Den Tag darauf kam Sara mit den Buben angegondelt und blieb so lange als wir. Die Woche, die nun folgte, war die herrlichste meines Lebens, in der ich Venedig wahrhaft lieben lernte. Für mich ist es der Glanzpunkt der Reise, verdunkelte Mentone, die Riviera, alles bisher Gesehene vollständig. Diese Ruhe, diese Stille überall tat uns allen so wohl. Kein Staub und Lärm störte, die herrliche, sanfte Bewegung der Gondeln gefiel mir so gut und der Ernst, die Melancholie, die der Charakter der Stadt ist, sagte mir so zu. Was nun die Prachtbauten, Paläste, Kirchen etc. betrifft, die wir alle sahen, so würde es zu weit führen, sie alle zu nennen; deshalb seien nur die erwähnt, die mir die liebsten waren. Zuerst der Markusplatz, dieser schönste aller Plätze, dieser reizende Aufenthalt. Schon an sich gefällt er mir durch seine Größe, Weite und Leere, aber die ihn umgebenden Gebäude machen ihn so großartig. Die schönen, alten Prokuratien mit ihren Arkaden auf drei Seiten, der Glockenturm, der ja kein Kunstwerk an sich ist aber doch seinen Platz gut ausfüllt, San Marco in seiner bunten, mir zu bizarren, orientalischen Pracht, das ist doch viel des Sehenswerten auf einmal. Reizend fand ich die zahllosen, zahmen Tauben, die den Platz bevölkern und die, zu füttern, die Buben und mich stets ergötzte. Von da ging es nach der Piazzetta mit ihrer berühmten Löwensäule und dann in den Dogenpalast. Er ist von außen sowohl als von innen dazu angetan, als Haus des Ersten einer so reichen Republik gedient zu haben. Der herrliche Hof, die Scala degli giganti und die Prachtsäle im Inneren machten mir einen unvergeßlichen Eindruck. Ich setzte mich im Senatssaal auf einen der Sitze, auf dem die alten Nobili zum Rath saßen und ließ meiner Phantasie freien Spielraum. Sie zauberte mir auch die alten Zeiten vor, belebte die öden Hallen und die weiten Säle. Wenn man all‘ die Pracht geschaut, vom Balkon einen Blick auf den Canal, die Inseln, die Salute und die stolzen Schiffe gethan hat, so wünschte man sich fast in die Blütezeit Venedigs zurück, wenn einen nicht die Seufzerbrücke, die schwarzen Prigioni mit ihren Bleidächern daran erinnerten, daß viel Prunk dazu gehörte, um all die Grausamkeiten, den Jammer und die Verbrechen zu verdecken und die Macht mit viel Blut und Tränen erkauft war.

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Von dem Glockenturm von San Marco holten wir uns einen vollständigen Eindruck über die ganze Stadt und auf San Giorgio Maggiore erklomm selbst die Großmutter den Campanile. Die Fahrt auf dem Canale Grande gehörte außerdem zu unseren schönsten Ausflügen. Die Salute mit ihren vielen Schneckenverzierungen, der Ponte Rialto, vor allem aber die alten, ehrwürdigen Paläste gehören für mich zum Schönsten in Venezia. Am besten gefiel mir der zierliche Cà d’Oro, der stolze Vendramin, der altersschwarze Grimani, Foscari, Pesaro, Manin etc. Wir sahen überhaupt alles Sehenswerte, doch machten mir von allen Kirchen nur die Frari mit dem herrlichen Grabmal von Canova Eindruck und von den Bildern waren die Madonna von Tizian und die Barbara in der S. Maria Formosa die einzigen, die mich sehr befriedigten. Sehr unterhaltend war ein Gang durch die Merceria nach dem Fischmarkt und eine Fahrt mit dem Dampfer nach dem Lido. Was uns aber am Schönsten dünkte, d. h., Sara und mich, denn Großmutter schonte sich und Frl. Güntzel war nicht auf der Höhe, das waren die Gondelfahrten am Abend. Die lauen, warmen Nächte, die sanfte Fortbewegung und dazu eine herrliche Tenorstimme, die italienische Volkslieder sang, das war für mich ein geradezu himmlischer Genuß. Alles war still, nur die Lichtlein der Häuser und Gondeln spiegelten sich im Canal; es war wie ein schöner Traum. Selbst ein kleiner Roman, der ja zu der venezianischen Nacht gehört, fehlte nicht, denn Sara hatte dort einen Anbeter, einen Grafen Leutrum, der dicht an unserer Gondel fuhr, Maiblumensträuße hereinreichte, für die Musik schwärmte und uns auf nächtlichen Gängen auf dem Platz und durch die engen Gäßchen der alten Stadt geleitete. Dienstag reiste Sara ab, wir wurden durch einen Schnupfen Großmutters bis Mittwoch zurückgehalten. Über Verona ging es nach Trient, die wir zuerst nur im Regen sahen aber uns überzeugten, daß Stadt sowohl als Lage reizend sind. Den nächsten Tag ging es über den Brenner, Innsbruck, Kufstein nach München. Leider regnete es die ganze Zeit und obwohl die Route schön ist, darf man sie, glaube ich, nicht nach der Gotthardbahn sehen. Auf dem Brenner lag Schnee, in dem schönen Kufstein spürte man den Frühling schon, aber in München war es kalt, trotzdem alle Bäume grün waren. Am Abend nahm ich Abschied von der Großmutter ohne viel Trauer, und dankte ihr, so gut ich konnte; aber es ist merkwürdig und traurig, wie fremd wir uns geblieben. Frl. Güntzel brachte mich auf die Bahn und nach einer langweiligen, langen Reise kam ich ohne Unfall hier an. Über das Wiedersehen mit Eltern, Geschwistern, Frl. Mangelsdorf und dem lieben Wernburg, will ich mich nicht auslassen; denn ich schreibe doch sonst Quatsch. Vier Monate sind eine lange Zeit und jetzt, wo ich von so viel Liebe umgeben bin, begreife ich kaum, wie ich die lange Trennung aushielt.

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Die ersten zwei Wochen vergingen wie im Taumel. Von früh bis spät wurde erzählt und gelacht. Eva, die ich hier schon antraf, trug auch ein gut Teil dazu bei. Himmelfahrt, 26.5.92 Ich war sehr faul im Schreiben, habe wohl in Italien doch etwas Bummelei mir angewöhnt und bin auch jetzt nicht brav genug, alles hübsch ordentlich nachzuholen, sondern werde nur zwei Tanzfeste beschreiben, die wir in der vergangenen Woche mitmachten. Wir waren zum Polterabend von Helene Starck eingeladen und, da die Mutter in Dresden war, entsandten wir einen Notschrei nach Berlin und der gute Vater kam wirklich angefahren, nahm uns in seinem Zug auf und beschützte uns herrlich. Wir wohnten im „Ritter“ und frisierten uns gegenseitig und zogen uns alle drei (denn Eva war auch mit) hell an. Das Fest erfüllte unsere Erwartungen nicht ganz. Obwohl fast eben so viel Herren als Damen da waren und das Tanzen ganz flott von statten ging, so war doch das ganze Arrangement nicht glücklich. Um ½ 8 war eingeladen und erst um 11 Uhr wurde getanzt. Die ersten vier Stunden verbrachte man bei mäßigen Aufführungen, endlosem Souper und namentlich mit Herumstehen. Der Hof machte es auch nicht gemütlicher: wir ließen uns der Fürstin vorstellen, die nicht eine schöne, aber eine gewinnende Erscheinung ist. Prinzeß Adolph und Thekla waren auffallend gesprächig und die Bentheims sehr liebenswürdig. Zum Souper setzten sich Eva und ich zusammen, sie mit einem Gardereiter, ich mit Karlchen Baumbach. Er mag ein herzensguter Mensch sein, aber er ist weder ein Unterhalter, noch ein Tänzer, sondern kommt mir wie ein Schulbube vor. Wir tanzten alle drei recht viel, um zwei war alles aus. Margarethe packte noch ein, da wir den nächsten Morgen um 10 Uhr wieder aufbrachen. Um 12 Uhr langten wir an, aßen zu Mittag, schliefen eine Stunde und zogen uns wieder zu einer Tanzerei in Ranis an. Landrats gaben ihrem Hans ein Tanzfest und dasselbe gelang über Erwarten. Außer uns dreien und Eva war Mia mit Helene Zedwitz, Frl. Dédié, Irene Weidenhammer, Frl. Geyser mit den Wurmbschen Kindern, und Frieda Polentz, eine Nichte von Wurmbs eingeladen. Tanzende Herren waren Hans mit acht Freunden und der junge Prinz Ernst von Altenburg. Nachdem wir einen Gang durch den Garten gemacht und nachdem der Prinz ein sehr gelungenes Gruppenbild aufgenommen hatte, war Büffett, wonach bis um zwei Uhr getanzt wurde. Die herrlichen Räume, die ganze Einrichtung, besonders aber die fröhliche Stimmung von Groß und Klein machte das Fest zu einem Glanzpunkt. So flott habe ich noch nie getanzt und auch Eva, Margarethe und alle Gäste unterhielten sich herrlich. Zuletzt tanzten Bibs und ich ihren ersten Cotillon, ich mit Hans, sie mit dem Princillon. – Irene benahm sich komisch, tanzte wenig und schlecht und spielte die Schnippische. Das arme Wurm dauert mich, wenn sie nur bescheidener wäre. Helene leistete großes in Albernheiten und war sehr gefeiert infolgedessen. Wir waren wie im

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Sommertheater, wenn sie ihre dumm-naiven Sachen sagte. Jedermann amüsierte sich über sie. Kurz, wir waren alle begeistert und sprachen vierzehn Tage von nichts anderem. Während einer Woche hatten wir den höchst genußreichen Besuch vom Kapellmeister Klengel, der früher in Stuttgart Evas Lehrer war. Durch eine Hofkabale gestürzt, lebt er jetzt in Leipzig und kam gern, um mit Eva zu musicieren, hierher. Da er ein ausgezeichneter Violinspieler und nebenbei ein angenehmer Gast ist, so verlebten wir eine sehr hübsche Zeit. Er musicierte teils allein, teils mit Eva zusammen, und wir hörten auf die Art jeden Tag ein Conzert, wie man es nicht leicht hören kann. Pfingsten ist vorüber und war so ungetrübt und gelungen wie noch nie. Außer unseren Roßlebnern mit zwei Freunden: Schütz und Behrend (einem etwas emancipierten, kleinen Yankee) waren Hofackers bei uns. Die Tante habe ich ja von jeher bewundert und geliebt, aber auch der Onkel war so liebenswürdig und fühlte sich so wohl unter uns, daß wir ganz überrascht waren. Er war so unterhaltend und komisch, daß wir immerzu lachten; dabei ist er im Grund so ausgezeichnet und gut. Leider nahmen sie Eva mit fort. Wir haben uns so gut mit ihr eingelebt, daß es uns schwer ward, sie hergeben zu müssen. – Wie schade, daß sie so weit von uns entfernt wohnt und wir uns so selten sehen. Am 16. Juni brachen Frl. Mangelsdorf und wir 3 Schwestern zu einer langgeplanten Partie nach Dittersdorf auf. Von Neustadt, wohin uns die Bahn brachte, gingen wir zu Fuß, vorbei an den vielen Teichen, durch den taufrischen Wald nach dem lieben Pfarrhaus, da wurden wir wie immer mit offenen Armen empfangen, gehegt, gepflegt und halb tot gefüttert. Wir mußten viel erzählen und wurden gehörig ausgefragt. Am Nachmittag kam ein Superintendent Fränkel mit zwei Töchtern und den Abend verbrachten wir sehr gemütlich. Den anderen Tag mußten wir Abschied nehmen von dem friedlichen, traulichen Haus mit den teuren Verwandten. Wir gingen über Plothen nach Knau, überfielen das Pfarrhaus und warteten auf unseren Wagen. Rudi holte uns ab und brachte uns die Nachricht, daß Gretchen Beulwitz am 15.d. gestorben sei. Am 14. waren wir in Rudolstadt und die Mutter konnte sie auch noch sprechen. Gott sei Dank! Das sagten wohl alle, die von dieser Erlösung hörten; besonders da sie so reif und freudig einging zur Ewigkeit. Am 18. fuhr die Mutter mit uns zum Begräbnis. Es war sehr viel Teilnahme, die zu Tage kam. Der Zug der Leidtragenden war endlos und die Blumenspenden reich und schön. Die Angehörigen natürlich sehr gefaßt, nur die arme Tante wird die Leere wohl sehr vermissen. Sie ist von der Pflege sehr angegriffen und geht so bald als möglich nach Löhna. Die Trauerrede im Haus war sehr trostreich und erhebend und überhaupt machte dies Begräbnis mir einen tröstlichen Eindruck. Wir hatten alle das Gefühl, daß Gretchen

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nun endlich in den Friedenshafen eingelaufen ist, wo kein Geschrei und Schmerzen mehr sein wird. Nachdem wir bei Imhoffs und Trautvetters einen Besuch gemacht, aßen wir ganz in der Familie mit Beulwitzens zu Mittag und wurden dann von Roderich zur Bahn gebracht. Sonntag, 26. Letzten Montag kam eine junge Malerin, Frl. Michael aus Leipzig, zu uns für ca. sechs Wochen, um Sabina Unterricht im Portraitieren zu geben. Sie ist 22 Jahre alt, seit zwei Jahren verlobt und scheint, soviel wir bis jetzt beurteilen können, ein recht nettes, bescheidenes Mädchen zu sein. Dienstag machte ich mit der Mutter einen Wochenbesuch in Nimritz. Frau von Beust war bei ihrer Mutter, aber er zeigte uns den kleinen, strammen, blauäugigen Weltbürger. Endlich ist der Vater ganz aus Berlin zurückgekommen; wir freuen uns, ihn nun als Hausherrn, nicht nur als Gast zu haben! Vorgestern, Freitag, 24. (Juni 1892) war das große Missionsfest in Ziegenrück, zu dem Pastor Lutze und Hofprediger Stöcker⁴² gekommen waren. Da wir nicht alle auf den Wagen gingen und unsere Dienstboten gern mitnehmen wollten, so richteten wir einen Leiterwagen mit Kissen und Birkenzweigen bequem und festlich her und fuhren zu 19 Personen hinauf. Außer uns vier Kindern fuhren die beiden Hahmanns, unsere sämtlichen Mädchen, Gärtner, Christian, Knauern, Höfern, Albert, Cantor etc. Wir kamen gerade recht, von Glockengeläut begrüßt und zogen in die hübsche Kirche, wo Pastor Lutze eine Predigt über Heidenmission hielt. Ich interessiere mich viel mehr für innere, als für äußere Mission, dennoch fesselte der Redner, wenn auch ein unangenehmer Kanzelton recht störend war. Nachher zogen wir alle auf die Waldkanzel, wo bei herrlichem Wetter, dem schönen Blick auf die Saalberge und im grünen Wald die Nachfeier gehalten wurde. Stöckers Rede über die Stadtmission war einzig in ihrer Art, sowohl nach herrlichem, packendem, kraftvollen Inhalt, als nach dem ausgezeichneten Vortrag, der fließenden, ich möchte sagen, eleganten Sprache hin. Ich weiß, daß der Inhalt die Hauptsache ist, aber ebenso wie man edlen Wein nicht aus einem alten Scherben trinken mag, ebenso stört mir ein schlechter Vortrag, ein häßliches Organ den ganzen Eindruck. Auch Stöckers Persönlichkeit kommt mir angenehm vor und wenn wir ihm auch bei vielem nicht beipflichten können, so halten wir doch alle viel auf ihn.

42 Adolf Stoecker (1837– 1909), 1874 – 1890 Hofprediger in Berlin.

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Wir trafen sehr viele Bekannte: Landrats, Heydens, Hollo, Prsdt. Brauchitsch, Rosenbergs, Onkel Schlotters und eine Menge Pastoren. Der Erbprinz von Reuß kam auch aus Ebersdorf mit seiner liebenswürdigen Frau. Über Stöckers Rede war nur ein Urteil der Bewunderung und viele wünschten, das Fest zu schließen, da die Pastoren aber noch nicht genug hatten, wurde noch eine Rede gehalten, bei der aber fast niemand mehr aufpaßte. Wir trennten uns, und nachdem wir uns im Pfarrhaus gestärkt, bestiegen wir unsere Arche, um heimwärts zu schettern. Stöcker fuhr mit den Eltern, blieb ca. zehn Minuten in Wernburg und fuhr dann zurück nach Berlin, da er sehr beschäftigt ist. Sonntag, 3.7.92 Der Vater war sehr unternehmungslustig; er machte Besuche in der Nachbarschaft und fuhr mit uns nach Neustadt, um Schmidts und Gökels zu besuchen. Wir machten mit ihnen eine Partie nach der Sachsenburg, einem am Waldesrand gelegenen Wirtshaus mit schöner Aussicht. Es war sehr schön kühl und die Gesellschaft in lustiger, ungezwungener Stimmung. Donnerstag war unserer lieben Mutter Geburtstag. Da mit der Feier bis zu den Ferien gewartet wurde, so war der Tag selbst sang – und klanglos; obwohl wir ja Grund haben, dankbar zu sein, so gehört nach meiner Meinung eine Feier dazu, um einen Tag vor einem anderen auszuzeichnen. Die innere Freude muß ihren Ausdruck in der äußeren finden. Sonnabend dagegen mit den Brüdern war die Bescherung sehr reich und hübsch. Der Vater schenkte der Mutter einen Koffer, Per aspera von Ebers⁴³ und einen Zerstäuber. Wir Kinder gaben eine geschnitzte Truhe, einen Badeteppich, ein Schirmetui, eine Mappe und zwei Bilder. Am meisten freute sich die Mutter wohl über ein Pastellbild von Margarethe, das Frl. Michael sehr ähnlich und gut gemalt hatte. Ein Diner was wir freitags Wurmbs, Heydens mit der Gräfin Cartlow gaben, fiel sehr gut aus, doch hatte ich all‘ die Woche eine Zahnwurzelentzündung, die ich nicht gerade zu den Annehmlichkeiten des Lebens rechnen will. Heute, endlich, geht es mir besser. Freitag, 8.7. Diese Woche lebten wir still mit Tante Hildegard und Hanna, die seit Montag bei uns sind. Hanna ist wirklich ein zu hübsches Geschöpf und wenn sie auch gar nicht anregend ist, so ist sie doch sehr liebenswürdig geworden. Eva ist mir aber doch lieber, doch ist sie mir auch im Alter näher.

43 Historischer Roman von dem deutschen Ägyptologen Georg Ebers.

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Gestern waren Margarethe und ich mit den Eltern in Ranis, um Ilse zu besuchen. Sie ist die hübscheste, liebenswürdigste, reizendste junge Frau, die ich kenne. Ihr Anton ist ein netter strammer Junge von 2 Jahren, sehr reif und selbständig, aber sehr artig. Frl. Michael war von der Burg natürlich sehr entzückt. Es ist zu komisch; in der ganzen Gegend war eine Entrüstung, daß Beusts ihr jüngstes Kind getauft, ohne die Nachbarschaft einzuladen. Daß sie eine kleine Taufe geben, ist ihnen nicht zu verdenken, nur hätten sie es offen sagen sollen, anstatt eine Heimlichkeit daraus zu machen. Freitag, 15.7. Letzten Sonntag kam Gotthard,⁴⁴ um mit der Mutter über eine zweite Verlobung mit Illa⁴⁵ zu sprechen. Beide dauern uns sehr und jetzt, nachdem sie sich zwei Jahre im Stillen treu geblieben und Gotthard seit zwei Jahren ganz gesund war, sollte die Mutter der Braut sie ihm doch geben. Das arme Mädchen härmt sich ja ganz ab und vertrauert ihre ganze Jugendzeit. Letzten Dienstag hatten wir ein nettes Diner mit Starcks⁴⁶ und Landrats und Ilse Krosigk.⁴⁷ Leider kamen erstere so früh, daß Margarethe und ich den Morgen ein großartiges Gehetze hatten. Ilse und Liesbeth waren sehr nett, Frl. von Wild, ein Gast von Starcks, eine absorbierte Braut und die übrigen durchschnittlich. Heute hatten wir auch Gäste, aber kleinere, nämlich Frau von Mohl mit ihrer kleinen Schar. Es sind, finde ich, recht muntere, lebendige Kinder, doch wirken sie auf die Länge recht ermüdend. Gegen Abend hatten wir auch den Besuch von Hannes Heinzelmann, Frau Alberts Bruder mit seiner Frau und freuten uns über das offene selbstbewußte und doch bescheidene Wesen und über das Schwäbisch dieses ächten [sic] Hemminger Bauern. Morgen kommt Herr von Rotenhan, der älteste Sohn vom Neuenhöfer Rotenhan, bei dem der Vater neulich zu Besuch war; wozu, wird die Zukunft lehren! Mittwoch, 3. August 1892 Noch nicht drei Wochen sind verflossen, seit ich zum letzten Male schrieb, und doch, was haben wir in dieser Zeit erlebt, welche Änderungen sind eingetreten. Kurz und gut, Margarethe ist seit letztem Donnerstag die glückliche Braut von Herrn von Rotenhan. Doch will ich dies wichtige Ereignis ausführlich beschreiben.

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Gotthard Freiherr von Erffa aus Ahorn. Mathilde Freiin von Künßberg. Wilhelm Friedrich von Starck (1835 – 1913), Minister in Schwarzburg-Rudolstadt. Ilse Antonie von Krosigk, geb. von Breitenbauch (1868 – 1922).

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Sonnabend also, den Tag, nachdem ich schrieb, machten die Buben, Hanna, Frl. Michael und ich eine Kirschpartie nach Wöhlsdorf zur Öbsterin und zu Irene Weidenhammer. Ich war nicht ganz bei der Sache, da ich wußte, daß der Vater währenddessen Herrn von Rotenhan abholte. Der Vater sagte, der Besuch sei, um einen Bullen zu kaufen, die Mutter dementierte das und jede von uns drei Mädchen dachte sich im Stillen, was wohl der eigentliche Zweck dieses Besuches sei. Wußte ich doch, daß Margarethe Herrn von Rotenhan in Rentweinsdorf habe kennen lernen und daß er ihr gut gefiel. Ich glaube, daß sie sich selbst ihrer Liebe nicht klar war und daß erst sein Kommen sie darin bestärkte. Er kam also am 16. abends an und gewann durch sein Auftreten und Wesen alle unsere Herzen. Wir verlebten einen gemütlichen Abend, zum letzten Mal mit Tante und Hanna, die Sonntag um ein Uhr abreisten. Hanna zu Liebe ging ich nicht in die Kirche, auch die Tante blieb mit der Mutter zusammen da, doch alle übrigen gingen ins Gotteshaus. Tante sagte uns sehr herzlich adieu, wir liefen alle auf den Schweinehof und wehten, bis der Wagen verschwunden war. Den Nachmittag gingen wir in den Garten, saßen zusammen, etc. Herr von Rotenhan war gegen uns alle sehr nett, bevorzugte Margarethe aber noch gar nicht, sondern war ruhig und natürlich mit ihr wie gegen alle andern. Einmal vor Tisch wollte er mit ihr allein sprechen, doch platzte Rudi als enfant terrible dazwischen. Den Abend füllten wir durch Schreibspiele aus und sagten dann Frl. Michael adieu. Sie hatte eine feine Nase und machte sich Montag früh aus dem Staube. Dieser Montag wurde bedeutungsvoll. Ich hatte der Mutter mein Herz ausgeschüttet und war ziemlich aufgeregt. Den Morgen liefen die Herren in den Wald, doch am Nachmittag sollte ein allgemeiner Spaziergang gemacht werden. Der Vater konnte, die Mutter wollte nicht mit. So gingen wir allein und er wollte das Vertrauen der Eltern nicht mißbrauchen und gab seinen Plan, oben Margarethe zu fragen, auf. Während dieses Spaziergangs entwickelte er eigentlich alle seine Ansichten und Grundsätze, sprach wunderhübsch über seine Leute und sein Verhältnis zu ihnen, seine Eltern etc. Zurückgekehrt, hatten wir gerade noch Zeit zum Thee, dann fuhr der Wagen vor. Wir liefen alle hinaus. Herr von Rotenhan ging auf Margarethe zu und fragte, ob er wiederkommen dürfe; es hinge von ihr ab. Sie war ganz ruhig, aber sehr verblüfft und sagte nur: Auf Wiedersehen. Auf dem Hof sprach er dann kurz mit dem Vater, und fort rollte der Wagen. Bald darauf wurden wir ins Schlafzimmer gerufen, wo uns Margarethe weinend, aber sehr glücklich die Tatsache mitteilte. Da noch keine Verlobung stattgefunden hatte und Margarethe auch Zeit zum Prüfen haben wollte, stießen wir unseren Reiseplan nicht um, sondern fuhren um ein Uhr nach Eyrichshof. Sehr komisch war es, daß wir gerade zu allen seinen Verwandten reisten und somit gezwungen waren, Komödie zu spielen. Den ahnungslosen Brüdern wurde verboten, den Besuch zu erwähnen und im Coupé konnten wir ja Englisch reden nach Belieben. Die zwei Tage in Eyrichshof gab es viel zu sehen. Das wun-

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derschöne große Schloß ist mit einer seltenen Pracht und Eleganz eingerichtet. Fast hundert Zimmer sind es, die fast alle fürstlich eingerichtet sind. Wir bewohnten neun Zimmer, in denen auch kein Komfort und Luxusartikel fehlte. Der ganze Train mit Dienern, Wagen und Essen ist großartig; aber heimisch fühlt man sich nicht darin. Das Zuviel, das sich überall bemerkbar macht, stört die Harmonie und paßt eher in das Stadthaus eines reichen Frankfurters, als in das alte Schloß eines Landedelmannes. Die beiden Töchter, 17 und 18 Jahre alt, sind letztes Jahr in München sehr fetiert worden, sind sehr verwöhnt, sicher, selbstbewußt, aber auch sehr liebenswürdig und gar nicht blasiert. Sie sind große, schöne Gestalten und die jüngere, Gerda, ist auffallend schön und elegant. Es ist möglich, daß sie nächstes Jahr nach Berlin kommen, daher war es mir lieb, sie vorher kennenzulernen. Es freute mich, den großartigen Luxus einmal kennenzulernen, aber doch war es fast eine Erholung, aus dem prunkhaften, üppigen Eyrichshof in das fast zu einfache, aber großartigere Rentweinsdorf zu kommen. Der Vater, eine vornehm edle Erscheinung, die reizend freundliche, sehr liebe Mutter, zwei hübsche, nette Buben und vier Töchter, die sehr sympathisch, fein und zum Teil schön sind. Sie sehen alle so gediegen und liebenswert aus, daß wir sofort mit ihnen bekannt wurden. Die zwei ältesten sind verheiratet und die dritte, die Frau von Hans Erffa, war leider nicht da. Ich glaube, das Wohlgefallen war gegenseitig, denn den nächsten Vormittag kam die ganze Familie auf den Rotenhan, eine Ruine, dicht bei Eyrichshof, auf der wir einige sehr hübsche Stunden verlebten. Hedwig, die jüngste Tochter blieb den ganzen Tag in Eyrichshof und wurde von uns auf dem Weg zur Bahn, in Rentweinsdorf abgesetzt. Der Abschied fiel mir nicht schwer; die beiden Mädchen gefallen mir sehr gut, aber man kommt nicht weiter mit ihnen und dann erwartete ich mir sehr viel von Wernstein. Leider wurde ich sehr enttäuscht. Das alte Schloß ist zwar schöner, als man sich denken kann, altertümlich und großartig, aber das Leben war so zerfahren und ungemütlich, daß wir uns höchst ungemütlich fühlten. Die Tante ist so verschwommen und unruhig, daß sie alle Ruhe fortnimmt, Marie hatte im Haus zu thun und Illa war sehr absorbiert. Das arme Ding! Die Mutter hatte die schwierige Mission, die Verlobung mit Gotthard zum Austrag zu bringen. Mit der wankelmütigen Tante hatte sie lange Auseinandersetzungen, aber mit Illa wurde sie bald fertig. Man hatte das arme Mädchen immer im Unklaren gelassen, so daß sie nicht wußte, ob sie hoffen durfte oder nicht. Jetzt hatte die Mutter die Sache endgültig gelöst, sodaß beide ganz frei sind. Es ist sicher am besten so. Wir machten einen herrlichen Spaziergang, einen verunglückten Krebsfang, spielten Kegel und Schreibspiele; die meiste Zeit verging mit Umherstehen und Einer auf den Anderen oder aufs Essen warten. Kurz, wir fühlten uns alle sehr öde; zum Teil war es wohl Reaktion nach Eyrichshof, zum Teil Sehnsucht nach Hause, besonders von Margarethe, aber unternehmungslustig sind die Künßbergs alle

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nicht. Eine Cousine, Johanna Rotenhan war zu Besuch, sehr begabt und amüsant, aber nicht sehr sympathisch. Reizend waren dagegen die zwei Tage in Ahorn von Sonnabend bis Dienstag. Die Tante⁴⁸ sowohl wie der Onkel⁴⁹ waren sehr liebenswürdig und verwandtschaftlich; leider waren nur Karl⁵⁰ und Lene⁵¹ da, aber beide waren so nett und reizend, daß uns die Zeit im Flug verging. Gotthard war einen Tag da und infolge der Eröffnungen, die ihm die Mutter machte, beängstigend, bald unnatürlich lustig und laut, dann ganz apathisch. Am Sonntag besahen wir die herrliche alte Festung und die Rosenau, fuhren in drei Wagen durch Koburg, im letzten Karl, Rudi und ich, weshalb die Koburger gleich sagten: der Baron Karl ist mit seiner Braut und deren kleinem Bruder spazieren gefahren. Wir amüsierten uns herrlich darüber. Montag sahen wir uns den Hohenstein und seine schöne Umgebung an, worauf der Vater mit den Brüdern nach Örlsdorf reiste. Wir blieben noch bis Dienstag und reisten um zwölf Uhr ab. In Lichtenfels trafen wir Meyerns und Marie Erffa,⁵² die wir also gerade verfehlt hatten. Hier trafen wir zu unserer Freude einen Brief von Rotenhan, worin er officiell um Margarethens Hand anhielt. Dieser Brief hatte sich gekreuzt mit einem von Vater, worin er Hermann aufforderte, nach unserer Rückkehr wiederzukommen. Am Mittwoch kam abermals ein Brief mit der Bitte, gleich Donnerstag früh kommen zu dürfen, der jugendliche Ungestüm!!! Den Mittwoch abends kam der Vater und da wir für geraten fanden, die kleinen Brüder zu entfernen, so weihten wir Jörge ein und baten ihn, sie bis halb zwölf fortzuschaffen. Sein Erstaunen war unbezahlbar; er wollte sich halb tot lachen und rief einmal über das andere: Das ist Blech! Blech! Alles Unsinn! ach Blech! Schließlich als er es geglaubt und erfuhr, wir Mädchen hätten es längst gemerkt, rief er ganz erbost: die Spürnasen! Ich fühle mich ganz blamiert! Den nächsten Tag zog also das Kleeblatt aus, und, da Jörge nichts Besseres wußte, setzten sie sich auf den Haselberg und spielten einen Skat nach dem andern. Währenddessen standen wir drei Schwestern, (Margarethe im weißen Kleid) am Fenster, blickten die Straßen hinab mit Opernguckern und klopfenden Herzen. Margarethe ritzte sich aus Pech, wir rannten nach englischem Pflaster, verpaßten den Wagen und fielen aus allen Himmeln, als die Mutter Margarethe zu holen kam. Bald rief man auch uns und mit

48 Bertha Freifrau von Erffa, geb. Freiin von Bibra (1836 – 1913). 49 Eduard Freiherr von Erffa (1826 – 1897), Besitzer von Ahorn, der 20 Jahre ältere Bruder von Hildegards Vater Herrmann. 50 Karl Freiherr von Erffa (1865 – 1911), ältester Sohn von Eduard. 51 Helene Freiin von Erffa (1866 – 1942), jüngste Tochter von Eduard. 52 Marie Freiin von Erffa (1858 – 1926).

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welcher Freude sah ich meine Herzensschwester als strahlende Braut und meinen neuen Bruder, den ich schon herzlich liebgewonnen und dem ich unsere Mag mehr wie jedem anderen gönne. Möge der Herr sie beide reichlich und ewig segnen. Der erste Sturm nach der Verlobung war verwirrend; wir schrieben von früh bis spät, zuerst persönlich an alle nahen Verwandten, dann Sabine und ich die Adressen zu 450 Anzeigen zu schreiben, war keine Kleinigkeit, daneben die vielen Gratulanten aus dem Dorf und der Umgegend. Es war wirklich rührend, welchen Anteil alle Leute an dem Ereignis nahmen. Wieviel gab es aber erst zu denken, wieviel neue Eindrücke und Gefühle. Zuerst waren wir alle etwas scheu vor dem neuen Bruder, der uns Du nannte und die Mutter wie seine eigene behandelte. Wir sind sehr glücklich; es ist aber wirklich alles zu schön und harmonisch. Rotenhan ist 34 Jahre alt, ein schöner großer, kräftiger Mann mit großen blauen Augen. Er ist Landwirt und hat ein Gut von seinem Vater, Lauchröden, (eine Stunde vom väterlichen Gute: Neuenhof bei Eisenach entfernt) in Pacht. Er hat sich, wie es scheint, gleich auf den ersten Blick in unsere Mag verliebt und ist sehr glücklich. Vaters Geburtstag war herrlich, obwohl fast alle Arbeiten nur halbfertig waren. Der jüngste Sohn hielt den Toast, worauf der Vater sehr schön antwortete. Am Montag reiste Hermann ab, Montag gingen die Eltern nach Neuenhof zum Geburtstag des alten Herrn. Margarethe kam glückstrahlend zurück; ihre Hauptliebe scheint mir erst nach der Verlobung erwacht zu sein und dann hat sie einen reizenden Empfang von ihren Schwiegereltern erhalten. Sie lieben die neue Tochter schon von Herzen und auch Bruder und Schwägerin waren sehr herzlich gegen sie. Neuenhof ist ein herrliches, gotisches Schloß in schönem Park in der Nähe der Wartburg gelegen; Lauchröden ein einfaches, aber hübsches altes Pächterhaus mit hohen Zimmern und guten Küchenräumen. Sie wird einfach anfangen, aber wir denken es uns sehr nett, sich nach und nach alles hübsch und wohnlich zu machen. Da Hermann nicht den Winter allein bleiben und Margarethe nicht mit in Berlin ausgehen will, so ist die Hochzeit auf den 14. Oktober verlegt worden. Die Mutter hat natürlich sehr viel zu thun, um in 10 Wochen eine Aussteuer fertig zu machen und das Haus auf ca. 50 Logiergäste zu richten, aber im Winter ist es bei uns viel zu kalt. Der Gedanke, Margarethe hergeben zu müssen, ist mir furchtbar. Ich habe doch von jeher alles mit ihr geteilt und erlebt, Stunden, Vergnügen, Konfirmation und sollte nun nächsten Winter mit ihr ausgehen. Auch stehe ich ihr so nah, habe sie so lieb und kenne sie so gut, daß ich mir ein Leben ohne sie nicht schön vorstellen kann. Aber gerade, weil ich sie so liebe, muß ich mich mit über ihr Glück freuen und wirklich, es thut mir wohl, sie so strahlend zu sehen. Sie ist auch sehr lieb zu mir und ihre Wahl kann mich ja nur freuen. Ich lebe alles mit durch und weine heimlich einmal, wenn ich es nicht mehr aushalten kann. Stände mir Sabine näher, so würde

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es leichter für mich sein. Hoffentlich werden wir uns nun besser kennen lernen und anschließen als bisher. 27.8.92 Wir sind allein mit dem Vater. Die Mutter ist mit Margarethe in Leipzig zu Aussteuerbesorgungen, doch erwarten wir sie heute Abend zurück. Wir hatten in den letzten zwei Wochen viel Besuch, da alle Nachbarn kamen, um zu gratulieren. Außerdem war Emmy Speßhardt⁵³ vom Sonnabend bis zum Mittwoch bei uns und Hermann kam auf zwei Tage. Margarethe und er sind wirklich ein sehr nettes Brautpaar, sehr verständig, sehr liebenswürdig und sehr glücklich. Die Eltern denken, Gott sei Dank, frei genug, um sie nicht immer zu chaperonieren, sondern lassen sie ruhig allein im Park gehen. Am 6. Oktober. Heute ist der 6. Oktober und am 14., also heute in acht Tagen schon die Hochzeit, wie riesig schnell ist der September verflogen und wie faul bin ich gewesen. Allerdings nur im Schreiben, denn sonst haben wir geschafft wie noch nie zuvor. Die Aussteuer wurde ganz bestellt, einiges im Haus gearbeitet und gewaschen. Ich staune über die vielen Sachen, die man bekommt. Die Möbel, Wäsche, Hausgeräth gehen gleich nach Lauchröden, aber die Kleider sind hierhergekommen, zur Zufriedenheit ausgefallen und machten uns großen Spaß. Wieviel Herrlichkeiten sind schon oben aufgehäuft: Hausschürzen in allen Farben, ein großer Kasten mit Silber, Mäntel, Pelzjacke, Koffer und viele Reiseutensilien, Decken, Betten etc. Dazu kommen die Hochzeitsgeschenke, die zum Teil schon da sind: Zuckerlöffel, Stehlampe, Tischchen, Vasen, Madonna, Truhen, Leuchter und ein reizendes kupfernes Theetischchen, das leider doppelt eintraf und umgetauscht werden mußte. Wir Geschwister waren übereingekommen, Margarethe nichts Alltägliches in den Haushalt zu stiften, sondern etwas daran zu rücken und Silber zu geben. Wir nahmen eine Rahmkanne und Zuckerdose von Silber, innen vergoldet, auf der Rückseite graviert: „Von Deinen 5 Geschwistern“. Am Montag ward es feierlich überreicht. Wir stellten es auf den Tisch im Erker und saßen alle freudestrahlend herum. Es muß für Margarethe ein beweglicher Anblick gewesen sein. Sie war sehr gerührt und gänzlich überrascht; daß wir ihr etwas so Splendides geben würden, hatte sie sich nicht träumen lassen. Für mich ist es doch unsagbar schwer, die Schwester herzugeben, am schwersten von allen, glaube ich wohl; denn eine Mutter empfindet doch mehr die Beruhigung, die Zukunft einer Tochter gesichert zu sehen und hat sich doch mit dem Gedanken vertraut gemacht.

53 Emmy von Speßhardt, geb. Freiin von Erffa (1860 – 1942).

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Aber auch ich will nicht klagen, Ihr Glück muß doch auch mein Glück sein und wenn ich auch die Schwester hergeben muß, so gewinne ich doch einen neuen Bruder, der auch so reizend lieb und brüderlich für uns ist, daß wir recht dankbar sein können. Seitdem ich zuletzt schrieb, war er zwei Mal da: das erste Mal gingen wir alle zusammen zum heiligen Abendmahl; und zwar an einem Sonntagabend nur in der Familie in unserer kleinen Kapelle. Es war sehr erhebend und feierlich; ich kann mich nicht erinnern, je so stark die schöne Gemeinschaft der Kommunikanten untereinander empfunden zu haben. Daß uns auch dies Band mit Hermann verknüpft, freut mich sehr; es ist uns überhaupt allen eine große Freude, daß Margarethe in eine so christliche Familie kommt. 1893 Berlin Ein neues Jahr – ein neues Leben – und ein neuer Anfang des vor drei Monaten abgebrochenen Tagebuchs! Wenn ich kann, hole ich später die Hochzeit Margarethens, doch ein wichtiges Moment meines Lebens, nach. Jetzt, im Trubel meiner ersten Berliner Saison, kann ich nur schreiben, was mir in allerletzter Zeit begegnete. Am 11. d. also siedelten wir, d. h. die Eltern, Sabine, Frl. Mangelsdorf und ich (Stock und Frau Fiedler als Begleitung) nach Berlin über und ließen uns hier Hotel Vier Jahreszeiten häuslich nieder. Daß wir unsern Sonnenschein, unser Butzle nicht mitnehmen konnten, trübte die Vorfreude etwas. So fuhr denn das gute Männle, umgeben von Henkelkörben und Bündeln, die Mütze über den Ohren im Freyaschlitten nach Pößneck, wo er bei Kessows untergebracht ist. Hier angekommen, ward ausgepackt, geräumt etc. Dann kam die endlose, geisttötende Kette der Besuche und dann – die Einladungen. Die erste Tanzgelegenheit war bei Roths, nur 25 Paare, sehr fein und nett. Ballfieber hatte ich gerade nicht, aber ganz gemütlich war mir diese Feuerprobe gerade nicht. Ich hatte ein grünseidenes Kleid mit Schneeglöckchen an. Über Erwarten ging es mir sehr gut, ich tanzte viel und bekam neun Bouquets. Alle Menschen waren sehr freundlich mit mir und machten mir meinen ersten Ball so angenehm wie möglich. Das Souper hatte ich mit Raoul Richter, mit dem ich mich herrlich unterhielt. Mittwoch tanzte ich bei Maltzahns, wo es ebenso nett war. Immer sieht man wieder neue Menschen, immer muß man sich vorstellen lassen, aber schließlich kennt man doch sehr viele Menschen. Die Cour war nicht heiter, aber interessant. Der Moment des Defilierens machte mir viel Spaß. Ich freute mich, den Hof so nahe zu sehen, dem Kaiserpaar meinen Knix zu machen. Ich kam auch leidlich vorbei und wurde darauf im weißen Saal noch vielen Damen und Größen vorgestellt.

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Den Abend darauf war Hofball, sehr hübsch und glänzend; die Gehtänze waren zwar sehr eng, aber die Rundtänze umso schöner und flotter. So dicht vor dem Hof zu tanzen, hielt viele Damen ab, genierte mich aber nicht im Geringsten. Am Schluß tanzte ich mit Leipziger eine ronde (für nur zehn Paare) und machte vor dem Thron den üblichen Bedankungsknix. Sonnabend war der Ball vom dritten Garderegiment, wozu mich Georg Rotenhan eingeladen hatte. Er schenkte mir einen reizenden Rosenstrauß und war sehr besorgt um mich. Es war zu hübsch und flott, viele Herren, sitzendes Souper, wo wir eine Art Familientisch bildeten und reizende Blumen. An Mädchen fand ich die Herrngosserstädter Münchhausens, Frl. von Hadeln, und Hanna Harnier. Letzte Woche tanzte ich nur einmal, bei Kurowskys, wo es sehr unterhaltend, aber etwas wild war. Beim Cotillon tanzten wir ein Moulinet, was in seiner Art etwas an eine Dorfschenke erinnerte. Ich fand es höchst unangenehm und gar nicht unterhaltend. Am Dienstag sagten wir den Ball bei Gröben ab, um Kräfte zur Vermählung zu sammeln. Die hatte man auch wirklich nötig, da der Vater Dienst that, fuhren wir schon um halb vier Uhr fort, und begaben uns gleich in die Kapelle.Von der Trauung sahen wir nicht viel, hörten aber die Traurede und den Domchor. Herzig waren die sechs Prinzen, die in einer Reihe neben dem Altar standen. Nachdem wir endlos in Colonnen gestanden, mußten wir defilieren, was mit den lahmen Beinen nicht gut gehen wollte. Da keine Herren da waren, mußten wir uns selbst etwas zu essen suchen; die Schleppe auf dem Arm, Schleier, Fächer, Taschentuch! – aber wenn man guten Willen und Hunger hat, geht es eben doch. Nachdem wir abermals gestanden hatten und gepufft und gedrückt worden waren, sahen wir dem Fackeltanz zu. Der Anfang interessierte mich, aber als die kleinen Prinzen alle an die Reihe kamen, war ich zu müde, selbst zum Zusehen. Meine Schuhe taten mir auch sehr weh und als Gräfin Zieten-Schwerin mich bedauerte, kam ich mir so bejammernswert vor, daß ich fast losheulte. Um halb elf, also nach 7stündigem Stehen kamen wir mit geschwollenen Füßen nach Hause. Und das soll nun ein Vergnügen sein! Jedenfalls ist es ganz interessant, so etwas mitgemacht zu haben. Das hohe Brautpaar soll sehr glücklich sein; sie ist allgemein beliebt und er soll ein vortrefflicher Mensch sein. Donnerstag waren wir bei Rotenhans, wo die Neuenhöfer zu Besuch sind. Friedel Rotenhan war auch dort und lud mich zum Gardefeldartillerieball ein, was mich natürlich riesig freut.

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Freitag war die Galaoper, die ich wirklich sehr genoß. Wir saßen im zweiten Rang und konnten sowohl den Hof wie die Bühne sehr gut sehen. Nach einem lebenden Bild: „Einzug vom Großen Kurfürsten im Haag“, ward der letzte Akt der Meistersinger gegeben. Während der Pause gingen wir ins Foyer. Ich wurde dem erbgroßherzoglichen Paar von Weimar⁵⁴ vorgestellt; er schien erleichtert, Bekannte zu sehen und beglückte uns lange mit seiner Unterhaltung. Ins Theater zurückgekehrt, sahen wir das Ballett: die Puppenfee, das in seinen Lichteffekten, buntem Wechsel und lustigen Tänzen wirklich ganz reizend war. Besonders ein Ballett von rosa und himmelblauen Puppen und Osterhäschen gefiel mir sehr gut. Dann war eine Schreipuppe da, ein reizender japanischer Fächertanz, Trommler, Clowns, Bajazzis – alles im Grunde sehr kindisch, aber doch sehr unterhaltend. – Auf der Treppe darauf das übliche Warten und Drängen, an das man sich hier gewöhnen muß. Sonnabend ging ich zur Tante, um Tante Bertha⁵⁵ und Freda adieu zu sagen. Es ist doch schade, wenn man seine nächsten Verwandten so wenig sieht, daß man mit jeder Minute des Beisammenseins geizen muß. Sonntag war des lieben Onkel August Bibra’s 85. Geburtstag; er feierte ihn bei Georgs und war die ganze Familie, Grolmans, die Neuenhöfer, Wolfram, Gottfried, Friedel Rotenhan versammelt. Ich hatte noch Menuettprobe und fuhr erst spät mit den Eyrichshöfern hinaus. Wir unterhielten uns ausgezeichnet mit Grolmanns, Hanna Harnier und dem Unterstaatssekretär. Ich glaube, es giebt kaum eine Familie, die so fest zusammenhält wie die Rotenhans; als Montag die Neuenhöfer abreisten, war wieder eine ganze Gesellschaft auf dem Bahnhof versammelt. Montagabend waren wir bei Lerchenfeld auf dem Ball, einem der schönsten, glänzendsten der Saison. Das Haus mit seiner herrlichen Treppe, die Musik, das nette sitzende Souper, die vielen Bekannten, kurz, es war ganz reizend. Eine solche Fülle von Blumen habe ich noch nie gesehen. Korb auf Korb kam herein mit herrlichen Rosen, Alpenveilchen, Maiglöckchen etc. Wir tanzten bis vier Uhr und konnten gar nicht müde werden. Endlich, nach dem Halali mußten wir uns trennen, tranken einen Punsch und schliefen herrlich darauf. Warum die Bälle der Junggesellen nur immer so flott sind?

54 Erbgroßherzog Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach (1844 – 1894) und Pauline von Sachsen-Weimar-Eisenach, geb. Prinzessin von Sachsen-Weimar-Eisenach (1852 – 1904). 55 Bertha Freifrau Varnbüler von und zu Hemmingen (1853 – 1923), geb. Freiin von GemmingenHornberg, Schwägerin von Hildegards Mutter.

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Dienstag, 31.1. Der Geburtstag unserer lieben Mag, an dem wir alle etwas sehnsüchtig waren, obwohl wir sie ja so glücklich wußten. Die Eyrichshöfer schenkten uns wundervolle Blumen, die unser ganzes Zimmer durchduften. Am Abend aß der Vater bei Eulenburg mit dem Kaiser und wir bei Moser. Ich muß gestehen, daß ich mich recht mopste. Es waren verschiedene süddeutsche Officiere, die einen so rüden, häßlichen Ton hatten, daß mir ganz unheimlich zu Mute ward. Mittwoch war der kleine Hofball, zu dem nur 800 Einladungen ergangen waren. Daher hatte man herrlich Platz und kannte ich sehr viele Menschen. Ich tanzte auch zum ersten Mal Menuett und zwar als zweites Paar vor dem Thron, gerade kein behagliches Gefühl. Glücklicherweise machten wir keinen Fehler, obwohl wir beide Angst hatten. Das sitzende Souper mit Winterfelds und Medems war sehr unterhaltend und nett, ebenso der Cotillon. Es war wie ein Privatball, so harmlos und ungezwungen. Ganz anderer Art war Bosse; am Donnerstag, wo ich vielleicht drei bekannte Mädchen und ein Dutzend Herren kannte. Wir setzten uns zusammen und beobachteten und machten Witze. Da war ein Brautpaar, das sich bei jedem tour de mains küßte, Menschen, die alles andere, nur nicht Walzer tanzten; dann fielen oft Paare hin und gestoßen wurde man zum Erbarmen. Das Haus ist wundervoll, aber niemand verstand zu arrangieren, der Vortänzer suchte durch Brüllen die Sache in Gang zu bringen, aber umsonst. Trotzdem war es amüsant und besonders nett, daß Manna mit da war. Letzten Freitag gab Asta einen großen Thee, wozu ca. 20 Mädchen kamen. Auf einmal erschien Marie Eulenburg strahlend mit der Nachricht, daß sich Alexandra Eulenburg mit dem Boitzenburger Arnim verlobt hat. Das gab einen Lärm, ein Freuen und Wundern! Es scheint auch wirklich eine sehr gute Partie zu sein. Am Abend sahen wir im Theater„2 glückliche Tage“, ein reizendes Lustspiel. Die Hauptrolle ein alter dottiger Onkel, spielte Engels, natürlich entzückend. Ich kann mich kaum erinnern, je so gelacht zu haben. Und dabei ist es doch kein solch dummes Lustspiel, was ohne irgendwelchen Grund, nur aufs Lachen berechnet ist. Sonntag gingen wir in die Matthäikirche und dann zur Tante. Zum Essen hatten wir Siegfried Rotenhan, ein sogenanntes „Freßkadettle“, ein netter frischer kleiner Kerl. Sabine ging mit ihm ins Aquarium, was das unverfälschte Landkind ebenso entzückte wie verwunderte. Die Eyrichshöfer aßen mit uns und erzählten viel von dem

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Henckelschen Ball, zu dem ich leider! nicht geladen war. Es thut mir wirklich leid, da der Cotillon mit vielen Touren reizend gewesen sein soll. Bis jetzt habe ich immer nur Blumenwalzer erlebt. Am Abend war ich mit dem Vater allein bei Roth zu einer kleinen musikalischen Soiree. Es war zu nett; im Jugendzimmer waren nur die beiden Rotenhans, die beiden Dohnas, eine Knyphausen und ich. Außerdem Humboldt, Lestock,⁵⁶ Tann und der zweite Winterfeld. Die Musik war ganz reizend, das Schwatzen und Unsinn machen aber noch viel netter. Je kleiner der Kreis, desto lustiger ist es gewöhnlich. Wir blieben lange am Büffett, aßen Bonbons und Salzstangen bis zur Erschöpfung und unterhielten uns ausgezeichnet. Zuletzt blieb nur Lestock als Hahn im Korb mit acht jungen Damen. Montag waren wir in Jours bei Wedell und Stolberg. Ich unterhalte mich meist ganz gut dabei. Ganz verliebt bin ich in die Erbprinzeß Stolberg, die ebenso hübsch als liebenswürdig und gescheit ist. Bei Wedell war es dunkel und ungemütlich. Der Arnim’sche Ball ist auf den Donnerstag verlegt, da am siebten ein ganz kleines Tanzfest im Schloß stattfindet. Die Kaiserin will auch gern einmal tanzen und nicht immer nur zusehen, wie sich die anderen unterhalten. Ich hatte mir zum Thee Mia Beust und die kleine Schrenger aus unserem Hotel eingeladen und verlebte einen ganz gemütlichen Abend. Dienstag, um nicht für die Beine allein, sondern auch für die Bildung etwas zu thun, gingen wir zu den Pergamonen und erfreuten uns wieder an den edlen Formen, der herrlichen Auffassung, kurz der wahren Kunst. Alles, was wir an modernen Sachen nachher ansahen, schien des wahren Geistes zu entbehren. Am Abend war ich beim Essen bei der Tante mit zwei Miquels, dem Grafen Pückler und Herrn von Maltzahn. Es war recht unterhaltend, Lothar sehr höflich, fast galant, an ihm eine seltene Regung. Gestern, Mittwoch zogen wir, jeder eine Hyazinthe im Arm zur Frau von Rotenhan, um zum Geburtstag zu gratulieren; wir sahen den reichen Tisch, aßen vom Kuchen und schwatzten ziemlich lang. Den Nachmittag verlebten wir in Jours und den Abend still zu Haus. Unser Rudi hatte die Röteln. Wir erfuhren es auf Umwegen und telegraphierten sofort. Da kam ein Brief von ihm mit dem schönen Anfang: drei Tage war der Frosch so krank; jetzt frißt er wieder, Gott sei Dank! – Es ist eine zu lustige Haut, wenn ich ihn mir doch jetzt herzaubern könnte!

56 L’Estocq

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Frau von Winterfeld war so liebenswürdig, mich zu einem Promenadenconzert aufzufordern, das auf höchsten Befehl in der Kriegsakademie stattfinden soll. Ich werde vermutlich in schwäbischer Tracht mit Frau von Ritter und Frau von Gadow zusammen Bier verkaufen. Ich denke, es wird sehr hübsch werden. Fortsetzung folgt! Ende Band II

Abb. 5: Die Familie, 1892: Rudi, Margarethe, Hermann, Jörge, Elisabeth, Hildegard, Sabine, Burkhart, Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, P10 Bü 1747 / Fotograf: Carl Hempel.

Band III: Tagebuch von 1893 bis 1895 Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen! Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen!

12. 2.1893 Berlin Wir bereiteten uns vor, zum Arnim′schen Ball zu gehen, als plötzlich die Trauerkunde kam, der Buchwälder Rotenhan¹ sei am Schlag gestorben in letzter Nacht. Der arme Friedel wurde hintelegraphiert, traf aber seinen Vater nicht mehr am Leben. Die zarte Mutter und die sechs verlassenen Kinder, es ist traurig! Bald kamen die Eyrichshöfer² Mädchen, die außer dem Schmerz um den immerhin entfernten Verwandten noch den Ärger um die zerstörte Saison haben. Ich kann ihnen das gut nachfühlen, doch würde ich es nicht so aussprechen. Es klingt doch wie ein Mißton, wenn sie sagen: Nein, die arme Tante, unsere armen Verwandten! Und wir hatten gerade heute einen so netten Souperherrn! Wir fuhren also auf den Ball und noch nie habe ich so viel getanzt und mich so gut unterhalten. Es war zu flott und nett. Das Brautpaar Arnim – Eulenburg wurde gebührend fêtiert und sah sehr glücklich aus. Es war etwas heiß und voll, aber beim Cotillon herrlich viel Platz und herrliche Rosen. Zum Souper saßen wir in einer niederen Halle mit Säulen im Parterre an kleinen Tischen, sehr gemütlich und lustig. Der jüngste Winterfeldt, der unglaubliches Nachahmungstalent besitzt, gab uns allen viel zu lachen; Klärchen Wedell lud mich zu einem Thee, den ich aber schwänzte, weil ich keine Lust hatte. Freitag war der Artillerieball, den ich natürlich aufgab, ich hätte es nicht recht gefunden, zu tanzen, wenn der Vater meines Herrn kaum tot war. Der nette Graf Castell machte zwar einen Sturm auf den Vater, lud mich ein, wollte für Begleitung sorgen, lud dann gar die Eltern ein; aber es nützte nichts. In solchen Sachen muß man immer nach dem ersten Gefühl handeln und das war, abzusagen. So blieben wir zu Haus und nähten für Sonnabend an unseren Toiletten. Der Kaiser hatte sich ausgedacht, daß alle tanzenden Damen in Weiß und Rot, den brandenburgischen Farben, kommen sollten. Wir kauften sehr hübschen Mohn und einen rotseidenen Gürtel. Das Ganze sah sehr hübsch aus, obwohl rot nicht zu meinem Haar paßt. Zuerst war opéra paré, die Regimentstochter. Vorn saßen die jungen Mädchen, dahinter die tanzenden Herren, in den Logen die Mütter mit einigen jungen Mädchen. Leider gehörte ich zu letzteren. Das ganze Haus sah recht 1 Hermann Freiherr von Rotenhan (1841 – 1893). 2 Die Töchter der Familie Rotenhan aus der Linie Eyrichshof. https://doi.org/10.1515/9783111237404-006

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frisch in weiß und rot aus, doch störten einige bunten rosa und grünen Toiletten den Effekt. Da wir ganz am Anfang die Nachricht erhielten, daß der nette Achaz Jagow, der mit Burkhart in Roßleben auf einer Zelle und sehr befreundet ist, nach viertägiger Krankheit am Scharlach gestorben, so waren wir natürlich gar nicht bei der Sache. Außer dem Mitleid für die Eltern hatten wir noch die Sorge um die Brüder. Trotzdem muß ich sagen, daß ich mich am Abend gut unterhielt. Im Foyer versammelte sich alles, der Hof machte etwas Cercle und dann wurde getanzt. Es war sehr viel Platz und trotzdem fast doppelt so viele Mädchen als Tänzer waren, machte es einen ganz flotten Eindruck. Wir standen alle an einer Seite des Saals aufgebaut, tanzten von Zeit zu Zeit einmal rum und unterhielten uns. Ich tanzte Française, Lancier und Cotillon, nur zum Menuet war ich nicht vorausengagiert. Ich tanzte es mit dem Prinzen Solms, und kamen wir gut mit fort. Die Husarenuniform paßte so gut zum rot und weiß. Die Majestäten machten in der liebenswürdigsten Weise cercle; die Kaiserin sprach mit Vater und Mutter. Es dauerte bis ca. 12 Uhr, sodaß wir Sonntag zur Kirche aufstehen konnten. In der Dreifaltigkeitskirche kamen wir aber nicht unter, zogen betrübt heraus und in die Bethlehemskirche. Der Gottesdienst war einfach, aber sehr ernst und schön, wie bei den Herrnhutern, jedenfalls bereuten wir nicht, hineingegangen zu sein! Am Abend war Ball bei Medems. Ich fand sehr viele Bekannte. Obwohl es voll und heiß war, wurde riesig flott getanzt und sehr gut getanzt. Es waren zu viele Herren da, sodaß wir gar nicht zum Sitzen kamen und Extratour auf Extratour tanzten. Es wurde eine Mazurka aufgeführt von zehn Paaren, denen es ein Russe beigebracht hatte. Es soll ein eleganter, vornehmer Tanz sein, doch tanzten ihn die guten Deutschen wild und zum Teil wirtshausmäßig. Nur die Gräfin Schuwaloff glitt wie auf Schlittschuhen durch den Saal. Der Cotillon war entzückend; ich bekam 18 Sträuße und herzige kleine Schlittschuhe mit Blumen. Um drei kamen wir erst fort; zum Glück konnte man tüchtig ausschlafen. Montag tanzte ich bei Goltz, eigentlich Mia zu Liebe: da Zedtwitzens Trauer haben, sollte sie mit uns hingehen. Es war das erste Mal, daß ich mich nicht unterhielt. Ich kannte kaum fünf Herren und einige Damen. Ich tanzte freilich, doch war auch dies kein Genuß bei der Sorte der Tänzer. Das Souper war gut und unterhaltend, ebenso der Cotillon mit Maltzahn. Sträuße gab es so gut wie nicht, obwohl die liebenswürdigen Haustöchter alle die ihren wieder hergaben. Mia unterhielt sich leidlich, sodaß das Opfer nicht umsonst war. Dienstag war der letzte große Fastnachtsball bei Hofe. Daß manche die Hofbälle langweilig finden, kann ich nicht begreifen. Ich unterhalte mich immer herrlich dort. Allerdings war es etwas voll und heiß, aber zum Tanzen war herrlich Platz. Ich ließ mich der Erbprinzeß von Meiningen vorstellen; sie mußte sehr guter Laune

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sein, denn sie sprach reizend liebenswürdig mit mir. Souper hatte ich mit Herrn von Bernewitz. Wir drängten etwas rücksichtslos vor, kamen dafür aber auch herrlich unter. Wenn nur die Mira Lepel nicht an unserem Tisch gesessen hätte! Sie sagte dem Grafen Henckel Schmeicheleien ins Gesicht, daß er ihr, glaube ich, am liebsten eine Ohrfeige gegeben hätte. Am Ende des Balls gab es Punsch mit Pfannkuchen, doch war die Schlacht darum wenig ergötzlich. Auf dem Nachhauseweg stürzte unser Pferd und konnte erst gar nicht wieder aufstehen. Mittwoch und Donnerstag war Paul-Gerhard-Bazar. Wir gingen auch hin, doch war der Menschenschwarm und das Gesumme verwirrend. Heute, Freitag, ist die Mutter mit Sabine ausgegangen, um den Sonnenschein zu genießen. Ich blieb zu Haus, da mein Schienbein etwas angeschwollen ist. Hoffentlich geht es bald vorüber, da ich morgen zum letzten Male tanzen will. Der letzte Ball ist nun auch vorüber! Es war zu hübsch und lustig, obwohl der Boden schlecht gewischt und ganz klebrig war. Wir mußten alle mit gepudertem Kopf kommen, der Mutter stand die hohe Frisur wundervoll, nur wollte bei mir das Puder nicht haften. Zuerst erkannte man sich gar nicht, lachte sehr und machte Witze. Die älteren und sogenannten jungen Frauen sahen sehr gut aus, uns Mädchen machte es alt; auch hatten sich viele durch Schminken und weiße Perücken verdorben. Ganz entzückend sah Isa Wedell aus, ungemalt, wenig gepudert in einem rosa Rokokokostüm aus Seidenkrepp. Sie ist mir sehr unsympathisch, aber schön ist sie, sehr schön, aber – dumm. Lothar³ betet sie an; seine Schwärmerei und Begeisterung bleibt dieselbe, nur der Gegenstand wechselt. Die Radowitz ist fort, folglich muß er sich mit einer anderen trösten. Er ist noch sehr jung und unreif; aber ich will nichts gegen ihn sagen, denn er war so nett und liebenswürdig den ganzen Winter über, daß ich ihn sehr liebgewonnen habe. Bei Königsmarcks saßen wir beim Souper am selben Tisch, außerdem die beiden Kolmars und ein Senden, es war sehr unterhaltend. Beim Cotillon gab es silberne Sachen, was alle Eltern übertrieben und extravagant fanden, uns aber natürlich freute. Ich bekam einen Papagei aus Federn mit Bonbons gefüllt und einen silbernen Taschenbleistift. Nach dem Cotillon schenkte mir der nette Herr von Leipziger einen kleinen Zigarettenleuchter, zum Andenken an die erste Saison. Es freute mich natürlich riesig, zumal die Damen nur Bleistifte hatten. Ich will nicht sagen, daß ich traurig war, aber es that mir doch leid, daß das schöne Tanzen nun aus sein soll!!!

3 Lothar Freiherr von Spitzemberg (1868 – 1930), Sohn von Hildegards Tante Hildegard Freifrau von Spitzemberg.

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Sonntag waren wir in Glienicke draußen bei Onkel Bibra und Tante Bernstorff. Es war ein schöner, genußreicher Tag mit all den lieben Verwandten. Außer Georg und Wisa war noch der ältere Grolman da. Gegen Abend gingen wir zur Tante ins Palais, besahen uns ihre hübschen Salons, gingen mit Gräfin Finckenstein in deren Zimmer, kurz, vergnügten uns auf alle Art. Leider mußten wir nur zu bald wieder fort. Von der ganzen Schönheit von Babelsberg, Glienicke etc. habe ich gar keinen Eindruck, da es in Strömen goß. Im Sommer soll es ganz herrlich sein. Der liebe alte Onkel ist recht alt geworden, obwohl er geistig noch fabelhaft frisch ist. Ein schönes, friedliches Alter ist doch eine der höchsten Vergünstigungen. Nicht nur, daß es in sich selbst Frieden hat; es teilt noch allen, die ihm nahe sind, einen Hauch von Ruhe mit und bewahrt auch in der Welt seine stille Welt für sich. Donnerstag, 23.2. Einige stille Tage liegen hinter mir, heute wohl der stillste, da ich mich sehr erkältet und Stubenarrest habe. Es spukte schon einige Tage in mir; dennoch ging ich am Dienstag zu Zieten-Schwerin, wo Gavottestunde war. Sabine war auch mit und war es wirklich recht nett. Die Gavotte scheint sehr schwer zu sein und ging auch noch herzlich schlecht. Nur Emy Roth und Herr von Hahnke II thaten sich durch Grazie hervor. Außer uns sah noch die reizende Baronin Knigge, eine liebenswürdige, angenehme Frau, zu. Auch das Souper war gemütlich und nett. Mittwoch waren wir bei Bodenhausens zum Thee mit den Solms, Kolmars und der kleinen, stillen Bismarck. Auf dem Nachhauseweg verspäteten wir uns und kamen erst nach sechs zu Haus. Es war riesig unangenehm, weil wir zu sechs einige Verwandten eingeladen hatten und dieselben mit den Eltern bereits bei Tisch saßen. Nach einigen Vorwürfen, Entschuldigungen und Bemitleidungen konnten wir uns endlich setzen. Wir hatten Tante Bernstorff, Georg und Wisa, Spitzembergs, Gotthard Erffa und Carl Grolmann eingeladen und hatten eigentlich das Gefühl, als würde es langstielig werden. Aber, ganz im Gegenteil wurde es einer der lustigsten Abende. Nach dem Essen sahen wir einem Maskenball im Hotelsaal zu und machten schlechte Witze. Es war aber auch zu gelungen: entsetzliche Menschen und entsetzliche Costüme. Da war ein Struwelpeter, ein mit Federn bedeckter Hahn, ein Lohengrin, etc. Der Einfachheit halber war einer im Tenniskostüm, ein anderer in einem Betttuch erschienen, die Ballmütter in schwarzer Seide und schwarzen Masken sahen aus wie ein Femgericht oder ein Trupp Maulwürfe. Lothar war sehr lustig und aufgekratzt, Wisa ganz in ihrem Element, kurz, es war höchst gelungen.

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Heute brummt mir der Kopf, Herr von Bockelberg wollte mit uns in ein Conzert von Gura⁴ (lauter Löwe’sche Sachen) außerdem ist Rout ⁵ bei Stolberg und ich ließ Mutter und Sabine allein gehen, weil ich zu elend bin. Morgen will ich aber wieder gesund sein; ich kann mir das nicht hier leisten!! – Richtig, ich war wieder gesund und ging am Abend auf den Marschall’schen Rout. So öde und langweilig der Boukardon’sche Rout war, so lustig war dieser. Die jungen Herren waren zwar bei Maltzahns bis auf Joseph Humbracht, mit dem ich mich sehr gut unterhielt; aber wir bildeten einen kleinen Kreis von Mädchen: Klärchen Wedell, Gertrud Schlieben, die Gerlach, die Oertzen und ich und waren sehr vergnügt zusammen. Sonnabend sah ich Vasanthasena, ein indisches Märchen, das vor 2000 Jahren gedichtet, jetzt im Schauspielhaus aufgeführt wird. Die Sprache ist so bilderreich und schön, die Charaktere so edel und rein, daß wir ganz hingerissen waren. Dazu die herrliche Scenerie: Der Urwald, das farbenprächtige Indien: Es war eben ein rechtes traumhaftes Märchen voll Poesie, Farbenpracht und Anmut. Sonntag wurde der herrliche Sonnenschein zu einem Spaziergang durch den ganzen Tiergarten benutzt. Am Abend aßen wir mit Herrn von Helldorff – Bedra, Eberhard und einem Bibra, Dr. der Medizin. Es war eine zusammengewürfelte Gesellschaft und schwer eine animierte Conversation zustande zu bringen. Um neun Uhr holten mich Gerta und Manna ab, um zu Winterfeldts zur Beratung und Gesangsprobe zu fahren. Außer uns trafen wir Frau von Ritter, Emy Roth, Asta, Else Maltzahn, die Itzenplitzes, Colmars, Werners etc., die drei Winterfeldts und Herrn von Arnim als einzige Herren. Wir sangen nicht mit, sondern setzten uns mit Else zusammen, kritisierten den Gesang und lachten. Morgen wird in der Akademie schon die Hauptprobe sein d. h. nur für die Sängerinnen. Den Rest des Abends verbrachte ich bei Mosers, wo es wie immer langweilig war. Montag verlief mit Abschiedsbesuchen und dienstags war der große Tag des Helgoländer Promenadenkonzerts. Der gute Zweck, eine Kinderbewahranstalt auf Helgoland, war eine unglückliche Idee des Kaisers. In Helgoland gibt es gar keine Kinder zu bewahren, da die Mütter nicht auf Arbeit gehen. Übrigens sind sie nicht arm und sehr stolz. Abgesehen vom Zweck war die ganze Sache so gelungen als möglich. Also, um vier Uhr fuhr ich mit Dohnas in die Kriegsakademie. Das kleine Vorzimmer am Eingang war uns Bierverkäuferinnen eingeräumt worden. Aus Tannenzweigen war eine große grüne Laube gebaut worden. Im Hintergrund war eine bairische Landschaft gemalt, vorne hing ein Aushängeschild „Zum bairischen

4 Eugen Gura (1842 – 1906), damals berühmter deutsch-böhmischer Opernsänger. 5 Abendempfang.

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Ritter und Rotenhan“. Hier schalteten und walteten wir also als Verkäuferinnen. Frau von Ritter so hübsch, so herzig und frisch wie eine echte Tirolerin. Der grüne Hut zu der braunen Flechtenkrone und dem bildhübschen Gesicht sah zu reizend aus. Daneben ist sie so weiblich und vornehm, daß ich mit niemandem lieber hätte verkaufen mögen. Else Maltzahn hatte ein zusammengestoppeltes Schweizer Kostüm gewählt, das nicht günstig war. Gerta Rotenhan aber schoß von sämtlichen Verkäuferinnen die Krone ab. Ein wundervolles altbairisches Kostüm, reich und prächtig, hob ihre dunkle Schönheit ganz wundervoll. Das Samtmieder zeigte die schöne Gestalt so besonders gut und ein riesiges Goldrad als Hut kleidete sie pompös. Ich kann mir nicht erinnern, sie je so schön gesehen zu haben. Was nun mich selbst betrifft, so trug ich die Betzinger (Tübinger) Tracht: Grünen Rock mit Goldborte, rotes Mieder mit geschnürtem Goldlatz, weißes Blusenhemd und Schürze, das charakteristische schwarze Samtkoller mit hellblauem Band eingefaßt, um den Hals Granaten und einen Georgentaler, auf dem Kopf ein Cerevishäubchen⁶ mit langen Bändern, hinten herunter den Zopf. Es wurde mir sehr viel Liebenswürdiges über mein Aussehen und Costüm gesagt und wenn ich auch weit entfernt bin, alles für bare Münze zu nehmen, so glaube ich doch, daß ich recht nett aussah. Zum Zapfen hatten wir drei Herren requiriert, Herrn von Winterfeldt, L’Estocq und Lothar,⁷ die einer den anderen an Gefälligkeit überboten. Dazu kam noch, daß wir einen sehr guten Stoff verzapften, sodaß unsere Bude viel Anziehungskraft besaß und das Geschäft flott ging. Rechts von uns kam man in den großen Saal, der ganz Helgoland war. An der Mittelwand erhob sich ein hoher roter Felsen mit Grotten aus Theaterkulissen. Auf demselben saßen junge Mädchen in Helgoländer- und Möwenkostümen. Letztere aus Tüll mit Flügeln waren nicht sehr hübsch, erstere zum Teil reizend. Unten stand in einer Grotte die Gräfin Wedell als Meer. Unbegreiflicherweise hatte sie über ihre schönen blauschwarzen Haare eine rote Perücke gesetzt und sich fast verunstaltet damit. Rings um den Saal waren Büffets, Bonbonbuden, Lotterie und Blumenverkäufe etc. Wunderhübsch waren die Arnims, Frau von Kotze, Bodenhausens etc. Links vom Eingang verkaufte die Gräfin Anni Dohna Thee, von Stolbergs und Dohnas als Matrosen unterstützt. Mit einem Mal verbreitet sich die Nachricht: ‚die Majestäten kommen‘. Wir standen zur Begrüßung aufgebaut, die Officiere mußten hinter das Bierfaß kriechen, vom Felsen schmetterten die Möwen eine Begrüßungshymne und – Kaiser und Kaiserin traten ein. Als die ersten kamen wir am besten weg. Kaiser und Kaiserin gaben mir beide die Hand und sprachen mit mir, was mich natürlich sehr freute. Die Kaiserin nickte mir zuerst nur zu, dann drehte

6 Kleine Kappe. 7 Spitzemberg.

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sie sich schnell um, streckte mir die Hand hin und sagte: „Jetzt erkenne ich Sie erst, zuerst wußte ich gar nicht, wer Sie waren; man sieht aber so wenig von Ihrem Haar!“ Es war doch zu nett von ihr. Natürlich war ein furchtbares Gedränge von Menschen, die nur kamen, um den Kaiser zu sehen, sodaß wir uns, um nicht erdrückt zu werden, genötigt sahen, unsere Halle mit einem Ladentisch zu schließen. Es würde zu weit führen, wollte ich den ganzen Abend (von 4 – 10 Uhr dauerte der Rummel) beschreiben. Ich sage daher nur, daß ich so ziemlich alle Bekannten sah, acht Sträuße geschenkt erhielt und mich wundervoll unterhielt. Unsere Bude war stets umlagert, zuletzt setzten sich noch einige Herren (gegen Entgelt) zu uns herein und halfen mit. Die Versen erschien mit einem Bräutigam, Herrn von Arnim, erst 22 Jahre alt, und wurde sehr gefeiert. Sie ist ein gutes, nettes Ding. Über Gerta ärgerte ich mich; sie lief weg und stellte sich 1 ½ Stunden lang mit dem kleinen Italiener Angelotti in den schon leeren Saal in die Mitte und ließ sich die Cour machen. Er ist ja ganz nett, riesig geschmeichelt, wie sie sich mit ihm abgibt und fängt sicher an, frech zu werden. Auch kredenzte sie einigen Herren das Bier, was doch auf einem Bazar sehr wenig fein ist. Ich habe sie sehr gern, aber„sie sind nicht mein genre“, wie Femi Dohna sagt. Unsere Einnahme betrug 300 M, die des ganzen Bazars 20.000! Es giebt doch viel reiche Leute in Berlin! Am 1. März ließ ich mich photographieren, um sechs Uhr aßen wir mit Dohnas und am Abend gingen wir zu einer musikalischen Soirée bei Henckel. Es ist zu schön bei ihnen: die gepuderten Diener, der kreisrunde Saal mit kleinen Logen, alles ist so eigenartig. Die Musik war herrlich. Grünfeld spielte Cello, eine Italienerin sang mäßig und Zur Mühlen hinreißend. Ein Lied war so herrlich: (Neig‘ schöne Knospe dich zu mir etc.), daß wir alle wie versteinert herum saßen und gar nicht müde werden konnten. Dann wurde getanzt, da wenig Herren da waren, ein Damenkotillon mit Touren; es war zu drollig. Beim Nachhausegehen sagte mir die Mutter, daß sich Else Maltzahn mit Herrn von Gerlach, dem Bruder des Oberpfarrers, 1. Gardedragoner, verlobt habe. Ich war wie aus den Wolken gefallen, denn da ihr allgemein wegen ihres reizenden Wesens die Cour gemacht wurde, so ahnte niemand etwas davon. Am anderen Tag um drei Uhr sollten wir als erste auf den Maltzahn’schen Empfang, wo alsdann die Verlobung veröffentlicht werden sollte. Es war zu hübsch: Frau von Maltzahn empfing uns sehr gerührt und führte uns in Elses Zimmer zu dem Brautpaar. Meine liebe, liebe Else! Daß ich das miterleben durfte, vergesse ich nie. Sie war so strahlend, so selig, und äußerte es auf die reizendste, kindlich-ernste Weise. Gerlach gefiel mir auch sehr gut, viel besser als sein Bruder; er war gleich so herzlich und natürlich mit uns. Wir blieben ziemlich lang; es war zu ergötzlich, das Erstaunen von allen Jour-Besuchern zu erleben. Humboldt und L’Estocq, die ihr auch die Cour gemacht hatten, fielen beinahe auf den Rücken,

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bewiesen aber durch ihre sehr natürliche Freude, daß sie es nicht ernst gemeint hatten. Else ist so beliebt, daß sie von alten und jungen Herren und Damen gleich geliebt und verehrt ist und bei den Tänzern nennt man das eben gleich Courmachen. Am Abend aßen Hanna und ich, nach einer früheren Einladung, nur mit dem Brautpaar, dem jüngsten Sohn und Frau von Gadow. Es war zu hübsch und gar nicht langweilig! Am nächsten Morgen hieß es nun ade Berlin; der Vater brachte uns auf den Bahnhof, von wo Frl. M. und ich abdampften. Von Großheringen fuhr ich allein bis Eisenach und dachte gründlich über Berlin nach. Es hat mir wirklich nur Freude und Vergnügen gebracht; über alles Erwarten ist es mir gut ergangen und bin ich mit viel Freundlichkeit aufgenommen worden. Dank daher den Eltern, die das Opfer für mich gebracht! – Und trotzdem, wie freute mich jede Meile, die mich von Berlin entfernte und wie herrlich die Ankunft in Eisenach, wo die gute Mag auf dem Perron stand. 17. Juli 1893 Nach langer Pause nehme ich mein Tagebuch wieder zur Hand mit der festen Absicht es nun regelmäßig ohne Unterbrechungen zu führen. Wir sind schon im Juli und haben, was Witterung betrifft, den traurigsten Sommer hinter uns, den ich mir erinnern kann. Seit dem Frühjahr kein richtiger Regen, das heißt so viel wie Mißernte in unserer trockenen Gegend! Der Rasen ist so verbrannt, daß er der Erde gleichsieht, die Wassernot ist im Dorf sehr groß und wir haben nur gerade so viel, um das Vieh zu tränken. Es ist daher so gut wie sicher, daß wir nicht nach Berlin können und habe ich Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen. Es ist furchtbar schade und ich fürchte, ich werde den Winter sehr sehnsüchtig werden, da ich einmal Blut geleckt. Jetzt will ich mir aber noch keine grauen Haare darüber wachsen lassen; kommt Zeit, kommt Rat. In schlechten Zeiten müssen alle Opfer bringen, der eine an Geld, der andere an Vergnügen; sie freudig zu bringen ist schwer aber – groß. Ich halte es für Unrecht, über Dinge wie Tanzen zu murren, in einem Jahr, in dem so und so viel Pächter, kleine Leute und Bauern zu Grunde gehen, so viele Familien an den Bettelstab kommen werden. Ich glaube, man kann und darf sich den schlechten Zeiten nicht entziehen; man muß sie mit seinem Volk teilen und unserem Volk sind sie sehr nötig! Wir haben seit drei Wochen Anni Imhoff aus Rudolstadt zu Besuch; sie ist ein reizendes, liebes Geschöpf und fühlt sich sehr glücklich bei uns.

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Letzten Sonnabend und Sonntag haben wir ein sehr gelungenes, nettes Fest in Porstendorf ⁸ mitgemacht. Es war so lustig und hübsch, daß ich es näher beschreiben will. Am Abend war unter großen Verwirrungen ein gemeinsamer Koffer gepackt worden und Sonnabend früh fuhren die Eltern und wir drei Mädchen ab. Rudi hatte Vorurlaub, die Brüder kamen von Lauchröden, da Wurmbs zu ihrem fête champêtre Groß und Klein gewünscht hatten. In Orlamünde trafen wir schon die Gräfin Cartlow mit ihrer Tochter und Tella. Gisela ist sehr angenehm und nett geworden; Tella ist ein gutes Ding, uns allen aber recht wenig sympathisch. Sie hat bereits den Hammerstein’schen Dünkel ihrer Mutter und ödet jeden damit an. In Porstendorf wurden wir mit Freuden von Wurmbs begrüßt. Die kleine Pauli ist ein herziges, liebes Geschöpfchen geworden und wurde von allen verwöhnt und geherzt. Außer uns und den genannten Heydens waren eingeladen: Herr und Frau von Hadeln mit netter Tochter und zwei Buben, Herr und Frau von Strauch, Hennings mit Else und einer Nichte Schenk, ein junger Thümmel, die zwei Prinzen von Weimar und ihr Erzieher, Hans Breitenbauch und noch vier Tänzer aus Jena. Nachdem wir Kegel gespielt, spazieren gegangen etc., ward an langer Tafel gegessen. Die Damen wurden dazu ausgelost, sodaß ich z. B. zwischen Herrn von Hadeln und von Strauch, zwischen den beiden Exzellenzen zu sitzen kam, und die alte Frau von Strauch vom kleinen Heyden geführt wurde. Um fünf begann das Tanzen und währte bis halb zwölf, allerdings in Pausen. Dazwischen hinein ward eine Polonaise auf dem Rasen getanzt, Johannisbeeren gegrast, oben soupiert, etc. Es wurde sehr flott getanzt, wir waren alle so lustig, daß wir nicht merkten, wie die Zeit verflog. Alles tanzte durcheinander, alte Damen, unsere Buben, kurz alles. Am ungewandtesten und langweiligsten waren entschieden die beiden Prinzen: sie redeten nicht, antworteten nur mit Ja und Nein, tanzten wenig und schlecht und standen immer mit demselben dösigen Ausdruck umher. Es ist ja sehr schade, wie Fürstenkinder so wenig gut aussehen, aber daß man sie so schlecht anzieht, Commisstiefel und fettige Schlipse ist wirklich eine Schande. Auch schubste und knuffte ihr Erzieher die großen Buben (17 und 14 Jahr alt) dermaßen herum, daß sie zum Vergnügen nicht kommen konnten. Ich glaube, die Prinzen sind meist darum so verlegen, weil sie so unselbständig erzogen werden. Unsere Brüder, Jörge im Confirmationsrock sehr jünglingshaft aussehend, benahmen sich sehr bescheiden und nett. Auch der älteste Hadeln war für sein Alter fabelhaft gewandt und liebenswürdig. Nur ist es komisch, wie schon solche Jungens einen Unterschied zwischen hübsch und häßlich machen. Burkhart z. B. äußerte, daß ihm Tella gar nicht gefalle und als wir sagten: Warum? Sie ist doch recht nett zu euch! Hieß es ohne Besinnen: „Sie sieht so eklich aus!“ Was ein Häkchen werden will, etc. etc.

8 Besitz der Familie von Wurmb.

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Der Vortänzer, Herr von Beaulieu, machte seine Sache famos; mit seiner fröhlichen Laune, seinem übersprudelnden Witz ist er ganz der Mann, entrain ⁹ in ein Fest zu bringen. Am Abend, nach einem kleinen Feuerwerk, reisten die Herren und Heydens ab; wir sanken halb tot auf ziemlich harte Betten, auf denen wir nichtsdestoweniger herrlich schliefen. Am anderen Tag Spiele, Packen und Abreise um fünf Uhr. Die acht Jungens hatten die Nacht auf einer Streu mit Schlafen und Prügeln verbracht, wobei letzteres die Hauptrolle spielte. Sehr vergnügt und dankbar langten wir hier an. Die Brüder erzählen viel von Lauchröden, wo sie eine Woche erlebten. Jörge schoß seinen ersten Rehbock und in Porstendorf drei Wildenten. Da er keinen Hund mithatte, zog er sich nach jedem glücklichen Schuß aus und apportierte sie selbst aus dem Wasser. Freitag, 21.7. Von Dienstag bis Donnerstag waren Frau von Imhoff und Elli da. Gestern Abend sind sie fort und haben uns unser liebes Annikind entführt. Ihr selbst wurde der Abschied sehr schwer; sie fühlt sich in dem klatschigen, neidischen Rudolstadt nicht glücklich und hat viel von Mißgünstigen zu leiden. Sie ist als Gast zu nett, greift überall mit zu und fühlt sich ganz als Hauskind. Dienstag gab ich einen Mädchenkaffee mit Irene Weidenhammer, Else Conta und deren Freundin. Es war lustiger, als ich mir vorgestellt hatte. Ich kann es noch gar nicht fassen, daß Rotenhans Montag kommen und auf etwas länger bleiben. Zu Weihnachten waren es ja nur wenige Tage, sodaß wir nichts von ihr hatten und nun endlich wieder. Es ist zu herrlich! Montag, 24.7. Freitag wollten die Eltern zu Trautvetters; Vater bekam im letzten Moment eine dienstliche Abhaltung, sodaß Mutter allein fuhr. Es war ihr sehr unangenehm, doch kam sie befriedigt durch gemütliches Aussprechen mit Frau Trautvetter zurück. Die rührende Anni schickte uns eine Bonbonniere in Herzform, ihr Herz! Nach einem arbeitsvollen Sonnabend folgte ein schöner Sonntag, den wir mit Arbeiten für Vaters Geburtstag und einem herrlichen Waldspaziergang ausfüllten. Heute kommt Margarethe, Hurra; ihr Mann erst später. Mittwoch, 26.7. So ist sie nun da, die liebe alte Mag, wohnt im gewölbten, ihrem Mädchenzimmer und ist ganz dieselbe wie früher. Wenn wir sechs nun um die Eltern herumsitzen, so scheint der Kinderkreis, wie er war, wiederhergestellt, man

9 Schwung

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kann sich über Wandlungen, die das Jahr gebracht, hinwegtäuschen. Ja, es ist doch ganz anders geworden, ohne Zweifel aber besser! Ein Schatten fällt auf Mags Hiersein, Unannehmlichkeiten, die sie mit ihrem Mädchen gehabt, dazu das unerklärliche Verschwinden von 200 M aus Hermanns Schreibtisch etc. Dies führt zu Auseinandersetzungen mit den Eltern der Mädchen, Verhören, Beratungen, alles keine erquicklichen Sachen für einen Besuch von acht Tagen. Sonntag, 30.7. Donnerstag fuhren wir drei Schwestern nach Nimritz, trafen aber ein leeres Nest. Beusts hatten es übelgenommen, daß Margarethe keinen Abschiedsbesuch gemacht, weshalb sie nun, um ihr Versehen gut zu machen, hin mußte. Freitag kam Hermann; es war ihr erster Verlobungstag, weshalb wir die ganzen Erlebnisse im letzten Jahr noch einmal durchsprachen und viel dabei lachten. Gestern war, um Rotenhans zu fêtieren, ein Diner mit Breitenbauchs und Hans, Heydens und Wurmbs. Der herrliche Landregen erquickte und erfreute unsere landwirtschaftlichen Herzen und hatte wohl auch Einfluß auf die Stimmung; denn es ging sehr fidel und nett zu. Heute ein stiller, gemütlicher Sonntag, den die Brüder durch ein Feuerwerk als Einleitung von Vaters Geburtstag verherrlichten. Diesen, den Geburtstag nämlich, feierten wir noch im geschlossenen Kreis; abends reisten die Brüder nach Roßleben zurück. – Hier ist es wohl am Platz, das Lob der netten Kerls zu singen. Sie waren so angenehm zu haben in dieser Zeit, trugen jeder in seiner Art so viel zur Unterhaltung und Anregung bei, daß uns das Haus recht einsam vorkommen wird. Dazu mußten Rotenhans schon am Dienstag wieder zurück, weil er mitten in der Ernte steckt. Freitag, 4. August: Am Mittwoch war Dr. Goullon,¹⁰ ein namhafter Homöopath aus Weimar hier, um Sabine zu untersuchen. Er blieb zu Tisch und beobachtete sie unausgesetzt. Er verschrieb ihr einiges und beruhigte uns alle sehr, indem er ihren Zustand als einen vorübergehenden erklärte. Was uns so sehr beunruhigt hatte, das Gemütliche¹¹ der Krankheit nämlich, nahm er nicht schwer und, da er Jahre lang in Irrenhäusern tätig war, ist sein Urteil vollkräftig und beruhigend. Sein ganzes Wesen war mir sympathisch: klug, bestimmt und ruhig.

10 Dr. Heinrich Goullon junior (1836 – 1906). 11 Gemeint ist das mit dem Gemüt zusammenhängende.

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Gestern wurden wir sehr erfreut durch die Verlobung von Linchen Rotenhan mit Max Boyneburgk, dem Nachbarn und Freund der Lauchrödener. Er ist bei näherer Bekanntschaft wohl vortrefflich, mir kam er entsetzlich langweilig vor. Sie soll sehr glücklich sein, das ist doch die Hauptsache. Und daß Mag die nette Cousine in der Nähe haben wird, ist doch zu reizend. Heute waren wir zum Diner in Ranis,¹² das, als Abklatsch des unseren, nicht so lustig war. Wir trafen Wurmbs, Heydens, Weidenhammer mit Irene und die neue Burgherrschaft von Könitz, ein Professor Reiß mit Frau und netter holländischer Nichte. Sonnabend, 5.8. Nein, ich bin wie aus den Wolken gefallen: Soeben erhalten wir die Nachricht von Hedwig Rotenhans¹³ Verlobung. Es ist ja zu nett! Das reizende, junge Geschöpf! Und zwar verlobte sie sich mit dem netten Hermann Richthofen,¹⁴ der Brautführer an der Hochzeit sein sollte, einem wirklich selten netten Menschen! Es ist doch wunderbar, daß die fünf Rentweinsdorfer, unvermögend und ohne viel sog. Gelegenheit, alle vor den reichen, eleganten, fêtierten Eyrichshöfern wegheiraten. Ich glaube, daß sich viele Männer durch das ewige Courmachen und flirtations in Eyrichshof abgestoßen fühlen. Dies Spielen mit einem so heiligen Gefühl wie die Liebe ist nicht recht und gefällt auch niemandem, als den Bamberger und östreichischen Herren, die dort verkehren, entweder junge Dächse, oder alte Gecken, beides keine Freier für die doch netten, im Grund guten Mädchen. Marie Künßberg, 35 Jahre alt, verlobte sich neulich mit einem 68jährigen Herrn von Aufseß, einem Freund der Familie. Nachdem Alvenslebens und Wartenburgs so glücklich geworden, kann man nichts gegen alte Pärchen sagen; sie müssen am besten wissen, was sie thun. 8.8. Wir, d. h. Mutter und ich sind jetzt ganz allein, da Vater und Rudi in Örlsdorf jagen und Sabine auf 14 Tage nach Porstendorf ist. Sonntag waren wir zur Tafel in Hummelshain,¹⁵ wo es wirklich ganz unterhaltend war. Der Herzog war liebenswürdig wie immer, und versprach, uns bald einmal zum Frühstück zu überfallen; die arme, taube Herzogin machte uns einen sehr angenehmen Eindruck; es ist zu traurig, daß sie gar nicht von den Lippen lesen kann, 12 Bei Breitenbauchs. 13 Hedwig Freiin von Rotenhan (1875 – 1966). 14 Hermann Karl von Richthofen (1860 – 1915). 15 1885 fertiggestelltes Neues Jagdschloß im Stil der Neugotik von Herzog Ernst I. von Sachsen-Altenburg.

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denn das Aufschreiben ist doch ein ungenügender Ersatz. Wir waren wieder mit Wurmbs und Landrats vereinigt. Ich saß neben Schulenburg und unterhielt mich gut; er ist ein sehr liebenswürdiger Mensch, aber es gefällt mir nicht, daß er so über die goldenen Ketten, die er trägt, schimpft. Seine Lage hat doch auch viele Vorteile und seine Herrschaften sind vornehme, gute Menschen, wenn sie auch nicht anregend sind. Wir saßen noch bei den Hofstaaten, ehe wir durch den erfrischten, feuchtglänzenden Wildpark und Wald heimwärts fuhren. Ich meine, Wald und Meer wird und kann niemandem über werden! Sie sind beide in Ruhe sowohl als in Bewegung großartig und die Gottesoffenbarung, die wir in der Natur finden, tritt uns wohl in diesen beiden am deutlichsten entgegen und fesselt uns stets aufs Neue. Gestern, Montag, fuhren Mutter und ich nach Langenorla zu Tisch. Die beiden Ravens waren ganz nett; fragten mich sehr nach Berlin aus und erzählten von ihrem stillen Leben. Der armen Elisabeth geht es besser und ihr Gedächtnis kommt noch nicht wieder. Nach anderthalb Jahren darf sie endlich nach Haus zurückkehren. Montag, 14.8. Vater kehrte sehr vergnügt mit einem Rehbock zurück; Rudi hat einen in den letzten Zügen liegenden Fuchs vollends totgeschossen. Alle diese Tage saßen wir zu Haus, da der Herzogsbesuch als Damokles-Schwert über uns schwebte. Der Aal liegt im Brunnen, das Reh im Eis, alle Tage wird Bouillon gekocht, bei jedem Klingelton fährt alles auf, ob das Telegramm endlich gekommen. Die Nachricht kommt höchstens zwei Stunden vor seiner Ankunft. Die Rücksichtslosigkeit ist bei den kleinen Höfen eingebürgert; doch sind dafür wohl weniger die Fürsten, (die ja ein Völkchen für sich sind) als die Hofschranzen verantwortlich. Gestern Nachmittag besuchten uns Reißens,¹⁶ recht gescheite, interessante Leute. Er ist Geologe, sie eine Holländerin aus Java gebürtig. Sie kauften Könitz, um ihre Sammlung unterzubringen. 18.8.93 Dienstag begann das Manöver im Neustädter Kreis; wir wurden durch Pfeifen und Trommeln durchziehender Truppen geweckt. Vaters Passion fürs Militair bewog ihn, auf die Straße zu laufen, wo er sämtliche weibliche Dienstboten traf; scheint es, auch durch Vorliebe fürs Militair getrieben! Am Nachmittag fuhren wir zum Militairkonzert nach Oppurg, setzten uns mit Dédiés und Frl. von Münchhausen unter die alten Bäume und lauschten der leidlichen Musik. Der Pößnecker Mädchenflor producierte sich beim Tennis, wo die Officiere ohne Vorstellung mit ihnen anbändelten. Während die Herren aßen,

16 Geheimrat Wilhelm Reiss (1838 – 1908), Forschungsreisender und Vulkanologe.

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hatten die Mädchen alles Interesse am Spiel verloren, kaum rückten erstere die Stühle, als letztere sich mit Feuereifer ins Spiel stürzten. Die sogenannte Verherrlichung des Leutnants als solcher ist mir ebenso unerklärlich als lächerlich; in Pößneck ist es beinah unwürdig. Als wir zu Abend saßen, ließen die Officiere sich vorstellen, setzten sich zu uns und waren ganz unterhaltend. Sie sind aus Koburg, und, wie wir aus Ahorn hörten, nicht sehr umgänglich; der Major und ein Hauptmann Rauchhaupt schienen nett zu sein. Mittwoch – abermals Harren und Bangen auf S. Hoheit, die wieder nicht kam. Wir fragten an und erhielten den Bescheid, daß er verreise und Ende des Monats kommen wolle. Gott sei Dank, das Reh hätte sich sonst bald unmöglich gemacht. Von Donnerstag ist nichts zu sagen, als daß wir Bohnen und Aprikosen einmachten und der Erntekranz gebracht ward. Es herrscht wieder eine Hitze, daß man zerplatzen möchte. Die Ludwigshöfer haben wir noch nicht gesehen; wir trafen gestern nur sie, da die Mädchen Pilze suchten. Montag, 21.8. Es ist gegenwärtig eine Hitze, daß man am liebsten die Zunge heraushängen und ein dolce far niente-Leben führen möchte. Letzten Sonnabend fuhren wir bei unerträglicher Hitze nach Crossen zur Fürstin Lippe, Schwester des Fürsten Georg von Rudolstadt. Bei dieser Glut zwischen zwölf und zwei unterwegs zu sein, war kein Genuß und selbst den reizenden Krebsgrund konnten wir nicht mehr würdigen. Zu guter Letzt mußten wir der schlechten Wege halber auch noch ein Ende zu Fuß gehen. Dafür war es in Crossen schön kühl und frisch. Die Fürstin bewohnt ein einfaches hübsches Landhaus, hat aber so wenig Raum, daß alle ihre Gäste im entlegenen Nebenhaus ablegen und wohnen müssen. Dementsprechend ist die Einrichtung und der train im Haus. Auf dem Tisch beim Essen stand nichts als Weinfläschchen, kein Dessert, kein Obst, keine Blume, und wir glauben, selten so schlecht gegessen zu haben. Die Fürstin war sehr nett und liebenswürdig, nicht anders als wenn sie unseres Gleichen wäre; sie lebt nur der Wohlthätigkeit und ihrer Landwirtschaft. Die Hofdame, Frl. von Roeden gefiel mir ebenso gut wie mir Herr von Kettelhott, der die Sache inspiciert und gerade da war, schlecht gefiel. Er war so rücksichtslos und unfreundlich gegen die Fürstin, und machte mir wirklich einen rohen Eindruck. Am Abend fuhren wir über Freienorla zurück und heimsten Sabine in Jüdewein ein. Gestern waren wir schon wieder unterwegs zu einem Diner in Gräfendorf, wo wir Landrats und Beusts mit Helene Z. und ihrer Einquartierung, einem Leutnant

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Klein trafen. Beusts und Landrats waren ja ein Jahr lang verzankt und trafen zum ersten Mal wieder zusammen. Zum Glück verlief alles friedlich. Helene sang reizend, war aber sonst recht albern. Heute kam der Forstmeister Völker aus Meiningen, um den Wald zu taxieren, hierher und wird wohl acht Tage bleiben. Auch Frieda und Anna kamen heut auf eine halbe Stunde herüber. Donnerstag, 24.8. Gestern fuhr ich nach Pößneck und holte Liesbeth Starck ab; sie ist so ein herziges kleines Ding, daß wir uns alle freuen, sie einmal auf ein paar Tage hierzuhaben. Zu Tisch kamen Müllers aus Beulwitz, das lächerlichste Ehepaar, das ich kenne. Beide sind auffallend häßlich, namentlich ihre Münder und Zähne sind furchtbar. Er spricht in der Fistel und sie im Baß. Er ist dabei so amüsant und possierlich wie ein Affe. Er hat Füße wie Hufe, langes blondes glanzloses Haar und ein faltiges Gesicht, kurz, er ist zu lächerlich. Trotzdem muß man ihnen gut sein, den lieben, alten, närrischen Menschen. Am Vormittag saßen wir gerade beim Birnenschälen, als drei Officiere hereingesprengt kamen. Unsere klebrigen Schürzen und Hände mögen gut ausgesehen haben. Es waren Oberstleutnant Stedtmann, Major Eben und Hauptmann Rauchhaupt, die uns besuchen wollten. Sonntag, 27.8. Freitag fuhren wir mit Liesbeth nach Lausnitz zu dem projektierten Tanzfest; getanzt konnte ja leider nicht werden, da der Herzog von Coburg,¹⁷ Chef des Regiments gerade gestorben war. Es war sehr schade; denn wenn zehn junge Damen und zwanzig Officiere einen Abend lang herumstehen, so ist die Tanzlust groß. So machten wir kindliche Spiele wie Plumpsack und 3. Mann abschlagen etc. Wir trafen Breitenbauchs, Dédiés, Frieda Polentz, Frau von Goeckel mit ihrer schönen Schwester Jansen, der Schriftstellerin, und Tümplings. Über dies sonderbare Ehepaar muß ich mich noch etwas auslassen. Er, der vollständig verbauerte, grobe Gutsbesitzer hat eine sehr hübsche, in Dresden sehr gefeierte kleine Polin geheiratet. Sie ist hübsch, aber gar nicht vornehm, besitzt aber, als Ausländerin viel Chic, versteht die Kunst, viel aus sich zu machen und hat in der Unterhaltung, im Lachen, in Bewegungen viel Charme. Auf ihren Mann hat sie entschieden einen guten Einfluß, obwohl sie eine schwere Arbeit hat. Als er beim Souper zu Anna Breitenbauch von einer jungen Dame sagte, sie wäre „ein rechtes Luder“, sah ihn die kleine Frau ernst an und sagte: „Wolf, du bist eigentlich – unmöglich!“ Wie entsetzlich muß es sein, sich über seinen Mann schämen zu müssen.

17 Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha (1818 – 1893), starb am 22. 8.1893.

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Der Abend verlief heiter und gemütlich, aber es wäre doch viel hübscher gewesen, wenn der Herzog nicht gestorben wäre. Herr von Wurmb meinte in seiner drastischen Art, der Verstorbene wäre von jeher etwas boshaft gewesen! Gestern kam Julie Guttenberg, geb. Künßberg mit ihrem herzigen fünfjährigen Erich. Wir sagten deshalb auf dem Erholungs-Manöverball ab und bereuten es nicht, denn in der Zeitung kam ein so abgeschmackter Artikel über den Ball, das Entzücken der militairfrommen Mädchen etc., daß wir gerade genug haben. Julie, von der ich nur eine schwache Erinnerung hatte, finde ich klug und angenehm, besonders gut gefällt mir ihre Erziehung und ihr Verhältnis zu ihrem Buben. Erich ist ein herziger, geweckter, netter Kerl, freundete sich sehr bald mit uns an und betrachtet mich als seine Frau. Er ist zu possierlich, z. B. erschien er heute früh sehr dürftig bekleidet (er wohnt uns gegenüber) auf dem Fensterbrett und schrie zu mir herüber: „Schau, Frau! Wie dein Mann in Unterhosen ausschaut!“ Rudi schenkte ihm seine Soldaten, worüber er ganz selig war. „O ich dank‘ dir so! Alle, alle hat er mir geschenkt; ich kann gar nicht schlafen vor Glück!“ rief er immer wieder vor dem Einschlafen! Donnerstag, 31. Heute ist einmal ein stiller Regentag, recht ein Tag zum Schaffen; in den schönen Tagen bringt man so wenig fertig. Am Montag verließen uns sowohl Guttenbergs als die liebe Liesbeth. Wir waren durch das Schlachten in Anspruch genommen und Butzle¹⁸ lag im Bett und bellte wie toll. Am Dienstag waren wir in Ludwigshof,¹⁹ wo wir ins Essen platzten und dann Wurmbs samt ihrer Einquartierung sahen. Der Major Iffendorf ist uns so widerlich, daß wir froh waren, nur wenig von ihm zu sehen. Gestern war ich mit den Eltern in Obernitz, als einziges junges Mädchen mit Heydens, Reißens und Mansards, unterhielt mich aber ziemlich gut. Herr von H. ist ja ein Possenreißer, sie aber eine nette, liebe Frau. Wir möchten gern morgen zum Brigadeexercieren fahren, aber es gießt in solchen Strömen, daß der Vater den Wagen abbestellte. Montag, 1.9.93. Wir sind in den letzten Tagen ganz Manöver gewesen, haben von weiter nichts gehört und gesprochen und fand ich eher keinen Moment zum Schreiben.

18 Rudi 19 Besitz der Familie von Breitenbauch.

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Am Freitag früh also schien uns die Sonne so warm auf die Nase, daß wir nicht widerstehen konnten. In aller Eile ward sich angezogen, gefrühstückt, ein großer Freßkorb gepackt und in den schönen, klaren Herbstmorgen hineingefahren. An der Kapelle von Grobitz trafen wir Wurmbs, Mohls, Schmidts und Göckels und sahen, auf unseren Wagen stehend, dem Manöver zu. Es war wunderhübsch, noch schöner aber fast die Scene, in der es sich abspielte. Man denke sich ein von Wäldchen koupiertes Plateau mit weitem Panorama, im Hintergrund Ranis, Wernburg, Pößneck etc. und über alldem der blaue, klare Duft der ersten Herbsttage ausgegossen, die langen Wolkenschatten und hellen Sonnenblicke auf Feld und Flur! Hier spielte sich nun das Manöver ab, das uns mit seinem Wechsel und Leben erfreute und fesselte. Bald sah man eine blitzende Schlange von Helmspitzen hinter einem Hügel auftauchen, bald warfen sich lange Reihen zum Schießen an die Erde, bald brachen die Ulanen aus einem Hölzchen hervor; es war zu lustig, eine heitere Nachahmung des bittersten Ernstes. – Zuletzt sahen wir noch einen Parademarsch vor dem General Wittich, der sehr glänzend aussah. – Nachdem wir vier Flaschen Rotwein und fünfundzwanzig Butterbrode losgeworden, begaben wir uns auf den Heimweg, der neben und zwischen den in Pößneck einrückenden Truppen recht langsam von statten ging. Da wir Blut geleckt hatten, fuhren wir Sonnabend wieder hinaus, aber ohne Mutter. Wir fuhren nach Peuschen, wo wir den Vorbeimarsch von Artillerie und Ulanen sahen, dann über Laska, Grobengereuth, Quaschwitz, Daumitz bis Weira, wo wir ein Gefecht mit Kanonen sahen. Da wir den Truppen nachfuhren, so hatten wir wieder Gelegenheit, durstige Seelen zu tränken.Von Weira ging es über Grobitz und Pößneck zurück, eine Leistung, wenn man bedenkt, daß wir von 8 – 12 im Regen und Wind fuhren, ohne die Schirme aufzuspannen. Unsere sämtlichen Leute hatten Urlaub und liefen die ganze Tour mit, bis die Truppen in Neustadt einrückten, von wo sie im Viehwagen um sechs hierher zurückfuhren. Wir drei Kinder kochten bis ein Uhr ein anständiges Essen, bestehend aus Griessuppe, Schnitzeln und Waffeln. Rudi deckte, servierte und spielte den Diener mit großer Virtuosität. Da wir auf Sonntag einige Herren geladen hatten, so buken wir noch Makronen. Rudi stieß Zucker, schälte Mandeln und – zerbrach die Mandelmühle. Es war trotz Wetter und Mühe ein sehr lustiger Tag; nur Stock,²⁰ der seine beiden Würmer den ganzen Tag geschleppt hatte, war schlechter Laune und schimpfte aufs Manöver. Tu l’as voulu, Georges [sic] Dandin…!²¹

20 Diener, der schon seit sieben Jahren bei der Familie war. 21 Übersetzt: „Du hast es gewollt, Georges Dandin!“ Zitat aus der gleichnamigen Komödie von Molière.

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Unser kleines Diner war reizend, obwohl von sechs geladenen Herren nur drei kamen, zum Glück aber die drei nettesten: Oberstleutnant Stedtmann, Hauptmann Rauchhaupt und ein Graf Holnstein. Es war famos gekocht, alles klappte, sodaß es wirklich sehr nett war. Wir zeigten ihnen Hof, Ställe, Park und Gärten und waren sehr vergnügt. Am Abend ging ich mit dem Vater nach Ludwigshof, wo wir zum Abendessen blieben. Sonnabend, 9.9.93 Von Dienstag hatten wir bis Mittwoch den kurzen, aber sehr lieben Besuch des alten Neuenhöfer.²² Er ist einer der besten und dabei liebenswürdigsten Menschen, die ich kenne. Ich habe noch von keinem Menschen ein ungünstiges, oder auch unfreundliches Urteil über ihn gehört: Wer ihn gesehen, ist entzückt von ihm! Er war sehr behaglich und gemütlich und erzählte viel aus seiner Jugend, wobei er immer besonders heiter wird. Der Vater ist zur Hühnerjagd in Örlsdorf gewesen, hat 150 Hühner in fünf Tagen geschossen und hält jetzt Wahlreden in Suhl und Schleusingen. Gestern kamen die Altenburger und blieben einige Stunden. Sie sind wie die ganze übrige Gegend über Beusts entrüstet. Dieselben haben auch wieder ein starkes Stück geliefert. Zuerst laden sie die ganze Gegend zum „Ball“ ein und zwar in Balltoilette. Alles schimpft über den gêne,²³ im Sommer die Toiletten auszupökeln; wir suchen die Polterabendkleider hervor, Breitenbauchs schreiben nach Altenburg, als plötzlich der Ball wegen eines Anfalls von Frau von Beusts altem Leiden abgesagt wird. Die Damen schreiben Kondolenzbriefe, sie antwortet tief bekümmert: Ihre jungen Mädchen hätten es so bedauert, es wäre ihr zu schlecht gewesen etc. Nun hören wir durch einige Herren, daß sie doch bis zwei Uhr getanzt hätten und Frau von Beust von A-Z dabei war. Was das Lügengewebe wieder bedeuten soll, versteht niemand. Heute ist ein stiller Sonntag; Rudi liegt wieder zu Bett an Husten; wir gehen jetzt auf den Haselberg. Freitag, 15.9.93 Diese Woche war recht viel los. Montag benutzten wir den klaren herrlichen Herbsttag, um nach Könitz zu fahren und den neuen Besitzern, Geheimrat Reiß und Frau, ihren Besuch wiederzugeben. Es gab viel Schönes und Interessantes zu sehen. Könitz ist etwas älter als Wernburg, sehr unregelmäßig und reizvoll gebaut, mit riesigen, hohen Räumen und wundervoll und wechselvoll geschnitzten Decken. Ihr

22 Georg Sigismund Freiherr von Rotenhan (1831 – 1914). 23 Anstrengung.

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Wohnzimmer hat 140 qm, ist folglich zwei Mal so groß wie unser Saal und macht einen höchst gemütlichen und schönen Eindruck. Mit der Einrichtung sind Reißens noch lange nicht fertig, auch passen ihre vielen Möbel aus der Berliner Stadtwohnung nicht ganz in das alte Schloß. Jedenfalls müssen sie riesig reich sein, denn sie besitzen eine Fülle von Antiken, Kunstgegenständen, orientalischen Sachen, Büchern, Werken etc. Es war sehr interessant, aber auch furchtbar ermüdend, all dies zu besehen und zu bewundern. Reißens sind sehr gebildete, angenehme Leute und ich bin vielleicht allzu feudal, wenn ich an ihrer Stelle in dem uralten Schloß lieber ein altes Adelsgeschlecht haben möchte; allerdings müßte dasselbe dann auch wirklich adlig sein! Dienstag hatten wir Superintendents zum Kaffee und Mittwoch gaben wir unserem Herzen einen Stoß und machten in Pößneck Besuche; zuerst bei Königs, die wieder einmal recht schlumpig und schlecht angezogen waren. Darauf beim Oberpfarrer Keiser, wo wir ein halbes Stündchen bei der einfachen, aber netten, natürlichen Frau saßen. Sie boten uns, um sechs Uhr Abend! einen gräßlichen, süßen Ungarwein an, der uns fast umwarf. Gestern kam die liebe Frau von Mohl zu Tisch mit Hedwig und Waldemar; sodaß wir ein Kinderspiel nach dem anderen vornahmen. Es sind aber nette kluge Würmer. Ich hatte gestern einen Heidenschreck. Die Mutter hat ein wunderhübsches Tischchen zur Silberhochzeit von den Altenburger Breitenbauchs gebrannt und gemalt. In der Mitte sitzt ein sehr charakteristisches Vogelpärchen mit Silberkrönchen, umgeben von einem Kranz von Silberdisteln. An diesem Tisch brenne ich also die Beine, als mit einem Mal Frau von Breitenbauch hinter mir steht. Aufspringen, die Platte unter den Arm nehmen und fortfliegen war das Werk eines Moments, aber der Schreck war nicht gering. Gewiß hat sie einen Verdacht, wenn sie auch in der Eile nicht viel gesehen haben kann. Dienstag, 19.9. Die zwei verflossenen Tage waren so hübsch und unterhaltend, daß ich sie gleich beschreiben will, obwohl ich heute etwas katerig bin. Zwei Nächte hintereinander zu tanzen machte mir in Berlin, wo ich im training war, und alles zubereitet darauf war, nicht das Geringste aus. Hier ist es aber ganz etwas anderes. Am Sonntag fuhren wir, uneingeladen, zur Silberhochzeit nach Ludwigshof, wo wir außer der gesamten nahen Verwandtschaft nur Krosigks, Kettelhodts, Herrn von Helldorf und Herrn von Ziegesar trafen. Wolf und Arthur, die ich lange nicht gesehen, sind inzwischen fertige Menschen geworden; Diez war als Officier da, Mel-

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chior als Mulus.²⁴ Wie die Zeit vergeht, ist ordentlich unheimlich. Es war ein recht nettes, gemütliches Beisammensein, beim Souper viele Toaste und danach ein flottes Tanzen. Der Großvatertanz ward sehr hübsch von allen getanzt, selbst von der alten Frau von Ziegesar; ein herziges Pärlein waren unser Rudi und Sabinchen Breitenbauch. Musik sowohl als Tänzer waren nicht berühmt. Wolf tanzt gut und Adolf Krosigk so herrlich, daß man gar nicht wieder aufhören mag, aber die übrigen haben noch wenig Begriff. Frl. von Kettelhodt gefiel mir gut, dagegen fanden wir den Bruder, der ganz kommishaft aussah, entsetzlich. Er fing mit Sabine ein Gespräch über Freundschaft zwischen Herren und Damen an, sagte, wie gut man sich sein könnte, ohne gleich an Verloben zu denken etc. Jedenfalls war es ein hübsches Fest, hübscher war es aber noch in Ranis, wo sich gestern wieder dieselbe Gesellschaft traf. Leider waren Beusts nicht eingeladen, sodaß es natürlich wieder viel Verdruß geben wird. Wir waren alle so gut miteinander bekannt, daß es uns wie ein Familienfest vorkam. Wir nennen doch die Tänzer auch mit Vornamen, wenn wir von ihnen sprechen. Frieda sah herzig aus, wird aber, fürchte ich, nicht lange so unverdorben bleiben, da ihr zu viel weisgemacht wird. Ihre Originalität wird zu Hause so bewundert, daß es bald keine mehr sein wird; denn sobald sie dieselbe zu berechnen anfängt, so verliert sie allen Reiz. Zuletzt tanzten wir einen reizenden Cotillon, den Krosigk mit vielen Touren ausgezeichnet arrangierte. Ich tanzte ihn mit Wolf und unterhielt mich sehr gut. Als am Schluß sämtliche Damen vor dem Hausherrn und der Hausfrau den großen Knix machten, war Ersterer so weg vor Entzücken, daß er uns Kußhändchen zuwarf und uns fast umarmte. Leider war Hans, der ein Commando hat, nicht da. Der Ball ist also Diez allein zu Ehren gegeben worden. Sonntag, 24.9. Wir sind in dieser Woche nur einmal fort gewesen, da wir beide erkältet sind. Aber gestern waren wir zu Weidenhammers zum Souper eingeladen und konnten nicht widerstehen. Außer den Ranisern und den Ludwigshöfern waren nur einige Verwandte da. Alles war gut arrangiert, gedeckt und gekocht, viel hübscher als in Gräfendorf. Große Heiterkeit erregte Irene, der durch das Manöver und den Verkehr mit Ludwigshof der Kopf ganz verdreht ist. Sie kokettierte mit Diez und mit Wolf auf wirklich unglaublich einfältige Weise; ich habe nie etwas Ähnliches gesehen; es war zu plump und verdreht, zum Lachen wirklich. Frieda, die ihren Wolf bis jetzt nur sittsam und ehrbar gesehen und nun auf einmal agaçant²⁵ und auf Tod und Leben Irene die Cour machen sah, war ganz erschrocken und entrüstet.

24 Maulesel (statt halb Esel, halb Pferd halb Schüler, halb Student). 25 Enervierend.

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Wir sahen die Ludwigshöfer oft in dieser Woche und habe ich besonders Anna sehr gern. Sonntag, 1. Oktober. Von der letzten Woche ist wenig Erfreuliches zu berichten. Ich hatte einen greulichen Katarrh mit Husten und Schnupfen, den ich zum Teil im Bett, zum Teil im Zimmer pflegte. Die Ludwigshöfer sagten mir adieu, Emilie, unsere Perle, reiste fort, um bei Mag als Köchin in Dienst zu treten – alles das zog wie ein Traum an mir vorbei. Ich lag und schlief wie ein Murmeltier. Vorgestern kamen die Brüder, groß und frisch, mit guten Zensuren an. Es ist doch gleich ein ganz anderes Leben im Haus und wenn sie auch die meiste Zeit draußen rum puffen, so freut man sich doch sehr über sie. Jörge fühlt sich jetzt, wo er mit netteren Menschen verkehrt, viel glücklicher und ist sehr lustig. Wir lesen jetzt abends die „Berliner Falschmünzer“, was die Jungens sehr aufregt, da wir erkältet sind, lesen sie vor, was ihnen recht nützlich ist. Mittwoch, 4.10. Gestern kam Herr von Mohl mit Irene zu Tisch; er war gar nicht so langweilig wie sonst, sondern erzählte in einem fort. Er ist mir zu unangenehm, ein rechter, egoistischer Geck, der der netten, lieben Frau viel zumutet. Wenn nur meine Erkältung vollends weicht! Am Sonntag ist nämlich ein Café dansant in Obernitz, zu dem wir eingeladen sind: Lothar Spitzemberg will mit seinem Freund d’Haussonville dazu kommen und zwei Tage hierbleiben. Hoffentlich wird es nicht zu Wasser, es wäre zu schade! Gestern reisten die Brüder voll freudiger Erwartung nach Örlsdorf zur Jagd. Der Vater verbrachte den Tag in Rudolstadt und brachte eine sehr traurige Nachricht mit. Trudchen Bertrab ist mit einem verheirateten Mann durchgegangen, und zwar mit dem Schwiegervater ihres Bruders Egon. Dieser, mit Namen Schweizer, ist ein schöner, geistreicher Mensch, der schon in allen Städten Abenteuer gehabt und von dem seine eigene Tochter sagt, er sei ein Teufel. Er kommt also diesen Sommer zu seinen Kindern zu Besuch, wird in der Gesellschaft gut aufgenommen und verkehrt selbstverständlich viel im Bertrabschen Haus. Die Bertrab’schen Mädchen sind furchtbar bigott und tugendsam, gingen nie aus, besuchten fleißig die Messe etc. Der elende Mensch entblödete sich nicht, trotzdem er Großvater ist und eine Frau zu Hause hat, ein Liebesverhältnis mit der weder hübschen noch sehr klugen Gertrud zu beginnen. Als die Sache entdeckt wurde, sperrte man die Mädchen ein, doch Schweizer wußte eine letzte Unterredung, einen Abschied zu erzwingen. Egon Bertrab geht also mit Frau und Schwester zur Bahn, der Alte bittet, dem armen Mädchen den Abschied nicht zu verlängern und sie einen Brief auf der Post abholen zu lassen. Der Bruder – dummer Weise – erlaubt dies auch; das Mädchen steigt in

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einen seit drei Tagen wartenden Wagen, in Uhlstädt steigt der Alte aus, trifft sie und – reist mit ihr ins Weite. Bis jetzt hat man sie noch nicht gefunden, doch glaubt man, daß die Herrlichkeit bald ein Ende nehmen wird. Aber was dann? Entweder wird es wohl mit einem Selbstmord enden, oder das Mädchen endet in einem Kloster. Es ist zu abscheulich! In einem Roman dürften wir diese Geschichte gewiß nicht lesen und von seinen Bekannten muß man sie erleben! Montag, 9.10. Das Fest in Obernitz ist glücklich verlaufen und unsere verschiedenen Erkältungen sind nicht schlechter dadurch geworden. Freitagabend kamen Lothar und d’Haussonville an. Letzterer ist ein sehr amüsanter, netter, gebildeter Mensch, ist aber leider so häßlich und unglücklich gewachsen, daß er eine lächerliche Figur abgibt. Jedenfalls unterhielten wir uns ausgezeichnet mit unseren Ballsöhnen. Auf fünf Uhr war eingeladen, wir mußten um zwei Uhr daher fortfahren und hatten daher dem Oberst Winsloe, der mit dem Zug um 1.20 eintraf, abtelegraphiert. Da er das Telegramm aber nicht erhielt, so kam er doch, mußte sich in seinen Frack stürzen, Mittag essen und mitfahren. Die Fahrt in einem Pößnecker Omnibus, (der mit allerhand spaßhaften Aufschriften: Table d’hôte 1 Uhr, à la carte, ff. Weine etc. verziert war), war eng und heiß und es gehörte gute Gesellschaft dazu, um bei Laune zu bleiben. In Obernitz trafen wir Freges mit zwei Töchtern, dem Sohn, einem Neffen und einer Nichte Marschall, Motzens, Imhoffs, Kettelhodts, Sängers, Kirchners etc. An Tänzern waren außer dem jungen Frege nur die Rudolstädter Officiere, sodaß unsere Herren Furore machten, besonders der elegante Lothar schoß den Vogel ab. Das Fest war hübsch und animiert. Wir hatten das unbescheidene aber angenehme Gefühl, am besten angezogen zu sein, obwohl wir einfache gelbe Kreppkleider trugen. Mit Lothar tanze ich zu gern; er tanzt famos und sind wir auch nachgerade gut eingetanzt. Zum Souper hatten wir einen fidelen Tisch mit Anni, Lothar, d’Haussonville und Frege und amüsierten uns on ne peut pas mieux. ²⁶ Die Rudolstädter Herren sind nach Ton, Aussehen, Gesinnung etc. wirklich kein Umgang. Die netten Mädchen wie Anni und Liesbeth tun mir leid. Z. B. kam Lothar dazu, wie sich einer die Taschen voll Zigaretten stopfte; er war sehr erschrocken, sagte aber mit Geistesgegenwart: „Ob man sich nun eine Zigarre oder ein Dutzend Zigaretten nimmt, kommt dem Herrn von Heyden im Preis doch gleich!“ Entschieden ein Rechengenie!!! Das Tanzen ist zum Teil auch schwach, da sie die Stöße mit der Dame parieren, so bekommt man blaue und grüne Flecke dabei. Der Cotillon war lustig, suchte aber seines Gleichen an Unordnung. Herr von Heyden, Motz und ein Vortänzer sollten vortanzen, bekümmerten sich aber nicht im Geringsten darum, bis schließlich der

26 Übersetzt: „wie man es nicht besser kann“.

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stark angeheiterte Major das Kommando an sich riß und alles wie seine Rekruten anbrüllte. Der Oberst Winsloe tanzte wie ein Gott; so ruhig, sicher und leicht, wie ich selten mit jemandem tanzte. Die Rückfahrt war lang; um drei kamen wir erst ins Bett. Am anderen Tag reisten die jungen Herren ab, während Winsloe bis Donnerstag blieb. Da er Künstler und großer Naturfreund ist, zeigten wir ihm Ranis, die Altenburg, den Limberg etc., wodurch wir selbst viele Spaziergänge machten. Winsloe, der schon mit dem Vater in Weinheim zusammen war, ist wirklich ein sehr interessanter und vielseitiger Mensch. Er ist halb Engländer, viel herumgekommen, lange Zeit am Badischen und Strelitzer Hof gewesen und mit der halben Welt bekannt. Er hat das Talent, hübsch zu erzählen und sich dabei nie mit seinen Erlebnissen aufzudrängen; kurz, er war ein sehr angenehmer Gast. Am Mittwoch kam die Fürstin Lippe mit Frau Roßmann und dem Hofmaler Oppenheimer zu Tisch. Sie war sehr liebenswürdig – gnädig, sagt man wohl, sah alles an: Garten, Kapelle, Ställe und Scheune, sprach von den alten Zeiten, von Onkel und Tante, die sie gut gekannt und war für ihre Art sehr gesprächig. Frau Roßmann soll eine vorzügliche Frau sein; im Gegensatz zu Winsloe’s Ruhe störte ihr etwas aufdringliches Erzählen von ihren Beziehungen zu gekrönten Häuptern. Montag, 16.10. Herr von Winsloe reiste schon am Donnerstag zu unserem großen Bedauern ab; heute nun auch die Jungens, nachdem wir gestern noch Burkharts Geburtstag gefeiert hatten. Die Eltern haben den ganzen Brehm²⁷ mit bunten Tafeln gekauft, und schenken ihm nun nach und nach (zwei Bände auf einmal) das ganze Werk. Jörge ist Zelloberer²⁸ geworden und fühlt sich sehr groß in dieser neuen Würde. Donnerstag, 19.10. Margarethe ist seit gestern hier, sehr frisch und lustig, während Hermann noch in Kassel übt. Es ist ganz wie in der alten, lieben Kinderzeit; man vergaß, daß alles anders geworden seit einem Jahr. Anders wohl, aber, das kann ich sagen – entschieden besser. Doch, um alles der Reihe nach zu erzählen, muß ich von Dienstag beginnen. Wir fuhren nach Nimritz, wo wir Frau Schulz aus Jena mit ihrem Leo und Hildegard Asseburg, eine Stiftsfreundin Mias trafen. Frau Schulz äußerte ihre Freude, die Eltern zu sehen, so oft und laut, daß es für Beust nicht sehr schmeichelhaft war. Mia ist furchtbar elend, hat 6 Pfund abgenommen und sieht recht übel aus. Gerti ist eine verwöhnte Range.

27 Alfred Brehm, Brehms Tierleben. 28 Zelloberer war im Internat Kloster Roßleben der Stubenälteste.

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Am Mittwoch fuhr der Vater nach Hummelshain zur Saujagd, wir zum Diner nach Könitz. Was für ein Diner! Der Tisch brach fast unter dem Obst, Confekt, Dessert etc., die Zahl der Gänge, eine Delikatesse nach der anderen, war enorm; die Weine erwiesen sich als so schwer, daß die Herren nach Tisch nicht mehr sehr angenehm waren: kurz, es war ein rechtes Protzenessen, das gar nicht zu so bescheidenen Leuten wie Reißens paßt. Es muß wohl in Berliner Gelehrtenkreisen so bräuchlich sein. Wir trafen Starcks, Heydens, Herrn von Motz und Töchter und Frau von Bolschwingh mit Tochter aus Berlin. So viele Berliner Bekannte würde ich mit Freude wiedersehen und nun muß ich die beiden, die ich am wenigsten leiden kann, treffen. Bolschwinghs verbinden einen krassen Hochmut mit einer geradezu niedrigen Ausnutzung der Gastfreundschaft ihrer Bekannten. Sie schmeißen sich überall an, sind dabei aber sehr unbeliebt. Die Tochter ist recht elegant und hübsch gewesen, geht schon zehn Jahre in Berlin aus und hat sich einen sehr schlechten Ton als letztes, vergebliches Zugmittel zugelegt. Bei Tisch saß ich neben der Mutter Bolschwingh, die mir mit ihrer süßlichen Art beschrieb, wie schön ihr Sohn (ein Leutnant) bei einem Fest dekoltiert ausgesehen habe, wie herrlich sein Hals! seine Oberarme seien! etc. und zwischen den Motzens, die von jedem Gang aßen, alle Weine tranken und sonst nichts redeten. Kurz, es war unerquicklich im höchsten Maaß. Bald nach Tisch erhielten wir ein Telegramm von Vater, das uns meldete, daß Margarethe um fünf Uhr durch Könitz führe. Wir stürzen auf die Bahn und steigen gerade zur rechten Zeit zu Mag ins Coupé. Sie war sehr erstaunt über dies abrupte Erscheinen. – Die Doppelhochzeit in Rentweinsdorf muß zu hübsch gewesen sein. Margarethe ist ganz erfüllt davon. Die beiden reizenden Bräute, die entzückenden Aufführungen, alles im Sonnenglanz, die netten Richthofens, alles belebte und verschönte das Fest. Daß zwei große Myrthenbäume in der Rentweinsdorfer Orangerie im Oktober noch einen Johannistrieb hatten und zum Ehrentag der beiden letzten Töchter von oben bis unten in Blüte standen, ist wohl ein hübsches Zusammentreffen. Hedwig reiste mit ihrem Mann nach Oberitalien. Heute Nachmittag war Herr von Beust mit Mia, Gerti und Frl. von Asseburg da. Letztere gefiel uns ausnehmend gut. Er war, wie immer, wenn er ohne sie ist, sehr gemütlich und sah sich zum ersten Mal! die Küche an. Morgen wollen Meysenbugks aus Gera kommen; es ist jetzt wirklich viel los. Der Vater hat drei Sauen geschossen und mit einigen anderen Herren zwei nette Tage verlebt. Der neue Koburger²⁹ war da; er spricht nur gebrochen Deutsch und scheint ein starker Trinker; er verlangte bei seiner Ankunft in Hummelshain eine Flasche Kognac, 1 Fl. Rum und 1 Fl. Arrak auf seine Stube!

29 Herzog Alfred (1844 – 1900), zweiter Sohn von Queen Victoria und Prinz Albert, folgte seinem Onkel Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha 1893.

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Dienstag, 24.10. Der Besuch von Meysenbugks war recht nett und gemütlich. Heimchen ist bildhübsch geworden, aber noch nicht aufgeweckt; sie ist sehr schweigsam; es fehlt ihr noch der rechte Ausdruck, aber sie sieht sehr vornehm und sympathisch aus, was man von der Mutter nicht behaupten kann. Am Nachmittag kam Benno Herman, der älteste und einzige der Wainer³⁰ Vettern, den wir noch nicht kannten. Es war ein sehr netter und anregender Besuch von einigen Tagen. Er hat letztes Jahr eine Reise um die Welt gemacht, ist sehr gebildet und weit in allen Gebieten, sodaß wir manche nette Unterhaltung mit ihm hatten. Der Schaffens- und Wissensdrang der Hermans ist sehr wohltuend, aber ihre Vorliebe fürs Ausland resp. Amerika geht zu weit; die Heimat scheint ihnen zu eng geworden. Gestern reiste Benno; heute Vater nach Halle, wo ein großes Landwirtschaftliches Fest gefeiert wird. 18ter November. Die letzten Tage von Margarethens Hiersein waren recht genußreich: Eine Visitenfahrt nach Rudolstadt, ein animiertes kleines Diner mit den Nachbarn, das waren so die Ereignisse der Tage, die aber nicht so lohnend waren wie die gemütlichen Abende, die gemeinsamen Arbeiten etc. Am 30ten kam der blinde Herr von Hirschfeld aus Berlin auf einen Tag. Während seines kurzen Hierseins ward die Mutter ganz plötzlich von furchtbaren Schmerzen im Unterleib befallen. Wir schickten sofort zum Arzt, der ihr durch eine Morphiumeinspritzung Linderung verschaffte. Sie erholte sich bald von den Schmerzen und der Einspritzung und ist jetzt so munter und fleißig wie immer. Der Arzt glaubt, daß es mit den Nieren zusammenhängt, weiß aber nichts Näheres zu sagen. Jedenfalls bleibt es für die Zukunft eine große Sorge! In den nächsten Tagen gedenken wir, zu Besorgungen nach Leipzig zu fahren, wo wir Tante Anna Hofacker mit Eva treffen wollen. 28. November Am 18ten fuhren Mutter und ich nach Leipzig, trotzdem sie denselben Schmerz zu fühlen glaubte. An diese Reise werde ich mein Leben lang denken: Kaum saßen wir im Coupé, steigerten sich die Schmerzen so gräßlich, daß wir nicht wußten, was anfangen. In Gera aussteigen und umkehren wollte die Mutter nicht, so fuhren wir – im Bummelzug! – bis Leipzig, wo wir im Kaiserhof von Tante Anna und Eva mit offenen Armen empfangen wurden. Die Mutter ließ sich eine Einspritzung machen und saß mit der Tante zusammen, während Eva und ich unter dem Schutz der

30 Schloß Wain in Oberschwaben war der Stammsitz der Freiherren von Herman.

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Geschwister Klengel in einen wundervollen Quartettabend im Gewandhaus gingen. Auch die nächsten Tage boten viele Genüsse, die zum Teil auch die Mutter mitmachen konnte. Eva spielte einmal im Blüthner-Saal mit einer Kapelle von 35 Soldaten ein ebenso schweres als schönes Konzert von Beethoven, (das Es-Dur, glaube ich), und zwar so sicher und herrlich, daß ich diesen Genuß mehr Menschen, als nur uns Dreien gewünscht hätte. Im Theater sahen wir einmal den „Maître de forges“,³¹ der in den weiblichen Rollen ausgezeichnet, in den Hauptrollen der Männer leider sehr schlecht und ordinär war. Wir erhielten dadurch ein ganz verschobenes Bild des Stückes, aber trotzdem machte es mir einen Rieseneindruck. Besonders die Szene nach der Hochzeit erregte und bewegte mich sehr. Ganz allerliebst und fein gegeben war dagegen das „Heiratsnest“, dessen Held, ein österreichischer Oberst, wundervoll und elegant spielte. Tante Anna war reizend und ist mir äußerst sympathisch, ja, mehr als Eva, mit der ich doch nach Jahren viel besser harmonieren müßte. Nebenher machten wir massenhaft Besorgungen und sahen viel Hübsches in den großen Läden. Die Rückreise verlief gut, aber hier hatte die Mutter wieder einen Anfall, sodaß sie am Totenfest nicht mit zum heiligen Abendmahl gehen konnte. Jetzt geht es ihr recht gut. Die Ärzte konstatierten Nierensteine, die zwar schmerzhaft, aber nicht gefährlich seien und durch fleißiges Brunnentrinken gebessert und vereinzelt werden. Gott sei Dank! Ich hatte mich so sehr für mein liebes Muttchen gesorgt. 30. Dezember Die letzte Zeit war zu arbeitsreich zum Schreiben; auch fiel nichts Besonderes vor, als daß der Vater zum Begräbnis seines Vormunds, Onkel Albert Bibra³² nach Meiningen reiste. Es ist ein freudiges Arbeiten, dies Zurüsten auf das liebliche Fest. Ein Hauch von Tannenduft scheint auf jeder Arbeit zu liegen, ein Stückchen Lichterglanz bei jedem Weihnachtslied ins Herz zu ziehen und diese Vorfreude ist mir fast lieber als die kurze des Festes selbst. Mein Geburtstag war, obwohl so kurz vor Weihnachten, nicht im Geringsten sang- und klanglos: Ich erhielt die „Irrlichter“, eine Photographie, eine Pelzmütze, Seife, Noten, Nadelbuch und von den Geschwistern hübsche kleine Sachen. Noch am Tag nachher bei einem kleinen Diner von Heydens und Schmidts feierte mich zu meiner großen Verlegenheit Herr von Heyden in schwungvoller Rede.

31 1882 erschienener Roman von Georges Ohnet, den dieser selbst 1883 für das Theater adaptierte. 32 Hermann Freiherr von Erffa war beim Tode seines Vaters Ferdinand von Erffa (1796 – 1864) erst neunzehnjährig, sodaß er noch einen Vormund brauchte.

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21. Dezember: Wir sind diesmal ziemlich bald fertig geworden: Backerei, Schlachterei, Christbaum-Schmücken – alles ging vorschriftsmäßig vor sich. Die Kiste nach Lauchröden voll vieler hübscher und nützlicher Sachen ging glücklich ab. Ich habe für Mag drei Spruchbänder in den Wäscheschrank gestickt. Für Edda und Tante Marie brannte ich je ein Spruchbrett, für Großmutter ein Zigarrenkästchen und eine lederne Schlummerrolle; für Mutter habe ich einen Kalender von 12 Blättern mit allerhand Mäusen, Hasen und Vögeln gezeichnet, eine Riesenarbeit! Es war in den letzten Tagen wie in einer Werkstatt bei uns. In der letzten Stunde zogen wir noch zehn Puppen zur Tagelöhnerbescherung an. Es war zu lustig. Freitag, 29.12. Wie schön schreibt es sich im großen Weihnachtssaal, ringsum die reichen Tische, die vergnügten Gesichter von den Buben und Margarethe, einen Lebkuchen im Mund und über allem der herrliche Tannengeruch und die Weihnachtsfreude in Herz und Haus. Wir sind trotz der vorherigen Entschuldigungen über Mißernte der Eltern sehr schön beschenkt worden: Ich erhielt ein weißes Ballkleid nebst Fächer, einen Malkasten, Briefpapier, den Hungerpastor von Raabe, „Lenz und Herbst“ von Frommel, „The last days of Pompeji“,³³ Malvorlagen, Kalender, eine Comodecke etc. Sabine erhielt von der Großmutter eine goldene Uhr, was uns alle sehr freute. Gestern kamen Margarethe und Frl. Güntzel an und jetzt ist es eine neue Freude, ihnen alles zu erklären. Besuch hatten wir von Landrats, Reißens und Wurmbs in den Feiertagen. Sonst saßen wir viel mit Großmutter zusammen, die wirklich sehr lieb und gütig war; die Brüder knallten mit mehr oder weniger Erfolg draußen herum. Um die Tanzbeine, auch die der Brüder, zu üben, ließ die Mutter einen Geiger aus Poessneck heraufkommen, der in der Kinderstube zwei Abende Tänze kratzte. Es war zu amüsant. Vater zog sich seinen Frack mit Kammerherrenknöpfen,³⁴ Jörge den Konfirmationsrock an und alles hüpfte, schwirrte, lachte durcheinander. Am Sonnabend kam Hermann, sehr übel und elend aussehend an, um Sylvester mitzufeiern. Wir fingen den Abend spät an, füllten ihn mit Christbaumanzünden, Lesen, Punschtrinken etc. Zwölf Uhr und mit ihm das neue Jahr waren im Nu da. Was wird es bringen? Fast jeder sieht diesmal ernst und sorgenvoll in die Zukunft;³⁵ bange Zweifel und Kleinmut will das Herz beschleichen, wüßten wir nicht, daß Gott

33 Der Autor war Edward Bulwer-Lytton (1803 – 1873), Erscheinungsdatum 1834. 34 Der Kammerherrenfrack hatte rechts auf Hüfthöhe zwei Knöpfe, an die die Kammerherrenschlüssel gehängt werden konnten. 35 Bezieht sich wahrscheinlich auf die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrags und die Französisch-Russische Allianz, die am 4.1.1894 in Kraft trat.

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über den Jahren, über der Zeit steht und der Herr des neuen Jahres sein wird, wie er der des alten war! 1894 Donnerstag, den 4. Januar. Das Haus ist wieder leer geworden. Bis auf die Buben sind alle lieben Weihnachtsgäste davongezogen und wir stürzten uns sofort in eine große Räumerei. Im Winter wollen wir nämlich dicht zusammenwohnen, des besseren Heizens und der Gemütlichkeit halber. Wir bleiben in unserem Zimmer, das gegen den unbewohnten Salon durch eine Matratze geschützt wurde. Im Vorzimmer wohnen und essen wir, im Kinderzimmer hat sich die Mutter mit ihren Blumen, Möbeln, Teppich etc. häuslich niedergelassen und wunderhübsch und gemütlich eingerichtet. Montag, 8.1. Eben reisten die Brüder ab zu Rudis großem Kummer; er ist hier recht einsam und betet die großen Roßlebener fast an. Sie waren auch wirklich sehr nett und lustig, die lieben, frischen Buben! Wir haben viel zu nähen, zu probieren, zu packen etc., da wir unsere nächste Ballfahrt morgen antreten wollen. Am 10ten ist nämlich ein Subskriptionsball des gesamten Adels der Provinz Sachsen in Magdeburg. Der Graf Hagen-Möckern, der Rathmannsdorfer Krosigk, der Graf Wartensleben-Carow, einige andere und der Vater bildeten das Comitee, sodaß wir natürlich verpflichtet waren, hinzugehen. Wir freuen uns sehr darauf, denn der sogenannte „Magnatenball“ soll immer sehr schön und glänzend sein. Sonntag, 15. Januar. Unsere Ballfahrt war sehr gelungen, obwohl Mutter und ich sie mit einem tüchtigen Schnupfen büßen. Am Mittwoch um neun Uhr dampften wir in Jüdewein ab, erfreuten uns bis Jena der Gesellschaft unseres Doktors, bis Corbetha der etwas interessanteren und angenehmeren der Frl. von Rothkirch aus Altenberge. In Merseburg sahen wir einen Moment Lothar, den Grafen d’Haussonville, und den Rittmeister Schnehen mit seiner herzigen jungen Frau (Mariechen Münchhausen). Leider sind die Einladungen für Magdeburg so spät ergangen, daß alle Merseburger schon versagt waren. In Halle trafen wir die Herrengosserstädter Münchhausens mit Ilse und Klara Bernstorff. In Magdeburg begrüßten wir noch die Bucher Breitenbauchs und packten dann in unseren großen, schönen Zimmern aus. Die Toilette war bald beendet: Wir trugen weißen Atlas mit Krepp und Schlüsselblumenkränze. Äußerst angenehm war, daß uns die Fahrt zu vieren erspart blieb und wir nur eine Treppe zu gehen brauchten, um in den herrlichen großen Saal zu kommen. Zuerst fanden wir uns etwas fremd in dem bunten Gewühl der Provinz, nach und nach traf man aber Bekannte oder Menschen mit Beziehungen. Da waren die

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lieben, netten Hagens, die sehr vertraut und liebenswürdig waren, die kleine Wartensleben, Itzenplitzens (Verwandte von Dohnas), Jagows, Schulenburgs und eine Fülle von Krosigks und Veltheims. Da sahen wir auch die bildschöne, liebreizende Sidonie Krosigk mit ihrem Bräutigam, Herrn von Kerssenbrock; die Freude und das Glück haben sie wieder zu ihrer ersten, ja einer idealeren Schönheit aufblühen machen; und dabei war sie liebreizend und liebenswürdig, sodaß ich ganz entzückt von ihr bin. Herren kannte ich kaum, nur Herrn von Tschirsky und Friedel Krosigk. Leider herrschte großer Herrenmangel; wir konnten uns freuen, vor dem ersten Walzer alles, ja noch eingeschobenes engagiert zu haben. Doch war der Anfang nicht flott und es wurde sehr geklagt, daß auf die Regimentsbälle keine Rücksicht genommen worden war. Das Souper war sehr nett. Mich führte der Vortänzer, Schulenburg, und saß ich an dem Krosigk-Veltheimschen Tisch, an dem Sidonie das Regiment führte. Wild war nur der Helmsdorfer Krosigk, der nach seines Vetters Monokel mit Flaschenkorken warf und albernes Zeug schwatzte. Noch unsympathischer ist mir seine Frau, eine geborene Kotze. Nach dem Souper wurde es flott und der Cotillon war sehr lustig und animiert. Mein Herr ödete mich zwar mit unglaublich dummer Unterhaltung: Er war einmal hier gewesen und fragte mich in einem zu, ob wir noch unseren Park, unseren Hof, unseren Kuhstall, unser schönes Schloß etc. hätten. Ich hatte Lust, zu sagen: „Denken Sie nur, ein Erdbeben hat alles verschlungen!“ Dann sprach er ewig von der „Blüte“ der Provinz Sachsen, bis mir ganz schwül wurde. Zum Glück hatte ich nicht viel bei ihm zu sitzen. Am anderen Morgen ließ ich mir eine alte Zahnwurzel ausreißen als Nachspiel des Balles und dann sausten wir Hals über Kopf auf die Bahn, um nach Oschersleben zu fahren. Wegnerns³⁶ hatten uns nämlich am Abend so dringend eingeladen, daß wir nicht widerstehen konnten. So blieben wir einen Tag bei ihnen und verlebten reizende Stunden. Fanny ist wirklich gut gebettet, verdient es aber auch. Das Landratsamt ist sehr groß, mit allem Luxus, Raumverschwendung: elektrischem Licht oder Gas, Wasserheizung, großen Souterrains etc. gebaut und sehr geschmackvoll eingerichtet. Martin war ein sehr liebenswürdiger Wirt und die fünf Kinder bildeten unsere ganze Wonne. Da war das 12jährige Luischen, aus Martins erster Ehe, der verständige Rudi, das feingliedrige, nette Annagretel, der lärmende, spaßhafte Hansel und das zarte, feine, goldhaarige Urselchen, ein zu netter, artiger Kinderkranz. Wir entschieden uns, nicht mit Wegnerns auf den Kürassierball nach Halberstadt zu gehen, da wir zu fremd dort, sondern fuhren am Freitagnachmittag ge-

36 Martin von Wegnern, Landrat im Landkreis Oschersleben (1855 – 1897), verheiratet in 2. Ehe mit Fanny Freiin von Stein zu Nord- und Ostheim, (1864 – 1941), Cousine ersten Grades von Hildegard.

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mütlich hierher zurück, sehr befriedigt von unserem ersten Ausflug. Der nächste wird Gera sein, nicht vielversprechend! Mittwoch, 17. Unser stilles Winterleben zu vieren hat begonnen. Der Vater reiste vorgestern zum ersten Mal auf einige Tage nach Berlin. Wir hielten den ersten Mädchenabend, der, trotzdem wir Mangelsdörfchen sehr vermißten, ganz gut verlief. Wir haben Flieder, Prunus, Hyazinthen, Alpenveilchen und Primeln im Zimmer, alles voller Blüte, eine wahre Pracht. Großmutter ist glücklich in Nervi gelandet, sitzt bei achtzehn Grad im Schatten am Strand und freut sich der blühenden Rosen und Orangen. Es wird mir ganz heiß bei der Erinnerung. 24. Januar Unsere zweite Ballfahrt, nach Gera, liegt hinter uns und war viel genußreicher als wir erwartet hatten. Am Freitag kam der Vater aus Berlin und brachte uns viele Grüße. Es ist ziemlich leer dort, da die Landwirte zum Teil zu schlechte Ernten machten und den Katholiken der Karneval zu kurz ist. Alle meine netten Bekannten: Arnims, Dohnas, Else Maltzahn, Hagens, Wartenslebens würde ich nicht treffen; wer weiß, ob es dann so nett würde? Am Montag also fuhren wir zum Geraer Hofball und stiegen im Hotel Frommater ab. Das Anziehen dauerte unendlich lang, da wir eine mittelmäßige Friseuse hatten. Als wir die Mitte des steilen Schloßbergs erreicht hatten, streikte unser Gaul auf einmal, der Kutscher leierte zuerst nicht an, der Wagen rollte langsam bergab, bis wir an dem äußeren eisernen Gitter festsaßen. Auf Vaters Brüllen und Klopfen erwiderte der harmlose Kutscher nur: „Bleiben Sie nur hübsch still sitzen!“ Es blieb uns bei dem Schmutz auch nichts anderes übrig, bis uns endlich ein Privatwagen aus Mitleid aufnahm und glücklich, zwar als die letzten, ins Schloß brachte. Der Ball war schön und gut geleitet: schöne Räume, gute Musik, viele Tänzer, 96er und Reserveoffiziere in Menge, ein reizender Cotillon mit vielen hübschen Sachen, kurz, alles, was zu einem flotten Ball gehört. Wir tanzten sehr viel, ich hatte das Souper mit dem netten Herrn von Strauch, der vom dritten Garderegiment nach Altenburg versetzt wurde, und unterhielt mich sehr gut. Erbprinzens waren beide reizend und gar nicht verlegen, unterhielten sich lange mit uns und zeichneten die Eltern sehr aus. Die Damen gehörten hauptsächlich der Geraer Protzia an, hatten schöne Toiletten und sprachen unverfälscht sächsisch. Heimchen Meysenbugk sah bildhübsch aus; nur hat sie leider einen gewissen kleinen, kleinstädtischen Ton, der mir gar nicht behagt. Es ist nicht schlechter Ton, sondern ein gewisses dummes Getue, besonders gegen die anderen Mädchen. Wir sahen auch einen Hauptmann Walter, der anno 80 bei uns im Quartier lag, wieder, doch fanden wir ihn zu geziert und

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lächerlich. Das Souper war hervorragend gut gekocht und schön angerichtet, und soll der Geraer Koch einer der besten in Deutschland sein. Der Ball war um zwei Uhr aus, doch kamen wir als die Letzten erst um drei Uhr fort. Da der Vater um fünf Uhr nach Berlin fuhr, legte er sich gar nicht hin. Wir reisten am anderen Morgen um ein Uhr zurück, bis auf die Wagenfrage von allem befriedigt. Ich hatte einen rechten Kater, sodaß es mir sauer ward, am Mädchenabend zwei Stunden vorzulesen. Sonntag, 28.1. Wir fuhren letzte Woche zweimal in die Nachbarschaft; einmal nach Lausnitz, wo es recht nett und lustig war. Hans-Georg macht sich jetzt recht nett; er ist zwar noch immer häßlich wie ein Äffchen, aber sehr klug und amüsant. Gestern gaben wir unseren Herzen einen Stoß und fuhren zu Irene; glücklicherweise war ihre nette Cousine Armgard da, sodaß wir uns ganz leidlich unterhielten. Die letzten Tage, der Geburtstag des Kaisers und der Tag vorher, waren Freudentage für das ganze deutsche Volk. Bot doch der Kaiser ganz aus eigener Initiative dem greisen Bismarck die Hand zur Versöhnung. Ehe irgendjemand etwas vorher wußte, ehe die Zeitungen Atem holen konnten, um in gewohnter taktloser Weise darüber herzufallen, schickte der Kaiser seinen Flügeladjutanten Graf Moltke mit altem Wein nach Friedrichsruh und ließ den Kanzler zu seinem Geburtstag zu sich einladen. Und er folgte der Einladung, des Trubels wegen am 26. Ganz Berlin stand Kopf; es war ein Jubel, ein Freudensturm im ganzen deutschen Land. Es wäre doch ein Schatten in Deutschlands Geschichte gewesen, wenn der Mann, dem es so viel verdankte, in Ungnade sein Leben beschlossen hätte; daß er jetzt mit solcher Begeisterung und Liebe wieder aufgenommen ward, wie wird es dem greisen Mann wohltun und wieviel Herzen wird es dem Kaiser gewinnen. Das Wort des im Groll scheidenden Bismarck: „Le roi me reverra“³⁷ hat sich nun erfüllt, aber schöner und besser, als irgendjemand zu hoffen wagte. Ein tröstlicher Anfang dieses so schwer erscheinenden Jahres. Ich glaube steif und fest, daß die Kaiserin die Versöhnung herbeiführte; es ist ihr zu ähnlich. Sonnabend, den 2ten Februar. Diese Woche verlief still bis auf ein Mittagessen in Könitz. Wir hatten uns gefreut, mit Reißens allein zu sein und trafen zu nicht geringem Schrecken Staatsrat Hollebens mit Fides und Eva. Diese Schmarotzer haben sich natürlich auf die reichen Reißens gestürzt, haben sich schon 3x zu Tisch angesagt und scheinen den Sohn, Dr. der Medizin, angeln zu wollen. Es wäre mit den gebildeten Reißens gewiß recht nett

37 Übersetzt: „Der König wird mich wiedersehen“.

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gewesen, aber Hollebens führten das große Wort, sodaß es wenig erquicklich war. Die Mädchen sind rassig, aber rüde und mauvais genre ³⁸ und passen gar nicht in die ärmlichen Verhältnisse, in denen sie leben. Wahrscheinlich, um aus denselben herauszukommen, hat sich Eva mit einem jungen böhmischen Fabrikanten verlobt, der sehr reich, aber in jeder anderen Beziehung sehr geringer Herkunft ist und in geistigen Interessen etc. tief unter ihr steht. Daß sie die Geldheirat macht, ist bedauerlich, wenn auch zu entschuldigen; im umgekehrten Fall ja jetzt ganz herkömmlich, daß arme Adlige reiche Fabrikantentöchter heiraten! Aber so unvorsichtig darüber reden sollte sie nicht; sie erzählte immerzu von ihrem künftigen Besitz, Pferden, Schmuck etc., sagte ganz offen, es wäre ihr fast eine Strafe, an ihren Bräutigam zu schreiben, sie fände sich lieber mit Karten ab und was der Unsinn mehr war. Es berührte mich zu unangenehm, daß sie ihren Verlobten und die Brautzeit gleichsam nur als Mittel einer reichen Existenz ansah! Gestern kam der Vater mit der Nachricht, daß Sara Scharlach hat und auf sechs Wochen von ihren Kindern getrennt sein muß; es tut mir zu leid! Mittwoch, den 7. Februar. Der letzte Hofball, der letzte Ball überhaupt, ist vorüber und ist viel schöner und glänzender gewesen als wir erwartet hatten. Ich habe mich wirklich ebenso gut wie in Berlin unterhalten und das will viel heißen. Also wir fuhren schon am Sonntagabend fort, warteten in Gera mit dem Major Sänger und zwei Offizieren in einem überheizten Wartesaal über eine Stunde, kamen um neun Uhr nach Altenburg in den Bairischen Hof, wo wir sehr eng, aber recht reinlich untergebracht waren. Am anderen Morgen kam Frau von Breitenbauch, uns zum Essen einzuladen. Dann machte ich mit dem Vater Besorgungen, wobei ich mir das winklige, altertümliche Städtchen ansah. Die Eltern machten Besuche, während wir mit Frieda ins berühmte Stift gingen, um Dorée Wurmb zu besuchen. Wir blieben auf einem kolossalen Korridor, der sehr groß und breit, aber leider recht duster ist, dem Hauptaufenthalt der Mädchen, auf dem sie zu zweien und dreien, zärtlich umschlungen, lustwandelten. Dorée schien sehr erfreut, obwohl bei unserem Anblick das Heimweh über sie kam; doch war sie sehr tapfer und nett! Bei Breitenbauchs war Wolf und eine Frl. von Münchhausen, ein bildschönes, reizendes, sanftes Geschöpf, die uns allen ausnehmend gut gefiel. Allzulange konnten wir nicht bleiben, da wir sehr früh mit Anziehen begannen, die Friseuse war entsetzlich ungeschickt, sodaß es langsam vonstatten ging. Der Ball war glänzend und großartig, ganz Berliner Maßstab: Sehr viele elegante Tänzer, besonders Sachsen, sehr elegante Toiletten, viele nette Mädchen etc.

38 Unfein.

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Wir tanzten sehr viel, besonders mit Merseburger Husaren, einem bairischen Herrn von Bassus, Herrn von Rosenberg, Strauch, Beaulieu u.s.w. Souper mit dem guten d’Haussonville und Cotillon mit Herrn von Bessel waren beide reizend; ich bekam zehn Sträuße und tanzte kolossal viel. Wunderhübsch waren Frieda Breitenbauch, Mense Münchhausen, ein Frl. von Liebenau, Frau von Waldow etc. Die Prinzeß sieht sehr hübsch und fürstlich aus, schwatzt wie ein Wasserfall und ist sehr liebenswürdig und lustig. Leider wird sie von ihrer Mutter so schlecht behandelt, daß sie ein recht trübes Dasein hat. Um drei kamen wir ca. ins Hotel, um halb fünf war die Mutter mit Packen von Vaters Uniform u. a. fertig und löschte das Licht aus, um sechs Uhr wurden wir geweckt, weil Vater um sieben nach Berlin reiste und Sabine zum Zahnarzt mitnahm. Wir konnten auch nicht mehr schlafen, packten und fuhren um 10 Uhr fort. Die Reise mit Herwarths aus Gera und einem Hauptmann von Weller mit Frau war ganz lustig, aber das Auspacken und zuletzt der Mädchenabend ging über meine Kräfte. Ich hatte einen Kater von zwei Tagen. Sonntag, 11.2. Unsere Reisepläne gestalten sich jetzt anders: Wir werden wohl morgen in acht Tagen reisen, Mutter mit Sabine zu Professor Leube nach Würzburg, ich direkt nach Lauchröden, wo ich ca. 14 Tage bleiben werde. Ich freue mich natürlich unsinnig. Gegenwärtig ist Dorothee Trautvetter hier; sie ist, glaube ich, ein gutes, treuherziges Ding, ein nettes Gemisch vom stillen Vater und der lebendigen Mutter. Sabine, das arme Wurm, hat so viel an ihren Zähnen zu tun, daß sie erst Mittwoch zurückkommen kann. Sonntag, 18. Februar 1894. Diese letzte Woche war recht nett und gemütlich. Das Zusammenleben mit der netten, frischen Dorothee war recht behaglich und lustig. Am Mittwoch kam Sabine aus Berlin, trotz der Schinderei beim Zahnarzt recht frisch und lustig. Sie war bei der lieben Else Gerlach, geb. Maltzahn gewesen und hatte deren reizendes, elegantes Heim à fond ³⁹ besehen. Am Donnerstag fuhren Sabine, Dorothee und ich nach Ziegenrück, aufs Neue entzückt von der stillen, winterlichen Pracht des reizenden Städtchens. Wir wollten Frl. von Gerlach, die bei ihrem Bruder zu Besuch ist, besuchen und platzten gerade ins Missionsnähen herein. Zuerst saßen wir mit Frl. von Gerlach gemütlich beim Kaffee, dann begaben wir uns in den Damenkreis und strickten Socken. Bald kam der Pastor und las einen langweiligen Jahresbericht der Berliner Mission, ein Langes

39 Gründlich.

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und Breites über ein Deficit etc. etc. Dazu unterbrach er sich in jedem Satz und machte Erläuterungen, Erklärungen dazwischen, sodaß man immer den Faden verlor. Warum las er nicht eine Geschichte, die die Frauen interessiert hätte, als so ein unverständliches Zeug. Um 5 Uhr mußten wir fort, besuchten Amma in ihrem netten Stübchen und fuhren dann bei anbrechender Dunkelheit nach Haus. Leider nahmen wir die Gewißheit mit, daß Gerlachs die reizende Else nicht genügend zu schätzen wissen. Ich weiß kaum eine Familie, die sich nicht über solch ein Juwel gefreut hätte, und sie sprechen ziemlich kühl von ihr, tadeln die elegante Einrichtung, halten sie für untüchtig, weil sie nicht mit dem Schlüsselbund rasselt u.s.f. Wir brachen einige Lanzen für sie. Freitag brachten wir Dorothee nach Rudolstadt und verlebten einen sehr netten Tag, zum ersten Mal ohne Gehetze, dort. Auf dem Bahnhof von Onkel, Tante, Roderich, Anni und Madeleine feierlich eingeholt, gingen wir zunächst zu Trautvetters, wo wir unter viel Erzählen und Lachen ein Frühstück einnahmen. Dann gingen wir aufs Schloß, genossen den herrlichen, sonnigen Blick von oben und wickelten unsere beiden Audienzen glücklich ab. Bei Prinzeß Adolf war es nicht heiter, wir drei unterhielten uns und sie nach Kräften, Prinzessin Thekla sah infolge einer vegetarianischen Kur wie ein Gerippe aus und war wie geistesabwesend.Viel netter war es bei der Fürstin, bei der wir zum ersten Mal waren. Sie ist hübsch gewachsen, aber sehr häßlich von Zügen; schöner Teint, hübsches Haar und prachtvolle, klare, graue Augen, auch ein gewisser Charme lassen sie dennoch sehr anziehend erscheinen. Sie war sehr liebenswürdig und sympathisch in der Unterhaltung. Um zwei aßen wir gemütlich ohne Umstände bei Beulwitzens. Roderich sieht viel besser aus und geht auch wieder aus. Ein Stündchen blieben wir bei Anni und gingen dann zurück zu Beulwitzens, wo uns zu Ehren Imhoffs, Trautvetters und Landrats geladen waren. Wir machten Spiele und amüsierten uns herrlich. Es war wirklich sehr nett und sind wir erleichtert, alles so gut abgemacht zu haben. Gestern packten wir, wurden aber durch Frau von Wurmb mit Töchtern unterbrochen. Morgen um 9 Uhr dampfe ich unter eines Mädchens Schutz nach Lauchröden ab; am Mittag die Mutter mit Sabine nach Würzburg, von wo sie sobald als möglich nachkommen wollen. Lauchröden, Mittwoch, 21.2.94 Glücklich im trauten Heim der Geschwister angelangt, will ich meine nicht sehr interessante Reise beschreiben, ehe sie durch andere Eindrücke verwischt wird. Ich dampfte mit Sophie ab, füllte die zwei Stunden in Göschwitz mit Essen und Lesen und kam nach ewigem Umsteigen wohlbehalten in Hörschel an, wo mich Hermann mit jungen Pferden selbst abholte. Das Wiedersehen mit der guten Mag war herr-

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lich. Rührend und lächerlich zugleich war es, wie die riesige Emilie und die kleine dicke Sophie sich in die Arme sanken. Emilie bekam vor Freude fast Lachkrämpfe. Gestern lockte uns der helle Sonnenschein, der auf dem weißen Schnee glitzerte, zu einer Fahrt nach Eisenach. Wir fürchteten, zu spät zu kommen und liefen im Sturmschritt gegen einen schneidenden Ostwind ankämpfend, bis Herleshausen, wo wir noch zehn Minuten warten mußten. In Eisenach machten wir mit Erfolg Besorgungen, besuchten Krafts und wollten dann Frau von der Tann, geb. von Groß besuchen. Da wir ein leeres Nest fanden, stiegen wir auf den Pflugensberg hinauf und verbrachten einige gemütliche Stunden bei Eichels. Frau von Eichel war reizend herzlich und nett und die Tochter Hedwig, ein Stiftskind, gefällt mir recht gut. Wir blieben zum Thee und wurden dann fein im geschlossenen Wagen nach dem Bahnhof gefahren. Der Gang von Herleshausen durch die helle, klare Winternacht war sehr wohltuend. Der Vollmond spiegelte sich in der Werra und die beschneite Brandenburg trat groß und hehr aus den umgebenden Thalnebeln hervor, als wir über die weite, weiße Fläche schweigend den friedlichen Lichtern von Lauchröden zuschritten. Sonnabend, 24.2. Heute kommt zu unserer großen Freude die Mutter mit Sabine zurück, ein Beweis hoffentlich, daß eine Kur nicht nötig ist. Wir sind gespannt, Näheres zu hören. In den letzten Tagen haben wir so vergnügt und friedlich zusammen gelebt, ohne etwas Besonderes zu unternehmen. Wir machten trotz Schmutz und Schnee einige herrliche Spaziergänge auf die Berge und sahen das Tal in den herrlichsten, sonnigsten Beleuchtungen. Am Donnerstag kamen Schlotheims, Mann, Frau und Tochter, zum Kaffee und Abendbrot. Er ist ein gutmütiger, sehr gesprächiger Bon-vivant, sie: eine noch schöne, sehr weibliche, vornehme und sympathische Frau; das Töchterlein scheint mir noch sehr jung und ein wenig dümmlich zu sein. Jedenfalls waren sie sehr gemütlich und unterhaltend. Mittwoch, 28.2. Mutter und Sabine langten glücklich hier an. Die Tage in Würzburg, wo Sabinens Magen ausgepumpt und sondiert ward, sollen höchst ungemütlich gewesen sein, sehr nett dagegen ein Tag in Meiningen bei Butlers und Edda. Sabinens Magen soll ganz gesund sein und da wir nun wissen, daß alle Organe, kurz, alles normal ist, so sind wir doch sehr beruhigt. Nach Wernburg zurückgekehrt, wird eine Kur mit strenger Diät begonnen, die doch endlich etwas nützen wird. Am Montag fuhren wir reich beladen nach Neuenhof zum Geburtstag der Hausfrau. Es war ein sehr friedliches, harmonisches Fest trotz der vielen Menschen. Zu Tisch waren Boyneburgk und Linchen, Pfarrers mit zwei jungen Mädchen und eine Gräfin Marie Bernstorff, ein wirklich reizendes junges Mädchen da. Am Nachmittag kamen noch Tanns und Wilhelm Finkenstein, sodaß wir einen großen

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Kreis bildeten. Mit Linchen und Gräfin Bernstorff machte ich einen sehr lustigen Spaziergang, der uns allen sehr gut that. Man wird zu müde, wenn man den ganzen Tag zusammensitzt. Linchen ist viel hübscher und stattlicher geworden, sonst ganz die Alte. Frau von der Tann, von der ich schon viel gehört, gefällt mir sehr gut. Sie ist nicht hübsch, aber gescheit und liebenswürdig und wird sicher ein netter Umgang für Margarethe. Die alten Neuenhöfer waren wieder einzig; der Toast, den er auf seine Frau hielt, war schlicht und rührend. Überhaupt sind sie wirklich Menschen, die eher im Himmel als auf der Erde zu leben scheinen und die auch einen Frieden um sich verbreiten, wie ich ihn noch nirgends empfunden habe. Sonntag, 4. März. Hier ist wirklich ein viel bewegteres Leben als bei uns; fast von jedem Tag ist etwas zu berichten. Am Mittwoch war Marie Bernstorff den ganzen Tag hier, sodaß wir sie etwas besser kennenlernten. Sie scheint ein reizendes, liebes Geschöpf zu sein und wird auch in der ganzen Familie vergöttert. Am Donnerstagabend waren wir in Neuenhof, wo wir sie wieder sahen. Das köstlichste Frühlingswetter mit Starengezwitscher und Lerchenjubel verlockte uns zu einigen herrlichen Spaziergängen. Die Laubwälder sind noch kahl, natürlich, aber die im Sonnenschein glitzernde Werra belebt das ganze Tal. Am Freitag kamen die Neuenhöfer und Boyneburgks zum Kaffee. Linchen ist eine ganz reizende Frau geworden und wird ihren etwas menschenscheuen Max schon noch etwas herziehen. Gestern kam Frau von Eichel vom Pflugensberg mit ihrer Hedwig. Letztere hat sich ganz fabelhaft seit letztem Jahr verändert. Als ich sie früher sah, war sie noch wie ein Baby, tat den Mund nicht auf und saß verlegen auf der Stuhlkante, jetzt ist sie eine erwachsene junge Dame, macht nett Conversation etc. Nächstens werden wir wohl nach Eisenach gehen und sie wieder besuchen. Leider hat die Mutter rechtes Zahnweh, vermutlich eine Knochenhautentzündung, die, wenn sie zunimmt, den Aufenthalt recht verderben kann. Es ist wirklich recht schade. Heute kamen Azaleen, Cinerarien u.s.w. aus Wernburg, worüber Mag ganz selig ist. Sie liebt Blumen über alles und hat einen reizenden, reichhaltigen Tisch in ihrem Zimmer. Freitag, 9. März. Nachdem einige Tage das scheußlichste Matschwetter war, Regen und Wind um das Haus tobten, lachte heute der herrlichste Sonnenschein, sodaß wir die Eisenacher Fahrt nicht länger verschieben wollten. Leider telegraphierten Eichels, daß sie nicht zu Hause wären und da Hermann des Dreschens wegen nicht abkömmlich war, gaben wir den Plan auf und fuhren im warmen Sonnenschein nach Neuenhof. Margarethe und ich waren ganz ausgelassen über das herrliche Wetter, freuten uns über jede schwellende Knospe und jeden Finkenschlag wie die Kinder. Wir fuhren in den reizenden Neuenhöfer Grund, wo es aber sonnenlos und kalt war. Hoffentlich hat sich Sabine nicht dabei wieder erkältet; sie ist doch noch

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recht schnupfig. In dieser Woche haben wir überhaupt viel Fahrten gemacht, meist nach Neuenhof, um uns nach dem Befinden des Neuenhöfers zu erkundigen. Er hat, wie es scheint, Influenza und kann sich nur langsam erholen. Am Sonntag waren wir in Neuenhof mit dem sehr angenehmen Doctor Brauns und Friedel Rotenhan aus Buchwald zusammen. Letzteren nahmen wir zum Abendbrot mit nach Lauchröden und ließen uns etwas von Berlin erzählen. In Neuenhof hatten wir noch einen letzten gemütlichen Schwatz mit Marie Bernstorff, die ich für die kurze Dauer unserer Bekanntschaft wirklich sehr lieb gewonnen habe. Sie scheint ein seltenes Geschöpf zu sein! Dienstag machten wir einen richtigen Kaffeebesuch bei Boyneburgks und besahen uns das reizende Haus von oben bis unten. Es ist geräumig, gemütlich und wunderhübsch eingerichtet, sodaß das liebe Linchen wirklich aufs Beste gebettet ist. Sie machte eine reizende Hausfrau und auch er war gesprächiger und liebenswürdig. Ich habe den Eindruck, daß sie sehr glücklich zusammen sind! Mittwoch waren wir schon wieder auf Kaffeevisite und zwar im Pfarrhaus. Die kleine Frau ist reizend, gebildet, angenehm, sicher und – taktvoll. Dies halte ich für die Hauptsache im Verkehr mit Rotenhans. Margarethe ist intim mit ihr, verkehrt mit ihr ohne alle Umstände, ohne befürchten zu müssen, daß Pfarrers die Höflichkeit und gewisse Schranken der Zurückhaltung vergessen. – Palmers in Neuenhof z. B. haben die große Güte der alten Rotenhans und die Verwöhnung nicht sehr gut vertragen und erlauben sich zuweilen ganz ungehörige Dinge. Gestern Abend waren Wölbings, die Besitzer der Herda’schen Güter zum Abendbrot eingeladen. Wölbing war Rentmeister, ein einfacher, armer Mann und ist durch den letzten Willen des verdrehten Herrn von Herda in den großen Besitz aller dieser Güter gekommen. Der Alte hat diesen Glückswechsel am besten ertragen; er ist der einfache, schlichte Mensch, der er war, geblieben, weniger gefielen uns seine Kinder: ein blasierter, verlegener Bierstudent und eine Tochter, die in einer sogenannten „feinen“ Pension war und entsetzlich affektierte Manieren hat. Ohne dieselben machte sie einen ganz klugen Eindruck und sprach ganz vernünftig. Jedenfalls war dieser Besuch, der sich bis zehn Uhr ausdehnte, ein mäßiger Genuß. Heute erhielten wir die offizielle Einladung nach Wehrda⁴⁰ zur Hochzeit. Sophie schickte mir ein reizendes Brautbild und forderte mich auf, ihre Brautjungfer zu

40 Besitz von Fritz Freiherrn Stein von Nord- und Ostheim, Ehemann von Anna, geb. Freiin von Erffa, der älteren Schwester von Hildegards Vater.

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sein. Ich bin so vergnügt darüber, denn von Margarethens Hochzeit hatte ich neben Trennungsschmerz und Haustochtersorgen wenig Platz zum Vergnügen übrig. Montag, 12.3. Am Sonnabend sollte das langversprochene Lauchröder Diner stattfinden. Boyneburgks zu dreien, Tanns, Dobschützens, Finkenstein und Hans Breitenbauch waren dazu eingeladen, sodaß wir vierzehn Personen gewesen wären, für Lauchrödens Platzverhältnisse ein Völkerfest. Die Mutter spendierte einen kolossalen Hecht, Hermann redete vom Ausräumen des Schlafzimmers, aber – oh Pech! Sämtliche Gäste sagten nacheinander ab, sodaß wir ganz allein, nur mit Hans Breitenbauch unser feines Essen selbst aßen. Jedenfalls war es riesig gemütlich und lustig und schmeckte uns allen vortrefflich. Hermann muß sich beim Dreschen erkältet haben; er fuhr gestern früh mit Halsschmerzen nach Weimar zum Bund der Landwirte und holte uns gestern Abend in Neuenhof halbtot vor Müdigkeit ab. Er war so kaputt und deprimiert, sah auch so entsetzlich elend aus, daß ich einen furchtbaren Schrecken bekam. Auch Sabine liegt ziemlich influenza-elend zu Bett; es ist das reine Lazarett gewesen. Mutter schlief einmal in Neuenhof, um Frau von Rotenhan recht zu genießen, kam aber heut Mittag zurück. Hermann Eichel war mit seiner jungen Frau Hanna, geb. von Harnier, zu Tisch hier und Hermann sowohl als Sabine hatten sich soweit herausgerappelt, sie zu genießen. Hanna ist wirklich bildschön und sieht als Frau noch schöner aus wie als Mädchen. Sie hat viel mehr Ausdruck bekommen und war viel lebendiger als vorigen Winter. Er scheint auch ein netter Mensch zu sein! Morgen wollen wir, so Gott will, abreisen; alles ist gepackt; fast drei Wochen war ich hier: drei schöne, friedliche, herrliche Wochen! Donnerstag, 15.3. Wernburg Nach ermüdender Reise langten wir Dienstagabend hier an. Unsere guten Leute hatten uns wirklich einen zu netten Empfang bereitet. Die Türe war bekränzt, alles schön durchwärmt, ein gutes Abendessen stand auf dem Tisch und, als zarteste Attention: Müffle war frisch gewaschen und weiß wie eine Schneeflocke! Rudi empfing uns strahlend auf der Bahn, um gleich mit uns nach Wernburg überzusiedeln. Der Abschied von Lauchröden war schwer, weil wir uns alle um Hermanns Gesundheit sorgen. Margarethe ging mit uns nach Eisenach, wo wir die Zeit zwischen den beiden Zügen zu einem Besuch bei Frau von Stockhausen nutzten. Sie ist eine Jugendbekannte der Mutter und von einer ganz fabelhaften Gesprächigkeit; dabei aber gescheit und angenehm. Montag, 19.3. Die schönen Osterferien haben begonnen: Am Freitag kam der Vater aus Berlin und die Brüder aus Roßleben, Jörge als Oberprimaner und Inspektor,

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Burkhart als stolzer Untersekundaner. Rudilein ist nach Untertertia versetzt, sodaß der Jubel ohne irgendeinen Mißklang war. Es ist wirklich zu hübsch, daß die Brüder so gut lernen; wenn man sieht, wie so viele Menschen, z. B. die armen Breitenbauchs in Ranis, mit der Versetzung ihrer Söhne Not und Unkosten haben, so kann man Gott wirklich nur für das Glück danken. Wer weiß aber, ob Rudi es ebenso machen wird. Untertags hat man ja wenig genug von den Brüdern, aber wie lustig sind die Mahlzeiten, wie gemütlich die Abende im großen Kreis! Gestern war Konfirmation hier, doch glich die Feier eher einer Leichenfeier. Für den Superintendenten war es ja unsagbar schwer, die Altersgenossen und Freundinnen seiner Else einzusegnen, wo sie im Kreise fehlte, aber trotzdem tat es mir leid, daß er seinem Schmerz so den Lauf ließ, sodaß die Konfirmanden nur diese tieftraurige Erinnerung an ihre Konfirmation mitnehmen konnten. In diesem Fall müßte doch wohl der Vater in ihm dem Seelsorger weichen. Das Gefühl konnte ihn wohl beim Anblick der Kinder übermannen, aber er hätte die Predigt doch nicht als Gedächtnisrede der Verstorbenen, sondern als Lebensbrot für die Lebenden, die Kinder, machen müssen. Donnerstag, 29.3. Eine Augenentzündung hinderte mich bis jetzt am Schreiben. Ich hätte nie gedacht, daß man sich, ohne die Augen in Anspruch zu nehmen, so schlecht beschäftigen kann. Ich fühlte mich ohne lesen, brennen, schreiben, handarbeiten und ausgehen zu dürfen, schrecklich unnütz. Blinde schaffen sich ja Beschäftigung, aber die Gefangenen, die Lahmen, die die Qual jahrelang empfinden! Am meisten sind im Grund doch die zu bedauern, die allein im Müßiggang Befriedigung finden und darin untergehen. Die Karwoche verlebten wir natürlich still, da wir am Gründonnerstag zum Heiligen Abendmahl gingen. Es war das erste Mal, daß Jörge mit uns hier ging und uns allen besonders schön und feierlich. Die Brüder bauten sich eine Krähenhütte und richteten den Tennisplatz her und selbst der gute kindliche Jörge karrte seelenvergnügt stundenlang Sand. Burkhart hat eine Wunde am Bein, die ihm ein thörichter Primaner mit der eisenbeschlagenen Spitze seines Stockes beibrachte. Daß so etwas aus Versehen passieren kann, ist ja wahr, aber daß der Betreffende sich kaum entschuldigte und Burkhart nie auf der Krankenstube besuchte, ist doch zum mindesten herzlos. Burkhart bekam vier Nadeln und lag so und so lang, gerade vor der Versetzung, auf der Krankenstube. Wir brannten recht eifrig an einer Tischplatte für Sophie Stein. Nebenbei dichtete ich auch die Aufführung für die Hochzeit, wir wollen beide als Maikäfer kommen, mit großen beweglichen Flügeln und dem Brautpaar die Gaben des Mai, ein vierblättriges Kleeblatt und einen Strauß Waldmeister bringen. Wir lesen jetzt

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alle Abende eine Weltreisebeschreibung von Herrn von Korff, derselbe ist letztes Jahr nach Chicago zur Weltausstellung und von da um die Erde gereist und hat sein Reisetagebuch für seine Bekannten drucken und reizend binden und ausstatten lassen. Er schenkte es neulich dem Vater, den er vom Casino her kennt. So sind wir sehr billig zu dem schönen, vierbändigen, ausgezeichnet geschriebenen Werk gelangt und haben den ersten Band, „Amerika“, schon beendet. Am Ostersonntag versteckten wir den großen Brüdern noch Eier. Am Montag fuhren wir nach Nimritz und verlebten einen höchst ungemütlichen Nachmittag dort. Es ist wohl das letzte Mal, daß wir dies Haus betraten. Die unglückseligen Leute wollen sich nun im Jahr der silbernen Hochzeit scheiden lassen. Wenn sie vor zehn Jahren, um den brutalen Behandlungen ihres Mannes zu entgehen, diesen Schritt getan hätte, würde man sie bedauert haben. Aber jetzt, wo sie eine erwachsene Tochter hat, ihre fünf Kinder zu verlassen aus Liebe zu dem elenden Hardenberg,⁴¹ ist doch abscheulich, gräßlich. In vierzehn Tagen soll sie fortgehen, wie wir gestern erfuhren. Hätten wir das geahnt, als wir dort waren! Er war sehr liebenswürdig und alles machte den Eindruck einer fröhlichen Familie. Die Eltern spielten mit dem Kleinsten, Henning, Mia war vergnügt und nett – und dabei in den Herzen solches Elend, Jammer und Schande. – Mia thut mir unsagbar leid; sie soll ihre Mutter angefleht haben, bei ihnen zu bleiben und macht sicher furchtbar durch. Was soll nur werden? Die Leute auf der Straße deuten mit Fingern auf Beusts, es wird hier einen Skandal geben, wie er nie war und hoffentlich nie, nie sein wird! Am Dienstag kam Onkel Beulwitz und wurde gestern von der Tante und Tity abgeholt. Es war ein netter gemütlicher Besuch. Tity ist in dem unglücklichsten Alter: Ein großer, täppischer, ungeleckter Schlacks, der sich wie ein Schnappmesser hält, jedes Möbel anrumpelt, auf jedes Hühnerauge tritt und gar nicht weiß, was sie mit den langen Armen anfangen soll. Es wird sich aber wohl geben! Montag, 2ten April Die letzten Tage mit den Brüdern waren so nett. Der Mangel an jagdbaren Tieren verschaffte uns ihre Gesellschaft viel öfter als in den anderen Ferien, sodaß der Abschied uns schwer wurde. Frau König mit Töchtern platzte gerade herein, sodaß wir die Zeit zum Nachdenken gar nicht hatten und über die Abreise unbemerkt wegkamen.

41 Georg Anton Freiherr von Hardenberg (1858 – 1932), heiratete nach deren Scheidung 1895 am 1.5. 1896 die acht Jahre ältere Armgard Freifrau von Beust (1850 – 1925).

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Das herrlichste Frühlingswetter lockt uns draußen; wenn nur mit der Sommerwärme nicht auch die Sommersorgen wegen der Trockenheit, des Wassermangels und der Saat gleich begännen! Alles ist blau von Veilchen; wir legten uns hinein, möchte ich fast sagen, pflückten und rochen uns nicht satt an dem warmen, herrlichen Duft. Jedes Jahr freut man sich doch mehr über den Frühling, über die Wärme und Sonne! Ja, man wird alt! Sonntag, 8.4.94 Wir sind wieder allein, da Vater nach Berlin zurückkehrte. Wir waren von Meysenbugks zu einem Ball eingeladen, lehnten aber ab. Sabine hat infolge ihres Mehressens viele Kopfschmerzen und mir fehlte jegliche Lust. Dafür werden Mutter und ich morgen nach Gera gehen und Besorgungen machen und Meysenbugks aufsuchen. – Gestern waren wir in Gräfendorf, um nachträglich zu Elfriedens Konfirmation zu gratulieren. Sie ist jetzt von der Pension zurückgekehrt, recht munter und natürlich, aber wie die Mutter, ein rechter kleiner Drachen. Der alte Graul ist entschieden das angenehmste Element in Gräfendorf, denn Schimmelschmidt ist uns wenig sympathisch. Im Grunde noch der grobe Bauer, hat er sich Bildung und Schliff zugelegt und sieht nun auf seine Familie und Bekannten herunter. Donnerstag, 12.4. Eben holten wir Vater an der Bahn ab; es ist zu nett, daß er so oft kommt. Mutter ist seit Dienstag in Rudolstadt bei Trautvetters, um sich mit Frau Trautvetter einmal recht auszusprechen, ohne durch die übrigen, zum Teil langweiligen Rudolstädter gestört zu werden. Vater nennt dies „ihre geistliche Frühjahrskur“! In Gera kauften wir mit Glück ein und gingen dann auf den schönen, grün umwachsenen Osterstein. Frau von Meysenbugk war noch so begeistert von ihrem eigenen Ball, daß sie zwei Stunden lang davon schwärmte. Heimchen war schöner als je und war auch recht gesprächig. Leider ist sie durch den Einfluß der Mutter und durch den schlechten Ton der Geraer Gesellschaft nicht so vornehm und unbefangen, wie wir es wünschten. Sie erzählte mir von ihrer Schwärmerei für den Schauspieler Matkowsky, von dem sie eine Unmasse Photographien besitzt, den sie bis vor kurzem anbetete, bis sie jetzt hörte, was er für ein ordinärer, sittenloser Mensch ist. Solche dummen, kleinstädtischen Backfischschwärmereien sind mir ein Graus; bei adligen Mädchen ärgern sie mich besonders. Die Rückfahrt war nicht angenehm; ich hatte entsetzliches Magendrücken, da ich in einen leeren Magen Schlagsahnschokolade, Forelle, Hummermayonnaise und Bier gefüllt hatte und der Schnellzug erbärmlich stieß. Sabine und ich sind in den letzten Tagen sehr fleißig gewesen und haben zu Sophies Hochzeit an unseren Costümen gekleistert, genäht und gebastelt. Unser

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Geschenk, ein Tischchen, bestehend aus gewundenem, bronzierten Korbgeflechtfuß und gemalter, bronzierter und gebrannter Holzplatte ist ganz reizend ausgefallen und macht uns große Freude. Superintendents luden uns zum Abendbrot, das leider viel zu opulent mit Lachs- und Caviarsemmeln, Compotts etc. beschaffen war. Auch war die arme Frau in fieberhafter Aufregung, aß kaum einen Bissen und bot uns unausgesetzt an, sodaß eine Conversation nicht zustande kam. Es ist zu lächerlich, wenn man bedenkt, daß diese Umstände für zwei so anspruchslose Wesen wie Sabine und mich waren. Der Abend war dann höchst natürlich und gemütlich. Sabine hat unheimliches Glück gehabt: Gestern verlor sie auf dem Fußsteig ihre goldene Uhrkette, merkte es aber erst beim Zubettgehen. Am anderen Tag ging sie um 10 Uhr erst zum Suchen und fand die lange, blitzende Kette mitten auf dem Weg, wo sie dieselbe gestern um ein Uhr verloren hatte. Sowohl am Abend als am Morgen sind Hunderte von Arbeitern darüber gegangen, ohne sie zu sehen. Das nenne ich Dusel! Sonntag, 22.4. Die Wellen der Sommerschneiderei schlugen über unseren Häuptern zusammen. Drei Schneiderinnen rasselten im Nebenzimmer, während wir Handlangerdienste thaten durch Hakenannähen, Säumen etc., oder als Haubenstock dienten. Da war es eine doppelte Erfrischung, daß Tante Sophie Künßberg mit Mathilde am Freitag zu Besuch kam. Die Tante ist sehr unbedeutend und daß sie die geistvolle Frau spielen will, verschlimmert die Sache wesentlich. Es ist die Unterhaltung mit ihr entsetzlich ermüdend, da sie sich und allen in einem fort widerspricht, von nichts ein klares Urteil hat und doch über alles eines abgeben möchte. Mathilde hat eine himmlische Geduld, ist ruhig, energisch, klar und bestimmt, ein wohltuender Kontrast. Die dumme Verlobung mit Gotthard hat sie wohl überwunden, (obwohl sie sie nicht so vollständig vergessen kann wie er), aber trotzdem ist sie früh gealtert und hat das bittere Gefühl, die schönste Zeit ihres Lebens vertrauert, versorgt zu haben, weil Gotthard egoistisch sie zur Verlobung drängte und ihre Mutter schwach und unklar wie gewöhnlich war! Wohl hat sie ihn geliebt, aber diese Liebe konnte ihr, da sie nicht ebenso erwidert wurde und zu Haus unterdrückt wurde, keine Befriedigung geben. Wenn sie doch heiratete und neue Liebe die alte ersetzte! Eben reisten Künßbergs ab: Illa ist ein liebes Ding und gefiel uns sehr gut! Endlich kam erquickender Regen in Folge des ersten Gewitters. Wir telegraphierten vor Freude an den Vater, der ganz wehmütig über die Trockenheit schrieb. Gestern verlobte sich Pastor Gerlach mit einer Frl. von Treskow. Ich freue mich sehr darüber, teils, weil ihm der Einfluß einer Frau sehr gut thun wird, teils weil die liebenswürdigen Nachbarn mich doch über kurz oder lang mit ihm ins Gerede gebracht hätten, wie sie es schon mit Margarethe thaten!

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Sonnabend, 28.4. Diese Woche ist, so sehr ich mich besinnen mag, nichts Aufzeichnenswertes passiert; am Freitag machten Mutter und ich einen Besuch bei Dédiés, die jetzt wieder beide Töchter zu Haus haben. Ich unterhielt mich nicht, da mir Hannchen mit ihrem billigen, scharfen und blasierten Urteil höchst unangenehm ist! Montag, 30. April. Übermorgen früh gedenken wir unsere Reise anzutreten. Wir fahren mit dem Vater, der morgen Abend kommt, nach Wehrda, von wo ich auf vierzehn Tage zu Sara nach Berlin darf. Ich freue mich riesig, obwohl die Sache noch unsicher ist: Onkel Axel ist noch ihr Gast und die Buben haben Windpocken. Vielleicht bleibe ich auch einige Tage in Wehrda, das wird sich finden, obwohl diese Ungewißheit nicht gerade angenehm ist. Gestern erhielt ich eine Nachricht, die mich sehr erfreute: Daß sich Asta Kurowsky mit einem Grafen Eickstedt (Gardes du Corps ⁴² und reicher Majoratsbesitzer in Pommern), verlobt hat. Für sie ist es gewiß gut, denn ihre Schrullen und ihr burschikoses Wesen hätte sich mit den Jahren gewiß gesteigert und wäre unangenehm geworden, während sie mit einem guten Mann ganz verständig werden kann. Ich freue mich, sie als Braut zu sehen! 12. Mai Berlin ist richtig ins Wasser gefallen, wenn es sich auch im Juni vielleicht nachholen läßt. Saras Buben haben die Windpocken und ist sie infolgedessen vollständig von der übrigen menschlichen Gesellschaft getrennt; ihre Bekannten grüßen sie nicht mehr auf der Straße. Daher blieb ich auch nicht länger in Wehrda, sondern kehrte am Dienstag mit Mutter und Sabine zurück. Sophies⁴³ Hochzeit war eins der schönsten, harmonischsten Feste, die man sich denken kann, eines der Ereignisse, die in der Erinnerung stets als goldene Punkte fortleuchten. Ich will mich bemühen, alle Details recht genau zu schildern, damit aus vielen kleinen Strichen ein klares Bild entstehe. Vater kam am Dienstagabend, machte einen Gang über die Fluren und trat am Mittwoch früh mit uns die „Hochzeitsreise“ an. Sie war öde, kalt und ungemütlich. Die ewigen Aufenthalte und das unbewohnte Lauchröden, an dem wir vorbeisausten, stimmte uns trübe. In Bebra trafen wir Siegmund und etliche Dalwigk’sche Verwandte: den Vater des Bräutigams, Hofmarschall von Oldenburg a. D. mit ältli-

42 Als vornehmstes Regiment der preußischen Armee geltendes Kürassierregiment. 43 Sophie Freiin Stein von Nord-und Ostheim, (1868 – 1937), Cousine ersten Grades von Hildegard heiratete Alexander Freiherr Dalwigk von Lichtenfels (1860 – 1941).

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cher, brummiger Tochter und zwei Söhnen, ein netter alter General Wachholz aus Braunschweig und eine Frau von Egloffstein. Die ersten gezwungenen Anknüpfungsversuche waren recht lächerlich; Siegmund kannte auch niemand, stellte aber auf gut Glück vor,Vater hielt Frl. von Dalwigk ihrem Anzug nach für die Jungfer und ließ sich nicht vorstellen; da wir aber alle in Feststimmung waren, ging es nach einigem gegenseitigen Beschnuppern ganz gut. In Neukirchen vom Bräutigam empfangen, fuhren wir in vier Wagen nach Wehrda, das sich, von blühenden Bäumen umgeben, mit Birken geschmückt, sehr hübsch als Hochzeitshaus präsentierte. Tante Anna⁴⁴ hatte ich mir nicht so frisch und hübsch vorgestellt und bin ganz entzückt von ihr. Wegnerns waren mit fünf Würmern da, die übrigen Gäste wurden erst später erwartet. Den ganzen Abend wurde geprobt; Dalwigks und Steins machten alle zusammen eine große Aufführung, zu der jeder seine Rolle für sich gedichtet hatte. Es war eine Heidenverwirrung, bis alle Rollen zusammenklappten; dazu konnte außer Siegmund keiner sein Gedicht, Fanny hatte noch kein Kostüm: die guten Menschen waren von einer verblüffenden Vertrauensseligkeit. Mein Kopfweh wurde in diesem Trubel so arg, daß ich mich in unser Schlafgemach zurückzog. Dieses, sonst Geschirrkammer, liegt über dem Pferdestall im sogenannten steinernen Haus, und war für uns geweißt und hergerichtet worden. Vis à vis wohnten Tante Bertha Erffa und die beiden Cousinen, die nebst Onkel und Carl um zehn Uhr eintrafen. Am Polterabend gab es viel zu tun für Aufführungen und Essen. Wir probten, besuchten Wegnerns, die bei Blumes wohnten, und halfen Fanny das Dessert zu richten. Eine solche Menge Kuchen, Torten, Backwerk, Bonbons, Confekt etc. habe ich noch nie auf einem Haufen gesehen, es wird mir beim Drandenken jetzt noch ganz übel. Im Lauf des Nachmittags kamen die übrigen Gäste. Der Einfachheit halber will ich sie sämtlich aufzählen: Erffas Ahorn mit Carl und Lene und Marie, Wegnerns mit allen Kindern, Siegmund, Äbtissin Stein, Max Stein, Wilhelm und Karlchen Baumbach, Fanny Türcke, jetzige Frau von Baumbach, August Türcke, General von Heydwolff mit Frau, Tochter und Sohn, (Husar in Cassel), General Wachholtz, Präsident von Stockhausen mit Frau, Sohn und zwei Töchtern, Frau von Egloffstein, Vater Dalwigk mit zwei Söhnen und einer Tochter, Frau von Hadel mit Tochter. Diese Gäste wohnten im Haus, Pfarrhaus, beim Bürgermeister und bei einem Maurer; folgende kamen nur zum Polterabend: Frau von Seckendorff mit Tochter, Herr von Lepel mit zwei Töchtern, die Ehepaare Geyso, Mausbach, Blume, die Äbtissin Hammerstein aus Fulda, Herr, Frau und Frl. von Trümbach.

44 Anna Freifrau Stein von Nord-und Ostheim, geb. Freiin von Erffa (1839 – 1916), Schwester von Hildegards Vater.

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Um fünf Uhr begann der Polterabend. Die arme Johanna, die den Tag über an Migräne zu Bett lag, überbrachte den Brautkranz, eine tränen- und jammervolle Prozedur; dann kam Sabine als Märchen im griechischen Gewand mit Dornröschen (Luischen), Rotkäppchen (Thea Blume), Hänsel und Gretel (Rudi und Annagretel) und Hans Däumling (Hans-Henning). Die Aufführung war ganz reizend, der Däumling mit seinem großen Stiefel zum Totlachen. Nach einem Prolog begann dann die große Dalwigk-Steinsche Geschwisteraufführung; jeder that sein Bestes, sodaß es leidlich ging und recht hübsch war. Johanna als Heimat sah sehr erbärmlich aus, Siegmund, der als Berggeist vortrefflich sprach und spielte, ward von Herrn von Dalwigk III als Kreisbote verjagt, der Ahnherr, (Dalwigk I) erschien, gefolgt von einer Scheuerfrau und – der Liebe. Die logische Folgerung und Entwicklung fehlte etwas, doch waren die einzelnen Figuren gut und z.T. recht lustig. Nachdem zwei Stockhausens eine herrliche Reiterszene aufgeführt und die zwei hübschen Lepels in hessischer Tracht Salz und Brot überbracht, bildeten Sabine und ich den Schluß mit unserer Maikäferaufführung. Ich kam im Frack, Vorhemd, weißer Weste und Binde und trug über einem engen, schwarzen Rock einen prachtvollen, spitzgewölbten Maikäferleib, schwarz mit weißen Zacken. Dazu Zylinder mit großen Fühlern und riesige braune Flügel. Sabine war mein Weiblein in rosa Kleid, grünem Hut mit Maiblumen, mit riesigem Sonnenschirm als vierblättriges Kleeblatt und den gleichen Flügeln, Fühlern und Leib. Bei einer Stelle des von mir gemachten Gedichts zogen wir an einem Schnürchen und im selben Moment spreizten und hoben sich unsere Flügel und mit ihnen meine Frackschöße. Es war sehr gelungen und rief einen wahren Beifallssturm hervor. Die unangenehme Folge war, daß den ganzen Abend kein Mensch etwas anderes mit uns sprach. In großer Hetze zogen wir uns um und soupierten dann an kleinen Tischen. Bis zwölf ward flott getanzt; durch ein reizend gesungenes Lied aus dem Freischütz erregte Frl. von Seckendorff großen Beifall. Wir amüsierten uns göttlich, Carl war weg über unser Tanzen und machte sich sehr niedlich, bis auf den blasierten „silbernen Wilhelm“⁴⁵ waren es überhaupt nette Tänzer. Sophie im blauen Kleid und Dalwigk beteiligten sich von A-Z am Tanz. Kurz, es war herrlich!!! Der Hochzeitstag brach an, nicht im Sonnengold, sondern im – Landregen. Infolgedessen beteiligte sich alles am Schmuck der Tafel, richtete Blumen, trug Bonbonschalen herum und stand im Weg. Um ein Uhr ging’s zur Kirche; der Regen hörte – mitleidig – auf, aber die ganze Straße schwamm, sodaß man von Zweig zu Zweig hüpfend mit Not die Kirche erreichte. Ich stand mit meinem Brautführer dicht neben dem Brautpaar und konnte mir das schöne Bild gut einprägen: die schöne, ernste Braut mit den wunderbaren Augen, des Bräutigams ernstes, be-

45 Wilhelm von Baumbach.

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wegtes Gesicht, ein Sonnenstrahl aus grauem Gewölk, der in den Chor fiel und ein Marienkäferchen, ein kleiner Glücksbote, der am Altar krabbelte. Die Predigt war ernst und schön; das Brautpaar vergaß leider, zu knien und Sophie ihren Handschuh auszuziehen, sodaß es eine ungemütliche Pause gab. Das Essen dauerte drei Stunden und war sehr lustig durch die vielen Toaste und Telegramme. Letztere verlas Siegmund und wußte mit unerschöpflichem Humor jedem noch einen Witz hinzuzufügen. Überhaupt möchte ich hier noch sein Lob singen: ein so reizend amüsanter, liebenswürdiger Gesellschafter und Vetter und ein so braver, gemütvoller Familienvater zugleich ist mir noch nicht vorgekommen. Er war wirklich eine Hauptstütze. Gleich nach Tisch zog sich Sophie um und erschien im Reiseanzug in ihrem Salon, wo sie sich ¼ Stunde lang von ihren Cousinen die Cour machen ließ. Karl erschien plötzlich, ließ sich auf ein Knie nieder mit den Worten: „O schöne, königliche Botty“ etc. – So kam der Abschied, ehe man es sich versah und alles, selbst die Eltern, blieben ganz heiter. Zuletzt tanzten wir wieder wie toll bis gegen zwölf Uhr; die Mädchen zum Teil untereinander und alle, Alt und Jung, in fröhlichem Durcheinander. Am Sonnabend reiste alles ab, bis auf die Mahrner⁴⁶ und uns. Martins Geburtstag wurde gefeiert, Kuchen verteilt und viel zusammengesessen, natürlich auch etwas gelästert. Carl war zu lächerlich; er wurde sehr geneckt, daß er, kaum daß ihm Botty entschlüpft, mit mir anbändele. Das Reden und Lachen über das Fest war fast ebenso hübsch wie das Fest selbst. Am Sonntag reisten die Ahorner, am Montag wir ab. In Erfurt wollten wir eine oder zwei Stunden der Ausstellung widmen, waren aber so müde, daß der Genuß nicht entsprechend war. Im Frauenhaus war unter vielem Schund einiges Hübsche, die Blumenausstellung war ärmlich, der Rasen noch nicht aufgegangen und alles sehr zurück. Sonnabend, 12.5. Pfingsten steht vor der Thür; das Haus mit Maien geschmückt, harrt der Gäste, diesmal nur unsere Buben mit einem Freund Burchard und Lothar mit d’Haussonville. Die letzte Woche ward geputzt und geordnet in Boden und Keller, wir machten einen großen Bibliothekssturz, bei dem – Gottlob – nichts fehlte. Freitag begleitete ich den Vater nach Rudolstadt und verlebte einen netten Tag bei Beulwitzens. Die Tante ist recht down und bedarf einer Erfrischung. Sie hatte mir Tella, Anni und Liesbeth eingeladen, einen regelrechten Mädchenkaffee. Vater war sehr vergnügt, da sein Termin glücklich abgelaufen und sein Gegner oder vielmehr

46 Die Verwandten aus Ahorn.

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Ankläger vier Monate bekommen. Ich fahre zur Bahn, um die Buben zu holen und muß schließen. Mittwoch, 16.5. Was waren das für fröhliche, herrliche Pfingsttage! Sonnenschein in Flur, Haus und Herz! Sabine und ich mit fünf jungen Herren außer Rudi mußten uns fast zerreißen. Am Pfingstsonntag gingen wir alle zur Kirche, machten einen Spaziergang in den Wald, der im Maiengrün prangte, die übrige Zeit ward Tennis gespielt und geschwätzt. Am Montag zogen wir, halb in zwei Wagen, halb zu Fuß nach Ziegenrück, tranken im buntesten Volksgewühl ein Kaffee heißendes Gebräu und amüsierten uns über die vielen Italiener, die des Bahnbaus wegen noch immer in der Gegend sind. Nach dem wir uns mit einem sackgroben Gast über das Kahnfahren herumgestritten hatten, fuhren wir glücklich auf der Saale herum, der Schiffer erzählte uns, mitten auf dem Wasser, daß er ein Leck eben mit einem Propfen zugestopft habe und das Wasser begann auch so wenig vertrauenserweckend zu steigen, daß wir das trockene Land doch bald vorzogen. Wir ließen die männliche Jugend beim Bier und gingen mit dem Vater zu Pastor Gerlach, wo wir Rosenbergs trafen. Er verbiß sich natürlich sofort mit dem Vater über Politik, sodaß wir über seine Braut kein Wort hörten. Wenn das ewige Streiten über Politik noch etwas hülfe. Ich habe noch nie erlebt, daß einer nach einem Disput auf einem anderen Standpunkt als vorher gestanden hätte. Am Abend tanzten wir ohne Musik nach unserem eigenen Gesang und Gepfeife, was wohl amüsant, aber sehr anstrengend war. Gestern reiste alles ab, heute auch der Vater nach Berlin, nachdem wir mit ihm trotz klotziger Hitze einen großen Waldspaziergang gemacht hatten. Lothar ist ein zu lieber Mensch und uns allen ans Herz gewachsen. Sein etwas eingebildetes Wesen und den Gardeton hat er in Merseburg ganz abgelegt und ist ein recht natürlicher, netter Mensch geworden. 27. Mai Übermorgen reise ich nach Berlin zu Sara⁴⁷ auf 14 Tage, weshalb ich mein Tagebuch noch geschwind aufs Laufende bringen muß. Also am 17. kamen Rotenhans aus Karlsbad, blieben aber leider nicht viel mehr als eine Woche. Hermann sieht zwar mager, aber doch besser aus als an Weihnachten; Margarethe frisch wie eine Rose; beiden hat das vollständige Ausspannen und die vielen herrlichen Spaziergänge sehr gut getan. Für Hermann war Vaters Abwesenheit sehr schade; denn das ewige

47 Cousine Hildegards, Tochter der ältesten Schwester ihrer Mutter, Anna etc. geb. Schott von Schottenstein, verheiratet gewesen mit dem 1891 verstorbenen Arwed von Prittwitz und Gaffron (1843 – 1891).

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Herumsitzen mit uns machte ihn müde und nervös, sodaß wir uns öfter gehörig herumstritten. Sehr nett war dagegen, daß Jörge von der Schulpartie nach Schwarzburg abschwenkte und über den Sonntag hierher kam, um Rotenhans zu sehen. Wir waren riesig überrascht, wie er auf einmal hereinspaziert kam. Als der Vater zurückkam, gingen wir einen Nachmittag nach Lausnitz, wo wir viel von Annas Hochzeit hörten; dieselbe muß nicht sehr gemütlich gewesen sein, wie überhaupt Stadthochzeiten; am Polterabend ein Ball, am Hochzeitstag ein Diner, das ist so ziemlich alles, denn das ganze nette Zusammenleben vor und nach dem Fest fällt weg, wenn die Gäste alle in Hotels wohnen. Einmal waren Mia und Gerti da; das arme Ding war sehr gedrückt und elend; sie weiß natürlich den ganzen Skandal von ihrer Mutter, gibt sich aber uns gegenüber den Anschein, als ob nichts los wäre, was für beide Teile höchst peinlich und unerquicklich ist. Sie tut mir zu leid und ihr Ruf ist doch auch eigentlich mit zerstört. Das arme Ding!! Berlin, 31. Mai 1894 Meine Reise hierher verlief glücklich, obwohl der Anfang nicht vielversprechend war. In Pößneck gab es mal wieder kein Damencoupé, sodaß ich in ein Nichtrauchercoupé gesteckt werden sollte, in dem sich schon vier Herren flegelten. Zum Glück sahen wir da den Landrat, der zum Herrenhaus nach Berlin fuhr und mich mit in die erste Klasse unter seine schützenden Fittiche nahm. Er war sehr nett und väterlich, gar nicht zärtlich, wie er es nach Diners leicht ist. Auf dem Anhalter Bahnhof empfing mich Sara, hübscher und eleganter als je. Die Nachrichten, die sie mir gab, überwältigten mich fast, doch ich muß zurückgreifen. Sara fand, daß sie zu teuer wohnte und bei der hohen Miete und noch höheren Steuern nicht die Summe, die sie sich vorgenommen, zurücklegen konnte. Als ihr daher der neue holländische Gesandte den Vorschlag machte, die Wohnung zu nehmen und in den Kontrakt einzutreten, so willigte sie schnell entschlossen ein. Am 15. will er aber schon einziehen, sodaß sie sehr bald mit Packen beginnt, mit den Buben nach Münster am Stein, ein Solbad geht, den Sommer in Marbach verbringt und von da wieder ein halbes Jahr nach dem Süden geht. Sie ist ja ein ruheloser Wandervogel, aber in diesem Fall muß man ihr Recht geben und die Gesundheit der Kinder bedenken, der ein wärmeres Klima sehr dienlich sein wird. Ich werde vermutlich noch auf ein paar Tage zu Spitzembergs übersiedeln, wenn mein Bett eventuell zum Packen gebraucht wird. Hier, Voßstr. 16, wurden wir von Wagnermusik empfangen und fanden Onkel Axel und seinen Freund, den Grafen Moltke, mit denen wir bis ein Uhr aufblieben. Ich muß gestehen, daß ich mich diesen ersten Abend nicht gemütlich fühlte: Onkel lag auf der Chaise-Longue und war deprimiert, Sara und Moltke, die sich absolut nicht verstehen, führten eine unnatürliche, halb

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neckende, halb weltschmerzliche Unterhaltung, die beide nicht zu ihrem Vorteil erscheinen ließ. Ich war so müde, daß ich nicht viel schlafen konnte und gab mir doch die größte Mühe dazu, um zu der Parade am andern Morgen frisch zu sein. Ich war es auch, als wir uns um acht Uhr auf die Fahrt begaben. Onkel Axel mit seiner Gesandtenkarte, Sara, Hanna,⁴⁸ Fredi⁴⁹ und ich fuhren in eleganten Wagen auf das Tempelhofer Feld und fanden neben Greindls einen guten Platz, rechts vom Kaiser: Das Wetter war himmlisch, nicht zu heiß, ohne Wind und Staub. Die Parade war glänzend, aber für den Laien etwas ermüdend. Die vielen Infanterie- und Artillerieregimenter wirken für unmilitärische Zuschauer doch nur durch die Masse, den Glanz und die Ordnung des Vorbeimarsches. Bekannte erkennt man sehr schwer, da die Herren mit den Helmen einander alle ähnlich sehen und an den Wagen kamen nur Eberhard⁵⁰ und seine Freunde. Onkel Axel war zu aller Erstaunen voll Interesse, bemerkte, daß Eberhards Uniform nicht tadellos rein, sein dritter Knopf von oben nicht glänzend, seine Handschuhe gewaschen waren. Es ist doch eigen, wie der preußische Militarismus seinen Einfluß auch auf den nonchalantesten Mann geltend macht. Die langweiligste Periode des Vorbeimarsches unterbrachen wir mit Essen; zuletzt aber begeisterten wir uns sehr, als die Kavallerie im Trab vorbeikam. Wie prachtvoll sahen die Kürassiere mit ihren herrlichen Pferden, ihren blanken Kürassen und Helmen aus. Weniger gut sahen die Dragoner aus, die auch nicht so gut beritten sind. – Fredi war herzig; ganz begeistert und unbefangen unterhielt er durch seine begeisterten Ausrufe die ganze Nachbarschaft unseres Wagens. Als Eberhard z. B. mit uns sprach, schrie er voll Wonne: „Seht, seht, der Onkel hat heut seinen Orden angezogen!“ Hundert Augen hefteten sich auf den unglücklichen Eberhard, auf dessen Brust sich nicht etwa – der schwarze Adler, sondern ein kleines Ördle sich wie eine Oase in der Wüste ausnahm. Wir setzten Hanna ab und aßen bei Sara; als wir beim Kaffee waren, kam Moltke erschöpft und hungrig und schrie nach Brot. Daß es in einem Haushalt feste Essensstunden gibt und nicht immer ein Frühstück bereit ist, ahnen diese lieben Junggesellen gar nicht. Ich sah mir Saras reizende Wohnung an: Vom großen, geräumigen Korridor kommt man in die Salons, drei an der Zahl, die sehr geschmackvoll und gar nicht zu voll eingerichtet sind. Rechts schließt sich dann an: Saras Schlafzimmer, ein großes Billiard-, jetzt Lernzimmer und zwei Gastzimmer; links Eßzimmer und die Räume 48 Hanna von Spitzemberg (1877– 1960), Tochter von Hildegard von Spitzemberg, geb. Freiin von Varnbüler, der Schwester von Hildegard von Erffas Mutter Elisabeth, geb. Freiin von Varnbüler. 49 Sohn von Sara. 50 Eberhard Hofacker (1861 – 1928), seit 1908 von Hofacker, Sohn von Hildegards Tante Anna Hofacker, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen.

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der Kinder und Dienstboten, eine Riesenwohnung, die allerdings eher für einen Gesandten, als für eine Wittwe mit zwei Buben paßt. – Den Abend ging ich zu Spitzembergs, die mich sehr warm aufnahmen. Die Tante verletzt ja oft, aber ich bin ihr eigentlich nur aus der Ferne böse; sie hat doch ein goldenes Herz und übt einen eigenen Zauber über mich aus. Gestern traf ich Tante und Hanna am Bahnhof und fuhr in einem vollen Coupé zweiter Klasse nach Potsdam. Nachdem wir in einem dunklen Gang lange gewartet, ließ man uns auf die Rampe, auf der wir noch gute Plätze erhielten. Ich stand mit Hochbergs und Ichen Stolberg, die alle sehr liebenswürdig mit mir waren. Die Potsdamer Parade ist eine der schönsten Schauspiele, die man sich denken kann. Zusammengedrängt auf den kleinsten Raum, sieht man, vor dem schönen grünen Rasen, zwischen den hübschen Laubwäldchen sich ein buntes, glänzendes Bild entrollen. Wenn dasselbe, wie es heute der Fall war, noch durch die lachendste Sonne bestrahlt wird, so ist der Effekt, vom künstlerischen Standpunkt aus, ganz reizend. Welches schöne Bild bekam man von der Macht Preußens, der Armee, der Monarchie, als der Kaiser in Gardes du Corps-Uniform die Front heruntersprengte und auf sein Kommando all diese Menschen wie der Blitz gehorchten. Famos machten sich die Gardes du Corps, die 3. Ulanen und die Garde-Jäger, am besten gefiel mir aber doch das 1. Garderegiment, in dem die Prinzen mitmarschierten. Ein großer Schritt ging ganz schön im Takt, aber dann kamen immer wieder drei Schritte im Hundetrab, um nachzukommen. Der dritte Prinz war eben Officier geworden und sah strahlend zum Fenster seiner Mutter empor. Nachdem wir noch etliche Bekannte begrüßt hatten, (Onkel Axel war zu aller Erstaunen auch erschienen), fuhren wir im offenen Wagen vorbei an Glienicke, Pfaueninsel, Sperlingslust nach Wannsee zu Frau Richter.⁵¹ Daß in der nächsten Nähe von Berlin, in der Sandbüchse des Heiligen Römischen Reichs, ein solches Eden verborgen ist, kann man sich kaum denken. Ich war entzückt von den klaren Seen mit ihren waldigen, schön geformten Ufern, den weißen Segeln und den reizenden Schwänen. Durch den Kontrast mit der hastenden Unruhe in der bewegten Großstadt wirkte die schöne Natur und die Einsamkeit noch mehr auf uns. Frau Richters Villa am kleinen Wannsee ist ein Juwel von außen und von innen und gefiel mir sehr gut. Im Stil einer englischen „lodge“ erbaut, liegt sie wie auf einer Halbinsel im See, umgeben von einem kleinen, aber gepflegten Garten. Die Rhododendren und Azaleen blühten und alles war wie ein Märchen. Man merkt, daß alles mit Liebe, Geschmack und eigenem Denken erbaut ist und das gibt in meinen Augen den größten Wert. Da

51 Die Berliner Salonnière Cornelie Richter (1842 – 1922) war die jüngste Tochter des Komponisten Meyerbeer.

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ist nichts Gewöhnliches, Baumeisterliches; alles ist bequem, hübsch und originell. Sie trägt den Charakter eines Sommerhauses mit ihren vielen Holzbalcons, ihrer luftigen Halle und großen Fenstern. Die Zimmer alle sind von hellem lackiertem Holz, von Bambus und Matten die Möbel, wenig Nipse, aber prachtvolle Bilder und Skizzen von Gustav Richter an den Wänden. Dabei fehlt natürlich kein Komfort: elektrisches Licht, Telephon, Luftheizung etc. Der Luxus ist wohl da, aber er drängt sich einem in keinerlei Weise auf. Es ist wirklich und wahrhaftig ein Märchenheim. Frau Richter war reizend, der älteste Sohn Gustav ist mir unsympathisch, ein rechter Judenbengel. Raoul ist das ja auch, aber so gescheit und interessant, daß man es momentan vergißt. Das muß man doch wenigstens von einem jüdischen Großvater⁵² haben, daß man klüger ist als andere Leute. Wir frühstückten, saßen und gingen draußen herum, bis unser Zug nach Wannsee ging. Den Abend wohnte ich Hannas letztem Leseabend bei, lernte die nette Elisabeth Miquel, die bald heiratet, die nette Valeska Berlepsch, Buttler, Kanitz und die affektierte Else Radowitz kennen. Die Lektüre war mäßig, aber die Idee dieser gemeinsamen Lesestunden ist sehr nett und lohnend. Sonnabend, 2.6. Es ist zwar schon Mitternacht, alles schläft, aber gerade dann fühle ich mich am meisten aufgelegt zum Schreiben. Gestern Vormittag machte ich eine große Shopping-Tour, ging zu Gerson, wo ich Schuhe, Handschuh und Schlipse kaufte, zu Lewin, Sachs etc. Am Nachmittag kam Klaus,⁵³ den ich seit so lange nicht gesehen. Er ist ja sehr fein, aber gar nicht mehr übertrieben oder etwa gar lächerlich; er ist wirklich um kein Haar anders als die übrigen Diplomaten. Ich finde es zu häßlich, daß so viele Menschen u. a. auch Eva und Tante Anna nie etwas anderes über ihn zu sagen wissen, als daß er zu weite Hosen, zu weit ausgeschnittene Westen und ein Armband trägt. Wenn ein Mensch so tüchtig, fleißig und gerade seinen Weg geht, dabei mit wenig gut und anständig auskommt und ein so guter, liebenswürdiger, reizender Sohn, Vetter und Freund ist, so kann man doch über diese kleine, nichtssagende Schwäche wegsehen. Sara und ich beschlossen, immer und überall Lanzen für ihn zu brechen. Am Nachmittag waren wir in der englischen Botschaft, wo der Schluß des großen Tennisturniers stattfand. Dasselbe ist von den Engländern arrangiert und seit sechs Wochen kämpfen ca. 60 Menschen um den Ehrenpreis. Da nur noch die besten und letzten Spieler übriggeblieben waren, so war es wirklich hochinteressant. Zuerst im Double besiegten Herr von Hindenburg und Frau von Schrader

52 Der jüdische Großvater war der Komponist Giacomo Meyerbeer (1791 – 1864). 53 Claus von Below (1866 – 1939), Diplomat, Sohn von Nikolaus von Below und Sophie, geb. von Varnbüler.

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Herrn von Pförtner und Vera Kanitz. Die Damen spielten nicht sehr gut, die Herren dagegen vorzüglich; Hindenburg gab etwas gemein, sodaß Vera ihm nicht gewachsen war und, wenn auch mit Glanz, verlor. Alle Sympathien waren auf der Besiegten Seite und wurden auch so laut geäußert, daß es für die Sieger wirklich recht unangenehm sein mußte. In diesem Punkt sind die Berliner überhaupt rücksichtslos. Die Sympathie des Publikums schien aber kein Glück zu bringen, denn auch im Single wurde der Günstling Mr. Dearing vom unbeliebten Heintze geschlagen. Diese beiden spielten herrlich; ich hatte überhaupt noch gar nichts von Tennis gewußt, ehe ich diese beiden spielen sah. Oft zehn Mal flogen die Bälle hin und her, wenn man einen schon am Boden glaubte, flog er noch einmal ganz knapp über das Netz. Zuletzt wurden die Geschenke verteilt, doch gingen Sara und ich vorher nach Hause, da sich Eberhard zum Abend ansagte. Er ist ein recht kluger, guter Mensch, wenn er mir auch nicht gerade sehr sympathisch ist. Er hat entschieden eine kleine boshafte Ader von seinem Vater geerbt. Mit Sara steht er sich absolut nicht; sie passen gar nicht zusammen: Er ist ernst, philiströs, solid und zuweilen recht bürgerlich-spießig und eng; sie ist die eleganteste, großartigste Frau, die ich kenne, aber etwas äußerlich und oberflächlich. Heute ist die große Spreewaldpartie, die Lerchenfeld und Arenberg in Szene setzten. Sie hatten geäußert, junge Mädchen seien nicht willkommen, da sie sonst in der Unterhaltung zu sehr geniert wären, sodaß uns allen von selbst die Lust dazu verging. Unbegreiflich ist mir nur, daß Tante H, anstatt zu sagen: „Ich gehe nur mit Tochter oder nicht“, Hanna den ganzen Tag allein zu Hause läßt und von sechs Uhr früh bis neun Uhr abends Partien mit Junggesellen oder jüngeren Ehepaaren macht. Wenn ich mir mein Müttchen in diesem Fall dächte! Sara scheute die Anstrengung und schrieb im letzten Moment ab; ebenso die meisten der 20 Beteiligten, sodaß schließlich Tante, Hohenthals, Vitzthums, Arenberg und Lerchenfeld die Partie zusammen machten und sehr genossen. Onkel Axel freute sich, daß die Leute so klug sind, ihn nie zu derartigen Sachen aufzufordern, da er doch nicht hinginge. Wir machten Besorgungen und hatten Onkel und Moltke zum Thee. Sie waren beide gut aufgelegt und zeigten sich von ihrer natürlichen Seite, die entschieden die beste ist. Onkel hat große Einrichtungssorgen: Alles soll hübsch und chic sein und darf doch nicht viel kosten; das läßt sich schwer vereinigen. Jeder Mensch will ihm raten und er selbst ist wohl ganz praktisch, hat aber doch von vielen Sachen, z. B. dem Preis von Tapeten und Anstrich keinen Schein. Bei den Paraden und beim Tennis sah ich viele Bekannte: Brummy Königsmarck, Wedells, Zedtwitzens (O Graus!) August Dönhoff, Gräfin Mira, Mohls, Schmidthals etc. Dienstag, 5.6. Wir packen jetzt fleißig am Vormittag, wobei sich Sara so praktisch und eminent

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tüchtig und umsichtig erweist, daß ich immerfort staune. Dabei geht alles so ruhig und glatt ohne irgendwelche Unruhe und Hetzerei. Wäsche, Glas, Kleider etc. ist schon teils gepackt, teils sortiert. Am Sonntag spielte ich viel mit den Kindern und hatte Gelegenheit, sie zu beobachten. Fredi hat einen reizenden Charakter, so fest und männlich und dabei so gutmütig, gehorsam und verständig. Er ist so anständig und feinfühlig, daß man alles mit ihm reden kann, er geht gleich kindlich und nett darauf ein und wird nie frech. Eï ist mir nicht so sympathisch: er ist anschmiegend und nett, aber zuweilen heftig, frech und ein richtiger Komödiant. Man wird sich nie sehr auf ihn verlassen können. Zu Tisch kamen Onkel, Eberhard und Claus, gingen aber bald wieder fort, da die beiden Vettern vor dem Examen stehen und sehr fleißig sind. Den Abend verbrachte ich bei Spitzembergs mit Valeska Berlepsch und Marianne Buttler. Beide sind sehr nett und wohlerzogen und besonders erstere hat mir das Herz gestohlen. Else Scharfenberg kam auch und spielte sehr schön Klavier. Gestern zehn Minuten vor Tisch kommt Onkel Axel mit zwei Herren und fragt, ob sie bei Sara frühstücken können. Sara stürzte zur Köchin und ließ noch etwas kochen. Onkel war ganz erstaunt, daß, wo zwei Frauen und zwei Kinder essen, nicht genug für drei Männer da sein sollte! Sara sagte ihm: „Wenn mir das Essen recht ist, kann es meinen Gästen auch recht sein, aber satt müssen sie doch wenigstens werden.“ Der eine der Herren war natürlich der geliebte Tütü Moltke, der andere ein Graf Danckelmann, den Sara gar nicht kannte! Sie waren recht liebenswürdig, aber daß mir diese schlesische Blase von Onkel sehr angenehm wäre, will ich nicht behaupten. Tante und Hanna holten mich in die Kunstausstellung ab und zeigten mir etliche sehr gute Bilder. Am besten gefielen mir Portraits von Koner, die sehr naturtreu und sprechend gemalt sind und prachtvolle nordische Landschaften. Bilderwerke und Genrebilder sind auch gut vertreten, für Stillleben kann ich mich nicht begeistern. Schund, der letztes Jahr stark vertreten war, ist jetzt doch in der Minderzahl da. Am Abend aß ich mit Claus und dem jungen Roth bei der Tante. Wir saßen lang auf dem Balkon, an dem die Schwalben vorbeijubelten und unterhielten uns herrlich. Vis à vis auf dem Balkon saß eine Mädchenpension, mit der Claus in unverantwortlicher Weise kokettierte, sein Monocle aufsetzte, seinen Schnurbart drehte etc. Sara holte mich später ab. Der junge Roth ist recht gescheit und nett und war ganz manierlich. Heute unternahm ich die Reise zu Aufseßens, die am Kurfürstendamm wohnen. Marie kam mir sehr frisch und nett aussehend, entgegen und holte dann ihren Mann. Sein Anblick entsetzte mich; ich wußte zwar, daß er alt sei, aber daß er so großväterlich, mit langem weißen Bart und Haar, aussähe, hatte ich mir nicht klargemacht. Ich blieb gemütlich zwei Stunden und schwätzte mit Marie auf dem Balkon, während er durchs Fenster mit ihr schäkerte; daß sie in den Flitterwochen

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sind, ist ja wahr, aber bei einem 70jährigen Mann kommt mir dies Getue lächerlich vor. Es paßt gar nicht mehr zusammen und ist peinlich. Onkel Axel war den ganzen Abend hier und ging eben erst. Er war heute so lieb und nett, daß er mich wieder ganz gefangen nahm. Ich glaube, ich schrieb noch gar nicht, was uns doch schon seit einiger Zeit bewegt, daß Onkel nämlich eine Frau von Siemens in Petersburg heiraten will, die sich ihm zu Liebe von ihrem Mann scheiden läßt. Sie ist die Tochter eines russischen Officiers in Odessa; der kolossal reiche Siemens sah das hübsche Mädchen mit sechzehn Jahren, ließ sie erziehen und, wie sie siebzehn Jahre alt war, heiratete er sie. Sie verdankte ihm alles und lebte im größten Luxus zehn Jahre mit ihm – ohne ihn zu lieben. Onkel liebte sie und fand Erwiederung; sie war mit dem sehr wenig netten und ehrenhaften Mann nie sehr glücklich gewesen, hatte keine Kinder, kurz, sie läßt sich scheiden und heiratet Onkel im Herbst. Das ist, in wenig Worten, die ganze traurige Geschichte. Wie soll es gehen? Wie wird die oberflächliche Russin in unsere Familie, die verwöhnte Frau zu Onkels schmalem Geldbeutel passen? Kann überhaupt ein Glück, das mit einer Sünde begonnen, dauernd glücklich machen? Dies sind die Fragen, die wir uns immer wieder vorlegen, ohne Antwort zu finden. Ich glaube, Gott vertrauen und die Hände davonlassen, ist in diesem Fall das einzige! – Onkel sieht ernst in die Zukunft, ist aber sehr verliebt und hofft, das Glück endlich zu finden. Ich hoffe und wünsche es so sehr für ihn, den lieben Onkel, dem man trotz aller Schrullen, trotz allem Unrecht doch immer wieder gut sein muß. Mittwoch, 6.6. Heute war Onkel Below mit Claus hier; (wir schwelgen in Familie) und war so frisch, heiter und guter Laune wie immer. Leider mußte er bald wieder fort; wir blieben mit Onkel Axel, der aber in einer schwarzen Laune war, kein Wort sprach und recht – ich muß es respektswidriger Weise sagen – unausstehlich war. Onkel Niko wohnt beim Onkel Axel, der sich Bett und Stuhl mieten mußte, um ihn aufnehmen zu können. Sonnabend, 9.6. Morgen, morgen, ziehen wir alle aus und Herr von Tets zieht in die öden Hallen. Alle Kisten, Koffer und Kasten sind gepackt; wenn wir fort sind, stürzen sich die Packer auf die Möbel, die sie uns doch nicht unter den Händen fortnehmen durften. Tets hat massenhaft Gardinen, Teppiche, Sofas, Leuchter, Läufer etc. genommen, sodaß Sara all den Ballast los ist. Morgen Abend geht sie nach Münster a./H, ich siedle in die Magdeburger Straße über. Trotz der nahen Débacle hatten wir bis zuletzt Gäste. Allerdings aßen wir mit Küchenbesteck und die Teller wurden oft aufgewaschen, aber es ging. Am Donnerstag machte Sara bei strömendem Regen Abschiedstournee, wobei wir uns in unserem Coupé ganz gut unterhielten, am Abend ging ich mit Benno Hermann, Lothar und Hanna in „den Herrn Senator“, wo wir uns wie die

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Götter amüsierten. Das Lustspiel, welches die Hamburger mit ihrem Dünkel, ihrer Kälte und ihrem greulichen Dialekt stark karikiert, ist sehr fein und gut geschrieben und die Person des Senators fand in Engels einen vorzüglichen Darsteller. Dieser Mensch spielt zu famos und konnte als geborener Hamburger den Dialekt wundervoll nachmachen. Reizend spielte die kleine 19jährige Rosa Retty, die eine herzige Person sein soll. Lothar lachte, daß er sich den Schweiß abwischen mußte und wir alle unterhielten uns zu gut. Gestern fuhr ich in ¾ Stunden zu Rotenhans hinaus und war sehr enttäuscht, sie nicht zu finden und den langen Weg umsonst gemacht zu haben. Gestern Abend aßen Onkel Axel und Lothar hier und als wir beim Dessert saßen, kamen Onkel Niko und Claus. Sie mußten sich mit den beaux restes begnügen, die aus zwei Heringsschwänzen und etwas Huhn bestanden. Onkel Niko war einzig. Wenn er von seinen unhaltbaren Ideen über Güterkäufe und anderen Plänen anfängt, so ist er unerquicklich, wenn er aber nur den amüsanten Gesellschafter herauskehrt, so ist er zu nett. Er erzählte in seinem netten Kurländer Deutsch eine famose Geschichte nach der anderen, aus seiner Jugend, von seinen russischen Diensten, seinen Kindern etc., machte die Schauspieler im Käthchen von Heilbronn nach und lachte und amüsierte sich und uns den ganzen Abend. Heute machten wir Besorgungen und gingen abends zu Spitzembergs, denen Sara Adieu sagen wollte. Eberhard war auch da und quälte Flock zum Erbarmen. Onkel Axel war zum Kaiser nach Potsdam zu einer musikalischen Soiree geladen und kommt wohl erst spät zurück. Montag, 11.6. Magdeburger Str.3 Gestern war ein ereignisvoller Tag. Vom frühen Morgen an ward das letzte gepackt, kamen Doctor, Portier, Tapezierer, die alle im letzten Moment noch etwas wollten. Um ein Uhr sollten wir bei Onkel Axel mit Falkenhausens frühstücken. Sara wollte Erich⁵⁴ zu Haus lassen, damit er sich nicht überäße und betränke, aber Onkel bat so dringend, daß wir ihn doch mitnahmen. Die Folgen waren aber höchst unangenehm. In der Gesandtschaft ist bis jetzt nur das Herrenzimmer und das Eßzimmer, diese beiden aber mit viel Geschmack eingerichtet. Reizend sind die vielen bunten, selbstgemachten Bilder, die alle Wände zieren.⁵⁵ Falkenhausens machten mir einen sehr anregenden Eindruck. Die Frau ist sehr fein und nett, sehr elegant und sehr gutmütig, scheint eine reizende Mutter und Hausfrau zu sein. Das Essen war sehr gut gekocht und angerichtet, ich saß zwischen den beiden Buben, die brav und ordentlich aßen und ihre besten Manieren angezogen hatten. Aber, wie der Sekt kam, goß Onkel, trotz Saras Bitten, Erich einen großen Kelch voll; Junggesellen sind

54 Erich von Prittwitz und Gaffron (1888 – 1969). 55 Axel von Varnbüler war ein talentierter Maler und Illustrator.

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darin zu unvernünftig und verlachen nur die Mütter, die doch am besten wissen müssen, was ihre Kinder vertragen. Richtig, nach zehn Minuten legt sich Eï auf den Tisch, stiert mit gläsernen Augen herum und schwatzt Unsinn. Darauf schallendes Gelächter der Herren und Verzweiflung von Sara. Ich schleppte ihn raus, legte ihn auf Onkels Bett und wollte ihn zum Schlafen bringen. Natürlich keine Möglichkeit, er raste wie ein Kreisel rum und schwatzte, was er konnte, auch überschwemmte er sich Kopf, Hals und Haar mit einer Flasche Eau de Cologne, die er ergattert hatte. Unter diesen Umständen hielt ich es doch für das Beste, das Lokal zu verlassen und brachte die Buben zurück, während Sara noch blieb. Gegen Abend nahm ich dann rührenden Abschied von Sara, den lieben Buben und der hübschen, gemütlichen Wohnung und fuhr mit Lothar zur Tante.⁵⁶ Dort machte ich gleich den ersten Tag ein kleines Diner mit. Es kamen Gemmingen mit Schwester, Pückler, Massenbach und Lothar. Nach Tisch wollten wir die Mädchenpension beobachten, doch waren sie so frech, die Leutnants mit Operngläsern zu begucken und wurden infolgedessen von der Pensionsmutter hereingejagt. Der kleine Pückler war lächerlicher und schwatzhafter als je; ich kampelte mich mit ihm den ganzen Abend herum. Heute um elf Uhr erhielt ich eine Karte von Wisa, die mich zu ein Uhr zum Frühstück einlud. Da galt es, sich sputen! Ich gondelte auch glücklich in meiner Droschke zweiter Güte hinaus und traf dort eine Gräfin Garnier, ein frisches, nettes Mädchen. Sie ist pferdetoll und war von Potsdam extra zu Rotenhans gekommen, um die landwirtschaftliche Ausstellung zu sehen. Gleich nach dem Frühstück fuhren wir also nach dem entfernten Park hinaus. Bei unserer Ankunft wurden wir von einem wolkenbruchähnlichen Regen empfangen und flüchteten in den nächsten Stall zu den Schafen. Bei der Gelegenheit sahen wir prachtvolle, kolossale Schafböcke. Im Übrigen sahen wir uns nur die Pferde an, da sie uns alle drei am meisten interessierten und wirklich sehr sehenswert waren. Da sah man die reizenden Familien, die edlen Stuten mit den struppigen Fohlen, Officierspferde, prachtvolle Zuchthengste, edle Reitpferde neben derben, kräftigen Ackerpferden und kolossal breiten und großen klobigen Ostpreußen. Um drei Uhr mußte die Gräfin Garnier zur Bahn, während ich mit Wisa gemütlich beisammensaß und mich bei einem warmen Tee nach der regnerischen Tour erwärmte. Wisa kann doch recht nett und liebenswürdig sein und ist ein herzensgutes Wesen und wenn sich der gute Georg etwas unterbuttern läßt, so ist es seine eigene Schuld. Donnerstag, 14.6. Abend 12 Uhr. Am Sonnabend ist die Hochzeit von Elisabeth Miquel, bei der Hanna in zwei lebenden Bildern mitsteht. Am Dienstag gingen wir zur ersten Probe hin. Es war noch

56 Hildegard von Spitzemberg.

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ein ziemlicher Wirrwarr, bis Anton von Werner⁵⁷ die Sache in die Hand nahm und gut und fix arrangierte. Ich mußte, um eine Lücke auszufüllen, auch provisorisch mitstehen. Heute ist Generalprobe, die hoffentlich etwas besser ausfällt. Morgen mit dem ersten Zug dampfe ich dann fort, da mein Billett abläuft. Am Dienstag aß Herr von Tets hier und da mir die Tante vorschlug, jemanden, den ich kenne, einzuladen, erwählte ich mir Claus und Joseph Humbracht. Es war eine gute Wahl, denn sie waren beide sehr vergnügt und neckten sich gegenseitig, während der hochgebildete Tets sehr interessant von seinen Jahren in London und Rom erzählte. Gestern waren wir in der Kunstausstellung und fanden wieder Neues und Schönes. Von da ging es ins Marine-Panorama, das uns sehr entzückte. Es ist so angelegt und gedacht, daß sich der Beschauer auf dem Deck eines Schiffes vom Norddeutschen Lloyd, dem Dampfer„Saale“, befindet, gerade im Moment, wo dasselbe in den Hafen von New York einfährt. Der mittlere Teil des Schiffes, auf dem man steht, ist wirklich ein Bruchteil eines Schiffes, die beiden Enden, Kommandobrücke und Vorderdeck sind gemalt. Die Umgebung des Hafens, die Hügel, die Liberty-Statue, die Ufer verschwimmen in der fernen Weite; auf den Wellen schaukeln sich Dampfer, Segel-, Kohlen- und Lastschiffe, kleine Fischerboote und elegante Jachten, die Segel blähen sich, die Fahnen flattern in der frischen Brise und auf dem grünen, durchsichtigen Wasser liegt das goldene Licht eines schönen, aber frischen Herbstmorgens. Dies ist alles so meisterhaft gemalt, daß man nach einiger Zeit glaubt, das Schiff sich bewegen zu fühlen, die salzige Seeluft zu riechen und die Wellen schäumen zu hören. Hanna bekam sogar Schwindelanfälle, den Anfang der Seekrankheit. Unten im Schiff sahen wir uns dann die Kabinen, Küche, Salons etc. an und wären am liebsten then and there auf und davon gefahren. Ganz anders war der Eindruck, den wir nachher erhielten. Wir gingen nämlich auf den Lehrter Bahnhof, um die Ferienkinder aus Norderney wiederkommen zu sehen. Es war ein rührender Anblick, wie der Trupp braungebrannter, fröhlicher Kinder herausstürzte, von Eltern und Geschwistern dankbar, oft mit Freudenthränen empfangen. Einige Kinder waren braun wie die Mohren und wurden von den blassen, durchsichtigen Berliner Geschwistern ganz scheu wie wilde Tiere betrachtet. Vier Damen vom Komitee und ein Herr waren auch da und halfen, die Kisten und Kasten zu verteilen. Ich hatte mir die Arbeit dieses Vereins nie so segensreich vorgestellt, bis ich den Erfolg so frappant sah. Den Abend verbrachten wir bei der geliebten Else Gerlach, die ich zum ersten Mal als Frau wiedersah. Sie zeigte uns die reizende, elegante und gemütliche Villa vom Keller bis zum Dachboden und war herziger als je. Der Mann war auch recht manierlich und nett und ist so

57 Anton von Werner (1843 – 1915), Historienmaler.

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strahlend über seine reizende Frau, daß man sie ihm wirklich gönnen muß. Zum Abendessen kam Gerti Maltzahn, nach Tisch der junge Hindenburg. Er ist jetzt Fähnrich bei den Dragonern, hat in Oxford zwei Semester studiert, kopiert den Engländer, d. h. nur in Toilette und Lächerlichkeiten und ist so fein, daß er kaum sprechen kann. Ein rechter Affe!!! Heute war die Generalprobe, bei der ich mich herrlich unterhielt. Zuerst wurde ein kleines Lustspiel sehr wenig gut gespielt, obwohl die Personen gut zu ihren Rollen paßten: Else Stephan als Zofe und Else Krüger als Köchin konnten nicht echter aussehen. Dagegen waren die lebenden Bilder reizend. Im ersten „In love“, sah Hanna bildhübsch, anmutig und frisch aus. Das duftige weiße Empire-Kleid stand ihrer schlanken Figur zu gut. Das zweite Bild, „Werners Werbung beim Grafen“, war besonders als Ensemble sehr schön. Das dritte, die „Brautschmückung“, gefiel mir auch gut, obwohl Hanna als Braut zu steif war. Valeska Berlepsch war dagegen zum Verlieben nett. Das vierte Bild war minder. Das Photographieren mit Magnesiumlicht war für Augen und Nerven gleich angreifend. Um neun Uhr waren wir wieder hier und amüsierten uns sehr gut mit Lothar und Bernewitz. Letzterer ist seit letztem Jahr viel gesprächiger und männlicher geworden. Nun aber: „Gute Nacht, Berlin“! Ich muß dies Buch als letztes packen, um dann totmüde aufs Bett zu fallen; denn morgen, ach morgen geht′s fort von hier, wo ich so viel Schönes und Neues sah und so freundlich aufgenommen war. Werde ich im Winter wiederkommen? Nun aber Gut Nacht! Wernburg, 28.6. Es ist merkwürdig, wie viel schwerer ich hier auf dem Land zum Schreiben komme als in der Großstadt, wo ich doch mehr erlebe und eher das Gefühl des Gehetztseins hatte. Hier habe ich mehr Pflichten und führe im Sommer ein recht unbestimmtes Leben. Ich war die erste Woche mit Sabine und Rudi, zuletzt auch dem Vater allein, da die Mutter noch auf ihrer Reise nach Hemmingen, Frankfurt a/M (zu Fredas Konfirmation) und Lauchröden begriffen war. So hatten wir Zeit, unsere Geburtstagsarbeiten für Mutter zu machen, die Tischwäsche zu bleichen und uns vorzulesen. Das Wetter war sehr unbeständig, sodaß wir einmal bis auf die Knochen eingeweicht wurden. Vater war bei der Einweihung des Doms, d. h., zur Grundsteinlegung vom Kaiser eingeladen und kam sehr befriedigt zurück. Einmal fuhren wir mit ihm nach Obernitz, wo wir Landrat Hollebens mit Tella und Herrn und Frau von Osten, Freunde und frühere Nachbarn von Heydens, trafen. Sie ist eine Schwester von Astas Bräutigam, schien aber über die Partie nicht allzu entzückt. Wie die arme Asta zu ihren pommerschen Verwandten passen soll, ist mir überhaupt ein Rätsel. Tella ist wirklich sehr nett und gescheit; wir unterhielten uns herrlich mit ihr und waren

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daher nicht sehr erbaut, als mit einem Male drei Rudolstädter Officiere ankamen. Sie sind ja ganz leidlich, aber doch sehr terre à terre und haben so wenig Begriff, wie es in der Welt zugeht, daß eine Unterhaltung, sobald sie etwas anderes als Ballgespräch ist, nicht gut von statten geht. Einmal schickte uns Frau von Mohl, während sie nach Krossen ging, einen Gast, einen 19jährigen Neffen, Herrn von Wolff aus Livland. Er war recht nett, unterhaltend und bescheiden und der Nachmittag, an dem er Sabine und mir anheimfiel, verging recht schnell. Es war schade, daß Mutter, die seine Eltern und Verwandten so gut kennt, noch nicht da war. Sie kam erst am Sonnabendabend und hatte viel zu erzählen, von dem lieben alten Hemmingen, von einem großen Verwandtentee in Stuttgart und der schönen, feierlichen Konfirmation von Freda. Da die Landgräfin zu hochmütig war, ihre Tochter mit Freda einsegnen zu lassen, trotzdem die beiden Mädchen seit Jahren alle Stunden beisammen hatten, so ward Freda mit einem armen Kind zusammen eingesegnet. Es ist wirklich ein Glück, daß die Tante von diesem gräßlichsten aller Höfe endlich weggeht, wenn sie auch knapp genug wird leben müssen. Zuerst geht sie zu Freunden nach England, damit Freda die Sprache erlerne, dann vielleicht nach Paris und dann – Gott weiß wohin, da sie ja in Hemmingen kein Asyl hat. – Über Onkels Angelegenheit ist jetzt mehr Licht verbreitet und wie groß ist unsere Erleichterung zu hören, daß weder er und die Frau sich irgendetwas vorzuwerfen haben, sie sich seit langer Zeit scheiden lassen wollte und Onkel in jedem Sinn ehrenhaft gegen sie gehandelt hat. So bleiben nur die pekuniären Sorgen, die ja allerdings drückend genug sind. Letzten Sonntag kamen Landrats und Dédiés zum Abendbrot; die alte Dédié war bissiger und schrie lauter als je – dagegen war die Landrätin sehr gut aufgelegt. Im Übrigen legten und rollten wir die ganze Tischwäsche und sind heute endlich damit fertig. Das Wetter könnte gar nicht besser sein, so, daß das prachtvolle Heu ohne Sorge und Mühe eingefahren wird. Es ist wirklich ein wahrer Gottessegen, den wir nach dem dürren, vorigen Jahr doppelt dankbar empfinden. Mittwoch, 4. Juli. Mutters Geburtstag war ein wonniger Tag: Goldener Sonnenschein, Rosen in Massen, Briefe von nah und fern, frohe Gesichter und frohe Herzen – was braucht es mehr zu einem schönen Tag! Am Morgen war Bescherung; Sabine hatte ein Kirchenfenster geklebt, ich ein Bücherbrettchen gebrannt, die Brüder eine reizende Obstschale gestiftet. Am Nachmittag kamen Heydens und Landrats und waren sehr herzlich und nett. Der Nähschulkaffee wurde erst am nächsten Tag begangen und man denke sich unser Vergnügen bei einer geradezu tropischen Hitze von 3 – 7 Uhr Springspiele wie Katz und Maus, Böckchen, Böckchen schiele nicht etc. zu machen. Wir waren auch zum Umfallen müde.

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Heute kam zu unserer großen Freude Miss Lewis, die vor vier Jahren bei uns war. Sie hat sich embelliert⁵⁸ und ist so herzlich und freundlich, daß wir gleich mit ihr anfangen können, wo wir vor langer Zeit aufgehört. Das ist wohl das Kriterium wahrer Freundschaft und Sympathie. Freitag, 6.7. Am Mittwoch haben wir den guten, alten Weidenhauer begraben. Es war entsetzlich! Mir graut vor diesen Begräbnissen mit ihrem Prunk und falschen Schein. Es kam mir alles so gezwungen vor, wie der Pfarrer den bescheidensten aller Menschen so laut rühmte, wie Menschen, die dem Verstorbenen nie ein freundliches Wort sagten, in Thränen zerflossen. Dazu kam der betäubende Geruch der vielen Lilien, die stickige Luft im ganzen Haus; es war zum Ohnmächtigwerden. Als der Sarg dann im Buchenwäldchen, in der tiefen Einsamkeit eingesenkt wurde und die kleinen Vögel dazu ihr Abendlied sangen, war mir viel feierlicher zu Mut. Gestern war Diner, sehr lustig und gelungen trotz aller dunklen Vorahnungen. Motzens waren natürlich wie sie immer sind, nüchtern und unerquicklich, aber Reißens waren sehr nett und brachten eine sehr interessante Exzellenz von Freydorff mit, die malt, dichtet, musiziert und uns einige wundervolle Gedichte von Dahn herrlich deklamierte. Ich fand sie sehr genial, aber – sehr eitel: sie sprach von nichts als von sich und ihren Erfolgen. Frau Amtsrichter und ihre Freundin sangen sehr schön, sodaß der Nachmittag im Nu vorbei war. Heute gingen wir den Brüdern entgegen, die mit ihrem Freund Grävenitz in große Ferien kamen. Dann kommt noch heut und morgen Tante Hildegard und Hanna, die Woellwarthschen Zwillinge, Benno Hermann mit einigen Freunden, sodaß das Haus gerappelt voll sein wird. Es wird gewiß sehr lustig. Dienstag, 10.7. Die letzten Tage waren recht lustige, gemütliche Besuchstage, in denen man eigentlich zu nichts kommt, aber dafür ein herrliches Sommerleben führt. Am Freitagabend kamen Tante und Hanna, am Sonnabend Benno und die Woellwarthschen Zwillinge. Den ganzen Sonnabend und Sonntag haben wir zusammengesessen, geschwätzt und vorgelesen, Tennis gespielt, getanzt, Klavier gespielt, gekegelt und unser Leben genossen. Am Sonntag blieben wir mit Benno bis 12 Uhr auf und machten zu allseitigem Ergötzen das große Schreibspiel. Benno reiste nachts ab; er ist ein sehr interessanter, weitgereister Mensch mit sehr weitem Horizont und großen Anschauungen, obwohl er durch seine Anglomanie manchmal zu weit geht.

58 Verschönert.

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Hanna ist sehr nett und herzlich, doch finde ich ihren Ton mit Vettern stets etwas albern. Sie ist aber ja noch ein reines Kind. Die Zwillinge, Agnes und Hilde sind herzige, rosige, hellblonde Dinger, kaum auseinander zu kennen und stets zusammenklebend. Sie sind fast 20 Jahre alt, aber so unselbständig und hilflos wie 15jährige. Sie sollen hier möglichst getrennt und aufgekratzt werden, was wir nach Kräften besorgen. Dadurch, daß sie stets zusammen waren, haben sie sich angewöhnt, sich um alles zu fragen, nie allein in ein Zimmer zu gehen, stets aufeinander zu warten etc. Es ist zu lächerlich, wenn sie vor jeder Mahlzeit zu uns kommen und uns bitten, sie mitzunehmen, wenn sie bei jeder Erdbeere, die sie pflücken, fragen, ob sie reif sei etc. Aber herzige, liebe Kerle sind sie doch. Sonnabend, 14.7. Unsere große Tafelrunde ist bedeutend zusammengeschmolzen. Gestern Mittag reisten Tante und Hanna, die wirklich während ihres Aufenthalts hier äußerst herzlich und lieb waren. Vorgestern reiste der nette, wohlerzogene Grävenitz und morgen brechen die Buben zu ihrer Ferienreise nach Schwaben auf, sodaß außer dem Vater nur Weiblichkeit zurückbleibt. Wir gedachten, noch eine Partie nach Hummelshain etc. zu unternehmen, aber das Regenwetter vereitelte sämtliche Pläne; so unterhielten wir uns mit Schreibspielen, Vorlesen etc. und waren sehr lustig. Einmal kam Herr von Dalwigk, mein Brautführer von der Wehrdaer Hochzeit von seiner Generalstabsreise von Saalfeld herüber und erzählte uns wieder etliche Kalauer. Schade, daß der sonst gescheite Mensch diese Geschichten- und WitzchenWut hat. Es macht die Unterhaltung mit ihm zu langweilig. Gestern zogen wir in den Wald, fanden einige Pfiffer und aßen bis zur Erschlaffung Erdbeeren. Es ist nichts herrlicher als ohne Weg und Plan quer durch den Wald zu streifen, hier Heidelbeeren schmausend, dort Heidekraut und wilde Blumen pflückend, wenn in den Wipfeln die Vögel ihr Abendlied singen und alles Ruhe, Kühle und Stille atmet. Mittwoch, 18.7.1894 Da wir in Abwesenheit der Brüder uns doch auch amüsieren wollen, machten wir uns gestern auf den Weg nach Könitz. Es war im vollsten Sinn des Worts eine verfehlte Partie. Im Moment des Einsteigens erhielten wir in Pößneck ein Absagetelegramm, weil Frau Reiß krank geworden sei. So machten wir unsere Verpflichtungen bei Contas und Königs ab und kehrten hierher zurück. Es sollte ja nicht sein, aber man ist doch unwillkürlich etwas verstimmt, wenn einem die Pläne durchkreuzt werden und es ist doch im Grunde gleichgültig.

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Dienstag, 7. August. Eine schwere Zeit liegt hinter mir und doch wenn ich darauf zurückblicke, ist es nur mit Dank gegen Gott, der mich so glücklich durch Krankheit und Angst geführt hat. Am Donnerstag, 19.7. legte ich mich mit ziemlich schwerer Dyphtheritis, mit der ich ca. zwei Wochen festlag. Mir kommt die Zeit natürlich viel länger vor. Ich habe eine dumpfe Erinnerung an Fieber, Halsschmerzen und Durst, an Inhalieren, Pinseln, Einnehmen und Gurgeln, die unangenehme Persönlichkeit des Doktors und die einzige, erfindungsreiche Liebe und Pflege der Mutter, an das stündliche, unangenehme Aufwecken nachts und an viele stille, ernste Gedanken; dann an das herrliche Gefühl der Genesung verbunden mit großer Mattigkeit – es war, als ob eine schwarze Wolke mich überschattete, um mich das goldene Licht nur umso dankbarer genießen zu lassen. Leider verhinderte mein Kranksein Margarethe, eine Woche eher zu kommen. Sie kam mit Hermann am Montag, den 30., ebenso die Buben von ihrer Ferienreise. Sie haben sich wundervoll unterhalten und erzählten ganz begeistert von allem, was sie sahen. Auch haben sie überall durch ihre Frische, Natürlichkeit und Manierlichkeit so gut gefallen, daß ich wirklich ganz stolz auf sie bin. Vaters Geburtstag war herrlich: Ein genüßliches Essen mit Krebsen und Bowle, am Nachmittag Heydens mit einem Neffen Sommerfeld, am Abend lebende Bilder – das waren die geplanten Festlichkeiten. Dazu kam ganz unerwartet ein Überfall von Kronbiegels mit Lucie, die in Rudolstadt in Sommerfrische sind. Er war bester Laune, schrie wie besessen, umarmte den Vater und schenkte Margarethe in den ersten zehn Minuten einen kleinen Knobelbecher. Frau Kronbiegel ist eine nette, feine Frau und die Tochter eine kleine, kluge Eidechse. Um fünf Uhr fuhren sie wieder fort und wir warfen uns in Kostüm. Die lebenden Bilder waren sehr gelungen und reizend (das kann ich wohl ohne Unbescheidenheit sagen) und hatten großen Beifall. Wir führten das Wort Erffa in fünf Bildern auf. 1. Egmont (Hermann in der niederländischen Tracht mit Halskrause famos aussehend) im Gefängnis, wie ihm Klärchen als Freiheit erscheint (Sabine). 2. Rheingold (Margarethe als Rheinnixe mit Perlen spielend und mit einem Zwerg (Rudi) den Nibelungenhort hütend. 3. Fischer: Eine reizende, sonnig beleuchtete Gruppe: Miss Lewis als Italienerin mit dem Spinnrocken, Jörge Netze flickend und Rudi im Vordergrund mit schwarzer Perücke samt dem römischen Spitz (Müffle) im Sande liegend. 4. Fastnacht: An einem kleinen, eleganten Soupertisch saßen Burkhart als Pierrot (in weitem weißen Anzug mit roten Pompons und hohem Zuckerhut-Hut, unter dem sein Apfelgesicht hervorlachte), wirklich herzig, und ich als RokokoDämchen, gepudert, in grün und rosa Kleid, rosa Häubchen und großer Krinoline. Das erste Mal war ich maskiert und aß sehr sittsam; das zweite Mal

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demaskierte ich mich und er trank mir zu; das dritte Mal stützten wir uns beide auf den Tisch auf und gaben uns einen herzhaften Schmatz. Es war wohl eins der gelungensten Bilder und erregte großen Beifall. Das Hübscheste war das letzte: 5. Atelier, wo Jörge als junger Maler à la Rembrandt gekleidet, vor einer Staffelei mit fertigem Bild saß und, während das Modell erhöht daneben saß. Die Ähnlichkeit der Zwillinge brachte uns auf die Idee. Im Rahmen saß Agnes, das Modell war Hilde, beide in niederländischer Tracht in rosa Atlaskleidern, breiten Spitzenkragen, Silberschmuck, hübsch frisiert, eine Rose in der Hand. Jede Falte, jedes Haar, jeder Faden war gleich gemacht, sodaß sie wirklich kaum zu unterscheiden waren. Sie sahen mit ihren blauen Augen, weißen Hälsen und schönen Haaren ganz herzig aus und waren durch den großen Beifall sichtlich gehoben. Beim letzten Aufziehen hatte sich das Modell erhoben und überreichte dem Maler ihre Rose, während das Bild natürlich ganz starr blieb. Einen netteren, frappanteren Anblick kann ich mir nicht leicht denken. Als Schluß bekränzten die drei Brüder Vaters Bild. Am Tag nachher reiste Margarethens Gatte schon ab, nachdem wir ihm die Erlaubnis abgerungen, sie eine Woche, auch über ihres Schwiegervaters Geburtstag hier zu behalten. Er gab sie aber so widerwillig, daß die arme Mag, von Zweifeln verzehrt, beschloß, doch am 4.8. zu Hause zu sein. Da bekam sie eine starke Angina, die sie sonst an nichts hinderte, ihr aber die Reise unmöglich machte. Wir betrachteten dies als „Gottesurteil“ und freuten uns riesig darüber. Die Zwillinge reisten auch heim und werden sehr vermißt: Es sind sehr gut und tüchtig erzogene, nette Mädchen, nur sind sie in dem alltäglichen Milieu zu Hause und durch das nie getrennte Doppelleben etwas spät entwickelt. Sie stehen auf dem Niveau einer 17jährigen und haben sehr wenig eigenes Denken und Urteil. Man muß ihnen aber trotz allem zu gut sein, den kleinen, kindlichen, guten Dingern. Ich komme mir ordentlich mütterlich gegen sie vor. Der letzte Sonntag war ebenso ereignisreich als interessant, da wir den Besuch von Gössel mit zwei Töchtern hatten. Die Töchter zwar waren nur Zugabe, denn, obwohl sie beide des Vaters Kraft zum Teil geerbt haben, sind sie doch noch ziemlich unentwickelt und nicht sehr interessant. Umso mehr er. Er war mir sehr sympathisch und brachte durch seine Gespräche eine Fülle Anregung, Gedanken und neue Gesichtspunkte. Miss Lewis war ganz glücklich, ihn noch hier zu sehen. Es würde zu weit führen, wollte ich alle unsere Gespräche wiederholen. Besonders interessant war mir, was er über das Erscheinen Verstorbener einige Zeit nach ihrem Tode sagte und wie er die Notwendigkeit des Gebets nicht allein vom christlichen, sondern auch vom hygienischen als Kräftigung der Nerven, der feinen

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geistigen Teile, hervorhob. Er untersuchte uns alle und fand, Gott sei Dank, nichts Besonderes; mit meiner Gesundheit war er mehr als zufrieden, sodaß wir uns über die Nachwehen der Dyphtheritis nicht zu beunruhigen brauchen. Am Abend kamen Schulenburgs aus Hummelshain mit ihrer Mutter, der sehr angenehmen Gräfin Berlichingen und der jetzt erwachsenen Ebba. Letztere ist recht wenig hübsch, aber gescheit und angenehm und hat ihre übertriebene Schwärmerei für Stift und Pröbstin etwas gelassen. Jetzt ist das Haus wieder leer, da gestern die Brüder und heute früh um fünf Uhr Margarethe und Miß Lewis abreisten. Letztere ist wirklich eine angenehme, gescheite, liebe Person, mit der man ja zuerst schwer warm wird; wenn man aber soweit gekommen ist, weiß man doch sicher, daß es der Mühe wert war. Die Brüder waren auch liebe Kerls: Jörge hat sich im letzten Jahr fabelhaft entwickelt. Aus einem stillen, langweiligen Schüler ist er ein frischer, gewandter, amüsanter Mensch geworden, der mit seinem trockenen Witz alle zum Lachen bringt. Sonntag, 12. August Letzten Donnerstag haben wir ein Picnic in Hohenwarthe gehabt, das ein kleines Idyll für sich war; obwohl wir fünf Stunden zu gehen hatten, wurden wir bei dem kühlen Wetter nicht müde und konnten mit frischen Sinnen die herrliche Natur genießen. Nach einem tüchtigen Marsch von Könitz herauf langten wir in der geliebten Mühle an, wo wir außer Beulwitzens Heydens mit Frl. von Mansard und ihrem Neffen Sommerfeld trafen. Sabine und ich bereiteten im Nu Pfirsichbowle und Gurkensalat und bald saßen wir im fröhlichen Kreis um die dampfende Aalschüssel. Da Aal die pièce de résistance und vorzüglich bereitet war, vertilgten wir Massen, nämlich zu fünfzehn Menschen ca. 14 Pfund. Vater sagte, diese Picnics erinnerten ihn lebhaft an die Zusammenkünfte, die sein Vater und seine Freunde in der guten alten Zeit hatten, wo man harmlos bei einem guten Fisch und guten Tropfen die Sorgen und die Mühen vergaß, wie die Kinder sich einfach heiter des Lebens freute. Heydens mit ihrem natürlichen, netten Wesen störten den verwandtschaftlich vergnügten Ton gar nicht, sondern fügten sich herrlich in alles. Nach Tisch lagen wir auf dem Rücken im Gras, „an der Saale hellem Strande“, sahen, wie das Sonnenlicht auf den Wellen tanzte, sahen durch das stets wechselnde Licht und Schatten die Tannenberge in den verschiedensten Tönen und Effekten, hörten als einziges Geräusch das Brausen des Wehrs und das Zirpen der Grillen und hielten die herrlichste, friedlichste Mittagsruhe der Welt. Nach großem Kaffeeditschen und nasser Floßfahrt begaben wir uns auf den Heimweg. Es war ein Idyll! Der früher heiß ersehnte Regen kommt jetzt zur Ernte recht ungelegen. Die Gerste ist ja fast herein, aber der Roggen liegt auf dem Feld, um gedroschen zu werden, die Maschine steht draußen, Weizen, Hafer, Erbsen etc., alles steht und liegt noch im Regen. Hoffentlich schlägt das Wetter bald um; es ist zu traurig, die herrlichen Gottesgaben

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im letzten Moment verderben zu sehen. Gestern fuhren wir bei strömendem Regen nach Arnshaugk, um Tennis zu spielen. Dies war der Plan; doch wurde er natürlich in „Jenkins up“⁵⁹ verwandelt, bei dem wir uns ebenso gut unterhielten und ebenso aufregten. Donnerstag, 16. August In den letzten Tagen hat es wieder und wieder geregnet, sodaß die Ernte mit Ausnahme von gestern keinen Schritt vorwärts gegangen ist. Was soll nur daraus werden? Uns verschaffte das Regenwetter den Wagen, den wir zu einem Besuch bei Landrats benützten. Ilse ist mit drei Kindern da und war ganz besonders nett und herzlich. Ihre Kinder sind ihr leider im Aussehen recht unähnlich: Anton ist ein kräftiger Schlingel, das Ilschen ein häßliches, aber sehr liebes Weißköpfchen und der kleine Gebhard ein zartes, blasses Bübchen. Gestern waren Ilse und Frau Landrat hier und kamen in einen solchen Guß, daß sie vollständig zerweicht waren. Wir waren nicht ihrer, aber der Ernte wegen sehr deprimiert. Sehr hübsch war ein gemütliches Mittagessen in Obernitz mit Manzards und dem jungen Sommerfeld. Letzterem fielen wir den ganzen Nachmittag anheim und entpuppte sich der wirklich sehr thöricht aussehende Mensch als ein ganz kluger Kopf. Er hat den Geschichts-Doktor gemacht, interessiert sich sehr für Kunst etc. und ist wirklich sehr gebildet. Es ist doch ein großes Mißgeschick bei diesen Anlagen so einen sehr unbedeutenden Eindruck zu machen und wie ein blinder Maulwurf auszusehen. Am Nachmittag kamen Motz mit Klärchen und vier alten Jungfern, zwei Frl. von Riedel und zwei Frl. von Trütschler. Es ist mir unmöglich, irgendetwas über sie zu sagen. Motz war angeheitert und unausstehlicher als je. Und nun kommt der große Jammer und Kummer: Motzens haben uns auf morgen Abend zu einem Gartenfest eingeladen und wir müssen endlich einmal zusagen. In Toilette hinfahren, im schlechten Gasthof übernachten, einpacken etc. ist etwas viel Strapaze für ein Fest, das uns keinerlei Vergnügen macht. Da nur die Hälfte Herren sein werden, zieht man nur den Neid der Mädchen auf sich; Anni und Liesbeth sind verreist, kurz, es wird, fürchte ich, recht trübe. Wir haben jetzt beschlossen, daß Vater die Ernte und Sabine Gesundheit vorschützt und Mutter und ich uns opfern! Sonntag, 19. August Am Freitag packte ich den Koffer für Rudolstadt, als ein solcher wolkenbruchartiger Regen ausbrach, daß wir mit leichtem Gewissen abtelegraphieren konnten. Wie

59 „Jenkins Up“ war ein Gesellschaftsspiel für zwei Parteien, das mit einer verdeckten Münze gespielt wurde.

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können wir mit guten Kleidern umsteigen und wie kann man bei diesen Güssen an ein Gartenfest denken. Wir hörten aber, daß es stattgefunden habe und sehr gelungen gewesen sei. Gestern aber folgten wir einer Aufforderung von Onkel Lutz zum Picnic nach Orlamünde, das vom schönsten Wetter begünstigt und sehr animiert war: Im herrlich gelegenen Wirtsgarten tranken wir auf hohem Balkone Kaffee und sahen nach und nach den Strom der übrigen heranziehen. Es waren da: die Porstendorfer⁶⁰ mit dem jungen Thümmel, die Lausnitzer mit Frl. Ida, die Raniser⁶¹ mit Hans und Ilse, die Ludwigshöfer mit Ida Ziegesar, die Beusts-Serba, Wangenheims, Heydens mit Gästen, Rothkirchs, Motzens, Starks, Hollebens, Riedels und etliche Leutnants, im Ganzen also 55 Personen. Wir bummelten herum, machten viel Unsinn und zogen dann in den großen Rathaussaal, wo wir munter nach einer Ziehharmonika tanzten. Es war sehr flott und lustig und machte allen Spaß. An langen Tafeln wurden steinharte Schnitzel verspeist und dann das Tanzen bis gegen zehn Uhr fortgesetzt. Am schönsten war aber doch die Rückfahrt durch das Orlatal: der Mond spiegelte sich in der Saale, die Lichtlein von Orlamünde grüßten von oben herunter und die alte Kemenate, ein Markstein alter dunkler Zeiten, hob sich düster gegen den Himmel ab. Die Picnics von Hohenwarthe und Orlamünde lassen sich kaum vergleichen; das erste war viel Natur und wenig Menschen, das andere viel Menschen und wenig Natur. Ich bin entschieden für ersteres. Heute kamen die Mohlschen Kinder mit ihrer Mademoiselle und einem Gast, einer Frl von Schmidt-Sapiero aus Klagenfurt. Ich schwärme sonst für die Herzlichkeit und Frische der Östreicher, aber dies ging mir doch zu weit. In den ersten zwei Minuten bot uns dies Mädchen das „Du“ an, dann küßte sie uns, bat uns um Photographien und tat, als ob wir die ältesten Freunde wären. Es war mir fast peinlich, da ich diese stürmischen Gefühlsäußerungen durchaus nicht erwidern mochte und sie mir bei aller Nettigkeit recht zweite Gesellschaft schien. Wir spielten Tennis und tobten mit den Kindern, sodaß ich ziemlich müde bin. Donnerstag, 23. August. Heute hatten wir ein kleines Diner nur mit Heydens und Mansards, das wirklich äußerst gemütlich und nett verlief. Der alte General ist ein reizender Mensch, höflich und liebenswürdig und schwelgte mit dem Vater in Erzählungen von früher, vom Rhein und von seinem geliebten Bonn; die ältliche Tochter machte mir einen

60 Familie von Wurmb, der auch Lausnitz gehörte. 61 Familie von Breitenbauch, deren anderer Zweig Ludwigshof besaß.

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feinen, sehr angenehmen Eindruck; das reizende Verhältnis zwischen ihr und ihrem Vater ist schön zu sehen, die gegenseitige Bewunderung und Vorsorge wirklich rührend. Es regnet noch immer. Trotz Kälte und Wind, trotz Barometer und Wetterkarte, trotz Spinnen, Schwalben, Fröschen und anderen Propheten regnet es jeden Tag; alle Menschen sind mehr oder minder deprimiert über die viele vergebliche Arbeit. Wird es je wieder schön werden? Sonntag, 26.8. Es ward wieder schön, sodaß man am Freitag einfahren konnte. In der Nacht zum Samstag weckte uns zwar ein Gewitter mit Regengüssen, das das Dreschen abermals vereitelte, aber heute lacht der blaueste Himmel und was Arme hat, der Gärtner, sämtliche Mädchen, alles ist freiwillig ins Feld hinausgezogen. Das ist ein freudiges, dankbares Schaffen! Wir genossen die Sonne auf andere Weise, saßen im Garten und ließen uns von Kessows ihre italienische Reise beschreiben. Er ist ein recht bedeutender Mann, wenn auch der echte Schultyrann, sie ist ein herziges, bildhübsches Kind und wird von ihm absichtlich zum Kind erzogen. Gestern waren wir zu Kaffee und Abendbrot in Ranis und feierten Frau Landrats Geburtstag mit den Ludwigshöfern, Lausnitzern, Krosigks, Frieda Ziegesar und Frl. Ida. In Ranis ist es immer nett; schon die herrlichen Räume erleichtern jedes Fest. Auf dem Würzgärtchen ward Kaffee getrunken, spazieren gegangen, mit dem netten Kindertrio gespielt und dann in der Halle soupiert. Wir saßen mit Frieda und Arthur in der Nische und unterhielten uns herrlich. Arthur ist ein netter, kluger, sehr sympathischer Mensch und hat sich sehr wenig seit seiner Kinderzeit im Charakter geändert. Mittwoch, 29.8. Es ist jetzt fast jeden Tag etwas los; denn das Wetter ist so köstlich warm und klar, daß man ganz unternehmungslustig wird. Am Montag kam der getreue Roderich, der nie an uns vorbeifährt, ohne wenigstens auf einige Stunden zu kommen. Er hat sich in Wildungen recht erholt, obwohl er doch noch immer recht zart aussieht. Er war gemütlich wie immer, heiter und sehr verwandtschaftlich; er ist ein sehr liebenswürdiger Gesellschafter, unterhält gut und läßt sich gut unterhalten, zwei Eigenschaften, die man nicht oft vereint findet, die aber die Konversation erst angenehm machen. Gestern suchten wir mit dem Vater Champignons und fanden deren so viel, daß wir nicht allein einen großen Korb, sondern noch einen aufgespannten Regenschirm bis zum Rand füllten. Wir machten sie ein, dörrten sie und aßen Unmassen davon, wobei uns die Ludwigshöfer, die zum Abendessen kamen, tüchtig halfen.

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Sonntag, 1ten September 1894 Letzten Donnerstag fuhr ich mit den Eltern nach Neustadt, um den neuen Bezirksdirektors Gegenbesuch zu machen. Sie hatten uns verfehlt, sodaß wir sehr neugierig waren, besonders da Rudi eine tolle Beschreibung von ihm gemacht hatte. Er trug nämlich zum Besuch hier, auf dem Land! weiße leinene Hosen, Frack und Cylinder. Wir waren erstaunt, ihn so gebildet und weltläufig zu finden. Sie ist eine schöne, blühende blonde Frau, erst 1 ½ Jahre verheiratet und kinderlos. Sie macht einen angenehmen Eindruck, ist aber fieberhaft verlegen und um ihre Unsicherheit zu verbergen, von einer krankhaften Gesprächigkeit. Sie scheint sich gar nicht mit Neustadt und den Neustädtern zurechtfinden zu können. Wir hatten uns bei Gökels zum Abendessen angesagt und unterhielten uns ganz gut mit den netten jungen Leuten. Sie hat wunderhübsche Arbeiten und Aquarelle von ihrer begabten Schwester. Dies schöne Mädchen ist ein ganz interessantes, talentiertes Geschöpf und verdient sich nur durch Novellenschreiben jährlich ca. 4000 Mark. Wie wonnig, so unabhängig zu sein! – Das Essen war so entsetzlich zusammengestellt, so kompliziert und miserabel gekocht, daß wir uns alle drei ganz elend fühlten; er und sie ließen es sich herrlich munden und löffelten die blanke Butter nur so hinein. Gestern waren wir am Abend in Ludwigshof mit Herrn von Schulenburg und Ebba. Letztere ist wirklich sehr nett; je öfter man sie sieht, je mehr vergißt man ihre unangenehme Häßlichkeit. Frieda ist ein süßes Wurm, bis jetzt auch noch viel zu natürlich, um sich leicht verderben zu lassen! Vater will Ende der Woche auf einige Tage nach Örlsdorf und Sabine als Köchin mitnehmen. Freitag, 7.9. Vater ist noch immer hier, da es täglich gießt und die Jagdaussichten möglichst schlecht sind. Wenn es einigermaßen besser wird, gedenkt er es morgen zu riskieren. Das Wetter hat nur den einen Vorteil, daß man viel vor sich bringt; die Mutter hat sämtliche Entwürfe zu den Füllungen bis auf eine beendet und wir klebten im schwarzen Buch und zeichneten viel; ich möchte zu gern nach der Natur malen lernen, aber bis jetzt ist alles zu naß draußen. Das Einmachen nimmt auch viel Zeit, doch ist es eine nette, lohnende Beschäftigung, dies Einhamstern und Vorsorgen für den Winter: Birnen, Gurken und Bohnen und Zwetschgen haben uns diese Woche viel zu tun gemacht. Doch fast hätte ich das große Ereignis, das Sedanfeuer der Wernburger Jungen vergessen. Rudi und Konrad mit einem langen Schwanz von Trabanten zogen bettelnd durchs Dorf und trugen einen Riesenhaufen von alten Besen, Fässern, Gerümpel etc. zusammen. Das gab ein großes, loderndes Feuer, um das wir dann alle standen und patriotische Lieder sangen. Obwohl die wenigsten der Beteiligten über

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die Bedeutung solcher Feiern sich klar werden, so sind sie doch gerade bei den Bauern meist recht erhebend; mir war die Feier der Schlacht von Sédan, oder vielmehr der Gefangennahme Napoléons nie einleuchtend oder sympathisch; die früheren Feiern von Leipzig hatten doch viel mehr Sinn. Donnerstag, 13ten September Vater und Sabine sind seit Sonnabend in Örlsdorf und wollen heute Abend zurückkommen. Mutter und ich, abends mit Rudi, haben ein herrliches Stillleben gehabt; so friedlich und gemütlich, daß ich gestehen muß, mich nicht so wie sonst auf die Ankunft der Anderen zu freuen. Wir beklebten die spanische Wand der Brüder mit alten Abreißkalendern, Oblatenbildern und Jörges erstem Cotillon-Orden und haben einen kindischen Spaß, wie hübsch und lustig der Totaleffekt ist. Am Abend lasen wir und machten Spiele und waren meist so müde, daß wir bald nach neun Uhr ins Nest krochen. Morgen kommt Herr von Maltzahn-Gültz, leider nur auf einen Tag. Sonntag reise ich vielleicht mit Vater nach Erfurt und von da mit Hermann auf zwei Wochen nach Lauchröden. Hoffentlich habe ich gutes Wetter und sehe die Gegend mal in Grün und Sonnenschein. Ich denke, die Luftveränderung wird mir gut tun; ich habe nämlich jetzt als Folge der Dyphtheritis, die sich meist erst nach vier Wochen zeigen, eine Lähmung im Hals, bin stets heiser, kann nicht recht schlucken etc. Das geht hoffentlich bald fort. Gern besuchte ich noch die arme Mia, aber es wird wohl nicht mehr gehen. Frau von Beust ist schwer krank in der Klinik in Halle und soll wahrscheinlich bald operiert werden. Schrecklich ist, daß kein Professor weiß, was ihr fehlt und sie sich daher alle vor dem Operieren scheuen, daß sie aber ohne Operation wohl nicht länger leben kann. Wäre es nicht die beste Lösung, wenn sie stürbe und all dem Jammer ein Ende gemacht würde? Oder soll die arme Mia doch gezwungen werden, den elenden Hardenberg zu heiraten, damit er ihrer Mutter ungestörter den Hof machen kann? Mia sagte Frau Kessow: „Lieber heirathen als zu Hause bleiben!“ Sie wird gewiß furchtbar gequält. Dienstag, 18.9. in Lauchröden. Wir entschlossen uns schnell und unerwartet auf einen Brief von Mag, daß ich auf einige Zeit hierher fahren sollte. Also, um chronologisch zu erzählen: Am 13ten kamen Vater und Bibs seelenvergnügt zurück, Vater hat 109 Hühner geschossen, Sabine vortrefflich gekocht, kurz, es muß sehr nett und gemütlich gewesen sein. Am Freitag kam Herr von Maltzan auf einen Tag. Er ist ein durch und durch vornehmer Mensch mit edlen Gesinnungen und gesunden Ansichten; dabei ein reizender, liebenswürdiger Gast, der für alles Interesse zeigt. Leider mußten Vater und ich um elf Uhr unsere Reise antreten, während er noch bis fünf Uhr bei Mutter blieb. Die Reise

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verlief angenehm, da wir, anstatt zwei Stunden in Göschwitz zu liegen, nach Jena fuhren, dort zu Mittag aßen und zwischen den schönen Gärten herumbummelten. In Erfurt verließ mich der Vater zum konservativen Parteitag und ich fuhr mit zwei Damen und einem zweijährigen Gör bis Eisenach weiter. Auf dieses Unglückswurm wurde immerfort eingeredet: Wenn du schreist, frißt dich die Dame auf etc., sodaß wir alle nicht zur Ruhe kamen. In Herleshausen empfing mich Ferdinand, der Gärtner, an der Fähre Hermann, in Lauchröden Mag, alle drei mit der Nachricht, daß Einquartierung da wäre. Dieselbe bestand aus zwanzig Pferden, etlichen Leuten und einem Rittmeister Schröder von den 6. Ulanen, um den sich die halbe Gegend gezankt hatte. Am Sonntag fuhren wir mit ihm nach Neuenhof, wo wir Georg und Wisa trafen. Georg, braungebrannt und wohl und frisch, ist durch das Manöver etwas forscher und selbständiger gegen Wisa in seinem Auftreten, was ihr Verhältnis nur netter macht. Das lange Rumsitzen ermüdet sehr, sodaß ich etwas matt war. Ich bin überhaupt durch allerhand kleine Lähmungen in Hals, Fingern etc. recht angegriffen. Gestern mußten wir, da Emilie ein dickes Gesicht hatte, den ganzen Vormittag kochen; ich hatte gute Schnitzel gemacht, aber den Kartoffelbrei verunglückt. Dazwischen kam Georg und forderte uns zur Wartburg-Besteigung für denselben Nachmittag. Wir fuhren demgemäß mit der Bahn nach Eisenach, obwohl Hermann brummte, daß wir ihn alleinließen. Da er aber doch nur auf seinen Feldern herumstiefelt und doch nichts von uns hat, machte ich mir keine Gewissenssorgen: Man muß auch nicht zu sentimental sein. Nach einigen Besorgungen trafen wir die Neuenhöfer, Georg, Wisa und F[r]iedel. Der Aufstieg von einer anderen Seite war herrlich, und die Aussicht durch die zarten Nebelschleier, die zwischen den belaubten Bergen schwebten, ganz zauberhaft. An einem geschützten Eckchen tranken wir Kaffee; dann ließen Friedrich und ich uns führen, da ich mir das Innere gar nicht mehr erinnerte. Wenn das eklige Gerassel des Führers und die vielen Menschen nicht gewesen wären, so hätte man sich in den herrlichen Räumen in die große Vergangenheit, den Sängerkrieg, die Lutherzeit hineindenken können; so war es unmöglich! – Der Abstieg war steil und mühsam, der rührende Friedel erzählte mir seine ganze Verlobungsgeschichte, vom ersten Sehen bis zum Brautstand in der kindlichsten, offensten Weise, wie es mir noch nie von einem Fernerstehenden passierte. In der Verwaltung seiner Geschäfte, seinem Auftreten als Gutsherr ist er sehr reif und selbständig, besonders aber in seinen Gefühlen der reinste Junge. Seine Braut ist 22 Jahre, muß wohl auch sehr unreif sein; ich könnte mich nie entschließen, einen so kindlichen Mann zu heiraten, neben dem ich mich wie seine Mutter fühlte. Einen kurzen Besuch machten wir noch bei Frau von Riedesel und deren angenehmer Tochter Marie und begaben uns dann auf den Heimweg.

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Heute war der herrlichste, sonnigste Herbsttag, den man sich denken kann; das ganze Tal glänzte im goldenen Licht, die Wälder schimmerten im blauen Duft und die Werra blitzte wie ein silbernes Band. Wir zogen mit Körben in die Apfelplantage hinaus, schüttelten, pflückten und lasen auf. Zuletzt kam Hermann von der Hühnerjagd dazu, wir lagerten uns auf einem sonnigen Rain und tranken in höchster Eintracht den mitgebrachten, noch ganz heißen Kaffee. Es war so einfach und nett, ganz wie arme Leute, die auf dem Feld die schlichte Mahlzeit halten. Sonnabend, 22.9. Wir waren riesig fleißig im Haus in der letzten Zeit; aber das Arbeiten zu zweien in solch jungem, neuen Haushalt macht auch viel mehr Spaß als daheim. So haben wir Mus gekocht, eingemacht, gestopft, Hagebutten ausgekernt und gepappt. Dazwischen ist der Verkehr mit Neuenhof stets rege und voll Abwechslung; einmal waren wir zum Essen dort, wo ich zum ersten Mal das Sommerleben dort genoß. Es ist noch gemütlicher als sonst, wenn man den Kaffee am Kirchplätzchen trinkt, im Garten und in dem herrlichen Grund spazieren geht und sich im Obstgärtchen zu schaffen macht; ich kann mir kaum ein harmonischeres, schöneres Heim denken. Gestern kamen die Neuenhöfer mit der Gräfin Bernstorff; man trank sehr fein Kaffee auf dem Söller und machte dann den Spaziergang über den Stechberg, der mich noch furchtbar ermüdete. Leider hat es heute den ganzen Tag geregnet und der Himmel hängt so voll grauer Wolken, daß wir ganz besorgt sind. Mittwoch, 26.9. Ich habe zwei sehr nette Tage in Neuenhof verlebt. Am Sonntag gingen wir ganz ahnungslos zu Fuß hin, um den Sonntag dort zu verbringen; da hieß es mit einem Mal, ich sollte zu dem am nächsten Tag stattfindenden kleinen Diner dableiben, Wisa versprach, mir Kamm und Schwamm zu borgen, kurz, nach einigem Hin und Her blieb ich. Zu meiner großen Freude hörte ich den alten Georg reizende Lieder singen und Tante Luise sehr schön spielen. Der Vormittag war urgemütlich, ich half im Haus und fiel dann ganz Tante Luise anheim, ging mit ihr spazieren und saß lange in ihrem Zimmer. Sie war so liebenswürdig und reizend, daß ich ganz bezaubert von ihr war; ich habe selten tiefen, sittlichen Ernst mit so viel Anmut und Heiterkeit, Weltgewandtheit und gesellige Talente mit so viel Natürlichkeit und jugendlichem Verständnis gepaart gesehen! Zum Diner kamen Max und Linchen Boyneburgk, Frau von Eichel vom Pflugensberg mit Hedwig und einem Genfer Geschwisterpaar Patry, ein Monsieur Bourkard und Herr Immler. Es war schlechter als je gekocht, aber wie gewöhnlich war der ganze Eindruck die Stimmung, und die Unterhaltung so harmonisch, daß man an diese im Grund doch nebensächlichen Dinge nicht denken konnte. Hedwig Eichel sah recht niedlich aus und machte einen leidlich erwachsenen Eindruck. Sie ist aber doch wie eine 17- und nicht wie eine 20jährige. Die jungen Genfer waren

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sehr liebenswürdig und nett, und das Französisch von Georg und Wisa zum Totlachen. Am Abend fuhr ich auch zurück nach Lauchröden, da ich Margarethe gern helfen wollte. Gestern waren alle Neuenhöfer zum Abendbrot da; wir hatten Brezeln gebacken, den Tisch mit Nasturzien⁶² geschmückt und freuten uns wie die Kinder, daß alles so sauber und einladend aussah. Es war unterhaltend und sehr gelungen. Von Tante Luise mußten wir leider schon Abschied nehmen, da sie heute zu Gössel nach Dresden ist. Sonnabend, 29.9. Heute sollten wir eigentlich auf dem Pflugensberg essen, aber da Hermann keine Zeit hat und es mit den Zügen nicht gut paßt, so sagten wir ab; das ist ja ganz begreiflich, warum wir aber den Donnerstagabend nicht zu Linchen sollten, wo alle Rotenhans und Eichels gemütlich beisammen waren, sah ich nicht ein. Er wollte aber nicht, schützte lahme Pferde, Arbeit, schlechtes Wetter etc. vor, immer mit dem Refrain: „Wenn Hildegard absolut hin soll, kann sie mit meinen Eltern fahren.“ Das wollte ich natürlich auch nicht; so unterblieb es, aber geärgert haben wir uns doch. Gestern aber hatten wir in Neuenhof ein feines Diner mit dem Landgrafen Alexis zu Hessen-Philippsthal-Barchfeld.⁶³ Er ist ein Original, ein bedeutender, gutmütiger, sehr höflicher, alter Mann, der ein schweres Leben hinter sich hat. Von seiner abscheulichen Frau geschieden, lebt er jetzt mutterseelenallein in Herleshausen, ohne Adjutanten, ohne irgendwen, der ihn pflegen und hegen könnte. Er gefiel mir ungemein, wenn mich seine düstere, merkwürdige Erscheinung und seine übertriebene Höflichkeit auch zuerst verblüfften; z. B. spricht er nur in der dritten Person und zerreißt sich fast vor Liebenswürdigkeit. Gegen Abend nahmen wir Georg, Wisa und Friedel nach Lauchröden hinüber und hatten einen letzten lustigen Tag und Abend mit ihnen. Heute Abend wollen sie nach Berlin zurück. Heute schrieb mir die Mutter, daß die Brüder ausgezeichnete Zensuren mitgebracht hätten; Burkhart ist Primus von Untersekunda, Jörge zweiter von Oberprima geworden. Außerdem schrieb der Tutor, er habe sich fabelhaft in Geschichte verbessert! Wenn ich mir auch nicht einbilde, dies Resultat durch meine Stunden, die ich ihm in den Ferien gab, erreicht zu haben, so glaube ich doch sein Interesse geweckt zu haben und bin sehr froh und stolz über diesen guten Jungen! Mittwoch, den 3.10. Es gibt jetzt so viel hier zu tun, daß ich kaum weiß, was Margarethe ohne irgendwelche Hilfe anfinge; einmal wird Sauerkraut eingemacht, einmal Äpfel geschnitzt und heute habe ich mich mit Aussteinen von Zwetschgen verdient gemacht, während Margarethe eine Besorgung in Eisenach machte. Her-

62 Kapuzinerkresse. 63 Landgraf Alexis zu Hessen-Philippsthal-Barchfeld (1829 – 1905).

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mann baut ein Milchgewölbe und richtet eine Zentrifugen-Wirtschaft ein; ich fürchte, bis die Leute die nötige Akkuratesse und Sauberkeit in der Butterbereitung erlangt haben, wird es noch manchen Ärger geben. Übermorgen gedenke ich, so Gott will, abzureisen, mit Grete Butler, die von Meiningen kommt, zusammenzutreffen und nach Hause zu fahren. Es wird mir schwer, da dieser Besuch so besonders gemütlich und schön war; durch das viele Regenwetter konnte man sich so recht genießen. In Neuenhof war ich am Sonntag zum letzten Mal; ohne Besuch sind sie ja nie; kaum waren Georg und Wisa fort, so rückte ein junger Müffling ein. Nächstens aber geht alles auseinander, teils zu Friedels, teils zur Harnier’schen Hochzeit; letztere will auch Margarethe mitmachen; da Hermann nicht frei, muß sie mit ihrem Schwiegervater hinreisen. Wernburg, 7ter Oktober 1894 Von unserer gemeinsamen Reise läßt sich wenig berichten. Ich traf Grete Butler mit Margarethe in Eisenach und legte die Reise gut mit ihr zurück; wir unterhielten uns gut, kamen aber gar nicht näher, sie soll eine kalte, verschlossene Natur sein. Hier wurde ohne Aufhören geschwatzt: Sabine hatte ein sehr amüsantes landwirtschaftliches Zauberfest mitgemacht, die Buben in Örlsdorf 45 Hasen und 15 Hühner geschossen, sodaß es ein Erzählen ohne Ende gab. Rudi, der lustige Dicke, ist leider in Dresden zur Kur und wird von allen sehr vermißt. 30. Dezember 1894 Die lange Zeit, die ich verstreichen ließ ohne zu schreiben, nachzuholen, ist ein Ding der Unmöglichkeit, aber die hauptsächlichsten Ereignisse der letzten Monate will ich kurz erwähnen. Nach den lustigen Michaelisferien mit Grete Butler und Beulwitzens zerstiebte alles auseinander und Rudi kehrte sehr gekräftigt aus Dresden zurück. Sabine und ich verlebten eine Pastoren- und Kuchenreiche Zeit zur Kirmes in Dittersdorf, dann einen schrecklichen, ungemütlichen Aufenthalt bei Landrat Hollebens in Rudolstadt. Anstrengend, aber sehr gelungen war eine Razzia in Leipzig, wo wir viele schöne Sachen kauften und Schneiderkleider machen ließen und beim Zahnarzt saßen. Dann kam der Schwall der Weihnachtsarbeiten. Wir kamen diesmal durch häusliche Schneiderei dermaßen ins Gehetze, daß wir noch am Heiligen Abend arbeiten mußten und von der Vorfreude wenig verspürten. Das Fest war schön, aber für mich brachte es nicht genug Ruhe und Frieden und zuviel Anstrengungen mit sich. Wir hatten nämlich teils mit-, teils nacheinander Großmutter, Frl. Güntzel, Eva Hofacker, Rotenhans und – Onkel Axel mit seiner jungen Frau zu Besuch. Über das junge Paar kann ich mich nicht so kurz fassen. Also im November heiratete

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Onkel in Kiew seine Natascha.⁶⁴ Es war kurze Zeit einmal die Rede davon, daß sie als Braut einige Wochen zu uns kommen sollte, bis die Scheidung ausgesprochen wäre. Es ward den Eltern schwer, diese Verantwortung auf sich zu nehmen, aber, zu meiner Freude brachten sie dem Onkel das Opfer und gaben ihre Zustimmung zu dem Plan. Gott sei Dank ward nichts daraus, da sie bälder heirateten als man erwartet hatte. Wir waren leider zuerst recht enttäuscht über sie. Es ging ihr der Ruf solcher Schönheit voraus, daß wir überrascht waren, sie nur hübsch finden zu können. Sie ist klein, zierlich und graziös; hat einen wundervollen Mund, hübsche gerade Züge, aber etwas vorstehende, ausdruckslose, weil sehr kurzsichtige Augen. Sie muß entzückend gewesen sein, ist aber etwas passée und ihr etwas ausländischer Anzug, ihre strupplige Frisur läßt sie nicht gerade zu ihrem Vorteil erscheinen. Im Wesen ist sie total anders als wir sie uns gedacht: kindlich, unsicher, verlegen, gehört sie eigentlich eher zu uns jungen Mädchen, als zu den Eltern und zum Onkel. Den ersten Tag war sie unfreundlich und spröde gegen den Onkel, daß wir das Gefühl hatten, sie liebe ihn gar nicht. Dann aber, als sie wärmer ward, wurde sie mit einmal sehr zärtlich, anschmiegend und nett, sodaß sie uns alle wieder umstimmte. Jedenfalls, wie auch ihr Verhältnis zum Onkel sei, gegen Großmutter, uns allesamt und die Dienstboten war sie so liebenswürdig und freundlich als möglich. Hoffen wir das Beste! Gestern reisten die Brüder nach Roßleben zurück, Jörge hoffentlich zum letzten Mal. Wir haben noch viel zu tun bis zu unserer Abreise nach Berlin. Ich freue mich ungeheuer, aber der Abschied von hier liegt mir doch etwas schwer auf der Seele. Dies ist vielleicht sehr unlogisch, aber sehr begreiflich, bei der Schönheit unserer geliebten Heimath in diesen Tagen. Der Schnee liegt fußhoch wie eine silberne, blendende weiße Decke auf den dicken Türmen, auf der Kapelle, auf Garten und Flur; der Wald ist wie ein Feenpalast und wenn ich zum Fenster hinaus auf die große, ebene Fläche mit den Weymuthskiefern in der Mitte schaue, so habe ich ein Gefühl, als ob diese Schönheit einen ganzen Hort von Trost und Frieden für die bekümmerte, unruhige Welt in sich bergen müsse. Ich weiß wohl, daß schöne Natur nie vollen Trost für irgendwelchen Kummer gewähren kann, aber daß sie äußerst nerven- und seelenberuhigend aufs Gemüt wirkt, bin ich fest überzeugt. Neulich waren wir bei Gerlachs in Ziegenrück. Das Haus ist hübsch und behaglich eingerichtet und beide jungen Leute waren natürlich und nett. Er ist doch ein verdrehter Mensch; z. B. nahm er auf die Hochzeitsreise ein Buch über Gichtelia-

64 Natalie geb. Gavriliuk (1867– 1931), war in erster Ehe mit Werner Hermann von Siemens verheiratet.

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ner⁶⁵ mit, um seiner Frau daraus vorzulesen und lud sich am einzigen Weihnachtstag, den sie für sich hatten, den Missionsbuchbinder zum Abend ein. Es ist schon recht, daß er das Gefühl hat, den Untergebenen Rücksichten zu erweisen, aber die Frau hat doch das erste Anrecht darauf.

Abb. 6: Natascha Freifrau Varnbüler von und zu Hemmingen, Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart P10 Bü 1750.

1895 Berlin, Hotel Vier Jahreszeiten. Dienstag, den 15. Januar 1895. Vorgestern, Sonntag Abend, verließen wir unser liebes Wernburg und unseren lieben alten Schatz Rudi, und fuhren ohne irgendwelche Abwechslung hierher in unser altes Hotel. Gestern haben wir ausgepackt, eingeräumt, sodaß wir uns jetzt

65 Glaubensgemeinschaft, die auf Johann Georg Gichtel (1638 – 1710) zurückgeht.

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Abb. 7: Axel Freiherr Varnbüler von und zu Hemmingen, Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart P10 Bü 1511 / Fotograf: Erich Sellin.

ganz behaglich fühlen. Da der blinde Landgraf von Hessen unsere bestellte Wohnung im zweiten Stock nicht räumt, so bekamen wir dieselbe im ersten Stock zum halben Preis. Profit tout clair ⁶⁶ von einer Treppe. Wir haben also einen großen Ecksalon mit Rokokomöbeln, der, nachdem wir Bücher, Journale, Sofakissen und Decken herumgestellt und gestreut, sehr hübsch und wohnlich aussieht. Außerdem haben wir zwei Schlaf- und zwei Dienerzimmer, da wir Stock und eine kleine Schneiderin als Jungfer mithaben. Heute ging es gleich an die Visitentournée, das

66 „Eindeutiger Gewinn“

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Wetter war gut, wir schwatzten gemütlich in unserem Coupée und machten, ohne die geringste Schererei 57 Besuche. Ich möchte wissen, wie ein Kanadier, den man dieses Karten-System, dies absichtliche Verfehlen, das man aber doch Besuchen nennt, beurteilen ließe, es nennen würde. Blödsinn auf jeden Fall. Heute Abend waren Tante Higa und Hanna bei uns; Tante ist gegen Axels in einer ganz freundlichen, schwesterlichen Stimmung, wenngleich ihr natürlich die vielen Verstöße und Ungeschicklichkeiten, die sie täglich von ihnen sieht und hört, Sorge machen. Tante Natalie hat nie früher in einer amtlichen oder sonstigen Stellung gelebt, die ihr irgendwelche Pflichten auferlegt hätte und hat keine Ahnung, was man von einer Gesandtenfrau alles verlangt. Hanna ist hübscher als je und fühlt sich in ihrer Stellung als schönstes, fetiertestes Mädchen sehr wohl und sicher. Donnerstag, 17.1. Gestern waren wir zum ersten Mal in Jours. Wir haben dazu wunderhübsche, marineblaue Schneiderkleider bekommen; ganz glatt gemacht, mit etwas Tresse besetzt und wie eine Haut anliegend. Damit angetan begaben wir uns zu Marschalls, wo es recht gemütlich und lustig war und zur Prinzeß von Hohenzollern. Letztere, eine geborene Taxis, ist eine kleine, interessante, sehr angenehme Person und war von einer ausgesuchten Liebenswürdigkeit. Wir trafen Spitzembergs, Savignys, den Grafen Schwerin und Scharffenbergs. Bei letzteren sollen wir die Gavotte erlernen. Heute aß Herr von Bockelberg, ein großer Freund und Gönner von mir, bei uns; dann gingen wir zur Gräfin Brockdorff und zur Gräfin Königsmarck, der Obersthofmeisterin von Friedrich Leopold.⁶⁷ Im ersten Jour war es reizend; wir lernten die wunderhübsche, taubstumme Tochter von Udo Stolberg und verschiedene andere Menschen kennen. Bei Gräfin Königsmarck war es dagegen zum Auswachsen langweilig, keine der jungen Hofdamen da und alles nach der steifsten Hofetikette. Wir hörten die Schreckensnachricht, daß der junge Achim Zieten-Schwerin im mittelländischen Meer ertrunken sei. Er fuhr bei hoher See auf einem französischen Schiff und muß, ohne daß jemand es merkte, von den Wellen von Bord gespült worden sein. Natürlich wird auch von Selbstmord gemunkelt, aber ich finde es nicht Recht, ohne den geringsten Beweis dies Gerücht zu glauben und zu verbreiten. Was muß es den Eltern schon so für ein Schmerz sein, ohne diesen Stachel noch hinzuzufügen. Annis Bräutigam, ein Nichtstuer und schwacher Mensch, macht ihnen auch Kummer, die armen, armen Menschen!!

67 Prinz Leopold von Preußen (1865 – 1931), Schwager Kaiser Wilhelms II.

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Sonntag, 20.1. Bereits zwei Bälle haben wir mitgemacht und uns himmlisch unterhalten. Ich habe trotz der langen Pause gar nicht das Gefühl, fremd geworden zu sein, und wenn auch meine besten Bekannten, Else Gerlach und Dohnas nicht ausgehen, so finde ich den Kreis der jungen Mädchen dies Jahr besonders nett und anziehend. Die Mädchen sind doch das maßgebende, denn unter den Herren hat man die Auswahl und wird auch viel schneller bekannt mit ihnen. Zu meiner Freude hat uns Frau von Scharffenberg aufgefordert, bei ihr Gavotte zu lernen; so gingen wir am Freitag früh zur ersten Stunde hinaus. Sie haben ein eigenes Haus am Kurfürstendamm, kommen nur auf einige Monate herein und leben sehr für sich. Erst jetzt, wo sie ihre Töchter Bertha und Else ausführen, gehen sie in die Gesellschaft, sind also noch recht fremd. Wir trafen dort die mir höchst unsympathische Sophie Bolschwing, eine reizende Frl. von Gaudy, eine Frau von Hertzberg, Else Radowitz, Hedwig Hessenthal und eine Örtzen. Frau Wolden,⁶⁸ komisch und affektiert, aber graziös wie immer, gab sich große Mühe mit uns. Der Erfolg war aber nicht groß, denn in der ersten Stunde ist man meist wie vernagelt und glaubt, es nie zu lernen. Am Abend war der Kavalierball im Kaiserhof, auch für mich etwas ganz neues. Wir kamen als die Ersten hin. Es war zu lächerlich, von Brühl und Humboldt in den leeren Hallen begrüßt zu werden. Leider fällt man dann nur meist den minderwertigen Herren zum Opfer. Zum Glück erwischte ich den netten Versen zum Cotillon und Krosigk und Dohna zum Lancier. Ich soupierte mit Fabeck, der zwar sehr nett und gescheit, aber recht fremd ist. Es waren ca. 400 Personen beteiligt, und infolgedessen nicht zu voll und sehr animiert. Hanna und die Mellenauer Arnim waren die fetiertesten Mädchen. Letztere ist gar nicht hübsch, aber so liebenswürdig und charmant, daß sie alles bezaubert. Der Cotillon war entzückend und dauerte bis 4 Uhr; das war wenigstens ein Anfang, der sich lohnte. Gestern zogen Sabine und ich uns zu Hause an in grün mit Veilchen und fuhren zusammen zu Georg und Wisa hinaus, um unter ihrer Chaperonage den Ball des 3. Garderegiments mitzumachen. Er war gewiß sehr schön; Souper, Musik und Blumen ausgezeichnet; aber wir waren zu fremd, um uns gut zu unterhalten. Bis zum Souper langweilte ich mich; dasselbe mit Grolmanns, Hanna, Alvensleben und Castell war sehr hübsch bis zum Schluß, wo mich eine Ordonnanz mit Pfirsichsaft übergoß, das ist nie angenehm, weil man als wohlerzogener Mensch eine Gleichgültigkeit und lächelnde Heiterkeit zeigen muß, die man nicht empfindet. Wir wurden sehr ausgezeichnet und mit Blumen überschüttet, aber wir waren doch froh, wie wir mit Rotenhans nach Hause fuhren. Wir sollten nämlich, um die Nachtfahrt zu sparen, bei ihnen übernachten und am anderen Tag von Stock abgeholt werden. Der Sonntagmorgen

68 Ballettmeisterin.

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heute mit dem netten jungen Paar in der sonnigen Wohnung, wo wir gemütlich den Ball durchsprachen, war mir genußreicher als der Ball selbst. Wir leben wirklich recht flott: heute Nachmittag waren wir in drei Jours bei Gräfin Schlippenbach, Frau Richter und Greindls; bei letzteren ist es stets zu nett, denn die Töchter haben eine echt französische Anmut, Thee und Conversation zu machen. Heute Abend sind wir zu Tante Higas Geburtstag eingeladen und ich denke, vorher noch einmal rum zu schlafen! Dienstag, 22.1.95 Heute Abend sind die Eltern bei Scharffenbergs zum Diner, sodaß ich herrliche Zeit zum Schreiben hatte. Vorhin hatten wir einen reizenden Besuch, von dem ich noch ganz erfüllt bin. Wir saßen eben bei einem echt ländlichen Stipp-Kaffee, als der alte General Loë,Vaters Kommandierender im Feldzug, bei uns eintrat. Er war entzückt, einmal Kaffee anstatt Tee zu bekommen und blieb gemütlich bei uns sitzen. Dabei erzählte er uns in der geistvollsten, frischesten Art Szenen aus seinem Leben und seinen Feldzügen. Ich habe selten einen so bleibenden Eindruck von jemandem gehabt als von diesem jugendfrischen, bedeutenden Greis. Im Übrigen haben wir wenig heute geleistet: Wir machten einige Besuche, auch bei Alvenslebens. Gabi finde ich schön durch Haar, Teint und Figur, doch fehlt mir in den Augen der Ausdruck. Sophie scheint recht nett und lustig. Ich sehe eben, daß ich den Abend bei Tante Higa noch gar nicht geschildert, und doch war er besonders lustig. Wir wurden mit Freudengeschrei und mit der Nachricht empfangen, daß sich Eberhard Hofacker mit Albertine Gräfin Üxküll, einer Nichte der Palastdame Olga in Stuttgart, verlobt hat. Alles freut sich riesig über diese Partie; die beiden scheinen ausgezeichnet zueinander zu passen, sich in allen Eigenschaften glücklichst zu ergänzen und, was die Hauptsache ist, sind beide ganz selig. Eberhard, der ernste, ungesellige Mensch, soll ganz umgewandelt sein, lauter Unsinn machen, mit Blumensträußen herumlaufen, Briefe schreiben etc. Es ist zu hübsch! Ich hatte ihn eigentlich aufgegeben fürs Heiraten, denn er schien sich gerade zum Junggesellen anzulassen. Bei der Tante trafen wir Klinckowströms, Beno, Richard Süßkind, Harrachs, Lerchenfeld, Arenberg, Tann, Bernewitz, Richters etc. Lothar war von Merseburg herübergekommen und erzählte viel von feinen Bällen dort. Elma ist einer der amüsantesten Wesen, die ich mir denken kann und Tann und Bernewitz taten sich etwas zugut mit Gespenstergeschichten-Erzählen, sodaß wir vor Lachen nicht mehr reden konnten. Gestern besuchten wir Else Gerlach nach der Gavottestunde und fanden sie netter und herzlicher als je. Ihr Baby ist recht wenig hübsch mit Stupsnäschen und abstehenden Ohren, aber natürlich die Wonne der Familie. Am Nachmittag besuchten

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wir die Jours von Wedell, Bronsart und Bötticher und mopsten uns gründlich. Warum sind manche Menschen so steif und andere so natürlich!! Freitag, 25.1.95 Nun ist auch die große Cour plötzlich überstanden, auch von Mutter, die so elend vorher war, daß wir glaubten, sie könne nicht hin. Mittags gratulierten wir Tante Natascha zum Geburtstag. Sie war schwach und lag noch zu Bett, sehr blaß und hübsch; die Struwelfrisur machte sich gut zum übrigen dèshabillé, so daß sie wie ein herziges Püppchen aussah. Das Essen war auf ein Uhr bestellt, um zwei Uhr lag sie noch im Bett und aß Bonbons, sodaß uns der arme Onkel, der neben seinem schön aufgebauten Geburtstagstisch wartete, ordentlich leid that. Und so ist es immer: der Wagen wartet oft zwei Stunden, die Schneiderin sitzt Tage lang im Haus ohne Arbeit, kurz, der Haushalt ist echt russisch und keineswegs dazu angethan, Onkels sparsame Pläne durchzuführen. Um vier Uhr begannen wir mit der Toilette, die auch viel Zeit in Anspruch nahm. Wir waren in Weiß mit Silberblumen und Chrysanthemen, die Mutter hatte ihre alten Spitzen und den lila Schmuck auf Weiß sehr schön drapiert. Sabine war bei den Neuen und amüsierte sich köstlich. Für mich, für die der Reiz der Neuheit verloren gegangen war, die mit einer Masse Mädchen in ein kleines Zimmer geschachtelt war, war es kein solcher Genuß; ich war froh, wie ich meine Knixe hinter mir hatte und im weißen Saal meine Bekannten begrüßen durfte. Gestern besuchte uns der blinde Landgraf von Hessen, unser Hotelgenosse und sein Adjutant Alvensleben. Der Landgraf ist außer seiner Blindheit ein zurückgebliebener, fast kindischer und sehr schwieriger Charakter. Er ist gar nicht auf sein Leiden hin erzogen, sondern sucht dasselbe zu verheimlichen. Es macht einen zu traurigen Eindruck, ihn von seinen Augen, von Bildern, Gegend etc. reden zu hören, als ob er sie sähe. Gerade bei Blinden findet man so oft Ergebung und Interesse an Anderen, sodaß man doppelt bedauert, daß seine Mutter die edlen Triebe in ihm nicht nur nicht förderte, sondern durch Intriguen und Kränkungen aller Art in ihm ertötete. Was wird diese Frau einst zu verantworten haben? Er interessiert sich glühend für uns; sein Adjutant muß ihm über jeden unserer Schritte berichten, wenn er uns auf der Treppe begegnet u.s.w. Heute war große Gavotte- und Menuettprobe im Weißen Saal. Es waren wohl 30 Paare erschienen, die aufzustellen und zur Ruhe zu bringen keine Kleinigkeit war. Humboldt war ganz verzweifelt. Da gibt es Leute wie die Gräfin Posadowski, deren Tochter sehr schlecht tanzte und in der dritten Reihe stand, die ganz wüthend sagt: „Was? Die Mutter ist Excellenz und die Tochter soll nicht vor dem Thron tanzen?“ Marie Greindl brach in Thränen aus und es entstand großer Trubel. Ich tanzte ganz

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hinten mit Baumbach und Massow und amüsierte mich genauso gut wie die erste Reihe. Es ging sehr schlecht, kein Compliment klappte, keine Linie ward gehalten. Es war ein Bild, wie in dem ehrwürdigen Weißen Saal, auf dem Thron der Hohenzollern die – Balletteuse herumhüpfte, donnernde Reden hielt und die einzelnen Fehler drastisch nachmachte. Im Ganzen habe ich mich gut unterhalten; es ist zu nett, sich auch einmal untertags im Alltagsgewand alle zu sehen! Dienstag, 29.1.95 Ich habe nur wenige Tage verstreichen lassen und doch hat sich ein ganz gewaltiges Schreibmaterial angesammelt. Ich werde chronologisch verfahren. Am Sonnabend also waren wir wieder in der Gavottestunde bei Scharffenbergs. Ich habe diese dummen Stunden so satt, daß ich ganz grimmig bin, wenn ich nur dran denke. Wir zwei und Scharffenbergs, die sich wirklich große Mühe gaben, können die zwei Tänze in- und auswendig und müssen immerzu vortanzen, während die alberne Bolschwing, die Hessenthal und Consorten sich nicht die geringste Mühe geben, alles als Ulk auffassen und mit Absicht Fehler machen. Die Wolden weinte heute beinahe aus Ärger und ich kann es ihr nicht verdenken. Am Nachmittag waren wir bei Enkevorts, um uns das Don Juan-Menuet zeigen zu lassen. Sie sind sehr freundliche Menschen, aber recht vulgär dabei. Wie geschmacklos war es auch, für uns zwei in der einen Stunde Torte, Wein und zuletzt Sekt auffahren zu lassen! Wir wußten es nicht zu würdigen! Am Abend waren wir im Cirkus Renz mit Benno; Sabine war leider so erkältet, daß sie nicht mit konnte. Wir trafen es sehr gut, da für den Prinzen Heinrich eine Galavorstellung war. Besonders gut gefiel mir eine Pferdepyramide von 60 Pferden, ein Schulreiter aus Wien und zwei Voltigeure, die bald auf, bald unter, bald neben den Pferden hängend, in rasendem Tempo um die Arena sausten und die höchsten Hindernisse nahmen. Die Feeerie am Schluß: Das Neujahrsfest in China war ebenso reich und bunt als ergötzlich und gut durchgeführt. Man denke sich eine foule von Chinesen, die alle, (jeder etwas anderes) ein Kunststück machen, Jongleure, Spiele, Purzelbäume, Turnen etc., so kann man sich von dem Gewühl einen Begriff machen. Die Purzelbäume waren wirklich hervorragend. Zuletzt war ein Ballett von Mädchen, die verschieden gestimmte Schellengurte trugen. Der Dirigent zeigte bei dem entsprechenden Ton auf die einzelne, die dann in die Höhe sprang und die Schellen schüttelte. Auf diese Art führten sie die bekanntesten neuen Tänze und die Nationalhymne ganz reizend auf. Am Sonntag, also an Kaisers Geburtstag, waren wir in der Matthäikirche bei Israel und hörten eine gute Predigt, dann frühstückten wir bei Tante Higa mit Benno. Letzterer geht hier aus, um einen Winter um die Ohren zu schlagen und sich nebenbei eine Frau zu suchen. Die Leute, die ihn nur mit Spitzembergs auftreten sehen, halten ihn für Hannas Freier. Er macht ihr ja zwar die Cour, behandelt sie

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aber doch so als Baby, und albert mit ihr, daß ich an irgendwelche ernste Absichten nicht glauben kann. Am Abend waren wir in der Galaoper, die Mutter im ersten, wir im zweiten Rang. Dies ist eine Festlichkeit, die mir jedes Mal wieder Spaß macht: Die ganze geschmückte Gesellschaft in dem schönen Opernhaus und schöne Musik von der Bühne. Leider ist Hochberg nicht glücklich in der Wahl der Stücke. Der eine Akt aus Rienzi war zwar wundervoll, aber das Ballett Prometheus war unerlaubt langweilig. Auf die ernste Beethoven-Musik paßte niemand auf und das Ballett war sehr ermüdend. Wie sinnlos ist es, wenn Prometheus am Felsen gekettet hängt und die Befreierinnen, anstatt ihn loszumachen, um ihn herumhüpfen? Der Adler sollte geschossen werden; der ungeschickte Schütze schoß aber stattdessen auf den Boden, worauf der Adler nach einigem Besinnen, ob oder nicht er getroffen, tot herabfiel. Dieser kleine Regiefehler war das einzige Amüsante im Stück. Im Foyer war es voll und heiß, aber doch sehr lustig. Wir begrüßten viele Bekannte, der Erbprinz aus Gera, der auch nach Bekannten suchte, war hocherfreut, uns zu treffen, Lerchenfeld machte schlechte Witze, Onkel Axel zog mit seiner Frau herum, kurz, es gab viel zu beobachten und viel zu lachen. Zu unserer großen Überraschung hatte der Vater am Morgen vom Kaiser den Roten Adler II. Klasse erhalten. Wir saßen gerade beim Kaffee, als ein riesiger Hoffourier bei uns eintrat und ihn überbrachte. Das gab ein Gehetze, bis derselbe nun richtig angemacht war, denn Vater mußte ihn zum Gottesdienst im Schloß schon anhaben. – Gestern war abermals Gavotte-Probe im Weißen Saal; dieselbe war sehr stark besucht und lange nicht so lustig als die erste. Am Abend war unser guter alter Winsloe zum Thee bei uns und erzählte uns viel aus seinem Hofleben; er ist einer der sympathischsten Menschen, die ich kenne und wird uns wohl recht oft hier besuchen. Heute holte er uns um elf Uhr in den Landtag ab, da wir Hammersteins erste große Rede gerne hören wollten. Sabine war zum ersten Male in der Malstunde bei Frau Simrock, geb. Michael,⁶⁹ die früher einige Wochen bei uns in Wernburg war. Es ist sehr gut, daß sie bei derselben Lehrerin weiterarbeiten kann, wenn auch die Entfernung nach der Altonaer Straße unmenschlich ist. Wir waren also im Landtag und hörten der 2 ½ stündigen Rede mit der größten Andacht zu, während die sämtlichen Abgeordneten untereinander schwatzten, sich besuchten und Briefe schrieben. Sie behaupteten zwar, es wäre eine seltene Aufmerksamkeit gewesen, doch wir konnten das nicht finden. Hammerstein ist ein vorzüglicher Redner, doch redete er zu lang und nicht so geschickt, wie seine Freunde es wünschten; doch fand ich es zu roh, daß die Konservativen gleich sagten: Mit dem sind wir reingefallen

69 Die Malerin fertigte während ihres Aufenthalts in Wernburg auch ein Portrait von Margarethe an.

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etc., ehe der arme Mann nur seine Ansichten entwickelt hatte. Für mich ist der Parlamentarismus entschieden nichts und ich freute mich die ganze Zeit, daß Vater nicht an Hammersteins Stelle am Ministertisch saß. Es hätte aber sehr wenig gefehlt. Gleich nach der Rede zogen wir in ein Restaurant, da wir ganz schwach waren; Benno, der noch nüchtern, und vorher geritten war, sah ganz blaß aus. Heute haben Mutter und ich auch eine tüchtige Tournee gemacht; zuerst waren wir bei Georg und Wisa gemütlich beim zweiten Frühstück, dann kauften wir am Oranierplatz unglaublich hübsche billige Jacken, machten Besuche Unter den Linden und im Kaiserhof und wollen heute Abend noch auf den großen Hofball. Ich habe alles bis aufs Souper engagiert, doch ist mir gerade dies am Wichtigsten. Hoffentlich falle ich nicht rein! Freitag, den 1. Februar 1895 Ich fiel am Mittwoch durchaus nicht rein, sondern soupierte mit einem Werthern, einem Beichlinger Sohn, einem sehr distingierten, angenehmen, liebenswürdigen Menschen, mit dem ich sehr viele Berührungspunkte hatte und mich herrlich unterhielt. An unserem Tisch saß zwar eine sehr ordinäre Gesellschaft, aber wir ließen sie eben reden und unterhielten uns im tête à tête. – Überhaupt war dieser Hofball entzückend. Der Saal ist sehr erweitert, sodaß man gar nicht gedrückt wurde und Extratouren in Masse tanzte. Wir waren mit Vorstellungen ziemlich fertig und kannten alle Mädchen, fühlten uns also ganz heimisch. Ich glaube, dies war der erste Hofball, wo niemand hinterher schimpfte und sich alles gut unterhielt. Ganz ideal als Ball war aber gestern Abend der Kaiserhofball. Es waren nur 140 Menschen erschienen, die in dem Riesenraum umherschwommen wie eine kleine Insel. Da besonders viel Herren da waren, wurde man fast totgetanzt. In den Françaisen sauste man nur so auf und ab und der Cotillon war wonnig. Ich tanzte ihn mit dem langen Kleist und soupierte sehr lustig mit Bernewitz und Kalnein. Ersterer war ordentlich freudetrunken und erzählte mir in naivster Weise von seiner Frau! [sic] wenn er eine nähme, von seinen Flammen etc. Ich freute mich sehr, die jüngere Hagen einmal wiederzusehen, dies liebe, reizende Mädchen! Heute haben wir ein Vergnügen ganz anderer Art genossen; wir machten mit Mutter und Benno eine prachtvolle Schlittenfahrt in Frau Roths Schlitten. Zuerst gings durch die häßlichen Straßen, dann über eine noch häßlichere platte Ebene und dann in den wundervollen Grunewald. Zwar reicht er an unseren Fichtenwald nicht heran, aber doch sahen die überzuckerten Kiefern sehr malerisch aus; das ganz verschneite alte Jagdschlößchen, ein blanker See zwischen hohem Schilf, neugieriges Wild zwischen den Bäumen hervorlugend, und darüber die große, schwei-

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gende Stille, die wohltuende, friedliche Ruhe, wie sie nur Schneelandschaften eigen ist, das alles vereinigte sich, um uns den Ausflug zu einer wirklichen Erfrischung und Erholung zu machen! Es ist doch im rastlosen Durcheinander der Stadt viel schwerer zur Sammlung, zur innerlichen Ruhe zu kommen als auf dem Land; darum muß man auch die Städter ganz anders beurteilen! Dies ward mir nie klarer als heute! Übrigens leben wir hier auch der Kunst: Gestern waren wir in der Piglheinausstellung,⁷⁰ die an Vielfältigkeit der Technik ihres Gleichen sucht. Von Ölbildern sind die „Blinde“ und ein erfrorener Pierrot die Besten und unter den Pastellbildern tut einem die Wahl weh. Da sind reizende, rosige Kinder, fesche Frauenköpfe, glänzende Neger mit Affen und rosa Kakadus, Italiener etc., alles mit meisterhafter, flotter Art hingeworfen. Bei Schulte ist eine Auswahl abscheulicher, englischer Bilder, zwei gute Seestücke und ein hervorragend schöner Mädchenkopf in Pastell von August Kaulbach. Heute waren wir auch bei Varnbülers; sie hatte die ganze Nacht an einem Kleid gestickt und lag sehr angegriffen, von Bonbons umgeben, noch zu Bett. Man muß ihr aber doch sehr gut sein; sie ist solch gutmütiges, hilfloses Kind und hat keine Ahnung von ihren Pflichten. Montag, 4.2. Wir kommen eben aus einem wundervollen Konzert in der Singakademie, das zum Gedächtnis Rubinsteins gegeben wurde. Am besten gefiel mir der erste Satz aus einer Sonate und die von Zur Mühlen gesungenen Seligpreisungen. Es ist mir unbegreiflich, wie ein solcher Geck so etwas so tiefempfunden singen kann. Ich bin überzeugt, daß wir alle mehr heraushörten als er hineinlegte, denn wir waren alle ganz ergriffen und er lachte dazu mit seinem albernsten Gesicht! Die letzten Tage waren ball-frei, sodaß wir viele Besuche abmachten. Einmal frühstückten wir bei Mohl, einmal luden wir Gotthard und Alla Erffa zum Abend ein. Es ist wunderbar, wie fremd wir doch diesen unseren richtigen Vettern gegenüberstehen, während wir mit anderen, z. B. mit Benno, ganz intim sind. Erstens haben wir sie wenig gesehen, aber das ist bei Belows ebenso; zweitens aber sind unsere Interessen zu verschieden: Sie sind nie ausgegangen, haben nie in guter Gesellschaft verkehrt, sondern stets nur sehr fleißig gelernt und in billigen Kneipen gesessen. Es ist ja etwas Schönes um den Fleiß, aber es ist doch auch nicht recht, wenn man über dem Büffeln allen guten Verkehr, alles Schöne im Leben aufgibt. Gotthard hat ja zu viel Schweres erlebt, um harmlos fröhlich zu sein, aber Alla, ein blutjunger Student, brauchte doch kein solcher Philister zu sein! Gestern machten

70 Bruno Piglhein (1848 – 1894), Maler der Münchener Schule.

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wir bei schauderhaftem Wetter Jour-Besuche bei Lichnowsky und Gröben. Isa, schöner als je, ist durch ihre Verlobung so liebenswürdig und gesprächig geworden, daß ich sie kaum wiedererkannte. Am Abend waren die Eltern bei einem Diner, wir sollten Varnbülers bei einem schwäbischen Leutnantsessen unterstützen. Es war keine leichte Aufgabe, denn außer Moltke waren lauter Urschwaben, ein Ehepaar Fischer, Gemmingen, Zeil und Güldlingen anwesend. Bei Tisch machte sich Moltke sehr verdient um die Konversation, aber nachher ward es schwierig. Gemmingen ist ja sehr gewandt, Fischers gingen bald fort, aber die beiden anderen waren nicht zu bewegen, sich zu uns zu setzen, sondern klemmten sich stets an die Wand oder neben die Thüre. Onkel hatte Kopfweh, gab sich aber große Mühe; dabei blieben die Unglücklichen, bis halb 12 Uhr sitzen! Zu ungeschickt! Donnerstag, 7.2. Wir haben jetzt jeden Abend fast einen Ball, sodaß ich kaum zum Schreiben komme. Am 4. gab Frau von Schmidthals im Palast-Hotel einen kleinen Ball von 120 Personen, der ausgesucht flott und elegant war. Ich habe mich zu himmlisch amüsiert, viel getanzt und im Cotillon reizende Schleifen, Fächer, drei Bonbonnieren etc. bekommen. Wir tanzen fast immer mit denselben Herren, mit Kalnein, Bernewitz, Goltz, Riedel, Planitz, Bronsart, Mutius etc.; sehr viel auch mit dem kleinen Coburger Prinzen,⁷¹ der zwar noch ein halbes Kind, aber so wohlerzogen, höflich und unterhaltend ist, daß er schon eine ganz gute Stellung hat, im Gegensatz zu den meisten anderen Prinzen. Er hat eine wahre Tanzwut, rennt aber alles, was ihm in den Weg kommt, über den Haufen. Else Schmidthals ist fast so hübsch wie Hanna, im Wuchs und Colorit fast hübscher, aber es fehlt ihr der Ausdruck, den Hannas Augen haben. Jedenfalls ist sie reizend, und im Allgemeinen viel liebenswürdiger als meine werte Cousine! Am Dienstag machten wir eine anstrengende Tour: besahen uns zuerst bei Berlepschens das jüngste, 2 wöchentliche Kind, das kirschbraun aus einem rosa Jäckchen hervorsah und gingen von da zu dem neuangekauften Rembrandt im Museum. Er ist prachtvoll; „Mennonitenprediger, eine Witwe tröstend“. Der Prediger ist ein Portrait, und deshalb nicht so vergeistigt, wie man es wünschte, die Witwe dagegen halb verweint und halb schon gläubig, ist wunderbar. Das ganze Licht ist auf ihrem Gesicht konzentriert und alles Nebensächliche ist meisterhaft in den warmen Halbschatten gebracht, der Rembrandt so auszeichnet. Die alte Frau soll unserer Großmutter Erffa so ähnlich sehen, daß Mutter ganz ergriffen war.Von da gingen wir zu Lina, der Tochter unserer alten Schmidt, die mit ihrem Bruder zusammen eine Speisewirthschaft hält. Es war so voll bei ihr, daß wir uns zu ihrem Kummer in ihr Schlafzimmer setzen mußten. Sie war ganz selig über unseren Besuch, doch war sie in ihren Freudenausbrüchen so

71 Erbprinz Alfred von Sachsen-Coburg und Gotha (1874 – 1899), Sohn des gleichnamigen Herzogs, der seit 1893 im Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha regierte.

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geziert berlinisch, daß wir unsere einfache, alte Lina gar nicht wiedererkannten. Bei Gadows machten wir auch noch Besuch, da uns Maltzahns zu unserer großen Freude zu ihrem Ball am 15. geladen haben. Ich denke, es wird ein herrliches Fest werden! Gestern waren wir nur bei Frau von Marschall im Jour und trafen dort Spitzembergs mit dem unvermeidlichen Benno. Ich glaubte wirklich, daß gar nichts Ernstes zwischen Benno und Hanna im Gange ist, aber sie sollten nicht, wie gerade bei Marschall, so lächerlich zusammen albern und kichern, sie müssen doch auf den Klatsch Rücksicht nehmen. – Der kleine Hofball, auf den wir uns so riesig gefreut hatten, blieb weit hinter dem ersten zurück. Der Kaiser machte Cercle im Saal selbst, sodaß wir fortwährend gedrängt und von den Kammerherren auf manchmal fast grobe Art geknufft wurden. Zur Française und zur Gavotte fand ich meinen Herrn nicht, kurz, wir Mädchen waren zuletzt ganz ärgerlich und mißmutig. Der Anfang war sehr hübsch. Ich eröffnete nämlich, sozusagen den Ball mit dem kleinen Koburger, denn außer mir tanzten nur Humboldt und eine Hofdame. Wir hatten reizende rosa Moiréekleider an und wurden endlich der Prinzeß Heinrich vorgestellt, das Souper mit dem kleinen Pückler war nicht interessant, umso mehr der Cotillon mit einem hervorragend netten Herrn von Bussche. Im Menuett ging es sehr gut: wir tanzten hintereinander. Stellenweise unterhielt ich mich sehr gut, aber den Ball als solchen fand ich mißglückt. Heute waren wir in der Parlaghi ⁷²-Ausstellung, die neben wenigen schönen Portraits (Moltke, Windhorst, Stablewsky) viele unbefriedigende Sachen aufweist. Sonnabend, 9.2. Am 7ten tanzten wir bei Manteuffel und nahmen Valeska Berlepsch und Marianne Buttler mit. Die Gesellschaft der Mädchen war uns sehr fremd: ich kannte nur Natzmers und Bodenhausens. Unter den Herren fand man nach und nach einige nette: die Brüder Kleist, Langens, Brandenstein, Bandemer etc. Wir unterhielten uns viel besser, als wir erwartet hatten, wenn es auch nicht besonders nett war. Frau von Manteuffel selbst und ihre Adoptivtochter, Frl. von Stammer, gefallen uns gar nicht; sie sind zu übelnehmerisch und mißtrauisch. Sie thaten sich viel zu gut, auf das systematische Lüften nach jedem Tanz, es ward dadurch aber so kalt im Saal, daß wir uns alle erkälteten. Die arme Bibs lag auch richtig auf der Nase, sodaß ich mit den Eltern allein zu Scharffenbergs auf den Ball ging. Es war wunderhübsch: herrlicher Platz im Reichshof-Saal, Thormann zum Spielen und einen reizenden Cotillon. Ludwig Baumbach tanzte vor und war sehr nett und liebenswürdig gegen alle. Es gab sehr gute Tänzer wie Schmettow, Rogister, Beaulieu; auch

72 Vilma Parlaghi (1863 – 1923), ungarisch-amerikanische Porträtmalerin, die auf der Großen Kunstausstellung in Berlin 1894 eine große Goldmedaille erhielt.

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das Souper wäre nett gewesen, wenn sich Enckevorts nicht so laut und ordinär mit dem verrückten Lancken abgegeben hätten. Moßner war sehr freundlich und lud uns zu einem Ball nach Potsdam ein. Ich bin aber jetzt auch so erkältet, daß ich mich am liebsten ganz ins Bett legte. Wir werden doch nicht die Influenza bekommen? Mittwoch, 13.2. Es ist doch, scheint es, Influenza gewesen, die wir drei und die Jungfer hatten, denn für einen simplen Katarrh währt es zu lang. Zwar sind wir auf und hatten Besuche von Spitzembergs, Gadows, Marie Aufseß, Else Gerlach etc., aber wir schleppen uns herum, trinken die schrecklichsten Sachen, um übermorgen nach Gültz zu können und verwünschen das Hotelleben, die schlechte Kost und die große Kälte. Am Angegriffensten ist natürlich die arme Mutter, die zu früh ausging und sich zum zweiten Mal erkältete. Ich erhielt in letzter Zeit viele reizende Briefe aus Eyrichshof. Ich glaube, ich schrieb es noch gar nicht, daß meine schöne, geliebte Gerta⁷³ sich im Oktober mit Curt von Willich verlobte. Er stand bei den Gardekürassieren, ist sehr schön und elegant und nach ihrer Beschreibung der beste, klügste, schönste Mann der Welt! Ihre Briefe sind seit ihrer Verlobung so viel tiefer, wärmer und ernster geworden, daß ich mich jedes Mal aufs Neue über die Partie freue. Sie schrieb mir selbst, daß sie fühle, wie viel freundlicher sie die Liebe gemacht! Zu meiner großen Freude will sie mich zur Brautjungfer haben und wenn auch der Termin, der 7. März, recht ungeschickt früh ist, so freue ich mich doch riesig auf diese gewiß herrliche Hochzeit. Leider soll ich dort die Hauptrolle in einer Pantomime spielen, als schüchterner Backfisch auftreten und mich mit dem Unterstaatssekretär Rotenhan verloben. Ich fürchte, ich werde es recht steif machen! Sonnabend, 16.2. Zu unserem großen Kummer mußten wir doch in Gültz absagen, und nicht allein wir, sondern Klinckowströms, Spitzembergs und sämtliche Herren. Die Influenza greift rasend um sich, gegen 30 000 Menschen sollen krank sein und bei den Festlichkeiten sagt die Hälfte ab wegen Influenza. Wir waren gestern mit Frau von Mohl in der Wohltätigkeitsveranstaltung im neuen Theater, wo wir uns herrlich amüsierten. Das erste Stück, ein französisches Lustspiel „Embrassonsnous, Follivet“⁷⁴ ward im Ensemble entschieden am besten gegeben. Marie Greindl, im holländischen Rembrandtkostüm, sah reizend aus und spielte entzückend, eigentlich ganz sich selbst, Görz spielte auch gut und alle Nebenrollen waren gut besetzt. Im zweiten Stück spielte Castel mit virtuoser Komik einen Koch, Behr einen Haushofmeister, die übrigen Rollen waren mäßig. Die drauffolgende Operette war

73 Gerta Freiin von Rotenhan (1874 – 1955) und Curt von Willich (1860 – 1903). 74 Embrassons-nous, Folleville, Komödie von Eugène Labiche, Uraufführung 1850.

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nicht besonders aufgeführt. „Monsieur Papillon“ ist vor einigen Jahren so reizend aufgeführt worden, daß es eine gewagte Sache war, es noch einmal zu bringen. Frau von Keudell sah häßlich aus und sang oft vorbei, Puttkammer hat eine herrliche Stimme, aber keinen Vortrag, Görz outrierte wie gewöhnlich und der Chor war auch nicht berühmt. Reizend war dagegen der kleine Stolberg in einem hellblauen Rokokokostüm, in den man sich sofort hätte verlieben können. Er spielte, sang und sah aus zum Anbeißen! Stolbergs haben alle das Schauspielertalent im höchsten Maße. Montag, 18.2. Die Mutter ist immer noch recht elend; am Sonnabend gingen wir daher nur mit dem Vater auf den Ball zu Lewetzows. Dadurch, daß die Ulanen am selben Tag einen Ball gaben, fehlten einige elegante Mädchen, aber da nicht viel Platz war, war dies eher ein Vorteil. Ich hatte Souper mit Herrn von Bussche, der einer der nettesten, klügsten, angenehmsten Menschen ist, die ich kenne und den Cotillon mit Planitz, einem der besten Tänzer. Der Cotillon, zu dem die herzige Bela Levetzow alles selbst gemacht hatte, war wunderhübsch und ich glaube, wir tanzten uns den Rest der Influenza ganz weg. Dohnas, d. h. der Graf mit Femi ist jetzt auf ein paar Tage hier. Lonny hat ein Baby bekommen und wird von ihrer Mutter gepflegt. Femi war lange bei uns und bezauberte uns alle durch ihren großen Charme. Sie sieht zu reizend aus und ihre prachtvollen Augen geben dem ganzen Gesicht solchen Reiz und Ausdruck, daß man die wenig hübschen Züge ganz vergißt. Ich würde mich als Mann sofort in sie verlieben. Sie machte nur einen Ball hier mit, aber alles lag ihr wieder zu Füßen. Dabei ist sie von Gemüt so tief, ernst und gut, daß ich niemand weiß, dem ich sie gönnte. Gestern aßen wir bei Spitzembergs mit Gemmingen, Massenbach, Graf Keßler und dem jungen Bronsart. Es war recht nett und lustig; nur Massenbach ist mir durch seine Frechheit und Familiarität unangenehm. Am Abend waren wir, wieder ohne Mutter, bei Frau Richter zu einer musikalischen Soirée. Ich hatte mich sehr auf die Musik gefreut, aber mir die Gesellschaft nicht halb so elegant gedacht. Alles, was Crème ist, war vereinigt, Lichnowskys, Dolly Fürstenberg, Hochbergs, Lerchenfeld, Roths, Arenberg etc., waren da. Junge Leute waren wenig eingeladen: Marie-Agnes, Marie Greindl, Frl. von Frerichs und wir zwei, dazu Benno, die Engländer, ein Bodenhausen und die drei Söhne des Hauses. Die Musik war herrlich. Amalie Joachim sang Schumann’sche Lieder und Grünfelds spielten wunderhübsch. Der schöne Prinz Max von Baden ließ sich uns vorstellen und sprach mit uns. Es ist ein Genuß, ihn bei einem Konzert anzusehen. Sein sonst so ernstes, unbewegliches Gesicht bekommt dann Leben, seine Augen strahlen und der ganze Mensch geht auf bei schöner Musik. Er ist doch der schönste Mensch seiner Zeit und ihn zu sehen eine Freude! Nach der Musik soupierte ich und freute mich, die nette Marie-Agnes

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einmal gemütlich zu sprechen. Ich war so vergnügt und befriedigt von meinem Abend wie lange nicht. Musik, d. h., solche Musik ist doch der höchste Genuß. Bei unserer Rückkehr fanden wir Onkel Cäsar⁷⁵ bei der Mutter. Er ist sehr erfreut über des Sohnes Heirat, obwohl ihm die Schwiegertochter nicht hübsch genug ist. Er war wieder klassisch in seinen Ausdrücken. Auch als wir heute mit ihm ein Kleid für seine Frau kauften, war er so originell, daß weder wir, noch der Commis⁷⁶ das Lachen halten konnten. Heute aßen wir mit ihm bei Tante Higa. Zu unserem Schrecken kam die Trauerbotschaft vom Tod des Erzherzogs Albrecht von Österreich. Wie ein Blitz schlägt dieser Trauerfall in unseren schönen, schönen Karneval hinein. Die beiden Hofbälle, Lerchenfeld, Wedell und Bronsart fallen nun alle aus und wir könnten geradesogut abreisen. Doppelt bedauern wir, heute nicht bei Hohenzollern eingeladen zu sein, um uns zum letzten Mal austanzen zu können. Es ist zum Weinen! Freitag, 22.2.95. Die letzten Tage waren natürlich ganz in die Tinte gefallen; alles in Schwarz, kein Ball in Aussicht, kurz, wie mit einem Schlag alles verwandelt. Durch Mutters Gesundheit sind wir auch am Ausgehen gehindert, sodaß man gar nichts vor sich bringt. Natürlich ist nicht zu leugnen, daß wir immer noch viel mehr Spaß haben als zu Hause und keinen Grund zum Murren haben. Am Dienstag z. B. hatten wir ein nettes kleines Diner bei der Tante mit Tann, Benno, Mutius und dem kleinen Östreicher Riedel. Tanns ewiges Geschichtenerzählen wurde mir zu viel; Spitzembergs belachen selbst den dümmsten Witz, aber ich spreche viel lieber Anderes mit ihm als Geschichten, die ich in jedem Witzblatt lesen kann. Ein reizender, harmlos lustiger Mensch ist der kleine Riedel, den wir alle zu gern leiden mögen. Er unterhält sich selbst so gut, daß er alle anderen mit unterhält. Sabine geht fleißig in ihr Atelier; das Bild der Jungfer hat sie schon beendet und will mich jetzt malen! Wir waren schon zweimal draußen zusammen und ich finde das Modellsitzen in dem netten kleinen Atelier mit der lustigen jungen Frau und dem dicken, braven Baby nicht halb so schlimm, als ich es mir vorgestellt hatte. Am Mittwoch aßen wir bei Grolmanns, wo es recht lustig war, wo sich aber die arme Mutter wieder aufs Neue verdarb. Besuche machten wir wenig, außer bei den beiden Tanten und bei Bethmanns, um Freda zu ihrer Verlobung mit dem Grafen Ulrich Schwerin zu gratulieren. Die Partie ist ja vom pekuniären Standpunkt nicht gut und genügt der Mutter Bethmann gar nicht. Aber Schwerin ist, wenn auch nicht heiter, ein so vortrefflicher, guter, vornehmer Mensch und sieht so gut aus, daß man Freda sehr gratulieren kann dazu. Eine andere, zusammengepanschte Verlobung ist die von

75 Cäsar Hofacker (1831 – 1896). 76 Ladengehilfe.

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dem reichen Sonderling Oppersdorf und der Prinzessin Dodo Radziwill. Sie ist eine schöne, kluge Person, aber sie sieht nicht gutmütig aus und könnte wohl leicht etwas Tolles aufführen. Montag, 25.2. Es ist doch nicht so schlimm, wie ich dachte, man kann sich auch trotz Trauer gut unterhalten. So waren wir am Sonnabend in dem Konzert für die Verunglückten des Schiffes Elbe im neuen Reichstag. Vater ging mit Hanna, da Tante auch Influenza hat und wir hatten uns die herzige Frau von Gadow zum Chaperon gewählt. Das Konzert hatte einen sehr ernsten Charakter, nicht nur durch die Trauerkleider, sondern durch die Wahl der Stücke. Der Domchor sang herrlich, besonders das Ave verum war einzig schön und das ganze Konzert sehr gediegen. Nachher gingen wir noch in eine kleine Soirée zu Gräfin Schlippenbach, wo die Clique Marschall, Hohenthal, Frau Richter, Lerchenfeld und Arenberg wiedervereinigt war. Zu Hanna und uns zweien kam noch Klärchen Wedell, Benno, Senden, Bussche und Tann. So bildeten wir zu achten einen sehr fidelen Tisch. Bennos Pläne sind uns nunmehr klar: Er steuert auf Klärchen Wedell zu und wenn er auch noch gar nicht entschieden ist, so scheint sie ihm doch zu gefallen. Wedells scheinen die Partie zu wünschen, denn sie sind gegen uns, die sie sonst abscheulich behandelten, von einer solchen ostentativen Freundlichkeit, daß man wohl merkt, woher der Wind weht. Sie sollen nur nicht zu sicher sein, denn Benno scheint es noch gar nicht, Klärchen ist ja sehr klug und liebenswürdig, aber sie hat in meinen Augen, obwohl sie ganz hübsch ist, keinen Charme, sie ist zu sicher und gewandt, hat gar nichts mädchenhaftes. Am Sonntag hörten wir in der Dreifaltigkeitskirche eine großartige Predigt von Dryander; ich habe eine solche den ganzen Winter noch nicht gehört und was mir am besten gefiel, war der Mangel jeder Schönrednerei, jeglichen Kirchentons. Am Nachmittag machten wir Besuche bei Hammerstein und Kurowsky und gingen am Abend auf unseren ersehnten Ball bei Bronsart. Sie ließen trotz der Trauer tanzen und ließen es sich angelegen sein, einen möglichst eleganten Ball zu geben. Der Raum ist ja auch wie zu einem Fest geschaffen und da nur die nettesten Leute eingeladen waren, so war es ganz reizend gelungen. Als ich zum ersten Walzer mit dem Sohn des Hauses nach Thormanns famosem Spiel lossegelte, hätte ich laut jubeln mögen vor Freude. Man hatte in der langen Pause ganz vergessen, wie schön das Tanzen sei. Ich soupierte mit Bernewitz, doch war er noch influenziert und sehr schweigsam. Beim Cotillon gab es eine solche Fülle der herrlichsten Alpenveilchen, Maiglöckchen und Veilchen, alle ohne Draht, wie ich den ganzen Winter noch keine erlebt. Hanna war nicht da, da bei ihrer Mutter die Influenza in Gelbsucht ausgeartet und nicht unbedenklich ist. Die Hofdame Finckenstein, die schöner als je ist,

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sah ich gestern auch endlich wieder. Es war zu wonnig gestern; ich bin noch ganz begeistert davon. Schade, daß es wohl der letzte Ball sein wird! Von Burkhart erhielten wir einen begeisterten Bericht von seinem ersten Ball, einem Maskenball bei Frau von Werthern in Wiehe. Wir hatten ihm hier ein reizendes Babykostüm dazu gemacht: Einen buntgeblümten Hänger mit roter, breiter Schärpe, einen großen Greenaway-Hut⁷⁷ mit Stirnlöckchen und roten Blumen. Er faßte seine Rolle als Dame ganz ernst auf, paßte sehr auf die Rivalinnen auf und schrieb voll Triumph, daß er am meisten getanzt, sieben Sträuße erhalten habe und sehr ausgezeichnet worden sei. Er habe welche wegen Seitenstechens weggeschickt! Und seine Handschuhe seien ganz schmutzig gewesen, ein Beweis seines vielen Tanzens! Das ist doch zu amüsant! Jörge war als Clown da, obwohl er gerade sein Abiturientenexamen schriftlich gemacht hat und vor dem Mündlichen steht. Er ist sehr zuversichtlich!

77 Im Stil der Illustrationen der Kinderbuchautorin Kate Greenaway (1846 – 1901).

Abb. 8: Elisabeth Freifrau von Erffa, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen (1880), Quelle: Privatbesitz / Maler: Fritz Paulsen, Digitalisierung: Matthias Raum.

Band IV: Tagebuch von 1895 bis 1897 Es ist ein köstlich Ding, daß das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade¹ Trust no future, howe′er pleasant! Let the dead past bury its dead! Act – act in the living present, Heart within and God o′erhead! Longfellow

1895 Berlin, den 28. Februar, 1895. Montag und Dienstag waren stille Tage, die wir zum Malen ausnutzten. Einmal besuchte uns Frau von Maltzahn-Gültz. Sie ist die wärmste, jugendfrischste Frau, die ich kenne und obwohl sie schon drei Enkel hat, ist sie in ihren Empfindungen wie das jüngste Mädchen. Sie erzählte uns eine unangenehme Geschichte, mit der sie unser Pastor Gerlach geärgert hatte und dabei blitzten ihre schönen Augen und ihre Ausdrücke waren so leidenschaftlich, daß wir immerfort lachen mußten. Ebenso stürmisch ist sie aber auch in ihrer Liebe und ihre Zärtlichkeitsbezeugungen kommen aus so warmem Herzen, daß sie ganz besonders wohl tun. – Einmal waren wir bei den guten Scharffenbergs zum Thee; es war nicht allzu heiter; aber sie haben so viele schöne Sachen, daß man nicht müde wird, alles zu bewundern. An Fastnacht war zu allgemeiner Entrüstung kein Ball. Klärchen Wedell lud uns dafür mit Hanna, Elma, der Salm, Schlieben, Platen, Lichnowsky, Alten, Königsmarck, Magnus, Planitz, Schmidthals zu einem Monstre-Thee ein. Zuletzt schlugen wir den Teppich zurück, Frau von Wedell setzte sich ans Klavier und wir tanzten untereinander mit einer wahren Begeisterung. Es ist zu amüsant, einmal zu sehen, wie die Mädchen tanzen; bis auf wenige Ausnahmen war ich aber sehr enttäuscht. Mit Herren geht es doch viel besser. Zu gestern Abend hatte mir Tante Higa ihr Billet ins Zur-Mühlen-Conzert gegeben. Hanna und ich fuhren unter dem Schutz der Gräfin Hohenthal, die in einer wahrhaft reizenden Weise für uns sorgte. Diese Frau ist überhaupt ein Schwarm von mir; sie verbindet mit ihrem Phlegma eine solche Herzensgüte und Liebenswürdigkeit, daß man ihr gut sein muß. Zur Mühlen² sang von Anfang bis Ende ein Lied nach dem andern, ohne im Geringsten zu ermüden, 1 Hebräer 13, 9. 2 Raimund von Zur Mühlen (1854 – 1931), Tenor, gilt als Begründer der Konzertgattung Liederabend. https://doi.org/10.1515/9783111237404-007

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im Gegenteil ward seine Stimme immer voller und besser je weiter er sang. Sein Organ ist ja nicht stark, aber sehr angenehm und sein Vortrag ist meisterhaft, die Aussprache der englischen und französischen Lieder unerreicht. Er sang Rubinstein, Brahms, Löwe, Schubert etc. Am besten gefiel mir ein feines französisches Liedchen von Pessard,³ l′adieu du matin, was er zweimal unter donnerndem Applaus wiederholte. Asta Eickstädt war mit ihrem Mann da und führte sich wieder ganz verrückt auf, wollte Mühlen persönlich danken und anderen Unsinn mehr. Es ist ganz so gekommen, wie ich fürchtete. Er ist ein Tunichtgut, an dem sie nicht den geringsten Halt hat; sie tut alles, was sie will und benimmt sich so fast,⁴ daß selbst ihre besten Freunde sie aufgeben. Mit der Riesenrevenue reichen sie auch nicht: es giebt sicher ein Unglück! Heute waren wir den ganzen Tag im Frauen-Groschen-Bazar, vulgo grauen Frosch, wo wir am Büffet verkauften unter Leitung von Frau Leyden, Frau Warschauer, Frau von Berlepsch und Mutter. Wir waren acht Mädchen, wir zwei, Hanna, Elma, Else Schmidthals, Elisabeth Arnim, Valeska und ihre Cousine, entschieden zu viele für die wenigen Käufer. Niemand kann sich an einen so schlecht besuchten Bazar erinnern und wenn wir morgen nicht bessere Geschäfte machen, so sieht es schlimm aus. Um das schöne Büffet standen dann wir acht weißgekleideten Jungfrauen herum, bereit, uns auf jeden unglücklichen Gast zu stürzen. Es war im Ganzen wenn auch ein anstrengender, so doch ein sehr lustiger Tag. Wir brauchten nicht allzu fleißig zu sein, weil wir so viele waren und gingen oft in den großen Saal, wo eine Menge hübsche Sachen verkauft wurden. Hanna benahm sich recht töricht heute und es war schade, daß ihre Mutter nicht da war, sie zu rüffeln. Sie kümmerte sich gar nicht ums Verkaufen, sondern dachte nur ans Amüsieren; und als dann gegen Abend einige Leutnants erschienen, verlor sie total den Kopf, zog mit ihnen herum, saß mit ihnen zusammen und ließ sich die Cour machen. Sehr nett und reserviert benahm sich dagegen Else Schmidthals. Am Schluß, als es leer ward im Saal und nur Senden, Kalnein, Bernewitz, Solms und Wilhelm Grolmann als Käufer blieben, zog Senden zu Prinzeß Altenburg und rang ihr die Erlaubnis, zu tanzen ab. So tanzten wir denn ein paar Mal, vielleicht eine halbe Stunde herum. Es war kein glücklicher Gedanke, denn es entstand natürlich Ärgernis daraus. Die fünf Herren tanzten nur mit uns weißen Mädchen vom Büffet; während Mendelsohns und die anderen Mädchen der haute finance, deren Eltern weit mehr als die unseren für den Bazar gethan, an den Wänden herumsaßen und zusahen. Es war recht ungeschickt und wird morgen entschieden nicht

3 Emile Pessard (1843 – 1917), französischer Opernkomponist. 4 Englisch: rasant.

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wiederholt werden.– Eben war Alvensleben hier und erzählte uns zwei Stunden lang vom Kölner Karneval, den er soeben mit dem Landgraf mitgemacht hat. Er war ganz erfüllt von den prächtigen Aufzügen, dem bunten Treiben, vor allem aber von dem ausgelassenen, tollen, aber nie rohen gemeinen Ton und Geist. Besonders imponiert und gefallen hatte ihm, daß er eines Abends in der ersten Gesellschaft Pfauenfedern an junge Mädchen gegen Küsse verkauft hatte und zu seinem höchsten Vergnügen einen ganzen Packen auf diese Art losgeworden war. Samstag, 2.3.95 Der zweite Bazartag glich dem ersten: Wenig Käufer, aber durch das Zusammensein mit den netten Mädchen recht amüsant. Ganz früh, als erst wenige Verkäuferinnen im Saal mit Abstauben und Herrichten beschäftigt waren, kam Prinzeß Leopold;⁵ sie bat um Schokolade, wir stürzten uns diensteifrig auf die Kanne und – kein Tropfen floß heraus; die Schokolade war noch nicht gemacht. Es war ein sehr kritischer Moment! – Die Einnahme des ganzen Bazars betrug 19 000 M., viel mehr, als wir bei dem schwachen Besuch erwartet hatten. Zurückgekehrt legten wir uns richtig ins Bett und schliefen zwei Stunden, um dann neugestärkt auf den Marschall′schen Rout zu gehen. Wir trafen Berlepschens, Wedells, Frau von Savigny mit ihrer reizenden Tochter und viele Diplomaten. Wir bildeten ein Jugendzimmer, in dem es sehr heiter zuging. Benno schäkerte mit Klärchen und der kleine Riedel übertraf sich selbst an Lustigkeit. Ich soupierte mit Herrn von Stieglitz, der mir ausnehmend gut gefällt, doch war die Engigkeit beim Essen äußerst störend. Heute waren wir zu Hause, weil der Vater den Landgrafen eingeladen hatte. Von den übrigen Eingeladenen kam nur Frau von Bockelberg und Herr von Trott, da alle übrigen Influenza hatten. Es war urlangweilig; der Landgraf zwar unterhielt sich himmlisch und wollte gar nicht wieder fort, aber wir übrigen waren nicht sehr heiter und machten gezwungene Conversation. Der Hofmarschall, Herr von Strahl, ist ein schöner, aber gewöhnlich aussehender Mensch und macht keinen vertrauenerweckenden Eindruck. Heute Nachmittag war Wolfram Rotenhan hier, um mit mir die Pantomime zu proben. Ich stellte mich noch steif und ungeschickt an, während er einen gefühlvollen, verliebten Referendar brillant darstellt. Er sprach immerfort auf mich ein, um natürlichere Bewegungen zu machen, wie er sagte, und will bei der Aufführung nur die Worte fortlassen. Zuletzt bei der Werbung ward er so dringend, daß die Mutter ganz erlöst aufatmete, als er mich, „Amalie“ anstatt Hildegard nannte.

5 Helene Duchess of Albany, geb. Prinzessin von Waldeck und Pyrmont (1861 – 1922), Witwe von Prinz Leopold, Duke of Albany (1853 – 1884).

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Nächsten Dienstag gedenken wir zu reisen, also nur noch zwei, allerdings gut besetzte Tage! Montag, 4. März Die letzten Tage sind stets die besetztesten und während wir am Anfang oftmals zu Hause saßen, sind wir jetzt mehrmals für jeden Abend eingeladen. – Gestern machten wir nach der Kirche Abschiedsbesuche, zogen uns in rasender Hetze um und gingen zum Frühstück zu Frau von Radowitz, wo wir Spitzembergs, Miquel, Grolmanns, Kramm und den Grafen Goltz mit seiner jungen Frau, einer reichen Holländerin, trafen. Ich saß neben ihm bei Tisch und war erstaunt, wie ehrbar und zivilisiert er sich benahm; wenn das die Frau in so kurzer Zeit fertig gebracht, so kann noch viel aus ihm werden. Das Dejeuner unterschied sich von einem Diner nur dadurch, daß die Bouillon in Tassen, anstatt in Tellern war: Nachher saßen wir im Wintergarten und lachten viel über den Prinzen Solms, der in seiner einförmigen Art mit dem langweiligsten Gesicht von der Welt ganze Seiten aus Immermanns „Münchhausen“⁶ citierte. Am Nachmittag hatten wir verschiedene Besuche, u. a. von unserem früheren Hofmeister Loth, der hier bei der Artillerie dient. Es gab eine sehr komische Scene, als wir alle um den schönen, stattlichen Soldaten herumsaßen, ihn dies und das fragend, als plötzlich Varnbülers hereinkamen, uns zu besuchen. Wir flüsterten der kurzsichtigen Tante zu: „ce n’est pas un officier“,⁷ der Onkel fand ihn sehr malerisch, als er so stramm vor ihm stand und ohne die geringste Verlegenheit auf alles antwortete. Am Abend machten wir wieder eine entzückende Soirée bei Frau Richter⁸ mit. Grünfelds spielten und Zur Mühlen und die kleine Paloni sangen wunderschön, wenn auch nicht so gut wie neulich im Conzert. Die Gesellschaft war viel zahlreicher, doch war es eher noch lustiger als das letzte Mal. Wir unterhielten uns viel mit den netten Engländern Dering und Granville, die beide sehr lustig und angenehm sind. Ich soupierte mit Gersdorff, der den Onkel Axel in lächerlicher Weise kopiert. Er lag hinter mir auf einem Diwan hingegossen und säuselte mich an; übrigens ist er ein sehr sympathischer Mensch, also ganz Onkels Kopie, denn Onkel hat doch sehr viel Charme und übt ihn besonders auf seine Gäste aus, weshalb er auch in seiner schlesischen Clique so beliebt ist.

6 Carl Immermann (1796 – 1840), Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken, 1838 – 39. 7 „Das ist kein Offizier“. 8 Cornelie Richter (1842 – 1922), jüngste Tochter des Komponisten Meyerbeer und Ehefrau des Malers Gustav Richter.

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Heute ist mein Pastell-Bild⁹ fertig und, soweit ich beurteilen kann, auch recht ähnlich geworden. Dann machten wir Besuche und jetzt fand ich den Moment zum Schreiben. Um fünf Uhr kommen Wolf und Diez Breitenbauch, Spesshardt, Gotthardt und Karl Baumbach zu einem kleinen Vetternessen, dann hat uns Frau von Wedell in den zärtlichsten Ausdrücken in ihre Loge zum Opéra paré ¹⁰ eingeladen und wir freuen uns sehr, Hänsel und Gretel zu sehen. Wenn ich dann noch packen und morgen um sieben Uhr wieder aufstehen soll zur Abreise, so werde ich recht schläfrig sein auf der langen Reise. Wernburg, 15.3.95. Freitag Seit einigen Tagen bin ich wieder hier in meinem geliebten Wernburg, mit meiner Berliner Familie wiedervereinigt. Es ist, da wir nur die oberen Zimmer bewohnen, äußerst mollig und gemütlich. Draußen zwar ist alles so weit zurück, es ist ein solcher unergründlicher Schmutz, alles so kahl und unfreundlich, daß wir einer leisen Enttäuschung nicht wehren konnten. Jörge ist vom Mündlichen dispensiert worden, hat einige Tage in Berlin verlebt und ist jetzt als mulus unser aller Stolz und Sonnenschein. Nachdem wir auch den guten Dicken eingeheimst, sind wir ein sehr fideler Familienkreis, dem es namentlich nie an Sprachstoff fehlt. Jörge muß haarklein über Entlassung, Examen etc. berichten, Sabine schwatzt von den drei Bällen, die sie noch mitmachte und ich kann nicht müde werden, von der entzückenden, einzig in ihrer Art dastehenden Eyrichshöfer Hochzeit zu erzählen, und das will ich auch hier tun. Also am Dienstag früh brachte mich die gute Mutter zur Bahn und übergab mich der Gräfin Sascha Schlippenbach. Wir fuhren mit Wolfram Rotenhan, Herrn von Mumm und dem ältesten Winterfeld, eine heitere und mit Eßkobern reichlich versorgte Gesellschaft. Wir aßen, schliefen und schwatzten und unterhielten uns so gut, daß wir die Reise gar nicht sehr lang fanden und ich ganz über meinen Berliner Abschiedsschmerz und meinen Saison-Kater hinwegkam. Im Ganzen, trotz Influenza und trotz Hoftrauer war es doch ein entzückender Aufenthalt, an den ich stets mit Befriedigung denken werde. In Poessneck erschien Rudis gutes Vollmondgesicht einen Moment am Fenster und mußte, da wir Verspätung hatten und der Zug nur einen Moment hielt, mit einem flüchtigen Kuß und einem Pack Apfelsinen abgespeist werden. In Lichtenfels trafen wir Künßbergs mit einem Frl. von Seckendorff, mit denen ich von Breitengüßbach nach Eyrichshof fuhr. Sie schwatzten und schrien so unaufhörlich in diesen zwei Stunden, daß mir der Kopf brummte. Die Tante, zu

9 Siehe Schutzumschlag. 10 Festliche Opernaufführung.

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ihrer gewöhnlichen Unentschiedenheit noch mit großer Reiseaufregung belastet, machte uns halb verrückt, da sie jeden Augenblick glaubte, etwas vergessen zu haben, die Tasche aufriß, es fand, sich von dem gehabten Schrecken erholte, Zweifel über ihre und Illas Toilette hatte und anderen Jammer mehr. In Eyrichshof war schon die ganze Halle mit Gästen angefüllt, denen ich vom Eyrichshöfer sofort mit Gewalt vorgestellt wurde. Ich glaube, es ist am besten, wenn ich jetzt sofort alle Gäste, wie sie an der Hochzeit versammelt waren, hier aufzähle. Es waren: die Frankfurter Mumms mit ihren zwei schönen Töchtern und zwei jungen Söhnen, Alphons Mumm aus Berlin, die Gräfin Sascha, die reizend nett und mütterlich gegen mich war, Frau von Rotenhan aus München mit Johanna und Siegmunt. Luise R. aus Buchwald, die Rentweinsdorfer, aber leider nur mit Siegfried, Frl. von Minutoli, Karl und Georg Eichel mit ihren Frauen, die Mutter Willich mit dem Bräutigam und einem jüngeren, sehr schönen, aber sehr eitlen Sohn, Frau von Winterfeldt mit drei Söhnen, zwei Mädchen Seckendorff; Tante, Illa und Heinrich Künßberg, Frau von Sangy mit reizender Tochter und zwei Söhnen, Dorette Dungern, unser guter, dicker Haussonville, ein Maler und Freund des Hauses Niemeyer, ein Assessor Stein aus Ebern, als Freunde des Bräutigams ein Osten, Graf Karmer, Heintze, Herbertz, Gemmingen und von Bamberg sechs Ulanen.¹¹ Truchsessens und Dungerns wohnten in Rentweinsdorf. – Gerta¹² sah schöner und strahlender aus als je und war von bezaubernder Herzlichkeit gegen mich. Kurt Willich¹³ gefällt mir sehr; er macht einen sehr klugen, ernsten, tüchtigen Eindruck, und wenn er auch ziemlich schweigsam und still scheint, so muß er doch sehr liebenswürdig und angenehm sein. Ich wundere und freue mich zugleich, daß Gertas Wahl auf diesen Mann gefallen und daß sie in solch hingebender Liebe zu ihm aufsieht. Ich dachte, sie würde ihren Bräutigam vielleicht etwas schnöde behandeln, aber sie ist durch die Liebe wie umgewandelt, läßt sich vor mir von ihm umarmen und ist von einer Fürsorge gegen ihn und seine alte Mutter, die ganz rührend ist. Äußerlich ist er ein sehr schöner, brünetter Mann mit berühmt schönen Augen und großem Schnurrbart, sodaß sie, obwohl er etwas zu klein für sie ist, ein Paar geben, wie man selten eines sieht.

11 Vermutlich aus dem Königlich Bayerischen 1. Ulanenregiment „Kaiser Wilhelm II. König von Preußen“. 12 Gertrud Freiin von Rotenhan (1874 – 1955), Tochter von Siegmund Hermann Julius Freiherrn von Rotenhan (1837– 1916) und Marianne, geb. Mumm von Schwarzenstein (1844 – 1923), die als Tochter einer begüterten Frankfurter Familie erheblichen Reichtum in die Familie gebracht hatte, was auch in den Tagebüchern immer wieder kommentiert wird. 13 Kurt von Willich (1860 – 1903), Gutsbesitzer und Landrat des Kreises Birnbaum Provinz Posen.

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Am ersten Abend waren wir zu fremd und zu müde, um viel aufzustecken; wir tanzten etwas, während ein Teil der Gesellschaft noch probte. – Am anderen Morgen kamen wir mit unserer Pantomime an die Reihe zu proben. Ich wurde vorher von Frau von Rotenhan instruiert, ganz anders als schriftlich, sodaß ich eine Heidenangst hatte, mich zu blamieren. Aber siehe da, sei es, daß sich so etwas auf der Bühne besser macht, oder daß man besser inspiriert ist, sie waren von meiner bescheidenen Leistung ganz befriedigt und entzückt, sodaß wir die Probe gar nicht zu wiederholen brauchten. Zum Essen fuhr ein großer Teil der Gesellschaft nach Rentweinsdorf und es war ein entzückendes Bild, als die fünfzehn Schlitten im Kreis vorfuhren und auf dem Schloßhof standen. Ich fuhr im tête à tête mit dem alten Herrn von Mumm und unterhielt mich sehr gut mit ihm. In Rentweinsdorf war eine große Hufeisentafel gedeckt und ein für ihre Verhältnisse recht gut gekochtes Diner gerüstet. Ich hatte den ältesten Mumm, einen reizenden jungen Menschen als Herrn. Ich hatte, besonders von meinem lieben Schwager so viel Ungünstiges über diese Familie gehört, daß ich ganz überrascht war, sie so nett und angenehm zu finden. Über die Eltern habe ich ja kein Urteil, aber ihre Kinder haben sie so gut und vornehm erzogen, wie man es in Frankfurt selten finden wird. Die Söhne, 20 und 22jährig, zeichneten sich durch ein selten bescheidenes, vornehmes Wesen aus; die zweite Tochter, Martha, 17jährig, ist noch etwas ungeleckt und burschikos, aber die älteste, Jenny, ist ein Engel an Schönheit, Sanftmut und nettem Benehmen.Verwöhnt sind sie gewiß alle, aber das ist doch bei solchem Reichtum und solcher Schönheit nicht anders zu verlangen. Nach Eyrichshof zurückgekehrt tranken wir Thee und stürzten uns dann in die Kostüme. Meins bestand in einem buntgeblümten Battistkleid mit Spitzenfichü¹⁴ und schwarzem Schürzchen, Korallenkettchen und rosabebändertem Strohhut, recht backfisch-spießig! Das Theater war im Schulsaal, der reizend mit selbstgemachten Apfelblütenzweigen dekoriert war. Die Bühne mit Kulissen und Hintergrund war großartig, aber das Künstlerzimmer war unter aller Kritik. Man denke sich ein Loch, in dem alle Requisiten zur Aufführung, alle Mitspielenden in mehr oder minder Lampenfieber und außerdem ein großer Wandschirm, hinter dem sich die Damen in den Pausen umziehen mußten, sich befanden, so wird man sich den Wirrwarr und die Temperatur dazu denken können. Die Einleitung war ein Zwiegespräch zwischen einem Steuerbeamten (Haussonville) und Diogenes (Siegmunt Rotenhan), der vier scharlachrote Poltergeister mitbringt. Dann folgte unsere Pantomime mit entsprechender Musikbegleitung. Die Handlung war etwa folgende: Beim Aufgehen des Vorhangs spielte ich mit meinem kleinen Bruder (Eyring) Ball und Fangerles, bis er sich den Kopf an der Bank anschlägt und anfängt, zu heulen. Nachdem ich ihn getröstet und fortgeschickt, werde ich sinnig,

14 Fichu: Ein dreieckiges Tuch, das Hals und Dekolleté bedeckt.

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pflücke und zupfe ein Gänseblümchen, zeichne mit dem Schirm ein Herz in den Sand, lese einen rosa Brief, bei dem mich der kleine Bruder belauscht und der Referendar Fleißig (Wolfram Rotenhan) überrascht. (Er sah im Lüstre-Jacket¹⁵, hellen Strohhut, knallgelben Handschuhen, roter Perücke und Schnurrbart, jugendlich geschminkt, einfach zum Schreien aus). Er bringt mir Blumen, setzt sich zu mir auf die Bank, bringt einen großen Cotillon-Orden hervor, den ich ihm auf dem letzten Ball gegeben, ich werde furchtbar verlegen, er fällt auf die Kniee, macht mir einen Antrag, ich sage leise: „Ja“ und – große Umarmung. Da platzt die dicke, aufgeregte Mutter (Malla Seckendorff ) herein, ich heule, der Referendar fleht, bis sie gerührt ihre Einwilligung gibt und beim Vater, der im Schlafrock, Pfeife rauchend und Zeitung lesend daher kommt, für uns bittet. Dieser (Baron Stein) segnet uns sehr umständlich und bald stürmen Gratulanten heran. Lilli Sangy als Klatschbase, Hermann als Vetter, Niemeyer und Johanna R. als Großeltern und ein Kind mit einem großen Strauß kamen nach und nach und wünschten stürmisch Glück, bis wir uns zu schönem Schlußtableau vereinigten. In der Mitte standen wir hold umschlungen, links die strahlenden Eltern, auf der Bank das Großelternpaar, mit dem Kopfe wackelnd und vor uns das Kind mit dem Strauß. Es muß zum Totlachen gewesen sein. Die Pantomime führte den Namen „des Lebens Glück“ während das zweite „des Lebens Schmuck“ hieß und eine Scene auf Capri darstellte. In einem Kahn saßen und standen die beiden Mumms als Italienerinnen, Heinrich Künßberg, Siegmunt, Hermann Mumm als Studenten, Sigi Winterfeld als Maler, Hermann Rotenhan und ich als Liebespaar, alle in altdeutscher Tracht. Ich hatte mich in furchtbarer Eile hinter dem bewußten Schirm mit einem blauen Gretchenkostüm geschmückt. Der Maler sprach begeistert über die Natur, wir personnificierten die Liebe, die Italienerinnen tanzten die Tarantella, die Studenten ließen Wein, Liebe, Tanz, Gesang, kurz „den Schmuck des Lebens“ leben. Die dritte Scene war ein Gruppenbild von Glaube, Liebe, Hoffnung, Vaterlandsliebe, Treue, Barmherzigkeit etc., ideale Figuren, die einige schöne Worte, von Julie Guttenberg gedichtet, sagten und „des Lebens Stern“ vorstellten. An der Spitze stand die schöne Jenny Mumm als Friede mit dem Palmenzweig. – In der darauffolgenden Pause sangen Niemeyer und Siegmunt Couplets, in denen die ganze Gesellschaft geneckt und gelobt ward. Wir liefen zurück ins Schloß um uns umzuziehen, was, da die Jungfer, die man uns mitgab, noch nie ein Kleid geschnürt hatte, keine Kleinigkeit war, doch kamen wir noch zurecht, um den größten Teil der hübschen Operette zu hören. Die Musik von Offenbach, die hübschen Empire-Kostüme, das gute Zusammenspiel und der reizende Gesang von Manna,¹⁶ Johanna, einem Sangy und Winterfeld errangen großen

15 Jacke aus glänzendem Stoff 16 Marianne Freiin von Rotenhan (1873 – 1940), die ältere Schwester der Braut.

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Beifall. Manna tanzte und sang zugleich mit hervorragender Anmut und herrlichem Vortrag. Das darauf folgende Souper, wo wir Tischlieder auf das Brautpaar sangen, war sehr lustig. Dann wurde bis gegen zwei Uhr getanzt, sehr flott und sehr gut. Ich tanzte riesig viel, ward überhaupt sehr gefeiert, erhielt Sträuße die Menge und drei Glasherzen, mit Blumen gefüllt. Die Bamberger Ulanen scheinen recht nette Leute und die ganze Familie Rotenhan, – Eichel – Mumm hat einen unglaublichen entrain. Der Hochzeitstag brach sonnig an. Nach dem gemütlichen endlosen Frühstück halfen wir, Blumen zu richten und banden dann den Brautkranz. Derselbe wurde von uns neun Brautjungfern: Manna, Johanna und Luischen Rotenhan, den zwei Mumms, Lili Sangy, Illa, Malla Seckendorff und mir sehr feierlich unter dem Gesang eines Liedes, das die Großmutter Mumm einst gedichtet, überreicht. Gerta schenkte uns darauf wundervolle goldene Armbänder, eine Kette mit ihrer Miniature. Wir waren ganz selig, besonders ich sprang hoch vor Vergnügen. Um halb zwei versammelte man sich zur Trauung. Ich hatte ein entzückendes Kleid von durchsichtigem rosa Moiree mit gelben Spitzen, auf dem Kopf ein Rosenkränzchen, das ich als Abzeichen der Brautjungfer tragen mußte. Der Hochzeitszug von dem alten, beflaggten Schloß zur geschmückten Kirche, bot ein prächtiges Bild. Die vielen schönen Frauen, die blitzenden Uniformen, als Mittelpunkt das bildschöne, weißgekleidete junge Paar (er war in Kürassieruniform), die festlich geschmückten Dorfbewohner und über alles die wärmsten, goldigsten Sonnenstrahlen ausgegossen, – das war für jedes künstlerische Auge ein Genuß, wie man ihn selten hat. – Der Gottesdienst war ernst und schön und Gottlob! nicht rührsam. Die Gratulation nachher denke ich mir für das arme Brautpaar entsetzlich, obwohl ich glaube, daß man in diesem Moment in so gehobener Stimmung ist, daß man sich selbst die vielen Küsse gern gefallen läßt. Im Rittersaal, der mit künstlichen, selbstgemachten Obstgewinden hübsch und bunt dekoriert war, ward an drei Tischen gespeist. Mein Brautführer war Hans Winterfeld, aus Berlin her wohl bekannt und befreundet mit mir. Er machte mir vor zwei Jahren sehr die Cour, sodaß ich mich nicht gerade freute, ihn zum Brautführer zu haben; aber er war so nett, ernst und vernünftig, daß ich ganz unnötige Besorgnisse gehabt hatte. Auf meiner anderen Seite saß Wendt Thüngen, der schönste und netteste der Ulanen, vis à vis Lili Sangy mit Herbertz, beide mir sehr sympathische Gesellschaft, sodaß ich höchst befriedigt von meinem Platz war. Zum Reden war übrigens nicht viel Zeit, da ein Toast den anderen jagte; man konnte sich dies aber wohl gefallen lassen, da einer besser und lustiger war als der andere. Hervorragend gut sprach Mumm, Georg Eichel, Herbertz, letzterer auf die Brautjungfern. Dazwischen wurden die Telegramme von Siegmunt mit großem Humor verlesen. Es kamen ca. 220, eine Riesenzahl. Das junge Paar fuhr, nachdem es den Brautkranz ausgetanzt, in offenem

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Wagen, trotz der großen Kälte, davon. Gerta sagte mir zum Abschied: „Du Glückliche, du kannst jetzt den ganzen Abend tanzen! Aber ich tausche doch nicht mit dir!“ Das ist so bezeichnend für sie. Die zwei Stunden nach dem Abschied waren recht öde. Wir sollten nicht tanzen; es ward musiziert, aber keiner war bei der Sache. Da zogen wir uns lieber zurück und trösteten die arme Manna. Sie ist von einer kindlichen Fröhlichkeit, die den Schmerz bald überwinden wird und wenn sie auch von Zeit zu Zeit in Thränen ausbricht, so lacht sie dieselben gleich wieder weg. – Neugestärkt kamen wir zum Souper wieder zusammen und tanzten danach unaufhörlich. Man wurde gar nicht müde, da die süddeutschen Herren alle rechts- und linksrum, rück- und vorwärts tanzen, anstatt nur rund um den Saal zu jagen. Ich unterhielt mich ganz ausgezeichnet gut; eine Française sollte ich mit dem kleinen Hermann tanzen, doch war er so beschwipst, daß er es nicht mehr wußte. Am Abend reiste er auch ohne Adieu ab, schrieb aber am nächsten Tag einen rührenden Brief, wo er sich vielmals entschuldigte, um Gnade bat und Besserung gelobte. Am nächsten Tag reisten einige Gäste ab und der kleine Rest, der immer bekannter miteinander ward, amüsierte sich nach Kräften, fuhr Bergschlitten, ging spazieren, saß im traulichen Hausehren¹⁷ und erzählte sich was. Das Essen war, bis auf einen unpassenden Toast des Hausherrn, sehr fidel. Zum Thee, zu dem die Rentweinsdorfer kamen, dekoltierten wir uns wieder, um der Sache noch einen festlichen Anstrich zu geben. Es ward musiziert und allerhand Allotria getrieben, worin die Eyrichshöfer Großes leisten. Ich kenne keine Familie, die so viel entrain und Talent hat. Z. B. einer setzt sich ans Klavier und spielt eine Melodie, sofort bemächtigt sich jeder einer Violine, Cello, Mandoline oder Guitarre, spielt mit, singt oder pfeift dazu, und natürlich nie falsch. Alles spielt, singt, malt, dichtet, komponiert, der brodlosen Künste, Jongleurkünste, Tanzen, Pfeifen etc. nicht zu gedenken. Dazu kam, daß der jüngste Winterfeld, Siegmunt Rotenhan und Niemeyer die witzigsten, erfindungsreichsten maîtres de plaisir für solch Fest sind und wir Mädchen und die Eichels mit Wonne bereit waren, auf jeden Ulk einzugehen. Unser Souper war so amüsant, daß ich manchem steifen Berliner einmal gewünscht hätte, dabei zuzuhören. Es war sozusagen die crème der Lustigkeit vereinigt. Ich soupierte mit Niemeyer, der ein ganz verrückter, aber zu netter, witziger Mensch ist, uns einen französischen Toast hielt und die dümmsten Geschichten mit dem ernsthaftesten Gesicht von der Welt erzählte. – Am Sonnabend vergnügten wir uns mit Mumms und Sangys; die Winterfelds und verschiedene andere schoben ab. Manna legte sich an Influenza oder neuralgischen Schmerzen zu Bett. Wir übrigen schrieben einen illustrierten Brief ans junge Paar. Am Sonntag reisten die letzten, nur Niemeyer, Malla und ich blieben bis Dienstag.

17 Hausflur.

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Die zwei Tage konnte man sich nützlich machen mit Aufräumen und Einpacken. Auch mußten wir den Eyrichshöfer, der sich durchs Nichterscheinen Mannas ganz verlassen fühlte, aufheitern. Eyrichshof scheint mir ganz den Charakter eines englischen Landhauses zu haben in seinen großartigen Einrichtungen, den vielen Gästen, die man aber viel sich selbst überläßt und namentlich in seinem freien, nicht die Spur kleinlichen Ton. So ließ man mich den ganzen Vormittag mit dem jungen Niemeyer allein im Hausflur, wir gingen zusammen spazieren, saßen zusammen, spielten zusammen, ohne daß irgendwer etwas dabei gefunden hätte. In einer norddeutschen Familie hätte man das wohl sofort chocking gefunden. Am Dienstag reisten Malla und ich dankerfüllt ab, trennten uns in Lichtenfels, von wo ich, da kein Damenkoupee zu haben war, mit einem jüdischen jungen Kaufmann bis Pößneck im tête à tête fuhr. Er war sehr höflich, bot mir Wein aus seinem Glas an und zeigte mir endlich, wohl zu meiner Beruhigung, die Photographie seiner Braut. In Saalfeld sah ich einen breitschulterigen Mann in einem unglaublichen Mantel und unglaublicheren Hut auf dem Perron stehen und erkannte ihn sofort als Karl Erffa. Ich winkte ihn gleich her und fuhr mit ihm bis Pößneck. Wie schade, daß ich nicht schon von Lichtenfels an mit ihm fuhr, da er im selben Zug saß; es war besonderes Pech, daß wir uns nicht trafen. Mein Anmeldebrief war inzwischen aus Versehen nach Berlin umgeschrieben worden, sodaß ich in Pößneck nicht erwartet wurde und das Vergnügen hatte, zu Fuß heraufzupinschern. Hier wurde ich freudig als verlorener Sohn begrüßt, denn die Mutter fing schon an, sich zu sorgen. – Ich erzählte stundenlang und schrieb an Frau von Rotenhan, die ganz reizend gegen mich gewesen war. Die ersten Tage schliefen wir sehr lang, um uns zu erholen, machten Besuche in Ranis, Pfarrhaus und Dorf und jammerten über den bodenlosen Schmutz, der selbst im Park undurchdringlich ist. Dienstag, 26.3. Es ist merkwürdig, wie wenig es von hier zu berichten giebt. Wir leben die Tage still hin, machen einen kleinen Gang ins Freie und lesen oder spielen am Abend. Wir lasen auf Jörges Wunsch hin die „Braut von Messina“¹⁸ mit verteilten Rollen, doch war dies bei den verschiedenen rauhen Kehlen nicht gerade sehr schön. Jetzt ist Jörge in Berlin, um als jüngster alter Herr das Roßlebener Diner mitzumachen und sich einige Tage zu amüsieren. Heute kommt zu unserer großen Freude Margarethe auf wenige Tage. Die Mutter hatte neulich sehnsüchtig geschrieben und darauf folgte zu unserer Überraschung gleich ihre Ansage. Morgen kommen hoffentlich Jörge und Vater, übermorgen Karl Erffa auf einen Tag, sodaß

18 Friedrich von Schiller, Die Braut von Messina, Ein Trauerspiel mit Chören, Uraufführung 1803.

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unser kleines Quartier hier oben gestopft voll sein wird. Zu Ostern gedenkt Vater mit Sabine zu Eberhards¹⁹ Hochzeit auf zwei Tage nach St. zu gehen; nach allem, was man hört, wir es wohl ein ledernes Fest werden! Sonntag, 31.3. Eben reiste unsere Mag und einige Stunden vorher Karl Erffa ab. Ich kann mich kaum erinnern, Mag je so gemütlich hier gehabt zu haben. Die letzten Male waren sie immer zusammen an den Festen da, wo die Gemütlichkeit oft im allgemeinen Trubel unterging. Aber diesmal, wo sie mit uns zusammen schlief, wir bei dem unwirtlichen Wetter viel zusammensaßen, genossen wir uns gründlich. Sie war so lieb und nett, ganz das alte gute Wurm von ehemals. Sie freute sich sehr, all die frischen Eindrücke von Berlin und Eyrichshof zu hören, und interessierte sich sehr für unsere Freunde und Tänzer in Berlin. Karl Erffa trug sehr zur allgemeinen Heiterkeit bei; nicht, daß er sehr witzig oder amüsant wäre, aber ehe er einen Witz macht, fängt er schon mit Lachen an und ich brauche nur den Mund aufzutun, so lacht er so, daß wir alle davon angesteckt werden. Er ist dabei wirklich ein prächtiger, famoser Mensch; wenn er sein ohnehin nicht schönes Äußere nicht so vernachlässigte, so würde er gewiß große Erfolge haben; so geht es, wie es in der Welt immer geht, man übersieht den edlen Kern, weil er in rauher, oder wie es hier ist, häßlicher Schale steckt. – Der Vater und Jörge kamen sehr befriedigt von Berlin zurück: Vater war zum 80. Geburtstag des Fürsten Bismarck in Friedrichsruh und war begeistert von der Rüstigkeit, Frische und Liebenswürdigkeit des Altreichskanzlers. Die Ovationen müssen großartig gewesen sein: Lorbeerkränze hängen auf Hecken und Bäumen in Massen, Briefe werden nicht gezählt, sondern gewogen, bis Ende April sind Gratulanten angemeldet, es ist eine noch nie dagewesene Begeisterung. Dagegen wurde eine Gratulation des Reichstags von der Majorität der Mitglieder, von Welfen, Polen, Demokraten etc. abgelehnt. Die zwei Präsidenten legten darauf ihr Amt nieder, es entstand furchtbare Aufregung und durch ganz Deutschland geht ein Schrei der Entrüstung über diesen Reichstag. Auch dem Kaiser gehen die Augen auf; er schickte ein wütendes Telegramm an Bismarck; was ihm gewiß als Menschen sehr hoch angerechnet würde, wird ihm als Kaiser verdacht. Ich denke es mir furchtbar schwer, diese beiden Personen richtig auseinander zu halten! Jörge hat sich wie ein Gott amüsiert, hat beim Roßlebener Diner als Jüngster einen kleinen Toast gehalten, war im Wintergarten, bei den „Maikäfern“ zum Essen,

19 Eberhard Hofacker (1861 – 1928), seit 1908 von Hofacker, Sohn von Hildegards Tante Anna Hofacker, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen. Er heiratete Albertine Gräfin von UexküllGyllenband (1872 – 1946).

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bei Tante Higa und Axels zum Frühstück, schwamm ganz fidel auf dem Strom der neuen Freiheit! Montag, 8.4. Wieder eine kalte Winterwoche mit Schnee und Sturm, trotzdem wir nach dem Kalender jetzt Frühling haben. Die Natur ist sehr zurück diesmal, nur heut und gestern scheint die Sonne warm und freundlich, sodaß man etwas zu hoffen anfängt. Gestern am Palmsonntag spielten wir zum ersten Male Tennis. Die Eltern waren bei Knauers auf dem Vorwerk zu Elsens Confirmation eingeladen. Wir spielten und lachten den ganzen Tag mit Conrad Hahmann und den Buben. Burkhart ist auch einpassiert, als Erster versetzt und vom Einjährigen-Examen dispensiert. Was wir mit den Buben für Glück haben, ist wirklich herrlich; wenn ich denke, was dagegen die armen Raniser für Pech haben. Ludwig ist natürlich wieder sitzengeblieben. Es wird mir furchtbar schwer, daß Rudi nun auch nach Roßleben geht; der liebe Kerl ist mir viel, viel mehr als man bei seiner Jugend denken könnte, daß ich nicht recht weiß, wie es gehen soll. Soviel weiß ich, daß ich mich nun doppelt anstrengen werde, um die Eltern zu erheitern und Rudis fideles, gutes, gleichmäßiges Wesen nicht zu sehr vermissen zu lassen! Jörge kommt im Mai zu einem Oberförster, in den Harz vielleicht. Man dachte an Wilhelmsthal bei Eisenach, doch haben Oberförsters dort eine Pension für junge Mädchen im Hause und ist es nicht geraten, ein Hechtlein in einen Backfischteich zu lassen. – Er ist so lustig, der rechte bout en train ²⁰ hier im Haus: Immer treibt er zu Schreibspielen, Lesen mit verteilten Rollen etc. Ostermontag, 15.4.95 Die Woche vor den Festen ist meistens mit häuslichen und anderen Vorbereitungen angefüllt, sodaß man wenig freie Stunden hat. Diese füllte ich mit Tennisspielen mit den drei Brüdern aus, um doch endlich eine bescheidene Mittelmäßigkeit zu erlangen. Es ist ein zu nettes, unterhaltendes, gesundes Spiel. Am Abend drang Jörge stets auf Schreibspiele, an denen er mit einem Male Geschmack gefunden; es wird mir etwas zu viel, aber da er am Lesen wenig Freude hat, tun wir ihm gern den Willen; er ist ja nur noch kurz hier. Am nächsten Montag will er seine Vetternreise nach Örlsdorf, Ahorn, Meiningen, Lauchröden und Wehrda²¹ machen, um dann im Mai seine Oberförsterei „Elend“ am Harz zu beziehen. Der Oberförster Röder und seine Frau sollen gebildete, angenehme Leute sein und die Lage des Forsthauses am

20 Stimmungskanone; eigentlich boute-en-train. 21 In Örlsdorf und Ahorn lebten seine Erffaschen Vettern, in Meiningen die Vettern Butler, in Lauchröden seine Schwester und Schwager Rotenhan und in Wehrda sein Onkel Fritz Stein.

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Fuße des Brocken in nächster Umgebung von Thale, Wernigerode, Harzburg etc., denke ich mir einfach himmlisch. Sabine hat zum Abschied noch eine sehr nette Pastellskizze von Rudi im braunen Schlapphut und Havelock²² gemacht, während ich mich über die kleinen Wappenfüllungen im Vorzimmer hermachte. Mutter beendete den Kreuzritter, sodaß wir hoffen, das Zimmer zu Vaters Geburtstag fertig zu machen. Am Gründonnerstag gingen wir alle mit unsern sämtlichen Leuten zum heiligen Abendmahl, eine herrliche Feier, und verlebten einen stillen Karfreitag. Das Wetter ist ganz himmlisch, die Schwalben hielten zu Müffles Freude ihren Einzug, die Stare haben ihr Haus gebaut vor unseren Fenstern und alles ist blau von den herrlichsten Veilchen. Das erste Gewitter frischte etwas ab, verdarb aber nicht die Feiertage. Gestern hatten wir Superintendentens zu Tisch, versteckten Eier und waren sehr vergnügt; ich freute mich, daß auch Superintendentens wieder etwas in die Fröhlichkeit einstimmten und etwas von der Osterfreude empfanden. – Am Abend um 10 Uhr, als wir in unser gemütliches Bett krochen, mußten sich Vater und Bibs in die Bahn setzen, um zu Eberhards Polterabend, der heute stattfindet, rechtzeitig anzukommen. Ein unbehaglicher Gedanke. Die Brüder waren heute in Nimritz, um Joachim zu besuchen. Dort ist immerfort die alte Geschichte, die Operation hat ihr nicht den geringsten Eindruck gemacht, sondern die schmutzige Geschichte läuft ruhig fort. Sie war nicht da, aber er klagte sehr über Vereinsamung, Verlassensein etc. Er dauert mich unsagbar; aber wenn, wie man annimmt, er jetzt alles weiß und es sich gefallen läßt, so muß er doch moralisch so gesunken sein, daß man nicht mit ihm verkehren kann. Die armen, armen Kinder, auf denen der Fluch ganz liegt! Freitag, 19.4. Am Mittwoch kehrten Vater und Sabine sehr befriedigt und angenehm enttäuscht von Stuttgart zurück. Nicht allein daß das Fest schön, harmonisch und vergnügt verlief, sondern beide sind auch ganz erfüllt von dem gemütlichen Zusammenleben mit Hofackers, Rüdiger Below und Eberhard. Die Braut machte ihnen einen sehr guten Eindruck und gefällt ihnen am besten von ihren Schwestern. Trotzdem der Hof an beiden Tagen anwesend war, der König den ersten Toast hielt und König und Königin rechts und links vom jungen Paar saßen, soll gar kein steifer Ton eingerissen sein. Sabine freute sich sehr, Bassewitzens, Spitzembergs und viele noch unbekannte schwäbische Vettern zu sehen. – Ich hörte zu meinem Kummer, daß Eva²³ so wenig gut ausgesehen und durch extravagante Kleider und eine mo-

22 Langer ärmelloser Herrenmantel. 23 Eva Hofacker (1874 – 1945), Tochter von Cäsar Hofacker und Anna Hofacker, verwitwete Freifrau Schott von Schottenstein, geborene Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen.

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derne Empire-Frisur ganz verunstaltet gewesen sei. Es tut mir sehr leid, besonders da ihre Eltern sie brennend gern bald verheiraten möchten. An Eberhards jungem Glück freut sich dagegen Onkel wie Tante von ganzem Herzen und es ist ihnen nach dem vielen Leid, das sie mit Sara durchmachten, wahrlich zu gönnen. Dienstag, 23.4. Die ganze Schar ist auseinander gestiebt; ich allein bin als „schäbiger“ Rest von der Familie hier übrig, werde aber auch bald mein Bündel schnüren, um nach Ranis auszuwandern. Jörge reiste gestern früh nach Örlsdorf, die Eltern mit den beiden anderen nach Roßleben; wir räumten noch etwas auf, bis Sabine heute Mittag nach Leipzig reiste, um sich dort mit der Mutter zu Besorgungen und Zahnarztangelegenheiten zu treffen. Rudi wurde der Abschied leichter als den Brüdern: er ist älter, hat Pößneck satt und weiß, wie gut Burkhart für ihn sorgen wird. Uns wird er entsetzlich fehlen. – Was mich betrifft, bliebe ich lieber hier, amüsierte mich ganz gut allein, anstatt für drei Tage nach Ranis zu gehen! Aber ich muß! Fast hätte ich vergessen, eine sehr gelungene kleine Aufführung zu erwähnen, die die drei Brüder letzten Sonntag zum Besten gaben. Sie führten eine Parodie der Glocke, das „Kuchenbacken“, in Rudolstädter Mundart auf. Als Frauen verkleidet buken sie einen Festkuchen, wobei sie das Leben von der Wiege bis zum Grabe, nur etwas prosaischer als bei Schiller, besprachen. Dies Sommersche Gedicht ist ein kleines Meisterstück und wurde von den Dreien herrlich gesprochen und aufgeführt. Rudi, mit Kissen ausgestopft, als Meisterin, der die Meistersprüche, die alle aufs Backen Bezug hatten, sagte und famos den Dialekt konnte, war einzig. Jörge eine endlose, dürre, sehr geschwätzige Magd, bewies großes Schauspielertalent und Burkhart gab ein hübsches, appetitliches Backfischchen ab. Es war zu lächerlich und fand besonders auch bei unseren Leuten großen Beifall. Die Eltern hatten gar nichts von den Vorbereitungen gemerkt und waren sehr erfreut. Sonntag, 28.4.1895 Gestern vormittags kehrte ich aus Ranis zurück, um ein Uhr trafen Mutter und Sabine aus Leipzig ein. Letztere hatte viel auszustehen beim Zahnarzt und fand Leipzig zur Meßzeit voll, heiß und unerträglich. Verschiedene nette Toiletteneinkäufe brachten sie mit, doch brauchen wir diesmal zum Glück sehr wenig. In Roßleben soll es recht nett gewesen sein. Burkhart war von Naumburg an schon in großer Aufregung, renkte sich fast den Kopf aus nach seinen Kameraden, stellte Rudi vor und tauschte die unwahrscheinlichsten Jagderlebnisse mit seinen Freunden aus. Rudi wird es mit ihm zusammen auf Zelle sehr gut haben, denn er sorgt in der brüderlichsten, nettesten Weise für ihn und fühlt sich stolz, neue wichtige Pflichten zu haben. – Meine Zeit in Ranis war sehr gelungen und angenehm. Landrats schienen sich so aufrichtig zu freuen, ein Haustöchterchen in ihrer Stille

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zu haben, daß ich mich gleich behaglich fühlte. Sie ist wirklich eine vortreffliche, gute, vornehme Frau und wenn man ihre kleinen Eigenheiten so gut kennt wie ich, kommt man schnell voran mit ihr. Wir lasen, musizierten, wirtschafteten und machten große Spaziergänge zusammen. Oft saß ich auch allein auf dem Schloßberg und ließ die große Schönheit um mich her auf mich einwirken. Der Kontrast zwischen dem ersten, jungen, lebensfrischen Grün und den altersgrauen Mauern und Türmen war unbeschreiblich; der zweite, freie Blick ins Land, die große Einsamkeit oben und das sonnige Treiben und Summen in dem Städtchen unten sind mir von jeher lieb gewesen; aber jetzt, wo ich sie oft mit Muße betrachtete, konnte ich mich so schön zurückträumen in die alten Zeiten, wo Glanz und Pracht in den Mauern herrschte und der Hauch der Romantik die alten Türme noch umzog. Ich meine, kein Frühling sei so schön gewesen! Aber ich glaube, das finde ich jedes Jahr, weil ich jedes Jahr mehr Verständnis für Naturschönheit, Farben, Beleuchtung etc. bekomme. Einmal war ich bei Irenchen, die durch ihre neue Gesellschafterin in viel besseres Fahrwasser gekommen ist und trotz der Einsamkeit und Trauer einen guten Winter hat. Sie scheint ihre dummen Heiratsgedanken aufgegeben zu haben, vertreibt sich mit Schnitzen, Malen und Lesen angenehm die Zeit und hat in Frl. Brandt einen sehr angenehmen Umgang. Zu ihrem Schutz hat sie eine rabenschwarze, riesige Dogge mit feurigen Augen, derer sie nicht ganz Herr wird, die ihr aber sehr anhänglich ist. Das liebenswürdige Ungetüm faßte eine große Zärtlichkeit zu mir, doch kann ich nicht behaupten, daß mir seine Liebkosungen gemütlich gewesen wären. Einmal war ich bei Amtsrichters; er hatte seiner Frau als zarte Überraschung die drei Kinder, selbst das kleine Baby, das erst winzige Löckchen hatte, mit der Igelmaschine so igeln lassen, daß sie ganz entsetzt war. Sie sahen ganz scheußlich aus, besonders das kleine Mädchen; ich glaube, ich würde mir das als Mutter verbitten. Vater kam zu unserer großen Überraschung heute schon wieder aus Berlin; er hatte keine Sitzung und hat hier zu tun, sodaß wir ihn bis Dienstag hier haben werden. – Onkel Gustav Künßberg ist – Gott sei Dank! – endlich von seinen langen Leiden erlöst; nun werden sich die armen Tanten auch wieder erholen können! Donnerstag, 2. Mai Wir hausen jetzt hier zu dreien und haben uns, nachdem wir herunter gezogen, sehr gemütlich eingerichtet. Unser Zimmer hat durch einen riesigen japanischen Schirm und einige Bilder manche Änderung erhalten und ist jetzt wirklich bildschön. – Wir brachten Vater zur Bahn und verabredeten dann mit Frau Kessow einen Besuch bei Mia, aber wenn der Regen jetzt nicht bald aufhört, wird es wohl nichts werden. – Neulich war große Aufregung hier; zwei Mädchen aus dem Dorf fanden am Limberg ein zweijähriges Kind und brachten es zu uns. Sofort waren die tollsten Gerüchte in Umschwung: das Kind sollte von seiner Mutter

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ausgesetzt, mißhandelt worden sein, es sei aus Bodelwitz, habe einen bösen Stiefvater und was weiß ich nicht mehr. Wie meistens bei Sensationsgeschichten, löste sich alles ganz einfach auf. Das Kind war von selbst um sieben Uhr früh von Pößneck fortspaziert, den weiten Weg bis in den Wald gelaufen und dort ermüdet sitzen geblieben. Am Abend holten es seine Brüder ab, nachdem es ganz fidel in unserer Küche gespielt, gegessen und geschlafen hatte. Freitag, 9. Mai Zum ersten Mal schreibe ich im Garten, beim herrlichsten Maienwetter. Die Luft ist durch verschiedene Gewitter abgefrischt, alles prangt im frischen Grün, die Bäume fangen an zu blühen, kurz, es ist rechte, echte Maienzeit. Der Vater war wieder von Sonntag bis Mittwoch hier. Es ist zu schön, daß er, sobald er einige Tage frei hat, zu uns kommt und die Reise nicht scheut. Durch seine Berichte bringt er stets neue Anregung in unser stilles Leben. Am Dienstag kamen Heydens zu Tisch und erzählten viel von ihrem geliebten Rom, das sie jetzt auch gründlich kennen. Er ist zappeliger und zerstreuter, sie gemütlicher als je. Wir verlosten die geschnitzte Truhe von Fräulein Dédié; zu unserer großen Freude gewann sie Eva, die zehn Lose genommen hatte und sich glühend dafür interessierte. Mit einem Mal erschien Jörge auf der Bildfläche, der unangemeldet von seiner Vetternreise zurückgekehrt war. „Ich konnte mich nicht anmelden, weil ich kein Geld mehr hatte“, sagte er ganz ruhig zu Heydens größtem Jux. Geschossen hat Jörge nur einen Birkhahn, sich aber in Ahorn, Meiningen und Lauchröden so gut unterhalten, daß er selbst das Fehlen eines Auerhahns verschmerzte. In Wehrda war er nicht, da es Onkel Fritz recht schlecht geht. Er ist leberleidend oder zuckerkrank und scheint so schwach, daß nicht viel Hoffnung da ist. Es wäre so traurig! Wir sind in großer Sorge, auch um Sophie, die eben erst ein kleines Mädchen hatte und sich nur langsam erholt. Mein Besuch neulich in Nimritz war nicht erquicklich. Ich trabte mit Frau Kessow hin und wurde rechtschaffen naß unterwegs. Wir tranken Kaffee mit Herrn von Beust und Mia, doch war die Stimmung etwas gezwungen. Mia war blaß und erregt und dauerte mich grenzenlos. Es war gut, daß ihre Freundin Ada Uslar zu Gast war und die Unterhaltung allgemein wurde. Beim Abendessen war er unausstehlich, nörgelte an allem herum und quälte die arme Mia, die doch ihre Pflichten so gut thut, daß uns allen der Appetit verging. Dabei war es im Eßzimmer so kellerig und kalt, daß man den Atem sah. Es ist ein unseliges Haus und Frau Kessow und ich sprachen auf der Rückfahrt noch lang über die armen Kinder. Warum haben sie es so schlecht im Gegensatz zu uns? Haben sie nicht auch Anrecht auf Glück, oder

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mindestens auf einen guten Namen?²⁴ Warum müssen sie, ehe sie selbst zwischen Gut und Böse wählten, so handicapped in das Leben hinaustreten? Wer kann Gottes Wege erkennen, wer kann dies nie ergründete Rätsel lösen! Gestern sind wir in unser neues Schlafzimmer gezogen; wir waren sehr fleißig, haben uns Bettgardinen, Spiegelrahmen etc. selbst aus Nessel und blauem Schweizer Kattun genäht und sind jetzt durch das nette, frische Aussehen des alten Zimmers ganz beglückt. Wir hatten zuerst keine Lust zum Umzug, aber Stock wollte und beredete die Mutter dazu. Stock und Mutter kann niemand widerstehen. Jetzt tut er natürlich, als ob er uns unartige Kinder zu unserem Glück gezwungen hätte! Jörge wird Mittwoch also nach Forsthaus Elend zum Forstmeister Röder übersiedeln und sein herrliches Harzsemester beginnen. Dienstag, 14. Mai 1895 Ich habe bis jetzt mit Jörge gepackt und bin ganz abgehetzt davon. Frauen sind doch in solchen praktischen Sachen viel gewandter als Männer. Jörge ist ja recht geschickt, aber diese Bummelei, diese Begebenheit, bis er seine paar Sachen zusammenfand, bis die Koffer fertig waren, suchte ihres Gleichen. Immer fand sich, nachdem alles drin war, noch ein Socken, eine Schachtel mit Patronen etc., sodaß man von vorn anfangen konnte. Die letzten Tage waren noch sehr ereignisreich: Am Sonnabend um drei Uhr früh zogen Jörge und Bibs zur Balz hinaus und ließen Müffle und mich verschlafen und knurrend zurück. Um sieben Uhr kamen sie strahlend mit einem Auerhahn zurück. Der erste auf unserem Gebiet und der erste Jörges. Sabine blieb etwas zurück, sah ihn anspringen, hörte einen Schuß, dann lautes Hallao-Geschrei und als sie hinstürzte, fiel ihr Jörge um den Hals und zeigte ihr den Auerhahn. Ich habe diese Beschreibung jetzt so oft gehört, daß es mir fast ist, als hätte ich alles miterlebt. Am Sonnabend waren wir zum Kaffee in Lausnitz, wo es wie immer recht fidel war. Wir saßen lang im Freien und freuten uns an dem köstlichen Wetter. Der kleine Hannemann ist ein zu possierlicher Bengel, sehr klug und geweckt. Jörge gab sich viel mit ihm ab und erntete zum Lohn seine vollste Bewunderung und Verehrung. – Am Montag um neun Uhr setzten wir uns auf die Bahn, um Rudolstadt unsicher zu machen. Trotz der frühen Stunde war es in den Straßen auf dem niederträchtigen Pflaster so heiß und staubig, daß wir ächzten und stöhnten. Zuerst gings in die Villa Jettina; da unsere Anmeldekarte zwar angekommen, aber im Briefkasten geblieben war, fanden wir alles im tollsten Durcheinander. Sie ist ein seltenes Original! Sie war

24 Die Ehe von Albert Joachim Freiherrn von Beust (1837– 1911) mit Armgard, geb. Freiin von Beust (1850 – 1925) wurde 1895 geschieden. Sie heiratete 1896 Georg Freiherrn von Hardenberg (1858 – 1932).

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in unglaublichem Kostüm, unfrisiert, beim Kartoffellegen, ihre Wohnstube unaufgeräumt, auf dem Tisch ihre falsche Haarfrisur, kurz, eine bodenlose Unordnung. Es war schade, denn, obwohl wir uns nicht daran stießen und uns ein improvisiertes Frühstück herrlich schmecken ließen, so war sie so ungemütlich und nicht so genießbar wie sonst. Wir begrüßten dann Trautvetters und gingen mit Dorothee zu Imhoffs. Die arme Anni hat großes Pech gehabt. Das Fürstenpaar fährt mit Passion Bergschlitten und zog einige Mädchen der Gesellschaft dazu. Selbst bei Mondschein pflegte sie dies wenig fürstliche Vergnügen. Eines Tages gab es einen Zusammenstoß, des Fürsten Käsehitsche ging über Annis Fuß und jetzt liegt die arme seit zehn Wochen, ohne sich rühren zu dürfen. Sie zeigte so viel Zufriedenheit, Ergebung und Mut, daß wir ganz gerührt waren. Sie ist doch eines der herzigsten, anziehendsten Geschöpfe, die ich kenne. Wir hatten uns viel zu erzählen und waren recht lustig. Mittagessen und Nachmittag bei Beulwitzens verging schnell und unterhaltend. Es sind zu treue, verwandtschaftliche Menschen, deren Haus für mich immer einen gewissen, ich möchte sagen, altmodischen Zauber hat. Onkel hielt einen kleinen Toast, worauf Jörge sehr passend antwortete. Es freut mich immer aufs Neue, ihn so gewandt und männlich zu finden. Ich werde ihn sehr vermissen. Morgen kommt Dorothee Trautvetter auf einige Zeit, um sich bei uns von den Strapazen des Kairoer Klimas, das ihr nicht zusagte, zu erholen. Sonntag, 19. 5.1895 Wir sind in tiefer Trauer, da am Mittwoch nachmittags zwei Uhr unser guter Onkel Fritz²⁵ sanft und selig entschlief. Welche Lücke reißt dieser plötzliche Todesfall in die noch vor kurzem so glückliche Familie! Die arme, liebe Tante! Und wie wird Sophie,²⁶ die noch recht schwach ist, diesen Schlag aushalten? Wir sind von Kummer und Sorge erfüllt; möge der Herr ihnen beistehen! Leider wurden sowohl Vater als wir so spät von der Zeit des Begräbnisses benachrichtigt, daß niemand mehr hinreisen konnte. Hermann fuhr als Repräsentant hin und war ganz erfüllt davon, wie wundervoll Tante und die Cousinen den Schlag tragen. Jörge schreibt aus Elendt von Hundekälte und Schneegestöber, aber daneben auch von herzlichem Empfang, netten Leuten und angenehmem Haus. Wir leben jetzt vergnügt, aber still mit Dorothee, treiben täglich Kunstgeschichte, spielen Tennis und lassen uns von ihrem idealen ägyptischen Winter erzählen. Sie hat wohl sechzig entzückende Photographien mitgebracht, an deren Hand sie uns alles viel

25 Fritz Freiherr Stein von Nord-und Ostheim (1830 – 1895) war mit Anna Freiin von Erffa (1839 – 1916), einer Schwester von Hildegards Vater verheiratet. 26 Die Tochter Sophie Freiin von Stein (1868 – 1937) hatte 1894 Alexander Freiherrn von Dalwigk zu Lichtenfels (1860 – 1941) geheiratet.

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besser beschreiben kann. Sie ist ein lebhaftes, nettes, kluges Geschöpf, obwohl nicht sehr reif für ihre neunzehn Jahr. Freitag, 24.5.95 Heute ist Dorothees letzter Tag, da sich ihr Vater so nach ihr sehnt, daß er sie reklamierte. Er ist in seiner Krankheit so verwöhnt worden, daß er jetzt Frau und Tochter manchmal recht störend tyrannisiert. Es ist schade, daß sie gerade jetzt, wo das Wetter, nachdem es die ganze Zeit kalt und regnerisch war, wieder herrlich wird, fortgeht. Am Dienstag benutzten wir den ersten warmen Tag zu einer Fahrt nach Könitz.²⁷ Wir blieben den Abend und sahen uns zum ersten Mal das Schloß von außen an. Es ist einzig!!! Bei jedem Schritt stößt man auf irgendetwas Neues, ein Türmchen, eine alte Steinbank, ein Burggärtchen, altes Mauerwerk etc., daß man sich mehr Augen wünscht, um diese unerschöpfliche Mannigfaltigkeit besser in sich aufzunehmen. Die reizende Unregelmäßigkeit, mit der die Alten bauten, gibt den alten Schlössern einen so lebendigen, malerischen Charakter, daß man stets Neues heraussieht und herausfühlt. Reißens haben in den zwei Jahren aber auch alles Mögliche geleistet und freuen sich jetzt mit wohlverdienter Freude ihres Besitzes. Sie waren äußerst anregend und liebenswürdig; es berührt angenehm, daß sie mit ihrer hohen Bildung und großem Wissen nicht prunken; man verkehrt leicht, harmlos und natürlich mit ihm und fühlt die Bildung durch, ohne daß sie sich aufdrängt. Das ist wohl überhaupt die wahre Bildung, die sich fühlbar macht ohne sich breit zu machen. Wir trafen einen Herrn von Thielmann, der soeben von München nach Washington als Gesandter versetzt wurde. Er machte mir keinen guten Eindruck, im Grunde wohl rüde, aber mit äußerem feinen Diplomatenlack überzogen. – Es war ein herrlicher, wonniger Tag und die Rückfahrt in der feuchten Sommernacht sehr erquickend. Donnerstag, 30.5. Ich kann mich kaum an eine arbeitsreichere Zeit als die jetzige erinnern: bald haben wir Schneiderei, bald wichtige Gartenarbeiten, bald junges Geflügel etc. Jetzt kommen die Hausarbeiten zur Vorbereitung des Pfingstfestes heran, sodaß man für Lesen und Malen keine Zeit findet.Vater kam am Sonnabend, wollte am Dienstag seine Reise nach Wehrda-Lauchröden beginnen, kehrte aber in Erfurt wieder um, weil er sich gar nicht gut fühlte. Er ist jetzt hier, muß sich aber sehr schonen. Übermorgen kommen die Roßlebener, zum ersten Mal der gute Kleine. Ich freue mich unbeschreiblich, bedauere aber daß Jörge, die Seele des Ganzen, in seinem Elend sitzt. – Gestern gingen Mutter und ich nach Langenorla,²⁸

27 Schloß Könitz war seit 1892 im Besitz des Forschungsreisenden Johann Wilhelm Reiss (1838 – 1908), der es zur Aufbewahrung seiner umfangreichen Sammlungen gekauft hatte. 28 Besitz von Armgard Freifrau von Beusts Eltern.

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mit Zittern und Zagen vor etwaigen peinlichen Gesprächen und Erörterung über Nimritz. Aber wir trafen es ausgezeichnet: eine große Gesellschaft war versammelt, Frau von Raven, Ebeth, Frl. Krüger, Frau von Stein mit Ilse Boineburgk und einem gigerlhaften Volontär. So wurde das unliebsame Thema mit keinem Wort erwähnt, der Name Armgard und Nimritz selbst nicht ausgesprochen. Ich glaube, daß der Skandal jetzt soweit gediehen ist, daß doch selbst sie nicht mehr die Stirn haben, davon zu reden oder zu entschuldigen, wie sie es sonst lieben. Aber dieses vollständige Totschweigen, dieses Ausstreichen aus der Familie macht einen schaurigen Eindruck. Die alte Frau von Beust ist sehr alt geworden, halb taub und halb blind, aber ebenso kühnen, scharfen Verstandes und ebenso intrigant und schlau wie früher. Sehr sympathisch berührte mich das natürliche, nette Wesen Ilse Boineburgks. Ebeth in einer wolkigen, schleppenden, echt Beust′schen Toilette aus Mull und gelbem Atlasband, halb Theater, halb Schlafrock, machte mir noch keinen ganz normalen Eindruck: sie ist zu geschraubt. Sie hatte in Ermangelung eines anderen das landwirtschaftliche Gigerl vor ihren Triumphwagen gespannt und kutschierte sehr stolz damit! Wir haben sehr aufregende Nachrichten aus Florenz erhalten. Sara bewohnte daselbst die nach Raum, Dimensionen, Mobiliar und Garten ganz ideale, wirklich fürstliche Villa Imperialino und hatte seit vierzehn Tagen den Besuch ihrer Eltern, Evas und einer Fräulein von Gemmingen, als sie plötzlich von einem grausigen Erdbeben heimgesucht worden. Ich will hier eine Beschreibung Tante Annas²⁹ einschalten, die das furchtbare Ereignis viel lebendiger darstellt, als ich es zu tun vermag. Sie schreibt: „Erlebnisse und Eindrücke beim Erdbeben in Florenz am Abend des 18ten Mai 1895. Wir hatten den regenlosen Tag über Gänge in die Stadt hinunter gemacht und vereinigten uns um sieben Uhr zu fröhlichem Mahle an Saras gastlichem Tische; ein italienischer Koch bereitete die nationale Küche in trefflicher Weise; und köstliche Erdbeeren – des Vaters höchste Gaumenlust – bildeten den Schluß des Speisezettels. Für die Knaben gab es aber einen Nachtisch, den sie noch viel höher schätzten: Gesellschaftsspiele am runden Tisch des großen Salons. Als Sara um halb neun an das Schlafengehen mahnte, erinnerten die Kinder mit Wonne an den morgigen Domenico – so ward die Frist verlängert bis gegen neun Uhr und am Schluß recitierte Erich ein Gedicht, sang das Weihnachtslied und sprach in französischer Sprache das Vaterunser, zu dessen Amen wir alle einstimmten. Sara ging mit den Kindern hinauf in die oberen Schlafräume; ich blieb am Tische sitzen, Amélie Gemmingen entfaltete vor mir eine frisch eingekaufte Como-Decke, deren Farben

29 Anna Hofacker

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ich im Licht betrachtete. Da – mit einem Schlag klirrten Cylinder und Milchglas zusammen – die Lampe erlöschte – es fiel ein Regen von Gypsstücken herab – ich rief in Hast: Hinaus, hinaus! – der gleiche Ruf erscholl aus der Tiefe des Zimmers aus Vaters Mund; – die vielen Gartenthüren hinaus aus den Zimmern waren verriegelt bis auf eine am Ende eines Ganges; in diesem trotz heftigen Schwankens vorwärts rennend, fielen uns Bilder und Vertäfelungen über den Weg – überall Finsternis! Ich konnte nur noch ausrufen: Rette die Kinder und Sara! Als dein Vater bereits die Stiege sich hinauf tastete; inzwischen erschien der Kammerdiener, der mutig eine schwankende Lampe ergriff und durch diese Beleuchtung die Rettung wesentlich erleichterte. In den oberen Räumen war durch das Einstürzen eines Turmes das Dach durchschlagen und die Schlafstuben zu Trümmerstätten verwandelt worden. Eine Sekunde später wäre Erich erschlagen worden durch einen Quaderstein, welchen drei Mann nicht heben konnten; Wände lagen schräg über den Möbeln. Sara hatte Qualen durchgemacht, als das infernale Getöse eines Häusereinsturzes plötzlich eintrat – dann das Erlöschen der Lampe – das Jammergeschrei der Knaben. Fredi benahm sich trotzdem so mutig, daß er nach den Schwefelhölzern suchte, doch waren sie nicht zu finden, da der Nachttisch umgestürzt war. Endlich – nach Sekunden, welche mir eine Ewigkeit schienen, erschienen am Fuß der Treppe die ersehnten, lieben Gestalten: Vater mit dem zitternden Eï im Nachthemdchen – Sara, todesbleich, mit Fredi. Nun lagerten wir uns auf einem freien Weg des Gartens, die Knaben unter einem Zelte bergend. Es war kalt. Ruhe und Stille gaben uns den Mut, in den Parterre-Räumen Teppiche zu holen, nach dem Fundorte der Wertpapiere zu schauen – allein der sie bergende Koffer war zu schwer mit Geröll belastet. Doch diesen gewagten Gang durfte man nicht wiederholen, denn ein zweiter, leichterer Stoß ließ nochmals Einstürze hörbar werden. Sara erbat sich Hülfe beim Konsul, der aber nur einen Sicherheitswächter stellte; mehr vermochte ein treuer Hausfreund, ein hier naturalisierter Schweizer, Herr von Marquardt. Als er um 11 Uhr auf der Villa ankam, waren wir von Regen bedroht, im Freien bei ungenügender Kleidung. Er wollte uns in der Stadt geborgen wissen, allein davor fürchteten wir uns, falls das Erdbeben anhalten würde; wir baten ihn um bedeckte Wagen, welche ausgespannt, im Park uns Schlafstätten abgaben – von drei Uhr ab auf etliche Stunden – denn mit Tagesgrauen waren uns die Pioniere der Feuerwache und auch gendarmerie versprochen. Allein diese Hülfen kamen erst um neun Uhr; inzwischen arbeiteten wir mit der Bergung unserer Effekten im ParterreStock – schleppten die Koffer leer heraus – packten im Freien ein – die beiden jungen Mädchen, in leichten Seidenkleidern vom Abend vorher, machten in den Landauern Toilette. Man lebte nur von Eiern, da auch die Küche unbrauchbar geworden war. Als die Pioniere kamen, erklärten sie das Betreten des 1. Stockes für nahezu lebensgefährlich und geleiteten immer nur einzelne hinauf; dies war nicht zu umgehen, da Sara große Werte an Papieren, Silber und Schmuck oben hatte. –

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Ein Riesenwerk von Ausscheiden und Packen war schon um elf Uhr vollbracht und nun erst kam die Depression über uns alle. Die reizvollste menschliche Niederlassung stand vor uns wie ein im Kriege halb zerschossenes Gebäude, die Front unversehrt mit ihren blühenden Schlinggewächsen; schaute man aber in die Innenräume, so lag überall Schutt und Gestein. Im oberen Stockwerk sind Türen und Fenster herausgetrieben und die ganze Einrichtung caput; im Parterre blieb vieles unversehrt. Daß von uns allen nicht eines verwundet ward, ist eine gnädige Fügung. Ich kann nur sagen, daß das Erlebte furchtbar war und daß wir in den Nerven uns noch sehr erregt fühlen – bei jedem Lärm kommt Angst über uns. Wir sind jetzt im Parterre des sehr guten Hotels della Pace installiert; in der Stadt ist die Beschädigung beschränkt geblieben auf Mauerberstungen, Kamineinstürze und nur ein schmaler Strich von Süd nach Nord hat schwere Erschütterungen erlitten. Die Villa Imperialino ist eines der wenigen Opfer.– Ich kann nicht sagen, wie leid uns Sara tut. Nun hatte sie eine Heimstätte nach ihrem Geschmacke gefunden, welche durch die russischen Schutzmittel gegen die Kälte einzig in ihrer Art war – daneben Vorzüge aller Richtungen bot für die Knaben -; auch war es ein geradezu himmlisch schöner, stiller Landaufenthalt im Grünen vor den Thoren der Stadt. Nie wird dieselbe wieder in der früheren Gestalt hergestellt werden; die alte Fürstin, die Erbauerin, ist tot, die sie jetzt besitzende Tochter lebt nie hier – so wird wohl dieses Eden als Ruine von den herrlichen Rosen überwuchert werden. – Wir finden viel Trost in dem gemeinsam Erlebten, so schreckensvoll es war; allein ohne unsern Besuch wäre Sara früher schon zu Bette gewesen und vielleicht mit den Kindern hilflos und verschüttet oben gelegen; mit Schaudern denkt sie daran, daß in ihrer Abwesenheit das Erdbeben ihre Lieblinge hätte treffen können. Dienstag. Nach und nach tritt die erlebte Not in der Erinnerung zurück – man wagt sich zu trennen – geht den Geschäften nach. Droben auf dem Poggio zeigt der Gärtner die zertrümmerte Villa gegen Eintrittsgeld; das Betreten des ersten Stocks ist verboten, denn es stürzen die Böden nach. In wiederholten Erzählungen im Familienkreise begegnen wir alle uns in der Erinnerung an das infernale Getöse, welches über unseren Häuptern mit dem Erdbeben begann, von welchem ich noch nicht genügend Erwähnung tat. Donnerkrachen ist nichts dagegen – es war ein solches vermengt mit fernem Geschützgeknatter. – Heute haben wir ruhig geschlafen, entkleidet, nur gerüstet für den Fall eines nächtlichen Aufbruchs!“ Hier schließt Tante Annas Bericht. Es muß ein grauenhaftes Ereignis gewesen sein. Ich frage mich, ob man, wenn Gefahr und Not überstanden, nicht doch eine leise Befriedigung empfindet, etwas so Interessantes erlebt zu haben oder ob die Nerven dazu zu sehr zerrüttet, die Qual und Angst zu groß waren. Möglich denke ich es mir nur, wenn kein Menschenleben zu beklagen ist.

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Sonntag, 9.6. Die Pfingstzeit, das lieblichste Fest im ganzen Jahr, war wieder wunderhübsch und genußreich, obwohl das Wetter in den Festtagen recht regnerisch war. Am Sonnabend kam Lothar³⁰ und die Roßlebener, Rudi etwas schmäler aber sehr munter und vergnügt aussehend. Es ist wirklich eine wahre Freude, wie gut sich Burkhart und Rudi vertragen: Da hört man keinen Streit, kein Nörgeln, kein grobes Wort, wie es zwischen Jörge und Burkhart leider recht oft fällt; sie sind ja grundverschiedene Charaktere, aber sie könnten sich wiederum auch so gut ergänzen, wenn sie sich nicht fortwährend kampelten. Es ist kein richtiger Zank, sondern ewiges Tücken einer- und ein Übelnehmen andererseits, das sich uns allen auf die Nerven legt. Wir nahmen nichts Besonderes vor. Am Sonntag kamen Joachim und Mia Beust mit einem Leutnant von Coler und einer Stiftslehrerin aus Altenburg zu Kaffee und Abendessen. Ich hatte nicht den Eindruck, daß es ein geglückter Besuch war. Die Beust′schen Gäste standen uns fern und die beiden Kinder sind nicht anregend und gesprächig, außer im tête-à-tête. Auch waren sie so beklommen und besonders Joachim, so scheu, so verängstet und mißtrauisch, daß sie zusammenfuhren, wenn man sie anredete und kaum wagten, die Eltern anzusehen. Die unglücklichen Menschen! Am Montag früh dampfte Lotti³¹ ab, da er nur noch einige Tage in Merseburg bleibt und Abschiedsbesuche machen muß. Es ist ein zu netter, guter Junge; wir sind fast wie Geschwister zusammen. Er ist für seine 27 Jahre so fabelhaft jung und kindlich in Aussehen, Wesen und Ansichten, daß es mir oft den Eindruck macht, als hätte ich ihn in meiner geistigen Entwicklung eingeholt oder überholt. Er spricht mit der höchsten Begeisterung von den kindischsten Witzen und Vergnügungen, die er erlebt, genießt alle Scherze der Buben wie ein Schüler mit, sodaß man ganz erstaunt ist, ihn dann wieder mit viel Ernst und Wissen über seinen Beruf reden zu hören. Aber gerade in unserer Zeit, wo so viele junge Leute zu früh alt werden, wo Blasiertheit fast Mode geworden, berührt solche Frische und Kindlichkeit sehr angenehm. Rudis Geburtstag, der gerade in die ersten Ferien fiel, ward mit Glanz, Sandtorte und Eis begangen. Müffle beschenkte ihn mit zwei reizenden Photographien, die er von sich hatte aufnehmen lassen und wurde genügend bewundert und verwöhnt. Dienstag mußten die Buben schon zurück. Wir lebten still und fleißig die übrige Woche und arbeiteten viel im Garten. Sabine steht alle Tage um halb sechs Uhr auf, um zu jäten, aber zu diesem Heroismus vermag ich mich nicht aufzuschwingen.– Das Wetter ist köstlich warm, sodaß wir am 7. Juni mit der Heuernte

30 Lothar Freiherr von Spitzemberg (1868 – 1930), Sohn von Hildegards Patentante Hildegard Freifrau von Spitzemberg, geb. Freiin von Varnbüler von und zu Hemmingen. 31 Lothar Freiherr von Spitzemberg (1868 – 1930).

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begannen und die ersten Erdbeeren aßen. Das können sich selbst die sogenannten berühmten, ältesten Leute nicht erinnern. Gestern kam Frl. Jettina auf einen Tag und war so originell und nett, wie sie immer oder meistens ist. Jörge schrieb mir gestern einen gelungenen, lustigen Brief. Die Eltern thaten ihn ja nicht nach Wilhelmsthal, damit er dem Mädchenpensionat dort entränne und nun ist er in Elend von höheren Töchtern umgeben. Nicht nur, daß im Haus eine 16jährige Tochter und zwei Luftschnapperinnen sind, sondern jede anständige Familie im Harz scheint junge Mädchen bei sich aufzunehmen. So machte er Pfingsten mit fünfzehn Mädchen eine Partie und ruderte fünf derselben auf einem Waldsee umher. Es ist ganz unheimlich! Montag, 17.6. Eine langweilige Regenwoche war die letzte! Die Mutter verbrachte sie in Lauchröden, wir sollten zu Heydens gehen. Da es aber ihnen nicht paßte und Vater bis Sonntag bleiben konnte, führten wir hier ein sehr gemütliches Leben zu dreien, d. h., gemütlich waren die Mahlzeiten und die netten Abende mit dem Vater, während wir unter Tags viel durch die Kälte zu leiden hatten und uns über das verdorbene Heu vor unseren Fenstern nicht gerade freuen und erheitern konnten. Das einzige gute des Landregens ist, daß man im Haus so viel vor sich bringt; wir klebten, malten und nähten, daß es eine Art hatte. An einem Abend lasen wir eine sehr interessante, gut geschriebene Kriminalnovelle, bei der ich zum ersten Mal in meinem Leben empfand, was Grauen ist. Ich las vor und fühlte auf einmal ein solches Entsetzen über mich kommen, daß ich laut zu lachen anfing, obwohl die Stelle gerade nichts weniger als lächerlich war. Der Vater, der über die Störung ärgerlich war, tat das beste, was man in solchen Fällen tun kann: er rasselte mich tüchtig an. Das hatte zur Folge, daß ich mich zusammenriß und obwohl ich noch zehn Minuten dagegen kämpfen mußte, meinen sinnlosen Lachanfall überwand. – Ich hoffe aber, solche Gefühle wie in diesem Moment zum ersten und letzten Mal erlebt zu haben! Der Ausdruck „to be beside yourself“ bezeichnet diesen Zustand ausgezeichnet: Ich hatte das deutliche Gefühl, in diesem Moment nicht ein sondern zwei Wesen zu sein, von denen das eine natürliche, verständige sich über das unsinnige erregte andere entsetzte. Gestern reiste Vater nach Berlin, um nächste Woche die Eröffnungsfeier des Nordostseekanals, eine großartige, weltbedeutende Feier mitzumachen. Wir erwarten Mutter heute Abend und haben alles in Haus und Garten schön gerichtet und geordnet für ihren Empfang. – Sonntag vor acht Tagen machten wir einen unerquicklichen Besuch in Gräfendorf, während Vater das Kriegerfest in Ranis mitmachte. Schimmelschmidts sind zu gewöhnlich denkende, rohe Menschen und kommen aus Processen mit ihren Dienstboten nicht heraus; sie müssen unmenschlich sein, denn uns kochte das Blut, wie diese Frau ihren alten, armen Vater vor uns behandelte. Es war empörend. Die Rückfahrt durch das hübsch ge-

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schmückte Städtchen mit dem etwas lustigen „Krieger“ Geinitz auf dem Bock war sehr erheiternd. Dienstag, 25. Juni 95. Heute ist leider wieder naßkaltes Wetter, nachdem wir zwei herrliche warme Sommertage hatten. Am Sonntag thaten wir nichts als im Garten liegen, sitzen und gehen, nur mit Lesen und Handarbeit beschäftigt. Es war ein rechtes Dolce far niente,³² ein rechter Sonnen- und Ruhetag. In der verflossenen Woche war das einzige Ereignis, daß Frl. Latendorf mit uns aß und infolge eines langen Gewitters so einregnete, daß sie übernachten mußte. Nach der langen Pause des Winters frappierte mich ihre grenzenlose Dummheit wieder besonders: Ich habe noch nie jemanden gesehen, der ohne Idiot zu sein, so unerlaubt dumm wäre. Sie kennt nichts, keine Schwalbe und keinen Ahornbaum und will doch über alles mitreden. Die Mutter redete sie ganz harmlos auf ihre veränderte Haarfarbe an, worauf sie, da sie bedeutend färbt, sehr verlegen wurde und dumme Gründe anführte. Ihre Haare haben eine gelbgrüne Farbe, sodaß wir selig waren, ihr keinen Kamm borgen zu müssen, da sie für alles zur Toilette gehörige dankte. – Von Lauchröden ist Mutter sehr frisch und befriedigt heimgekehrt. Das Missionsfest verlief gut, das Wetter war nicht allzu schlecht und Margarethens vergrößerte Zärtlichkeit tat ihr wohl. Sie hatte, wie wir alle, bis vor kurzem eine gewisse Wärme des Gefühls vermißt, eine Wärme, die wohl vorhanden war; aber nicht die rechten Worte finden konnte. Montag, 1. Juli – Mutters Geburtstag gestern war zum ersten Mal mißglückt, wie es halbe Feiern meist wohl zu sein pflegen. Da Vater und die Brüder nicht dasein konnten, sollte nicht beschert werden und so waren wir den ganzen Tag außer Geschicks. Wir lasen Briefe und wurden alle fünf Minuten von Gratulanten mit herrlichen Rosen unterbrochen. Reizend war die Gratulation in der Kapelle; als die Mutter eben beginnen wollte, piepste ein Stimmchen aus der hintersten Ecke hervor: „Ich gratuliere Sie zu Ihren Geburtstag!“ Und wie ein vielfaches Echo setzte sich dieser Ruf durch alle Bänke durch fort, bis auch das letzte der vierzig Kinder seinen Glückwunsch einzeln angebracht hatte. – Zum Abendessen kamen Landrats mit Herrn von Wurmb und Diez. Wir saßen bei herrlichem heißen Wetter im Garten und amüsierten uns, da Herr von Wurmb seinen guten Tag hatte und einen Witz nach dem andern riß, ausgezeichnet. Wir sprachen natürlich, wie wir dies mit den Nachbarn stets tun, über den Nimritzer Skandal, der jetzt, Gott sei Dank! seinem Ende entgegensieht. Wir hörten über Mia – Frau Kessow, daß die Scheidungsklage jetzt endlich eingereicht sei. Zu unserer großen Freude ist es jetzt erwiesen, daß

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Beust doch ein Ehrenmann ist und wirklich und wahrhaftig den ganzen Skandal, der in seinem Hause vorging, den alle wußten, nicht merkte und begriff. Neulich nun fand er Briefe, die Augen gingen ihm auf, es setzte eine lange, schreckliche Scene, nach der sie Nimritz für immer verließ. Der Abschied selbst soll nicht im Zorn erfolgt sein; sie sollen bis zum letzten Moment nebeneinander auf dem Sopha gesessen und zusammen geweint haben. Der Schritt ist ja sehr ernst, aber im Interesse der Kinder kann man ihn nur mit Freude begrüßen. Wenn alles vorbei ist, werden die Nachbarn den alten Verkehr wieder aufnehmen und er und die Kinder werden wohl bedauert, aber nicht von den Leuten verachtet werden. – Was muß sich vor dem armen Mann jetzt für ein Abgrund von Falschheit, Gemeinheit und Betrug auftun, was muß er, der seine Frau sehr geliebt, an Qualen durchmachen! Für mich freue ich mich, daß dieses trübe Thema nun hoffentlich für immer aus unseren Gesprächen gestrichen wird. Mittwoch, den 3. Juli Gestern machten wir eine reizende Tagespartie nach Dittersdorf: um ¼ 8 Uhr fuhren wir im eigenen Wagen über Knau und Plothen nach dem lieben Pfarrhaus. Wir hatten telegraphiert und waren daher erstaunt, alles so still, so verschlafen zu finden. Als mit einem Mal Tante Linchen³³ erschien und die Hände über dem Kopf zusammenschlug ob unserm Überfall. Unser Telegramm: „Kommen gegen 10 Uhr“ war in „Kommen gegen Abend“! verstümmelt worden, weshalb sie aus allen Wolken fielen, uns um 10 Uhr anrücken zu sehen. Es that uns leid, denn Onkel ist zu schwerfällig, sich rasch in solche Überrumpelung zu finden und Tante mußte an ihre Hausfrauensorgen denken. Wir trafen Tante Anna³⁴ und Marie Künßberg³⁵ dort; letztere blaß und angegriffen, erstere fest und wohl und vergnügt wie immer. Man mußte sich immer wieder klar machen, daß man eine Witwe vor sich habe, die vor acht Wochen ihren Mann verloren, wenn man sie klagen hörte, daß sie über Onkels Tod gar nichts von der Eyrichshöfer Hochzeit gehört habe etc. Es berührte uns unangenehm und Schlotters leiden förmlich über diesen Mangel jeglicher Wehmut oder leisen Trauer. Im Ganzen war es ein schöner, gelungener Besuch und die Nachtfahrt bis elf Uhr abends nicht minder schön.

33 Caroline Freiin von Künßberg (1825 – 1898) war mit Pfarrer Bernhardt Friedrich Schlotter (1826 – 1898) verheiratet, Inhaber der Pfarrstelle in Dittersdorf. (Vgl.: Thüringer Pfarrerbuch Bd. 4, Die reußischen Herrschaften. Gesellschaft für Thüringische Kirchengeschichte, 2004). 34 Anna Freifrau von Künßberg, geb. Freiin von Bibra (1844 – 1909) war verheiratet gewesen mit Gustav Freiherr von Künßberg (1826 – 1895), königlich bayerischer Regierungsdirektor in Bayreuth. 35 Maria Freiin von Künßberg (1831 – 1903) war Stiftsdame im adeligen Damenstift Birken der Familien von Erffa und von Stein, genannt „die Birke“.

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Der Vater hat währenddessen ein großartig gelungenes, vom besten Wetter begünstigtes, herrliches Fest, die Eröffnung des Nordostsee-Kanals mitgemacht und ist wie die ganze Welt begeistert davon. Er schrieb uns 36 Seiten darüber, sodaß wir ganz genau über alles orientiert sind und seine Freude über das herrliche Fest nachträglich mitgenießen. Das ist das Schöne an mitteilsamen Naturen, daß ihr Erlebtes so vielen anderen mit zu Gute kommt. Ich kann mich hier auf détails nicht einlassen, doch das will ich sagen, daß man einstimmig hört, wie ausgezeichnet unser Kaiser der Sache präsidierte und repräsentierte und wie alle Ausländer über seine Reden begeistert waren. Dienstag, 9.7.95. Endlich sind wir alle wiedervereinigt. Am Freitag kamen die Buben und erwiesen sich beim üblichen Nähschulkaffee sehr hilfreich. Er ward durch ein höchst anstrengendes Topfschlagen mit Gewinnen verherrlicht. Gestern kam der Vater, der den Sonntag mit Jörge in Elend verlebt und sehr genossen hatte, hierher zurück, um nicht wieder nach Berlin zu gehen. Der Geburtstagsbescherung stand nun nichts mehr im Wege; sie wurde sofort gemacht und sah wunderhübsch aus. Ein großer Einmachtopf; zwei Gartenkissen, Vorhänge ins Schlafzimmer, verschiedene Kleinigkeiten und als Schönstes ein Bild vom Berliner Nationalgalerieverein zierten den Tisch. Wir sind noch immer ohne Gäste: Spitzembergs reisten direkt über Hemmingen und Axels verschieben ihren Besuch von Tag zu Tag, bis er wahrscheinlich ganz ins Wasser fällt. Sonntag, 14.7. Wir sind über einen Trauerfall der furchtbarsten Art, der die armen Belows betroffen, ganz entzwei. Beifolgender Brief von Rüdiger³⁶ an Onkel Axel ist alles, was wir darüber wissen: Mein guter Onkel Axel. Ich muß Dir eine entsetzliche Trauernachricht mitteilen! Henning und Eva sind gestern, (den 8.7.), Abend im Wald, wo sie Blaubeeren sammeln wollten, in einer Sandgrube verschüttet worden. Nach 5 ½ Stunden erst wurden sie gefunden und um Mitternacht starr und tot herausbefördert. Sie lagen dicht beieinander! – Der unglückliche Vater befindet sich momentan, nur telegraphisch vorbereitet, vorläufig im Schnellzug von Berlin hierher. Mama ist großartig in ihrer Geistesgegenwart wie in ihrem würdigen Schmerz. Beerdigung spätestens Freitag. Bitte nicht etwa kommen! Schmerz zu groß! Was soll ich mehr sagen – die Sonne lacht über blauem Himmel und die Vögel zwitschern um das friedlich ausschauende Haus, dessen Freude und Hoffnung dahin sind. Dein tief, tief betroffener Neffe Rüdiger.“

36 Rüdiger von Below (1864 – 1925).

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Es braucht nicht mehr, um den namenlosen Jammer zu ermessen! Wenn man bedenkt, wie die armen Eltern³⁷ gerade an den beiden Kindern ihrer zweiten Ehe hingen, wie der Onkel sie vergötterte und liebte, und wie diese beiden, 14- und 13jährig, ihnen durch solch qualvollen Tod entrissen werden, so ist es schwer, sich Gottes Willen zu beugen, seiner Weisheit zu trauen. Und doch, sie können es! Onkel Axel, der zur Beerdigung hinfuhr, rühmt ihre wundervolle, gottergebene Fassung. Wird ihre schwache Gesundheit dem Schmerz widerstehen können? Werden sie leben können, wo das Leben keinen Wert mehr für sie hat. Mit Onkel Axel ist es eine eigene Sache; er hat so viele Fehler und Schrullen und benimmt sich gegen Tante Higa von unerhörtem Egoismus und doch wissen wir keinen Menschen, der den armen Belows in den ersten furchtbaren Tagen von mehr Trost sein könnte und ihnen wohler thun könnte als gerade er. Und wenn je Leid über mich käme, so möchte ich mich von niemand lieber trösten lassen als von ihm. Takt und Nerven müssen bei ihm viel feiner und zarter organisiert sein als bei anderen Menschen, daß es nichts gibt, was er nicht mitfühlt und empfindet. Donnerstag, 18.7. Wie wir uns dachten, reiste Onkel Axel sofort nach Saleske. Wir erhielten heute einen langen, meisterhaft geschriebenen Bericht über seine Eindrücke dort. Er enthält neben vielem Entsetzlichen und Traurigen so viel Erhebendes, Großes und Schönes, daß ich ihn hier einfügen will: Berlin, 14. Juli 95 Es war am 8ten Juli – Nico zum Herrenhaus in Berlin – Rüdiger bei Wilma in Cusserow auf Urlaub. Nachmittags gegen fünf Uhr ward beraten, wie der Abend zu verbringen; Evchen, die bei Rüdiger auf ihrem Pony Reitstunde nahm, wäre gern wieder geritten, vertröstete sich aber leicht auf ‚morgen′, als sie merkte, daß Rüdiger lieber pürschen wollte und seinem Rate folgend – Evchen, du bist so blaß, hock′ nicht immer zu Haus! Geh spazieren mit Henning! – gingen die beiden, von der Gouvernante begleitet, Beeren zu pflücken, in den Wald – die Gouvernante auf einem Feldwege, der durch den Buchenwald zum Torfmoor hinabführt, die Kinder seitwärts im Gehölz.– Etwa ½ Stunde Wegs von zu Haus, an einer Stelle, die obgleich nur 30 Schritt vom Weg, wegen Gebüschs und überragenden Terrains vom Weg nicht gesehen werden konnte, hielten sich die Kinder länger auf – die Gouvernante ging auf der Straße auf und ab – jedesmal, wenn sie vorbeikam, rief sie die Kinder an, ob sie noch daseien –

37 Nikolaus von Below (1837– 1919), der in erster Ehe mit der früh verstorbenen Sophie Freiin Varnbüler von Hemmingen (1844 – 1876) verheiratet war, hatte 1880 in zweiter Ehe die Gutsbesitzerin Wilhelmine Schmidt, Herrin auf Kusserow geheiratet.

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und sie antworteten, sie hörte sie lachen und scherzen. Erst das vierte Mal, als sie wieder zurückkehrte und rief – keine Antwort! Sie dachte zuerst, sie hätten sich versteckt, aber, als alles Rufen und Verweisen umsonst blieb, sie seien durch den Wald nach Haus gegangen und machte sich nun selbst auf der Straße auf den Heimweg. Nach wenigen hundert Schritten ward sie von Wilma eingeholt – die, spazierenfahrend, die Kinder aufnehmen wollte. – Die Gouvernante erklärte piquiert den Sachverhalt – beide fuhren nun heimwärts, wo sie die Kinder vermuteten – noch nichts Arges ahnend. Erst unterwegs, als auf wiederholtes Fragen die Gouvernante sich erinnerte, die Kinder hätten auf ihren Ruf: „Wo seid ihr?“ geantwortet: „Hier, an der Sandgrube“, – kam die erste Angst über Wilma: – die vielen, zur Gewinnung von Sand für die Torfbekarrung abgegrabenen Böschungen und Gänge, die der beliebte Tummelplatz der Dorfjugend und auch ihrer Kinder waren – waren ihr von jeher unheimlich. Schnell wurden zwei Gärtnergehilfen mit Spaten auf den Wagen genommen, zurückgefahren, und bald auch, da, wo sie zuletzt geantwortet, 30 Schritt vom Weg, ein Sandloch gefunden, – aber scheinbar so harmlos, nicht an einem Hang, sondern auf ebener Erde, – kaum 1.60 m im Durchmesser, – daß der Kutscher und die beiden Leute es gleich für unmöglich erklärten, daß die beiden da verschüttet seien; – sie gruben aber dennoch auf Wilmas Verlangen – bis sie sagten, sie seien schon auf festem Grunde, es sei nichts zu finden. – Nun ward einer von den Leuten ausgeschickt, Rüdiger zu suchen, ob Henning, der Wald und Wildwechsel genau kannte, sich zu ihm gesellt; – fand auch Rüdiger mit dem Jäger, die aber nichts von beiden gesehen – den Mann heimschickten und, noch darüber nicht beunruhigt, das Ganze für eine übertriebene Ängstlichkeit haltend, auf Umweg folgten. Inzwischen hatte Wilma in wachsender Angst den ganzen Wald durchfahren – einen Schuß gehört – zwei alte Zigeunerweiber begegnet: – von Wilderern erschossen – von Zigeunern weggeschleppt – das waren die einzigen, wenn auch noch so unwahrscheinlichen Vermutungen, von denen geleitet nun alles, was an Leuten aufzutreiben war, von Rüdiger, vom Jäger, vom Verwalter geführt, Wald, Feld und Moor durchstreifte. – Vergeblich! Stunde auf Stunde verrann – schwere Gewitterregen gingen nieder – tiefstes Nachtdunkel -, bald Mitternacht – verzweifelnd am Erfolg gab Rüdiger das Suchen auf, um am nächsten Morgen, mit erneuten Kräften, es wieder aufzunehmen. Inzwischen hatte aber ein Aufseher mit einer Abteilung Leute, an dem Sandloch vorbeikommend, noch einmal nachgegraben, und da – nach wenigen Spatenstichen, dicht an der einen Wand – ein paar Fuß abseits von der Stelle, wo man zuerst gesucht – stießen sie auf die kleinen Leichen – die Köpfe oben, dicht beisammen, nur von sechs Zoll Sand bedeckt! In kauernder Stellung niedergedrückt, so fest umschlossen von der regendurchtränkten Erde, daß sie nur mit Mühe herausgelöst werden konnten. – Die kleine Eva, das eine Händchen vor dem Gesicht – wie sich

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schützend vor dem plötzlichen Einsturz – Blut auf den Lippen, ein Schreckensausdruck in den Zügen; – Henning ganz friedlich lächelnd, zu plötzlich überrascht, um nur die Gefahr zu begreifen. Unbegreiflich ja auch für alle, wie es möglich war! Tagelöhnerkinder hatten hier, wie da und dort im Wald, sich weißen Zimmersand gegraben, – zuletzt zwei Tage vorher ein zwölfjähriges Mädchen allein einen Schubkarren voll herausgeschafft; bequemen Zu – und Ausgang mußte also die winzige Grube haben. – In einem Taschentuch lagen gesammelte Beeren; sie hatten sich wohl dort im Schatten gelagert, sie zu verzehren, – ihr Mund war blau von ihrem Saft gefärbt – da müssen plötzlich trichterförmig von allen Seiten Boden und Wand zusammengestürzt sein. Zu Haus harrte Wilma – nun schon sechs Stunden – in Todesangst und Qual, da endlich durch vorausgeeilte Boten die Kunde: „sie sind gefunden“ – „Gott Lob, Gott Lob! Wo sind sie?“ – dort – dort – die Lindenallee – den Park herauf – ein dunkler Zug – er hielt – zögernd – die Leute wagten sich heran – „geh du – ich kanns nicht“. Keiner wagte es, der Mutter so ihre Lieblinge heimzubringen – aber dann kam Rüdiger hinzu, eben heimkehrend auf anderm Wege – und da trugen sie sie über die Schwelle, von Regen durchnäßt, von Sand beschmutzt. – Wilma konnte es ja nicht fassen: „meine Kinder tot – das ist ja nicht wahr – bringt sie herein – bringt sie zu Bett – daß sie sich erwärmen.“ – Und nun die Belebungsversuche, bis der Arzt aus Schlawe geholt war – und auch dann noch, als der längst alle Hoffnung genommen – stundenlang versuchte sie es, die schwerkranke Frau, ihren Lieblingen den Lebensodem wieder einzuhauchen, und mit ihr Rüdiger und der alte Jeschke, (schon 30 Jahre fast im Haus), ob sie wohl längst wußten, daß alles umsonst. Dann, dann wars der Gedanke an Nico, der Wilma aufrecht erhielt – wie ihm, dem Herzleidenden, dem jede Erregung tödlich werden konnte, solche Nachricht beibringen. – In der Frühe um fünf Uhr wurde ihm telegraphiert: „Henning lebensgefährlich erkrankt, komme noch heute“. Mit dem nächsten Zug, acht Uhr, reiste er ab, auf jeder Station neue Nachricht verlangend, erwartend, erhaltend: „Keine Hoffnung“, bis zuletzt in Köslin: „Sanft entschlafen“. In Schlawe erwartete ihn Wilma im Wagen vor dem Bahnhof – sie hatte sich es selbst nicht nehmen lassen, ihm auch Evas Tod noch zu sagen. Ein Neffe von ihm, Below aus Seehof, der Schlawer Landrat, nahm auf dem Bahnhof, ohne zu wissen, ihr diese schreckliche Pflicht ab, meinend, Nico wisse alles: „Wie ist es geschehen?“ In einer Sandgrube verschüttet – sie spielten im Sand.“ „Sie? War Evchen auch dabei? Warum ist sie nicht gekommen, mich abzuholen? „Evchen, sie ist ja auch tot.“ – Wankend unter diesem letzten Schlag führte man ihn zum Wagen. Wir erhielten die Nachricht hier Dienstag mittag durch ein Telegramm von Walter, der in Potsdam eine Dienstleistung machte und mit Nico den Abend vorher – den verhängnisvollen – ahnungslos in frohster Stimmung bis spät in die Nacht bei uns verbracht hatte. Mittwoch nachmittag fuhr ich von hier nach Saleske, traf

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Nachts zwei Uhr dort ein – eine kalte, stürmische Nacht – wie ewige Totenklage raste und rauschte es vom Meere her – der Mondschein verblaßte schon im Morgengrauen, als ich durchs Dorf fuhr – dunkle Menschengruppen standen erwartungsvoll flüsternd vor den Häusern – in der kleinen Kirche durch das Laub der alten Linden schimmerte Licht – alles wie damals vor bald zwanzig Jahren, als ich Sophies³⁸ irdische Hülle dorthin geleitete. Noch eine Stunde hatte ich mit Walter zu warten – dann kamen die holperige Dorfgasse heraufgeschwankt – kein feierlicher Leichenzug – ach wie viel rührender auf diesen einfachen Leiterwagen, von ein paar alten Knechten und dem Cusserower Gärtner geleitet – die beiden blumengeschmückten Särge – Henning im ersten – sein Schwesterlein folgte – wie immer und in allem dem Bruder. „Was meinst du?“ „Was Henning meint“; – „Was willst du thun?“ „Was Henning thut“ – so war sie ihm in den Tod – so nun jetzt zur letzten Ruhestätte gefolgt. Sie liebten Saleske,³⁹ wie auch unserer Schwester Söhne, viel mehr als Cusserow,⁴⁰ – wünschten sich immer dahin zurück, konnten nicht begreifen, daß nicht alle dort zusammen wohnen könnten. So freilich war auch für sie jetzt Platz. Wir bahrten sie auf in der Kirche. Nachmittags kamen sie dann von Cusserow, Nico mit Wilma und Rüdiger – ein schrecklicher Augenblick, als die alten Rappen in den Garten einbogen – in langsamem Schritt die Kirche umfuhren und dann am Halleneingang hielten, die armen, schmerzgebeugten Gestalten dem Wagen entstiegen. Wir konnten uns lange nicht fassen, bis Nico sich gewaltsam aufraffte: „Nicht weich werden – nicht nachgeben – sonst werde ich wahnsinnig!“ Im Haus war es ihm zu eng – wir gingen hinaus nach dem Pavillon – Sophies Lieblingsplatz – mit der weiten Aussicht hinab bis zum Meer. Da saßen wir lang – ach mein Nico – mein geliebter Bruder – wie bewährt er sich wieder in dieser schwersten Prüfung! Tief in die innerste Seele sah ich ihm durch die klaffende Wunde und alles darin war so schön, so gut, so groß – nicht ich konnte ihn trösten, solches Mitleid hat ja keinen Trost – er war es, der uns aufrichtete – den Weg uns zeigte, den einzigen, der aus solchem Dunkel zum Lichte führt – mit seinem festen Gottesglauben, seiner milden Ergebung in Gottes Willen; gewaltig schwer wogte der Kampf in ihm, bei jeder Erinnerung, bei jedem Ausblick in die zerstörte Zukunft zuckte sein armes Herz, strömten von neuem die Tränen, aber siegreich immer wieder, rang er sich empor zu seinem Gott, alle Seine Verheißung laut sich vorsprechend und immer wiederholend, bis sie fest genug standen: „denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, 38 Sophie von Below, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen (1843 – 1876) die erste Frau von Nikolaus von Below, Schwester von Axel von Varnbülers Freiherr Varnbüler von und zu Hemmingen. 39 Belowsches Gut in Pommern an der Ostsee 40 Gut von Wilhelmine (Wilma) von Below, geb. Schmidt, der zweiten Frau von Nicolaus von Below.

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spricht der Herr, dein Erbarmer.“ Das hat er dem Pfarrer als Text zur Predigt angegeben. Das war der feste Grund, auf dem er kämpfte. Und der andere, so rührend selbstlose Gedanke, daß seine Lieblinge den Tod nicht gesehen, daß sie in unschuldiger Kindheit hingenommen, die Sünde und das Leiden des Lebens nicht erfahren, vor denen alle Elternliebe sie nicht hätte bewahren können. „Ihnen ist wohl – wenn ich sie heute, jetzt zurückrufen könnte aus dem ewigen Frieden – ich thäte es nicht.“ Eine Fabel fiel ihm ein aus dem Altertum, von der Mutter, deren einzig Glück nach des Gatten Tod ihre beiden Söhne gewesen, die, ihre Liebe ihr lohnend, in kindlicher Dankbarkeit einst, als die Zugtiere versagten, selbst vor den Wagen sich spannten, sie zu Dianens Tempel führten. „Das Beste gib ihnen, was du geben kannst“, flehte sie zur Göttin – da sanken tot am Altar ihre Kinder nieder. – Ob auch Wilma sie nicht zurückrufen würde, wenn sie könnte? Sie kam gerade hinzu und nickte auch zu Nicos Worten – aber wohl mehr ihm zu Liebe. Ach das ist ja das Rührendste, wie jeder seinem Schmerz Gewalt anthut, um den andern zu schonen. Es war ja durchzufühlen, wie Wilma der ganze grauenvolle Hergang mit all seinen Einzelheiten und der Gedanke sie beschäftigte, ob – wie – kann noch vielleicht Rettung möglich gewesen sein – aber nichts davon kam über ihre Lippen – nur mild-beruhigendes: wie friedlich heiter Hennings Ausdruck gewesen – und gleich sich berichtigend, als sie merkte, wie Nico zusammenzuckte „und auch Evchen – nur ein wenig erschrocken, sie war es ja so leicht“ und wie gut die beiden gewesen, wie rein und unverdorben, wie einfach und anspruchslos, keine Eitelkeit, keinen Hochmut kennend und wie treu sie zusammenhielten, alles miteinander teilten, immer für den anderen bittend: „Evchen muß auch mitkommen“, Henning muß auch davon haben“. – Und dann die Guts- und Dorfleute, wie hilfreich und treu sich ihre Anhänglichkeit bewiesen in diesem gemeinsam empfundenen Unglück – eine Menge rührender Züge von Zartgefühl und Herzenswärme, wie man sie diesen scheinbar stumpfen, rauhen Pommern nicht zugetraut hätte. Ganz verzweifelt, wie wahnsinnig hatte sich der Kutscher gebärdet, Hennings besonderer Freund, der bei der ersten, vergeblichen Nachgrabung dabei gewesen und sich wohl gräßliche Vorwürfe machte. Nico hatte ihm ein paar milde Worte gesagt, da war er ihm schluchzend in die Arme gestürzt: „ach, das hätte nicht sein dürfen, gnädiger Herr, hätte nicht sein dürfen.“ Ganz unglücklich waren die Cusserower, daß man ihnen die kleinen Leichen entführte nach dem Salesker Friedhof. Sogar in Schlawe, der Kreisstadt, die der Trauerzug in der Nacht passierte, waren alle Straßen mit Blumen bestreut. „Wie hab′ ich′s um die verdient“ meinte Nico, „ich hab′ mich nie viel um die Städter bekümmert“ und in Saleske, da sah ich es ja selbst, wie still und zart alles bemüht war, den großen Schmerz zu schonen, zu ehren. Die Stränder, Hünengestalten, in den altmodischen Sonntagsrock eingepreßt, mit schäbigen Cylindern – in der Stadt hätte man sie verlacht – wie ergreifend war es, da über die wetterfesten Gesichter die schweren Tränen rollten.

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Wie das Einen packt, ganz besonders, wenn man aus der Stadt kommt, wo man in einer fremden Welt steht, wenn man seines Hauses Schwelle überschreitet, ja im Hause selbst gewinnsüchtige Mietlinge einen umgeben, und wie klar es einem wird aus diesen Contrasten, daß auf dem Land allein noch ein fester Halt ist für unsere gesellschaftliche und staatliche Ordnung – auch nicht überall mehr – nicht in Schlesien mit seinem katholischen Clerus und seinen österreichischen, leichtlebigen Magnaten – nicht bei Euch in Euren Thüring′schen Fabrikbezirken – nicht bei uns im Strohgäu mit seinen demokratischen, reichen Bauern – vielleicht bei Euch noch auf der rauhen Alb – aber nirgend so noch, wie in den alten Preußischen Provinzen, wo in harter Arbeit und strenger Pflichterfüllung, im frommen Gottesglauben, im Dienst für König und Vaterland die alten, grundangesessenen Geschlechter verwachsen sind mit der Landbevölkerung. Auch diese letzte Veste freilich wird schon umstürmt – möchte man ihr Entsatz bringen, ehe auch sie fällt! Dies alles empfanden sie so dankbar, die unglücklichen Eltern – auch daraus schöpft Nico Kraft zum Weiterleben: „Ich will′s ihnen nicht vergessen, sie sollen sehen, daß ein Preußischer Edelmann nicht nur für seine eigene Familie sorgt – daß er für den Grund und Boden arbeitet, für die Erde, die sein Volk ernährt.“ – Ja, das wird das Schwerste sein, und das fühlt er selbst, weiterleben – weiterarbeiten – wenn die Liebe und die Fürsorge für die eigenen Kinder nicht mehr dabei hilft. Zu schwer für ihn, fürchtet auch Wilma und sie denkt auch schon jetzt daran, wie sie einen neuen Lebenszweck ihm schaffen könnte, in Rüdiger vielleicht; doch darüber muß erst Zeit hingehen.– Zunächst müssen sie fort von dem Unglücksort – so rasch als möglich, ehe sie körperlich zusammenbrechen; den 20. wollen sie nach Baden – dort bis zum Herbst bleiben, dann weiter sehen, wohin, vielleicht nach Cairo zu Clausi;⁴¹ „merkwürdig“, sagte Nico, als wir von diesen Plänen sprachen, „ich habe solch unbezwingbare Sehnsucht nach dem Lande, wo unser Erlöser litt und starb – der große Dulder“ – die Tränen überwältigten ihn. Von Rüdiger muß ich noch ein paar Worte sagen – ein Segen, daß er da war – Wilma wußte nicht genug zu rühmen, was er ihr gewesen. Der arme Junge – er litt momentan vielleicht am meisten mit seinem weichen Herzen, seinem skeptischen Verstand und seinem trotzigen Sinn – er konnte sich noch nicht ergeben – alles empörte sich noch in ihm gegen den grauenvollen Tod, der diese frohen Kinderleben erstickt – gegen die Ungerechtigkeit, die Grausamkeit, die nach seinem Gefühl den Eltern geschehen; – „sie sind so gut“, sagte er „sie haben′s nicht verdient“. Nur einmal sah ich ihn weich werden – als er mir von Evchens letztem Wunsch erzählte. Sie liebte Tiere über alles, bemutterte alle jungen Katzen und Hunde; so war ihr

41 Claus von Below (1866 – 1939), der dritte Sohn aus der ersten Ehe von Nikolaus von Below war Diplomat und zu dieser Zeit am Generalkonsulat in Kairo.

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Spielzeug auch nicht Puppen, sondern Holztiere, von denen sie eine ganze Sammlung besaß. Zu einem kleinen Holzpferde fehlte ihr aber ein Paßpferd – eigentlich schämte sie sich als großes Mädchen dieses kindlichen Wunsches – die Kammerjungfer verriet ihn der Mutter, die bestellte heimlich das Pferd in Stettin – aber das Geheimnis ward verraten – und seit drei Tagen wartete Evchen nun zu jeder Poststunde auf das Ersehnte – immer vergeblich – „aber heute Abend kommt′s gewiß“ – hatte sie sich noch mittags getröstet – und am Abend kam es wirklich; am anderen Morgen hat es ihr Rüdiger in den Sarg gelegt. Abends um sieben Uhr riefen die Glocken zur Trauerfeier in der kleinen Kirche – die Zeit war verheimlicht worden – nur ein paar Menschen hatten sich eingefunden – die Cousine aus Seehof, die Schwester Selmas – wie gealtert all die bekannten Gesichter. Der Geistliche, ein einfacher Bauernsohn, sprach schlicht und kraftvoll, wie der Text es gebot, ohne falschen Pathos, – dann trug man die Särge unter dem Gesang der Dorfkinder am Haus vorbei, den Garten hinab zu dem stillen Hain und senkte sie dort zusammen in dasselbe Grab an Sophies Seite. – „Was für wunderbare Gedanken“ hatte mir Nico gesagt -, „einem doch kommen – als ich Sophies Bild vorher ansah, da dachte ich, jetzt sind die Kleinen bei ihr – und ihre Söhne bei Wilma geblieben.“ Ja, so versöhnt die Ewigkeit menschliche Gegensätze. Die Eltern folgten nicht, das Fallen der Erde auf die Särge traute sich Nico nicht zu hören, – am andern Morgen, als der Grabhügel mit Blumen und Kränzen geschmückt war, geleiteten wir sie hinunter – zwei weiße Schmetterlinge spielten über den Blumen – „das Sinnbild der befreiten Seele“, sagte Nico, „Ach, ich weiß wohl, hienieden dürfen wir sie nicht suchen, aber mir ist′s doch wie ein Zeichen.“ Dann fuhren sie bald zurück – Nico blieb stark auch im Abschied – nur ganz zuletzt, als ein kleiner Koffer auf den Wagen gehoben wurde mit der Aufschrift H. von Below, Hennings kleiner Schülerkoffer – da brach er schluchzend in sich zusammen. Ach wie viele solche jammervolle Erinnerungen warten ihrer dort in dem verwaisten Cusserow! Axel Varnbüler Ich schrieb diesen Brief wörtlich ab, weil er neben all dem Jammer und Leid ein Zeugnis von menschlicher Seelengröße, von so viel Gottergebenheit und Kraft enthält, daß es für jeden, der ihn liest nur veredelnd und erhebend wirken kann. Ich freue mich, daß Onkel Axel jedes Moment dieser großartigen Empfindungen so voll erfaßt und anerkennt, daß er die echte, wahre Frömmigkeit schätzen und bewundern lernte. Es zeigte mir mehr als je, daß Onkel doch der edle Mensch ist, für den ich ihn trotz seiner Schrullen stets gehalten habe. Wie klar und prachtvoll ist auch dieses Epos abgefaßt, welche schönen Schilderungen, welch tiefes Empfinden und offenes Auge spricht aus jeder Zeile, nur ein sehr fein angelegter Mensch kann

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fremdes Empfinden so vollkommen zu seinem eigenen machen, kann seine Individualität in der des Nächsten aufgehen lassen. Ob Varnbülers nun noch kommen oder nicht, wissen wir nicht. In Hemmingen sind sie schon ungeduldig und mischen sich in den jungen Haushalt, der sie gar nichts angeht. Montag, 22.7. Wir haben jetzt ein volles Haus: die Brüder kamen von einer kleinen Jagdtour nach Oerlsdorf zurück, am Donnerstag kam das gute alte Mangelsdörfchen, ganz so übertrieben bescheiden und lieb und nett wie immer, am Freitag Varnbülers. Heute reiste Onkel ab, während Tante bis Ende der Woche bleiben will. Onkel erzählte noch sehr bewegt von Saleske, obwohl er nicht so gedrückt davon war, wie ich es erwartet hatte. Er ist eben in seiner Liebe so glücklich und befriedigt, daß er ein ganz anderer Mensch geworden ist; er ist jetzt teilnehmend, heiter und gleichmäßig, während er uns früher alle mit seinem Trübsinn ansteckte. Im Verkehr miteinander sind Onkel und Tante viel netter und natürlicher geworden, sodaß man von beiden wirklich etwas hatte. Manches stört ja an ihr, ihre späten Stunden, durch die sie die schönsten Stunden des Landlebens verliert, ihre Unpünktlichkeit, ihr ewiges Toilettemachen und Putzen, doch sind dies alles nicht Dinge, von denen das Glück abhängt und die sie namentlich nicht mit der Zeit ablegen wird. Nach ihrem früheren Leben kann man doch nicht auf einmal eine gute Hausfrau, eine deutsche Musterfrau verlangen. Wohltuend ist ihre Feinheit, ihr vornehmer Ton, ihre harmlose Freundlichkeit und ihr gutes Herz. Sie ist gegen uns alle, vom Vater zu Frl. Mangelsdorf, bezaubernd lieb und herzlich. Rührend ist es, mit welchem Eifer sie ans Sparen und gute Einteilen geht und sich voll Vertrauen von der Mutter Rat erbittet; sie sagte uns, daß sie seit der Hochzeit 300 M. für Toilette gebraucht, was in Anbetracht der vielen Hoffestlichkeiten doch sehr wenig ist. Sie macht mir ganz den Eindruck eines harmlosen, reinen Kindes und daß sie dies in der Petersburger Gesellschaft an der Seite eines solchen Mannes geblieben, ist ein wahres Wunder und hat wohl Onkel auch zuerst angezogen. Ich kann mir denken, daß gerade ältere Männer, die das Leben in allen seinen Tiefen kennengelernt haben, durch solche „unbeschriebenes Blatt“-ähnliche Wesen entzückt und gefesselt werden. Heute kam sie zum Thee in einem herzigen alt-japanischen, grünen Schlafrock, in dem sie wie eine herzige, bildhübsche kleine Puppe aussah. Als das kleine „Japanesle“ an Onkels Hals hing und zärtlichen Abschied von ihm nahm, und sich der lange Mensch immer wieder herunterbog zu ihr – wahrhaftig! Es war ein rührendes Bild. Sonntag, 28.7. Am Freitag reiste Tante ab, nachdem wir uns in den letzten Tagen ohne unsre Herren – Vater reiste zum Regimentsfest nach Bonn – recht eng mit ihr eingelebt hatten. Wir lasen, arbeiteten und malten zusammen; sie gab sich große

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Mühe, etwas von der Mutter zu lernen, stand um ½ 10 Uhr schon! auf, zog sich nur einmal um und war ganz reizend nett und gut zu haben. Zum Lachen ist ihre Prüderie: so war es sehr komisch, als uns die Mutter in ihrer Gegenwart erzählte, daß sie im Oktober ein Kind erwarte; die Mutter sprach von einem kleinen Prinzlein mit großen blauen Augen, der im Herbst nach Hemmingen komme. Sie verstand zuerst gar nicht und fragte immer: „Wer kommt?“ endlich, als ihr ein Licht aufging, stürzte sie ans Fenster, ward rot und ließ sich kaum unsere Glückwünsche gefallen. Selbstverständlich herrscht in der ganzen Familie große Freude über diese ganz unerwartete Aussicht! Jetzt haben wir unsre alte Mag wieder hier, die über Vaters Geburtstag hierbleibt und von ihrem Mann abgeholt wird. Wir sitzen viel draußen und freuen uns des herrlichen heißen Sommerwetters. Gestern war ich mit Mag in Ranis bei Ilse; sie war recht nachlässig angezogen und sah infolgedessen gar nicht gut aus. Neben aller Herzlichkeit hat sie doch eine Schärfe und Härte des Urteils, daß ich oftmals nicht mit ihr übereinstimmen kann. – Für morgen erwarten wir Tante Bertha Varnbüler,⁴² die sich vier Wochen hier aufhalten will, während Freda noch beim Prinzeßchen bleibt und Ende des Monats erst herkommt. Donnerstag, 1. August 95 Vaters Geburtstag verlief glänzend, obwohl zu unserem Bedauern Hermann⁴³ im letzten Moment abschrieb. Marg tat es doch sehr leid und ich ärgerte mich, daß er seine Wirtschaft nicht einen Tag zu verlassen glaubt, während es gewiß ganz gut auch ohne ihn geht. Der Landrat sagt ganz richtig, daß die jungen Leute unserer Zeit alles übertreiben und von einer Rastlosigkeit und Vehemenz sind, die man früher nicht kannte. Unsere Väter waren doch auch pflichttreu und fleißig, gönnten sich aber nach rechter Arbeit auch rechte Muße. Sonst war der Tag so gelungen als möglich. Am Morgen feierliche Übergabe des Vorzimmers, das ein wahres bijou ⁴⁴ geworden, dann Zitherspiel von Rudi, „Am Brunnen vor dem Tore“ mit entsprechender Rührung, Gratulation von Groß und Klein, lustiges Essen mit Beulwitzens und dem Brautpaar, Tante Bertha, Mag und Frl. Mangelsdorf, Toaste – Krebse – Bowle und was braucht es mehr, um eine Festfreude und -stimmung bei allen hervorzurufen. Roderich ist strahlend und zärtlich, aber auch mit Grund. Luischen Obernitz, ein hübsches, großes Mädchen, machte uns einen verständigen, angenehmen Eindruck. Sie war sehr liebenswürdig und für eine Braut sehr genießbar. 42 Bertha Freifrau Varnbüler von und zu Hemmingen, geb. Freiin von Gemmingen-Hornberg (1853 – 1923), Witwe von Johann Ferdinand Freiherrn Varnbüler von und zu Hemmingen (1837– 1881), Schwägerin von Hildegards Mutter. 43 Hermann Freiherr von Rotenhan, Ehemann der Schwester Margarethe. 44 Schmuckstück.

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7. August. Das Haus ist schnell leer geworden: die Ferien der Buben sind zu Ende, Marg. kehrte zu ihrem verlassenen Gatten zurück und nahm das liebe, aus Rührung und Dankbarkeit zerschmelzende Mangelsdörfchen mit fort, Hans Erffa, der nette, tüchtige Mensch und glückliche Familienvater hielt sich auch nur kurz hier auf, sodaß wir nur noch Tante Bertha hier haben. Sie ist der angenehmste Gast, den man sich wünschen kann: Ihr heiteres, gleichmäßiges Temperament, ihre große Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit, ihre lustigen Erzählungen von den Hofkreisen und von ihren Reisen, ihr reizender Gesang und ihr hübsches Äußere gewinnen ihr überall Freunde. Sie ist noch sehr hübsch und jugendlich und von erstaunlicher Frische und Fröhlichkeit. Daß sie nach allem, was sie erlebt hat, nicht im Geringsten verbittert ist, erscheint unglaublich. Was sie uns von den Frankfurter Verhältnissen, von den Fürsten und Juden erzählte, ist genug, um einem alle Illusionen, die man je gehabt, zu zerstören. Aber sie selbst hat die Gabe, in jedem Menschen auch die guten Seiten zu sehen und sich an die im persönlichen Verkehr zu halten. Darum ist sie stets unparteiisch und nie gehässig. Es tut uns fast leid, jetzt nach Lauchröden und Dietlas zu gehen, da wir die Tante auf diese Art wenig genießen. Andererseits denke ich mir das Trio hier sehr nett und gemütlich. Was werden sie für tolle Bücher zusammen lesen! Donnerstag, 15. August. Lauchröden Ich denke, so gemütlich und nett war es noch nie in Lauchröden, als jetzt, wo wir drei Schwestern stets zusammenkleben. Diese Genüsse; dies Herumbummeln, diese Schwätze, Lachen etc. läßt sich schwer schildern; es wird durch Aufzählen und Zergliedern trivial und kleinlich und verliert seinen Hauptreiz, die Ruhe und die gleichmäßige Fortdauer. Dagegen war unsere Reise voll sehr reeller Fakta, wenn auch nicht genußreicher. Wir hätten uns in der ganzen Zeit keinen heißeren Tag auswählen können als den Sonnabend, an dem auch noch dazu alle Coupés überfüllt waren. Um 9 Uhr früh reisten wir ab; in Göschwitz saßen wir zwei Stunden in einer urgemeinen deutsch-amerikanischen Gesellschaft, die sich mehr als pöbelhaft benahm; in Weimar bestellte ich mir eine Portion Entenbraten, das einzige Fertige, erhielt es aber trotz Schimpfens erst nach dem ersten Läuten, sodaß ich das heiße Zeug in drei Minuten hinunterschlingen mußte. Eisenach erreichten wir mit zehn Minuten Verspätung, sodaß uns zum Umsteigen, Billetnehmen und Gepäckaufgeben nur vier Minuten blieben. Wir waren auch kochgar, als wir noch vor Torschluß in der Werrabahn landeten. Hier war es so heiß, daß alle Passagiere sich immerfort rinnenden Schweiß trockneten, was mit der Zeit eine angenehme Atmosphäre zur Folge hatte. Bis hierher hatten wir unsere gute Laune durch saure Äpfel aufrechterhalten, aber als wir in Salzungen keinen Wagen oder Menschen von Dietlas trafen, waren wir doch sehr deprimiert. Alles bot uns Logis und Hotels an, der Baddirektor bot uns seine Dienste an, als endlich Karl Butler als rettender Engel

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erschien. Er hatte sich nur verspätet. Jedenfalls wurden wir für alle Strapazen durch drei himmlische Tage entschädigt. Dietlas kommt uns wie ein Paradies vor in seiner Ruhe und Abgeschiedenheit, in dem engen Waldtal gelegen, mit seinen herrlichen Wäldern, seinem dicken Turm, seinem prachtvollen frischen Garten! In die schöne Umgebung passen Butlers mit ihrem Tun und Treiben, mit ihrem Familienleben, ihren vornehmen Gesinnungen so herrlich hinein, daß ich sie mir nicht ohne diese Umgebung denken kann. Diese Harmonie zwischen Wohnung und Bewohnern, die man so selten findet, berührt sehr wohltuend und macht es auch wohl, daß wir uns gleich heimisch fühlten. Onkel reiste gleich ab, die Tante aber war reizend frisch und herzlich. Grete haben wir ja schon lange gern und die Vettern sind nette, wohlerzogene Schläkse, mit denen wir gleich gut Freund waren. Wir machten herrliche Gänge, ein Picnic im Wald, spielten Kegel und Tennis, vierhändig, tanzten, lachten und sangen. Tante Maria hatte der Tante Anna Bodemer, die sonst seit Jahren wie eine Zecke an ihr hängt, verboten, nach Dietlas zu kommen und Grete sagte mir, seit lange seien sie nicht so selig gewesen. Da Hermann in Tiefenort zu thun hatte, kam Margarethe mit der Bahn auf einen Tag, uns abzuholen. Moritz und ich saßen schon früh um acht auf der Station, sie zu empfangen. Wer beschreibt unseren Schrecken, als außer ihr noch Tante Anna aus dem Wagen sprang. Sie hatte es doch nicht aushalten können, hatte aber ein so schlechtes Gewissen, daß sie Grete zur Versöhnung eine kostbare Lampe mitbrachte. Tante Maria war sehr böse; Karl und Grete benahmen sich bewundernswert. Zuerst waren sie wie versteinert, dann aber ausgesucht höflich und liebenswürdig, obwohl sie innerlich fast weinten vor Ärger. „Sie ist der Gast unserer Eltern“ sagte mir Grete – und damit war alles gesagt. Um vier Uhr fuhren wir per Bahn bis Tiefenort, wo uns Hermann mit dem Wagen abholte. Die Fahrt durch die Rhönberge war entzückend, die Ankunft hier, von Dachshundgebell begrüßt, sehr nett. In Neuenhof machten wir schon Antrittsbesuch und trafen die alte Frau von Kraft mit Tochter, die sich die guten Neuenhöfer für sechs Wochen aufgebürdet haben. Montag, 19.8. Eben kommen wir von einer herrlichen Spazierfahrt nach Frauenborn zurück; der Blick, als wir durch die Werra fuhren, auf das blitzende Wasser, das lachende Tal, die stolze Brandenburg war einzig. Im Übrigen genießt man hier Familie im Überfluß und daß es nie zum Überdruß wird, ist wohl der beste Prüfstein für Wert und Charakter der Einzelnen. Am Freitag gab Margarethe einen Kaffee und Abendessen, wozu die Neuenhöfer mit Kraffts, Boyneburgks mit Werner Rotenhan und Wilhelm Finkenstein kamen. Es ward musiziert und alles war gut und animiert. Der Neuenhöfer setzte sich an den Jugendtisch und war von einer Frische und ritterlichen Liebenswürdigkeit, die ihresgleichen suchte. Gestern ward in Neuenhof der Kaffee im Wald getrunken, wieder im großen Kreis und guter Stim-

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mung. Das Wetter ist auch zu verlockend und sommerlich, als daß man zu Hause sitzen könnte. Montag, 26.8. Morgen ist unsere Zeit hier zu Ende, leider, leider. Die letzte Woche war sehr bewegt und trotz großer Hitze nicht zu anstrengend. Karl Butler kam per Velociped einen Tag herüber und wurde gleich auf die Brandenburg geschleppt. Ich bin begeistert von ihr und versetzte mich angesichts der kolossalen Trümmer, der Bogen, Keller, Türme und Treppen in die großartige, wenn auch besonders im Rückblick großartige Vergangenheit. Mittwoch machten wir trotz großer Hitze einen zweistündigen Gang nach Stedtfeld, immer durch hohen Buchenwald. Auf der Höhe ging der Wind, sodaß wir ziemlich frisch im Tal anlangten; aber das letzte Stückchen im heißen Talkessel genügte, um uns kochgar und halbtot zu machen. Unter Linchens Fürsorge und reizender Unterhaltung erholten wir uns bald und genossen das nette Beisammensein sehr. Am Mittwoch war Diner in Neuenhof, nicht so hübsch wie sonst, wegen zu verschiedener, sich fremder Menschen. Umso schöner war es Sonntag, wo wir schon zur Predigt hinunterfuhren. Dieselbe handelte vom Pharisäer und Zöllner und machte mir einen solchen Eindruck, wie mir vielleicht in meinem Leben erst zwei oder drei machten. Sie war so schlicht und klar, so ohne jeden rhetorischen Kniff, den geringsten Kanzelton, daß jedes Kind sie verstehen konnte. Und doch wie wahr – gewaltig – ergreifend. Es wird mir schwer, aufzupassen, aber hier hatte ich das Gefühl, als ob ich mit Pastor Palmer allein sei in der Kirche und er mir, speziell mir, alles erklärte, ins Gewissen redete, mich ermutigte. Wunderbar! Sabine sagte mir später, daß sie genau dasselbe Gefühl hatte und wir sind doch so urverschiedene Menschen! Heute war Finkenstein hier, um sich vor seiner Reise um die Welt zu verabschieden. Es muß ideal sein, vor so viel neuen Eindrücken zu stehen! Freitag, 30.8. Wernburg Margarethe brachte uns zur Bahn, wo wir Freda⁴⁵ trafen und mit ihr hierher reisten. Sie ist sehr groß, wunderschön gewachsen, aber in ihren Bewegungen und Gesten noch ein arger Schlacks. Ihr Gesicht ist nicht schön, aber so interessant und sympathisch, daß es mich mehr anzieht als z. B. Hannas. Sie war sehr natürlich und nicht schüchtern, wie ihre Mutter fürchtete.Von Adolfseck freute sie sich fort, da in

45 Freda Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen (1877– 1959), Tochter von Bertha Freifrau Varnbüler von und zu Hemmingen (1853 – 1923), geb. Freiin von Gemmingen-Hornberg, Schwägerin von Hildegards Mutter.

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der Nacht vor ihrer Abreise die Erbgroßherzogin von Oldenburg, die bei der Landgräfin zu Gast war, von ihrem alten Leiden so stark befallen wurde, daß sofort nach dem Mann und nach dem Arzt telegraphiert wurde. Wirklich starb sie auch am Mittwoch früh, eine Erlösung für sie und für das Land, das nach einem Erben verlangt. Es ist noch immer himmlisches Wetter. Gestern aßen wir draußen zu Nacht, heute tranken wir Thee auf der Altenburg, lasen die traurigsten Gedichte dazu und erhöhten dadurch unser wonniges Behagen. Was gibt es Schöneres als an einem heißen Tag im Wald auf dem Rücken zu liegen, in den Himmel und auf die schöne Landschaft zu starren, durch schöne Reime sich in Träumereien wiegen zu lassen, durch fremden Schmerz, fingierten natürlich, der eigenen Freude am Leben voll bewußt zu werden! Dienstag, 3.9. Es ist unheimlich heiß, 30 Grad im Schatten und selbst nachts kühlt es sich nicht entsprechend ab. Im Dorf ist großer Wassermangel und der Himmel erscheint ehern. Trotzdem hatten wir viel vor. Am Sonnabend besuchten wir Beulwitzens in Löhma. Die Hitze war noch nicht so groß und auf den blauen Höhen pfiff uns die klare Luft des Thüringer Walds angenehm um die Ohren, sodaß wir die herrliche Landschaft ohne Ermüdung genießen konnten. Beulwitzens waren herzlich wie immer, machten aber solche Umstände, traktierten uns dermaßen, daß die Gemütlichkeit flöten ging. Roderich heiratet am 19. September und hat sich Jörge zum Brautführer erkoren; letzterer ist hochbeglückt und ich mit ihm, daß er nun in den Besitz eines Cylinders, Frackes, Lackschuhen gelangen wird. Ich möchte den Moment sehen, wenn er, in diesem Staat, seiner Brautjungfer, der sich zierenden und windenden Tity, das Bouquet überreicht. Sonntag, der 1. September ward als fünfundzwanzigste Wiederkehr des Sedanstages festlich begangen. Am Morgen feierlicher Gottesdienst – Kriegerverein mit Fahnen und Posaunen vor dem Altar – eine begeisterte und darum auch begeisternde Rede – die Eltern beide mit ihren Orden nebeneinander sitzend – die Kirche gesteckt voll und feierliche Bewegung bei allen Veteranen. Am Nachmittag kam der lange Zug mit Musik in den Hof und stellte sich, von Weise kommandiert, im großen Kreis auf. Es war ein schöner Moment, als der Vater mit seinem lieben weißen Kopf in der Mitte stand und angesichts der altersgrauen, dicken Türme und der wehenden Fahnen das Hoch auf den Kaiser ausbrachte. Dann ließ Weise den Vater, der Superintendent die Mutter leben; die Musik blies Tusch, alles schrie und schwenkte die Hüte und ich war froh und stolz, solche Eltern zu besitzen. Später machten wir das große Kinderfest bei Alberts mit, was Freda mehr interessierte als ein Hofball oder ein Staatsdiner. Es war auch hübsch zu sehen, wie vergnügt und anständig die

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Leute waren und wie selig die Kinder über das Scheibenschießen und die kleinen Gewinste. Gestern hatten wir ein damenreiches, ödes Diner bei unheimlicher Hitze, heute endlich die Nachricht, daß sich Gotthard Erffa⁴⁶ mit Illa Künßberg verlobt hat. Daß sie nach der langen Zeit sich treu blieben und geduldig ausharrten, ist ein rührender Beweis ihrer Liebe und wird hoffentlich durch ein ungetrübtes Glück gelohnt werden. Illa, die sich ganz verzehrt hatte vor Kummer, blüht nun gewiß wieder auf, besonders, wenn sie von ihrer unausstehlichen Mutter fortkommt. Hoffentlich bleibt Gotthard gesund! Dienstag, 10. September. Morgen treten wir unsere Reise nach Hemmingen via Nürnberg an, Mutter, Sabine und ich und ich brauche wohl nicht zu sagen, wie ich mich darauf freue! Das klare, frische Herbstwetter kommt uns zustatten, denn bei der abnormen Hitze der letzten Tage wäre jeder Schritt und Tritt eine Qual gewesen. Herr von Henning war mit Else und Menci Wurmb zwei Tage hier; der Anblick der zwei armen Geschöpfe schnitt uns ins Herz. Menci ist so mager und zart geworden und hat das Zeichen nahen Todes so auf dem Gesicht ausgeprägt, daß wir sie nicht ohne Thränen ziehen ließen. Sie ist dabei bildhübsch geworden, und so munter, nett und reizend, daß wir ganz begeistert von ihr waren. Else ist dick und rot geworden und hat im Reden und Verstehen keine Fortschritte gemacht; im Übrigen dasselbe gute, warmherzige, kindliche Wesen. Er ist sehr angenehm durch seine Ruhe, Bestimmtheit und Gemütlichkeit. Am Freitag reisten Varnbülers, sodaß wir einige Tage zum Räumen und Vorsorgen für uns behielten. Heute wird noch gleichzeitig geflickt, gepackt, geschrieben, zugeschlossen. Wernburg, 1. Oktober 1895 Mein Tagebuch hat die Hemminger Reise umsonst mitgemacht, da ich grundsätzlich nicht an fremden Schreibtischen mit schlechten Federn schreibe und eine gemütliche abschließende Reisebeschreibung nach der Rückkehr in die Heimat, wenn sich die vielen neuen Eindrücke etwas geklärt und gesetzt haben, bedeutend vorziehe. Am 11. September fuhren wir also zu dritt nach Nürnberg; die Reise wurde durch das Zusammentreffen mit den Bedraer Helldorfs angenehm abgekürzt. Bei tropischer Hitze waren wir, alle warmen Hüllen verschmähend, von zu Haus abgereist, bei Gewitter, Regen und Sturm landeten wir im Württembergischen Hof, um nicht ungeduldig zu werden über das unvorhergesehene Wetter, ergaben wir uns ruhig darein, setzten uns zusammen und lasen Ibsens „Nora“. Um acht Uhr hatte das

46 Gotthard Freiherr von Erffa (1862 – 1910) und Mathilde Freiin von Künßberg (1872 – 1925).

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Wetter ausgetobt, sodaß wir uns zu einem nächtlichen Rundgang entschlossen. Alles schwamm, die Lichter spiegelten sich in den Pfützen, es tropfte von den Zacken und Giebeln, als wir bei mittelalterlicher Beleuchtung durch die mittelalterlichen Gassen und Gäßlein tappten. Nach einem vergeblichen Versuch, Oleg Herman,⁴⁷ der in Nürnberg angestellt ist, einzuheimsen, zogen wir ins Bratwurstglöcklein, dieses originellste aller Lokale. Die Mutter hatte einige Skrupel, ob sie ohne Herrn mit uns abends zu Bier gehen könnte, befragte die Kellnerin, ob auch Damen hereinkämen und wurde darauf von dieser am Arm ergriffen und einfach hereingeschleudert. Eine dicke Berliner Madame, die eben herauskam, hörte uns parlieren und meinte pikiert: „I wo, natürlich können Damen hier herein, denn ich bin drin jewesen!“ Es war zum Kugeln! Übrigens finde ich, daß man als Fremde alles tun kann; in Berlin will ich nur table d′hôte oder in guten Restaurants essen, aber auf Reisen finde ich das zu langweilig und finde einen besonderen Reiz darin, etwa Ungewohntes, vielleicht auch etwas Gewagtes zu tun. Es war mir zu amüsant, in dem kleinen, uralten, rauchgeschwärzten Zimmerchen, zwischen den biertrinkenden Philistern meine Würstel nebst Kraut zu verspeisen und die alten Inschriften und Bilder an den Wänden zu betrachten. Am nächsten Tag setzten wir uns um acht Uhr in Bewegung und sahen alles, was im Führer als sehenswert bezeichnet war und noch vieles mehr. Besonders gut gefiel mir das Peterson-Haus,⁴⁸ die Lorenzkirche, die Burg und das Dürerhaus. Das Innere desselben ist ganz erhalten, wie es war, mit denselben alten Möbeln eingerichtet und gibt mit seinen winzigen Fenstern, traulichen Öfen, der primitiven Küche, der dunklen Treppe ein klareres, treueres Bild der alten Zeit als irgendetwas, was ich früher sah. Überhaupt hat Nürnberg für mich einen großen Zauber und der Tag dort machte mir einen unvergeßlichen Eindruck. Es war kein schöner Herbsttag, wie die letzte Zeit über; Regenschauer wechselten mit Sonnenblicken, aber gerade diese wechselnde Beleuchtung, die bizarren Lichteffekte auf den steilen roten Dächern und dem durchbrochenen Mauerwerk der Türme entzückten mich. Man hört so oft, daß Leute von den neuen, falsch imitierten Häusern in Nürnberg so verstimmt waren, daß es ihnen den Genuß nahm. Wir fanden das gar nicht, auch liegt es nicht in meiner Natur, mich an einzelnen Fehlern und Verzeichnungen zu stoßen, wenn das ganze Bild so schön und gelungen ist wie das einzige Nürnberg. Wir gingen noch in einen Bilderladen und bewunderten in reizenden Aquarellen, was wir vorher in natura bewundert hatten. Zum Germanischen Museum fehlten uns freilich die Kräfte, wir hatten nur noch genug, die Harmonie des herrlichen Baues, die wundervollen Dimensionen der langen Kreuzgänge auf uns wirken zu lassen, bis uns

47 Oleg Freiherr von Herman. 48 Petersens Haus, ehemals Toplersches, erbaut 1590 – 1597.

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Oleg zu einem gemütlichen Thee im Hotel abholte. Er ist nicht so amüsant wie Benno, aber klarer und zuverlässiger, wie mir scheint. Er las uns einen Brief Bennos vor, der eine begeisterte Schilderung seiner Stellung als landwirtschaftlicher Attaché in Washington im Besonderen und der großartigen Verhältnisse im Allgemeinen enthielt. Die Reise nach Stuttgart und Hemmingen war kalt und langweilig, das Vorfahren dort am seitlichen Turm anstatt an der alten Einfahrt gab uns allen einen Stich, aber der Empfang von Onkel, Frl. Güntzel und den alten Leuten war überaus herzlich. Sabine und ich wohnten unten neben Nataschas Jungfer, die, da wir denselben Ofen hatten, jedes Wort verstehen konnte. Wir sprachen krampfhaft Englisch und erfuhren am letzten Tag unseres Aufenthalts, dass die Person perfekt Englisch spräche! Angenehm!! Die Zeit in Hemmingen war schön, aber nicht ungetrübt. Die arme Mutter lag zwei Tage fest zu Bett an neuralgischen Schmerzen und wir Übrigen litten anfangs an der plötzlichen Kälte und dem trüben Wetter. Trotzdem hätten wir mit den Verwandten fröhlich und gemütlich sein können, wenn nicht die Erinnerung an die alten, schönen Zeiten mächtig in uns emporgestiegen wäre. Hemmingen war das Paradies unserer Kindheit, mit seinem freien, lustigen Leben im großen Vetternkreis, in dem Großvaters liebe Gestalt der Mittelpunkt war, um den sich alles drehte, von dem aus selbst unsere kindlichen Spiele geleitet wurden. An der goldenen Hochzeit, dem Höhepunkt Hemmingens, war ich zuletzt dort gewesen, nach zehn Jahren, nach dem vollständigen Umschwung der Verhältnisse nach Großvaters Tod sah ich es wieder. Was Wunder, daß ich ernüchtert, enttäuscht ward, was Wunder, daß alle Vergleiche, die ich zwischen dem Einst und Jetzt zog, zu Ungunsten des Letzteren ausfielen und mich trübe stimmten. Lange hielt das aber nicht an, bald kehrte die Sonne, Mutters Gesundheit und die frohe Stimmung wieder. Wir saßen viel in dem herrlichen Park oder in Großmutters netter kleiner Wohnung im Turm oben zusammen; oft auch leisteten wir Natascha Gesellschaft oder bewunderten ihre neuen Einrichtungen und Verschönerungen. Besonders das ganz in Himmelblau gehaltene Babyzimmer entzückte uns. Onkel und Tante waren überaus freundlich und herzlich und auch in ihrem Verhältnis zur Großmutter sehr taktvoll und lieb. Bedauerlich ist nur, daß Onkel, anstatt die kleine Frau zu sich heraufzuziehen, an seinem Geistesleben, seinen Interessen teilnehmen zu lassen, sie künstlich auf ihrem Backfischniveau erhält, weil ihre kindliche, naive Art ihn entzückt. Ich finde es ein Unrecht, ihre Gaben, wenn sie auch nicht hervorragend sind, so brachliegen zu lassen, besonders da er selbst in seiner Unterhaltung dadurch herunterkommt. Es ist wenig Unterschied zwischen dem Ton, den er mit Kindern und Hunden und dem, den er mit seiner Frau hat, sodaß wir oft mit Angst an die eben gelesene „Nora“ dachten. Das Baby soll viel gutmachen und ausgleichen. Die Mission, welche diesem Kind, schon ehe es geboren, von der ganzen Familie zu-

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gedacht ist, würde das Leben und Streben eines reifen Mannes reichlich ausfüllen; aber doch, so wunderbar ist Gottes Weltordnung, daß dieses Kind doch mehr, viel mehr vermag als der reife Mann. Wir erlebten am ersten Abend leider ein rechtes Pferdeunglück bei Axels. Onkel hatte leichtsinnigerweise vier Pferde gekauft, obwohl ihm seine Frau und die ganze Familie davon abriet. Sie fuhren mit zweien auf die Jagd; Onkel jagte, Tante wollte eben ein Rebhuhn in den Wagen legen und der Kutscher war so unverantwortlich, vom Bock zu steigen. Da zogen die Pferde an, gingen erst im Schritt, dann, als sie keine Zügel fühlten, bald im Carrière ⁴⁹ davon. Das eine Pferd fiel und wurde vom anderen so lang geschleift, bis es aus dem Geschirr los war. Onkel und Tante setzten nach und fanden das arme Tier auf der Straße liegen, natürlich tödlich verletzt. Das andere ward aufgehalten und war nur etwas lahm. Wir hörten die Nachricht sehr unklar vom Diener und stürzten in Todesangst herunter, um nach Tante zu suchen. Sie stand sehr ruhig am Stall und ließ das Pferd verbinden, zeigte auch eine solche Nervenruhe, daß man für keinerlei nachteilige Folgen zu fürchten brauchte. Sie muß Nerven wie Stricke haben. Onkel war dagegen so nervös, daß er nur mit größter Überwindung an den folgenden Tagen kutschierte; wahrscheinlich drückte ihn auch der Verlust. Großmutter spendierte uns verschiedene hübsche Fahrten, nach dem altertümlichen Markgröningen, nach der Solitude und nach dem reizenden Schlößchen Monrepos. Sehr komisch war ein Besuch, den wir mit Großmutter bei der netten Frau von Leutrum auf der Nippenburg machten. Es war schon über fünf Uhr, aber Großmutter war sehr hungrig und sagte: „Wir bekommen dort einen herrlichen Thee, also – wir fahren hin!“ Da sie aber in ihrer Ausdrucksweise stets sehr ungeschickt ist, sagt sie beim Ankommen: „Wir wollen nur einen ganz kurzen Besuch machen“, worauf uns Frau von Leutrum in den Garten führt. Wir sitzen und warten und warten. Der Diener meldet endlich des Hausherrn Wagen; Großmutter versteht, daß er den Thee meldet, steht rasch auf; Frau von Leutrum bietet ihr jetzt den Arm an, führt sie durch das Haus, nicht etwa an den einladenden Theetisch, sondern – an unseren Wagen. Bis ans Thor nahmen wir uns zusammen, aber dann brachen wir alle drei in lautes Lachen aus. Großmutters Gesicht am Wagen war zu wonnig gewesen. Die letzten Tage waren besonders warm und erquickend. Wir stromerten umher und lasen Obst auf. Tante lief in ihren zahllosen duftigen Sommerblusen umher und Onkel lag im Gras und schlief. Wie lächerlich muß es den Leuten vorkommen, wenn sie ihren Gutsherrn wie einen geprellten Frosch flach auf dem Leib auf dem Rasenplatz vor seinem Schlosse liegen sehen, die Riesengestalt in dem weißen Flanell noch größer als sonst, den Kopf unter einem weißen Schlapphut

49 Besonders schneller Galopp.

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ganz verdeckt! Wenn ich mir Vater und Hermann so denke, so könnte ich laut auflachen, aber bei Onkel ist man an derlei Sachen schon gewöhnt. Als Hausherr und als Wirt an seinem Tisch, wo wir ihn öfters sahen, ist er musterhaft freundlich, mit unserer Mutter voll großer Zärtlichkeit und Liebe. Frl. Güntzel war infolge eines Magenleidens so herunter in den Nerven, daß die Frage eines sechsmonatlichen Ausspannens ernsthaft erwogen wurde. Am Freitag, an einem sonnigen Herbstmorgen fuhren wir im offenen Wagen, nach herzlichem Abschied, zwischen grünen Weinbergen und bläulichen Hügeln nach dem geliebten Stugert⁵⁰ und suchten zunächst Tante Bertha auf. Der Tag verging mit Besorgungen, Besuchen bei den kleinen Tanten und bei den guten, alten Heinzelmanns, bis wir nach Marbach aufbrachen. Dort trafen wir noch Spitzembergs, sodaß die drei Schwestern und vier Cousinen endlich einmal einen Tag vereinigt waren.⁵¹ Das Haus machte mir mit seinen niedrigen Decken, engen Zimmern und kleinen Fenstern den Eindruck einer Puppenstube; in allem andern haben Hofackers solch großen Maßstab mit Komfort und Luxus, daß die primitive Dienstwohnung daneben noch mehr abfällt. Die Zeit in Marbach war mir ein solch ungetrübter Genuß, daß ich sie gern festgehalten hätte. Nach dem Mangel an geistiger Anregung in Hemmingen berührte der Verkehr mit den hochgebildeten, interessanten Menschen doppelt angenehm. Onkel ist frisch und lustig wie ein junger Mann trotz seiner fast 70 Jahre, Tante war mir stets sehr lieb und Evle⁵² war in einer äußerst günstigen Phase. Der Einfluß von Eberhards Frau scheint ihr sehr gut zu tun. Wir durchstreiften die romantische, herrliche Gegend zu Wagen und zu Fuß und begeisterten uns stets aufs Neue über die schöne Natur. Da waren die Offenhauser Weiden, auf dem Hochplateau gelegen, eingerahmt vom bunten, herbstlichen Wald, belebt von den umhertollenden Horden der jungen Pferde; da war diese Perle des Schwabenlandes, der reizende Lichtenstein, auf dem das junge Herzogspaar von Urach ein idyllisches, glückliches Leben führt. Die junge Herzogin, eine Tochter Karl Theodors von Bayern und als solche voll Interesse und Teilnahme für alles und der angenehme, stille Herzog führten uns umher. Der Blick vom Lug ins Land hinunter ins lachende Lautertal, auf die freundlichen Dörfer und das blitzende Flüßchen, in der Ferne auf die Bergketten der Alb mit den ragenden Schlössern Teck, Neuffen, Zollern, Staufen etc. ist einer der schönsten, die ich kenne. Fast ebenso schön war eine Partie nach den Rutschen-Felsen und St. Johann, Onkels drittem Gestüt;⁵³ aber

50 Stuttgart. 51 Die drei überlebenden Schwestern waren: Elisabeth Freifrau von Erffa, geb. Freiin von Varnbüler, Hildegard Freifrau von Spitzemberg, geb. Freiin von Varnbüler und Anna Hofacker, geb. Freiin von Varnbüler. Sophie von Below, geb. Freiin von Varnbüler war bereits 1876 verstorben. 52 Eva Hofacker (1874 – 1945). 53 Die drei württembergischen Landesgestüte Marbach, Offenhausen und St. Johann.

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man kann schöne Punkte nicht vergleichen, da man meist von dem, den man eben sieht, so hingenommen ist, daß man die anderen, vorher gesehenen im Augenblick ganz vergißt. Es ist ja auch gleich; sind sie doch von einer Hand, deren Schöpferkraft uns stets aufs Neue mit Dank und Bewunderung erfüllt. Ungern schieden wir von dem lieben Verwandtenhaus, übernachteten im Marquardt, wo wir Tante Berthel einen Moment sahen und reisten dann dankbar und recht müde heimwärts. In Stockheim überraschendes Zusammentreffen mit Vater und Jörge – Erzählen – Verwundern über Jörges Bartanfänge – Lachen und Schwatzen. Jörge war sehr begeistert von Roderichs Hochzeit und von seiner Brautführerrolle, ebenso von einem eben erlegten Seeadler. – Jetzt kehrten auch die Roßlebener in Ferien heim, sodaß wir wieder einmal vollzählig versammelt sind. 14ten Oktober. Die Ferien gingen wie sie kamen bei wonnigem Herbstwetter; sie waren durch einen Besuch der Schüler in Lauchröden sehr abgekürzt, dagegen bleibt nur Jörge bis Anfang November, wo er zu den Sachsen nach Göttingen geht.⁵⁴ Das Erntefest brachte viel Arbeit, die durch Dienermangel noch vermehrt ward. Unser trefflicher Stock, unsere Stütze und Perle verließ uns, weil ihm die Eltern bei den schlechten Zeiten nicht mehr geben können und er, wo die Kinder größer werden, nicht reichen kann. Er sprach ganz offen mit den Eltern, Vater verschaffte ihm einen guten Platz und am ersten verließ er uns. Er war neun Jahre bei uns und hat in dieser Zeit nicht nur unsere Anhänglichkeit und Schätzung, sondern auch die Herzen aller Leute und Dorfbewohner gewonnen. Daher flossen viele Tränen de part et d′autre ⁵⁵ und vielleicht hätten wir noch mehr vergossen, wenn wir die uns bevorstehenden Calamitäten geahnt hätten. Der gemietete neue Diener kam nicht und kam nicht, bis wir endlich auf Anfrage vom Ortsvorsteher erfuhren, daß der unverschämte Mensch geheiratet habe und fortgezogen sei, ohne uns mit einem Wort davon zu benachrichtigen. So müssen wir jetzt, da man in der Kartoffelernte keine Aushülfen bekommt, mit unseren Mädchen alle Dienerdienste mit besorgen, was nicht gerade sehr heiter ist. Zum Unglück waren Kessows auf den Sonntag geladen und Frau von Mohl hatte sich mit Schwester und deren Sohn und Tochter dazu angesagt. Wir deckten mit den Buben den ganzen Tisch und stellten Geinitz und Dora zum Servieren an; sie machten es auch ganz ordentlich, doch war es für uns ein Hauptspaß, Geinitzens Gesten und Grimassen zu beobachten. Auf einmal fühlt Sabine seinen heißen Atem in ihrem Genick und hört die in unverfälschter Mundart gesprochene Frage: „Freilein, der Braden gieht zweimal rum, galle?“ Bedauerlich war nur, daß uns die Gäste für die Mühe, die wir hatten, nicht entschä-

54 Gemeint ist das Corps Saxonia. 55 Auf beiden Seiten.

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digten. Mutter und Sohn Wolff waren ganz angenehm, Frau von Mohl ist merkwürdig bitter und schroff geworden und die Nichte Wanda Wolff war recht verzogen. Sie ist eine hübsche, pikante Baltin, aber merkwürdig unliebenswürdig und anspruchsvoll! Was man sagte, mußte sie widersprechen und ins Lächerliche ziehen, sodaß keine Konversation zustande kam; dabei war sie positiv grob und aggressiv, wirklich zum Verzweifeln. Befriedigter waren wir von dem Essen am folgenden Tag, das zu Ehren von unseres alten Knauers Dienstjubiläum gegeben wurde. Der alte und der junge nebst Rike waren eingeladen und benahmen sich alle drei sehr gut und selbstbewußt. Vater hielt einen wunderhübschen Toast und überreichte dann dem Alten einen silbernen Pokal mit Widmung. 50 Jahre treuen Dienstes, eine Seltenheit und ein rares Gut in dieser Zeit der Wechsel und der Veränderlichkeit! Gestern waren wir in Ranis, wo wir das junge Paar, Hans mit seiner Frau, trafen. Sie heirateten vor einer Woche und halten ihren honey-moon in Ludwigshof. Sie war recht elend und sieht recht spitz und alt aus, hat aber ein so reizend kluges, gewinnendes Wesen, daß man sich sehr zu ihr hingezogen fühlt. Rotenhans schrieben ganz begeistert von der Hochzeit, die sie mitmachten. 30. Oktober 1895. Ich komme jetzt wenig zum Schreiben, da ich jetzt mit Eifer kochen lerne und meine ganzen Vormittage in der Küche zubringe. Außerdem war meine Zeit durch Besuche recht in Anspruch genommen. Karl Buttler⁵⁶ kam per Rad in einem Tag von Meiningen an und blieb auf Drängen über eine Woche. Karl ist ein netter, vornehmer Mensch, hat viele Interessen und ein reiferes Urteil als unser Jörge, der manchmal ein arger Kindskopf ist. Jedenfalls ist Jörge aber ergiebiger und amüsanter und als noch Tante Higa und Hanna⁵⁷ auf zwei Tage dazukamen, wollte Lachen und Spielemachen kein Ende nehmen. Beide Spitzembergs waren so herzlich und liebenswürdig, daß wir uns ihnen näher als je fühlten. Sie sind auf dem Land viel, viel angenehmer als in Berlin, wo sie im Strudel oft sich selbst ganz verlieren. Hanna hatte sich von ihren vierzig Bällen recht erholt und hatte rechte dicke, rote Backen bekommen; sie gefiel mir noch nie so gut in ihrem Wesen als diesmal. – Kaum waren diese Gäste fort, als unsere lieben Rotenhans⁵⁸ auf einige Tage kamen; sie waren sehr behaglich; er sieht äußerst wohl und frisch, sie besonders hübsch und rosig aus.–

56 Karl von Butler (1876 – 1944). 57 Die Cousine Hanna Freiin von Spitzemberg, Tochter von Hildegard Freifrau von Spitzemberg. 58 Margarethe Freifrau von Rotenhan und Hermann Freiherr von Rotenhan, Hildegards Schwester und Schwager.

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Einige Male waren wir auch fort, einmal in Nimritz, wo Kessows Anwesenheit uns über die stets etwas peinliche Situation hinweghalf, einmal in Ziegenrück, wo wir bei Oberpfarrers eine höchst affektierte, lächerliche Malerin trafen. Frau von Gerlach ist zuerst stets so stumm, steif und wenig obligeant,⁵⁹ daß man ganz verblüfft davon ist; später taut sie auf und wird behaglich, wenn auch nicht gerade lebendig. – Sehr gut amüsierte ich mich bei einem großen Diner, das ich mit Vater bei Bezirksdirektor Stichlings in Neustadt mitmachte. Es war ein ganz großes Diner zu 16 Personen mit endlosem Menu und ausgesuchten Delikatessen. Der Tisch war elegant und hübsch, nur die Bedienung war so lahm, daß wir von eins bis sechs Uhr zu Tisch saßen. Über einen Lohndiener, der mir beim Servieren der Mundtasse „Waschwasser, Fräulein“, ins Ohr flüsterte, amüsierte ich mich königlich. Überhaupt war es lustig, so viele neue Menschen kennenzulernen, denn die Diners mit Landrats, Schimmelschmidts und Reißens, die man alle schon auswendig kennt, langweilen auf die Dauer entsetzlich. Mein Nachbar war ein Herr von Zemen, früherer sächsischer Gardereiter, sehr lustig, höflich, der unverkennbare Sachse. Seine Frau und Frau von Posern gefielen mir ausgezeichnet, während mir Frau von [d.] Gabelentz eher einen unsympathischen Eindruck machte. Frau Stichling sah wunderschön aus und war diesmal auch nicht so krankhaft aufgeregt wie sonst, er macht mir den Eindruck eines Rauhbeins, das in guter Gesellschaft einige Formen erlangt hat. Von Hemmingen verlautet nichts; das baby, welches am 15. ungefähr erscheinen sollte, läßt lang auf sich warten und Onkel Axel, dessen Urlaub mit dem Monat abläuft, verzweifelt fast vor Ungeduld. 11. 11. Nun zuerst das frohe Ereignis, welches uns alle mit Freude und Dank gegen Gott erfüllt: Am zweiten November ist in Hemmingen ein kleiner Stammhalter geboren, ein kleines, kräftiges Büble.⁶⁰ Daß Großmutter an ihrem Lebensabend noch solche Freude vergönnt ward, ist zu herrlich, obwohl sie dieselbe natürlich weniger äußert, als die drei Schwestern. Natascha ist sehr wohl und munter, fuhr noch zwei Tage vor dem Ereignis drei Stunden lang der Jagd nach und trabte mit Fasanen und Hühnern per pedes über die Sturzäcker. Das Büble soll – so Gott will – in Hemmingen, wahrscheinlich am Christtag, getauft werden. Die große Frage ist jetzt der Name! Nachdem Jörge uns verlassen, um in Göttingen einzutreten, von wo er bereits einen begeisterten Brief schrieb, haben wir uns zum stillen Winterleben eingerichtet. Frau Trautvetters kurzer Besuch brachte darin eine anregende Abwechs-

59 Verbindlich. 60 Johann Conrad Freiherr von Varnbüler (1895 – 1918).

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lung, obwohl sie recht down und abgespannt war. Außerdem gaben wir zwei Diners, eines mit Heydens und Stichlings, das zweite mit Landrats. Frl. Ida, Göckels mit Frl. Jansen und Frau Trautvetter. Frl. Jansen, die Schriftstellerin, ist ein wunderschönes, sehr interessantes Mädchen. Mich stören ihre kurzsichtigen, blöden Augen, die den Eindruck machen, als wären sie blind oder krank. Wie man damit Beobachtungen und Studien machen kann, ist mir ganz rätselhaft. Nächstens gehen wir zu Zahnarzt und shopping nach Leipzig, um unsere Berliner Ausrüstung zu beschaffen, während Vater in Örlsdorf jagt. Sonntag, 16.11. Gestern kehrten wir ziemlich erschöpft von unserer Leipziger Razzia zurück. Am Mittwoch Abend langten wir in Leipzig im Vereinshaus an und merkten zu unserem großen Bedauern, daß der unvergleichliche Zur Mühlen am selben Abend ein Conzert im Kristallpalast gab und wir eine halbe Stunde nur zu spät angekommen waren, um ihn zu hören. Diese Ironie des Zufalls war wirklich zum Haarausraufen. Ich habe leider nur zu wenig, um mir dies leisten zu können. Am Donnerstag machten wir von früh 9 bis abends 9 Besorgungen, gönnten uns eine halbstündige Mittagspause bei Timpenfritze und einen Kaffee im überfüllten français, und gingen, da nichts Gutes im Theater zu sehen war, bald zu Bett. Am Freitag sahen wir „Madame Sans-gène“ [sic], ein ausgesucht hübsches Stück. Die Titelrolle wurde in der Perfektion von einer Frau Frank gegeben; sie war außerdem so schön und sah in den reizenden Empire-Kostümen so bezaubernd aus, daß wir sie mit Genuß ansahen. Das Stück ist hübsch erdacht, der historische Hintergrund interessant, die Charaktere der Heldin und ihres Gatten sehr anziehend und sympathisch. Im christlichen Vereinshaus waren wir gut aufgehoben und zahlten für drei Logis, Frühstücke und Abendessen zu dritt die lächerliche Summe von 21 Mark. Außer daß man so billig wohnt, hat man noch den Vorzug, lächerliche Menschen zu studieren, mehr als in anderen Hotels. Z. B. saß neben uns ein alter Pastor, der sich seit Wochen nicht rasiert und frisiert haben konnte, an jedem Zeigefinger einen Siegelring und im Knopfloch einen Mahonienstrauß trug. Wir kauften gut und billig ein und kamen reich beladen hierher zurück. Heute hatten wir von Mia und Frau von Kessow Besuch und fuhren auf eine Stunde zu des Landrats Geburtstag nach Ranis. Am Dienstag geben Amtsrichters Leue zur Taufe ihres 4. Kindes im Schießhaus zu Poessneck ein großes Diner, wozu sie den ganzen Adel der Umgegend luden. Jedermann lacht über den Einfall, in Ranis zu taufen und in Poessneck zu essen, es wurde selbst gefragt, ob der arme Täufling mit hinunterfahren müsse, um als Tischdekoration zu dienen. Ich finde es nicht richtig; es entspricht nicht der heiligen Bedeutung der Taufe, ein solches Trara hinterher zu machen. Wir gehen nicht, aber die Eltern fanden keinen Grund zur Absage.

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Mittwoch, 20.11. Leider fand sich doch noch ein sehr trauriger Grund. Am Montag erhielten wir die Todesnachricht von Hans Erffas Frau, die uns tief erschütterte. Margarethe⁶¹ hatte im September ein kleines Mädchen und lag seitdem krank an Brust – und Bauchfellentzündungen. Die Nachrichten lauteten so verschieden, bald sehr trübe, bald tröstlich, zuletzt fingen wir wieder an, Hoffnung zu schöpfen, als die traurige Kunde kam. Ich kann nicht sagen, wie sie mich ergreift. Obwohl ich dies reizende Wesen nie kannte, hörte ich doch so viel von ihrem lieben Wesen, ihrem Geist, ihren Talenten, vor allem ihrer herrlichen, idealen Ehe mit Hans, daß ich den großen Schmerz der Angehörigen etwas begreifen kann. Der arme Hans mit seinen drei kleinen Mädchen. Was wird aus ihm werden? Gott helfe ihm und den armen Eltern! Vater reiste gestern ab und will heute nachts um zwei Uhr wiederkommen. Den 8ten December. Sonntag. Heute kann ich mit Muße schreiben, da wir mit unseren Weihnachtsgeschenken so gut wie fertig sind. Wie gut, daß wir so früh damit begonnen, denn da wir noch vor dem Fest auf einige Tage nach Rudolstadt wollen, so hätte es gewiß ein rechtes Gehetz gegeben. Burkhart hatte das Pech, beim Turnen beide Röhren des linken Unterarms zu brechen und wurde am 4ten mit einem Wärter hierhergeschickt, um sich auszukurieren. Er sowohl als seine Freunde sahen den Unfall daher auch im Lichte eines „kolossalen Glücks“ an, sodaß wir unser Mitleid sparen konnten. Das gemütliche indoors-Leben mit Burkhart war sehr angenehm; während wir arbeiteten, las er uns das Schnellersche „Kennst du das Land?“⁶² vor und es war genußreich, zu beobachten, wie intensiv und gründlich er sich dafür interessierte und das ist überhaupt der Hauptgrund von seiner Gescheitheit und Bildung, daß er sowohl beim Lernen, Lesen, als bei allen Gesprächen über Tagesfragen etc. mit glühendem Interesse dabei ist und sich manches spielend aneignet, was andere durch Büffeln erlangen müssen. Viele Menschen machen sich das Lernen doch so unangenehm als möglich, weil sie blind herumlaufen! 18. December. Mittwoch. So gründlich wie diesmal haben wir Rudolstadt noch nie genossen und obwohl es sehr hübsch und gemütlich dort war, so habe ich doch das Gefühl, für Jahre genug davon zu haben. Meinen 21ten Geburtstag feierte ich noch hier und wurde mit viel Liebe und hübschen Sachen verwöhnt; am Mittwoch drauf reisten wir nach Rudolstadt, wo

61 Margarethe Freifrau von Erffa, geb. Freiin von Rotenhan (1868 – 1895). 62 Ludwig Schneller, Kennst du das Land? Bilder aus dem gelobten Lande zur Erklärung der heiligen Schrift, Jerusalem 1890.

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Mutter 2 Tage bei Beulwitzens, wir 5 bei Starcks blieben. Was mir in der ganzen Zeit am besten gefiel, war das schöne Familienleben bei Starcks, das sie sich in seiner Innigkeit, Schlichtheit und Geradheit inmitten all der demoralisierenden kleinen Neidereien, Cabalen, Klatschereien und Meinungen der Kleinstadt unberührt erhalten haben. Besonders Herr von Starck war ganz reizend mit uns, ging mit uns spazieren, sprach über alles, was in der Welt passiert und blieb sich immer gleich in Freundlichkeit und Heiterkeit. Sie ist minder sympathisch und etwas steif, meinte es aber sehr gut mit uns, glaube ich. Liesbeth ist ein herziges, angenehmes Wesen und eine kleine Cousine Starck, die zu Gast dort war, trug durch ihre Urwüchsigkeit und naive Anschauungen viel zur Erheiterung bei. So lang wir daher bei Starcks im Familienkreis waren oder mit ihnen auf die schönen Berge spazieren gingen, fühlten wir uns heimisch, während wir uns mit dem banalen Geschwätz der Mädchenkaffees gar nicht befreunden konnten. Gibt es etwas Trostloseres als mit zehn bis fünfzehn Mädchen, die einzeln ganz nett sein mögen, in Masse aber ermüdend wirken, vier Stunden lang um einen Tisch gezwängt zu sitzen und sich, wie z. B. neulich bei Anni, eine Stunde lang über Zahnoperationen zu unterhalten. Etwas Interessanteres ist auch kaum möglich, wenn Mädchen wie Motzens dabeisitzen und sich tödlich langweilen dabei. Eine Ausnahme bildete ein Thee bei Dorothee Trautvetter, wo wir nur fünf Mädchen waren und uns herrlich amüsierten. Einmal hörten wir ein wunderbares, entzückendes klassisches Conzert und einmal eine Liebhabervorstellung im Fürstlichen Theater. Man denke sich: In der Hofloge die Prinzeß Adolf und Thekla mit Gefolge, und ringsum die Hofgesellschaft, auf der Bühne als Spielende die Lakeien, Schneiderinnen, etc., als Titel der beiden Stücke: Der Fürst wider Willen und Zehn Mädchen und kein Mann, eine unfreiwillige Persiflage auf die Rudolstädter Verhältnisse. Es war wundervoll! Wundervoll war auch, als in dem Stück der Fürst auf dem Thron, Falschheit umgiebt ihn, neben ihm ist auch der ärmste Bettler reich und vis à vis der Hof in seiner Pracht saß. Übrigens stand die ganze Stadt unter dem Zeichen der Verlobung der Hofdame Bessel⁶³ mit dem Neuhauser Werthern.⁶⁴ Er ist nach Reichtum, Vornehmheit und, wie man hört, auch Charakter, die beste Partie in Thüringen und war ein sehr begehrter Mann. Ich freue mich wirklich sehr, daß gerade solch Mann ein ganz armes, nicht mehr hübsches, aber dafür ausgezeichnetes, sehr sympathisches Mädchen wählte. Das Paar sah sehr gut und stattlich aus und wurde von allen Seiten begafft und besprochen. Tella, die gern Brautjungfer sein möchte und später nach Neuhaus möchte, machte ihnen in unverschämter Weise den Hof. Der arme Bräutigam wählte, wohl um der allgemeinen Aufmerksamkeit zu entgehen, den neun Uhr

63 Sophie von Bessel (1863 – 1933). 64 Georg Freiherr und Herr von Werthern (1859 – 1939).

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Frühzug. Zu seinem Pech reisten wir zu derselben Zeit und wurden von sieben jungen Mädchen begleitet. Das arme Brautpaar! – Wir werden so reizend aufgenommen in Rudolstadt, daß ich ein schlechtes Gewissen habe, nicht lieber dort zu sein, aber es gibt auch ein Zuviel und Summa summarum: Wir passen nicht hin! Weihnachten! Tannenduft und Lichterglanz, Festesjubel und helle Freude erfüllt unser liebes altes Haus und blickt mir, während ich dies schreibe, aus allen Winkeln und Ecken, allen Augen entgegen. Ich selbst bin so fröhlich, so von ganzem Herzen zufrieden und glücklich, ich weiß kaum, wann ich je zufriedener war. Je älter ich werde, umso dankbarer werde ich für unser schönes, harmonisches Heim, unser glückliches Familienleben, das für uns Kinder ein herrlicher Schatz für alle Zeiten sein wird und soll. Wird es so friedlich bleiben? Ich denke nie an die Zukunft; abwarten und Gott vertrauen scheint mir hier das einzige und ich fühle eine ganz außergewöhnliche Fähigkeit in mir, den Augenblick mit allen Kräften und Sinnen zu genießen. Wir fuhren nicht aus und hatten keinen Besuch, konnten die lieben Buben und Rotenhans gründlich genießen. Mit Rudi habe ich wieder so getollt und gealbert trotz meiner 21 Jahre, daß ich mich fast schäme. Jörge sieht frisch und schlank aus und ist von der Wichtigkeit der Gesetze und Einrichtungen seiner Saxonia fest überzeugt. Er findet alles in Göttingen einfach „großartig“ schön. Burkharts Arm ist geheilt, sodaß er wieder der geliebten Jagd frönen kann. Wir machten viel Spiele, lasen ein etwas langweiliges Buch „Die Fahrt nach der alten Urkunde“⁶⁵ und fuhren mit Begeisterung Bergschlitten. Die Natur draußen hat auch ihr Festkleid angetan, ihr glitzerndes, weißes und das alte Jahr macht sich uns noch so lieb und schön, daß uns der Abschied heute schwer werden wird. Aber eigentlich ist dies Aufhören und Beginnen ja nur Einbildung. Das Leben geht seinen Gang weiter und nach meinem Gefühl sind die Ereignisse und Hauptmomente im einzelnen Menschenleben die Grenzen und Merksteine, nicht die üblichen Einteilungen der Jahre und Monate.

1896 5ter Januar. Was ich im alten Jahr versäumte, will ich nun schleunigst nachholen, nämlich eine Beschreibung meiner reichen Bescherung. Wir bekamen blaßgrüne seidne Kleider mit gelben Chrysanthemen, Pelzkrägen auf unsere Jacken, Fächer, Shawls, Briefpapier, Dahns Gedichte, „Romola“ von G. Elliot, Rienzi von Margarethe, eine herzige Miniature-Brosche und andere Kleinigkeiten. Jetzt ist das alles zum Teil

65 August Sperl, Die Fahrt nach der alten Urkunde. Geschichten und Bilder aus dem Leben eines deutschböhmischen Emigrantengeschlechtes, München 1893.

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schon eingepackt, da wir am 9ten nach Berlin übersiedeln wollen. Ich freue mich wirklich sehr; besonders da wir schon auf den Ball Winterfeldt eingeladen sind!

12. Januar. Es ist zu schade! Stirbt da unvermutet der alte Prinz Alexander von Preußen⁶⁶ und wirft unseren jungen Karneval ins Wasser oder in die Tinte. Der Abend, wo wir die Traueransage für vier Wochen erhielten, war niederschmetternd. Wir beschlossen gleich, erst am 13. zu reisen und schrieben in alle Windrichtungen um Trauersachen. Sabine und ich haben seit dem ersten Toilettengeld und müssen von Anfang an Schulden machen, um uns schwarzseidne Gewänder zu beschaffen. Außerdem schrieb uns Emilie, die wir als Köchin gemietet, ab, der Diener ärgerte uns, kurz, es war viel auf einmal. Jetzt, nachdem sich alles gesetzt hat, sehen wir mit mehr Klarheit und Mut vor uns; ich denke, es wird noch recht hübsch werden und wenn die große Welt nicht viel bietet, so wird man die Verwandten umso öfter sehen. Auf die Bekanntschaft des kleinen Johann Conrad Varnbüler bin ich sehr neugierig. Hier sind elf Grad Kälte, alles steht gepackt und ungemütlich herum; drum ade, du altes geliebtes Nest! Berlin, den 17. Januar 1896 Die Zeit hier vergeht noch schneller als in Wernburg und obwohl das Tanzen noch nicht begonnen hat, haben wir manches vor. – Der Abschied von Wernburg war nicht schwer, da wir niemand Liebes dort zurückließen; trübe und grau lag es da – an der Türe standen die Leute versammelt – Müffle lief uns vor Wut bellend nach – als wir am Abend davonfuhren. Hier in Berlin erfuhren wir zu unserem Verdruß, daß sowohl unser gemieteter Salon, als Vaters Zimmer von einem Leutnant Fels mit einer kranken Frau bewohnt wird und nicht geräumt werden kann. So müssen wir einige Tage in dem unleidlichen Zustand eines Interregnums mit halb ausgepackten Koffern und mangelhaften Schränken leben. Die ersten Tage machten wir nur Verwandtschaftsbesuche und Besorgungen, kauften uns Trauer-Jacken und Handschuhe. Am Tag nach uns langte die Großmutter mit Frl. Güntzel an und bezog im ersten Stock drei hübsche Zimmer. Außer uns wohnen noch der Landgraf, Plötz, Karmer und Dohnas hier. Letztere begrüßten uns mit altgewohnter Herzlichkeit. Spitzembergs kamen schon oft; Hanna ist auf der Höhe ihrer Schönheit und Fetiertheit und im Wesen viel ruhiger und netter geworden als im vorigen Jahr. Sie ist wirklich ein herziges Wesen. Heute früh ging ich zu Natascha; das baby lag in seinem Bad, ein herziges, dickes, großes Kind mit

66 Prinz Alexander von Preussen (1820 – 1896), Enkel von Friedrich Wilhelm II, General der Infanterie.

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schönen blauen Augen. Das Kind hat trotz seiner Jugend schon ein ausgesprochenes männliches Aussehen und einen klugen und gutmütigen Ausdruck. Natascha sah herzig aus in einem rosa Schlafrock, ihr Kind an der Brust, das Bild der jungen Mutter und ich verstand, daß Onkel sich gar nicht davon trennen konnte. Sonntag, 19.1.96. Hier ist seit zwei Tagen großer Festestrubel, zur Erinnerung der Wiederaufrichtung des deutschen Reichs. Am 18ten war große Feier im Weißen Saal, zu der am Tag vorher schon Probe vom Kaiser und allen Generälen gehalten ward. Dann große Parade unter den Linden, Gottesdienst etc. Die Begeisterung soll groß gewesen sein; als der Kaiser nach Schluß seiner Rede das Reichspanier ergriff und schwang, soll stürmischer Jubel ausgebrochen sein. Ich freue mich über jede Begeisterung, weil sie sich in unserer Zeit so selten findet, aber doch muß man sich klarmachen, daß es mit Festesjubel nicht getan ist, und daß das Deutsche Reich dem deutschen Volk so wenig Segen gebracht hat, (vielleicht weil es nicht reif dafür war), daß man sich nicht ungeteilt der Freude hingeben kann. Von dem allen sahen wir nichts, da das Wetter und das Gedränge gräßlich waren. So ging ich auch gestern nicht mit in einen großen Kommers in der Philharmonie, den Mutter und Bibs besuchten. Sie fanden es auch nicht sehr heiter: lange Reden, viel Tabaksqualm, viel Bier und – viele Menschen. Mit den Visiten sind wir fast zu Ende; gestern waren wir bei Gräfin Henckel und hatten einen sehr angenehmen Eindruck von ihr; sie ist nicht so hübsch, aber viel gewandter, klüger und liebenswürdiger als Nataschachen. Abends aßen wir bei den armen Belows, die sich, um von Kusserow fortzukommen, hier eine Wohnung genommen haben. Sie sind bewundernswert in ihrer Frömmigkeit, Ergebung und Glauben, bewundernswert auch in ihrer warmen Teilnahme für alle anderen Menschen. Onkel war von einer heiteren Liebenswürdigkeit, die alle entzückte. Montag, 20.1.96 Gestern hatten wir die große Freude, daß beide Eltern, wie sie beide vor 25 Jahren ins Feld zogen, beide zum Ordensfest befohlen wurden. Vater in der alten Husarenuniform, die ihm vom Kaiser am Tag der Schlacht von Bapaume ⁶⁷ neu verliehen worden war, Mutter im lila Kleid mit ihren drei Orden, zusammen ein reizendes, stattliches Paar, als sie zusammen auszogen. Beide Majestäten sprachen mit der Mutter, besonders der Kaiser sehr lang und huldvoll und Vater war in der neuen Jacke natürlich der Zielpunkt vieler Aufmerksamkeiten.

67 Die Schlacht von Bapaume am 3.1.1871 endete mit einem strategischen Sieg der Deutschen.

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Wir hatten auch unseren Spaß, nämlich eine nette kleine Tanzerei bei Radowitz, wo wir viel alte Bekannte wiedersahen und manche neue wie den Vortänzer Bismarck, Graf Krockow, den zweiten Kalnein etc. kennenlernten. Es war animiert und lustig. Sehr komisch war der lange Kleist; er schob seinen Stuhl hinter den meinen, erbat eine Unterredung unter vier Augen, ließ sich Schweigen schwören und verkündete mir dann, daß er und noch zwei Herren zum Abschiedsfest für Kurowskys einen ganz kleinen Ball im Kaiserhof am 21ten arrangierten und uns dazu auffordern wollten. Natürlich sind wir selig; ich fiel von einer Wonne in die andere, als er mir sagte, wie klein und fein das Fest würde; es wird gewiß entzückend werden. Mittwoch, 22. Januar Es war entzückend! Ein so feines, animiertes gelungenes Fest werden wir wohl den ganzen Winter nicht mehr mitmachen. Alles war begeistert davon: als ich beim Herausgehen Femi Dohna fragte, wie ihr der Ball gefallen hätte, schloß sie die Augen und sagte nur: „mehr als hinreißend!“ Wir waren etwa 16 tanzende Mädchen und doppelt so viele Herren, sodaß der kleine Säulensaal vollständig genügte. Ich soupierte mit Axel Maltzahn und tanzte den Cotillon mit Kalnein, beides nett und unterhaltend. Hanna ist bildschön und sehr fetiert, neben ihr spielt noch Elisabeth Arnim, Irma Kanitz, Valeska Berlepsch eine Rolle. Hübsch und nett sind außerdem zwei Dohnas, zwei Kanitz, zwei Stolbergs, Mucki Bassewitz etc. Letztere lernten wir schon bei Tante Higas Geburtstagsfeier am Montag kennen. Sie ist lange nicht so hübsch wie ihre Schwester, die Hofdame, aber doch auch ein herziges, gewecktes, frisches Ding. – Wir besuchen jetzt fleißig die Jours und bewegen uns in einem wahren Taumel von Karten, Einladungen, Thees etc. Da war es uns gestern eine wahre Wohltat, im Inneren des Tiergartens spazieren zu gehen, wo man, fern von Menschen und Wagen, fern vom Getöse der Welt, sich ergehen konnte in der stillen, schönen Natur, wo man sich auf sich selbst besinnen konnte. Eben kommen wir von einem großen Thee von Elma Klinckowström, wo ca. 30 junge Mädchen versammelt waren. Solche Damenfeste im Großen sind meist ledern und öde, aber das muß man Elma lassen, daß sie eine ebenso gewandte als liebenswürdige Wirtin machte und that, was sie konnte, um uns zu erheitern. Sonntag, 26.1. Die letzten Tage waren ziemlich ruhig, wenigstens hatten wir an denselben keine rauschenden Vergnügungen. Am Donnerstag war ich den ganzen Morgen bei Tante Wilma. Ich fragte nach den Kindern, weil ich fühlte, wie gern sie sich einmal aussprechen wollte und hörte darauf die ganze traurige Geschichte im détail; den Charakter und die Eigenart der Kinder, ihre reizenden Eigenschaften ward sie gar nicht müde, mir zu beschreiben und obgleich sie sehr dabei weinte, weiß ich, daß es ihr eine Wohltat war. Wir gratulierten Tante Natascha zu ihrem

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Geburtstag; sie war zerstreut und unerquicklich, weil die Kinderstubenmöbel aus England gekommen waren, die sie viel mehr interessieren als ihre ganze Familie. Sie ist überhaupt momentan nur Putz und Einrichtung; Mann und Kind kommen erst im zweiten Rang und wir noch lange nicht. Einen Abend verlebten wir lustig bei Spitzembergs mit Axel Maltzahn, Mutius und Lindenau, einen gemütlich bei uns mit Großmutter, Onkel Nico und Walter. Letzterer macht einen behaglich glücklichen Eindruck, obwohl ihn die große Lebendigkeit seines Vaters stets etwas befangen macht. Heute aßen wir mit Belows bei Axels einen unserer Wernburger Truthähne nebst vielem anderen Guten. Es war sehr lustig, da sich Onkel Nico, trotz seines großen Schmerzes selbst übertraf als amüsanter liebenswürdiger Gesellschafter. Tante Natascha sah herzig aus, war aber recht schnippisch und kindisch mit ihrem Mann, der sich doch wegen ihrer Untüchtigkeit halb zu Tode hetzt mit Haushaltssorgen, Besuchen etc. Wir waren gestern in einem wundervollen Conzert der Amalie Joachim; sie sang nur Schumann, hatte mit großer Vorsicht nur Lieder gewählt, zu denen ihre Stimme noch ausreicht und ihr wundervoller Vortrag zur Geltung kommt. Es war geradezu entzückend, ihren Ausdruck, ihre feine Modulation zu verfolgen. Neulich bei Frau Richter lernten wir auch den berühmten Maler Passini ⁶⁸ kennen. Wir hatten gerade die letzte Zeit sehr viel von ihm gehört, da er Hanna gemalt und der Tante das reizende, gelungene Bild zu Weihnachten geschenkt hat. Meist ist man dann enttäuscht, wenn man solche Größen persönlich kennenlernt, aber hier war es nicht der Fall; im Gegenteil waren wir von seiner frischen, österreichischen, liebenswürdigen Art sehr entzückt. Dienstag, 28ten Januar 96 Kaisers Geburtstag gestern brachte uns solches Kaiserwetter, daß wir als echte Landpomeranzen nicht widerstehen konnten, sondern unter die Linden bummelten, um zu sehen, was es zu sehen gab. Die schönen Galawägen mit den gepuderten Dienern, die man aus Märchenbüchern so gut kennt, machen mir jedes Jahr wieder Spaß und nebenbei amüsieren mich die Ausrufe und die merkwürdigen Typen des Berliner Publikums ganz ungeheuer. Die Galaoper, die ich meist sehr genieße war diesmal recht mißglückt und langweilig. Hochberg⁶⁹ oder der Kaiser (ich weiß nicht, wer sich die Stücke auswählt) haben entschieden kein Talent dafür. Zuerst wurde Barbarossa gegeben. Der Kaiser schläft und singt dabei begleitende Rezitative zu verschiedenen Bildern und Zügen aus Preußens Vergangenheit, die an seinem Geist und am Publikum vorbeiziehen: der große Kurfürst in drei Schlitten über die Bühne

68 Ludwig Passini (1832 – 1903). 69 Bolko Graf von Hochberg (1843 – 1926), Generalintendant der königlichen Schauspiele.

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sausend, der Alte Fritz am Wachtfeuer; die Freiheitskrieger von ihren Bräuten Abschied nehmend etc etc. Alles sah so theatermäßig und so unnatürlich aus, daß man ordentlich erleichtert war, als das richtige Militär im Parademarsch stramm vorbeistapfte. Auch der dritte Akt aus den Meistersingern, dessen Musik ich sehr liebe, befriedigte mich nicht in der Ausführung. Wir hatten sehr gute Plätze zwischen Dohnas und Arnims, konnten das ganze schöne geputzte Haus und die Bühne übersehen. Das Gedränge im Foyer war entsetzlich, doch eroberten wir zuletzt einen guten Platz, von dem wir die Majestäten und die fremden Fürsten gut beschauen konnten. Einmal kamen wir in die Ecke der Wilden und dieselben sahen so exotisch, orientalisch aus, daß die Gräfin Arnim mit Recht sagte: „Ich glaube, wir sind unter die Juden geraten.“ Freitag, den 31.1. Wir sind schon ganz im Tanzrappel drin. Wegen mir könnte jeden Abend ein Ball sein, wenn nur lauter gute Tänzer da wären! Aber bei manchen Bällen ist darin selbst hier in Berlin Mangel. Letzten Dienstag z. B. machten wir ein Fest bei Frau von Frerichs,⁷⁰ der Witwe des berühmten Arztes, mit. Frerichs selbst sind sehr gebildete, distinguierte Leute, aber da sie sehr fremd in der Gesellschaft sind, traf man wenig Bekannte dort. Graf Bismarck tanzte zum Entsetzen der exclusiven Clique auf diesem Ball vor. Die vorigen Vortänzer machten sich rarer, aber Bismarck vertritt den Standpunkt, daß er als offizieller Vortänzer auf allen Festen figurieren müsse und sich an die feinen Unterschiede von Eleganz, Crème u.s.w. nicht kehren wolle. Er macht mir einen guten Eindruck, scheint nicht hochmütig zu sein und viele Interessen zu haben. Es waren wenig gute Tänzer da und da sowohl die Tochter des Hauses als Bismarck ungern tanzen, wurden die Pausen so in die Länge gezogen, daß der Ball eher einem Rout mit Tanz glich. Das Haus ist wunderschön, mit Komfort und großem Kunstsinn eingerichtet. Wir saßen in einem reizenden Wintergarten unter blühenden Sträuchern und ließen uns von Bismarcks Weltreise, die wir schon im Korffschen Werk genossen hatten, erzählen. Ich soupierte mit einem Goltz, einem Freund von Alla Erffa, der mir beim Tanzen oben in den Rock trat und ihn von oben bis unten zerschlitzte. Ich war nicht sehr erbaut. Am Nachmittag aßen wir mit Martin Wegnern,⁷¹ der Schaumburgischer Minister geworden ist und mit Alvensleben. Den Landgrafen erblickten wir noch nicht, außer einmal, wo er ins Schlafzimmer kam, als wir gerade Toilette machten. Er merkte sein Versehen sofort, wahrscheinlich sah er zwei weiße Gestalten und zog sich rasch, nicht mit einem „Pardon“, sondern mit einem „Ei Donnerwetter“ zurück.

70 Friedrich von Frerichs (1819 – 1885). 71 Martin von Wegnern (1855 – 1897).

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Die große Cour war diesmal recht unterhaltend; wir saßen mit netten Mädchen, Aga Hagen, Gräfin Schlieffen und Klara Wedell zusammen, tranken Thee und ließen uns nicht stören. Unter den Neuen war ein bildhübsches Frl. von Mitzlaff, zwei Stolbergs, Valeska Berlepsch, Elisabeth Arnim u. a. Eine arme kurzsichtige Frau rannte vorbei, ohne ihren Knix zu machen, erschrak in den Tod, wollte umkehren und war ganz unglücklich. Der Moment soll jammervoll gewesen sein, Prinz Max von Baden sagte, er hätte weinen können aus Mitleid. Und doch, wenn man bedenkt, all der Sums um einen Knix! Es ist doch zum Lachen, wieviel unnötigen Kummer sich die Menschen machen! – Großmutter begutachtete uns mit Kennerblicken und war zufrieden. Gestern aßen wir bei Roths mit Winterfeldts und einer herzigen Frl. von Möllendorf zusammen. Emy sieht recht alt und gelb aus; sie hat ein Atelier hier, in dem sie nach lebenden Modellen studiert. Sabine malt Aquarell dies Jahr bei Berlepschens. Mutter und ich lernen bei einer Frl. Du Bois-Reymond die moderne nasse Technik, zunächst an Stillleben, dann an Landschaft. Man malt aus einem Waschbecken, mischt die Farben erst auf dem Papier und schnippt den Rahmen hin und her, bis alles ineinanderläuft. Das klingt entsetzlich und die ersten Versuche sind auch danach. Aber es geht sehr schnell, man erreicht aufs erste Mal eine große Tiefe und viel Effekt; unser zweiter Versuch, eine Vase mit Anemonen, sieht schon ganz plastisch aus. Die Lehrerin, eine Tochter des Professors,⁷² ist ein sehr angenehmes, anregendes und bescheidenes Mädchen und scheint sehr begabt. Sonnabend, 1ter Februar. Heute ist die Hoftrauer erloschen, aber man wagt sich dessen nicht zu freuen, weil die arme Großherzogin von Oldenburg im Sterben liegt und gewiß noch vor dem Hofball, der am fünften sein soll, stirbt. Daß man sich trotz der Trauer gut amüsiert, bewies der große Kaiserhofball, der sehr stark besucht war, besonders auch aus der Provinz. Es war eigentlich ein rechtes Völkerfest und der endlose Cotillon, bei dem man in vier Reihen hintereinander saß, war nicht sehr erbaulich. Zum Souper engagierte mich Humboldt für den kleinen Erbgroßherzog von Weimar,⁷³ das unglücklichste, verlegenste, unbeholfenste Wurm, das mir je vorgekommen. Humboldt, sein Bärenführer, scheint mir mit seiner Geduld ganz das richtige Element für ihn; in Weimar muß er total verprügelt worden sein. Zum Glück saßen noch andere nette Leute an unserem Tisch, sonst wäre es zum Auswachsen gewesen. Ich erzählte ihm,

72 Emil du Bois-Reymond (1818 – 1896), Physiologe und 1869 – 1870 sowie 1882 – 1883 Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität. 73 Wilhelm Ernst (1876 – 1923), letzter Großherzog von Weimar.

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wie Jörge seinen ersten Auerhahn geschossen, dann erzählte er mir, wie er seinen ersten geschossen und zuletzt waren wir so vertraut, daß wir uns fast anbalzten. Trotzdem traute er sich nicht, mir im Cotillon einen Strauß zu bringen, sondern stellte sich in meine Nähe und drehte ihn zwischen den Fingern, aber bekommen tat ich ihn nicht. Einen lustigen Lancier tanzte ich mit dem Grafen Holnstein; wir unterhielten uns sehr gebildet über Bimetallismus, Börsenreform, die „kleinen Mittel“ etc. und empörten uns beide über das dumme Geschwätz der Städter über die „notleidenden Agrarier“. Wenn ich diese Witze schon höre, werde ich ganz rasend. Unser Zusammenleben im Hotel ist sehr gelungen; wenn wir Großmutter auch nicht viel Zeit widmen können, so finden sich doch hie und da einige Minuten. Sie interessiert sich noch sehr für alles, für unsere Toiletten und Tänzer und bedauert nur, nicht selbst in die große Welt gehen zu können. Das einzige Unerquickliche bei der ganzen Sache sind die unglücklichen, ewigen Gespräche über den Haushalt und die Verhältnisse von Axels. Dies viele Reden führt zu gar nichts, bessert die Sache nicht, verbittert die Großmutter nur und legt sich der Mutter so auf die Nerven, daß sie manchmal ganz abgemattet heraufkommt. – Übrigens haben wir jetzt nach langen, unangenehmen Auseinandersetzungen mit Leutnant Fels unsere eigentlichen Zimmer bezogen und fühlen uns sehr wohl in dem großen, schönen Salon. Sonntag, 2. Februar. Gestern war ein reichbesetzter Tag und ich bin froh, daß wir uns mal heute Abend richtig ausschnaufen können. Am Nachmittag probten wir Menuett und Gavotte bei Wedels; diese Tänze haben sich aber überlebt; man tanzt sie ohne Entrain und darum auch nicht mehr so gut wie voriges Jahr. Um sieben Uhr aßen wir beim Landwirtschaftsminister Hammerstein, wir dachten uns, es würde ledern und spießig werden, dagegen war es ganz ausgesucht animiert und nett. Außer uns waren nur Esebecks und eine Menge netter Herren da: Zwei Grafen Knyphausen, der Reichstagspräsident Levetzow,⁷⁴ Friedel Krosigk, Graf Solms, Stolberg und Rittberg, zwei Herren von Bülow u. a.m. Ich saß zwischen Krosigk und Knyphausen und unterhielt mich ausgezeichnet. Die armen Hammersteins⁷⁵ kommen gar nicht auf in der Gesellschaft; außer daß die Stellung der Minister die denkbar ungünstigste ist, sind sie selbst weder reich noch elegant, die Mädchen nicht hübsch genug, um sich schnell eine Stellung zu machen. Sie vermissen daher ihren netten Kreis in Hannover und fühlen sich unglücklich in Berlin. Wir blieben so lang als möglich, um auf den darauffolgenden Tanz bei Hessenthals, vor dem uns

74 Albert von Levetzow (1827– 1903). 75 Ernst von Hammerstein-Loxten (1827– 1914), preußischer Landwirtschaftsminister von 1894 – 1901.

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graute, so spät als irgend ging, zu kommen. Dies Fest, auf Deutsch „Kuhschwanz“, war noch viel gräßlicher als wir uns erwartet hatten. Ich muß sagen, ich finde es beinahe eine Frechheit, wenn Leute in solch kleinen Räumen tanzen lassen. Der Raum war klein, schmutzig und eng und erschien noch enger dadurch, daß miserabel getanzt wurde. Da man außerdem die Musik, die im Nebenzimmer saß, nicht hörte, so kam man sich, planlos umhergeschubst und geknufft, vollständig blödsinnig vor. Wir kannten nur Lala Levetzow und etwa vier Herren, mit denen wir immer zusammensaßen, uns unterhielten und tanzten. Reizend war unser Souper. Zu unserem Glück kam nämlich Beroldingen und setzte sich mit uns beiden und drei Ulanen an einen Tisch; er war in einer Weise lustig und amüsant, daß wir nicht aus dem Lachen kamen. Besonderen Spaß machte uns ein kleines Abenteuer, das Sabine beim Cotillon hatte. Ihr Herr wurde in einer Tour geholt, als sich ihr ein fremder Leutnant näherte mit der Frage: „Ach, Sie sind wohl ein Mauerblümchen? Darf ich Sie vielleicht erlösen?“ Diese Anekdote zirkuliert in der ganzen Gesellschaft. Heute aßen wir bei Spitzembergs mit Reinhold Richter und einem netten jungen Ompteda. Donnerstag, 6. Februar. Wir haben richtig wieder Hoftrauer, da die arme Großherzogin am 3. starb. Trotzdem gab der österreichische Botschafter an diesem Tag einen großen, glänzenden Ball, da die Traueransage erst am anderen Morgen herauskam. Es war eigentlich alles da, und so voll, daß man sich Schritt für Schritt ertanzen mußte. Dagegen war es im Cotillon schön leer, Wörosz Mischka‘s Zigeuner spielten hinreißend und Blumen gab es die Fülle. Wir amüsierten uns herrlich und brachten zwei neue Balleinladungen zu Stall-Wedel und zu Lanza⁷⁶ mit nach Hause. Die drei Töchter von Fred Eulenburg, drei sehr schicke Mädchen, kamen zum ersten Mal raus und wurden gleich sehr umringt. Gestern sollte eigentlich Hofball sein; wir gingen stattdessen zu Else Gerlach, wo wir mit ihr und ihren beiden Brüdern einen sehr gemütlichen Abend verbrachten. Die drei Geschwister sind zu reizend natürlich, lustig und gutmütig. Es war gleich ganz anders als der steife, langweilige Peter, Elses Mann, dazu kam. Er paßt gar nicht zu den netten Maltzahns und obwohl er Else so glücklich macht, kann er sich mit ihrer Familie durchaus nicht stellen. Es ist ihr gewiß manchmal schwer.

76 Carlo Graf Lanza di Busco (1837– 1918), italienischer Botschafter im deutschen Reich von 1892 – 1906.

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Sonnabend, 8.2. Die Bälle folgen sich jetzt Tag für Tag, daß man kaum einen freien Abend hat. Am 6ten tanzten wir im Savoy-Hotel bei Frau von Radowitz, geb. Gerson.⁷⁷ Das Fest war schön und glänzend und gar nicht protzig. Trotzdem gab es Leute, die die Nase rümpften und schnoddrige Bemerkungen über Juden etc. machten. Ich finde, es läßt sich nichts sagen, wenn ein Mensch Antisemit aus Überzeugung ist und auf dem Standpunkt steht, mit Juden, auch wenn sie längst getauft sind, nichts zu tun haben zu wollen. Ich billige diesen Grundsatz nicht, aber ich kann ihn begreifen. Wenn Menschen aber zu Juden ins Haus gehen, Diners essen, Bälle mitmachen und dann häßliche Witze machen, so finde ich dies im höchsten Grad unfair und gemein. Das findet man aber leider recht oft. Auszusetzen am Radowitzschen Ball war nur, daß es zu viel Blumen gab; es macht keinen Spaß mehr, wenn man von einem Herrn drei Sträuße bekommt: Wir brachten fünfzig Bouquets mit nach Hause. Gestern bei Bronsarts⁷⁸ war der Ball zu kurz; nur etwa drei Stunden mit Souper und Cotillon, das ist etwas wenig für einen Abend. Aber der Kriegsminister, der nicht nur schneidig gegen die Sozialdemokraten im Reichstag, sondern auch im eignen Hause ein Tyrann zu sein scheint, streckte uns um halb ein Uhr einfach die Hand hin und sagte adieu. Die Wagen waren noch nicht da, aber raus mußten wir. Hanna sah bildhübsch aus in einem hellblauen Kleid. Der lange Kleist ist, wie es scheint, ganz verschossen in sie; er macht ihr riesig den Hof, allerdings in einer so auffallenden, ich möchte fast sagen primanerhaften Weise, daß man wohl an keine ernstlichen Absichten zu denken braucht. Er ist ja auch viel zu arm und Hanna scheint ganz kühl, wenn sie ihn auch als Tänzer und Anbeter sehr gern hat. Er ist wirklich ein wunderhübscher, auffallend netter Mensch, im Gegensatz zu Hanna aber noch recht jung und unreif. Hoffentlich nimmt er die Sache nicht ernst; ich kann es mir nicht denken. Gestern Nachmittag hatten wir einen rechten Kunstgenuß. Wedels gaben am Nachmittag einen musikalischen Thee, zu dem all ihre Bekannten kamen; eine rechte Erholung zwischen den manchmal recht stumpfsinnigen Jours. Es sangen zwar nur Dilettanten, aber diese dafür so vollendet, daß es schöner als im Conzert war. Frl. von Colmar hat eine glockenreine Stimme, eine Frau Wehr sang recht gut und Herr von Mutzenbacher hat einen Bariton und dabei einen Vortrag, daß man nicht müde wird, ihm zuzuhören. Er sang besonders ein Lied: „Und als die Stunde wiedrum kam“, so vollendet, daß wir alle hingerissen von ihm waren.

77 Bertha von Radowitz, geb. Gerson war die Witwe des 1890 verstorbenen preußischen Generalleutnants Clemens von Radowitz. 78 Walter Bronsart von Schellendorf (1833 – 1914), von 1883 – 1889 preußischer Kriegsminister.

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Heute hatten wir ein ziemlich langweiliges Diner bei Hann von Weyerns, Frau von Heydens Bruder. Ich unterhielt mich nach Tisch recht gut mit der netten Gerda Möllendorf, aber sonst war es wirklich zum Auswachsen öde und triste. Jörge schreibt uns aus Göttingen Paukbriefe über „Blutige“ Nadeln, Abfuhren etc, daß uns schon beim Lesen ganz übel wird. Dienstag, 11ter Februar 96. Eben komme ich aus einem Konzert des böhmischen Streichquartetts, in das mich Großmutter mitnahm, während Mutter und Sabine einen Rout besuchten. Vier junge Böhmen spielten wahrhaft meisterhaft und mit einem solchen Feuer und Elan, wie ich es bei unseren besten deutschen Quartetten nie gehört habe. Das liegt in der Rasse. Am Sonntag ging ich mit Großmutter in das große Wagnerkonzert, das mich vollständig begeisterte. Siegfrieds Tod und Trauermarsch ist die hehrste, großartigste Musik, die ich mir denken kann und der Venusberg gefiel mir viel besser als auf der Bühne; man wird durch das Ballett etwas abgezogen, während man sich hier ganz dem Zauber der berauschenden Musik hingeben konnte. Wort und Ton verschmelzen bei Wagner so zusammen, daß die Musik Leben und Wirklichkeit zu bekommen scheint. Großmutter war nicht so erfüllt davon; alte Leute können, glaube ich, Wagner nicht würdigen; es ist so anders, als die Musik, die in ihrer Jugend Mode war. Heute waren wir bei Klärchen Wedel zu einem kleinen Thee, nur zwei Greindls, Femi Dohna und Aga Hagen außer uns. Es war sehr gemütlich und nett, obwohl, ich muß es zu unserer Schande gestehen, ziemlich geklatscht wurde. Klärchen fiel besonders über einen Schweden, Herrn Schwan, her, der Marie Greindl auffallend den Hof macht. Greindls verteidigten ihn glühend, aber Klärchen ließ sich nicht beirren; sie hatte die feste Absicht, ihn Marie zu verleiden, da sie viel Schlechtes über ihn gehört; nur war es für uns andere ziemlich peinlich, da wir merkten, wie ernst Marie die Sache nahm. Freitag, 14ten. Unser Leben in den letzten Tagen gestaltete sich ganz anders als bisher, da wir gar nichts vorhatten und für Grete Butler, die auf der Durchreise drei Tage in Berlin war, den Fremdenführer spielten. Sie hätte sich die freien Tage nicht besser aussuchen können als gerade jetzt. Am 9ten hatten wir einen entzückenden Ball mit wunderhübschem Cotillon beim Stallmeister Wedel. Ich soupierte mit Holstein und saß unter lauter Exzellenzen und Gros-bonnets. ⁷⁹ Wir dachten, es würde langweilig werden, aber diese gesetzten Leute benahmen sich zum Teil so unglaublich laut und frei, daß wir uns als die ehrbarsten vorkamen. Besonders

79 Übersetzt: „Großkopfigen“.

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Prinz Arenberg, der von Schraders kam, war ganz verdreht, trank mir sechs Mal zu und verschlang mich fast mit den Blicken, sodaß mir ganz unheimlich zu Mute wurde. Er ist doch sonst ganz verständig. – Die letzten Tage also zogen wir in der Stadt herum und sahen auf diese Art manches, was wir sonst nicht gesehen hätten. Außer den Linden, Brandenburger Tor, Schloß etc., gingen wir ins Museum, in die Nationalgalerie, zeigten Grete die schönen altersschwarzen Partien des Königlichen Schlosses an der Spreeseite und ließen uns sogar durch die Festsäle führen. Es war mir zu lächerlich, durch dieselben Räume, die ich sonst durchtanzt und nach Belieben betreten, jetzt auf Filzsocken vorsichtig und bewundernd durchzuschreiten. Wir machten ganz den Eindruck einer Hammelherde, die getrieben wird. Wenn der Kastellan sagte: „Dieser Raum ist geblieben, wie er war, nur die Decke ist renoviert worden“,… stierten wir alle in die Höhe; „ und“, fuhr er fort, „das Parkett ist neu gelegt worden“, sogleich betrachteten wir alle andächtig das Parkett, an dem wirklich nichts Interessantes zu sehen war. Der Erklärer war köstlich, sprach stets per „Wir“. „Hier halten Wir das Kapitel des Schwarzen Adlers ab“; oder einmal erklärte er: „Dieser Aufsatz – Silber, der Tisch nicht Silber, sondern Holz, versilbert.“ „Echt?“ fragte eine Frau ganz ehrfurchtsvoll. „Na! Wenn wir′s nicht mal echt haben sollten, wer sollte′s dann haben!“ war die Antwort. Am 12ten aßen wir mit Grete bei Georgs, es war nur Familie da, Richthofens, Eichels, Rotenhans etc. Ich saß zwischen zwei Richthofens, von denen mir der Ältere sehr gut gefiel. Den nächsten Abend sahen wir mit Georgs das neue Wildenbruchsche Stück: König Heinrich,⁸⁰ das uns ungemein interessierte. Es wurde sehr gut gegeben und besonders Heinrich IV. und Gregor VII. spielten großartig. Ich hatte gerade Heinrichs Leben von Giesebrecht gelesen und fand es daher doppelt interessant, den Unterschied zwischen Dichtung und historischer Wahrheit zu verfolgen. Zuerst schien uns Gregor zu gut wegzukommen, dann aber am Schluß, wo der Kaiser reifer und ernster geworden, verschoben sich die Urteile über ihn und den Papst. Es sind einige wunderschöne Dialoge in dem Stück, z. B. zwischen dem Papst und dem Abt Hugo von Cluny, zwischen Heinrich und seiner Frau etc. Dienstag, 18. Februar. Es wird immer hübscher und lustiger, je länger wir hier sind und je besser wir uns kennenlernen. Es sind auch dies Jahr ganz besonders hübsche, elegante Feste. Am 15ten war es bei Lanza schöner als je; man hatte das Gefühl, nicht nur, daß alles pikfein und elegant war, sondern, daß es mit Liebe und Sorgfalt ausgedacht war. Der italienische Botschafter, ein liebenswürdiger Junggeselle, machte die honneurs in einer charmanten, reizenden Art. Es gab sitzendes kaltes

80 Ernst von Wildenbruch (1845 – 1909), „Heinrich und Heinrichs Geschlecht“ 1896.

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Souper und einen reizenden Cotillon, in dem wir Rokokouhren, Ballfächer und Klingeln bekamen. Ich tanzte alle Tänze mit Herren vom ersten Garderegiment, lächerlicherweise Esebeck, Planitz, Knoblauch, Bronsart und Winterfeldt. Gestern der Ball bei Dürkheims war auch sehr amüsant, mit luxuriösem Cotillon, aber doch nicht halb so nett arrangiert wie der Lanza’sche. Am Sonntag waren wir in Potsdam draußen bei Hans⁸¹ und Lene Erffa. Es war sehr wehmütig. Das Anwesen, eine kleine Villa, ist so reizend im Grünen gelegen, die Häuslichkeit ist so gemütlich und die beiden kleinen drei- und zweijährigen Mädchen, Bertha und Nini, sind so allerliebst, daß man den Verlust der reizenden Frau und Mutter doppelt empfindet. Lene ist sehr treu und lieb, aber ersetzen kann sie Margarethe natürlich nicht. Gotthard⁸² sahen wir dort auch zum ersten Mal, da er uns, unglaublicherweise noch nicht besuchte. Er scheint sehr glücklich und zufrieden zu sein. Illa kommt nächstens her. Heute sollte eigentlich Hofball sein, der einzige in diesem Jahr, wo keine Trauer war, aber – der Kaiser wollte nicht. Er ging nach Hubertusstock⁸³ und sagte, er habe den Krempel satt. Die Kaiserin reiste ihm nach, es soll eine Scene gegeben haben, aber der Ball findet nicht statt. Es scheint, daß sich der Kaiser mit Herbette⁸⁴ verzankt hat und ihn absolut nicht sehen und sprechen will; auf dem Hofball kann er den französischen Botschafter aber nicht schneiden, und weil er sich nicht überwinden kann, Gleichgültiges mit ihm zu reden, müssen alle Menschen drunter leiden. Uns ist es ja egal, aber die vielen Damen, die nur zu Hof gehen und ihre Toiletten liegen haben und die armen Lieferanten sind zu bedauern. Hohenthal sagt: „Zwei Couren und drei Gottesdienste habe ich mitmachen müssen und kein Glas Wasser dafür bekommen“. Es tut mir besonders leid, daß so gräßlich raisonniert wird. Der Hausminister Wedel entschloß sich daraufhin schnell und lud mündlich zu heute Abend ein, damit doch an Fastnacht getanzt würde. Ich hoffe, es wird nicht zu voll werden! Aschermittwoch: Es war ganz reizend gestern, kein offizieller Ministerball, sondern ein elegantes, feines Fest. Wir hatten vorher ein sehr animiertes Diner bei Gräfin Schlippenbach mit den Frankfurter Mumms, Graf Vitzthum, Delbrücks, Graf Bismarck, Stieglitz und Herwarth und kamen daher schon sehr aufgekratzt zu Wedels, wo es ganz reizend war. Um 12 Uhr hörten die Katholiken auf mit Tanzen, 81 Hans Freiherr von Erffa (1864 – 1929), seine Frau Margarethe, geb. Freiin von Rotenhan war verstorben, seine Schwester Helene führte ihm den Haushalt. 82 Gotthard von Erffa (1862 – 1910) heiratete am 21.4.1896 Mathilde [Illa] von Künßberg (1872 – 1925). 83 Jagdschloss Hubertusstock, Schorfheide. 84 Jules Gabriel Herbette (1839 – 1901), französischer Botschafter in Berlin 1886 – 1896.

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setzten sich zusammen und begannen die Fastenzeit mit dem schönsten Flirten. Wir tanzten noch bis 1 Uhr munter weiter. Heute waren wir alle im Tattersall, zum ersten Mal. Ich fand es sehr lustig, unsere Tänzer nach den hübschen bekannten Walzern herumreiten zu sehen. Und nett ist auch, daß man so viel Bekannte, Herren und Damen dort trifft. Dann waren wir bei Schulte, wo recht viele häßliche Secessionisten-Bilder ausgestellt sind. Besonders ein Bild, „Träume“, das Aufsehen erregt, ist hervorragend scheußlich, unwahr und unanständig. Sonnabend, 22ter Februar. Gestern war ein sehr hübscher, flotter Ball bei den Mellenauer Arnims. Die arme Mutter war sehr erkältet, ging aber Bronsarts, die wir chaperonieren sollten, zu Liebe auf eine Stunde hin. Es war sehr viel Platz zum Tanzen und viele gute Tänzer da. Graf Holstein und ich waren gegenseitig so entzückt von unserem Tanzen, daß wir gar nicht genug davon kriegen konnten. Ich habe das Gefühl, den halben Abend nur mit ihm getanzt zu haben; es ging aber zu herrlich! Ich soupierte mit Knyphausen und tanzte mit Krockow Cotillon. Die Tochter des Hauses, Elisabeth, ist ein riesig fetiertes Mädchen. Ohne hübsch zu sein, hat sie einen fabelhaften Charme für die Herren, tanzt süperb, ist sehr amüsant und der größte Flirt, den man sich denken kann. Sie ist manchmal grob und unfreundlich gegen ihre besten Bekannten, dann wieder bezaubert sie dieselben so, daß sie stets zu ihr zurückkehren. Sie wickelt sie alle um den Finger und prahlt nachher entsetzlich mit ihren Eroberungen. Infolgedessen ist sie bei den anderen Mädchen ganz unbeliebt; aber ich glaube, das ist ihr ganz egal. – Leider bin ich gestern zu der festen Überzeugung gekommen, daß Kleist doch Ernst macht mit Hanna und sich in den nächsten Tagen schon einen Korb holt. Nachdem er schon auf den letzten Bällen uns beiden, selbst unseren Eltern, mit die Cour machte, beschäftigte er sich gestern ganz gründlich mit mir. Wir tanzten einen Lancier, dann setzte er mich in eine grüne Ecke des Saals, während alle anderen am Büffet waren, setzte sich daneben und unterhielt mich – von Hanna. Er fragte nach unserer ganzen Familie, versprach, im Sommer nach Wernburg zu kommen, dann sprach er von seiner Armut und schließlich gab er mir die Hand und es fehlte wenig, daß wir beide zusammen geweint hätten. Ich fürchtete schon, er wollte mich ins Vertrauen ziehen, als zum Glück die anderen Menschen zurückkamen. Der arme Kerl tat mir zu leid! Ich glaube nicht, daß Hanna irgendwie kokettiert mit ihm, aber sie ist zu ungeschickt, um ihm zu rechter Zeit einen Wink zu geben. Sie tanzte den Cotillon mit ihm, strahlte ihn an mit ihren schönen Augen und gibt ihm doch einen Korb, wenn er anhält. Sie darf es nicht dazu kommen lassen, aber ich fürchte, es ist jetzt zu spät dazu. Montag, den 24ten. Am Sonnabend waren wir wieder im Theater und sahen mit Lothar „Wallensteins Tod“ im Schauspielhaus. Es war mir interessant, dies, eins

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meiner Lieblingsstücke auf der Bühne zu sehen, aber die Aufführung war so miserabel, daß wir manchmal bei den ernstesten Stellen lachen mußten. Wallenstein spielte schlecht und dumm, Thekla war ein heulendes Gänschen und Matkowsky⁸⁵ überschrie und outrierte den Max, daß alles aufhörte. Er schrie, riß sich die Haare, heulte, daß ihn der Bock stieß und taumelte umher. Ganz wundervoll gab Rosa Poppe⁸⁶ die Gräfin Terzky. Da war Verständnis, Feuer und Wirklichkeit, während man bei den Anderen stets daran dachte, daß sie spielten und Theaterfiguren waren. Die Ausstattung war natürlich glänzend und die Schlußszene realistisch und ergreifend. Aber wir drei, die wir den Wallenstein fast auswendig konnten und uns selbst schon viel zu viel dabei gedacht hatten, litten förmlich unter dem ausdruckslosen Spiel. Gestern hörte ich eine ergreifende Predigt von Dryander; er ist mir doch der liebste von allen hiesigen Kanzelrednern. Am Abend ging ich allein unter Frau von Mohls Schutz in eine musikalische Soirée zu Raths. Leider hatte Zur Mühlen abgesagt, sodaß die musikalischen Leistungen schwach waren. Eine recht gute und namentlich hübsche Pianistin spielte, außerdem aber ein schreckliches Wunderkind. Ein armes, kleines, verwachsenes Mädchen, kurzsichtig und hochgradig nervös, trommelte mit Geläufigkeit, aber ohne Ausdruck einige Stücke herunter. Es drehte sich mir das Herz herum und ich fasse es nicht, wie eine Frau solch Unglückswürmchen spielen lassen kann in ihrem Salon. An Mädchen waren nur Greindls, Mumms und eine Stolberg da, und Herren waren noch spärlicher vertreten. Ich soupierte mit Herrn von Mohl, dem alten Geck, Prinz Arenberg mit der schönen Braut, Jenny Mumm und der junge Schwarzenberg mit Martha Mumm. Ich amüsierte mich über die Konversation dieser Mädchen mit den drei Herren, die ihnen doch ganz fremd waren. Sie war eigentlich ganz unglaublich frei, aber doch auch wieder amüsant und nicht ohne Charme. Gleich nach dem Souper schleppte mich Frau von Mohl fort; sie ist überhaupt recht wenig freundlich und nett, immer so gereizt und merkwürdig. Heute kam die erste Verlobung raus, nämlich L′Estocq mit Wanda Eulenburg, beide nicht mehr jung, aber beide sehr beliebt und gescheit. Man freut sich allgemein. Donnerstag, 27. Februar. Diese Woche steht unter dem Zeichen der großen Mädchenthees; am Montag waren wir bei Hanna, am Dienstag bei Aga Hagen, wo uns ein Zauberkünstler eine Vorstellung gab, gestern hatten wir eingeladen und für die nächsten Tage haben wir auch noch drei Thees vor. Es wird ein bißchen viel. Wir hatten Hanna, Mucki Bassewitz, Elma, Else Schmidthals, Manna Rotenhan, die auf

85 Adalbert Matkowski (1857– 1909), seit 1900 Königlich preußischer Hofschauspieler. 86 Die Schauspielerin Rosa Poppe (1867– 1940) war festes Ensemblemitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin.

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einige Tage hier ist, zwei Bronsarts, Bela Levetzow, die kleine Bodenhausen,Valeska, Klärchen Wedel und Aga Hagen bei uns; es wurden eine solche Menge Süßigkeiten vertilgt, daß wir ganz starr waren. Am Dienstag war der Levetzow′sche Tanz; vorher ging ich, schon in Toilette, mit Natascha in das Conzert einer jungen Sängerin, die reizend sang. Wir kamen natürlich, dank ihrer Unpünktlichkeit zu spät und zogen in unseren hellen Kleidern aller Blicke auf uns. Spitzembergs und Varnbülers waren an dem Tag bei der kaiserlichen Frühstückstafel gewesen und der Kaiser hatte zwischen den beiden Tanten gesessen. Bei Levetzows war es recht nett, besonders das Souper. Sabine soupierte mit Esebeck und ich mit Winterfeldt, außerdem saßen der Koburger und der kleine Weimar, die keine Damen hatten, dabei und machten uns einen Heidenspaß. Sie saßen nebeneinander auf dem Sopha, knufften und ärgerten sich in einem zu und wurden von uns mit „Raubstaaten“, „kleine Fürsten“ etc. gehörig aufgezogen. Der Koburger⁸⁷ ist ein raffinierter Bengel, der kleine Weimar unbeholfen und schüchtern. Er macht sich aber jetzt, bringt Sträuße, hob mir meine Sachen auf und tanzt sogar pas de quatre, fragt mich nur nicht wie! Der lange Kleist hat sich richtig in aller Form einen Korb geholt. Es war Tante sehr unangenehm und wird natürlich ganz verheimlicht. Er tut uns allen sehr leid, obwohl ich glaube, daß er in einem Jahr glückselig eine andre liebt! Heute gaben wir ein kleines Diner mit den Eyrichshöfern, Georgs, Gotthard, Speßhardts und unserem Landrat. Es war ganz nett und gelungen, nur Dietrich legt sich mir mit seinen dummen Witzen auf die Nerven. Sonnabend, 29ter. Gestern war ein ganz kleiner, feiner Ball bei Schmidthals, der Glanzpunkt des ganzen Winters. Es waren nur Bekannte da, etwa 15 Damen und 25 tanzende Herren, gar keine exotischen Leute, sondern nur ausgezeichnete Tänzer. Es war so entzückend hübsch, lustig und animiert, daß es mir fast leid tut, heute Abend noch zum letzten Mal auf den Hammerstein′schen Ball zu müssen. Das reizende Fest gestern wäre solch guter Abschluß gewesen. Montag, 2. März. Bei Hammersteins, wo ich allein war, war es doch recht lustig. Eine Fülle zwar von fremden, zum Teil ganz unbekannten und schrecklichen Leuten; aber ein herrlicher Saal, gute Musik und schöne Blumen. Natürlich fand sich die kleine Clique von Bekannten sowohl in den Pausen als beim Souper zusammen, sodaß es zeitenweise recht fidel war. Gestern dagegen hatten wir ein reizendes Diner

87 Herzog Alfred von Sachsen-Coburg und Gotha, (1844 – 1900), zweiter Sohn Queen Victorias, der 1894 die Erbfolge im Herzogtum Sachsen-Coburg angetreten hatte.

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bei Frau Richter. Wir trafen Axels, Gräfin Pourtalès, einen Herrn von Sommerfeldt, Graf Harrach, den Gesandten Bülow aus Oldenburg, den jungen Ompteda und Herrn von Pförtner. Ich saß neben Harrach, der sehr interessant über Kunst mit mir sprach. Überhaupt ist mir der Salon Richter zu angenehm wegen der interessanten Gespräche über Kunst und alle Zweige der Wissenschaft. Es finden sich stets Menschen, die gut zusammenpassen, dort, weshalb die Conversation ungezwungen und animiert ist. So war es auch gestern wunderschön dort. Donnerstag, 5ter. Unser Aufenthalt neigt sich seinem Ende zu und wir sind schon beim Abschiednehmen angelangt. Dabei haben wir aber natürlich noch jeden Tag was vor. Einmal waren wir bei Wedels in der Opéra paré, wo zwei sehr dumme Balletts gegeben wurden, einmal hatten wir Hammersteins am Abend zum Thee und einmal waren wir bei Spitzembergs. Es war sehr behaglich, außer uns nur Einsiedels, Bassewitzens, die beiden Grafen Eulenburg, Pförtner, Bronsart, Kalnein und Magnis. Wir waren sehr lustig und tanzten sogar noch ein wenig. Magnis rekelte sich auf dem Sopha neben Hanna herum und war wie immer frech; die übrigen alle sind aber hervorragend nette Leute, gebildet und wohlerzogen. Die älteste Bassewitz, die mit einem Herrn von Treuenfels verheiratet ist, ist gegenwärtig hier und gefällt mir ausnehmend gut, wie überhaupt die ganze Familie. Sonntag, 8. März. Alle sind zu Stöcker⁸⁸ in die Kirche gegangen, nur ich sitze im warmen Frühlingssonnenschein, der durch die große Glastür auf mein Buch fällt. Morgen früh reist die Mutter nach Halle zu Mag, wir sollen zwei Tage lang packen und – so Gott will – Mittwoch reisen. In den letzten Tagen hatten wir noch mannigfache Genüsse. Am Freitag luden uns, Sabine und mich, Bockelbergs in den Rüdesheimer ein. Wir hatten ein reizendes, feines, nettes Diner dort und tranken sehr fidel eine Flasche Sekt zusammen. Dann fuhren wir in den Balladenabend von Eugen Gura.⁸⁹ Er sang meisterhaft, wirkungsvoll, packend, schaurig zum Teil. Sein Programm war kolossal: den Schatzgräber, den getreuen Eckhardt, den Erlkönig, Zauberlehrling, Prometheus, Kronos, das Hochzeitslied, den Türmer, den getreuen Douglas sang er hintereinander weg mit einer erstaunlichen Frische. Gestern sahen wir „Comtesse Guckerl“, ein wundernettes, aber unbedeutendes Lustspiel. Wir frühstücken jetzt immer auf dem Zimmer und besorgen uns teils von hier, teils aus Wernburg Brot, Eier, Butter, Aufschnitt etc. Gestern nun kamen gleichzeitig Wisa Rotenhan und das unglückliche „Edelweiß“, um mitzuhalten. Ich stürzte noch einmal fort in den nächsten Laden und holte einige Bücklinge und eine

88 Adolf Stoecker (1835 – 1909), Hofprediger. 89 Eugen Gura (1842 – 1906).

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Wurst, damit es doch nicht zu knapp war. Es war ein entsetzliches Mahl: Das Edelwurm ist noch dottiger geworden, vielleicht war ihr der Wein in den Kopf gestiegen, kurz, sie schwafelte in ihrer monotonen Stimme ohne Unterbrechung weiter ihre Krankheitsgeschichten, ihre sonstigen Leiden etc., sodaß wir alle nachher wie zerschlagen waren. Und doch dauert sie uns grenzenlos; ein solches Dasein ist doch fast unbegreiflich, unfaßlich, man fragt sich unwillkürlich, wozu solche Existenzen sein müssen in der Welt! Freitag, den 13. In Wernburg. Ich will zurückgreifen und unsere letzten Tage in Berlin noch beschreiben, damit der Aufenthalt abgeschlossen dasteht. Am Sonntag also starb Großmutters Stiefbruder, Onkel Süßkind in Bächingen, weshalb Tante und Mutter zu Haus blieben und nur Vater mit Hanna und mir in einen Rout zu Dirksen gingen. Das neue Haus ist wundervoll, mit allen Raffinements und Erfindungen der Neuzeit ausgestattet. Es waren viele Menschen da, besonders von der Diplomatie. Die Musikvorträge waren meist schwach, aber die Unterhaltung umso netter. Ich soupierte mit Seydlitz, einem sehr amüsanten, netten Menschen und unterhielt mich lang mit den netten Engländern Dering und Granville. Diese beiden kommen mir immer wie gute Freunde vor; sie sind zu anständig, natürlich und nett. Am Montag und Dienstag packten wir wie verrückt von früh bis spät und brachten auch alles gut und fest unter. Einmal frühstückten wir noch bei Axels; sie waren bei Tisch so kindisch, daß ich mich vor dem Diener schämte, warfen sich mit Brotkugeln, zischten sich an und nannten sich „Dummerle, Dummerle“! Nachher war Natascha sehr lieb und herzig gegen uns. Wir waren wohl eine Stunde beim baby und trieben förmlich Götzendienst mit dem süßen, herzigen Bubele. Den einen Abend verbrachten wir bei Wisa mit Gotthard und den Künßbergs, den anderen, letzten, bei Spitzembergs. Wir waren am Nachmittag noch einmal bei Wedels zu einem musikalischen Thee, da sich Frau von Wedel, die einen Affen an uns gefressen hat, nicht von ihren „süßen Herzchen“, „ihren lieben, kleinen Vögelchen“ trennen wollte. Es war sehr nett, daß man so vielen Bekannten Adieu sagen konnte. Wir gingen dann mit den zwei Bassewitzens zu Fuß zu Spitzembergs, eine breite Kette von Landpomeranzen, die fast das Trottoir versperrte, und hatten ein sehr behagliches Essen dort. Am nächsten Morgen segelten wir dann ab und kamen wohlbehalten und vergnügt hier an. Wernburg, 15. März 1896 Der Berliner Aufenthalt liegt hinter uns, schön, ungetrübt und gelungen nach jeder Richtung hin. Aber wenn ich auch alles mit Dank gegen die lieben Eltern und mit allen Kräften und Sinnen genossen, so empfinde ich doch jetzt nicht den geringsten Katzenjammer und freue mich unsagbar, wieder hier zu sein. Ich glaube, es kommt

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daher, weil in Berlin auch nichts mehr los ist, der Karneval so schön abgeschlossen hinter uns liegt und es hier wirklich so himmlisch frühjahrlich ist, daß wir mit keinem Gedanken uns zurücksehnen. Unsere Ankunft war reizend; die Leute waren versammelt, die Türe bekränzt, ein dampfendes Essen stand auf dem Tisch und Müffele, die weißgewaschene Ehrenjungfrau stand schwanzwedelnd auf dem Hof. Wir stülpten gleich alte Hüte auf und liefen in Hof, Park und Gärten umher. Die Sonne brannte schon ganz warm, alle Quellen rieselten, die Stare pfiffen und wir begeisterten uns über den herrlichen Frieden, die frische Luft und den köstlichen Erdgeruch, der aus den Wiesen stieg. Wie gut haben wirs doch auf dem Land! Am Abend kam Jörge aus Göttingen, noch ohne Schmisse; wir führen ein nettes Leben zu dreien, machen stundenlange Spaziergänge oben im Wald und erzählen uns unausgesetzt Ball – und Corps-Erlebnisse. Donnerstag, 26ten März. Jetzt sind beide Eltern eingetroffen, das Haus ward in Stand gesetzt, alles kehrte in die alten Geleise zurück; nun fehlen nur noch die Buben, so ist alles beim Alten. Unser Leben fließt still und einförmig dahin, ohne Ereignisse, ohne Hetzerei; es ist so grundverschieden von unserem Berliner Leben, daß ich manchmal staune, wie man sich in beiden so wohl und vergnügt fühlen kann; für die Dauer ziehe ich das Landleben entschieden vor. Donnerstag, der 16. April. Die Ferien sind vorbei, der Vater nach Berlin zurück, Jörge zur Balz nach Örlsdorf, die beiden Schüler nach Roßleben, sodaß wir drei Frauen uns ziemlich verlassen vorkommen. Das Wetter war die ganze Zeit über sehr schlecht – richtiges Aprilwetter – eine fortwährende Abwechslung von Schneegestöber, Sonnenblicken, Regenschauern, Sturm und selbst Gewittern. Es war schwer, die Brüder immer im Haus zu beschäftigen und zu amüsieren. Burkhart als Erster Zelloberer und Konfirmand, ist natürlich reifer und gesetzter als der dicke, lustige Butz. Daß sie beide so gut versetzt wurden – Burkhart als Zweiter nach Prima, Rudi als dritter nach Sekunda – machte uns alle froh und dankbar und überhaupt waren wir trotz Aprilwetter sehr fidel zusammen. Rudi und ich wurden in die Geheimnisse des Whist eingeweiht und dabei abwechselnd angeschrien und wegen Schlauheit belobt. Einmal tanzten wir die Brüder ein, Mutter drehte den Leierkasten, ich tanzte mit Jörge, Bibs mit Burkhart und Rudi mußte durch fortwährendes In-den-Wegstellen das übrige Publikum, dem ausgewichen werden mußte, darstellen. Er that es auch so erfolgreich, daß wir grüne und blaue Flecke davon bekamen. – Wir lasen viel zusammen, hatten aber kein Glück in unserer Auswahl; dagegen gefiel mir der

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letzte Band, den ich von Giesebrechts⁹⁰ deutschen Kaisern las: Heinrich IV. und V. ungemein. Es ist riesig interessant, die sich ganz entgegengesetzten Charaktere von Vater und Sohn sich entwickeln zu sehen und zu verfolgen durch die namenlosen Wirren und Kämpfe der Zeit. Man verliert beim Studium der Geschichte doch jeglichen Glauben und jegliche Begeisterung für die oft besungene Romantik, Ritterlichkeit und Poesie des Mittelalters. Man findet ein solches Gewebe von Intrigen, Parteihaß, Treulosigkeit und Verrat, und alles so offenkundig unverhüllt, daß man davor schaudert. Ich glaube nicht, daß unsere Zeit besser ist, wenn die Sünde auch verhüllter einhergeht, aber daß sie in aller und jeder Beziehung schlechter ist, kann ich nicht glauben. Die traurigste Rolle in der damaligen Zeit spielt doch aber die Kirche und wenn man nicht wüßte, daß sie nur die unwürdige, unvollkommene Schale des köstlichen Kernes ist, so könnte man sich leicht verbittern lassen. Wir hatten den dreitägigen Besuch von Onkel und Tante aus Mahren.⁹¹ Sie waren gemütlich und vergnügt und erzählten uns viel von Gotthard und Illa. Am 21ten ist die Hochzeit, zu der Mutter, Jörge und ich gehen wollen. Ich bin mit recht dummen Aufführungen belastet worden, sodaß ich mir vier Gewänder herrichten lassen muß und – Pour qui? pourquoi? Es wird gewiß recht ledern, ohne Tanzen etc. Zu meinem maßlosen Erstaunen hat sich Manna Rotenhan mit Detlef Winterfeldt verlobt. Nach allen Ansprüchen und dummen Redereien, die die Eyrichshöfer gemacht haben, Kavallerie, Majoratsherr, Gutsbesitzer freue ich mich von Herzen, daß sie dies alles über den Haufen wirft und einen armen Infanterieleutnant aus Liebe heiratet. Er ist ein Mann, den man lieben kann, hübsch, musikalisch und sonst in jeder Beziehung hochbegabt, klug, und, wie mir scheint, in Gesinnung nobler als die übrige Familie Winterfeldt. Das ist für mich der Haken: Ich habe von Winterfeldtscher Seite, besonders von der Mutter, sooft Äußerungen über „Rotenhansche Geldsäcke“, Mummschen Sekt, etc. gehört, daß ich den Verdacht nicht loswerden kann, er nimmt sie des Geldes wegen. Ich traue es dem Bräutigam selbst zwar kaum zu, aber die andere Blase ist mir unangenehm. Hoffen wir das Beste, denn Manna ist wirklich ein herzensgutes Wesen. Von den Nachbarn sahen wir Wurmbs und Beusts. Da Beusts jetzt endgültig geschieden sind, fuhr Vater mit uns am 1. Osterfeiertag nach Nimritz. Mia war so heiter und erleichtert, wie ich sie seit lange nicht gesehen habe. Frau von Beust wird nun, sobald es ihr nach dem Gesetz gestattet ist, den greulichen Hardenberg heiraten und hat die Schamlosigkeit, sich in Jena, vor der Nase des betrogenen Mannes und der gesamten Nachbarschaft zu etablieren. Hardenberg will Jura studieren, sie

90 Wilhelm von Giesebrecht (1814 – 1889), deutscher Historiker, dessen Hauptwerk (1855 – 1885) die fünfbändige Geschichte der deutschen Kaiserzeit war. 91 Mundartliche, bis heute gebräuchliche Bezeichnung für das Dorf Ahorn bei Coburg.

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haben sich eine wundervolle Wohnung genommen und sie zeigte Mia eine herrliche, elegante Ausstattung, die sie hat machen lassen. Es ist zu, zu gemein und herzlos!! Sonntag, 26ten April 1896 Letzten Donnerstag kehrten Mutter und ich aus Schmeilsdorf von Gotthards Hochzeit, Sabine aus Ranis, wo sie inzwischen untergebracht war, hierher zurück und obwohl ich sehr viel zu thun habe, will ich doch die paar Festtage dort zu Papier bringen. Sonntag, 19. also reisten Mutter und ich ab, trafen in Pößneck Gotthard, den glücklichen Bräutigam und in Rothenkirchen Jörge, der in Örlsdorf gejagt hatte. Gotthard war liebenswürdig und gesprächig und sieht jetzt, wo er schlanker ist und in neuen guten Kleidern steckt, wirklich auffallend hübsch und stattlich aus, während sie doch recht alt, blaß und verblüht ausschaut. Wir wohnten alle drei in Wernstein im unteren Schloß bei Karl und Bessie, wo außer uns die Eyrichshöfer mit Manna, Siegmund und Johanna aus München logierten. Dieser lustige, nette Verkehr im Hause war der hübscheste Teil der Hochzeit, denn das Fest als solches war durch die Trauer⁹² und den kleinen Kreis der Gäste still und etwas öde. Ich freute mich aufrichtig, Manna als Braut zu sehen; sie war im Gegensatz zu Gerta, die ihre bräutlichen Gefühle wie ein Heiligtum, zu schön um der Menge gezeigt zu werden, in ihr Herz verschloß, übersprudelnd und mitteilsam in ihrem Glück. Gertas Gebaren war viel tiefer und mir sympathischer, aber Manna ist nun mal solch offener, kindlicher Charakter, daß man sich doch mit ihr und über sie freuen muß. Alle Moment sagte sie: „Ich bin ja so glücklich!“ „Ihr ahnt gar nicht, was der Detlef für ein herrlicher Mensch ist“; jeder Brief rief einen allgemeinen Sturm hervor und als Jörge beim Thee den Namen des „Einzigen“ in Biskuits vor sie hinlegte, fiel sie ihm fast um den Hals. Sie möchte fast die ganze Welt umarmen; es war mir etwas Angst, ob solch demonstrative Gefühle nur Stand halten werden, ob sie sich, wenn sie abkühlen, wie sie es ja müssen, in die rechten Bahnen wahrer treuer Liebe lenken lassen werden! Doch habe ich den Eindruck, daß sie nicht oberflächlich wählte und daß er sich in der ganzen Sache durchaus ehrenhaft und nobel benommen hat. Am ersten Abend erzählte sie mir die ganze Liebesgeschichte vom Ururanfang bis zum „Ja“ in allen détails, was mir sehr interessant war. Am nächsten Morgen fuhr ich mit ihr, der netten Johanna und Sigmund nach Schmeilsdorf, wo wir unter großem Geschrei von Marie und Julie und endlosen Streitereien eine mißlungene Probe hielten. Wir vier Komödianten kennen uns jetzt so gut, daß wir uns immer herrlich unterhalten. In Wernstein brachten wir den übrigen Tag mit dem Essen, Kaffee und endlosem Thee zu, bis wir um acht Uhr zum

92 Der Brautvater, Gustav Freiherr von Künßberg, war am 27. April 1895 gestorben.

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Polterabend fuhren. Nach langem Umhersitzen kam ein Fackelzug, Reden, Böller, Feuerwerk etc. Nach dem Souper begannen die Aufführungen, die besser ausfielen, als wir erwartet hatten. Manna als Flur und Siegmund als Wald spielten ausgezeichnet. Johanna und ich als Gerechtigkeit und Liebe wirkten dekorativ, da wir wenig zu sagen hatten und die dumme Scene zwischen mir (als Illa) und Heinrich (als Gotthard) hatte zu unserem Erstaunen großen Beifall. Die Hochzeitsgesellschaft war folgende: Die Ahorner mit Marie, Karl und Alla, Tante Anna Künßberg, Frau von Uttenhoven, Frau von Schultes mit schrecklicher Tochter, Frl. Lenz, Julie Guttenberg und Marie Aufseß, Frau von Dungern mit Tochter, ein Herr Benecke mit wunderschöner Frau und wir Wernsteiner. Da großer Mangel an jungen Mädchen war, wurde mir natürlich auf Tod und Leben vom Eyrichshöfer, vom Euberlein, selbst vom guten Onkel Eduard die Cour gemacht. Letzterer nahm mich zuletzt in seine Arme und sagte ganz gerührt: „Mein Schatzkäfer“! Für ihn, bei dem schon „Freche Ziege“ ein hohes Lob ist, kann dies als sehr großes Kompliment gelten. Am Hochzeitsmorgen mußten wir den Pferden Bänder in die Mähnen flechten, bis wir um ein Uhr zur Kirche fuhren. Die Feier war sehr erhebend und als die zwei geprüften Menschenkinder, nach jahrelangem Hangen und Bangen das „Ja“ sprachen, seufzte wohl Alles erleichtert und dankbar auf, sie beide gewiß am meisten. Möge Gott ihr treues Lieben segnen und ihn gesund erhalten. Mein Brautführer war Heinrich, ein netter, stiller Mensch, mit dem ich mich gut unterhielt. Der Eyrichshöfer und die drei Erffas sprachen gut, die übrigen schwach und der arme Karl Künßberg verhedderte sich in jedem Satz dermaßen, daß er zuletzt nicht aus noch ein wußte, mit der Faust auf den Tisch schlug und als das nicht half, sich wie ein gebrochener Mann an die Wand lehnte. Es war zum Lachen und Weinen zugleich… Nun hätte das Fest bald aus sein müssen, denn die lange Zeit bis 11 Uhr, ohne Tanzen, nur mit Herumstehen anfüllen zu müssen, war etwas geisttötend, besonders, da nach und nach alles abreiste und nur wir mit Künßbergs und den alten Tanten zurückblieben. Am anderen Morgen machten wir noch einen eintägigen Abstecher nach Bayreuth zu Tante Marie, um ihr brühwarm alles zu berichten. Sie hat eine wunderhübsche, große Wohnung mit herrlichen Pastellbildern und war sehr lieb und gemütlich; doch ließen wir uns nicht länger halten, da wir Bibs allein hier wußten. – Nun muß ich doch auch ein Urteil über Karls Frau, über die berühmte Bessie, geb. Lerchenfeld, abgeben: Sie ist eine vortreffliche, elegante, rührige Frau, die einen tüchtigen Schneid hat und in die Künßbergsche Lahmheit ein frisches Leben hineinbringt; sie ist eine gute, sorgsame Mutter und eine liebenswürdige aufmerksame Wirtin, aber sonst – finde ich sie ganz schrecklich. Nicht nur ist sie im höchsten Maß lieblos und abscheulich gegen ihres Mannes Mutter und Familie, egoistisch und rücksichtslos gegen alle, herrisch mit den Leuten, tyrannisch gegen Karl, sondern sie ist in Ton und Wesen so gewöhnlich und unweiblich, wie es, glaube ich, nicht schlimmer sein kann. Sie spricht Sachen vor uns jungen Mädchen und Herren, die

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ich nicht einmal meiner Mutter wiederholen mag und sucht etwas in den gemeinsten Unanständigkeiten. Es ging so weit, daß es selbst dem Eyrichshöfer zu stark wurde und er ihr Bescheid sagte und das will viel heißen. Eine Entschuldigung ist, daß ihre Mutter verrückt ist und das Kind im Stall aufwachsen ließ, aber unentschuldbar scheint mir Karl, der in anderen Anschauungen groß geworden und gut erzogen, nicht nur alles zuläßt, sondern gar noch bewundert und mittut. Er ist ein solcher Jammerlappen geworden, daß man ihn nur beklagen kann. Hier zurückgekehrt fanden wir eine sehr verlockende Einladung für mich vor. Onkel Cäsar Hofacker, der seit einiger Zeit herzleidend ist, geht am 1. Mai auf vier Wochen mit Tante und Eva nach Nauheim und will mich auch noch dort haben, teils zu seiner Erheiterung, teils zu Evas Gesellschaft. Ich freue mich natürlich sehr auf das Zusammenleben mit Hofackers und das gewiß abwechslungsvolle Leben im schönen Taunus, doch wird es mir natürlich schwer, jetzt von hier fortzugehen; ich habe das Gefühl, das ganze Jahr immerzu auf Reisen gewesen zu sein und hier noch nicht heimisch und behaglich zu sein. Da wir noch gar keine Sommerkleider bereit haben, gibt es nun eine großartige Hetzerei, gar nicht mein Fall; bis zum zweiten, wo ich reise, muß alles fix und fertig sein. Sonntag, 10. Mai. Der Mensch denkt – Gott lenkt! Ich hatte am 1. Mai alles fix und fertig gepackt, da ich den anderen Morgen um 5 Uhr abdampfen wollte, als ich ein Telegramm aus Ludwigsburg erhielt, nicht zu reisen. Onkel, der sich ganz wohl fühlte, war am letzten Mai zu Eberhards gegangen, um seinen kleinen Enkel Cäsar mit zu taufen. Er war auch ganz frisch und vergnügt, bekam aber in der Nacht Herzkrämpfe und liegt jetzt seitdem krank darnieder. Die arme Tante ist sehr besorgt, wenn auch der vortreffliche Arzt Zeller sie stets beruhigt und sich viel von Nauheim verspricht. Außerdem leiden sie darunter, zu Gast zu sein in dieser Zeit, denn selbst, wenn es bei den eigenen Kindern ist und ja sich glänzend bewährt, haben sie in der kleinen Offiziersmenage doch nicht ihre gewohnte Behaglichkeit. Ich warte hier ruhig das Weitere ab. Wir hatten den kurzen aber netten Besuch von Marie Erffa, mit der wir die ganze Hochzeit nochmal durchsprachen. Montag. Heute lauten die Nachrichten von Onkel weniger gut: Der Arzt glaubt, daß vor dem Herbst Nauheim nicht möglich sei. Daher entschloß ich mich schnell, morgen früh um halb fünf Uhr nach Lauchröden zu reisen. Übermorgen reisen Mutter und Bibs nach Roßleben zu Burkharts Konfirmation, an der ich nun aus Platzmangel nicht werde teilnehmen können. Freitag, den 15. Mai. Lauchröden. Das Wetter ist kalt und gar nicht maienhaft, ich werde mich in mein Plaid wickeln und die ersten sonnigen, sommerlichen Tage hier beschreiben. Vielleicht, daß mich

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das erwärmt! Den Tag meiner Ankunft, der, weil so früh begonnen, endlos lang und inhaltsreich war, machten wir eine herrliche Fahrt nach der Stoppelskuppe, wo wir im Freien zu Abend aßen. Rotenhans hatten Oberförsters dazu geladen und dieselben hoch beglückt dadurch. Die Frau macht einen feinen, natürlichen Eindruck, er ist mir mit seinen Berliner Witzen weniger sympathisch, doch störten sie beide nicht unseren Genuß von der schönen Natur und das, finde ich, kennzeichnet sie als Gebildete. Ungebildete oder vielmehr unfeine Menschen kann man allenfalls im Salon ertragen, dem zwanglosen Verkehr draußen rauben sie jeglichen Charme. Am Mittwoch machten wir mit Wisa, die in Neuenhof zu Besuch ist, eine wundervolle Tour auf den Kühlforst, von dem man einen weiten Blick ins Werratal genießt. Neuenhof zu Füßen, links die Brandenburg, rechts die Wartburg und dazwischen das zarteste, frischeste junge Buchengrün, das wie Gold im Sonnenschein glänzte, – es war einzig schön! – In Neuenhof, wo wir den Abend verlebten, war es harmonisch, fröhlich und gemütlich wie immer. Heute und gestern sind stille Tage, die wir zu häuslichen Arbeiten benutzten und viel unseres lieben Konfirmanden gedachten. Donnerstag, den 21. Mai. Es ist hier so viel los – der reine Karneval – daß ich, wenn ich nicht chronologisch einen Tag nach dem anderen erzähle, niemals ins Reine komme. Am Sonnabend kamen die Neuenhöfer und Alex Boineburgks zum Kaffee. Frau von Boyneburgk bereitete mir eine große Enttäuschung: Ich hatte sie als hübsch, elegant, graziös nennen hören und fiel fast auf den Rücken, als ich eine kleine, untersetzte, recht gewöhnlich aussehende Jüdin vor mir sah, die zwar modern aber mauvais-genre angezogen war und sich nicht die Spur gewandt benahm. Sie soll außerordentlich begabt sein für Musik und Kunst überhaupt, ist aber daneben eine schlechte Hausfrau und Mutter und machte mir gar keinen sympathischen Eindruck. Hermann streicht sie nach Kräften heraus – aus Widerspruch wohl – und stellt sie sogar Mag zum Vorbild hin, als ob diese nicht zehn Mal klüger, hübscher und tüchtiger wäre! Das hat mich ganz erbost! – Am Sonntag waren wir in Neuenhof und sollten am Montag zum Souper wieder hin. Ich war schon am Nachmittag mit Wisa heruntergefahren; die Geschwister sollten später nachfolgen. Wer beschreibt meinen Schrecken, als stattdessen Ernst mit käseweißem Gesicht sich hinter meinen Stuhl stellt und feierlich meldet: „Herr Baron aus Lauchröden ist draußen und muß gnädiges Fräulein schnell einen Moment sprechen“. Alles, was ich je an Unglücksfällen gehört, Feuer, Krankheit, Pferdeunglück etc. schoß mir durch den Kopf und dann war es weiter nichts als ein Kopfweh von Mag, das sie am Kommen verhinderte. Ernst hatte sich auch entsetzt, wie er Hermann allein kommen sah und hatte uns dummerweise seine Angst allen mitgeteilt. Viel Lärm um Nichts. Ich hatte einen gemütlichen Abend, besonders mit Linchen, übernachtete dort und ging am anderen Morgen nach Lauchröden zurück. Hier fand ich reizende

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Briefe von Mutter und Rudi vor mit dem noch reizenderen Plan, daß Sabine von Furra,⁹³ Jörge von Göttingen, die Buben von Roßleben, alle hierherkommen und wir sieben Geschwister vereint das Pfingstfest hier feiern sollen. Ich freue mich unbeschreiblich darauf, wenn ich auch die Eltern noch gern dazu wünschte. Sie werden, da Vater der Tierschau wegen nicht abkommen kann, einen verspäteten honey-moon [sic] in Wernburg feiern und freuen sich beide der Aussicht. Es ist wunderhübsch und gemütlich hier; Margarethe hat zwar rechtschaffen zu arbeiten, da sie außer einem Mädchen nur den unfähigen Ferdinand hat, aber doch findet sich manch gemütliches Plauderstündchen. Heute waren wir zum Familiendiner auf dem Pflugensberg⁹⁴ mit den Neuenhöfern, Eichels, Boineburgks etc. Schloß und Garten sind wahrhaft entzückend; das Schloß verschwand halb unter einem Wall blühender Rhododendren und Rosen und Beete waren herrlich gehalten. Hedwig Eichel wird trotz ihrer 21 Jahre noch so geschulmeistert und bemuttert, daß sie sich noch nicht zu einem selbständigen, urteilenden Menschen bilden konnte. Sie wird auch sehr verwöhnt, bekommt jeden Wunsch erfüllt und führt ein Götterleben, aber trotzdem möchte ich nicht mit ihr tauschen. Ich glaube, ich käme um, wenn ich in solch engen Schranken gehalten würde, wenn ich mich jedes eigenen Urteils enthalten müßte und nie selbständig handeln dürfte. Benno Herman sagt stets, wir könnten nicht dankbar genug sein für unsere freie Erziehung und seit heute ward mir ganz klar, was er damit meint. Der gute Benno! Er schrieb mir neulich einen interessanten Brief voll Begeisterung über die amerikanischen Verhältnisse aus Washington. Er ist besonders entzückt von dem freien Verkehr und dem natürlichen guten Ton der vornehmen Amerikanerinnen; dabei vermißt er aber als echter Deutscher eine gewisse Sentimentalität und Romantik, kurz, er ist wie immer schwankend – der echte alte Benno! Donnerstag, 28. Mai. Pfingsten ist vorüber, lieblicher und schöner als je. Nach und nach kamen die Geschwister an, Jörge mit einem häßlichen, aber unbedeutenden Schmiß, die Brüder verbrannt und groß. Es war ein stolzes Gefühl, durch Masse zu wirken und als wir am Heiligen Abend⁹⁵ vom Wald zurückkehrten, mit Maien reich beladen, und als lange Erffa′sche Kette die Lauchröder Hauptstraße sperrten, freuten sich nicht nur wir selbst, sondern die ganzen Dorfbewohner mit uns. Am ersten Feiertag waren wir in Neuenhof vom frühen Morgen an, hörten eine begeisterte Pfingstpredigt von Palmer, aßen an langer Tafel und tranken im Wald Kaffee. In Neuenhof waren Herr und Frau von Müffling mit drei Kindern, Clemens

93 Burg Furra bei Sondershausen, im Besitz der Familie von Wurmb. 94 1889 – 1892 für Friedrich Eduard von Eichel-Streiber gebautes Schloss. 95 Gemeint ist wohl der Vorabend von Pfingsten.

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Bibra, Mimi Bodemer, Georg und Wisa, ein Graf und eine kleine Bernstorff, Mariechen Eichel mit drei Kindern, drei Pflugensberger etc. etc. zu Besuch, sodaß wir 33 Personen waren. Ich hätte es mehr genossen, wenn ich nicht Kopfweh gehabt hätte, das sich bei dem Trubel noch steigerte. Am zweiten Feiertag hatten wir sieben ein kleines Diner mit Sekt, Toasten und besten Moccatassen; am Abend kam die ganze Neuenhöfer Gesellschaft zu Thee und kaltem Abendbrot zu uns. Sehr lustig! Morgen wollen wir nach Haus zu unseren einsamen Eltern zurück; die Brüder reisten schon Dienstag, Jörge allein, der natürlich nie etwas zu tun hat, bleibt länger. Außer einem netten Besuch bei dem reizenden Linchen waren wir einige Male in Neuenhof. Heute, als wir Adieu sagten, war es besonders friedlich und hübsch; es ist ein Asyl und Hafen für die ganze große Familie, weshalb es auch nie besuchsfrei ist. Von Onkel Cäsar lauten die Nachrichten besser; sie scheinen neuen Mut zu schöpfen und hoffen das Beste von Nauheim! Dienstag, den 2ten Juni Wir sind ganz vernichtet und tief, tief betrübt. Am Donnerstag, 28. Mai starb unser geliebter Onkel Cäsar. Nachdem es ihm in den letzten Tagen besser ging, starb er ganz plötzlich, ohne Kampf oder Schmerzen. Tante hörte plötzlich ein Rauschen, „als wenn die Lauter rauschte“, beugte sich über ihn – da war es schon zu Ende: Das Blut war in die Lunge gedrungen. Gott sei Dank, daß er es so rasch machte, denn gerade Onkel in seiner Individualität hätte durch ein berufsloses Leben, wie sein Herzleiden es jedenfalls gefordert hätte, durch ein langsames Hinsiechen namenlos gelitten. Ich kann es gar nicht fassen, daß er nicht mehr lebt; ich habe von letztem Herbst noch solch lebensvollen Eindruck von ihm, wie er fröhlich, jugendfrisch, tätig und geistsprühend in seinem Kreise war, wie er in den gelben hohen Wallensteinerstiefeln, dem Leinwandkittel und dem Tropenhelm durch seine Ställe trabte und kommandierte, nicht wie ein 65er, sondern wie ein 50er in seinem Gang und Wesen. Er war mit seinem klaren praktischen Verstand, seiner Treue und Zuverlässigkeit, seiner Großartigkeit, der Senior, Rat, Helfer und Mittelpunkt der Familie und wir erkennen täglich mehr, was wir an ihm verlieren. Onkel Axels Persönlichkeit ist so gar nicht dazu angetan, ihn zu ersetzen. Die arme Tante, die unglaublicherweise schon am 12. Juli heraus muß, macht furchtbar durch. Dieses vollständige Loslösen von einem Ort, der einem in 29 Jahren wie zur Heimat geworden, von der herrlichen Natur, von so vielen lieben Menschen, von Onkels großer Arbeit – ich denke es mir unsagbar schwer. Und so ganz ohne bestimmte, gewisse Pläne, ohne gegebene Verhältnisse sich mit 60 Jahren ein neues home gründen zu müssen – entsetzlich! Bei unserer Rückkehr von Lauchröden empfing uns der Vater mit der Trauernachricht. Er reiste in der Nacht nach Marbach, blieb mit Lothar den Sonntag dort und kehrte gestern abend zurück. Die Beteiligung war groß, nur der unglaubliche

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Hof glänzte wieder mal durch Abwesenheit, die kleine Familie, auch Sara, vollzählig versammelt und die Feier sehr erhebend schön. Sechs schwarze Hengste zogen den Wagen, Onkels gesatteltes und gezäumtes Pferd wurde hinterhergeführt, 50 Reitknechte in Gala folgten; die ganzen Alb-Bewohner sind tief mitbetroffen. Onkel blieb bis zum letzten Moment seiner Originalität treu; er sagte unter anderem: „Begrabt mich nur in Marbach; ich mag den Kriegervereinen dort ihren Spaß nicht verderben!“ und ein andermal: „Begrabt mich um halb vier Uhr; die Stuttgarter können dann um drei Uhr kommen und um fünf Uhr wieder fahren; dann hast du sie vom Hals, Änne, ehe sie sich betrinken!“ Ein anderer Todesfall, der mir furchtbar nahe geht, ist der des jungen Grafen Holstein, eines unserer Haupttänzer. Er war diesen Winter noch so blühend und frisch, voll Leben und Fröhlichkeit und starb nun an Magengeschwüren binnen einiger Wochen. Er war der einzige Sohn und Erbe und der alte 70jährige Graf verliert in ihm sein Ein und Alles. Er war ein selten netter Mensch, ein Sonntagskind, wie man ihm selten auf der alltäglichen Lebensstraße begegnet, klug, voll Frohsinn und Herzensfreundlichkeit, und – eine Seltenheit bei ganz jungen Menschen – kindlich, harmlos vergnügt, ohne albern zu sein. Es ist mir wahrhaft ein Schmerz, daß ich dies herrliche Lachen nicht mehr hören soll und ich kann nachfühlen, was seine Familie an ihm verliert. Dienstag, den 9. Juni. Rudi feierte seinen Geburtstag zum ersten Mal fern der Heimat: da wurden Fressalien die Menge, Schlipse, Briefe etc. hingeschickt. Selbst Müffle mußte sich zu einem gereimten Brief aufschwingen. – Wir hatten trotz der Trauer manchen Gast, Dorothee Trautvetter und Frl. von Jasmund, Hofdame der Prinzessin Friedrich Karl von Hessen. Letztere ist ein interessantes, bedeutendes, aber sehr merkwürdiges Mädchen, ein wandelndes Rätsel für mich. Nur das kann ich entdecken, daß sie unglücklich und unbefriedigt ist. Außerdem kamen Tante Linchen, Tante Anna und Marie Künßberg. Letztere blieb länger hier und war gemütlich und, besonders, wenn sie auf alte Tage zu sprechen kam, gesprächig und heiter. Montag, 15. Wir sind wieder allein, da der arme Vater noch im heißen Berlin sitzen muß. Das Wetter ist einfach himmlisch und die Pfingstrosen, Goldregen und Fliederblüte war berückend schön. Mutter und ich landschafteten mit Eifer, wir saßen und sitzen fast immer im Grünen. Dazwischen gab′s schwere Gewitter: es schlug fünf Mal hintereinander ins Dorf ein und es war eine gnädige Fügung, daß es keinmal zündete und kein Menschenleben zu beklagen ist. Wir waren uns der Schwere des Gewitters kaum bewußt geworden, hatten wenigstens unser Frühstück kaum unterbrochen und die Blitze sehr bewundert.

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In der Bodelwitzer Kirche ward die Orgel zertrümmert und der Dachstuhl beschädigt, aber auch ohne Feuer. 19. Juni 1896. Gestern machten wir mit Mutter die Hochzeit von Anna Albert mit dem Kantor Rudolf mit und dieselbe war so hübsch und lustig, daß ich sie lieber gleich festhalten will. Der Vormittag war glühend heiß gewesen, um ein Uhr zog ein schwarzes Wetter herauf und um zwei, gerade als die Sache losgehen sollte, begann es zu schütten. Zwar hieß es gleich, daß es Glück bedeute, wenn es der Braut in den Kranz regnete, aber es gibt doch auch Fälle, wo das Glück zu dick kommt. Mit mehr oder minder schönen Schirmen setzte sich der Zug in Bewegung: zuerst das junge Paar, Anna frisch und hübsch im schwarzseidenen Kleid und grünen Kranz, er im neuen Zylinder und strahlend-weißen Glacées,⁹⁶ Herr Albert mit der Mutter, Brautjungfern und Brautführer, dann das übrige Volk. Die Feier war schön, die Emporen zum Brechen voll. Lächerlich war mir Frieda Albert, die den Arm ihres Brautführers selbst am Altar fest umklammert hielt, sodaß der Unglücksmensch, wenn sie an rührenden Stellen der Predigt das Taschentuch gebrauchte, bei jedem Schnupfer in die Höhe gerissen ward. Nach der Gratulation etablierte man sich an langen Tischen auf der offenen Veranda, ditschte nach Kräften Kaffee und Kuchen und unterhielt sich zwanglos und lustig. Die großen schönen Räume, die Möglichkeit, beim Regen im Freien zu sitzen, machten das Fest zwanglos und das lange Sitzen nicht zu ermüdend. Im Ganzen waren es 54 Personen u. a. Knauers, Superintendents, Flecks, Schulzens, Hölzers etc. Man setzte sich nach Alter und Lust in Gruppen zusammen, kegelte, ging ins „Rosenthal“ und stand umher. Im Park wurden wir von einem neuen Guß überrascht, flüchteten ins Schloß, wo die Mutter den entzückten Weibern sehr freundlich die honneurs der Zimmer, Saal, Salon etc. machte. Gegen sechs Uhr ward an langer Hufeisentafel gegessen; wir zwei setzten uns mit den jungen Hölzers, Alberts und Flecks zusammen; von bunter Reihe war glücklicherweise nicht die Rede. Es gab wie üblich Karpfen, Rinderbraten mit Salat und Hölperle,⁹⁷ Käse und Butter; von Frau Fiedler, dem Maurer Weise und dem schrecklichen Briefträger Sonne, Müffles ganzer Renonce, serviert. Die Kunstpausen wurden mit Kunst, d. h. mit Aufführungen der Kinder und Mädchen ausgefüllt. Da jedes derselben ein oder mehrere „Sprücheln“ sagte, waren es ca. zwanzig Aufführungen, die der kleinen Kinder allerdings meist unverständlich, leierorgelhaft. Dagegen waren wir überrascht, wie ausgezeichnet, echt und natürlich die älteren Mädchen spielten: Lydia als Quirlfrau vom Thüringer Wald im Bauernkostüm war ganz brillant, Olga als Zigeunerin mit Burkharts Indianerschmuck,

96 Handschuhe. 97 Preiselbeerkonfitüre.

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bildhübsch und echt gewandt, Lydia und Selma Günther als alte Jungfern sehr spaßig. Erstere trug dazu einen von uns geborgten grünen Federnhut, den seiner Zeit die Großmutter Varnbüler als junge Frau in Paris für teures Geld als de la dernière mode kaufte. Tempora mutantur! Die Aufführungen waren viel besser als die z. B. der Rudolstädter, weil die Mädchen hier ganz ohne Kniffe, ungekünstelt, frisch von der Leber weg, sprachen und dabei mit ihren hellen Köpfen die Rollen ganz erfaßt hatten. Um neun Uhr gingen wir heim, ganz erfüllt davon, wie hübsch, harmonisch und anständig es von A-Z gewesen war: Man hörte kein unfeines Wort, keinen derben Witz, selbst die Aufführungen erwiesen sich nicht als Klippe, alles war harmlos fröhlich und anständig. Allerdings waren es lauter Bauern und die Crème des Dorfes, aber wie viele der sogenannten Gebildeten schlagen über die Stränge, wenn sie von zwei bis neun Uhr feiern und trinken! Den 10ten September 96 Der Sommer zog vorbei, ohne daß man sich seiner bewußt ward. Jetzt fallen die ersten Blätter und mit Trübsinn zählen wir, daß wir nur ein einziges Mal bis 10 Uhr im Freien sitzen konnten. Dazwischen gab es ja auch heiße Stunden, aber ich sehnte mich oft nach mehr Hitze. Wir blieben bis jetzt alle still zusammen und hatten manch liebe Gäste; ich nenne Gotthard mit Illa, ein seltsam stilles, wenig ergiebiges Paar, Anni Imhoff, Onkel Max Butler, Emmy Speßhardt, Beulwitzens, der gute alte Winsloe, unser aller Schwarm und Freund, Oleg Herman, der uns allen einen sehr guten Eindruck machte, Rotenhans und andere mehr. Sabine hatte eine junge Künstlerin, Frl. Rapp, ein sympathisches und anregendes Mädchen auf sechs Wochen hier und machte unter ihrer Leitung große Fortschritte. Es machte uns allen großen Spaß unter ihrer Kohle die alten Gesichter unserer Freunde im Dorf, der alten Hölzern, Frau Höfer, Schuster Heidrich, Erfurt, Frau Fiedler etc. entstehen zu sehen. Daneben hatten wir auch „Wohltats-Besuch“, nämlich unser troddelhaftes Edelweiß und die Gesellschafterin, die Großmutter aushilfsweise hatte, eine Frau Leutnant Pfitzner. Letztere ist ein wahrhaft bedauernswertes Wesen; durch fremdes Verschulden verarmt, mußte ihr Mann den Dienst quittieren und suchen sich beide Gatten jetzt getrennt ihren Lebensunterhalt zu verdienen, was bei ihrer Unerfahrenheit und Untüchtigkeit hartes Brot ist. Ich bedauere sie von Herzen und würde das noch mehr tun, wenn die kleine Frau etwas klüger und sympathischer in ihrem Wesen wäre. Sie machte uns in den vierzehn Tagen ihres Hierseins das Leben allen zur Last durch ihre Dummheit, Redseligkeit und Taktlosigkeit. Wohl hatte sie den besten Willen, lieb und hilfreich zu sein, fing dies aber so ungeschickt an, daß sie uns allen auf die Nerven ging und Vater wirklich unter ihr litt. Aber trotz alledem ist sie eine tapfere kleine Person, die ihr großes Unglück klaglos und mutig trägt. Wie merkwürdig, daß solch Unglück den Menschen nicht großartiger macht

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und die kleinlichen Schwächen mit fortfegt! Oder verändert man sich im Großen leichter als in diesen kleinen Menschlichkeiten? Die Ferien der Buben wurden zu etlichen Partieen ausgenutzt: nach Dittersdorf, wo wir in dem lieben Pfarrhaus mit der alten Liebe aufgenommen, nach Ziegenrück, wo wir ein von 2 – 8 Uhr dauerndes, sehr langweiliges Missionsfest mitmachten, nach der Fröhlichen Wiederkunft,⁹⁸ die wir durch einen ergiebigen Landregen nicht vor Abend verlassen konnten. Einmal kamen Herzog und Herzogin zum Thee und einmal aßen wir in ganz kleinem Kreis in des Herzogs Privatzimmer, da die Herzogin nicht wohl genug war, uns zu sehen. Jörge ist trotz seiner Ruhe ein anregendes Element im Hause; er leistet riesig viel, läuft tagelang im Wald herum und langt nebenher in der Ernte zu, baut Feimen⁹⁹ und hilft überall, was ihn in der Meinung unserer Leute natürlich sehr hebt. Es ist uns doch wehmütig, daß dies Jahr unsere letzte Ernte sein wird. Vater hat nämlich Wernburg für zwölf Jahre, vom 1. Juli 1897 an, an den bisherigen Pächter von Brandenstein, Schnorr, verpachtet. Es war ein schwerer Schritt, der aber durch die Pensionierung des alten Knauer geboten war. Der junge Knauer muß seinen Vater im Wald, dem bedeutend wertvolleren Objekt, ersetzen und mit einem neuen Inspektor zu wirtschaften, ist bei Vaters Abwesenheiten ausgeschlossen. So kam die Sache von selbst beinahe; Schnorr meldete sich und wurde einig mit dem Vater. Es sind einfache Leute, rechte Arbeiter, die uns von allen Seiten als ordentlich, gutmütig und fleißig geschildert werden; aber trotzdem ist es ein Entschluß, besonders für Vater, auf dem eigenen Hof nichts mehr sagen zu dürfen. Kommt Zeit – kommt Rat! Wir haben uns ja auch bis jetzt nicht im détail um die Wirtschaft gekümmert! Den 4. Oktober 1896 Gestern bin ich von Mannas Hochzeit zurückgekehrt. Sie war die schönste, die ich je mitmachte und mitmachen werde. Ich habe mich auf anderen z. B. Gertas noch besser amüsiert, aber unerreicht als schönes, glänzendes Fest steht mir dies letzte vor Augen. Ich reiste am 24.9. schon nach Mahren,¹⁰⁰ wo ich einige gemütliche, nette Tage verlebte. Die Verwandten lieben mich sehr; Karl und die Cousinen vergöttern mich ja auf lächerliche Weise und ich bin menschlich genug, daß mir das eine angenehme Sensation ist: Es ist herrlich, geliebt zu werden. Aber trotzdem würde ich mich auf die Dauer in Ahorn langweilen. Die Verwandten haben einen winzigen Horizont und haben denselben merkwürdigerweise gar nicht in der Welt erweitert. Ich hätte bei längerem Besuch stets die Angst, bei der Konversation an einen Punkt

98 Um 1550 erbautes Jagdschloß von Kurfürst Johann Friedrich I. von Sachsen. 99 Großer, im Freien aufgeschichteter Heu –, Stroh – oder Getreidehaufen. 100 Ahorn, Schloss des älteren Bruders Eduard ihres Vaters.

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zu kommen, wo man sich die Stirne anrennt und sich sagt: Hier geht′s nicht weiter. Und diese stille Angst vor der Langeweile geht zwar nicht in Erfüllung, aber sie verfolgt mich bei den Mahrenern wie ein Gespenst. Reizend waren die drei kleinen Mädchen von Hans Erffa, die unter der guten Lene Obhut zu Besuch waren. Ich spielte mit ihnen von früh bis spät und ward nicht müde, mich an ihnen zu freuen. Im Übrigen machten wir Spaziergänge, gingen nach Coburg in den „Tannhäuser“, besuchten den guten Carl etc. etc., bis ich Montag um 12 nach Eyrichshof abdampfte. In Bamberg stieg ich zu Schenks aus Berlin in den Wagen, erkannte sie aber nicht und sie, die mich von Berlin her gut kannten, waren so steif, mich nicht anzureden. Die langweilige Eisenbahnfahrt saßen wir uns stumm gegenüber. Das bringen auch nur Norddeutsche fertig! In Eyrichshof vom Brautpaar und einer Menge Menschen empfangen, ging ich sofort in Costüm – und anderen Proben unter. Ich wohnte mit Emmy Roth zusammen, daneben fünf andere Mädchen. Das Durcheinander war derartig, daß ich nicht wußte, wo mir der Kopf saß. Ehe ich einen Bissen zu mir genommen hatte, mußte ich mein Kostüm probieren, eine Sprechprobe mitmachen und einen Tanz lernen. Ich freute mich sehr, so viele nette Menschen wiederzusehen und alle waren von der größten Herzlichkeit mit mir. Um sieben Uhr war großes Künstleressen zu dreißig Personen, wo mich der herzige kleine Siegfried führte und in seiner netten Fähnrichsart (wenn er das wüßte, der kleine Leutnant!) Süßholz raspelte, daß ich Thränen lachte. Nach Tisch probten wir unausgesetzt bis gegen halb ein Uhr, wobei ich Gelegenheit hatte, Frau von Rotenhans superbe Kritik zu bewundern. Sie sagte stets das rechte Wort, tadelte unerbittlich und ausnahmslos, aber lobte auch, wo zu loben war. Nach einem Thee im Mädchenheim, der durch eine Serenade vor den Fenstern versüßt wurde, sanken wir zu Bett. An Schlafen war nicht zu denken, da einige der Mädchen „Erlebnisse“ erzählten. Es ist das eine Passion, die ich nicht begreifen kann und die mich auch an Emmy Roth zur Verzweiflung brachte. Was hat es für Sinn, anderen Mädchen seine Courmachereien, alle Komplimente und Lobsprüche, die man erhalten, haarklein zu erzählen. Intime Freundinnen interessiert das allenfalls, andere aber langweilt oder ärgert es, oder, was meist der Fall, sie lachen einen heimlich aus über so viel Eitelkeit und Einbildung. – Am nächsten Morgen machte ich mit Gerta sechs Guirlanden und freute mich, mit ihr einen gemütlichen Schwatz zu haben. Sie ist als Frau schlanker, schöner und noch viel liebreizender geworden und macht einen sehr befriedigten, glücklichen Eindruck. Sie ist sehr begeistert von ihrem „Kurtel“¹⁰¹ und ich muß sagen, mit vollem Recht. Selten habe ich einen sympathischeren Mann gesehen, was Äußeres, Wesen, Un-

101 Kurt von Willich (1860 – 1903) hatte 1895 Gertrud Freiin von Rotenhan aus Eyrichshof geheiratet.

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terhaltung und Temperament betrifft. Nach und nach kamen die Gäste an, ich nähte mit Frau von Mumms Hilfe mein Costüm zurecht, wir probten den Tanz; endlich um 1 Uhr fuhren wir mit wenig Ausnahmen zum Diner nach Rentweinsdorf.¹⁰² Die Auffahrt in sieben Wagen, das Brautpaar im ersten, machte sich auf der herrschaftlichen Rampe in Rentweinsdorf sehr stolz und fein, das Essen an großer Hufeisentafel war sehr animiert und lustig. Der Hausherr befahl, es sollten nur zwei Reden gehalten werden, aber da er selbst deren vier hielt, so taten sich auch die anderen Rotenhans eine Güte an. Zurückgekehrt, warfen wir uns sämtlich in Altdeutsch und versammelten uns im Hausehren.¹⁰³ Die Grundidee war, daß der Polterabend, dem Stil des Schlosses entsprechend, ganz den Charakter einer Hochzeit im Mittelalter tragen sollte und dieser Gedanke war so einheitlich, mit so viel Treue, so viel feinem künstlerischen Verständnis, ich möchte fast sagen – mit so viel Liebe bis ins kleinste détail durchgeführt worden, daß der Totaleindruck ein überwiegend schöner und großartiger war. Auf dem großen Schloßboden, einem ungedielten, ganz rohen Raum, war eine mittelalterliche „Festwiese“, eine Art Vogelschießen entstanden, wie sie lustiger und abwechslungsvoller nicht gedacht werden kann. Und das alles war von den Eyrichshöfern, besonders aber von Niemeyer und Siegmund mit Hilfe einiger Schreiner aus alten Brettern, Pappe, Säulen, Kulissen und Lappen zurechtgeleimt, genagelt und gemalt worden. Man staunte über die Fülle der Gedanken. Rechts von dem mit Bannern geschmückten Eingang saßen die altdeutschen Pfeifer mit ihren Fanfaren und Trommeln. In der nächsten Ecke lockte das Zeichen zum „Roten Hahn“ in eine urgemütliche kleine Wirtschaft mit Kachelofen und Ofenbank, in der Oberst Rotenhan mit Samtkappe und Lederschurz, Frau Cécile mit großer Haube und Schlüsselbund Punsch und Butterbrezen verzapften. Unter einer langen grünen Gitterlaube, die von rotem wilden Wein umrankt war, kam man an die Kellerei, allwo ein Braumeister unter seinen Fässern Rentweinsdorfer Bieres thronte. In seinem kleinen Schreiberstand, zwischen alten Folianten und Mappen, saß daneben der Stadtschreiber, Herr von Kühlmann, in steifer Halskrause und Hornbrille. Am hübschesten war wohl das Zigeunerlager unter der alten Dorflinde, obwohl es hauptsächlich aus altem Gerümpel bestand: Ein alter Planwagen, ein Kessel über einem Feuerchen, einer von Eyrings Eseln, im Hintergrunde die Stadt Ebern mit ihren roten Ziegeldächern, dazwischen ein paar bunte Gestalten, der schöne, schlanke Rudi Mumm, und die reizende, goldäugige Zeska Fuchs, mit einem Tam-

102 Ebenso wie Schloß Eyrichshof im Baunachtal gelegenes Schloß im Besitz eines anderen Zweiges der Familie von Rotenhan. 103 Hausflur.

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burin und einem Tanzbären – das gab ein famoses Bild. Vorbei an der Lebkuchenverkäuferin und der Bühne mit Zuschauerraum gelangte man zur erhöhten, prächtig mit Silber und mit Guirlanden umkränzten Festtafel, an der Brautpaar und Ehrengäste tafeln sollten. In der Mitte stand auf einem Teppich eine alte gemalte Truhe, in der wir Brautjungfern unsere Gaben geborgen hatten. In diesem Rahmen bewegte sich nun die fröhliche Menge, 150 an der Zahl in den verschiedenen altdeutschen Kostümen, vom Hausherrn herab bis zu den Dienern und Jungfern. Es wurde mir klar, wie häßlich und unkleidsam doch unsere heutige Tracht, besonders die Männliche, ist; denn in der ganzen Menge war keiner, der nicht verschönt worden wäre durch sein Kostüm. Schöne Menschen wurden noch schöner und selbst ein unschönes Gesicht bekam unter einer kleidsamen Haube oder Krause einen aparten Reiz. Die Kostüme, (15. und 16. Jahrhundert) waren sehr mannigfaltig aber durchweg echt und schön, sodaß einem der Gedanke an einen Maskenball nie gekommen wäre. Da waren die Eltern der Braut als behäbige Patricier, der Rentweinsdorfer in schwarzem Samt und güldner Kette brillant aussehend, Kurt Willich als milder Minnesänger mit langer, blonder Perücke, Gerta als stolze Ritterfrau in rotem provencalischem Kostüm, wir Mädchen in Gretchen- und Patricierkostümen, Frau von Winterfeldt das Bild einer Fürstin, Malwine als dicke Beschließerin, Niemeyer in rotem Kaftan und schwarzen Schlapphut, den statt der Feder ein Pinsel zierte, die älteren Herren als Ratsherren mit großen Krausen, die Jungen als Pagen, die Bamberger Officiere als Landsknechte, der junge Bernus als Niederländer mit großem Spitzenkragen, – kurz, man konnte sich nicht sattsehen an all dem Schönen. Der junge Würtzburg, übrigens ein charmanter Mensch, gab als Herold die Erklärungen und Befehle in altdeutschen Reimen. Als alles versammelt war, wurden vier Mägdelein und drei stolze Gesellen nebst dem Herold und einigen Musikanten entsendet, das Brautpaar aus dem Kantorhause, wo es der kommenden Dinge harrte, abzuholen. Das war für mich der Höhepunkt des Abends. Es war alles so echt, daß wir vergaßen, daß wir spielten und nicht wirklich im Mittelalter lebten. Es war bitter kalt und sehr finster; das Schloß ragte groß und gespenstisch aus dem Dunkel; – nur hier und da warf eine Fackel ihren roten Schein auf die bunten Kostüme und blanken Trompeten und aus dem Fenster der Kantorwohnung schimmerte ein kleines Licht. Die Musik blies einen Tusch, Würtzburg, hoch zu Roß, die Fahne in der Hand, hielt vom Pferd herunter eine wundervolle altdeutsche Rede, in welcher er das Brautpaar aufforderte, herabzukommen. Sie wurden darauf von uns vier Mädchen: Johanna, Martha, Mausy und mir und den drei Männern: Willich, Siegmundt und Hermann unter einer Rosenlaube über den Hof ins Schloß geleitet; die Musik voraus, Fackelträger folgten – alles feierlich und schweigend – ich glaube, niemand wagte, zu reden: Es war ein zu herrlicher Moment; so voll wahrer Poesie und Schönheit und – merkwürdig aber wahr! – wir weinten vor Rührung!! – An dem Eingang der Festwiese wurde das Paar von den Eltern mit

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kurzen Worten begrüßt und dann ordnete sich der Festzug auf des Herolds Geheiß nach Rang und Würden. Langsam bewegte er sich um den Saal, alle Moment durch eine Erklärung des Herolds oder durch eine Ovation aufgehalten: Das Lebkuchenweib bot ihre Waare an, die Zigeuner tanzten, wahrsagten und turnten, von den Zinnen der Stadt erschallte ein Schulkinderchor, der Schreiber bot seine Dienste an, die Wirtsleute kredenzten Punsch und Brot, die Landsknechte sagten ihren Spruch, die Ratsherren der alten Stadt Cölln-Berlin verlasen eine Urkunde, in welcher der „Stadtpfeifer Detlof“ zum Ehrenbürger ernannt ward. Zuletzt sangen wir Brautjungfern einen langen Chor, umschlangen das Paar mit rosa Bändern, von denen sie sich durch Geldwerfen (Schokoladenthaler mit ihrem Bild) lösen mußten. Die Truhe ward alsdann erbrochen und ihr Inhalt: Kissen, Salzfaß, Kochbuch, Tischzeug, Rosenkranz, Humpen etc. mit passenden Worten überreicht. Ich gab den Schleier! Die Aufführungen zu Ende, vergnügte sich jeder so gut er konnte. Ich machte die Sache mit Feuereifer mit und vergnügte mich himmlisch. Der junge Bernus, ein ganz charmanter Mensch, und ich thaten uns zusammen in diesem Bestreben, kneipten zusammen im Roten Hahn und ließen uns ankreiden, schrieben uns beim Stadtschreiber ein, schenkten uns Lebkuchenherzen, ja – zuletzt sprachen wir in altdeutschen Wendungen zusammen. Nach einer Marionettenaufführung – nicht sehr gelungen – begann die Operette. Dieselbe spielte in Rentweinsdorf im Jahre 1815 und hatte die Liebesgeschichte der ersten Hedwig Rotenhan, die einen Grolman heiratete, zur Fabel. Der ganze Text sowie die zweite und dritte Stimme war von Frau von Rotenhan, Malwine und Johanna zu einer Musik von Sullivan ¹⁰⁴ gemacht worden. Sie war ausgezeichnet hübsch und fein; die Chöre gingen sehr gut und exakt und die vier Solisten: Gerta, Mausy, ein Herr Badewitz, Detlofs bester Freund, und Bernus sangen und spielten wundervoll. Mausy ist ein bildschönes Mädchen und hat sich auch im Wesen sehr zu ihrem Vorteil verändert: Sie ist viel lustiger, natürlicher und nicht mehr so kleinstädtisch wie früher. Während eines Chores tanzte ich mit Emmy Roth zusammen ein Solo, eine Art Gavotte; von den Schritten hatte ich nicht viel Ahnung, doch war alles begeistert, wie hübsch es ausgesehen, besonders durch den Kontrast unserer Erscheinung und Kostüme. Emmy war in hellgrün und ich hatte Sabinens Mullkleid, weiß mit rosa Mucken, eine breite rosa Schärpe mit Brillantschnalle, Kreuzbänderschuhe und eine prachtvolle hohe Empirefrisur mit stehender Rose. Ganz besonders reizend war Gerta als französische Gouvernante und Siegfried in einer alten schwarzen Husarenuniform mit seiner blonden Haartolle, einfach à

104 Sir Arthur Sullivan (1842 – 1900), britischer Komponist, damals sehr bekannt für seine komischen Opern.

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croquer. ¹⁰⁵ Während des Nachtessens wurden wir sämtlich mit dem Hausorden dekoriert; das waren bemalte goldene Pappschächtelchen, die das Tischlied enthielten. Die Fülle der netten Ideen ist wahrhaft bewundernswert. Zwei Stunden lang ward im Hausehren getanzt, wobei ich fünfzehn Sträuße ergatterte; dann erhielt durch den Sang des Nachtwächters (Bernus): „Liebe Leute, laßt Euch sagen“ bis „Lobet Gott den Herren“ das schöne Fest einen schönen Schluß. Es war zu herrlich! Am Hochzeitsmorgen wanden wir den Brautkranz und übergaben ihn mit Gesang, wofür wir unsere Geschenke, kleine Empire-Fächer mit Bildern von Eyrichshof und Manna erhielten. Nachdem wir durch einen Spaziergang unsere Lebensgeister erfrischt, zogen wir uns zur Trauung um. Ich trug ein reizendes rosa Kleid, was der Vater der Mutter zu ihrem 50ten Geburtstag auf der Gewerbeausstellung von einem Araber gekauft hatte. Er fand Mutter noch immer jung genug dafür, aber da sie nicht der Ansicht war, wurde es mir geschenkt. Die Trauung machte mir keinen Eindruck. Manna sah stattlich und frisch aber nicht gerade bräutlich aus. Die Brautführerpaare waren: Sigi Winterfeldt mit Mausy, Badewitz mit Johanna Rotenhan, Arnim mit Martha Mumm, Siegmund mit mir, Emmy Roth mit Hans Rotenhan, Fanny Kurowsky mit Hermann, Idchen Stockmar mit Herrn von Derschau, Malla Seckendorf mit Bülow. Im Rittersaal aß man zu 87 Personen, von denen ich nur einige erwähnen will: Baron Ludwig mit Kindern, Hermann Grolmann, der sich mir mit seiner süßlichen Art wie stets auf die Nerven legte, der liebe dicke Haussonville mit kleiner, wenig liebenswürdiger Frau, Frau von Mumm und Alphons Mumm, die Familien Stockmar, Fuchs, Schott, Dungern, Künßberg; außerdem Verwandte und Freunde des Bräutigams, u. a. der älteste Sohn des Reichskanzlers, Erbprinz Hohenlohe mit seiner Frau, einer Ypsilanthi. Ich hatte einen netten Platz zwischen Siegmundt und dem jungen Würtzburg. Dieser, der berühmte „Bubi“, ist sehr ideal angelegt, sehr begabt und hat einen hohen Flug, daneben aber frisch, bescheiden und natürlich – er ist ein allgemeiner Liebling! Der Tag verging sehr lustig. Die Bamberger machten die Cour, daß es ein Vergnügen war, sagten einem Schmeicheleien ins Gesicht, daß man nicht wußte, wo man hinsehen sollte, liefen einem nach wie die Pudel; und alles sans conséquence, nur sich und uns zum Vergnügen. Alle lagen Mausy zu Füßen und sie benahm sich doch eigentlich dumm und hilflos dabei. Die meisten Gäste reisten gleich nach dem Fest ab, wir blieben bis Sonnabend und machten mit Willichs, den Münchenern und Niemeyer den größten Blödsinn. Die Rückreise machte ich mit Mausy und Malla. Hermann brachte den Abschied in Bamberg nicht übers Herz, sondern nahm sich im letzten Moment noch ein Billet

105 Übersetzt: „zum Anbeißen“.

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nach Lichtenfels, wo der Arme nach Abgang unseres Zuges dann den halben Tag liegen mußte. Ein solches Fest werde ich nie wieder mitmachen – das weiß ich genau -; das erlebt man nur einmal und dann bleibt es als Erinnerung fürs Leben. Und zwar ist es nicht das Amusement, (obwohl ich dies gewiß nicht verachte), sondern das Schöne, Ideale, der tiefe, sinnige Gedanke, der Kern der ganzen Sache, welcher dies Fest über andere erhob. Die Masse fühlte dies nicht heraus, aber die wenigen, die es empfanden, werden es nie vergessen. – Ich werde mir Führer, Satzungen, Tischlied etc. aufheben. Mein Kostüm aus einem alten hellblauen Silbermoiree, den wir aus Großmutters Zeiten besaßen, mit geschlitzten Samtärmeln, goldenem Latz, steifer Rüsche, altem Schmuck und Samtkäppchen war so schön und kleidsam, daß mich Mutter darin photographieren ließ. Ganz anderer Art als dies zuletzt beschriebene Fest waren die Wochen, die ich von Ende Oktober bis Weihnachten in Leipzig verleben mußte. Die ganze Zeit dort liegt jetzt wie ein überstandenes, abgeschlossenes Ganzes hinter mir und als solches will ich sie auch beschreiben. Meine Zähne, die trotz einer früheren Kur wieder so weit herausgetreten waren, daß sie mich am Schließen des Mundes, selbst beim Schlafen, hinderten, machten eine längere Regulierung notwendig; und da wir zu Dr. Fenthol sowohl als Zahnarzt wie auch als Mensch Vertrauen hatten, entschieden wir uns für Leipzig. Bei Frl. von Türcke, einer angenehmen, feinen alten Dame, aus einer uns bekannten Meininger Familie, fand ich eine mir zusagende Pension, ein nettes Zimmer, gute Kost, Anregung und – was mir besonders viel Vergnügen gewährte – keinerlei Bevormundung. Ich ging ganz ruhig und selbständig meinen Weg, ohne daß sich jemand um mich gekümmert hätte. Früh war mein täglicher Gang zum Zahnarzt, dann widmete ich mich ganz der Musik, da ich bei Frl. Klengel – Schwester von Evas Lehrer – Unterricht hatte und fleißig üben mußte. Am Nachmittag hatte ich für das bevorstehende Fest meist so viele Besorgungen von allen Seiten, daß ich froh war, wenn mir für meine Briefe und meine Weihnachtsarbeiten noch genügend Zeit blieb. Die Abende dehnte ich so lang als möglich aus und las, wenn ich mich nicht den Damen der Pension widmete, oft bis Mitternacht, der Kälte wegen im Bett verkrochen. Dies der Grundriß meines Daseins, der aber ebenso oft geändert als eingehalten wurde. Zuweilen besuchte ich Héricourts – sie ist eine geborene Spitzemberg – oder das Ehepaar Klengel, öfters war ich im Theater und so oft als es irgend ging in den herrlichen Gewandhauskonzerten. Im Verständnis der klassischen Musik ging mir eine ganz neue Welt auf. Ich habe in der ganzen Zeit keinen Ton gespielt außer Beethoven und so viel klassische Tonwerke gehört, daß ich nur daran Gefallen fand und fast einseitig geworden wäre. Diese Musik ist so durchdacht, so fein gefolgert, so logisch ausgeführt, daß sie neben dem Sinnengenuß des Wohlklangs auch dem Verstand eine Freude bereiten muß. Für

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meinen Geist habe ich überhaupt die Zeit genutzt; interessante Lektüre bot die Grundlage, auf der die Gedanken in den vielen einsamen Stunden weiterbauten. Robert Elsemere ¹⁰⁶ mit seinen mannigfachen religiösen Streitfragen, „Sunrise“, voll socialistischen Gedanken, das neue Ibsensche Drama „Kaiser und Galiläer“, spiritistisch im höchsten Grad – all dies enthält mehr Stoff, als man gut bewältigen kann in so kurzer Zeit; aber ich meine, es befriedigt schon, überhaupt zu einer Meinung über diese Probleme zu kommen, sei sie nun falsch oder unbeständig auf die Dauer. Mehr noch als in Büchern lernte ich aus den Menschen, die in der Pension in mannigfachen Specialitäten vertreten waren. Zu Tisch kamen viele Herren, meist Ausländer, die teils Musik, Medizin, Chemie, Literatur etc. studierten, teils dem Kaufmannstand angehörten; ohne Ausnahme aber thätige Menschen, die durch ihre mir zum Teil ganz neuen Anschauungen und Interessen viel Leben und interessante Gespräche in unsere Damengesellschaft brachten. Im Haus schloß ich mich meist einer Frau von Puttkamer an. Sie war eben geschieden (wegen Kinderlosigkeit!), hatte schwere Erfahrungen hinter sich und suchte und fand Zerstreuung und Beschäftigung in der Malerei, für die sie viel Talent und Eifer hatte. Sehr lebendig, stürzte sie sich in alles, was sie lockte, Malerei, Geschichte, Philosophie, Anatomie, und zehnerlei anderes, sodaß sie vor Zersplitterung und Chaos zu nichts Ernstem kam. Dabei war sie durch die Scheidung so nervös, so wechselnd in ihrer Stimmung, daß ich öfters für ihren Verstand fürchtete. Interessant war mir auch eine Frl. Rother, die als Assistentin in einer Frauenklinik thätig war; ihre Ruhe und ihr klarer Verstand zogen mich ebenso oft an, als mich eine gewisse Rohheit und Stumpfheit, mit der sie von ihren Operationen, allʼ dem Elend und Leiden, das sie täglich sah, erzählte, abstieß. Es ist wohl unmöglich, daß sich Nerven und Gefühl in solchem Beruf nicht abstumpfen; aber ein wirklich fein angelegter Mensch wird doch, auch wenn er unempfindlich geworden, auf die Gefühle der anderen Menschen unbewußt Rücksicht nehmen. In einem so wohlbehüteten, sonnigen Familienkreise wie in dem unsrigen aufgewachsen, war ich nie so zum Bewußtsein des erdrückenden Maßes von Jammer und Elend auf dieser Welt gekommen. Hier trat es mir deutlich vor Augen; denn diese jämmerlichen Existenzen, diese einsamen, heimatlosen Frauen, die in solchen Pensionen ihr Leben hinbringen, haben an sich schon etwas Trauriges; und was hörte man aus ihren Erzählungen, besonders aus Frl. Rothers Klinikerlebnissen, heraus! Ich erinnere mich, daß ich am Abend in meinem dunklen Zimmer saß, in die hellen Fenster der gegenüberliegenden Häuser starrte und mir ausmalte, wieviel Kummer und Not in einem solchen großen Hause enthalten sei. Und was war solch Haus gegen die ganze Welt? Die Notwendigkeit der Erlösung ward mir so klar wie nie, ebenso die feste innere Überzeugung, daß es eine Ewig-

106 Robert Elsmere, 1888 erschienener religiöser Roman von Mary Augusta Ward.

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keit, ein zweites Leben geben muß. Es war eine ernste Zeit und manche Illusionen gingen in ihr zu Grabe. Aber ich beklage es nicht; wozu hat man Verstand, als um zu denken und forschen? Wozu ist man auf der Welt, als daß man das Leben auch recht intensiv, bewußt lebe; als daß man mitleide, mitfühle und mithelfe? Die weihnachtliche Stimmung in der beschneiten Stadt, die vielen Christbäume, das bunte Gewimmel zwischen den Buden des Christmarktes, die strahlenden Kindergesichter an den Schaufenstern und die fröhlich hastende Menge – all das weckte freundlichere Bilder, zeigte das Leben in einem anderen Licht und die Menschenliebe, verklärt durch die göttliche Liebe, in ihrer schönsten Gestalt. Meine Zähne gingen langsam aber sicher zurück, meist schmerzlos, wenn auch das ewige, nörgelnde Gefühl daran auf die Nerven ging. Einmal hatte ich eine ganz niederträchtige Empfindung, eine Gaumenentzündung, die mich weder essen noch schlafen ließ und mich in drei Tagen so herunterbrachte, daß ich auf offener Straße trotz aller Menschen, weinte. Wer mich kennt, weiß, was das bei mir heißen will! Die Stadt bietet außer Musik nicht viel, aber trotzdem sahen und hörten wir – Frau von Puttkamer und ich – alles mögliche, das großartige Buchhändlerhaus, eine amüsante Ausstellung von ca. 300 Plakaten, Abendgottesdienste, Geschichtsvorträge, Sonderausstellungen, Altertümer etc. Verschiedene Tage beschreibe ich näher: Zuerst ein Besuch der halbfertigen Großen Ausstellung. Die Gebäude im Großen fertig, obwohl man von einem noch die beworfenen Drahtgitter der Mauern sah, dazwischen ein weites, wildes Baufeld, ein Menschenstrom, der alles begaffte und befühlte und dazu eine alles ausgleichende, blitzende, dicke Schneedecke. Besonders entzückte uns das Thüringer Dörfchen: In der Mitte auf dem zugefrorenen Dorfteich schlitterten ein paar Buben, rings standen die alten, rauchigen Bauernhäuser – meist Fachwerkbauten – unter ihren dicken Schneehauben, die Glocke des alten Kirchleins läutete und hinter dem Kiefernwäldchen dahinter ging die Sonne feurig rot unter. Es war ein vollendetes kleines Stimmungsbild, das mich freundlich, heimisch anmutete und mit Sehnsucht erfüllte. Ein andermal ging ich um fünf Uhr allein zu einer Methodistenversammlung, da ich mich für Sekten interessiere und in der Umgegend keine besuchen kann. Über einen dunklen Hof und drei Hintertreppen kam ich in einen niederen, heißen Saal, der total überfüllt war mit meist einfachen Leuten, Soldaten, Handwerkern etc. Es war leider Gesanggottesdienst, der darin bestand, daß Chöre und Soli schwächster Leistung sich folgten. Eine kurze Rede und verschiedene Gebete unterschieden sich von unserem Gottesdienst nur durch ihre einfache, oft selbst drastische Sprache und dadurch, daß auf die Bekehrung, die momentane, plötzliche, solcher Wert gelegt ward. Eigentümlich war mir, daß neben vielen religiösen Liedern Goethes: „Der Du von dem Himmel bist“ gesungen wurde. Ob er sich das hätte träumen lassen! Wohlthuend war mir, daß alle Besucher mit solcher Andacht und Wärme dabei waren und ich fragte mich nur, ob sie nicht genau dasselbe in

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unserer Kirche finden könnten. Es war bis auf die Heimlichkeit wirklich kein merklicher Unterschied, aber vielleicht zieht diese sie gerade an? Nach 2 ½ Stunden kam ich unversehrt und „unbekehrt“, aber gerädert von schlechter Musik und schlechterer Luft, nach Haus. Ein Besuch von Reißens brachte mir viel Abwechslung, da sie wahrhaft rührend gut waren; Mutters und Sabinens Besorgungsrazzia war sehr lustig, besonders nett aber ein Besuch, den ich in Dresden bei Tante Anna¹⁰⁷ und Eva machte. In Leipzig erhielt ich nämlich die überraschende Kunde, daß sich Eva und Oleg¹⁰⁸ verlobt hatten. Ich war wie aus den Wolken gefallen, da man vorher nie etwas gemerkt oder gehört hatte. Mit Spitzembergs zusammen war er drei Wochen in Buchenhaus gewesen, hatte dann plötzlich um Eva geworben und nach einiger Zeit ihr Jawort erhalten. Diese Partie freut mich ungemein: Beide sind sich in Ansichten und Erziehung gleich und sich in Charakter und Wesen ganz entgegengesetzt. Das scheint mir gut zu passen! Er ist wohl ziemlich unbedeutend, aber ein so anständiger und guter Mensch, daß man volles Vertrauen zu ihm haben kann. Da Tante und Eva zu einer Kur in Dresden waren, benutzte ich die Nähe, um mir die Braut zu besehen. Sie war sehr nett und fröhlich, viel liebenswürdiger und lustiger als sonst, sprach viel von Oleg und ihrem künftigen Heim. Die nüchterne Art allerdings, wie sie ihn kritisierte, fiel mir unangenehm auf. Sie sagte u. a.: „Die Hermanns wollen alle etwas Besonderes sein und sind doch nichts Besonderes!“ Wenn ich mich verlobte, hoffe ich mich doch wenigstens in der Brautzeit der Illusion hingeben zu können, daß der Erkorene etwas „Besonderes“ sei. Auch schien mir, daß der Reiz des Neuen, Selbständigkeit, Häuslichkeit – sie wollen im Februar heiraten – das Gefühl, mit einem Male gefeierte Hauptperson geworden zu sein, zu sehr bei ihr in den Vordergrund trat. Aber die Menschen sind verschieden und ihre ganze Stimmung ist so gleichmäßig und ruhig vergnügt, daß sie auf alle ansteckend wirkt. Nur die Tante macht sich wie immer Sorgen auf Sorgen. – Von Dresden sah ich in dem Regentag natürlich gar nichts. Kurz vor Weihnachten fuhr ich mit Hofackers, die nach Wain¹⁰⁹ reisten, nach Hause, endlich nach Hause. Die Kur ist glänzend geglückt und außerdem hoffe ich doch nicht nur um vieles älter, sondern auch um etwas reifer heimgekehrt zu sein. – Hier genieße ich den herrlichen Familienkreis, das weihnachtliche Haus und die alte Gemütlichkeit mit allen Kräften, besonders, da wir sie bald wieder für Berlin eintauschen werden. Großmutter, Frl. Güntzel und Rotenhans halfen feiern und sind noch hier. Wir wurden mit reizenden Geschenken bedacht: einem Reisekoffer, Ballblumen, vielen Büchern und Noten, Pelzkragen, einer reizenden alt-

107 Hofacker. 108 Eva Hofacker und Oleg von Herman. 109 Schloß der Familie von Herman in Oberschwaben.

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römischen Schale u.s.w. Das herrlichste Winterwetter mit klarem Frost benützten wir zu Schlittenfahrten nach Obernitz und Wöhlsdorf, zu Bergschlittenfahren und Spaziergängen. Es ist zu schön hier, sodaß es mir ordentlich schwer wird, so bald wieder in die Stadt zu ziehen.

1897 Berlin, den 13ten Januar 1897. Erst vor zwei Tagen, am 11ten, bin ich hier in dem geliebten Berlin eingetroffen und bereits, gleich der übrigen Familie, in dem ersten Strudel des Packens und Räumens, Besuchen und Besorgungen untergegangen. Ich fuhr am Freitag nach Leipzig, wo ich für meine große Martermaschine eine kleine zierliche Retensionsplatte erhielt und von da am Montag hierherreiste. Wir haben wieder den großen Ecksalon, den wir voriges Jahr innehatten und in dem wir uns ganz heimisch fühlen. Oben wohnt wieder der Landgraf mit seiner Suite, unten Carmers, Großmutter, Plötzens und – eine sehr willkommene Neuerung – die netten, lieben Berlepschens mit Valeska. Ich traf alles schon wohnlich eingerichtet, auch ein Klavier, das ich hoffentlich gehörig ausnützen kann. Unsere treue Frieda ist auch wieder mit; nachdem wir den entsetzlichen Johann Steppert zu Neujahr glücklich losgeworden, fanden wir für die Zeit hier einen stolzen Diener, der in Frack, weißer Binde und Kriegsdekorationen wie ein landgräflicher Adjudant aussieht. Gestern war schon ein rechter Berliner Tag: Vormittags Einkauf von reizendem Abendmantel, den ich mir leistete und zwei schwarzen Besuchskapes, Nachmittags beim Östreicher im Jour, wo wir uns in dem Menschengewühl vollständig stumm und dumm – wie vor den Kopf geschlagen – vorkommen; dann ein Thee bei Manna Winterfeldt in der schönen neuen Wohnung mit den vielen hübschen Sachen. Sie gab ihren ersten Thee und protzte mit Silber, seidnem Kleid und guten Bonbons, ganz das gute alte Manna-Wurm! Am Abend waren wir zu einem kleinen Hops, den Herr von Bodelschwingh, ein Freund von Vater, seinen beiden mutterlosen Töchtern gab. Wir waren ganz fremd, kannten nicht einmal die Töchter des Hauses; aber trotzdem war es ganz nett und lustig. Die Herren waren fast alle Füsiliere, das Haus ist reizend, das ganze Arrangement, Souper, Cotillon etc. war mit Liebe erdacht und ausgeführt. Wir waren wohl die beiden besttanzenden Mädchen und kamen deshalb kaum zum Sitzen. Aber man muß sich doch wieder trainieren; heute waren wir verschlafen und fühlten alle Knochen; das darf nicht sein und muß bald wieder weggetanzt werden. Heute sahen wir in der Dreifaltigkeitskirche der Trauung Klärchen Wedels mit dem Grafen Bismarck zu. Es war so voll, daß man auf den Sitzen stehen mußte, um etwas zu

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sehen und beim Eingang fast totgedrückt wurde. Dryander¹¹⁰ sprach sehr ernst und wehmütig – es glich einer Trauerrede, der Chor war wundervoll. Die Majestäten waren natürlich anwesend mit dem ganzen Hof. Ich fand, die Kaiserin hätte etwas herzlicher sein können; daß sie z. B. die Braut nicht küßte, fand ich wunderbar. Daran merkt man, daß sie nur eine kleine Prinzessin von Geburt ist, der die Etikette neu und darum eine enge Schranke ist, die ängstlich eingehalten werden muß. Sonnabend, den 16ten Januar. Eben komme ich vom Schlittschuhlaufen ganz erfrischt zurück. Ich hatte es seit Jahren nicht wieder gethan und bin erfreut, daß es noch so gut und sicher geht. Ich machte den ersten Versuch in einem Biergarten, wo nur Kinder liefen und wo ich noch Frl. Güntzel mitschleifte. Das letztere war kein Genuß. Unsere Jour – und sonstigen Besuche sind so ziemlich im Gange; es macht Spaß, so viele bekannte Gesichter wiederzusehen. Am Donnerstag benutzten wir den ersten Abend, um in „Renaissance“ im Berliner Theater zu gehen. Es war recht gut gespielt – Frau Prasch war ganz reizend! – aber enttäuschte mich trotzdem, da ich mir nach Schilderungen etwas Tieferes, Bedeutenderes erwartet hatte. Gestern waren die Eltern mit Bibs bei Rotenhans, während ich mich mit Spitzembergs gehörig aussprach. Lothar will diesen Winter auch ausgehen, was mich für Hanna ganz besonders freut. Diese ist reifer und bedeutend liebenswürdiger geworden, hat verschiedene Partieen, darunter eine sehr glänzende, ausgeschlagen, weil sie nicht ohne Liebe heiraten will, und hat nach jeder Richtung hin gewonnen. Daß ihre Freundschaft zu Elma Klinckowström etwas erkaltet ist, hat sehr gut auf sie gewirkt. Montag, 18ten. Am Sonnabend war ich allein mit Berlepschens zu einem Ball bei Kurowskys. Trotzdem ich viel Bekannte wiedersah und mit Kleist Cotillon, mit Hindenburg Souper hatte, fühlte ich mich noch nicht warm und heimisch. Bernewitz, der in derselben Lage war, da er nur von Hannover zu dem einen Fest herübergekommen war, und ich klagten uns gegenseitig unser Leid und saßen viel zusammen. Margitta Dönhoff war zu Besuch da; ich fand sie bildhübsch und finde es nur jammerschade, daß sie so hergerichtet wird mit Puder und Schminke; sie brauchte es gar nicht, so hübsch und jung wie sie ist! und stößt alle netten Leute dadurch ab. Der gestrige Abend war nicht sehr genußreich, aber ganz eigenartig. Wir waren bei einem alten, kinderlosen Ehepaar, Herr und Frau von Bandemer, Vollblutpommern, die gleich uns zum Landtag nach Berlin kommen und kleine Geselligkeit mitmachen. Alle Sonntag haben sie offenes Haus für ihre Freunde,Verwandte, junge Neffen, und da trifft sich denn eine ganz ländliche große Gesellschaft zusammen. Das pommersche Abendbrot, aus Gänsebrust, Gänse-Weißsauer, Gänsefett und

110 Ernst Dryander (1843 – 1919), Hofprediger.

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Gänseleberwurst bestehend, war entschieden auf solide ländliche Magen berechnet, die darauffolgende Hausmusik aber für ländliche Nerven und ganz ungebildete Ohren. Die verschiedensten Leute producierten sich sonder Scheu auf Klavier, Violine, Flöte und Querpfeife, daß man die Wand hätte hochgehen mögen. Zuletzt brüllte der alte Bandemer selbst ein Liebeslied, zu dem wir samt und sonders den Chor singen mußten, eine erstaunliche Leistung! Obwohl wir beinahe gerädert waren, amüsierten wir uns doch himmlisch über das Wohlgefallen, das Entzücken, mit welchem diese guten Leute ihre schauderhaften Leistungen verfolgten. Es gibt wirklich in der Großstadt noch bescheidene Ansprüche! Sabine scheint mit ihrem Zeichenunterricht diesmal wirklich gut angekommen zu sein. Sie geht drei Tage der Woche von 9 – 1 Uhr in die Normannschule, wo sie unter Hans Looschens ¹¹¹ herrlicher Kritik nach lebenden Modellen zeichnen soll. Ich bin nur gespannt, ob sie dies in der Hauptsaison wird fortsetzen können. Eben haben wir bei Spitzembergs gegessen mit Fanny Kurowsky und Valeska Berlepsch. Letztere ist, ohne sehr hübsch zu sein, ein ganz reizendes, allerliebstes Persönchen, voll tiefem Gemüt, Schalkhaftigkeit, Natürlichkeit und Liebenswürdigkeit. Sie erobert alle Herzen im Sturm, was mich nicht Wunder nimmt. Lothar ist auch sehr begeistert von ihr, sodaß wir schon den Gedanken faßten, sie Ende des Winters als Cousinchen begrüßen zu können. Mir wäre keine lieber! Donnerstag, 21ten Januar. Der Tag der großen Cour ist glücklich vorüber und war ausnahmsweise ganz begeisternd hübsch. Früh gratulierten wir der lieben Tante Higa, die in diesem Jahr besonders gut und intim mit uns ist. Die Cour war ganz spaßhaft, weil wir die Neulinge alle defilieren sahen; und gleich nachher fuhren wir zu einer kleinen Soirée, die Hohenthals zu Ehren von Tantens Geburtstag gaben. Es war pikfein und vornehm: Eine Elite-Gesellschaft von vielleicht 80 Personen, ein Souper, bei dem alles von Silber aß, ein großartiger, aber sehr distinguierter Train. Es war wunderhübsch, alle Damen in ihren großen Parüren und Schleppen hereinkommen zu sehen, all′ die Fürstinnen und Diplomatenfrauen, die man sonst doch nie sieht. Eine jung verheiratete Fürstin Salm-Reifferscheidt, geb. Östreicherin, war blendend durch Erscheinung und Toilette. An jungen Mädchen waren nur Hanna und Fanny Kurowsky da, sodaß wir einen kleinen netten Jugendtisch bildeten mit Lothar, Benno, einem Nostitz, einem sehr angenehmen Grafen MirbachGeldern und einem dummen jungen Prinzen Taxis. Mit Benno, der auf einen Monat von Washington herübergekommen war und morgen abreisen will, hatte ich einen längeren Schwatz. Er scheint von den amerikanischen Frauen ebenso enttäuscht wie von den deutschen. Es war jedenfalls ein reizender Abend; man hatte doch

111 Hans Looschen (1859—1923), Berliner Maler.

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nicht das Gefühl wie sonst nach der Cour, daß man sich eigentlich umsonst angezogen hatte. Sonnabend, den 23ten. Es geht hier immer munter weiter; wenn wir keinen Ball oder sonstige Einladung haben, melden wir uns bei irgendwelchen Verwandten an. So unternahmen wir am Donnerstag die Reise nach Wilmersdorf und besuchten Gotthard und Illa. Sie machen einen sehr zufriedenen, glücklichen Eindruck; er ist bedeutend angenehmer und liebenswürdiger geworden und sie war auch recht nett. Die Wohnung da draußen in der häßlichsten Lage, zwischen Bauplätzen, Fabriken und stillosen, häßlichen neuen Villen ist schon recht reizlos, die Zimmer kalt, wenn auch gut eingerichtet, und die Platzersparnis an Vorplatz, Kammern und Dienstbotengelassen geradezu unwürdig. Und doch sind sie selig, vergnügt und befriedigt darin! Ich fragte mich, ob ich dieser Aufopferung fähig wäre und ob ich so heruntergehen könnte in meinen Ansprüchen, und ich glaube, ich muß diese Frage bestimmt verneinen! Gestern war Kaiserhofball, ein großes Völkerfest, auf dem man eine Menge alte Bekannte traf und die ganze Gesellschaft mustern konnte. Es sind viel hübsche Mädchen da in diesem Jahr und Hanna, obwohl natürlich noch sehr fetiert und umschwärmt, ist nicht mehr der erste Stern. Die Schönste ist sie noch immer, aber sie sowohl wie Else Schmidthals haben den Reiz der Neuheit verloren, was erstere wenig kümmert. Der Star des Winters ist die reizende Helene Hindenburg, bei der Inneres und Äußeres bestens harmoniert und die ebenso der Schwarm der Damen wie der Herren ist. Schön und interessant ist auch Lori Harrach geworden; ferner sind hübsch und fetiert: Irma Kanitz, Valeska, die jüngere Senden, die Mitzlaff, Armgard Stolberg etc. – Freda und Elisabeth Arnim behaupten auch noch ihren Platz, die eine durch Freundlichkeit und Güte, die zweite durch gutes Tanzen und Koketterie.

Abb. 9: Hermann Freiherr von Erffa (c. 1900), Quelle: Privatbesitz / Maler: Alfred Schwarz, Digitalisierung: Matthias Raum.

Band V: Tagebuch von 1897 bis 1899 Strebet nach der Liebe! 1. Cor. 14,1 Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche, Deine Pflicht zu thun und du weißt gleich, was an dir ist. Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages! Goethe

25.1. 1897 Berlin. Heute und gestern hatten wir stille Tage und namentlich Abende, die wir besonders Großmutter widmeten. Spitzembergs sehen wir eigentlich den ganzen Tag, bald bei ihnen, bald hier im Hotel, auf Jours und Festen etc.: Am Sonnabend war ich bei ihnen mit Pussi Bassewitz, dem dritten Werthern aus Beichlingen, Valeska und Nostitz; gestern waren wir alle in der Dreifaltigkeitskirche und hörten eine sehr gute Predigt von Dryander; heute liefen wir auf der Rousseau-Insel Schlittschuh zusammen. Ich bin ganz begeistert von diesem herrlichen Sport, den ich seit den Kinderjahren vernachlässigt. Was gibt es Gesünderes und Erfrischenderes als bei diesem herrlichen klaren Frostwetter auf dem glatten guten Eise dahinzusausen? Mit dem Sausen hat es zwar allein noch seine Schwierigkeiten, aber wenn Lothar oder einer von den Engländern uns anfaßt, so geht es schon mit Windeseile. Hanna und Fanny Kurowsky zeichnen sich als gute Läuferinnen aus, aber sonst wimmelte es von so vielen Anfängern, daß uns leicht ums Herz wurde. 26.1. Das Hauptereignis dieses Winters ist ein Kostümfest bei Hof, welches Ende Februar stattfinden soll. Zur Erinnerung an den Geburtstag des alten Kaisers, der bald hundertjährig wird, soll alles genauso kostümiert sein wie im Jahr 1797. Es wurde sehr früh eingeladen, allerdings mit dem Vermerk „vertraulich“, was nicht hindert, daß es allgemeiner Gesprächsstoff ist. Gestern waren wir bei Professor Heyden, dem Toilettenrat der ganzen Damenwelt und überzeugten uns aus alten Stichen und Werken, daß die damalige Mode ausgesucht häßlich und unkleidsam, ja sogar ganz unmöglich für heutige Anstandsbegriffe war. Die Röcke lang und so eng, als ob man aus dem Bad käme, die Taille kurz und hinten hoch, kurz, unglaublich. Heute waren wir im Opernhaus bei der Garderobiere, die sämtliche Tausende von Kostümen unter sich hat. Ich muß sagen, ich habe selten etwas so Nüchternes, Häßliches gesehen wie so ein Theater im erbarmungslosen Tageslicht. Wir gingen durch eine lange Reihe von Zimmern, in denen die Kostüme nach den Stücken geordnet lagen, graue, unfrische, unansehnliche Lumpen, häßliches falsches Haargewirr und viel unechtes Gold. Man fragte sich immer wieder, ob dies selbe Lumpenzeug wirklich bei Beleuchtung so bunt und hübsch aussehen kann. Der https://doi.org/10.1515/9783111237404-008

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Kontrast von Aussehen und Wirklichkeit, Schein und Sein, hat stets etwas Abstoßendes, Beschämendes, etwas, gegen das sich alles Wahrhaftige in uns empört und doch – wenn man es ganz abschaffen könnte, wenn jedes Ding seinen ursprünglichen Wert nur hätte, was wäre das Leben? Wo bliebe Phantasie, Idealismus, Poesie? Ich glaube, wir könnten nicht leben! Jedenfalls nicht in unserer jetzigen menschlichen Beschaffenheit! Freitag, 29.1.97 Die letzten Tage brachten manch Interessantes und Schönes; überhaupt bin ich sehr dankbar, daß man auch außer dem Amüsement hier Gelegenheit hat, Anregung in mancher Beziehung zu finden. Für die Städter bedeutet die Zeit des Karnevals die Zeit der Dürre, in der sie begreiflicherweise ihre Studien und wissenschaftlichen Bestrebungen, wenn sie solche haben, aufgeben, um sich ganz dem Vergnügen zu widmen. Für uns Landkinder ist es gewissermaßen die Zeit des Sammelns, in der wir suchen müssen, Vergnügen, Bildung, Kunst und Wissen als Vorrat fürs ganze übrige Jahr einzuheimsen. – Am Dienstag bei Roths war es recht gemütlich; wir unterhielten uns lang mit Pussi Bassewitz, Stieglitz und Nostitz, besonders über religiöse Fragen. Ersterer ist streng alt-lutherisch und sehr schroff, wie mich dünkt, aber in der Unterhaltung dabei sehr angenehm und sympathisch. Mittwoch war ich den ganzen Vormittag bei Manna¹ und ließ mir den Hausstand bis zum Kopfkissen und Salzfaß zeigen. Die Wohnzimmer sind nicht ganz mein Geschmack, aber alles sonst nicht so Beachtete, Ankleide- und Schlafzimmer, Dienstbotenwohnung, Garderoben, Kammern etc. ist glänzend, selbst für ländlichen Maßstab, wie man es in Berlin wohl nicht so oft finden wird. Manna ist selig und riesig stolz auf alle ihre hübschen Sachen. Zum Frühstück kamen Else Egloffstein und Siegfried Rotenhan und machten einen tollen Spektakel. Am Nachmittag war eine heiße, überfüllte, unerquickliche Tanzprobe im Kaiserhofsaal, von der man nur zurückkam, um zu essen und sich zur Gala-Oper anzuziehen. Dieselbe war ausnahmsweise wunderhübsch: Undine, eine moderne Ausstattungsoper wurde sehr gut gegeben und bot so viel an überraschenden Lichteffekten, neuen Tänzen, Fontänen, Verwandlungen und reizenden Gruppen, daß einem ganz märchenhaft zu Mut wurde. Im Foyer wimmelte es von Fürstlichkeiten, besonders von jungen Prinzen: zwei Söhne vom Prinzen Albrecht, der Altenburger, Koburger, Weimaraner, zwei Mecklenburger und ein Holstein gehen aus.

1 Marianne von Winterfeldt, geb. Freiin von Rotenhan aus Eyrichshof, bei deren Hochzeit mit Detlev (Detlof ) von Winterfeldt 1896 Hildegard Brautjungfer war.

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Gestern sahen wir die neuen Erwerbungen – nur Secession –, die Tschudi² für die Nationalgalerie gemacht hat, und waren alle drei halb belustigt, halb entrüstet. Es ist gewiß richtig, in einer Galerie die Produkte jeder Zeitrichtung aufzunehmen, aber warum man aus derselben gerade das Allerhäßlichste heraussuchen muß, verstehe ich nicht. An einer verzeichneten Kuh, die in einem grünen Grasgarten steht, kann ich nichts Stimmungsvolles sehen, wenn es auch veraltet und ungebildet sein mag, dies zu äußern. Die Mehrzahl der Menschen gibt vor, darin eine hervorragende Leistung zu sehen. Am Abend besuchten wir ein Promenadenkonzert zu Gunsten eines Sanatoriums in Ostafrika, das im Kaiserhof stattfand. Ein solches Wohlthätigkeitsfest habe ich noch nie erlebt. Es war der reine Jahrmarkt, mit dem einzigen Unterschied, daß ein solcher sich im Freien und nicht in geschlossenen Räumen abspielt. Wir kamen gegen sechs Uhr hin; die Garderobe nahm bereits keine Mäntel mehr an und jeder Nagel, Griff, Stuhl und Knopf war bereits belegt. Drinnen tauchte man unter in einem solchen Gedränge, daß wir uns gleich verloren und, gepufft und geschoben, Schritt für Schritt, von der Menge mitgenommen wurden. In einer Bude sahen wir den Kinematographen in Tätigkeit, dort waren Couplets zu hören; hier wurde ein lebendes Bild: „Germania, ihre Kolonien beschirmend“ gestellt; links wurde man mit markdurchdringendem Geschrei zu der „Röntgen-Vorstellung“ geladen, rechts wurde man mit allerhand unnützen Produkten aus den Colonien fast über den Haufen gerannt. Dazwischen wurde durch Stoßen ein freier Raum geschaffen, in dem eine Schaar kleiner Ballettkinder in schwarzen Trikots und Wollperücken – reizende runde, wohlgenährte Molche – mit unnachahmlicher Grazie, Gelenkigkeit und Schwung afrikanische Tänze aufführten. Wer an Bekannten in Berlin ist, war heute zu finden – der Trubel und namentlich die Hitze war unbeschreiblich. So ähnlich mag es in Kamerun wirklich sein, mit Ausnahme der vielen heißen Kleidungsstücke! Nach und nach ward es leerer; wir fanden uns sehr mit Sendens, die reizende Mädchen zu sein scheinen und feierten Wiedersehen mit zahllosen netten Leuten. – Es ist jetzt bestimmt, daß zum Kostümfest von einer Anzahl Mädchen und Herren verschiedene Tänze aufgeführt werden sollen und es war die letzten Tage eine große Aufregung, wer von Schulenburg dazu designiert werden würde. Gestern nun erfuhren wir, daß eine von uns mitmachen sollte, und zwar will mir Sabine netterweise den Vortritt lassen, weil sie im Atelier sehr beschäftigt ist. Tante Higa hat freundlich nachgeholfen und uns dadurch wohl auf die Liste gebracht, denn Schulenburg, der unliebenswürdige, hochnäsige Mensch hätte dies wohl nie von selbst getan. Jedenfalls ist es nett, denn die Tanzstunden werden eine nette Vereinigung von den jungen Leuten sein.

2 Hugo von Tschudi (1851 – 1911), seit 1896 Direktor der Berliner Nationalgalerie.

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Heute waren wir mit Spitzembergs in der Generalprobe der Schubert-Feier im Opernhaus. Es war einzig schön. Die Opernkapelle spielt noch fast besser als die Gewandhauskapelle in Leipzig und die Schubert’schen Sachen waren großartig, ergreifend und erhebend. Wir aßen dann bei Spitzembergs und unterhielten uns so eifrig mit ihnen, daß wir erst vor einer Stunde bei anbrechender Dunkelheit hierher zurückkamen. Jetzt will ich schließen und zu Großmutter hinabspazieren. Der geht es übrigens famos hier: sie macht und empfängt Besuche, fährt in Konzerte und Opern und langweilt sich, so oft einmal nichts los ist: eine unglaubliche Frische. Montag, 11. Februar. Heute ist der letzte Tag, ehe wir in die eigentliche Ballsaison eintreten; ich will ihn zum Schreiben rasch benützen, denn später wird wenig Zeit dazu bleiben. Sonnabend liefen wir mit Hanna um 10 Uhr schon auf der RousseauInsel.³ Es waren höchstens zehn Menschen da und die beste Gelegenheit, sich zu üben. Die große Gavotteprobe auf dem Hofball nahm aber alle Frische, die man sich auf dem Eis geholt hatte, wieder mit fort. Die Schwester der Kaiserin, Feodora,⁴ probte mit. Sie ist häßlich und sieht merkwürdig alt aus für ihre Jahre, dabei aber doch nicht uninteressant und einfach und natürlich von Benehmen. Gestern machten wir nach der Kirche einen richtigen ländlichen Spaziergang mit den Eltern durch den beschneiten Tiergarten; besuchten allerlei Leute, Hanns, Salms, Frau Richter etc. und machten Abends eine reizende Gesellschaft bei Spitzembergs mit. Gerlachs, Eulenburgs, Kalneins, Pussi und ein paar lustige junge Herren gaben einen sehr vergnügten Kreis ab. Else Gerlach war glücklich, einmal unter Menschen zu sein und herzig und lieb wie immer. Die junge Gräfin Kalnein ist mir auch recht angenehm, während mir die Schwestern Eulenburg einen recht leeren Eindruck machen. Ihre Konversation mit Leutnants ist einfach zum Davonlaufen albern! Und doch, oder vielleicht gerade deswegen sind sie enorm fetiert. Dienstag, den 2.2. Das herrliche Frostwetter hält an und wird eifrig zum Schlittschuhlaufen ausgenutzt. Am Morgen ist es besonders herrlich; man trifft wenig Bekannte, meist nur Lori Harrach mit einigen englischen Freunden. Gestern gingen Bibs und ich mit Fräulein Güntzel in die neue Urania,⁵ wo wir eine astronomische Aufführung sahen. Während eines Vortrags erschienen auf der kleinen Bühne alle Himmelserscheinungen, Sonnenfinsternis, Mondfinsternis, Mondschatten, teils von der Erde, vom Monde, von der Sonne, teils auch von einem gedachten Punkt im 3 Künstliche Insel im Großen Tiergarten. 4 Feodora Prinzessin von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (1874 – 1910). 5 Die Berliner Gesellschaft Urania wurde 1888 gegründet, mit dem Ziel, wissenschaftliche Erkenntnisse auch einem Laienpublikum zugänglich zu machen.

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Weltall aus gesehen. Die scenischen Mittel, die jetzt bei solchen Aufführungen, besonders durch die Elektricität, zu Gebote stehen, sind so mannigfaltig, daß damit sehr anschauliche, plastische Bilder erzielt werden. Der ganze Vorgang im Himmelsraum ward mir so klar, wie er mir durch die ausführlichste Beschreibung nicht hätte werden können. Leider war der erläuternde Vortrag, der sachlich, wissenschaftlich und knapp hätte sein müssen, so abgeschmackt und blumenreich, daß er störend wirkte. Sätze wie: „da sendet die liebende Mutter Sonne mit Rosenfingern ihren wärmenden Hauch als letzten Liebesgruß auf die Leiche des verstorbenen Sohnes, des Mondes“ kann doch nur ein Publikum von Köchinnen, Ladenmädchen und Commis genießen und aus denen setzt sich das Urania-Publikum keineswegs zusammen. Aber alles in allem waren wir doch äußerst befriedigt vom gestrigen Abend und nahmen uns vor, öfters hinzugehen. Donnerstag, den 4. Am zweiten waren wir sogar auf zwei Bällen, beim Kultusminister Bosse⁶ und bei Arnim-Muskau. Zu Bosse hatten wir nicht die geringste Lust, aber da Vater den Minister sehr hoch schätzt und von ihm als besondere Gefälligkeit die Absetzung Pastor Ulrichs in Ranis erbeten hatte, so wurden wir auf dem Altar des Vaterlandes geopfert. Ein wunderbarer Grund, um auf einen Ball zu gehen! Es war, wie wir gedacht hatten; wir kannten nur einen einzigen Leutnant, der uns noch dazu unangenehm war, und den Hofprediger Dryander. Selbst die sechs Töchter des Hauses waren uns fremd. Zum Glück konnten wir uns noch vor dem ersten Lancier drücken und gingen zu Arnims, wo wir im Gegensatz dazu jeden der Gäste kannten. Der Kontrast war verblüffend. Das Fest war so ausgesucht hübsch und flott, daß man allgemein bezweifelt, es noch im Laufe der Saison übertroffen zu sehen. Thormann übertraf sich selbst, es wurde herrlich getanzt, der Saal ist wunderhübsch und die Gesellschaft sehr klein, aber ausgesucht nett. Die gesamten Arnims als Familie machen einen so anständigen, vornehmen, gediegenen Eindruck. Gerade hier, wo man doch viel falsche Vornehmheit sieht, berührt diese gerade, echte, adelige Vornehmheit, die keinen Hochmut kennt, besonders angenehm. Der Parvenu ist hochmütig, weil er weiß, wieviel Zeit und Mühe ihm die Stufe, die er erstiegen, gekostet hat und weil er Angst hat, zu den Niedrigeren gerechnet zu werden, wenn er sich zu ihnen herabläßt. Der Adlige dürfte es nie sein, denn er muß sich der Bedeutung des Wortes „Adel“ als „die Edelsten“ doch so klar sein, daß er es sein Vorrecht nennt, in allem Guten der Menschheit voranzugehen. Aber wie viele thun das? Ich soupierte mit einem Sohn Ziethen-Schwerin, der – bei einem Mann merkwürdig – alles entsetzt durch seinen Mangel an Grazie. D. h., ich finde es nicht

6 Julius Robert Bosse (1832 – 1901), preußischer Kultusminister 1892 – 1899.

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merkwürdig, daß ein Mann ungraziös ist, aber daß es ihm so von allen Seiten verargt wird, das kommt mir lächerlich vor. Es ist allerdings ja furchtbar, wenn ein Mensch nicht in ein Zimmer kommen kann, ohne an drei Möbeln hängenzubleiben, Thee zu trinken, ohne daß man für Tasse und Teppich zittert, zu tanzen, ohne seine Dame zu treten – aber daß ihn dies unbeliebt macht, erscheint mir sonderbar. Gestern war großer Hofball, glänzend und schön. Wir hatten reizende gelbseidene Kleider mit Chrysanthemen an, die wir uns diesen Winter geleistet. Ich soupierte mit einem kleinen Herrn von Schwarzkoppen, der aus unserer Provinz stammt, sehr gut tanzt und einen sehr klugen, angenehmen Eindruck macht. Natürlich saß ich wie immer auf der Treppe, die nach der Küche führt an einem kleinen runden Tisch; dies ist seit Jahren mein Stammplatz. Sonntag, den 7. Februar. Mutter ist mit Frl. Güntzel in die versunkene Glocke⁷ gegangen, Vater macht sein Referat für Halle und wir versuchen bei der miserablen Beleuchtung zu schreiben, so gut es gehen will. Hier im Hotel ist reger Verkehr; kein Tag vergeht ohne daß wir zu Berlepschens und sie zu uns kommen; auch mit Plötzens stehen wir gut, wenn auch nicht warm, nur den Landgrafen haben wir noch nicht erblickt. Am Freitag waren wir bei einer kleinen musikalischen Soirée bei Frau Richter. Die Musik war nicht so gut wie sonst; eine Italienerin mit üppigem Haarwuchs sang recht schrill und eine andere spielte mit rasender Fertigkeit, aber ohne viel Ausdruck. Nur eine junge polnische Geigenvirtuosin spielte mit einem Feuer und einer Weichheit, die geradezu hinreißend waren. Junge Herren waren kaum vorhanden, sodaß uns beim Moment des Soupers etwas bänglich zu Mute ward. Sabine fand einen ganz reizenden alten Engländer, der bei Harrachs zu Besuch ist, Mr. Gore, und ich mußte mich mit dem faden Studnitz abfinden. Es ging besser als ich dachte. Ich habe selten gefunden, daß man aus einem Menschen auch gar nichts herausbringen kann; wenn man nur auf die richtige Feder drückt, irgendein Interesse oder Steckenpferd thut sich doch meist eine Thüre auf. Um dies bald herauszufinden, gehört meiner Ansicht nach weniger Menschenkenntnis als Wohlwollen und Geduld. Den bewußten Studnitz brachte ich also auf seine englischen Reisen und er rappelte sich dermaßen aus seiner dummen Blasiertheit auf, daß er ein ganz anderer Mensch schien. Dann feierten wir ein Wiedersehen mit dem Baumeister Ihne,⁸ der vor sechzehn Jahren in Wernburg war und gleich wissen wollte, welche von uns beiden „das kleine Greuel“ war. Er ist ein angenehmer, be-

7 Eines der damals meistgespielten Stücke von Gerhart Hauptmann, Erstaufführung 1896. 8 Ernst Eberhard Ihne (1848 – 1917), königlich preußischer Hofarchitekt.

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gabter Mensch, seit vorigem Jahr mit der Sängerin Palloni verheiratet und sehr glücklich, wie man sagt. Gestern versammelten wir uns zur ersten Tanzstunde bei Arnim-Muskau. Es war noch ein ziemliches Chaos, da Frau Wolden selbst noch nicht im Reinen war, wie eigentlich der Tanz beschaffen sein sollte. Schließlich kam eine Art Aufstellung zustande, die Zahl der Paare wurde auf 28 Paare festgesetzt und Sabine auch noch aufgefordert dazu, was mich ungemein freut. Ich lege eine Liste der Tanzenden hier ein: Crème de la crème! Graf Schulenburg – Gräfin Bassewitz Prinz Ernst Altenburg – Gräfin Arnim-Muskau Graf Arnim-Boitzenburg – Gräfin Klinckowström Herr Senden III. – Frl. Spitzemberg Graf Pfeil – Gräfin Stolberg Herr Schwarzkoppen – 1. Gräfin Kanitz Prinz Taxis – 2. Gräfin Kanitz Graf Baudissin – Gräfin Harrach Graf A. Eulenburg – Frl. Kurowsky Herr Esebeck – Frl. Winterfeldt Herr Spitzemberg – Frl. Berlepsch Herr Ploetz – Frl. Erffa I Herr Münchhausen – Frl. Mitzlaff Herr Venningen – Gräfin Goertz Prinz Alfred Coburg – Gräfin Irma Kanitz Herr Roon – Frl. Senden Herr Hindenburg – Frl. Schmidthals Herr Kleist – Gräfin Arnim Mell. Herr Fürstenberg – Gräfin Schulenburg Graf Hochberg – Gräfin Goertz II Fürst Lynar – Gräfin Kanitz-Podangen Herzog A.T. Mecklenburg – Prinzess Radziwill Prinz Carolath – Prinzess Salm Herr Senden I – Frl. Hindenburg Graf Eulenburg – Frl. Ploetz Herr Caprivi – Frl. Erffa II Herr Alvensleben – Gräfin Schlieffen Herr Seydlitz – Gräfin Königsmarck

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Und, mit wenigen Ausnahmen ganz reizende Mädchen. Ich tanze mit dem Sohn Plötz, einem guten, dicken und recht jungen Kürassier. Wir waren alle sehr verblüfft über das Erscheinen der beiden Töchter Görtz, Töchter der „schönen Gräfin“ aus Weimar. Sie sind beide so kolossal, haben solche dicken, großen Figuren, daß alles zurückprallt, vor allem die unglücklichen Tänzer. Als sie gestern in dicken Lodenkleidern erschienen, waren wir sämtlich überwältigt. Dabei haben sie wunderschöne, edle Köpfe und beide einen reizenden, kindlichen Ausdruck. Der Kaiser macht großen Sums mit ihnen, besucht sie, sorgt ihnen für Tänzer und zeichnete sie auf dem Hofball sehr aus; man sagt, er wolle den Herzog E.G. bewegen, die Älteste zu heiraten, wohl eine aussichtslose Sache! Heute waren Gotthard mit Frau und Emmy Speßhardt zu Tisch; die arme Illa, die ein Kind erwartet, sieht so abschreckend häßlich und verunstaltet aus, daß man ganz entsetzt ist, a perfect fright. ⁹ Eben bin ich sehr lang unterbrochen worden. Graf Solms, der mit dem Vater das Roßlebener Essen arrangiert, elendete uns wohl eine Stunde lang mit Fragen nach Adressen. Er hatte keine Liste für die Einladungen mit, wußte auch nicht, welche er besorgt und welche nicht, nahm von allen älteren Menschen kaltblütig an, daß sie im Laufe des Jahres verstorben, kurz, quasselte und verhedderte sich so lang, bis der Vater erschöpft in sein Zimmer ging, um zu arbeiten und ihn uns überließ. Wir haben ihm nun Namen und Adressen nach Kräften aufgeschrieben, er hatte einen tüchtigen Schnupfen und lispelte immerzu: „Seien Sie nur nicht böse, daß ich mich schon wieder schnaube!“ Dann stürmte er fort mit Hinterlassung seiner Mütze, Säbel und sonstiger Habe und Sabine und ich saßen noch lange da und lachten bis zu Thränen über diesen Faselhans. Dienstag, den 9ten. Der gestrige Tag war ein ganz besonders hübscher, ein Tag, von dem man sich sagt, er war so gelungen, daß er nicht viele seines Gleichen haben wird. Frostwetter mit Sonne ist für mich überhaupt das Wetter, das am meisten Heiterkeit ausdrückt und darum auch hervorruft. Im Sommer leiden wir zu sehr unter der Sonne, um sie recht zu genießen, auch sehen wir sie zu oft, um sie noch als besondere Wohltat zu empfinden und der Frühling hat ebenso wie der Herbst manchmal einen wehmütigen oder wenigstens sentimentalen Charakter. Aber eigentlich sind diese Betrachtungen alle Unsinn; wir sehen die Natur und alles Übrige doch nur in dem Licht, in der Stimmung, die wir gerade im Inneren tragen. Also auf dem Eis war es gestern reizend; wer nur irgend einen Schlittschuh anschnallen konnte, tummelte sich herum, eine Menge Bekannter, der reizende alte Prinz Salm, die dicken Görtzens, die lustigen Engländer, das Ehepaar Ritter mit Kindern u. a.m.

9 Zum Fürchten.

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Ich ließ Sabine allein fortgehen und blieb bis gegen 5 Uhr unter Frau von Sicks Schutz. Die Bäume hoben sich wie glitzernd weiße Spitzengewebe von dem roten Abendhimmel, bis er zuletzt gelber und gelber wurde und sich in zarte graue und blaue Töne hüllte. Vier Stunden darauf drehte ich mich in einem engen, heißen, lärmenden, glänzend erhellten Saal – der Kontrast war groß und trotzdem – amüsierte ich mich ebenso gut! Der Ball bei Lascelles,¹⁰ dem englischen Botschafter war sehr voll aber trotzdem sehr flott und unterhaltend und dauerte bis 3 Uhr. Es waren allerhand Leute da, von den Prinzessinnen bis zu den spaßhaftesten ausländischen Sekretären herab. Getanzt wurde in jedem Tempo und jedem Takt, oft auch ohne beides, aber trotzdem hatte man Dank der liebenswürdigen Gastlichkeit der gesamten Botschaft gar nicht das Gefühl von einem unbehaglichen Völkerfest. Unser guter Mr. Gore leistete sich auch das Unglaublichste mit Tanzen, schleppte uns unzählige Male um den Saal herum und meinte dann: I think your sisters and you are the best dancers in the room. Dabei kannte er im Ganzen vielleicht 5 Mädchen. – Wir lernten einen Herrn von Bültzingslöwen kennen, den uns Herr von Bockelberg täglich als den reizendsten, angenehmsten Menschen anpreist. Davon kann ich nach dem Einmal-Sehen nicht urteilen; ich weiß nur, daß er sehr hübsch ist und mich schauderhaft auf den Fuß getreten hat. Mit Bockelbergs haben wir auch regen Verkehr; sie hat ihr Häuschen sehr zu uns gebaut und er ist ein ganz specieller Freund. Heute hatten wir dann allein schon um 9 Uhr Tanzstunde und es war wirklich jämmerlich, wie grau und vertanzt die hübschen Mädchen von gestern Abend aussahen. Das Tanzen ging auch sehr mäßig und Frau Wolden schimpfte gehörig! Sonntag, 14.2.97. In der vergangenen Woche haben wir so viel mitgemacht und geleistet, daß ich bei jedem Anderen, von dem ich das Gleiche hörte, sagen würde: Es war ein Wahnsinn! Daß es kein Wahnsinn war, haben wir bewiesen, denn es ist uns allen vieren ausgezeichnet bekommen und wir waren von A-Z frisch genug, um alles zu genießen und freuen uns heute über einen stillen Abend, um alles verdauen zu können. Wenn ich nicht chronologisch verfahre, so komme ich nicht durch, also: Am Dienstag waren Sabine und ich allein zum General Hann Weyhern, Frau Heydens Bruder, zu einem Jugendessen eingeladen. Wir fürchteten uns, viele fremde Menschen zu treffen und fanden stattdessen allerhand Bekannte, einen Münchhausen aus Herrngosserstädt, Herrn Sommerfeldt, eine Frl. Lindeiner, die mit Bibs im Atelier ist, einen alten Roßlebener aus Jörges Zeit und manche andere. Es war

10 Sir Frank Lascelles (1841 – 1920), britischer Botschafter im Deutschen Reich 1895 – 1908.

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wirklich recht animiert; die Frau des Hauses sehr jugendlich und liebenswürdig, er dagegen nicht so angenehm, laut und etwas korporalmäßig. Am Mittwoch besuchte ich Femi Dohna, die zu Aussteuerbesorgungen auf 14 Tage hier ist und gleich einer Influenza zum Opfer fiel. Sie war reizend wie immer, eigentlich noch viel reizender als vor ihrer Verlobung. Ihr Bräutigam ist hier sehr unbeliebt und soll kein angenehmer Mensch sein. Dem widerspricht, daß sie, die in jeder Beziehung, besonders, was Charakter betrifft, wählerisch ist, und auch diesmal sich lange Zeit ließ, ehe sie sich diesem Mann verlobte, ganz und gar befriedigt ist. Sie sprach in einer so ruhigen, sicheren, liebevollen Art über ihn und ihre Heirat, daß mir ganz getrost zu Mute wurde. Sie weiß, was sie thut! Am Abend war kleiner Hofball, auf dem sich alles sehr gut unterhielt, bis auf die armen Prinzessinnen. Das kam so: Der Kaiser, in rosigster Laune, wollte den vielen jungen Prinzen ein Vergnügen machen und erlaubte ihnen, nach Neigung zum Souper zu engagieren. Diese stürzten sich auf ihre Bekannten und als das Zeichen zum Souper gegeben wurde, und die ersten Spitzen sich herausgeführt hatten, standen die Prinzessinnen als Mauerblümchen da, wußten nicht, ob sie befehlen durften, zogen schließlich ungeführt heraus und setzten sich alle zusammen ohne Kavaliere an ihren Tisch. Der Hofmarschall, außer sich, stürzt fort, und holt einige alte Botschafter von ihren Tischdamen fort als Ersatz für die jungen Prinzen. Die Prinzessinnen alle wütend und entrüstet, die Hofleute im größten Dilemma, nur die Prinzen mopsfidel – es muß ein angenehmer Zustand gewesen sein. Kleine Ursache – große Wirkung! Übrigens war der Erzherzog Otto da, ein schöner Österreicher, aber ich glaube ein sehr schlechter Charakter. Der Kaiser ließ Hanna rufen und stellte sie seinem Gast vor: „Fräulein von Spitzemberg, seit Jahren das schönste Mädchen Berlins!“ Wir fanden dies alle recht taktlos! Es klang so, wie wenn man einem Sachverständigen eine gute Ware anpreist und gerade so einem Kerl gegenüber war es doch für ein junges Mädchen eine peinliche Situation. Er konnte ihm diese Bemerkung ja leise machen. Der alte Kaiser hätte es gewiß nicht getan. Ich hatte ein sehr lustiges Souper mit dem netten Grafen Mirbach-Geldern. Da wir unten keinen Platz mehr fanden (sitzendes Souper), zogen wir herauf und wurden sehr nobel an den Tisch der Flügeladjutanten placiert. Neben Herrn Scholl waren zwei leere Plätze und Herr Mirbach sagte gerade zu ihm: „Nun, Scholl, wenn Sie sich hierher setzen, so setzt sich gewiß gleich eine hübsche junge Dame daneben“, als wir anrückten und ich mich neben ihn setzte. Das gab natürlich viel zu lachen und die beiden alten Herren überboten sich an ritterlicher Artigkeit und Liebenswürdigkeit, sodaß das Souper sehr heiter verlief. Ins Hotel zurückgekehrt, veranstalteten wir noch bei Berlepschens eine urgemütliche kleine Kneiperei. Die

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Herren, unterwärts noch in Gala, Escarpins ¹¹ und Strümpfen, oberwärts in Hausjoppen steckend, wir noch ganz im Staat, tranken wir bei dem trüben Licht einer einzigen Kerze – Bier aus Tassen und Gläsern und hechelten das ganze Fest gehörig durch. Es war zu amüsant! Donnerstag war eine lange Probe vom dritten Teil der Tanzstundengesellschaft und ein langer Kaiserhofball, auf dem wir uns beide nicht so gut unterhielten wie sonst. Es war Valeskas Geburtstag, weshalb auf ihrem Platz beim Souper eine große Torte mit brennenden Lichtern stand, eine nette Attention einiger Herren.– Hanna sah besonders reizend aus. Die dumme Kleist’sche Geschichte spielt noch immer, ohne Aussicht natürlich. Nachdem er sich letztes Jahr einen Korb geholt, schnitt er Hanna zuerst auffallend, daß sie durch Freundlichkeit versuchte, auf einen wenigstens höflichen Fuß mit ihm zu kommen. Sie ist nicht sehr geschickt und übertreibt vielleicht ein wenig; jedenfalls haben wir große Angst, daß er das mißversteht und von neuem Feuer fängt. Ein doppelter Korb – das wäre doch gräßlich. Ich sprach schon verschiedentlich mit Hanna darüber, aber sie meint, es wäre keine Gefahr. Jedenfalls redet schon wieder alles darüber. Am Freitag um 4 Uhr fuhren wir nach Magdeburg, da wir den Magnatenball,¹² bei dem Vater seit Jahren Comiteemitglied ist, endlich einmal wieder besuchen mußten. Wir hatten gerade eine Stunde zum Auspacken, Anziehen und Frisieren, denn um 8 Uhr begann das Fest und dauerte bis ½ 4 Uhr. Den ausgeruhten Beinen aus der Provinz war das gerade recht, aber uns, die wir schon 3 Mal in derselben Woche getanzt hatten, ward es etwas lang. Außer uns waren noch Berlepschens und Schulenburgs von Berlin gekommen und auch sonst traf man sehr viele gute Bekannte: Hagens, Münchhausens, Schulenburgs aus Altenburg, die Zingster Helldorfs, Krosigks, Bodenhausens u. a.m. Es war wirklich eine auserlesene Gesellschaft, nur hatten wir das Gefühl, daß es ohne das Tanzen noch viel hübscher gewesen wäre; denn das war wirklich eher eine Arbeit als ein Vergnügen. Tanzen ist das Einzige wohl mit dem wir in Berlin sehr verwöhnt sind und da war der Kontrast bis auf wenig Ausnahmen wirklich erschütternd. Nachdem wir noch nachts gepackt, schliefen wir drei Stunden und fuhren im kalten grauen Morgen in gehörig verschlafenem, verkaterten Zustand nach Berlin zurück. Nun schnell zu Bett und einmal rumgeschlafen, gefrühstückt, zu Wedels zur Tanzstunde; umgezogen, zu Wedels zum Diner und dann zu Hammersteins zum Ball! Das nennt sich so ein Berliner Tag! Das Diner war zu Ehren von Klärchens Geburtstag, die kurz zuvor von

11 Elegante Lackschuhe 12 Ball der Großgrundbesitzer

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der Hochzeitsreise heimgekehrt war. Außer uns waren nur Berlepschens, die Muskauer, Königsmarcks, Radolins, Solms, Egloffstein, Alvensleben und Schulenburg, der Vortänzer, geladen, sodaß das Fest einen sehr gemütlichen Familiencharakter trug. Ich merke daran, daß ich älter werde, daß ich mich jetzt auf Diners so ausgezeichnet unterhalte. Früher that ich das nur bei Tanzgelegenheiten, aber jetzt ist mir eine nette, flotte Tischunterhaltung fast ebenso lieb wie ein Tanz, nur noch nicht ganz wie ein schöner, langsamer Walzer. Mich führte Schulenburg; er war zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, wirklich liebenswürdig und redselig; seine Eitelkeit ist aber wirklich unerhört. Er hielt Valeska und mir etwa folgende Rede als Vortänzer: „Ich habe gezeigt, daß ich vortanzen kann; ich habe die Berliner Gesellschaft auf allen Festen amüsiert; ich habe meinem Regiment die Stellung wieder gemacht, die es verloren hatte – zu Fastnacht lege ich mein Amt dann nieder und ziehe mich für immer zurück.“ Das alles sagte er mit einer Pose und einem Ton, wie ihn vielleicht der siegreich heimkehrende Cäsar anschlagen mochte – Valeska und ich wechselten einen Blick und verstanden uns! Graf Bismarck, der sich als Ehemann so viel behaglicher fühlt, als als Vortänzer und der die ganze Sache als Mumpitz auffaßte, starrte ihn verständnislos an! Nach Tisch spielte Alvensleben ganz wundervoll Wagner, und Bismarcks, Freda Arnim und Brummy Königsmarck waren so lustig, daß wir ungern zu Hammersteins gingen. Aber dort war es recht lustig; es waren nicht viele bekannte Mädchen da, da gleichzeitig Ball bei Salm war, sodaß wir halb tot getanzt und beim Cotillon von unseren Herren sehr ausgezeichnet wurden. Ich soupierte mit Heyden, mit dem ich mich herrlich amüsierte. Heute haben wir, wie jeden Tag, Tanzprobe bei Wedel; an einem Tag hatten wir deren sogar zwei. Es ist ganz lustig, da man sowohl mit Mädchen als mit Herren sehr bekannt wird dadurch, stets zu allen Bällen vorausengagiert wird und sich manchmal auch ganz gut amüsiert dabei. Andererseits nimmt es sehr viel Zeit: Besuche, Schlittschuhlaufen und Spaziergänge bleiben liegen und dabei hat man doch stets das Gefühl, daß man den Ungeschickten und Unaufmerksamen zuliebe seine Zeit opfern muß. Es wäre besser, wir würden nach Können sortiert, aber was gäbe das für Übelnehmereien? Schulenburg und die Wolden wissen ohnehin kaum, wo ihnen der Kopf steht. Daneben lassen wir von Frieda unsere Kostüme machen – kurz, es macht so ein Kostümfest viel Schererei und die Meinungen sind geteilt über den Erfolg. Heute aßen Wegnerns mit uns zu Tisch, gestern Karl Bibra, neulich Hans und Lene. Bei Hans in Potsdam draußen ist’s übrigens reizend; die drei kleinen herzigen Mädele mit ihren Lockenköpfchen sind einzig und ein rührendes Bild ist es, sie neben ihrem Vater am Klavier sitzen und mit heller Stimme Weihnachtslieder singen zu sehen!

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Donnerstag, 18ten Februar. Am 15ten – ich fahre im menu de plaisirs fort – war ein ganz kleines, reizendes Fest bei Plötzens im Reichshof; wo gut und viel getanzt wurde. Ich hatte lauter nette Tänzer, Heyden zum Souper, Schwarzkoppen zum Cotillon, Albrecht Eulenburg, den allgemeinen Liebling, und Schulenburg zu den Gehtänzen, außerdem den kleinen Herzog von Mecklenburg, der, ebenso wie der Altenburger Prinz, sich als Mensch, nicht nur als Prinz, seine gute Stellung gemacht hat. Dienstag war eine abscheuliche, drei Stunden lange Probe im Weißen Saal, erstens sah unser Tanz ganz mißglückt aus in dem großen, leeren Raum; dann verlangte der Oberhofmarschall Eulenburg, die Paare sollten in zwei Abteilungen geteilt werden. Darauf grenzenlose Verwirrung: Die Wolden und Schulenburg fuhren sich in die Haare, die Mütter gerieten zum Teil in Wut, weil ihre Töchter nicht gut gesehen wurden, Else Schmidthals erklärte, austreten zu wollen, wenn sie nicht vorne tanzen dürfe und der junge Taxis war buchstäblich den Tränen nah, weil er vorne tanzen sollte. Wir übrigen wurden durch den langen Zank und das viele Proben zuletzt so gereizt oder teilnahmslos, je nach Anlage, daß wir ganz kaputt waren. Auch auf dem nachfolgenden Schmidthals’schen thé dansant war ich zu abgespannt, um irgendwelchen Genuß zu haben. Das Gefühl war mir neu und schrecklich zugleich. Ich tanzte, sprach und lachte zwar, wie eine Maschine, die man aufgezogen hat, aber die ganze Zeit dachte ich nur an mein Bett und fand die Lanciers blödsinnig, den Cotillon geistlos, die Menschen, die sich amüsierten, unbegreiflich und abgeschmackt. Wie im Traum hörte ich, wie reizend das Fest sei, wie animiert und wie unterhaltend – endlich, endlich sagten wir Adieu und fuhren ins Hotel. Das weiß ich, daß, wenn mir das Tanzen schlecht bekäme und mir öfters so zumut wäre wie vorgestern, daß ich dann mit keinem Fuß ausginge. Gestern schlief ich den halben Tag und blieb, bis auf die unvermeidliche Probe, zu Hause. Auch heute ließ ich die Eltern und Bibs allein zu Königsmarcks gehen und will mich, sowie ich geschlossen, ins Bett begeben, denn ich will, will nicht, daß das Vergnügen auf Kosten der Gesundheit gehe, daß man sage, ich wäre abgetanzt und hätte mich kaput [sic] getanzt! Das kommt mir so unwürdig, fast sündig vor! Ich glaube, daß in diesem Fall das Vergnügen auch zum Unrecht würde, daß man die Grenze, die z. B. auch zwischen satt und überfressen, ausgeruht und faul besteht, überschritte. Sonnabend, 20ten. – Meine Schlafkur war rationell: frisch und munter erschien ich am Freitag wieder auf der Bildfläche. Es war abermals eine Probe im Weißen Saal und wirklich in zwei Auflagen geteilt, aber die aufgeregten Gemüter hatten sich beruhigt und alles ging nach Wunsch. Wir tanzen in vier Colonnen und dadurch, daß die letzten Paare der ersten Serie als erste Paare der zweiten Serie tanzen, entstehen Gruppen von vier und vier Paaren, was hübsch aussieht und doch kein

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Gedränge gibt. Außerdem proben wir einen langsamen Walzer, ein Schottisch, eine alte Française und einen Schlußreigen. Heute mußten wir lange warten im Schloß, weil der Kaiser mit der Schloßwache auch eine Aufführung probte. Wie hätte man in einem anderen Jahr diese Gelegenheit zum Schwatzen und Courmachen benutzt; aber in diesem Jahr sind wir uns so gewohnt, daß in dieser Stunde die Herren auf einer, die Damen auf der anderen Seite saßen, wie in der Dorfkirche. Wir sind ganz heimisch im Schloß durch die täglichen Besuche, tummeln uns in der Bildergalerie umher, sitzen kameradschaftlich auf den aufgerollten Teppichen und trinken Thee, den wir durch vieles Schimpfen und deutliche Winke endlich erreicht haben. Die Herren genierten sich nicht, den Sohn Eulenburg¹³ laut zu fragen: „Viktor, wo bleibt der Thee?“ oder, „Sag doch Deinem Herrn Vater, wir wunderten uns, wie knapp es in der Hofküche zuging.“ Etc. etc. Das half auch endlich und ist auch nicht mehr als billig, wenn wir uns für die Majestäten trockene Kehlen antanzen müssen. – Öfters sehen die Prinzen mit der Kaiserin zu, besonders wenn die Prinzessin Feodora mittanzt. Die ist übrigens reizend bescheiden, tanzt immer in der Mitte und ist sehr ärgerlich, wenn man sie als Prinzeß behandelt. Wir tun es auch nicht.Am Freitag war ein reizender Ball bei Kurowsky, an dem Fanny, das Äffchen, allerliebst die Honneurs machte und Albrecht Eulenburg, vor Vergnügen und Stolz strahlend, vortanzte. Ich soupierte mit Geldern, dessen Unterhaltung durch seine Beobachtungsgabe und sein richtiges, unbefangenes Urteil über die hiesigen, ihm neuen Verhältnisse sehr fesselnd und reizvoll ist. Jede Gesellschaft hat ihre Idole und Sündenböcke, ihre hergebrachten, viel nachgesprochenen Urteile; da tut es gut, einmal einen ganz Fremden, der nur nach seiner Überzeugung urteilt, darüber zu hören. Cotillon hatte ich mit Esebeck, mit dem wir fast wie zu einem Vetter stehen. Gestern abends kamen unsere Rotenhans¹⁴ an und wollen eine Woche hier mit uns verleben, was uns natürlich riesig freut. Sie wohnen draußen bei Georgs, sind aber natürlich immer unterwegs. Heute liefen wir Besorgungen mit der alten, lieben Mag, heute essen sie bei uns. Es ist uns allen so neu, sie hier zu haben, darum aber so besonders nett und unterhaltend. Mag sieht rosig und wohl aus und interessiert sich glühend für alles. Montag, 22. Gestern hörten wir eine herrliche Predigt von Dryander, eine Predigt, die einen Eindruck machte auf jeden, der sie hörte, so ernst und eindringlich war sie; besonders heilsam in diesem Strudel, der Sammlung, wenn auch nicht un-

13 Victor Graf zu Eulenburg (1870 – 1908), Sohn des Ministers des königlichen Hauses August Graf zu Eulenburg (1838 – 1921). 14 Hildegards ältere Schwester Margarethe und ihr Ehemann, Hermann Freiherr von Rotenhan.

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möglich macht, doch sehr erschwert.– Den übrigen ganzen Tag war ich mit Berlepschens unterwegs, da die Mutter sich Rotenhans widmete und Bibs ausruhte. Bei der Probe hatte ich eine längere Unterhaltung mit Lori Harrach, die sich zu einem recht klugen, interessanten Mädchen herausgewachsen hat. Der zweite Vortänzer, Graf Baudissin scheint sehr verliebt in sie; wenigstens sitzen sie stets nebeneinander in einem Winkel, er sieht eigentlich nur sie und weicht nicht von ihrer Seite; und bei alledem hat man nicht den Eindruck einer Courmacherei sondern einer ernsten Neigung von beiden Seiten. Ob die stolzen Harrachs aber ihre Tochter dem ersten besten Leutnant geben, scheint uns problematisch. Am Abend war ein Ball bei Gräfin Schulenburg, von dem ich nichts Besonderes zu berichten habe. Dienstag, den 23ten. Gestern war’s zu reizend, zu drei Schwestern auszugehen. Nach einem Frühstück bei Spitzemberg gingen wir mit Mag in den Weißen Saal und zeigten ihr alle unsere Bekannten. Das Kostümfest ist auf Sonnabend verschoben, weshalb die Proben noch immer kein Ende nehmen. Am Abend war der Berlepsch’sche Ball, zu dem freundlicherweise auch Rotenhans eingeladen waren. Mag sah in einem weißen Kleid mit Spitzen und Federn wunderhübsch und frisch aus und behauptet, sich gottvoll amüsiert zu haben. Hermann dagegen empfahl sich schon vor dem Souper wieder. Es war nur schade, daß Vater uns nicht alle vier in einer Française konnte tanzen sehen, da er in Oerlsdorf zur Gutsübernahme sein mußte. Schulenburg war so liebenswürdig, so gänzlich verwandelt in seinem ganzen Wesen, daß ich mir als einzigen Grund nur denken kann, er habe sich mit Freda Arnim wirklich verlobt; es ist unmöglich, daß er diese Freundlichkeit gegen jedermann nur aus sich selbst ohne besonderen Anlaß hat. Heute frühstückte ich mit Rotenhans bei Axels, wo die erste Begegnung zwischen Hermann und Onkel stattfand. Letzterer war liebenswürdig und zeigte sich von seiner nettesten Seite, sie wie immer unpünktlich, aber ganz munter. Ich überließ sie ihrem Schicksal und spielte mit dem reizenden Johann-Conrad, einem zwar spät entwickelten, aber wundervollen, begeisternden Kinde. Dann war ich bei Berlepschens und sprach den ganzen Ball gründlich mit Valeska durch. Es kamen wenig Menschen zu dem Jour, weshalb wir alle Zeit dazu hatten. Heute Abend sitzen wir nun hier und Rotenhans im Cirkus – infolge mangelhafter Verabredung! Freitag, den 26.2.97 – Nein, diese Valeska! Am Dienstag war ich den ganzen Nachmittag bei ihr und um fünf Uhr fährt sie nach Potsdam mit dem festen Entschluß, sich dort zu verloben! Mittwoch früh kommt sie lachend herauf: „Ich muß dir was erzählen!“ Ich fiel ihr gleich um den Hals: „Du hast dich mit Hirschfeld verlobt!“ – denn wir hatten munkeln hören. Er ist blutjunger Leutnant bei der Garde du Corps, sehr gut aussehend, aber nicht sehr klug, dünkt mich. Fast erscheint er mir Valeska

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nicht wert zu sein, so jung und grün wie er ist, aber das muß sie am besten wissen. Vater Berlepsch, der den jungen Mann nie gesehen, ehe er anhielt, scheint auch nicht vollkommen zufrieden, während sie die Verlobung ihrer Tochter in ihrer etwas burschikosen Art nur als lustige Überraschung, als Sport auffaßt. Ich schätze sie sehr, aber diese Art ist mir sehr störend an ihr. Mittwochabend waren wir mit der Großmutter in der Urania, wo der „Kampf um den Nordpol“ in ausgezeichneter Ausstattung gegeben ward. Die verschiedenen Expeditionen mit ihren Erlebnissen zogen an uns vorbei: Wir sahen die herrlichen Eisformationen, die mächtigen gründurchsichtigen Blöcke in dem dunklen Wasser, die magischen Effekte des Nordlichts; wir erlebten mit, wie das Schiff der Nordpolfahrer in furchtbaren Eispressungen unter Sturm und Donnerkrachen zermalmt wurde, wie die Schiffbrüchigen auf der treibenden Scholle ihr Dasein fristeten, mit Schlitten über die gefährlichsten Spalten zogen, in die Tiefe stürzten, Weihnachten unter der Schneehütte feierten etc. Alle Expeditionen der letzten Jahre wurden uns so anschaulich gemacht, bis die Sache in der Nansen’schen Reise mit der Rückkehr der „Fram“ ihren Abschluß fand. Da das Schiff im Vordergrunde still blieb und die Scenerie dahinter vorbeizog, bekam man zuletzt das Gefühl, als ob man diese Triumphfahrt mitmache. Durch die herrlichen Lofoten ging’s die Küste entlang, alle Städte hatten illuminiert, in Bergen war ein großartiger Empfang mit Böllern und Nationalhymne – und wir auf unseren Theaterplätzen wurden so vergnügt, als ob wir die Strapazen wirklich miterlebt hätten und nun eine frohe Heimkehr unsrer wartete. Gestern gab Wolfram Rotenhan Rotenhans und uns ein sehr lustiges feines Frühstück, sodaß wir in sehr gehobener Stimmung zur großen Probe kamen. Nachdem Frau Wolden eine lange Rede gehalten und wir unsere sämtlichen Tänze noch einmal durchgetanzt, erschien das „Volk“, alle Übrigen nämlich, die nicht in der Tanzstunde gewesen und die Rundtänze erlernen wollten. Sabine und ich hatten sie bald los und lehrten sie einer Menge von Herren. Außerdem kam die unglückselige Sache zwischen Kleist und Hanna zu einem hoffentlich definitiven Abschluß. Kleist scheint also wirklich geglaubt zu haben, Hanna sei ihr Korb leid geworden und war so albern, durch allerhand Freundinnen, Valeska und Fanny, sondieren zu lassen. Erstere war nett und taktvoll, nahm ihm auch ziemlich alle Hoffnung, Fanny aber kann nie den Mund halten und machte sich überall wichtig mit ihrem Wissen. Bei Schulenburg rannte er vom Ball fort, bei Berlepsch ließ er mich elend beim Souper sitzen, benahm sich überhaupt so auffallend, daß ihm Hanna sagen ließ, sie wolle ihm Gelegenheit zu einer offenen Aussprache geben. Diese fand dann im Weißen Saal statt – unglücklich gewählter Moment! – und Hanna hatte den Eindruck, daß er wohl ergriffen aber doch erleichtert daraus hervorging. Hanna war auch sehr zufrieden und Fanny, die zugesehen bei der Unterredung, hatte interessanten Gesprächsstoff für eine ganze Woche!

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Am Abend gaben die Eltern ein elegantes Diner im Reichshof und Frau von Wedel einen reizenden Ball für unsere Tanzstunde. Es war der Abschluß einer netten Episode unserer Berliner Zeit, denn wenn wir auch täglich über die zeitraubenden Proben schimpften, so sagten wir doch alle, als sie vorbei, ganz wehmütig: So eine Zeit kommt nie wieder! Aber manche Erinnerung an fröhliche Kameradschaft und Freundschaft nehmen wir davon mit: Heute aßen wir bei Spitzembergs und ruhen uns recht gründlich auf das morgige Kostümfest aus. Sonntag, 28. Februar 97. Das gestrige Kostümfest¹⁵ war so gelungen, daß man alle Mühe, die es durch seine zahlreichen Vorbereitungen gemacht, gerne in Kauf nimmt. An Echtheit stand es allerdings hinter Mannas Polterabend zurück, aber an Glanz, Unterhaltung und Großartigkeit war es wirklich einzig in seiner Art. Man hört nur eine Stimme der Begeisterung und des Entzückens darüber. Das Anziehen war schon eine Leistung, bis die Friseuse mit unseren drei kunstvollen Lockenfrisuren zu Ende, bis die ungewohnten Gewänder angelegt; und bis namentlich Vaters Kostüm in Ordnung war. Im ganzen Hotel war ein Aufruhr; Gräfin Carmer hatte sich die unglaublichsten Leute eingeladen und außerdem die ahnungslose Großmutter geworben und zog an der Spitze eines langen Zuges durch die Wohn- und Schlafzimmer der verschiedenen Stockwerke, die honneurs von uns geschmückten Leuten machend. Ich mußte lebhaft an einen Tierbändiger denken, der die verschiedenen Käfige seiner Menagerie dem staunenden Volke zeigt. Der arme Herr von Ploetz wurde selbst in seinem Schlafzimmer von dem Schwarm ihm zum Teil gänzlich unbekannter Damen überfallen. Bei Berlepschens war ein förmlicher Rout uns zu Ehren. Selbst Onkel Axel hatte sich dazu aufgeschwungen. An uns zu sehen war Folgendes: Vater im zimtbraunen Rock mit echter alter Weste, Jabot, Escarpins und Perücke mit Zopf. Der Eindruck war durch den Vollbart sehr beeinträchtigt. Mutter in einem lila seidenen Kleid mit goldgesticktem Devant, in hoher leichtgepuderter Frisur und ihrem schönen lila Schmuck sah prachtvoll echt aus, wie ein schönes altes Bild. Sabine und ich, wie die meisten Mädchen in Mullkleidern, kurzer Taille, mit rosa und grünem Band und einigen Cameen garniert, dazu großen ungepuderten Lockenfrisuren, mit Band durchflochten. Sabine besonders stand es ausgezeichnet. Da wir im Wagen, anstatt wie vor 100 Jahren in der Sänfte zu Hof fuhren, war die Mutter, die 30 cm lange Federn auf dem Kopf trug, genötigt, wie ein Klappmesser auf uns zu lehnen. Nun, wir langten glücklich an. Das gab ein Lachen, ein Verwundern und Verkennen, das kein Ende nehmen wollte. Manche von unseren Tänzern erkannten wir überhaupt erst am Ende des Abends. Da alle Diplomaten und Beamten,

15 Zum 100. Geburtstag von Wilhelm I. sollte alles kostümiert sein wie 1797.

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selbst die Minister, weggelassen worden waren, hatte das Fest einen ganz intimen vaterländischen Charakter und der Weiße Saal nahm sich sehr pompös und vornehm aus. Der schönste Raum verliert sein Gepräge, wenn er voller Menschen gestopft ist und jedes Völkerfest hört auf, ein vornehmes zu sein. Selbst wir Mädchen saßen auf dem Haut-pas¹⁶ vor Anbeginn des Festes – man höre und staune! Wir saßen! – eine große Wolke von weißem Mull und hängenden Locken. Ich glaube, wir nehmen uns sonst im Ganzen hübscher aus; denn all’ die hübschen Nacken und Schultern waren bedeckt, die guten Figuren kamen durch die kurzen Taillen nicht zur Geltung und die Köpfe sahen zum Teil unförmig groß aus. Hübscher als sonst, wirklich auffallend reizend sah nur die kleine Prinzeß Radziwill aus, während Hanna ganz verschwand. Bildschön waren auch Gisela Pourtalès und Gräfin Schönborn. Das ist überhaupt stets unterhaltend bei solchem Fest, daß die sonst sehr gefeierten Schönheiten oft verschwinden und weniger schöne Gesichter durch die fremde Tracht einen neuen, charakteristischen Reiz bekommen. So war die Reihe der Mütter mit den vielen nickenden Federn ein malerisches Bild, aus dem ich nur Frau von Wedel und Frau von Hahnke als besonders echt herausheben möchte. Die jungen Herren in den kleidsamen Uniformen sahen besonders durch die weißen Zöpfe und hellen Jabots durch die Bank besser aus als sonst. Die Ulanen in den scharlachroten Bosniakenröcken bis an die Knöchel, die Ziethenhusaren mit Pantherfellen auf der Achsel, die Kürassiere als Regiment „Gens d’armes“, all’ die bunten friederizianischen Uniformen belebten das Gesamtbild aufs Malerischste. Salm, Krockow, Lothar, Venningen und Viktor Eulenburg sahen am besten aus nach meinem Geschmack. Als das Zeichen gegeben ward, erschien die Kaiserin inmitten ihres Gefolges, knixte altvetterisch [sic] nach allen Seiten und nahm auf dem Thron Platz. Sie sah recht gut aus. Unter Trommeln und Pauken, die einem fast das Trommelfell sprengten, führte der Kaiser ihr darauf seine Schloßwache vor und ließ allerhand alte Griffe exercieren. Der Lärm, die dröhnenden Schritte und die ganze Leistung schien mir ebenso der damaligen Zeit wie dem Ort des Hofball-Parketts zu widersprechen und dann war mir die Freude und Wichtigkeit, mit der der Monarch diese Produktion zum Besten gab, nicht sympathisch. Es ist vielleicht recht unbillig, so zu denken, denn warum soll er als junger Mann sich nicht auch mal amüsieren? Aber sein Interesse daran war so markiert, so in die Augen fallend, daß mir unwillkürlich allerlei seltsame Gedanken über die schlechten Zeiten und die Schwere und Heiligkeit der Regentenpflichten aufstiegen, die sich mit der Freude an dieser Komödie nicht in Einklang bringen ließen. Nach einem großen Umzug des Hofes erschallten Fanfaren und aus den beiden entgegengesetzten Eingängen des Saales zogen wir in

16 Erhöhte Tribüne.

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zwei langen Reihen herein, vereinigten uns in der Mitte und machten zu zwei und zwei Paaren ein tiefes Compliment vor dem Thron; dann tanzten wir zu allgemeiner Zufriedenheit und ohne Fehler unsere kunstvolle Gavotte à la Vestris und zogen hinaus wie wir kamen. Nun folgten sich Walzer und Schottisch, bei deren langsamen Tempo man fast einschlief, die Française war reizend graziös und der Schlußreigen ein malerisches Ganzes. Auch beim Souper war alles in der besten Laune, die überhaupt das Merkmal des ganzen Abends war. Der Kaiser, der sich seine Perücke tief ins Gesicht gedrückt, sah ungünstig und so verändert aus, daß ihn verschiedene Leute anredeten, was ihm großen Jux machte. – Man entdeckte immer wieder Neues: Da einen Prinzen, der einen umgestürzten Milchkübel als Helm trug, dort einen Marineofficier, der, mit rotem offenen, strähnigen Haar, aussah, als wenn er die Tuilerien mitgestürmt hätte, hier einen Ziethen aus dem Busch, dort einen vollendeten Kavalier. Man hätte nur mehr Augen haben mögen, um alles zu sehen. Bei Berlepschens sprachen wir noch alles durch und bewunderten den Bräutigam, der du Jour¹⁷ gewesen und in ein prachtvolles, aber sehr enges Samt-Kollet hineingenäht worden war. Wir Tanzenden wurden sehr fetiert, die Majestäten äußerten wiederholt ihre Anerkennung; (es wäre auch schmählich, wenn wir noch immer nichts gekonnt hätten!) und Frau Wolden, die in ihrer Loge saß, hielt uns, nachdem der Hof hinausgezogen, eine schwungvolle Lobrede: „Ich danke Ihnen, meine Herrschaften! Ich bin entzückt, begeistert, bewegt! Es war – wundervoll! In meinem ganzen Leben habe ich nicht so eine Freude gehabt und mein ganzes Leben wird mich die Erinnerung daran begleiten!“ Wir klatschten in die Hände, die Herren schwenkten die Hüte, alles jubelte ihr zu. Es war wohl das erste Mal, daß im Weißen Saal auf einem Hofball einer nicht zum Regentenhaus gehörenden Person eine Ovation gebracht ward! Und diese Eine war eine alte Balletteuse! Mittwoch, 3ten. Der gestrige Fastnachtsball, wo kein Apfel zu Boden fallen konnte, wo man von vorn von den Kammerherren vor die Brust gestoßen und von den Hintermännern auf die Hacken getreten wurde, wo das Souper ein unwürdiger Kampf ums Dasein war, stand in scharfem Kontrast zum Kostümfest. Ein richtiges Völkergewühl! Als Fremder muß man sich höchst unbehaglich darin fühlen, aber solche alten Veteranen wie wir finden auch da noch ihre Rechnung. Wir ließen alle Gehtänze fahren, heuchelten Tanzmüdigkeit und saßen mit den betreffenden Herren in Nischen, Nebenräumen und Galerie, wo eine sehr animierte Unterhaltung zu Stand kam. Zum Souper ließ mich ein ganz junger Leutnant bis zum allerletzten Moment sitzen, entwaffnete aber meinen Zorn gänzlich dadurch, daß er sofort reuevoll gestand, er habe es einfach vergessen. Die Entschuldigung des

17 Der an dem Tag Dienst als Ordonnanzoffifzier gehabt hatte.

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Nichtfindens in dieser Volksmenge lag so nah, daß es mich doppelt freute, daß er gleich mit der nicht sehr schmeichelhaften Wahrheit herauskam. Was muß man oft für dämliche Ausreden hier hören! Und oft noch ein gläubiges Gesicht dazu machen. Am Montag Erlebtes habe ich ganz ausgelassen, obwohl es nicht uninteressant war. Um zwei Uhr gab uns der Landgraf ein großes Frühstück im Kaiserhof; ich sage „uns“, denn er hatte es schon früher einmal angesetzt und, da wir verhindert waren, die ganze Sache verlegt. Ich glaube, daß selten so viel verschieden geartete Menschen bei einem Frühstück zusammen waren. Es waren unter andern die Adjutanten der verschiedenen Höfe, Wangenheim, Trotha und Wedel, die Familien Plötz und Kleist, ein schwedischer Attaché, General Korff, verschiedene Leutnants, einige pommersche Abgeordnete (Pächtergenre) eingeladen und allʼ diese Menschen saßen stundenlang und aßen teils mit strahlendem Behagen, teils mit Überdruß ein komplettes Diner mit Austern, Kaviar etc. und Unmassen Sekt dazu. Ich saß neben Wedel, der zwar recht blasiert und zierig tat, aber mich gut unterhielt. Auf einmal erhob sich seine Hoheit und sagte: „Wir trinken auf das Wohl meiner Tante, die heute 68 Jahre alt wird.“ Allgemeines Verstummen und Entsetzen unter den Hofschranzen, die alle von keiner solchen Tante eine Ahnung hatten. Der Adjutant des Landgrafen schrieb ratlos auf sein Menu: Wer ist die Tante? Und dieser Zettel wurde unter Achselzucken um den Tisch gegeben, bis Wangenheim darauf schrieb: Prinzeß Luise, geb. von Preußen.¹⁸ Es war ein komischer Zwischenfall. Der gute Landgraf schickte uns beiden durch den Adjutanten ein Knallbonbon und klebte nach Tisch unbeweglich neben Sabine, für die er ein tendre hat. Er findet sich trotz seiner Blindheit stets wieder zu ihr hin. Am Abend waren bei Siemens zu einer großen musikalischen Soirée eine Menge interessanter Menschen vereinigt. Die Räume waren mit einem Luxus von Blumen und Bildern ausgestattet, wie ich ihn noch nie erlebt. Die musikalischen Leistungen waren hervorragend: Die Polnische Violinspielerin übertraf sich selbst, Frau Schulze-Asten sang Schubertʼsche Lieder und eine kleine Debütantin, Rosa Ettinger mit Namen, rief einen wahren Sturm hervor. Sie ist erst achtzehn Jahre, hat aber eine Stimme wie eine Lerche, eine Leichtigkeit, eine Feinheit des Vortrags, die ganz rätselhaft ist. Man sagt, Hochberg habe sie bereits fürs Opernhaus engagiert und alles sei verrückt auf ein Konzert von ihr. Ja, man prophezeit ihr die Laufbahn einer Patti, wenn sie sich nicht vorher die Stimme ruiniert. Prinz Max von Baden sagte ihr: „You are the beginning of a bird and the end of a girl,“ und zeichnete so sehr betreffend ihren genre. 18 Luise Prinzessin von Preußen (1829 – 1901), geschiedene Ehefrau von Landgraf Alexis von Hessen-Philippsthal-Barchfeld. Warum der Landgraf von Hessen seine geschiedene Frau als seine Tante bezeichnet, ist nicht zu klären. Dass die betreffende Prinzessin an dem Tag ihren 68. Geburtstag feierte, verweist eindeutig auf seine geschiedene Frau.

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Unser Souper war sehr ausgelassen: Lothar mit mir, ein sehr netter Graf Bernstorff mit Hanna, Mohl mit Sabine. Mohl, der alte Geck, in seinem Kostüm vom 27ten ganz unglaublich aussehend, gab uns so viel Grund zum Lachen, daß uns allen schließlich die Tränen herunterliefen. Er machte die albernsten Komplimente, schob sich die Perücke zurück und schlief mitten im Satz ein, lachte aber trotz unseres Spottes unverdrossen so mit, daß er heute behauptet, sich durch Lachen und Essen zugleich den Magen verdorben zu haben. Heute waren wir in der Wereschtschagin¹⁹ − Ausstellung, die wohl packende schaurige Bilder aus dem 1812er Feldzug enthält, uns aber nach Zeichnung und Auffassung gar nicht befriedigte. Sabines Lehrer Hans Looschen aß heute mit uns und erzählte uns manch Interessantes aus dem Künstlerleben. Freitag, den 5ten März. Eine neue Verlobung ist heraus: Der getreue Vortänzer Graf Schulenburg hat sich nach erfüllter Pflicht am Fastnachtsball mit Freda Arnim verlobt. Wir haben ihnen gestern gratuliert und fanden sie reizend, aber sehr verlegen und ihn von bezaubernder Liebenswürdigkeit. Es ist fabelhaft, was aus dem Menschen alles werden kann! Am Abend hörten wir bei Jagemanns Theateraufführungen und bewunderten sowohl die unerhörte Kühnheit der Spielenden wie die Anspruchslosigkeit der Zuschauer. Weiter gab’s beim besten Willen nichts zu bewundern. Alles vom Land ist schon abgereist oder reist in diesen Tagen, während wir noch eine Woche zugeben. Einladungen haben wir noch für den ganzen März, aber nach solch flottem Karneval muß man einmal ein Ende finden. Heute hatten wir einige junge Mädchen beim Thee, mit denen wir uns lange nicht so eifrig unterhielten wie eben mit Tante Higa. Leider ist das leidige Thema vom vorigen Jahr: Axels durch ein ebenso trübes: Evas Verlobung ersetzt worden. Die Hochzeit sollte Mitte Februar sein, Wohnung und Dienstboten waren gemietet, Brautkleid und Aussteuer fertig, als Oleg plötzlich gemütsmäßig ganz zusammenbrach und schleunigst nach Davos reiste. Er erklärt, sich gänzlich unfähig zu fühlen, eine ihm angebotene, sehr vorteilhafte und interessante Stellung in Petersburg zu bekleiden und wünscht die Heirat aufs Ungewisse hinausgeschoben. Dabei ist er körperlich frisch, wohl und kräftig, gar nicht überarbeitet. Die arme Tante, die an Sara bereits solche Erfahrungen machte, weiß sich vor Angst und Zweifeln keinen Rat und die teils schleierhaften, teils heftigen Briefe bringen hier die arme Großmutter und Tante und Mutter in begreiflichen Aufruhr. Eva hält, wie es scheint, sehr fest an ihm und die ganze Sache scheint so unerquicklich wie möglich zu sein. Dabei erfahren

19 Wassili Wereschtschagin (1842 – 1904), russischer Maler von Schlachtenbildern.

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wir Kinder immer nur die Hälfte, Großmutter soll im Glauben bleiben, daß wir gar nichts wissen, unsere Mütter sagen uns Manches und doch nicht Alles, wollen aber unser Urteil hören – kurz, Lothar war neulich ganz rasend über die greuliche, traurige Sache! Nach Wernburg zurückgekehrt, bleibt mir noch die letzte Berliner Woche hinzuzufügen. Am Sonnabend ein kleines, gemütliches Diner bei Harrachs, wo wir viel Schönes sahen und Lori uns reizend die Honneurs von allem machte. Die Baudissin’sche Sache, die schon vor Wochen hätte gestoppt werden müssen, scheint Harrachs nun endlich selbst gefährlich geworden zu sein. Der arme Mensch wurde ans entgegengesetzte Ende des Tisches gesetzt, bekam keine Dame zu führen und wurde ziemlich schnöde behandelt. Er war todunglücklich und sprach kein Wort und wir bedauerten ihn alle von Herzen und verurteilten Harrachs, die ihm viel hätten ersparen können. Sonntag erlebten wir noch ganz mit Spitzembergs und machten all’ unsere Abschiedsbesuche bei den Verwandten in dieser letzten Woche, aßen bei Axels, frühstückten bei Rotenhans, verlebten einen reizenden Abend bei Gerlachs, ja wir pilgerten selbst nach Wilmersdorf hinaus. Einen Abend nahm uns unsere Gönnerin, Frau von Wedel, mit Brummy Königsmarck zusammen in die Oper, einmal erquickten wir uns an Guras²⁰ Gesang. Ich will gern eine alte, ausgesungene Stimme in den Kauf nehmen, wenn sie von solchem Vortrag begleitet ist. Begeistert waren wir außerdem auch noch vom Beresina-Panorama, das die Vorzüge einer herrlichen Zeichnung mit packender Auffassung und herrlichen Farben vereint. Obwohl das dargestellte Elend nicht gräßlicher gedacht werden kann, so fühlt man sich nicht abgestoßen davon, weil ihm die Schönheit der Darstellung, die Freude über die Kunst das Gewicht hält. An einem der letzten Tage holte mich Lothar noch mal zu einer Generalprobe im Opernhaus ab und wir erfreuten uns beide an der klassischen Musik. Die Anregung, die wir hier für Kunst und Bildung empfangen, nehme ich für eben so viel wie das Vergnügen. Das ward mir auch bei einem Frühstück bei Hindenburgs recht klar; denn die Unterhaltung zwischen uns jungen Leuten, Helene, Prinz Max, Werthern, Nostitz und mir über allerhand Fragen, Lektüre, Musik etc., war so interessant und belebt, daß man einen wirklichen Gewinn davon hatte. Es ist doch entschieden besser, wenn man sich zusammennehmen muß und hinaufstreben, um mitzukommen, als wenn man, wie z. B. in Rudolstadt, seine Konversation herunterschrauben muß. Das Hindenburg’sche Haus zeichnet sich allerdings durch viele Interessen aus und Prinz Max ist der idealst angelegte Mensch, den man sich denken kann.

20 Eugen Gura (1842 – 1906).

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Am letzten Abend gab Großmutter noch einen sehr gelungenen Verwandtschaftsthee, auf dem sie den Eltern 1500 Mark für einen Wagen, und Spitzembergs 200 zu einer projektierten italiänischen Reise schenkte. Wir bildeten einen Kreis und umtanzten sie jubelnd, Lothar schrie so, daß es kaum zum Aushalten war. Am Sonntag gingen wir zu Stöcker²¹ in die Kirche, nahmen Abschied von Großmutter und reisten, d. h., nur Mutter und ich, nach Leipzig. Sabine blieb ihrer Malstudien wegen bei Vater zurück und soll, nach der Spitzembergischen Geschwister Abreise nach Rom, zu Tante Higa ziehen. So fuhren wir denn davon nach unserem wohl letzten Berliner Karneval – befriedigt von der Stadt und doch uns mit jedem Pulsschlag nach dem Land, nach dem Frühling sehnend, – dankbar, aber nicht wehmütig, – um manches reicher und um nichts ärmer – und legten wieder ein schönes Stück Leben zur Vergangenheit! – Mein Gott! Was bin ich doch für ein glücklicher, glücklicher Mensch! Wernburg, 30. März 1897 Endlich bin ich wieder daheim im traulichen Nest, nachdem ich noch zwei lange – ach wie schrecklich lange – Wochen in Leipzig zugebracht habe. Mutter brachte mich wieder in die Pension Türcke, wo ich fast dieselben Menschen wiederfand, die ich vor Weihnachten verlassen hatte; ich machte wieder meine täglichen Zahnarztbesuche, meine Besorgungen, hatte meine Selbständigkeit wieder, – kurz – es war alles beim Alten. Und doch, so subjektiv ist unser Urteil über Menschen und Verhältnisse, daß wir alles doch nur nach unserer momentanen Stimmung und Laune beurteilen. Leipzig erschien mir kleinstädtisch nach dem lieben Berlin, die Läden, die vor Weihnachten mein Provinzial-Auge entzückt hatten, unelegant und langweilig, die schlechten, saloppen Manieren der Tischherren fielen mir unliebsam auf, die Gespräche der unter sich gut bekannten Gesellschaft langweilten mich, was ich früher interessant und neu gefunden, ging mir jetzt auf die Nerven – ich war selbst anders aufgelegt und fand darum alles anders. Dieses Gefühl, was in den ersten Tagen durch den Kontrast am stärksten war, schwächte sich natürlich wie alles durch die Gewohnheit ab und ich nützte die vierzehn Tage gründlich zum Ausruhen aus, da ich doch recht mager und – ich schreibe dies nicht gern – nervös geworden war. Es ist unglaublich, was man mit gutem Willen zusammenschlafen kann. Das Wetter frühlingswarm und erschlaffend, weckte die Sehnsucht nach dem Land stets neu und der Mangel an Beschäftigungen – ich trieb keinerlei Musik – bestärkte sie nur. Gut, daß mir da die silberne Hochzeit der Eltern zu thun gab. Dieselbe war am 21. März und verlief so sang- und klanglos als möglich, da Vater in Berlin zur Centenar-Feier Dienst tun mußte, Mutter mit Jörge in Wernburg saß,

21 Adolf Stoecker (1835 – 1909), Hofprediger.

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Rudi im Einjährigen steckte und Rotenhans – ihre Äcker bestellten. Deshalb ward im Familienrat beschlossen, das Fest auf den 23. April in die Osterferien zu verlegen, es war eine Notwendigkeit, der man sich fügen mußte, aber gegen die wir uns lange sperrten. Ein verlegtes Fest kann ich mir nicht glücklich denken und ich bin fest überzeugt, die Sache wird verfehlt und gezwungen werden, was wir uns auch für Mühe geben. Das wird die Zukunft lehren. Am 21ten schrieb ich an die Eltern und war natürlich mit jedem Gedanken bei ihnen. Dann mußte der Kranz besorgt werden; nach vielem Suchen, Zweifeln und Verhandlungen mit Bibs kaufte ich für uns fünf Geschwister eine altdeutsche Truhe ins Vorzimmer, die wir zusammen brennen und malen wollen. Das meiste Kopfzerbrechen machte mir aber die Aufführung und erst jetzt, wo das Dichten beendet, wage ich, auch einen anderen Gedanken zu haben. In Berlin fanden wir keine Zeit, einen Plan zu schmieden und auch in Leipzig schob ich es von einem Tag zum anderen, bis ich mich schließlich vor ein leeres Blatt Papier setzte, meine Stirn in die Hände stützte und mir sagte: So, du mußt, du mußt jetzt eine Aufführung dichten! Hundert Pläne waren wohl schon als abgedroschen verworfen worden, endlich – à force de réfléchir – dämmerte es in dem blöden Hirn, Gestalten tauchten auf und wurden deutlicher, ich fing an, Bilder zu sehen – mit einem Mal: „J’ai une idée!“ Dieser Moment der ersten Konzeption einer Idee ist ein ganz wunderbarer, wonniger. Das Urteil und Lob der Anderen ist eher peinlich und macht mich befangen; aber die eigene ursprüngliche Freude im Moment des Entstehens ist ungetrübtes, reines Glück und läßt sich nicht beschreiben. Sie ist fern von Eitelkeit, denn man hat sich weder den Verstand, noch Talent selbst gegeben oder errungen. Lobenswert ist daher auch keines der beiden, sondern nur der Fleiß und die Ausdauer, mit denen wir beides verwerten. Aber die Hauptsache bleibt doch die Idee! – Von dem Moment an war alles Übrige eine Lust. Draußen regnete es Bindfaden, ich lag lang und faul auf meiner Chaise-longue, neben mir Apfelkuchen und ein Buch zur Erholung, an der Wand oder in der Luft Verse schreibend. Zu gemütlich! Man sieht – Poesie liegt mir fern! Beim Dichten wenigstens. Sehr oft war ich bei Héricourts, die sich meiner auf reizende Weise annahmen. Er ist ja langweilig wie ein Mops, aber sie weiß vor Lebendigkeit kaum, was sie zuerst sagen soll und machte mich mit ihren unglaublichen Geschichten und unglaublichen Ausdrücken bis zu Thränen lachen. Einmal war ich mit mehreren musikalischen Größen, Prill, Goury etc. bei Klengels. Die Leute sprachen zum Teil in solchen détails über Musik, unterhielten sich über gewisse Passagen, Feinheiten und Dissonanzen mit einem Eifer und einer Sachkenntnis, daß ich mir ganz ungebildet vorkam. In der Pension fand ich eigentlich nur noch an Frl. Bosse Anschluß, da Frau von Puttkamer auf dem Sprung nach Paris und ganz erfüllt davon war. Eine interessante neue Erscheinung war mir ein junger Irländer, der zwar schon das Doktorexamen gemacht, aber im Übrigen noch ganz im Stadium des guten unreifen Jungen sich befand. Er war noch nie im Theater gewesen, hatte noch nie einen

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Tropfen Spirituosen zu sich genommen, denn „he joined the Society (Theetotalers²²) when he was four years old“, fand Robert Elsmere ein gefährliches Buch „that he should not dare to bring home“ und hatte auf alle Gegenvorstellungen nur die eine Antwort: „They wouldn’t approve fit at home“. Es scheint, daß die wenigen protestantischen Familien in dem katholischen Land sich noch ganz wie die alten Puritaner aufführen und einen Zwang auf die Ihrigen ausüben, der nicht mehr zeitgemäß ist. Ist es nicht ein Unrecht, einen selbständigen, erwachsenen Menschen in solchen Ketten zu halten, ihn künstlich zu verdummen und zu verfinstern und ihn dann – handycapped, wie er ist – den Gefahren der Welt auszusetzen. Ich kann mir nicht denken, daß er so gefeit ist; schon aus Unkenntnis muß er doch unterliegen. Er kannte kein Wort Deutsch, sträubte sich, Englisch zu reden, um die Sprache rascher zu lernen, fühlte sich natürlich gottverlassen und erlag endlich meinen Versuchen, eine Konversation anzuknüpfen. Ich suchte ihn nach und nach etwas zu demoralisieren – er wird es später ja doch, und viel toller – und stritt mich stundenlang mit ihm herum, sodaß er ganz zutraulich ward und zuletzt – oh Triumph – in Tell und Tasso zu gehen versprach. Die Bahnfahrt hierher war der Aufführung sehr förderlich; ich schrieb und dichtete so eifrig, daß mein vis à vis, ein albernes 16jähriges Gör vor Gelächter und Neugier fast starb. Hätte ich nicht gewußt, daß sie mich im Verdacht hatte, Liebeslieder zu machen, hätte ich sie nicht aufgeklärt; aber das wollte ich denn doch nicht auf mir sitzen lassen! Jörge holte mich im Coupé ab und wir waren noch nicht auf der Eisenbahnbrücke, als er Feuer und Flamme für den Plan war und versprach, alles Handwerksmäßige, Bühne etc., auf sich zu nehmen. Jörges Erker gibt die Bühne und soll als altdeutsches Gelehrtenstübchen eingerichtet werden. Da können wir denn ganz ungestört unsere Vorbereitungen machen: Kleistern, Malen und Hämmern nach Herzenslust. Wir haben heute auch schon so viel genagelt, daß mir der Kopf brummt. Aber es gibt doch nichts Netteres als diese Vorbereitungen, wo man während der Arbeit immer die besten Einfälle, Verbesserungen etc. hat. Mittwoch, 28ter April. Die Silberne Hochzeit gehört nun auch schon der Vergangenheit an und ich werde versuchen, sie als schönes Ganzes hier festzuhalten. Unsere Vorbereitungen waren zu amüsant; Sabine, Jörge und ich lagen tagelang auf dem Boden und schmierten und pappten nach Herzenslust. Jörge ist famos praktisch und erfinderisch und war die Seele des Ganzen. Es gibt kein „unmöglich“ bei ihm, wenn es sich auch um die kniffligste technische Arbeit handelte. Und dann spielte und sprach er seine Rolle so brillant, daß er uns andere mit fortriß. Burkhart und Rudi einzupauken war schon schwieriger und ging nicht ohne Arbeit ab, und

22 Abstinenzler.

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Hermann war so unausstehlich und ungebärdig bei der einzigen Probe, die wir ihm zumuteten, daß ich fest bei mir beschloß, nie wieder mit ihm zusammen aufzuführen. Er ließ sich gar nichts sagen und wollte in der 11ten Stunde allerhand Wörter umändern und als wir streikten, dichtete er wenigstens seine Rolle noch um. Aber, wie gesagt, das war auch der einzige Schatten, wenn man es überhaupt so nennen kann, denn sonst ging alles famos und wir amüsierten uns wie die Götter in unserem stillen Erker. Die Kostüme nähte ich kurz vor dem Fest, Sabine sorgte fürs Malerische, das letzte Ausschmücken, und Volki Wurmb, unser Maschinist, machte abwechselnd Sonne und Donner mit großer Virtuosität. Nach und nach kamen die Gäste, die leider, der Jahreszeit wegen zu einem winzigen Häuflein zusammengeschmolzen waren: Großmutter, Frl. Güntzel, Tante Higa, Rotenhans, Volki, Tante Fanny mit Titty und die drei Butler’schen Geschwister – das war die ganze Gesellschaft. Die Ahorner hatten einer neuen Erkrankung Gotthards wegen lieber fernbleiben wollen. Die arme Mutter bekam kurz vor dem Fest auf einmal ein dickes Gesicht, (Ekzem nannte es der Doktor), welches solche Dimensionen annahm, daß wir unser Muttchen kaum wiedererkannten. Die lieben Augen sah man kaum mehr und das ganze Gesicht war so in die Breite gegangen und aufgeblasen, daß sie ganz unkenntlich und schrecklich aussah. Ich habe eine solche Entstellung noch nie gesehen. Was das für eine Geduldsprüfung war, läßt sich denken. Zu der Ungeduld, allen Vorbereitungen in Küche und Haus aus Angst vor Zugluft fernbleiben zu müssen, kam die Sorge, am Festtage selbst, als Silberbraut entweder als Zerrbild oder verschleiert zu erscheinen. Gottseidank schwand die Geschwulst am 22ten, sodaß Mutter nur voller als gewöhnlich, aber sehr hübsch und jung aussah. Bis zum letzten Tag glaubten Bibs und ich, daß die Sache stimmungslos werden würde und am 23ten verlebte ich früh im Bett eine halbe Stunde des ärgsten Katers, den ich je gehabt. In unserer Aufführung, die gleich früh im engsten Familienkreis vor sich gehen sollte, spielte die Sonne eine Hauptrolle; auf dieselbe hatte ich so fest gerechnet, daß ich das Stück leichtsinnigerweise sozusagen darauf geschrieben – und nun hing der Himmel voll dicker grauer Wolken! Am 21ten März hatte ich das Herz so voll dankbarer, freudiger Gedanken gehabt – und nun wollten dieselben nicht wiederkehren! Am Frühstück erschien die Mutter schon im silbergrauen Kleid, alles war bewegt und in festlicher Stimmung; Titty überreichte ein von ihrer Mutter gemaltes Bild mit einem ganz wunderhübschen selbstgemachten Gedicht. Dann stürzten wir uns in unsere Kostüme, wobei uns Tante Fanny durch unaufhörliche Quengeleien und Jammergeschrei um Tittys Kleider zu heller Verzweiflung brachte, bis Mag sehr deutlich ward, das kann sie! Oben trafen wir Jörge in womöglich noch schlimmerer Wut: sein Ofen war ausgegangen, die Bühne eiskalt und voll Ofenrauch; dazu kratzte ihn Volki im Bestreben, ihn zu schminken, mit harten Pastellstiften ins Fleisch, daß er laut heulte vor Zorn; daneben wetterte Hermann, daß es nicht so schnell ging, als er wollte – und die Sonne kam noch immer nicht. Dann

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fing’s an und Jörges herrliches Spiel gab uns wieder Ruhe und Schwung. Im Moment, wo wir als Sonnenstrahlen auf die Bühne kamen und ein Laden von dem östlichen Fenster, mittels einer Schnur, von außen heruntergerissen ward – teilten sich die Wolken und die Sonne kam golden ins Turmstübchen herein; der schönste Theatereffekt hätte nicht besser klappen können. Ich schickte ein Dankgebet empor und Jörge grinste hinter seinem Bart wie ein alter Faun hervor. Was nun die Aufführung betrifft, so muß ich objektiv sagen, daß sie sehr gelungen war. Die Dichtung war insofern glücklich, als sie nicht zu lang und nicht zu kurz war und der Wechsel von Poesie und Prosa belebend wirkte. Jörge spielte so brillant, daß es eine Freude war und von den anderen kann ich auch nur Rühmendes sagen. Rotenhans sahen famos schön und echt aus in Düsseldorfer Kostümen und die Foliantenüberraschung gelang glänzend. Kein Mensch hatte in den Büchern, die so unbeweglich im Schrank standen, Menschen vermutet und als nun auf unseren Weckruf Burkhart und Rudi schwerfällig herauswackelten, war der Jubel groß. Der Donner auf dem obersten Boden von Thomas mit Croquetkugeln, Kegeln und Backblechen vollführt, klang so natürlich, daß Tante Fanny beinahe Zufälle bekommen wollte. In einem Wort – unsere Aufführung machte große Freude! Die Eltern waren zufrieden, alle anderen machten einen Sums, der mir fast lächerlich erschien, der Superintendent sagte mir in seiner gemessenen Art: „Frl. Hildegard, an Thüringens Dichterhimmel ist ein neuer Stern aufgegangen!“ und „Last but not least“, rief mich die Großmutter bewegt in ihr Zimmer und schenkte mir 100 M. für unsere Auslagen; aus eigenem Impuls! So unverdient es war, fühlten wir uns doch sehr gehoben und froh über unser „erstes Honorar“. Der Vormittag verging mit Ovationen und Deputationen. (Schulkinder sangen, der Kriegerverein brachte eine Widmung, die Schulzen eine großartige Adresse, der landwirtschaftliche Verein eine silberne Fischplatte, die Schimmelschmidt überreichte, etc.) Es wimmelte von Blumen und schönem Silber, Bonbons und Glückwunschkarten, Vasen, Lampen und Bildern. Großmutters Viktoria [Geschlossene Kutsche] machte sich sehr fein; unter allgemeinem Jubel wurde sie von sämtlichen jungen Leuten um den Hof gefahren. Sie schloß die Augen, aber es that ihr doch trotz aller Angst wohl, „von Menschen gezogen zu werden!“ Die gute Großmutter! Das Familienessen war sehr klein und gemütlich und wurde durch nette Toaste und zahlreiche Telegramme unterbrochen. Um sechs Uhr kam die gesamte Nachbarschaft zu Thee, Souper und Tanz. Lothar Wurmb, der mittlerweile älter, aber nicht reifer geworden, tanzte sehr lustig vor, und die sämtlichen Lämmer, Titty, Gerti, die zwei Wurmbs, Elfriede, Conrad, Ludwig und die Buben vergnügten sich mit einer geradezu herzerfreuenden Heiterkeit in Tänzen und Sprüngen, die oft auch recht lämmerhaft ausfielen. Die drei Butlers sind reizende, wohlerzogene Leute und Volki ist ein lieber Kerl geworden. So verlief alles gut und fand in einem solennen Großvatertanz seinen Abschluß. Ich habe mich doch überzeugt, daß auch verlegte

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Feste schön und froh sein können. Es kommt dabei, wie bei fast allem im Leben, nicht auf Äußeres, Tag und Stunde, sondern auf die Stimmung, auf den Geist der Sache an und wie sollte der in solch glücklichem Familienleben nach solchen 25 Jahren anders sein, als ein freudiger, dankbarer, Gott ergebener? Oktober 97. Der Sommer zog vorüber und der Herbst schickt sich an, ihm zu folgen; jedermann klagt, wie kalt und kurz die schöne Zeit war und betrachtet die jetzigen herrlichen sonnigen Tage als einen schwachen, nicht ausreichenden Ersatz dafür. Es ist gerade als ob die Menschen mit der Weltregierung einen Contrakt auf so und so viel Tage schönes Wetter abgeschlossen hätten und sich nun mit Recht über einen Treubruch beklagen dürften. Als ob solch Handel nicht stets einseitig wäre; denn was leisten wir denn, daß wir solche Gegenleistung beanspruchen dürften? Aber das ist die Gewohnheit: Wir sind stets verwöhnt worden – drum wollen wir es auch ferner sein! – Mir ist der Sommer schneller als sonst verflogen – das nimmt mit jedem Jahre zu, scheint mir, da ich durch manche Reisen viel Abwechslung hatte und so gut wie nicht daheim war. Ebenso lang war auch dieses Buch abwesend und hat manch neues Stück Erde kennenlernen dürfen, ohne auch nur seinem Inhalt eine Seite hinzuzufügen. Das war bei mir wohl nicht der Fall, aber es ist merkwürdig, wie viel schwerer als früher es mir wird, Erlebtes festzuhalten. Ich empfinde es jetzt viel intensiver und bewußter, aber kann es nicht so gut sachlich und wahrhaftig niederschreiben, weil mich allerhand Gedanken und Folgen, die sich von selbst daran knüpfen, verwirren und zerstreuen. Im Juni war ich bei Mag in Lauchröden und verlebte eine herrliche stille Zeit mit ihr. Still war sie zwar im Vergleich mit unserer Gegend nicht, aber still doch im eigentlichen Sinn des Worts. Herrliche Spazierfahrten durch das junge grüne Buchenlaub, gemütliche heiße Nachmittagsstunden mit Buch und Arbeit im Garten, gelegentliche Besuche bei Hermann in der Heuernte und ein ununterbrochener Verwandtenverkehr – das waren die einzelnen Genüsse, die aber, richtig zusammengestellt, als Ganzes ein sehr schönes, harmonisches Sommerleben ergeben. In Neuenhof war ich viel, lernte reizende Menschen dort kennen, vor allem die mir ungemein sympathische Frau Rotenhan-Buchwald und machte ein großes Missionsfest, die Berühmtheit dieses Hauses, dort helfend mit. Der Regen verdarb es zwar gründlich, aber doch nicht so, daß ich mir nicht ein Bild von der Großartigkeit und Weitherzigkeit des Unternehmens hätte vorstellen können. Die Bewirtung der vielen Menschen ist eine kolossale Aufgabe. Kaffee wird in Kesseln gekocht, ich schnitt allein 22 Stollen dazu auf und die Masse der belegten Butterbröter übersteigt alle Begriffe. Und das alles ging so ruhig ohne Hetzerei vor sich, als ob zwanzig Menschen anstatt tausend bewirtet würden. Ich komme immer mehr zur Einsicht, was für eine bedeutende, herrliche Frau die alte Neuenhöferin ist. Herz und Verstand sind bei ihr gleich ausgebildet und ihre Frömmigkeit, die zuerst leider stets unangenehm wirkt, ist so

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weit, wahr und echt, daß man sie lieben muß. Sie glaubt nicht nur, sondern sie lebt nach ihrem Glauben – und mehr kann man doch nicht tun, als für seine innerste Überzeugung mit seinem ganzen Leben und all seinen Werken einzustehen. Aber wie selten stimmen Lehre und Leben zusammen! Wie vermißt man gerade hierin alle Harmonie. Es tut daher besonders wohl, einmal einen in diesem Sinne konsequenten Menschen zu finden. Beim großen Diakonissenhausfeste fehlte mir manches: Ich hatte den Eindruck, daß zuviel geredet wurde und viel zu wenig gedacht worden war. Aber es kann an mir gelegen haben, denn es waren 26 Grad im Schatten und in der kleinen Kirche eine Atmosphäre wie in einem irischen Bad – da hört bei mir jeder geistige Standpunkt überhaupt auf. Pastor Brauer sagte uns zwar, er sei innerlich so erwärmt gewesen, daß er von der äußeren Wärme nichts gespürt hätte. Aber ich muß gestehen, daß bei mir genau das Gegenteil der Fall war. Das Diakonissenhaus selbst und die fröhlichen Schwestern machten mir einen sehr freundlichen Eindruck, auch die Oberin Pappenheim ist angenehm, bestimmt und natürlich. Mitte Juli holte mich Vater ab und ich war wirklich einmal vier Wochen zu Haus. Die Brüder waren in Ferien, Tante Pauline, die alte gute Seele zu Besuch und das Wetter recht leidlich. Vater machte mit Bibs eine Spritztour nach Vorpommern, um Schwerins-Löwitz und Maltzans-Vanselow zu besuchen, während ich mit den beiden Buben – bedeutend näher und natürlich billiger – eine Fußtour ins Oberland machte. Dieselbe war so lustig, daß ich sie mir hier als Erinnerung festhalten möchte. Mit Mutter und Tante fuhren wir per Wagen nach Ziegenrück und per Bahn dritter Klasse nach Lobenstein, wo wir den Tag über blieben. Lobenstein hat gute Stahlquellen und infolgedessen ein Maß von Kultur, der ganz abscheulich ist, nicht genug, um den Menschen wirklich behaglich zu machen und doch so viel, daß er dem alten Nest seinen ganzen ursprünglichen bäuerlichen Charakter nimmt. Nur oben, hoch über der Stadt, wo die Überreste einer alten Burg zwischen alten, schattigen Bäumen ragen, habe ich mich wohl gefühlt. Einer der halbzerfallenen Türme der Umfassungsmauer war mittels eines Dächleins, das wie zufällig daran gestülpt, und einer steilen Außentreppe, zu einer menschlichen Wohnung gestaltet worden und diente einem Handlanger mit seiner zahlreichen Familie zum Unterschlupf. Etwas Malerischeres und Originelleres sah ich lange nicht, als diese kleine, ameisenartige Niederlassung in den großartigen Burgtrümmern einer stolzen Zeit. Die alten braunroten Quadersteine, das kleine Schieferdach, das frische Laub der alten Bäume und der winzige Kohlgarten mit dem halbzerfallenen Zaun, auf dem die bunte Wäsche flatterte; der herrliche Rundblick nach allen Seiten; um den Tisch in dem einzigen runden Raum die zahlreiche, rotbäckige Kinderschar, die aus der dampfenden Schüssel wacker zulangte – wie groß ist die Welt und wie klein, wie klein das Menschenleben und gerade in dieser menschlichen Kleinheit wie groß

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und wunderbar! Mutter malte und wir lagen im Gras und ermannten uns nur ungern zur table d’hôtes in einem der sogenannten Kurhäuser. Dieselbe war wie zu erwarten: Im Saal ein Pianino und häßliche Öldrucke an den Wänden, einige hochzeitreisende Schwünge und die Kur brauchende, ordinaire Berliner, ein greulicher Fraß und ein geschmierter Wein – und das nennen sie Civilisation. Bei den Leuten im Turmstübchen war es entschieden hübscher. Am Nachmittag trennten wir uns von Mutter und Tante und gingen drei Stunden weit nach Lehesten. Wir hatten auf jede Führung verzichtet und zogen mit unserer Generalstabskarte, mit unserem Rucksack, frei wie die Vögel durchs Land. An jeder Wegscheide setzten wir uns auf den Grabenrain, die Karte ward ausgebreitet und die Route festgestellt. Auf diese Art haben wir uns keinmal verlaufen und uns die reizendsten Fußpfade durch Kornfelder, an kleinen Bächen entlang, oft auch quer durch den Wald nur der Richtung nach, ausgesucht. Das Land macht einen ungemein düsteren Eindruck: Tiefdunkle Fichtenwälder, große Schieferhaufen, alle Häuser mit Schiefer gedeckt und beschlagen, alle Straßen schwarz, Menschenmangel – das uns bei trübem Wetter einen recht melancholischen Eindruck machte. Uns erschien alles neu, interessant und eigenartig. Leider hatten wir von dem Lobensteiner Mahl alle drei ein großes Maß von Übelsein mitgenommen, das sich bei mir sogar bis zur Explosion steigerte und uns den dreistündigen Weg bis Lehesten recht lang erschienen ließ. Um sieben Uhr etwa zogen wir in das schwarze Städtchen ein, nicht wissend, ob wir ein Obdach dort finden würden. Aber siehe da, ein kleines Kindermädchen wies uns nach der Felsenquelle, wo wir so famos aufgenommen wurden, daß wir mit Freude daran zurückdenken. Als wir bald bei einem ländlichen Mahl in der niederen Wirtsstube saßen, neben uns der runde Tisch mit politisierenden Stammgästen, die bei gemeinsamer Schnupftabaksdose den 66er Krieg durchsprachen, da waren wir seelenvergnügt. So vergnügt, daß Burkhart und ich beschämende Betrachtungen über die Abhängigkeit des Geistes und der Stimmung vom Essen und Trinken anstellten. Wir waren ganz andere Menschen als Mittags an der table d’hôtes und ich für mein Teil bin noch nie für materiell gehalten worden. In der Abendkühle wanderten wir durch das ländliche Städtchen; die Leute, denen wohl selten Fremde zu Gesicht kommen, bogen sich aus den Fenstern und liefen uns nach; Burkharts kurze Hosen waren die Hauptfreude der Jugend. Die Leute haben einen ernsten, verschlossenen Ausdruck auf den Gesichtern, boten uns aber alle freundlich einen guten Abend. Auch am andern Morgen, als sich die Magd mit ihrem Kaffeetopf an unseren Frühstückstisch setzte, empfanden wir das als patriarchalische, wohlthuende Sitte und nicht als Aufdringlichkeit. Wir holten um ½ 8 Uhr die Diakonissin, die uns von Poessneck her gut bekannt, in ihrem kleinen Krankenhause ab und ließen uns von ihr zu Commerzienrat Oertels, den Besitzern der großen Schieferbrüche, geleiten. Sie nahmen uns, auf eine flüchtige Bekanntschaft mit den Eltern hin, äußerst freundlich auf und führten uns, unseren Wunsch

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erratend, durch ihre Schieferbrüche, was wohl 2 ½ Stunden in Anspruch nahm. Dieselben, die besten in ganz Deutschland, sind wohl eines der großartigsten Privatunternehmen und mit einem Genie, einer Zweckmäßigkeit und Humanität angelegt und geleitet, daß man bei jedem Schritt staunen und bewundern muß. Wir waren ganz überwältigt und Burkhart und ich stießen uns fortwährend an und sagten: „Das ist ja ganz fabelhaft, unerhört!“ Die Dimensionen des größten Bruches sind so enorm, daß man, auf seinem Grunde stehend, sich in eine Alpenlandschaft versetzt glaubt. Terrassenförmig steigen rings die schwarzen, steilen, glatt behauenen Wände empor, unten dehnt sich ein großer, tiefgrüner See aus und ringsum ist durch die Bepflanzung der sogenannten Halden eine reizende Szenerie grüner, lieblicher Hügel geschaffen. In diesem Schauplatz entfaltet sich nun eine rastlose, ameisenartige Tätigkeit; aus den Schachten fahren die langen Bahnzüge heraus, die einen Bruch mit dem anderen verbinden, an allen Wänden sieht man die Männer hauen, loslösen, auf- und abwinden, spalten und klettern, unten in den großen fünf Schmieden rauchen die Essen, im Maschinenhaus wird mit Dampf und Elektrizität gearbeitet, in den Werksälen werden die Dachschiefer geschnitten, in den Packsälen verstaut, auf der Bahn nach Ludwigsstadt und von da in alle Welt befördert. Es war durch die herrliche Führung natürlich doppelt genußreich, den Gang des ganzen Betriebes vom rohen Gestein bis zu den schönen glatten Tafeln und Stufen zu verfolgen und vom Lagerraum zur Schlosserei, vom Lokomobilenhaus zur Gasanlage zu wandern. Nicht minder interessant waren mir die vielerlei Einrichtungen, die zum Wohl der Arbeiter getroffen waren: Die Schule, Krankenhaus, Badeanstalt; die Menagen, Küchen, Bäckerei, Gärten, Speisesäle, Vorratsstuben etc. Es war gerade Kloßtag und es lagen auf allen Tafeln solche Berge von Klößen umher, daß man keinen Augenblick das Gefühl von aufgezwungener Volksbeglückung hatte. Alles war vorhanden zum Behagen der Leute, aber sie mußten es nicht benutzen, wenn sie nicht wollten, die verheirateten Männer konnten z. B. ihr eigenes Essen im Töpfchen von zu Hause mitbringen und bekamen es zubereitet und aufgewärmt von einer extra dazu angestellten Köchin, und die Menge der kleinen Tiegel bewies, wie lieb und angenehm das den Leuten war. Ich kann ganz gut begreifen, wie die Wohltaten in den Augen der Leute steigen, dadurch, daß sie frei sind, daß sie jederzeit vorhanden, aber nur durch den eigenen Willen genossen werden. Nach dem langen Wandern wurden wir reichlich von unseren freundlichen, natürlichen, so gar nicht kommerzienrätlichen Wirten geatzt und setzten unseren Stab weiter. Auf dem Kamm des Thüringer Waldes führte unser Weg mit reizenden Ausblicken in die Thäler zu beiden Seiten, bis wir nach drei Stunden Leutenberg, das freundliche Städtchen, gekrönt vom alten malerischen Schlosse, zu unseren Füßen am Vereinigungspunkt von sieben Thälern liegen sahen. Wir waren hingerissen und trotz der Mittagsschwüle so frisch, daß wir den steilen Abstieg im sausenden Galopp hinabstürmten, um uns dann mit Selterswasser, Kaffee, Weißbier

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und nochmals Selterswasser zu erfrischen. Gegen Abend verfolgten wir das Loquitztal bis Eichicht, von wo wir per Bahn heimkehren wollten. Zu einem Gang nach Kaulsdorf langte es noch gerade, dann überholte uns ein Gewitter, dem wir aber im Coupé geborgen, mit Genuß zusahen. Ich habe eine zu nette, freundliche Erinnerung an diese Wanderung auf Thüringens Höhen. Gutes Wetter und liebe Gesellschaft und vor allem ein frisches Herz, um sich an Gottes schöner Natur zu freuen, damit kann man wohl Genuß von solchen Ausflügen haben. Und wir alle sind Naturenthusiasten und harmonieren vortrefflich in Ansichten und Empfindungen, besonders Burkhart und ich. Vater und Bibs kehrten sehr befriedigt von Schwerins und Maltzahns zurück. Winsloe scheint ganz selig über ihren Besuch gewesen zu sein und die ganze Familie in Vanselow muß reizend gewesen sein. Zu Vaters Geburtstag kamen Rotenhans wie üblich und wir hatten uns alle mal wieder lieb. – Dabei ward beschlossen, daß Mag auf fünf Wochen zur Kur nach Ems geschickt werden solle und ich ward auserlesen, sie zu begleiten. War ich nun körperlich nicht im Blei, oder war es die lange Abwesenheit im Frühsommer, kurz, es ward mir furchtbar schwer, mich am 9. August schon wieder auf die Achse zu setzen. Ich wußte, daß der Kummer sich bald verlieren würde, aber er verging beim Übersehen der neuen Verhältnisse so schnell, wie ich selbst meiner leichtlebigen Natur nicht zugetraut hätte. Ems liegt ganz entzückend an den beiden Ufern der Lahn, ein schöner, eleganter Badeort mit herrlichen Anlagen und malerischen Villen, zwischen denen das alte Kurhaus und die „Vier Türme“, die alte gute Zeit repräsentieren, da Karl der Große, Rudolf von Habsburg etc. etc. von den Quellen Heilung suchten. Wir wohnten etwas weit ab vom Kurhaus, in der Villa Idylle, wo ein Frl. Lauer-Westernhagen eine Familienpension von ca. zwanzig Personen unterhält. Im ersten Stock hatten wir ein ganz herrliches, luftiges Zimmer mit grünumranktem Erker und Licht und Luft im Überfluß. Die Wohnung war aber auch das einzig Gute an dieser Pension, denn alles Übrige, Bedienung, Essen, Gesellschaft, Konversation und Ton ließ sehr zu wünschen übrig. Natürlich kamen wir nicht gleich hinter alle Schäden, aber mit der Zeit ward der Eindruck der Ungemütlichkeit und des Unbehagens so gesteigert, daß wir mit einem wahren Haß an diese unerquickliche Häuslichkeit zurückdenken. Dabei war nichts geradezu schlecht; es wurde in keiner Weise gespart, aber die ganze Sache war so miserabel geleitet, daß man nie zu einem geruhlichen, zufriedenen Augenblick kam. Sechs weibliche Wesen hetzten sich permanent ab um uns – dabei war niemals der Tisch ganz komplett gedeckt, stets etwas anderes verloren oder vergessen, nie kam jemand aufs Klingeln und von Stiefelwichsen oder Kleiderausputzen sah man bald ganz ab. Das Essen war reichlich, aber bot so wenig Abwechslung, war so ohne soins angerichtet, daß wir am Ende der Zeit nur widerstrebend zur Fütterung zogen. Zweimal am Tag Roastbeef und sechsmal in der Woche Bohnen zu essen bringt man ja mit einigem guten Willen fertig, aber

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Kalbsleber mit Häring zusammen, Blumenkohl zu Gänsebraten, Backpflaumen mit Johannisbeeren vermischt, das ging mir doch übers Bohnenlied. Die Gesellschaft aus Amtsrichtern, alten Damen, Bergräten etc. bestehend, zog uns nicht an, nur mit einem netten jungen Mädchen, Frl. Feldt aus Bonn, Braut eines Officiers aus Koblenz, freundeten wir uns sehr an. Sie blieb unser einziger Verkehr, da wir zu der Zeit der Ernte, des Manövers und des Landbesuchs keinerlei Bekannte trafen und auch niemand sahen, dessen Bekanntschaft uns verlockend gewesen wäre. So lebten wir unser freies Leben zu Zweit, ganz dem momentanen Gelüste und plötzlichen Eingebungen folgend und man glaubt nicht, wie wohlthuend und erquickend dies war. Allein würden die vielen Gedanken, die man sich in der Einsamkeit stets macht, aufreibend sein, aber zwei Menschen, die, wenn sie einig, keinerlei Widerstand begegnen, kommen sich vor wie Vögel in der Luft. Am Tag vor unserer Abreise z. B. machten wir einen Spaziergang auf das Lahnsteiner Forsthaus und wurden daselbst von dem schönen Wetter so angesteckt, daß wir Mittagessen, Pension – alles ignorierten und über die waldigen Höhen an den Rhein nach Braubach hinabstiegen. Dort aßen wir in einem einfachen Wirtshaus und fuhren mit dem Zug zurück, wann es uns paßte. Ich führte nur diese eine Eskapade an, aber gleich ihr gab es ungezählte. Wie selten kann man das zu Haus, wie selten überhaupt im Leben seinen Impulsen folgen! Auch der Freieste schleppt da an einer Kette, seien es Pflichten, Rücksichten auf andere Menschen, die eigene Gesundheit oder in den meisten Fällen, das kleinliche und doch nötige Getriebe des Tages. Wäre man stets so frei, so würde das wohl zu großem Egoismus führen, aber für so kurze Zeit erfrischt die Freiheit, wie ein Ferientag die armen Schulkinder. Ems ist einfach entzückend gelegen; die Nähe des Rheins, das romantische Lahntal, der schöne Wald, alles ermutigt zu Entdeckungsreisen und Ausflügen. Ich glaube wir haben in den fünf Wochen keinen Spaziergang doppelt gemacht. Außer den näheren Spaziergängen in die Seitentäler der Ems und auf die angrenzenden Höhen machten wir Ausflüge nach Nassau, der alten Stammburg der Steins, auf der schönen Aussicht bei Kemmenau, in Neuwied, wo wir im Hause von Recks, Verwandten von Rotenhans, einen wunderhübschen Tag verlebten, in Braubach, Dausenau, Oberlahnstein etc. Vor allem machte mir aber die „Sporkenburg“ Eindruck; eine Ruine, die eine Stunde von Ems entfernt, aber nur auf so häßlichem Wege erreichbar ist, daß fast nie ein Fremder sich hin verirrt. Ist es das, was sie mit solchem Zauber umgibt, daß sie sich mir im Herzen festsetzte wie die Verkörperung des Märchens, der Waldpoesie? Wurstpapiere und Schilder mit „Kathreiners Malzkaffee“ und „Bade zu Hause!“ sind geeignet, jegliche Poesie zu rauben und was hier am Rhein darin gesündigt wird, ist wahrhaft zum Schreien. Hier aber kämpften wir uns durch Brombeer- und Waldrebengestrüpp an einem thaufrischen Morgen einen waldigen Hügel hinan. Und da lag sie vor uns, die alte Burg mit ihren stolzen Trümmern, über die frisches, junges Grün neues frohes Leben spann. Am Thor

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ragte noch das Thorwarthäuschen und im Stein sah man das Loch, wo sich die Angel der Thür gedreht; der Hof, die gewölbten Ställe bevölkerten sich im Geist und auf dem Lug ins Land, wo der Blick über ein Meer von grünen Wipfeln in blaue Ferne schweifte, konnte man sich lebhaft die tugendliche Hausfrau vorstellen, wie sie mit dem Tüchlein dem Gebieter den Abschiedsgruß winkte. Jetzt saßen wir da auf dem alten Gemäuer zwischen Ginster und Fingerhut, wir modernen, aufgeklärten, selbständigen Frauen des 19. Jahrhunderts, freuten uns an demselben Blick und lauschten demselben Waldesrauschen. Wie lange wird es dauern, bis neue Geschlechter auf unsere Zeit zurücksehen, mitleidig wahrscheinlich wie wir, bis auch sie wieder neuen, immer neuen Reihen Platz machen. In solchen Momenten empfindet man ein leises Ahnen, ein Dämmern in der Seele, was – die Ewigkeit ist. Unser Badeleben war eigentlich rein Vergnügen, denn die Badepflichten hatten wir uns alle vors erste Frühstück gelegt und hatten den ganzen übrigen Tag frei. Das Brunnentrinken früh um sieben Uhr, wenn die Nebel mit der Sonne über den Ufern und dem klaren Spiegel der Lahn kämpften, war jedes Mal ein Vergnügen; die Musik ermunterte mich ebenso wie mich das Beobachten der Gäste der verschiedensten Nationalitäten höchlichst amüsierte. Und wie herrlich schmeckten dann Thee und Hörnchen auf der offenen Veranda im Pensionsgarten. Um neun Uhr zogen wir dann meist schon zu unseren Partien aus, von denen wir meist erst zum Essen wiederkehrten. Nach denselben lange Siesta, – ein Bummel zum Conzert im Kurgarten, ein gemütlicher Kaffee in einem netten Lokal und dann Margarethens Bad mit der darauffolgenden Lektüre – Abendbrot, aus den Resten des Mittagstisches zusammengewärmt – endlose Abendpromenade mit Frl. Feldt am Lahnufer auf und ab, um die wirklich guten Conzerte zu genießen – das war der regelmäßige Tageslauf. Der wenigen Regentage, wo wir an die Pension oder ans Lesezimmer im Kursaal gefesselt waren, gedenke ich mit Schauder. Sie waren durch Lärm im Küchendepartement, Geschrei ungezogener Kinder, Mangel an Beschäftigung und Heimweh so gräßlich, daß ich als einzige Rettung vorschlug, in der Konditorei alles Gute durchzuprobieren – das half auch. Die Vergnügen, die von der Badeverwaltung aus arrangiert wurden, waren unerhört mesquin. Die Réunions ²³ besuchten wir mehrmals, wie man ein Lustspiel besucht, als Beobachter und Kritiker, und lachten Thränen über die Bewegungen, das Tanzen, den Ton der Gesellschaft. Die Hauptlöwen waren eine kleine russische Fürstin und ein sehr eleganter Masseur. Letzterer tanzte wie ein Gott – ich habe nie etwas Schöneres und Eleganteres gesehen – war famos angezogen und chaussiert²⁴ und hatte das Benehmen eines vollkommenen Weltmannes, wenn ihn nicht seine enormen, durchs Massieren ausgear-

23 Zusammenkunft. 24 Mit elegantem Schuhwerk.

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beiteten Hände verraten hätten. Es war übrigens spaßig zu sehen, wie wenig sich die sogenannten Fürstinnen und Gräfinnen an diesem kleinen Umstand stießen. Überraschend war auch ein mit vielen pomphaften Worten angekündigter Blumenkorso, bei dem die halbe Badegesellschaft im Kurgarten auf den Bänken saß, während die andere Hälfte per pedes vorbeischlenderte. Das war der Corso; die Blumen wurden der Billigkeit halber durch Papierschlangen und bunte Papierschnitzel ersetzt, die man dem lieben Nächsten möglichst geschickt auf die Hüte und ins Genick streute. Es war kläglich! Die schönste Erinnerung an den Emser Aufenthalt bedeutet mir doch die Coblenzer Kaiserzeit. Wir hatten zu unserer Freude von der Versetzung von Fritz Varnbüler nach Coblenz erfahren und sogleich die alten Beziehungen wieder angeknüpft. Er war als Cadett oft bei uns in Wernburg gewesen und hängt sehr an den Eltern. Er ist ein schöner, blonder, großer Mensch geworden, ritterlich, angenehm und voll Interessen. Seine Frau, eine Bürgerliche aus Heilbronn ist eines der reizendsten Wesen, die mir je vorgekommen: hübsch, sympathisch, fein und sanft, ein Mensch, den man auf den ersten Blick lieb gewinnt. Bei ihnen erholten wir uns von unserem gänzlichen Mangel an Umgang und fühlten uns wie zu Hause in dem zierlichen Puppenhaus, von dessen Fenstern man die zahllosen Schiffe und Schiffchen den Rhein hinunterziehen sehen konnte. Meistens brachten sie uns per Schiff nach Oberlahnstein, Stolzenfels etc., von wo wir per Bahn heimkehrten. Ja der Rhein! Wie soll ich den Zauber schildern, den er auf mich ausübte. Ich hatte nicht geglaubt, daß ich patriotisch genug wäre, um mehr als seine vielgerühmte Schönheit zu empfinden! Aber es war doch mehr, was bei dem ersten gewaltigen Anblick von der Rheinbrücke auf mich einstürmte, ein Gefühl des Besitzes, des Stolzes, ein gewisses Weitwerden im Herzen, was nur schöne Gegenden, die keine tiefere Bedeutung haben, nicht hervorrufen können. Das Niederwalddenkmal, das wir bei trübem Wetter, ohne Beleuchtung sahen, ergriff mich merkwürdigerweise gar nicht, obwohl mein Auge sich an den schönen Formen, der Großartigkeit erfreute; dagegen der Rhein – bei welchem Wetter, ob vom Ufer, ob vom Schiff, ob allein, ob in Gesellschaft ich ihn auch sah, nie verfehlte er einen mächtigen, fast zauberhaften Eindruck auf mich zu machen. Die Fahrt von Bingen nach Koblenz ist doch einzig in ihrer Art; obwohl das Wetter mäßig war, ja obwohl wir einmal vor einem Wirbelsturm in die Kajüte flüchten mußten, wie haben wir alles genossen. Unser Mittagessen mit edlem Rheinwein in Rüdesheim, das stets wechselnde Bild von der Spitze des schönen Dampfers aus, die vielbesungenen herrlichen Burgen, die Färbung der Wälder und das herrliche Wasser. Die Perlen fand ich St. Goar und Rheinstein! In meiner Begeisterung bin ich ganz von meinem Anfang abgekommen. Varnbülers waren nämlich so gut, uns über die Zeit des Kaiserbesuchs und der Denkmalseinweihung zu sich einzuladen und uns zu allem Sehenswerten zu verhelfen. Die zwei Tage, die wir in Coblenz erlebten, sind eigentlich ein großes Fest, denn sie

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enthielten keine Stunde, in der wir nicht feierten. Am ersten Abend hörten wir vor dem Schloß unter dem Balkon der Majestäten stehend ein kurzes Militärkonzert, gefolgt vom großen Zapfenstreich, den 600 Musiker ausführten. Es war schön, obwohl ich mir denken kann, daß diese Art Musik in der Einsamkeit des Lagers mehr Eindruck macht als in einem Schloßgarten zwischen einer neugierigen, fröhlichen Menge. Was diese Rheinländer für eine Genußfähigkeit haben, ist fabelhaft. Am folgenden Morgen, den wir fast immerzu auf der Straße erlebten, hatte ich das Gefühl, als ob die ganze Stadt auf dem Kopf stehe. Durch die schön geschmückte Stadt sausten die vielen fremden Offiziere, die Studenten fuhren im Wichs durch alle Straßen, Deputationen drängten sich mit Reisenden und Hochzeitsreisenden und es hatte den Anschein, als ob jeder Mensch schrie, jauchzte, den Hut schwenkte und gestikulierte. In Berlin kritisiert jeder Zuschauer ehe er bewundert und wenn er ja bewundert, versucht er wenigstens, es nicht merken zu lassen. Dagegen hat das kindliche, harmlose Sichfreuen der Rheinländer etwas Wohltuendes und Ansteckendes. Die Einweihung des Denkmals, welches die Rheinprovinz dem alten Kaiser setzte, sollte ursprünglich schon um 11 Uhr stattfinden, mußte aber eines Gewitterregens wegen auf drei Uhr verschoben werden. Die armen Truppen, die schon seit Stunden Aufstellung genommen hatten und in fernen Quartieren lagen, mußten sich in durchweichten Galauniformen zum Teil ohne Essen herumtreiben, da die Baracken lange nicht ausreichten. Um drei Uhr war das Wetter aber wirklich ideal; das ganze herrliche Stück Erde war wie in Gold getaucht, ein blauer Himmel spannte sich über uns aus und jede Furche in den grünen Wellen zeichnete einen blitzenden Streif hinter sich. Wir fuhren mit Amalie, deren Schwester, einer Frau Rümelin, und der guten Tante Pauline Varnbüler auf einem zum Sinken vollen Kahn über die Mosel und saßen hoch oben auf einer Riesentribüne, die fast menschenleer war. Ob die Menschen sich am Morgen schon eingefunden und den Mut verloren, oder ob sie nicht mehr durchs Gedränge gekommen – genug, es war so viel Platz, daß wir uns alle nebeneinander auf den besten Platz setzten und unbeengt eines der herrlichsten Schauspiele genossen, das man sich denken kann. Ich brauche nur die Augen zu schließen, so steht das schöne Bild vor mir, denn ich habe es gesehen de tous mes yeux,²⁵ fast möchte ich sagen de toute mon âme. ²⁶ Wir waren gegenüber dem sogenannten Deutschen Eck auf der linken Moselseite und sahen das Reiterstandbild des alten Kaisers gerade vor uns. Links türmte sich der Ehrenbreitstein, der mir mit seinen flachen Dächern und weißen Mauern einen ganz orientalischen Eindruck macht, vor uns die alte Stadt, deren viele Türme und Spitzen in der goldig-durch-

25 Mit eigenen Augen. 26 Mit meiner ganzen Seele.

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sichtigen Luft flimmerten und glänzten – vor uns der herrliche Rheinstrom und die silberne Mosel – an allen Ufern blitzende Uniformreihen, fröhliche, bunte Menschenhorden mit Fahnen und Guirlanden. Da wurde der erste Böller gelöst; das weiße Kaiserschiff, schmuck und rein wie ein Schwan, stieß vom Schloß ab und fuhr langsam den Strom hinauf; es landete am Denkmal, wo großer Empfang, Reden und die Einweihung stattfand. Vom Ehrenbreitstein dröhnten die Böller, an allen Ufern schossen die Truppen Salut, alle Glocken begannen zu läuten, die Fahnen wehten und die Menge schrie Hurra und schwenkte Hüte und Tücher – es war ein Moment, wo auch ich stolz war, ein Deutscher zu sein und ein so herrliches Vaterland zu eigen zu haben. Daß wir die Reden nicht hörten, betrübte uns weiter nicht – was braucht man Worte, wenn man den innersten Sinn versteht und empfindet? – Kaum waren die Einweihungsworte gesprochen, als ein Schwarm von 500 weißen Brieftauben freigelassen wurde, mit einem großen Schwung in die Höhe stieg, einen Moment zauderte und dann binnen weniger Sekunden nach allen Seiten stiebte, um die Kunde weiterzutragen. Es war ein allerliebster Anblick, der die gute, konfuse Tante Pauline zu den Worten begeisterte: „O seht, seht nur, ob Ihr nicht die Zettel in den Schnäbeln erkennen könnt!“ – Kommt ein Vogel geflogen… Beim Nachhauseweg gelang es uns noch, die Majestäten beim Landen aus nächster Nähe zu sehen, was mir besonders der vielen bekannten Gesichter in der Suite wegen amüsant war. Am Abend sahen wir vom Zollhafen, auf einem Sofa dicht am Ufer sitzend, das großartige herrliche Feuerwerk. Der Rhein war eine halbe Stunde weit mit allen Mitteln, die der heutigen Zeit zu Gebote stehen, erleuchtet. Die Ufer strahlten in allen Farben, die Brücken glichen feurigen Fontänen, der Ehrenbreitstein, nach meinem Geschmack am Schönsten, zeichnete die Architektur all seiner Gebäude in kleinen blitzenden Flämmchen ab, bis er zum Schluß von rotem Feuer durchglüht schien. Man sah wenig Flammen, sondern nur den Schein, den die dunklen Wasser vielfältig wiedergaben. Dazu wurde überall gleichzeitig, fast zwei Stunden lang, ununterbrochen geschossen, Raketen, Räder, Namenszüge etc. emporgeschleudert. Hätte man nur Augen genug zum Sehen gehabt und Kräfte, soviel in sich aufzunehmen! Was haben Herrschaften darin für eine unheimliche Fähigkeit! Ist es Gewohnheit, Abstumpfung oder Oberflächlichkeit des Empfindens, daß sie so viel erleben und genießen können? Ich glaube, alles drei! Auf dem Nachhausewege kamen wir ohne unser Wissen und Wollen in ein Volksgedränge, versammelt, die Abfahrt der Majestäten zu sehen. Ich habe nie eine solche Engigkeit und Drückerei erlebt vorher und muß gestehen, daß mir die Gefahr, das Abenteuer dabei eine ungeheure, fast berauschende Freude machte, während sie die Übrigen, besonders Mag mit höchstem Grauen erfüllte. Die tobende Menge wurde vorn durch eine Kette von Soldaten begrenzt, die, auf ihre Gewehrkolben gestützt nach hinten drängten und stießen, um die Durchfahrt offen zu halten. Fritz erkannte in einem der Leute einen seiner früheren Rekruten und

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bugsierte uns vor die Kette, wo wir zwar vom Erdrücktwerden gerettet, aber dafür dem Überfahrenwerden preisgegeben waren. Ab und zu wankte die Soldatenreihe und eine Welle der Bewegung des Pöbels warf uns hin und her – dann schrie der Schutzmann: „Paßt nur auf, gleich kommen die Kürassiere und reiten über Euch weg.“ Da – wie ein Wirbelwind kam der Zug: Kürassiere vorn und zu beiden Seiten – der Wagen der Majestäten, die Prinzessinnen, – das Gefolge; – es war ein malerischer Anblick – die geschmückte Feststraße im Hintergrund, die steigenden Raketen – der rote Fackelschein, der auf den Kürassen blitzte –, die herrlichen großen Pferde! Ein herrlicher, aber gefährlicher Anblick: – ich fühlte eine heiße Pferdeflanke auf meinem Gesicht, da riß mich Fritz zurück. In dem Augenblick sprang der Schlag eines Wagens auf und ein seidener Schirm flog vor unsere Füße. Der Soldat gab ihn mir und ich zog mit dem fürstlichen Schirm bewaffnet (er gehörte, wie wir später hörten, der Erbgroßherzogin von Baden) den ganzen Rest des Abends herum. – Hoffentlich glückten unsere Bemühungen, dem biederen Soldaten ein Trinkgeld zu verschaffen. – Ein kleiner Beweis für die Gesellschaft in unserer Emser Pension sei hier eingefügt: Bei meiner Rückkehr konnte kein Mensch unserer Tafelrunde fassen, warum ich den Schirm nicht behielt! „Wie schade, daß sie ihn zurückgaben! Solch reizendes Andenken an diese Tage! Und von einer Fürstin einen Schirm zu besitzen! Wie würden sich Ihre Eltern bei Ihrer Heimkehr gefreut haben!“ – Ich wurde vor Staunen so verlegen, daß ich wortlos dabei saß. Und daß Amtsrichter, Bergräte und Rechtsanwälte darunter waren, machte mir die Sache noch merkwürdiger! Wir waren froh, als wir diesem Kreis für immer Lebewohl sagten – die letzten Tage wurden uns lang und nur das Kaufen der Mitbringerle machte uns noch Freude. Der Arzt war recht zufrieden, sprach aber natürlich vom Wiederkommen Mags. Wollte Gott, daß das nicht nötig wäre. Über Frankfurt und Lauchröden, wo ich zwei Tage Station machte, kam ich hierher. Ich will nicht mehr fort in diesem Jahr, wenn ich es irgend vermeiden kann, denn es ist zu schön hier. Je mehr ich hinauskomme in die Welt, je mehr sehe ich ein, wie schön ich es zu Hause habe und wie ich mit allen Fasern meines Wesens an Wernburg hänge. Nein, ich will nicht fort! Am 23ten September 1897 starb Onkel Eduard Erffa ganz plötzlich an einem Schlag, nachdem ihn die Eltern noch zwei Tage vorher frisch und rüstig verlassen. – Obwohl wir ihm nie nahe gestanden, ward uns die Lücke in unserer kleinen Familie und das Zerreißen eines uns so eng verwandten Kreises recht schwer. Es bleibt dort zwar alles, wie es war, aber es ist doch alles ganz anders ohne das Familienhaupt. Karl soll beide Güter²⁷ bewirtschaften und mit seiner Mutter und Marie zusammen in Ahorn wohnen.

27 Ahorn und Wüstenahorn.

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Den 28ten November 1897. Seit vier Wochen hause ich jetzt hier allein mit den Eltern und bin so glücklich und befriedigt wie seit langer Zeit nicht. Tante Spitzemberg war im Oktober eine Woche sehr behaglich hier und nahm Sabine bis Weihnachten mit sich, damit diese ihren Studien bei Looschen²⁸ weiter nachgehen könne. Wir bekommen viele Briefe von ihr und da sie sowohl inhaltlich als stilistisch sehr gut schreibt, so bilden diese in unserer Einsamkeit stets ein freudiges Ereignis. Es ist überhaupt eigen, was die kleinste Nachricht jetzt für einem Interesse bei uns begegnet: Stoffe, die wir bei bewegterem Leben mit einem Worte abfertigten, dienen uns jetzt für eine ganze Mahlzeit zum Gespräch. Und doch haben wir uns noch keinen Moment gelangweilt, obwohl Superintendents fast unsere einzigen Gäste sind, obwohl Vater der einzige ist, der zuweilen herauskommt und obwohl ein Tag dem anderen gleicht wie ein Ei dem anderen. Vater ist eben eine so liebenswürdige, mitteilsame Natur, wie es wenige gibt und Mutter und ich haben unerschöpfliche Ressourcen an Gedanken und Gesprächen. Wir wohnen der Behaglichkeit und Wärme wegen ganz oben im 1.Stock: Mutter hat das Tantenzimmer mit Hilfe ihrer roten Möbel, ihrer Bilder und vieler blühender Blumen zu einem reizenden kleinen Salon geschaffen, im Saal essen, sitzen und lustwandeln wir, das grüne Zimmer ist der Eltern Schlafstube und im sogenannten Fürstenzimmer habe ich mein großes Reich für mich. Da ich den Haushalt fast ganz per Sprachrohr und Aufzug besorge, so bleibt mir viel Zeit zum Musizieren, Weihnachtsarbeiten und Lesen. Ich habe viel gemalt und gebrannt und mein Vorrat an hübschen Sachen mehrt sich zusehends. Daneben nimmt die Lektüre einen großen Teil des Tages in Anspruch: Ich las für mich Rümelin – Reden und Aufsätze, die Familie Mendelsohn, Wegener – Zum ewigen Eis und mit einer wahren Begeisterung Rankes Wallenstein. Ich meine, ich habe nie Geschichte gelesen, ehe ich ihn kannte. Sein großartiger Überblick ist bewundernswert. Nie stehen die Schicksale eines Volkes unvermittelt zusammenhanglos da, sondern ihre innere Notwendigkeit, ihre folgerichtige Entwicklung ist mit einer Klarheit nachgewiesen, daß man sich auf jeder Seite sagt: So mußte es sein! Es konnte gar nicht anders kommen! In unseren gemeinsamen Lektüren des Abends waren wir nicht immer so glücklich. Da wir abonniert hatten, lasen wir natürlich viel Neues, und da kommt man dann immer mehr zur Einsicht, wie wenig die Empfehlungen der meisten Menschen taugen. Sylvester von Geyer-Ompteda und Heinz Kirchner von Meinhardt sind ganz hervorragende neuere Bücher, aber eine ganze Menge anderer waren teils unwahrscheinlich – teils dumm und teils so unpassend, daß der gute Vater beim Lesen seitenweise überschlagen mußte.

28 Hans Looschen (1859 – 1923), Berliner Maler.

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Kürzlich war ein kleiner Pastor Brumme aus Friedrichswerth, dem alten „Erffa“ hier, um sich betreffs einer Erffa’schen Familiengeschichte, die er geschrieben, Vaters Urteil und Rat zu holen.²⁹ An diesen einen Tag werde ich denken, da mir das Hauptamt, ihn zu unterhalten zufiel! Wie man sich doch in einem Autor täuschen kann! Wir hatten uns nach dem Stil des Werks einen alten, gelehrten, etwas pedantischen, vertrockneten Mann vorgestellt. Stattdessen kam ein junger, fetter, bäurischer kleiner Dorfpfarrer, gutmütig und harmlos, aber von einer an Dummheit grenzenden Unbedeutendheit. Der einzige Punkt, in dem er wirklich etwas weiß, ist die Familie Erffa. Ich denke mir seinen Kopf wie ein unbeschriebenes, leeres Buch, in dem nur eine Seite mit unserem werten Namen gefüllt ist. Er weiß in unserem Stammbaum jeden Namen, jede Zahl, jeden Besitz – aber alles Übrige: Geschichte, Heraldik, Kunst, Kulturgeschichte, ja selbst die gewöhnliche Bildung sind ihm böhmische Dörfer. Sowie man unseren Namen nennt, erleuchtet das förmlich gierige Lächeln des Sammlers sein Gesicht, um sofort einem stumpfsinnigen, teilnahmslosen Ausdruck zu weichen bei jedem anderen Thema, das aufs Tapet gebracht wird. Dazu diese urgemeine Gothaer Sprache – diese unfaßliche Dummheit! – ich muß sagen, wäre er länger geblieben, so hätte ich noch beklagt nicht Schulze oder Müller zu heißen. – Was wird das für ein einseitiges, wertloses Manuskript werden, obwohl so viele interessante Fakta darinstecken!! Die einzige gesellige Freude, die mir in diesem Monat blühte, war die Obernitzer Silberne Hochzeit, die für uns Nachbarn durch einen Ball gefeiert wurde. Jörge war dazu von Halle gekommen und fuhr mit Mutter und mir hin, da Vater der Trauer wegen nicht gehen konnte. Wir haben uns beide ganz himmlisch unterhalten und hatten das angenehme Gefühl, ausgezeichnet behandelt worden zu sein. Die jungen Heydens, Neffen und Nichten, kannten wir zum Teil oder freundeten uns sehr mit ihnen an, während die Rudolstädter Gesellschaft, die sich einem Heerwurm gleich heranwälzte, wie immer einen sehr mäßigen Eindruck machte. Anni war wirklich das einzige gutaussehende Mädchen unter ihnen. Die Officiere tanzten, bis auf einen, überhaupt nicht mit mir, beklagten sich aber dann, daß die Auswärtigen eine so große Rolle gespielt hätten! Die Arrangeure waren die beiden Söhne von Staatsrat Holleben, die ich ihrem Renommee nach so lang schon kannte, daß mir ihre Bekanntschaft Spaß machte. Sie sind äußerst elegante, gewandte, schöne Leute, flotte Tänzer und witzige, amüsante Courmacher, doch muß man verstehen, sie sich drei Schritt vom Leib zu halten, sonst ist es mit Ton und Anstand bald vorbei. Für kurzes Sehen ist dieser kampfbereite Zustand ganz amüsant, aber für näheren Verkehr ist mir ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens bedeu-

29 Franz Brumme, Das Dorf und Kirchspiel Friedrichswerth (ehemals Erffa genannt) im Herzogtum Sachsen Coburg-Gotha, Gotha, 1899.

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tend angenehmer. Frau von Heyden war ganz reizend als Silberbraut, voll Teilnahme und Liebe gegen Jedermann, obwohl man durchfühlte, wie schwer ihre Kinderlosigkeit sie gerade an diesem Tage bedrückte. Den 15ten Dezember. Mein Geburtstag verlief sang- und klanglos, da ich ihn mit Mutter allein verlebte. Am Nachmittag gab ich eine große Chokolade für Pachtersund Pathenkinder und machte mir selbst Freude, indem ich ihren Jubel und ihr Vergnügen beobachtete. Als die kleine Gertrud bei einer Lotterie, bei der wir natürlich Providence spielten, ein heißersehntes Bildchen gewann, sah sie mich mit Augen voll solch strahlenden Glückes, solcher reinen Freude an, daß es mir als das schönste Geschenk des Tages erschien. Unsere Razzia in Leipzig ging diesmal schneller und besser vor sich, als andere Jahre, da Sabine uns vielerlei besorgte. Jetzt wird schon eifrig auf das Weihnachtsfest gerüstet, zu welchem wir außer den Geschwistern noch Großmutter und Tante Bertha mit Freda erwarten. Meine Arbeiten sind beendet und machen mir Riesenspaß: für Großmutter 3 bunte Spanschachteln, für Tante Bertha und Frl. Güntzel Zigarrenkästen, für Mutter ein Sofakissen, für Freda Untersätze und für Margarethe eine Schirmtasche, für Edda ein Arbeitskörbchen.

1898 18. Januar 1898 Weihnachten zog vorüber, schöner, gemütlicher und harmonischer als je. Was haben wir für einen reichen Heiligen Abend, was für sonnige Festtage mit langen Spaziergängen, was für lustige Gesellschaftsspiele, was für nette, ergiebige tête à têtes gehabt. Freda in ihrer ursprünglichen, offenen, bubenhaften Art paßt famos zu uns und Tante Bertha ist ein zu liebenswürdiger Mensch. Auch Hermann, der schon oft den Spielverderber machte, war diesmal sowohl körperlich als gemütlich recht im Blei und in bester Laune. Ich war wohl die einzige, der das Getriebe manchmal zu bunt wurde, teils weil die Last des Haushalts manchmal groß war, teils weil ich mich nach der stillen Zeit erst nicht an den Lärm und die vielen Menschen gewöhnen konnte. Sabine war dagegen so fidel, wie ich sie seit Jahren nicht gesehen. Der Umgang mit Hanna und Freda und die befriedigende Arbeit hat sehr günstig auf ihre Stimmung gewirkt. Nun brennt sie natürlich darauf, recht bald wieder nach Berlin zurückkehren zu dürfen. Es war ihr erstes Wort beim Ankommen – ich bat auch darum – so wird sie am 1ten Februar nach Berlin zurückkehren, nicht zu Tante Higa, sondern in eine Damenpension am Magdeburger Platz. Mutter und ich wollen währenddessen die Vetternstraße ziehen und uns in Lauchröden, Meiningen,

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Weimar, vielleicht auch in Kassel oder Bückeburg umhertreiben. Ich glaube, ich schrieb noch gar nicht, daß Martin Wegnern im November ganz plötzlich an Gehirnentzündung starb. Es war ein furchtbarer Schlag! Aus dem vollen Glück in der besten Manneskraft herausgerissen zu werden, denke ich mir für ihn ja im Grunde ganz herrlich, aber was bedeutet es für die arme Fanny, die sich mit 34 Jahren ohne Halt und Schutz mit sechs Kindern und einer verhältnismäßig kleinen Pension alleingelassen sieht. Sie ist eine tüchtige, kräftige Frau und wird ihre Pflicht tun – das bin ich sicher – aber wie lang, wie furchtbar schwer muß das Leben vor ihr liegen. Nur eine Woche vor seinem Tod hatten mich Wegnerns zu den Hochzeitsfeierlichkeiten des Prinzen Ernst von Altenburg³⁰ eingeladen. Nun schrieb ich sofort, ich würde jederzeit kommen, zum Umzug, zum Hüten der Kinder, wann sie mich brauchte. Aber da sie nichts schrieb, haben wir es bis jetzt noch nicht in unsere Reisepläne aufgenommen. – Vater ist jetzt wieder zum Landtag [sic] nach Berlin und wir drei beschäftigen uns mit unserer Wintertoilette, lesen viel zusammen und erzählen uns Erlebnisse, worin Bibs natürlich am reichsten ist. Ihre Ateliergeschichten sind sehr drollig, geben aber vom Ton und von der Bildung der meisten Studiengenossinnen ein sehr trauriges Bild. Es ist zu schade, daß die modernen Frauen meist durch ihre Selbständigkeit, ihr Aufgeben alter Vorurteile – an sich solch erfreuliche Bewegung! – ihr bestes Gut, ihre Weiblichkeit einbüßen! Wie schaden gerade diese Wesen, die Unabhängigkeit in burschikosen Allüren und männlichen Nachäffereien suchen, der guten Sache! 22ten Januar 1898 Ich vergnügungssüchtiges Geschöpf habe in den letzten Tagen eine Ballfahrt nach Eisenach gemacht, auf der ich verschiedenerlei Abenteuer zu bestehen hatte. Die Pflugensberger Eichels waren so liebenswürdig, mich mit Rotenhans zusammen einzuladen und da die Eltern mir dringend zuredeten und Margarethe einen Bettelbrief losließ, so machte ich mich mit einigem Widerstreben dazu auf. Nach einem ziemlich ungemütlichen Tag in Lauchröden, an dem ich vor Kälte klapperte, fuhren wir nach Eisenach ins Hotel und zogen uns mit großer Langsamkeit an. Margarethe war ganz in Weiß und sah wunderhübsch aus. Oben auf dem Pflugensberg traf ich so viele bekannte Herren, daß meine Karte³¹ besetzt war, ehe ich der Hausfrau Guten Abend gesagt hatte. Es war ein hübsches, gelungenes Fest mit vielen netten Leuten: die beiden Neffen Harnier und Wilhelm Grolmann, die jungen Herren von der Kasseler Regierung, Officiere aus Weimar und Meiningen – es war fast zu viel

30 Ernst Prinz von Sachsen-Altenburg (1871 – 1955), als Ernst II. 1908 – 1918 Herzog von Sachsen-Altenburg, heiratete 1898 Adelheid Prinzessin zu Schaumburg-Lippe (1875 – 1971). 31 Die Tanzkarte, auf der sich die Tänzer im Voraus eintragen mussten.

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des Tanzens. Margrethchen Harnier lernte ich endlich kennen; beim ersten Sehen ist man von ihr enttäuscht, aber schon nach einer halben Stunde übt sie einen solchen Charme auf jeden aus, daß man vollständig in ihrem Bann ist. Wir übernachteten im Hotel und da am nächsten Tage ein kleines Katerfrühstück nur für die Verwandtschaft stattfinden sollte, so wurde mir sehr zum Bleiben zugeredet und ich ließ mich auch von Hermann zu einer Zusage überrumpeln. Kaum lag ich im Bett, ward mir natürlich klar, daß mein Bleiben ausgeschlossen sei. Ich wäre erst um 12 Uhr nach Haus gekommen, hätte zwei Stunden allein in Göschwitz liegen müssen, wenn ich am selben Tag zurück wollte. Und das mußte ich meines Billets halber. Kurz und gut – ich dachte an die Angst der armen Mutter und entschloß mich trotz großer Kämpfe seitens Hermanns, das nette Fest zu opfern und um zwei Uhr abzureisen. Ich nahm also Abschied von Rotenhans, um die Stunden, die mir noch vor der Abreise blieben, bei Trautvetters zu verbringen. Dorothee sollte mich zum Zug bringen, aber mit gewohnter Bummeligkeit hatte sie noch zehnerlei zu besorgen, zu holen, zu trödeln, bis wir loskamen – wir rannten zwar wie die Diebe – als wir ankamen, grinste uns der Hotelportier mit meiner Tasche in der Hand entgegen: „Vor zwei Minuten ist Ihr Zug fort!“ Ich habe stets behauptet, mich nicht rechtschaffen ärgern zu können – seit diesem Moment kenne ich das Gefühl! Nachdem ich das Opfer gebracht, durch fremde Schuld es völlig vereitelt und unnötig zu sehen, war wirklich hart. Ich hätte irgendjemanden ohrfeigen mögen, am liebsten die schadenfroh grinsenden Gesichter ringsum. Nun benachrichtigte ich Mag in einem Billet, worüber sie bei ihrer Rückkehr in Tränen zerfloß, wie sie mir heute schreibt. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu Trautvetters zurückzukehren, aber es ward mir sauer, liebenswürdig zu sein, besonders da sie „kaltlächelnd“ meinten, es wäre gut, daß ich diese Erfahrung mal gemacht hätte; ihnen passiere es oftmals. – Dann kam noch das greuliche Warten in der Wirtsstube Göschnitz: Ich besinne mich noch immerzu, was größer war, die Unannehmlichkeit oder das Vergnügen? Das Gefühl, recht getan zu haben, ist mir gar kein Trost und wenn ich auch ein zweites Mal geradeso handeln würde, so ärgere ich mich doch fast, daß es nicht in meiner Natur liegt, leichtsinniger zu sein! Januar 1898 Wir sind bereits auf dem Abmarsch begriffen, im ungemütlichen Stadium des Einpackens vermehrt durch häusliche Schneiderei. Gestern reiste Sabine in ihre Pension, in einem solchen Stadium von Erkältung und Elendsein, daß es geradezu ein Unsinn war. Aber sie hat einen so zähen Willen, daß sie ihren Körper stets abzwingt, hoffentlich wird sie nicht hinterher noch krank. In Weimar erwarten uns allerhand gesellige Freuden, sodaß wir noch allerhand Berliner Staat herrichten lassen müssen. Ach, die Abhängigkeit von den Kleidern ist doch zu elend! Wie muß

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man sich schinden und kostbare Zeit damit verlieren, nur um anständig gekleidet zu sein! Die Woche in Weimar war so inhaltsreich, daß ich sie tageweise beschreiben möchte. Am Donnerstag, 3.2., kamen wir zu den lieben alten Rotenhans. Sie sind Menschen, die ihre innerste Individualität unter allen Verhältnissen bewahren: Ob in Neuenhof am Missionsfest, ob im großen Verwandtenkreis oder ob auf dem großherzoglichen Parkett inmitten der hypierten, geschraubten Gesellschaft – sie sind stets sie selbst, harmonische, abgerundete und abgeklärte Persönlichkeiten. – Sie haben eine wunderhübsche, altfränkische Wohnung im Esebeck-Pappenheim’schen Haus und sehen diese verwandten Damen fast täglich. – Am selben Abend war ein großer Rout, zu dem Großherzog, Erbgroßherzogin und ein großer Teil der Hofgesellschaft zusammenkam. Viele waren uns ja bekannt: Karl Eichel, die Furraer, Boyneburgks, Hans Breitenbauch mit Frau, Strauchs etc. Cécile Wedell, die in Berlin kaum meinen Namen gewußt, fiel mir hier beinahe um den Hals und sie und ihr Vater ruhten nicht, bis Mutter ihren Aufenthalt noch um zwei Tage verlängerte und eine Einladung zum Ball bei ihnen annahm. – Von dem Hofgesinde machten mir Wittgenstein und Frl. von Welck einen sehr liebenswürdigen Eindruck, während mir Bylandt so hypiert fein erschien, daß man vor aller Feinheit den „Menschen“ nicht erkennen konnte. Vielleicht findet man ihn aber bei näherer Bekanntschaft. Der Maler, der Mag für die Eltern malte, entpuppte sich als ein greulicher alter Schwätzer und war den ganzen Abend über meine Verzweiflung. Man stand und saß herum, trank viel Thee und aß so gut wie nichts – das ist die Weimarer Geselligkeit, wie man mir sagt. Ich amüsierte mich gottvoll mit meinen Beobachtungen, aber auf die Dauer denke ich mir diese Routs, Abend für Abend, ziemlich ledern. Nachdem alles fort, aßen wir dann noch einmal gründlich und waren sehr vergnügt, besonders der alte Neuenhöfer war sehr glücklich über den gelungenen feinen Abend. Die früheren Feste, von der Neuenhöfer Jette gekocht, mit Neuenhöfer Wurstbröten und Neuenhöfer Kuchen sollen allerdings grauenvoll gewesen sein. Freitag gingen wir ins Museum, so recht lang und gemütlich. Ich habe eine Abneigung, durch die Sehenswürdigkeiten einer Stadt gejagt zu werden; lieber begnüge ich mich mit wenigem und schaue mir das gründlich an. Die Odyssee von Preller³² wirkt wunderschön durch den Saal, durch das fein abgestimmte, ruhige Kolorit der Wände, durch die günstige Beleuchtung; die „Sieben Raben“ muten durch ihre

32 Friedrich Preller d.Ä. (1804 – 1878) schuf 16 Wandbilder mit Odysseelandschaften im Auftrag des Großherzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach.

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zarten, weichen Farben und ihre märchenhaft poetische Auffassung an. Beides sind gedanken- und inhaltreiche Werke, gut empfunden und ausgeführt, aber ich gestehe ganz offen, daß ich zu modern im Geschmack bin, um sie ganz zu würdigen. Ein kräftiger, lebensvoller häßlicher alter „Hals“ oder Rembrandt ist mir tausend Mal lieber als alle schönen Sagenbilder zusammen. – Die Stadt Weimar ist mir ungeheuer sympathisch; im inneren Viertel fehlen die geschmacklosen, unharmonischen Mietshäuser und die sogenannten „stilvollen“ Villen gänzlich. An ihrer Stelle stehen noch die alten, niederen, behaglichen Häuser der Goethezeit, gelb und braun gefärbt, mit hohen, braunen Dächern, mit Giebeln und Mansarden und sehen, besonders unter den dicken, weißen Schneehauben fabelhaft ehrwürdig und anheimelnd aus. Ich sehe in alten Häusern mit Vorliebe Gesichter; die Fenster werden zu Augen, Erker zu Nasen und wenn mich die alten Knaben dann teils mürrisch, teils belustigt anblinzeln, so fühle ich mich gleich vertraut und fidel in einer Stadt. Ein modernes Haus vom Durchschnittsschlag sagt so wenig; höchstens ärgert es durch verunglückte Stilversuche oder ruft durch Einförmigkeit und Symmetrie Langeweile hervor. Das muß ich übrigens auch sagen, daß die Weimarer Häuser mehr versprechen, als sie halten, denn so unerhörte, abscheuliche Treppchen habe ich selten gesehen. Der Aufgang zu Wurmbs ist geradezu unanständig. – Mutter trank Thee mit der Erbgroßherzogin, dieselbe ist keine Jugendfreundin von ihr, wie allgemein angenommen wird, aber natürlich freut sie sich, eine Landsmännin in der Fremde zu sehen. Sie waren ganz allein und schwätzten wie zwei gute Schwäbinnen zusammen. Ich war bei Wurmbs zum Thee, wo mich Mutter abholte. Menci war ganz verändert, gesprächig und lustig, selig, jemanden zu haben, der sie nicht einschüchtert. Sonnabend war den officiellen und nichtofficiellen Besuchen gewidmet. Wedels waren wieder auffallend liebenswürdig. Gräfin Werthern überraschte mich mehr, als ich sagen kann. Kaum waren wir fünf Minuten bei ihr, als sie zu weinen begann, uns über die Trennung von ihrer Tochter vorschluchzte und uns mit Klagen in deren unbewohntes Mädchenzimmer führte. Ganz als ob diese gestorben wäre, anstatt daß sie drei Häuser von ihr mit Palézieux³³ glücklich verheiratet lebt und ein herziges Baby besitzt. Dann folgten intime Gespräche über die Söhne, besonders über Ottobalds Erfolge bei den Berliner Frauen, die ich gern energisch bestritten hätte. Es war wirklich ein merkwürdiger Besuch, bei dem wir nur ein großes Mitleid für das entschieden kranke Gemüt der Gräfin fortnahmen. – Bei Boyneburgks, mit denen wir entfernt verwandt sind, merkte man die Holzendorff-Stein’sche Ab-

33 Aimé Charles Vincent von Palézieux-Falconnet (1843 – 1907), Adjutant des Großherzogs Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach (1818 – 1901).

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stammung an unglaublicher Unordnung und Schmierigkeit. Er machte mir den Eindruck einer echten Lustspielfigur: dick und klein und mit kurzem Hals und struppigem Haar, Klappkragen und keine Manschetten, dabei sehr sarkastisch, abrupt und amüsant. Dabei ist er Legationsrat und ein großes Tier in der Hofgesellschaft. – Mutter war wieder zur Tafel befohlen, während ich als junges Mädchen als nicht Diner-reif ästimiert wurde. Ich war mit Menci in „Ultimo“, einem entsetzlich dummen Lustspiel, was mäßig gespielt wurde, uns aber trotzdem oft und herzlich lachen ließ. Das will aber wirklich nichts heißen; dumm fand ich’s doch im höchsten Grad. Am Sonntag hörten wir in der Kirche eine Predigt über die Frauenfrage, die ebenso gut von Frau Lina Morgenstern³⁴ in einer Arbeiterinnenversammlung hätte gehalten werden können. Und dafür selbst wäre sie schwach gewesen! Es genügt wohl, wenn ich sage, daß selbst Kerbschnitt- und Holzbrandarbeiten eine Rolle darin spielten und ein 1 bis 3jähriger Haushaltungskursus mit weiblichen Gemeinen und Einjährig-Freiwilligen angepriesen ward. Gemeinplätze wie: Die Frau ist kein Mann und der Mann ist keine Frau wimmelten in der langatmigen Rede. Es war einfach schauderhaft! – Wie eine Befreiung wirkte nach so viel Unklarheit das Goethehaus auf mich. Die Sammlungen und Bilder ließen mich kalt; sie sind museenhaft aufgestellt ohne großen Wert, aber die zwei Zimmer auf halber Treppe: Wohn- und Schlafzimmer sagen alles, was man im Goethehaus sucht. Sie sind so schlicht und primitiv, wie kaum Dienstbotenzimmer heutzutage, keinerlei Luxus oder Komfort, ein schmales, ärmliches Bett, alte klapprige Möbel, einige Bücher und Bilder – das ist alles. Und doch bringen sie dem Beschauer den großen, herrlichen Mann, der darin gelebt, gedacht und gefühlt, der voll ungestillter Sehnsucht nach dem Ewigen, Unerreichbaren, die auch uns erfüllt, dort gestorben, um vieles näher. Es war ganz eigentümlich – ich hatte kurz zuvor in Hanslicks Memoiren³⁵ mit Erstaunen gelesen, mit welch hohen Erwartungen er das Goethehaus besuchte. Ich konnte mir nicht denken, daß tote Räume dies bewirken könnten. Aber ich mußte erfahren, daß der Eindruck auf mich ein geradezu erschütternder war. Ich war so erregt, daß ich Mühe hatte, nicht zu weinen, und daß ich nicht fassen konnte, wie Mutter und die Neuenhöferin Gleichgültiges auf dem Heimweg reden konnten. Ist das nun Einbildung, Erregung der Phantasie? Alles Übernatürliche und Nervöse liegt meiner Natur so fern und ich habe viel zu wenig von Goethe gelesen, um ihm annähernd nachzuempfinden, um ihn einigermaßen zu verstehen! Am Abend waren wir bei Wurmbs mit Strauchs zusammen. Tante

34 Lina Morgenstern (1830 – 1909), deutsche Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und Sozialaktivistin. 35 Eduard Hanslick, Aus meinem Leben, erschien 1894. Hanslick galt als der bedeutendste Musikkritiker des 19. Jahrhunderts.

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erzählte endlose Leuteerlebnisse, die Frau von Strauch, die einzige, der das noch neu war, voll Mitleid und Teilnahme erfüllten. Am Montag machte ich mit Fräulein von Pappenheim eine entzückende Schlittenfahrt nach Tiefurth. Der Weg durch die weißglänzenden Wäldchen, durch den Park voll kleiner Pavillons und Goetheerinnerungen war äußerst erfrischend. Zu Tisch kamen Esebecks und Finkenstein und zum Thee der entsetzliche, schwatzhafte Maler Behner, der nicht eher ging, als bis wir uns zum Ball rüsteten. Schon während des Frisierens schickte Friedrich Esebeck, unser treuer Berliner Tänzer, herauf und ließ um den Cotillon bitten. Die alte Friseuse seufzte erleichtert auf und gestand mir, daß sie bei meiner Fremdheit in der Gesellschaft großes Ballfieber für mich hatte. Ich hatte dasselbe keinen Moment geteilt, aber ich war doch überrascht, wie gut ich behandelt wurde; ich war stets von den nettesten Herren umgeben und kam kaum zum Stehen. Es war ein sehr glänzender Ball, den schönsten Berlinern ebenbürtig und kam mir nach der langen Schonzeit doppelt famos vor. Karl Eichel hatte wie stets etwas Apartes haben müssen und hatte die Ungarnkapelle vom Monopol-Hotel per D-Zug kommen lassen. Diese Leute spielen bekanntlich nur gut, wenn sie durch Beifall und Klatschen enthusiasmiert werden. Hier erregten sie großes Aufsehen und Anerkennung und übertrafen sich förmlich. Die eigentliche Weimarer Gesellschaft ist steif und wenig zuvorkommend, ärgerte sich wohl auch, daß die Fremden solche Rolle spielten. Görtzens waren eben von Berlin gekommen und begrüßten mich mit heller Freude. Außerdem waren Haussonvilles, Friedrich Harnier, Margrethchen, die Pflugensberger, Siegfried Rotenhan, drei Wertherns etc. gekommen. Unser Hermann war am selben Morgen Kammerherr geworden und wurde sehr vermißt. Wenn sie nicht so schwerfällig wären, hätten sie in ihrer neuen Würde gewiß großen Beifall bei der versammelten Familie gefunden. Ich saß zwischen zwei Wertherns beim Souper und unterhielt mich ganz ausgezeichnet. Mit einem Wort – es war sehr gelungen. Eichels baten uns, noch etwas länger zu bleiben, um in der kleinsten, intimsten Clique noch etwas weiter zu tanzen. Es schien auch sehr fidel zu werden; bald aber wurde es allzu fidel: Alles rauchte – der Hausherr tanzte mit Ratibor eine Art Cancan – ich amüsierte mich gottvoll – Mutter aber schleppte mich eilig von dannen. Die Übrigen tanzten noch bis sechs Uhr durch und Friedrich Esebeck, den ich am nächsten Vormittag bei seiner Mutter traf, war ein Bild des Jammers, Karl Eichel lag zu Bett und Buttlar, der Vortänzer, konnte kaum aus den Augen sehen. Ich dagegen ging frisch und munter in die permanente Ausstellung, wo entsetzliche Bilder ausgestellt waren und war um ein Uhr zum Essen bei Esebecks. Der Sohn war etwas ausgeschlafener, saß zwischen Margrethchen und mir und wußte kaum, wie er sich nach beiden Seiten verteilen sollte. Seine Mutter ist äußerst sympathisch, gescheit und lustig, aber von einer geradezu verblüffenden Offenheit. So sagte sie mir auf dem Ball mehrmals: „Tanzt mein Sohn in Berlin auch

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so unausgesetzt mit Ihnen? Ich überlege mir immerfort, ob Margrethchen oder ob Sie einmal meine Schwiegertochter werden. Eigentlich bin ich böse auf Sie, daß mein Sohn noch nicht geheiratet hat“ und andere Äußerungen mehr. Ich lache dann und fasse die Sache so natürlich auf, wie sie gemeint ist, aber ungewöhnlich erscheint sie mir zum mindesten. Am Nachmittag war ein Thee bei der herzigen Frau Hans Breitenbauchs, abends dagegen ganz stilles Zusammensitzen nach Neuenhöfer Art. Mittwoch war der Ball beim Hofmarschall Wedel, der sich als arger Reinfall erwies. Der Eichelsche Ball war so amüsant gewesen, daß ich mir von dem zweiten, wo ich doch bekannter und der Kreis kleiner war, sehr viel versprach. Dagegen fand ich, daß alle Auswärtigen abgereist und die Mehrzahl der Tänzer halbwüchsige Primaner und Sekundaner, Freunde der Haussöhne waren. Für diese ungewandten, zum Teil sehr eingebildeten Herren hätte man nur auch halbwüchsige Mädchen und nicht die ganze Gesellschaft, Hofdamen, junge Frauen und Prinzessinnen einladen und besonders Auswärtige wie uns dazu halten sollen. Da die hoffnungsvolle Jugend zuerst am Platz und gar nicht blöde war, so fanden die vernünftigen Herren kaum mehr eine Tänzerin und wir hatten den Genuß, den ganzen Abend von unsicheren, zum Teil tölpelhaften Partnern herumgestoßen zu werden. Der eine setzte drei Mal mit mir zum Walzer an, konnte aber absolut den Takt nicht finden, obwohl er ihn mit meinem Arm zu schlenkern versuchte. Da stellte er mich kaltlächelnd an die Wand mit den Worten: „Wir wollen lieber aufhören, Sie kommen doch nicht mehr in Takt!“ Zwischen diesen Naturtänzern sah man dann die Gräfin Goertz und die alte Frau von Taube herumtanzen – es kam mir sehr böhmisch vor. In der sogenannten Grafenclique hat sich nämlich eine Art Gesellschaft gebildet, die sogenannte „Troddelbande“, der die jüngsten Mädchen wie Görtzens, Wedels, Taxis und deren jüngere Brüder angehören, dazu einige der älteren Junggesellen. Dieselben kennen sich natürlich sehr genau, rennen jeden Tag spazieren zusammen und taten sich auch hier eine Güte an. Der Ton scheint harmlos, aber unglaublich kindisch zu sein. Uneingeweihten kommt er in erhöhtem Maße so vor. Ich war froh, mit Butlar, Menci, dem ältesten Werthern und Fräulein von Welck einen hübschen, soliden Tisch zu haben. Die Troddelbande spielte während des Soupers, wenn ich recht sah, Wattepusten und Byland, der sich unter dieser Jugend immer wieder verjüngt, hielt scherzhafte Tischreden. Am andern Morgen reisten wir zusammen nach Eisenach, von wo Mutter zu Trautvetters und Rotenhans weiterfuhr und ich meine Residenzentour nach Meiningen fortsetzte. Tante Maria holte mich ab und alle empfingen mich mit offenen Armen. Trotzdem fühlte ich mich in den ersten Tagen höchst unglücklich, fühlte mich fremd und undankbar und konnte mich in das kleinstädtische Getriebe nicht

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hineinfinden. Ich kam auch gerade in die Vorbereitungen zu einem kleinen Hausball herein, den die lieben Butlers für mich gaben. Ich hätte denselben nach einiger Zeit Dortseins viel mehr genossen als so am zweiten Tag, ehe ich eine Seele kannte. Die Leutnants schienen mir einer wie der andere, und ich mußte mich zusammennehmen, den Verwandten zu verbergen, daß ich mich nicht amüsierte. Karl war auf einen Tag gekommen und tanzte sehr liebenswürdig vor. Am nächsten Tag kam die Heldburg³⁶ angefahren, um mir ihren Gegenbesuch zu machen. Ich fühlte mich überhaupt sehr geehrt, daß selbst die hochgestelltesten, ältesten Damen meine Besuche erwiderten – das scheint Meiningens Sitte zu sein. Die Heldburg war sehr liebenswürdig und taktvoll, forderte mich zu Lebenden Bildern auf, die sie für den Herzog stellen will und sagte: „Wozu ich Sie bestimmt habe, sage ich Ihnen nicht, aber ich wußte es auf den ersten Blick!“ Man kann sich denken, wie neugierig wir waren, aber wir mußten lange warten, bis wir befriedigt wurden. Ursprünglich hatte ich beabsichtigt, höchstens 14 Tage bei Butlers zu bleiben, und in den ersten Tagen des Unbehagens wurde dieser Entschluß nur befestigt. Ich blieb aber sehr gern volle vier Wochen und habe mich in denselben so mit den lieben Menschen eingelebt, daß mir das Losreißen ordentlich schwer ward. Onkel Max war sehr gut und freundlich, aber seine ins Extreme gehende Pedanterie, sein übergroßer Pflichteifer machen ihn zu keinem gemütlichen Element im Haus. Meistens kam er vom Ministerium, wenn wir fast mit dem Essen fertig waren, schlang einige Bissen herunter, ruhte ein wenig und rannte wieder fort, um manchmal erst um neun Uhr heimzukehren. In den wenigen Stunden ist er den Seinen ein rührender Mann und Vater, aber ich frage mich doch, ob es recht ist, einen so großen Teil seines Lebens dem Staate zu widmen und die Seinen darüber zu verkürzen. Das Betrübenste ist, daß niemand ihm seine Aufopferung dankt, daß die Gutgesinnten ihm fast einen Vorwurf daraus machen, daß er sich zum Werkzeug eines so liberalen Herrn hergibt. Die Seele des Hauses ist Tante Maria. Tatkräftig, einsichtsvoll und warmherzig, weiß sie allen Hausgenossen gerecht zu werden und jedem persönlich nahe zu kommen. Für ihren Mann räumt sie allen häuslichen Ärger aus dem Wege und nimmt ihm z. B. den Hauptteil der Geschäfte mit den Gütern ab, sorgt für ihn und stellt seiner Reizbarkeit eine unverwüstlich gute Laune entgegen. Moritz unterstützt sie beim Arbeiten und für uns jungen Mädchen suchte sie so viel Anregung und Vergnügen zusammen, als in Meiningen aufzutreiben war. Für jeden Menschen hat sie ein warmes Herz, einen freundlichen

36 Helene Freifrau von Heldburg (1839 – 1923), geb. Franz, die Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen in dritter Ehe heiratete. Als ehemalige Schauspielerin galt sie nicht für ebenbürtig.

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Rat und praktische, rasche Hilfe. Sie ist aber auch allgemein so beliebt und verehrt, daß ihre Kinder ganz stolz auf sie sind. Mit Grete habe ich mich sehr eng befreundet. Sie ist ein durch und durch nobler, aufrichtiger Charakter, voll Temperament und Leidenschaft; in ihrem ganzen Empfinden durchaus männlich und daher meist mit mir im Widerspruch. In allen Anschauungen stimmten wir aber herrlich überein und kamen uns täglich näher. Moritz ist ein reizender Kerl, durch eine sehr large Erziehung selbständiger und freier als andere Jungens seines Alters, dabei aber voll Kindereien und Jugendübermut. Ich spielte mit ihm Duette für Klavier und Violine, was mir ein neuer Genuß war. An Kunstgenüssen war dieser Winter der reichste meines Lebens. Unter der Leitung des genialen Steinbach³⁷ finden die herrlichsten Instrumental- und Vokalkonzerte statt und da Grete im Chor singt, so konnte ich den Proben beiwohnen, was viel zum Verständnis beiträgt. Für das Theater ging mir ein neues Licht auf. Das Meininger ist auch noch jetzt nach Auflösung der berühmten Truppe auf einer ganz exzeptionellen Höhe. Das Interesse und die strenge Kritik des Herzogs und der Heldburg tragen viel dazu bei, aber dann tragen der im persönlichen Verkehr unausstehliche Paul Lindau und der gutgeschulte zweite Intendant Richard dafür, daß jede Vorstellung eine vollkommene Leistung sei. Ich habe kaum je im Lessing- und Deutschen Theater solche Vorstellungen gesehen. Die sämtlichen Schauspieler, selbst die unbedeutendsten Rollen, fallen nie aus dem allgemeinen Rahmen des Stücks, alles ist soigniert und ausgearbeitet und namentlich wird nie geschauspielert; das ist der Hauptfehler wohl der meisten Bühnen! Am ersten Sonntag, den 13ten, sah ich die „Jugendfreunde“ ein allerliebstes, feines Lustspiel von Fulda. Montag und Dienstag waren wir mit dem großen Conzert beschäftigt. Der Gesangverein sang das Parzenlied und die Nänie³⁸ ganz hervorragend, d’Albert, den ich von Leipzig her kenne, war mir gleichgültig und seelenlos wie immer. Eine arme Sängerin, mit einer prachtvollen Altstimme sollte debütieren und verunglückte gänzlich. In der Probe sang sie Goethes „Harzreise im Winter“ (von Brahms für Alt und Männerchor komponiert) mit solcher Inbrunst, daß wir alle hingerissen waren. In der Nacht hatte sie sich wohl erkältet und war daher im Konzert so mäßig, so heiser und matt, daß Alles enttäuscht und stumm war. Ohnmächtig wurde das arme Geschöpf herausgeschleift.

37 Fritz Steinbach (1855 – 1916), Leiter der Hofkapelle in Meiningen und bekanntester Brahms-Dirigent seiner Zeit. 38 Beides sind Kompositionen von Johannes Brahms nach Gedichten von Friedrich Hölderlin.

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Donnerstag war ich den ganzen Nachmittag bei der guten alten Edda.³⁹ Sie hatte einen Stollen gebacken, stopfte mich mit großer Freude und ließ sich viel erzählen. An allen Wänden und auf allen Kommoden standen meist recht mißglückte, unnütze Kinderarbeiten umher: Brotschalen, Nähkörbchen, Deckchen und Wandtaschen – und bei Allem hieß es: „Das hat mir meine kleine Hildegard gearbeitet“. Was bin ich früher fleißig und geschmacklos gewesen! Grete hat die Gewohnheit, früh von acht bis 10 spazieren zu gehen und ich begann, sie dabei zu begleiten. Die Umgebung von Meiningen ist reizend wechselvoll und bot uns jeden Tag einen anderen schönen Weg. Wir sind oft wortlos nebeneinander hergegangen, durch den beschneiten Wald und längs der grauen Werra; – wortlos – das sicherste Zeichen von Intimität und Sympathie, wenn man sich nicht gerade gezankt hat. Oft auch sprachen wir über Alles, was uns bewegt, über Lebensfragen, die ich nie mit jemandem vorher besprochen habe, und immer verstanden wir uns, auch wenn wir nicht derselben Meinung waren.– Wir beschlossen aber, vorher zu frühstücken, denn ich wurde durch das lange Nüchternbleiben so matt, daß ich den ganzen Tag Kopfweh hatte. Sonntag, 20ten, fuhren Frau von Enkevort, eine junge Offiziersfrau, Pussy Beulwitz, eine Art Verwandte von uns, die jetzt ihr Lehrerinnenexamen macht, Grete und ich nach Neustädles, ein in der Nähe gelegenes, gräflich Sodensches Gut. Graf Soden ist ein vornehmer, alter Herr, der aber, sei es durch eigene oder durch fremde Schuld so abgewirtschaftet hatte, daß er am Bankerott war. Es soll Zeiten gegeben haben, wo sie keinen Dienstboten mehr hielten und faktisch kein Stück Brot im Haus hatten. Da niemand mehr borgte, kochten die Völkershäuser Steins als treue Nachbarn für sie zu Mittag. Durch eine Erbschaft rissen sie sich nach einigen Jahren des Darbens wieder etwas heraus und jetzt sind sie für ihre Begriffe in einer ganz gutsituierten Lage. Für andere Menschen ist das zwar noch sehr ärmlich und unstandesgemäß, aber den armen Schluckern kommt es gewiß glänzend vor. Die zwei erwachsenen Söhne stehen in Meiningen im Regiment und sind so weltgewandte, elegante, hübsche Leute, daß sie überall sich eine gute Stellung machen. Der eine war nach Kiatschao⁴⁰ kommandiert, aber den Ältesten, Max, habe ich in dieser Zeit oft und gründlich gesehen und die Meinung eines äußerst braven, tüchtigen Menschen gewonnen. Auch die vier Töchter, zwei ältliche und zwei Backfische, machen einen durchaus anständigen Eindruck. Und dazu dieses Haus! Ich war zwar von Grete auf vieles vorbereitet, aber so schlimm hatte ich mir Schmutz und Unordnung nicht 39 Edda Ziller, Meininger Kindermädchen von Hildegards Vater und dessen Geschwistern. 40 Jiaozhou (Kiautschou) war ein 1898 vom Kaiserreich China unter Zwang an das Deutsche Kaiserreich verpachtetes Gebiet im Süden der Shandong-Halbinsel an der chinesischen Ostküste. Hauptstadt war Qingdao (Tsingtau).

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vorgestellt! Schon im Schlafzimmer der Töchter wagte ich kaum, meine Sachen auf die schwarzen Betten zu legen. In den Wohnzimmern fiel der Stuck von allen Wänden, verschiedene Stühle, die aber im Gebrauch waren, wurden uns von den Töchtern selbst als unsicher bezeichnet. Beim Essen – es waren außer uns noch fünf Officiere zum Diner eingeladen – brachte man kaum einen Bissen herunter, nicht weil es schlecht, sondern weil es so verdächtig war. Alle Kinder halfen servieren, schenkten ein und trabten umher aus Mangel an Organisation. Ich wagte kaum, den Sohn anzusehen, als er von seiner Runde mit der Stachelbeerweinflasche zu mir zurückkehrte. Aber als ich es that, sah ich ein Gesicht, das von Zufriedenheit und Behagen strahlte! Und bald merkten wir, daß die ganze family so harmlos glücklich, so von Herzen befriedigt war über ihre Festlichkeit, daß wir allesamt angesteckt davon wurden. Der Graf in einer schillernden, blauen Plüschweste, strahlte zu Ehren seines Geburtstags; die Gräfin, etwas laut und aufgeregt, im alten schwarzen Seidenkleid, balgte sich mit dem jüngsten Leutnant herum. Wir machten eine große Schneeballschlacht, Herren gegen Damen; – einer klimperte auf einem Tafelklavier, das nur wenig Töne mehr hatte; – wir tanzten wie verrückt – jeder zeigte sich in der besten Laune – dazwischen kamen die netten Völkershäuser. – Um neun Uhr fuhren wir sehr animiert zurück und malten uns aus, wie die Familie Soden jetzt zusammensäße und sich über ihr glänzendes Fest freute. – Aber bei aller Gastlichkeit und Liebenswürdigkeit stört mich doch die Lumperei und Schmutzerei. Wasser kostet doch nichts und fünf Frauen sollten ein Haus im Stand halten können, auch ohne große Mittel. Aber es war mir doch amüsant und lehrreich, daß so penible Leute wie Frau Enckevort und einige der Herren all diese Zigeunerei über der Freundlichkeit der Wirte vergessen konnten! Am Montag waren immer medizinisch-hygienische Vorträge für Damen, die wir fleißig besuchten. Leider habe ich das Gefühl, wenig davon profitiert zu haben, da ich stets eins über das andere vergaß. Am Dienstag war der Fastnachtsball beim Oberst, einem Herrn von Viebahn.⁴¹ Dieser Vorgesetzte scheint mir einer der unangenehmsten seiner Gattung, der verschrieene Kommandeur, wie ich ihn nur in der Fiktion vorher kannte, kriechend nach oben, großschnäuzig und hochmütig nach unten, in Manieren ein vollständiger Knote, im Haus ein Tyrann, gegen seine Untergebenen von unerhörter Grobheit – ich habe selten eine solche Aversion gegen jemanden gehabt. Aber er gar nicht für mich! Leider! Ich war in Berlin zu Hof gegangen – das hob mich sofort auf

41 Hermann von Viebahn (1847– 1919), als Oberst 1897– 1901 Kommandeur des 2. Thüringischen Infanterie-Regimentes Nr. 32, stationiert in Meiningen.

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ein Piedestal in seinen Augen. Er machte eine großartige Cotillontour mit mir und unterhielt mich in vielen Pausen zu meinem Leidwesen. Der Ball begann mit zwei mäßigen Theaterstücken, in denen Sigmund Stein trotz Trauer mitspielen mußte. Er wurde dienstlich dazu gezwungen. Ich amüsierte mich viel besser, da ich manche Herren schon öfters gesehen hatte. Das Regiment macht mir einen sehr guten Eindruck, besser als das Weimarer. Die große Gesellschaft war dagegen so unelegant, daß ich starr war. Eine elegante Clique wie in Weimar fehlt gänzlich. Grete ist überhaupt in meinen Augen das einzige Mädchen, das gut aussieht, gut tanzt und sich zu benehmen weiß. Die übrigen ihrer Clique haben geheiratet und die beiden Lenzens Mädchen sind nette aber unbedeutende Mädchen. Grete ist natürlich sehr fêtiert und auf mich stürzten sich auch die Herren mit Macht, das will hier wenig genug heißen! Die erste Liebhaberin vom Theater, ein Frl. Jäger, Braut eines der Officiere, war auch auf diesem Ball. Sie ist ein wunderhübsches, anmutiges Mädchen und in Wesen und Benehmen so vollständig ladylike, wie ich es bei ihrem Beruf kaum verstehen kann. Dabei ist sie passioniert fürs Theater, spielt jetzt ihre Aussteuer als Braut zusammen; aber sie hat verstanden, Beruf und Privatleben vollständig zu trennen. Sie gefiel mir ungemein! Der gute Moritz hatte mir rosa Nelken zum weißen Kleid winden lassen und war sehr stolz, wie hübsch sich das ausnahm! Mittwoch waren wir bei Bodemers, um den Aschermittwoch bei Punsch und Kräpfeln zu feiern. Freitag bei Siegmunds zum Souper, Sonnabend bei den alten Bibras zum Thee. Es ist stets derselbe kleine Jugendkreis, der sich dort in der Butlerschen Clique trifft: Grete, Pussy Beulwitz und die beiden Lenzens, ein Graf Soden, Herr Westhoven, Wangenheim, Buch; zuweilen drängt sich noch ein Leutnant Lehmann herein, der mir recht unfein erscheint. Die anderen vier sind sehr nette, anständige Leute, fast alle vom Land und von guter Familie. Durch das fast tägliche Sehen im kleinen Kreis kommt man bald in ein ganz kameradschaftliches Verhältnis zu ihnen und lernt jeden nach seiner Eigentümlichkeit hin kennen. Zuerst erscheinen mir Leutnants en masse, als Kategorie, so unsagbar uninteressant und überein; besonders, wenn sie dieselbe Uniform tragen, ragt kaum einer aus der Allgemeinheit hervor. Aber im Verkehr sind sie doch eigentlich genau wie andere Herren; es sind ganz wenig Anschauungen und Allüren, die sie alle gemeinsam haben und die die Täuschung hervorrufen. Bei Siegmunds⁴² war es sehr lustig und gelungen; nur der Hausherr war brummig und hatte über alles Mäuse. Er tadelte alles: Die Bedienung, den Blumenschmuck, Misls Kleid; ohne einen vernünftigen Grund dazu zu haben. Aber Misl

42 Siegmund und Marie Freiherr und Freifrau Stein von Nord- und Ostheim.

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ist eine so erbärmliche Hausfrau, daß sich Siegmund um jeden Bettel selbst kümmern muß. Er tut das auch in einer netten, geduldigen Art, hat sich aber dabei das Nörgeln und Schimpfen gründlich angewöhnt. Die drei Kinder: Friedel, Hertha und Jockel, sind wunderhübsche, gutgeartete Kinder, recht gut erzogen, aber nach meinem Geschmack müssen sie zu viel aufspielen. Für jeden Leutnant rezitieren die drei- und vierjährigen Würmer das Lied von der Glocke, machen andere Menschen nach und zeigen sich als Clowns. Noch hat es ihnen nicht geschadet, aber wie rasch geht dabei der Hauptreiz der Kindheit, das Unbewußte, Unbeabsichtigte, davon. Und das finde ich zu jammerschade! Sonntag war wieder Thee bei Lenzens, wobei viel musiziert wurde. Am Abend gingen Pussy und ich ins Theater, um Othello zu sehen. Die Desdemona, ein Gast, ließ zu wünschen übrig; besonders störte es, daß sie als Venezianerin schwarz anstatt rotblond war. Aber Othello und die übrigen spielten einzig. Beim letzten Akt saßen wir ganz entgeistert, ganz gelähmt da, so waren wir von der Tragik, von der Naturwahrheit ergriffen. Einmal soll der Mohr in Meiningen von einem echten Neger gespielt worden sein. Derselbe soll so mit Leidenschaft bei der Sache gewesen sein, daß er in der Schlußszene den Verräter Jago beim Kragen gepackt und zwischen die Musik vom Podium herabgeschleudert habe. – So schlimm war es diesmal nicht, aber es grauste mir doch vor dem Unhold; ich möchte nicht die Desdemona zu spielen haben. Der Oberst saß zwischen uns, ließ sich aber Pussy, obwohl wir vor und hinter ihm wegsprachen, nicht vorstellen. Mit mir war er ausgesucht höflich; sie behandelte er wie Luft. Ich ließ mir das nicht lang gefallen, sondern bat ihn nach dem zweiten Akt um seinen Platz, worauf ich mich ausschließlich mit Pussy unterhielt. Er ärgert mich nach jeder Richtung hin; an den herrlichsten, ergreifendsten Stellen macht er dumme Witze und von den Schauspielerinnen spricht er in einer unangenehm familiären Art. Montag und Dienstag beschäftigten wir uns angelegentlich mit unseren Kostümen zu den lebenden Bildern. Ich war also zu meinem und meiner Angehörigen Entsetzen zu einer Madonna designiert, das letzte wohl, wozu sich meine Physiognomie eignet. Aber der Herzog und die Heldburg befahlen – was war da zu machen? Auch haben sie so viel Erfahrung in dieser Richtung, daß man am besten tut, sich wie eine willenlose Puppe zu gebärden und ihnen die Verantwortung zu überlassen. Das betreffende Bild ist vom Herzog in seiner Jugend gezeichnet worden als Illustration zur Wallfahrt von Kevelaer von Heine. Es ist schön empfunden und ausgeführt. In einer düsteren Kammer liegt der kranke Sohn auf dem Sterbelager, daneben die

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Mutter, leise eingeschlummert, alles im dämmerigen Mondlicht. Am Fußende des Bettes steht die Jungfrau Maria, ohne Kind, mehr einem Genius vergleichbar, und winkt ihn zu sich. Sie steht ganz im Profil in weißem Faltenwurf mit hoher goldener Krone und offenem Haar, den Lilienstängel in der Hand. Alles Licht ist auf diese Gestalt konzentriert. Siegmund, der ja ein besonderes Talent hat, den Menschen etwas zu verekeln, riet mir, abzureisen, weil er das Bild albern und unpassend fände. Was das betrifft, so stehe ich doch lieber neben einem Bett, in dem noch dazu ein Mädchen liegt, als in irgend einem Liebesfrühling, Abschied etc., bei dem man sich mit einem wildfremden Menschen umarmen muß. Außerdem wurden um mein Bild ganz besondere Umstände gemacht; der Herzog hatte schon am Futterkostüm jede Falte selbstbestellt und jede Nadel eigenhändig gesteckt. Das wirkte natürlich weiter, sodaß das gesamte Theaterpersonal mich als etwas ganz Besonderes ansah und mehr Umstände mit mir machte als mit der ganzen übrigen Gesellschaft. Diese Ausnahmestellung ließ ich mir gerne gefallen; denn anstatt wie die anderen gebrauchte Theaterkleider in der Garderobe anprobieren zu müssen, kam zu mir sowohl die Garderobiere als auch der Friseur früh ins Zimmer. Das Kostüm besteht aus 26 m schönstem leichtestem Tuch, das in so geschickte Falten drapiert wurde, daß es groß aber nicht dick machte. Mantel, Rock und Wams, alles schlohweiß; darüber fiel ein Mantel von langem roten Haar, wozu ich aber Verstärkung brauchte. Grete probierte ein rosa Samtkleid an zu einer Empire-Tanzstunde und gefiel mir sehr darin. Es entschied sich in diesen Tagen, daß ich zu Fanny nach Bückeburg gehen solle, wenn meine Zeit in Meiningen abgelaufen sei. Die arme Frau hatte bis jetzt stets jemanden von ihrer Familie um sich und kann sich nicht in den Gedanken finden, ganz allein, nur mit den Kindern zu sein. Sie schrieb mir sehr lieb und ich war keinen Moment im Zweifel, daß ich hinwollte, um ihr beim Umzug zu helfen. Wahrscheinlich halte ich mich einige Tage in Lauchröden auf, um Mutter zu sehen und dampfe dann auf unbestimmte Zeit weiter. Der Gedanke ist grauslich. Am 3ten März sah ich mit wahrer Begeisterung „Die versunkene Glocke“,⁴³ die in Meiningen ganz hervorragend gegeben wird. Die Auffassung über Tendenz und Absicht des Autors muß ja bei solchem Stück ganz individuell sein; manche wollen es mit der Geschichte der modernen Kunst, manche mit einer zweiten Liebe, einem Johannistrieb, erklären; andere glauben, Hauptmann habe sein eigenes Leben darin geschildert. Ich erblicke darin das uralte Menschenschicksal, das titanhafte Ringen der Erdgeborenen mit der Gottheit; die Überhebung, der Fall und die Sühne in der

43 1896 geschriebenes Märchendrama von Gerhart Hauptmann, zu dessen Lebzeiten das meist aufgeführte seiner Stücke.

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alten Reihenfolge, wie es schon beim Sündenfall war. – Gewiß legen die Menschen auch mehr hinein, als der Autor sich überhaupt dabei gedacht hat. Mag denn nun sein, wie dem wolle, jedenfalls ist das Stück voll solcher märchenhaften Schönheit, so viel Poesie und sinnigen Gedanken, daß ich ganz begeistert war. Auch die Aufführung ist reizend zu sehen: Das Rautendelein ist eine der anmutigsten Rollen, die ich kenne, und in den alten Nickelmann war ich ganz verliebt. Freitag waren wir in Marisfeld, wo wir nur Frau von Eichel und Margrethchen Harnier trafen. Das alte Schloß mit seinen dicken Türmen ist überaus wohnlich, die Gegend ganz absonderlich häßlich, wie ein mit allen Wellen und Wirbeln plötzlich erstarrter großer See. Hanna Eichel war für ihre Verhältnisse in herrlicher Laune und sehr gesprächig. Margrethchen bezauberte uns aufs Neue durch ihre Anmut. Sonnabend war Probe im Schloß von vier bis neun Uhr, sodaß wir alle ganz nervös und kribbelig wurden. Es war ein Durcheinander von zum Teil greulichen Wesen. Die Heldburg hatte natürlich ihre besonderen Günstlinge sehr bevorzugt, und darunter sind merkwürdige Leute genug. Die meisten Mädchen und Darstellerinnen hatten das 30te Jahr schon überschritten und sahen als „Lotte“, „Krimhilde“, Dirndln und Tanzstundendamen reichlich antik aus. Die Probe war allerdings noch ohne Kostüm; das sieht ja stets häßlich aus. Die Beleuchtung des Madonnenbilds wollte partout nicht glücken. Wohl zwei Stunden stand ich auf der Bühne, über mir zwei Maschinisten mit elektrischen Apparaten und Scheinwerfern bewaffnet. Bald war kein Mondschein, bald sah ich grasgrün aus. Es war wirklich eine Leistung, daß Frau Heldburg in diesem Wirrwarr die Geduld nicht verlor und gegen Alle liebenswürdig und freundlich blieb. Sie hat eine ganz hervorragende Gewandtheit, einen Takt und eine Schlauheit, die ich bewundern muß. Aber im Grunde ihres Wesens, abgesehen von ihrer Geschichte, ist sie mir unsagbar zuwider. Alles an ihr, selbst ihr geistvolles Wesen macht solch berechneten Eindruck. Auch bei den Proben taxierte sie uns vornehmen Mädchen ganz nach sich, nach Berufsschauspielerinnen, indem sie uns stets mahnte, uns recht in günstiges Licht zu stellen, nach dem Vordergrund zu drängen und so viel als möglich aus unseren Reizen zu machen. Ihr Anhang befolgte auch diese Ermahnungen, während Grete sich ganz in ihr Schneckenhaus zurückzog. Am selben Abend waren Grete und ich zum Souper bei einem ganz jungen Ehepaar von Dobeneck eingeladen; wir zogen uns in rasender Hetze an, patschten mit Schirmen im strömenden Regen hin und kamen zum Dessert an. Es tat uns zu Leid für die junge Frau, die ihre erste Festlichkeit gab, daß wir sie so außer Contenance brachten und den ganzen Abend so schläfrig und langweilig waren.

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Die zweite Probe am Sonntag ging bedeutend besser und rascher vonstatten. Wir waren abends beide im „Friedensdenkmal“, einem ganz neuen Stück, das uns sehr interessierte. Es hatte als Thema das geistige Plagiat, die Schuld an einem Verstorbenen, und ward ganz hervorragend gut gespielt. Montag, den 7ten waren die langbesprochenen lebenden Bilder bei Hof. Es war sehr schade, daß der Herzog, für dessen Erheiterung alles geplant worden, durch Erkältung am Erscheinen verhindert war. Er wollte sich so kurz vor der Silbernen Hochzeit der Ermüdung nicht aussetzen. Ich war die Einzige, ich fürchte Vielbeneidete, die er sich kommen ließ. Als ich um sechs Uhr ins Schloß kam, wurde ich gleich von der netten französischen Garderobiere mit den Worten empfangen: „Monseigneur veut voir sa madone.“ Auf meine Kleidung und Frisur wurde nun die größte Sorgfalt und alle möglichen Schikanen verwandt, denn jeder der Angestellten wollte Ehre einlegen. Ich war nur dankbar, daß sich das Schminken bloß auf die Augen beschränkte; meinen Teint erklärten diese Menschen für „splendide, phénoménal“, was mich bei ihren sonstigen Opfern weiter nicht sehr wundert. Endlich war ich fertig und wurde vor den Spiegel geführt, in dem ich mich kaum erkannte. Da so viel am Kostüm lag, kann ich es getrost sagen: Ich sah wider alles Erwarten wie eine echte Madonna, mit großen, heiligen Augen aus und gefiel mir so gut wie nie zuvor oder nachher. So ging ich denn mit meinem Lilienszepter durch die noch dunklen Gänge und Treppen des Schlosses hinauf. Alle Lakaien prallten vor meiner Lichterscheinung zurück, ebenso der Herzog, mit dem ich auf dem Gang zusammentraf. Es mag für ihn, der mich noch nicht kannte, allerdings recht überraschend gewesen sein. Er nahm mich an der Hand in sein Zimmer, wo wir ein wirklich reizendes, gemütliches tête à tête hatten. Mit einem herrlichen Äußeren – er erinnert an die edelsten deutschen Heldengestalten – verbindet er die zartesten, angenehmsten Formen und die Haltung eines vollendeten alten Kavaliers. Er war ganz entzückt, sein altes Bild getreu im Leben wiederzufinden und konnte sich gar nicht satt sehen an Faltenwurf und Farben. Er strich und zupfte noch etwas am Mantel, bat um Erlaubnis, mein Haar ordnen zu dürfen und ließ mich meine Stellung probieren. Dazwischen murmelte er immer wieder: „Magnifique! Ich bin sehr zufrieden! Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Liebenswürdigkeit, mir diese Freude zu machen!“ – Dann sagte er: „Es ist schade, daß ich nicht katholisch bin – ich würde Sie anbeten!“ – Kurzum, ich kam vor vielen Lobsprüchen mit ganz heißen Backen wieder fort. Aber diese Viertelstunde mit dem liebenswürdigen Fürsten wird mir doch stets eine sehr interessante Erinnerung sein. – Das übrige, minder kunstverständige Publikum war mir danach ziemlich egal. Die Bilder waren aber wider alle Hoffnung sämtlich herrlich gelungen. „Lotte“, Liebesfrühling, Siegfrieds Abschied, die Wallfahrt, Ball auf der Alm, die Tanzstunde unserer Großmütter, das alles wurde im Lauf einer Stunde aufgeführt und klappte sehr exakt. Es war un-

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glaublich, wie gut die Menschen alle aussahen; der Krimhild war die lange, unschöne Nase zu einer tadellosen klassischen fortgeschminkt worden. Glanzloses Haar bekam durch Puder einen herrlichen Goldglanz. Alte wurden jung und Dicke schlank – es ist lächerlich, wieviel Schein doch beim Theaterwesen ist und eigentlich die Hauptrolle spielt. Nach den Tableaux blieb alles im Kostüm. Grete sah ganz reizend aus, elegant und vornehm wie immer. Wir wandelten zusammen umher und ließen uns bewundern. Grete ist allgemein gefeiert, mir machten besonders ein Herr von Buch und ein Herr von Aschhoff die Cour und Onkel Max wollte wissen, daß die Tiroler sich, ganz ihrer Rolle getreu, sehr katholisch benommen hatten. Jedenfalls amüsierte ich mich ganz kostbar. Am Dienstag war ein herrliches Conzert, in dem die beim letzten verunglückte Sängerin Bratanitsch ihre Rhapsodie hinreißend vortrug. Die Stelle der Harzreise, wo der Männerchor einfällt: „Ist auf Deinem Psalter,Vater der Liebe, ein Ton seinem Ohre vernehmlich, so erquicke – erquicke sein Herz!“ ist unbeschreiblich schön. So denke ich mir den Chor der himmlischen Heerscharen! Am Donnerstag sah ich „Cabale und Liebe“ ohne besonderes Wohlgefallen. Am Freitag machten Grete und ich einen wundervollen Spaziergang und freuten uns kindisch über die warme Frühlingssonne, über die ersten Sumpfdotterblumen. Ich vergesse die Sensationen, die man bei der verschiedenen Temperatur im Wechsel der Jahreszeiten hat, stets von einem Jahr aufs andere, sodaß mir jeder Frühling eine neue Offenbarung ist. – Am Abend machten wir mit Moritz einen sehr mäßigen Ball bei einer Frau Lüderitz mit. Grete wollte nur des Amusements wegen hin und das fanden wir auch; aber ich fühlte mich doch deplaciert und nicht behaglich. Mutter und Tochter L. sind sehr mauvais genre, wenn auch ganz ehrbar. Letztere, 17jährig, ist im Begriff, zur Bühne zu gehen und führte eine musikalischmimische Episode urgewöhnlich aber nicht ohne Talent auf. Wir tanzten im Schlafzimmer, saßen so eng beim Souper, daß wir abwechselnd essen mußten und hatten den Eindruck von einer rechten Zigeunerwirtschaft. Die Herren unserer Clique taten nichts wie schandmaulen und lachen – das ist sehr verführerisch, aber kommt mir nicht ganz fair vor. Ich liebe solche Feste nicht. Am Sonnabend waren wir zu den alten Kölichens zum Abendbrot geladen. Wir trafen die Sängerin und verschiedene musikalische Größen, die recht angenehm und unterhaltend im gesellschaftlichen Verkehr waren.

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Am Sonntag war Galavorstellung im Theater als Vorfeier der silbernen Hochzeit, die der Herzog glücklicherweise in der Einsamkeit seiner Villa Carlotta ⁴⁴ feiern will. Alle Schauspieler, die der Meininger Schule ihre Größe und ihre Triumphe verdanken und über die ganze Welt verstreut sind, hatten die hübsche Idee, sich zur Silberhochzeit in Meiningen zu treffen und ihren alten Meistern eine Mustervorstellung des „Kaufmann von Venedig“ zu geben. Es war ein hübscher wohltuender Zug der Dankbarkeit, gerade aus Künstlerkreisen, wo Selbstüberhebung und gänzliche Unabhängigkeit so zu Hause sind. Von allen Enden waren sie erschienen, alte pensionierte Ehepaare mit weißen Haaren, alte Frauen und junge Schauspieler, die in Meiningen geboren, Theaterdirektoren und berühmte Autoren, Frauen, die anderweitig verheiratet und längst die Bühne verlassen hatten. Der Komiker Görner, der eine reiche Partie gemacht und als Rentier lebt, brauchte eine Entfettungskur, schnitt seinen Bart ab und spielte wie der Jüngste. Es war eine Reihe glänzender Namen, die der ellenlange Theaterzettel aufwies. Ich nenne nur: Barthel, Grube, die Lindner, das Ehepaar Prasch, Nesper, Teller, Otto, Arndt, die Havelmann. Barnay und Fitger spielten im Volk, jeder Bettler, jeder Diener wurde von einem ersten Schauspieler gegeben. Wir waren so glücklich trotz des Zudrangs noch alle Plätze zu bekommen und waren sehr gespannt, ob sich jeder der Großen mit seiner Rolle in den Vordergrund stellen oder ob ein wirklich harmonisches Ganzes entstehen würde. Die Kunst siegte glänzend über alle Eitelkeit, und das Stück war bis ins kleinste détail so vollendet, so treu, so unübertrefflich, daß ich mir schwor, nach dieser Vorstellung nie wieder den „Kaufmann“ zu sehen. Das Stück ist sehr geeignet, um vielerlei Rollen zur Geltung zu bringen und bietet durch den Schauplatz Venedig Gelegenheit, mit Dekorationen und Statisten Großes zu leisten. Grube⁴⁵ als Shylock und die Lindner als Portia gefielen mir am besten, aber auch ganz unbedeutende Rollen wie die beiden Prinzen und Gobbo traten plastisch aus dem Dunkel. Der Herzog und die Heldburg unterhielten sich herrlich, klatschten allen Statisten und sonnten sich in alten Erinnerungen. Die Aufzüge und Volksszenen sollen ganz wie bei den alten Meiningern gewesen sein: Jedes Bettelkind, jedes Weib in der Volksmenge trug durch sein Spiel zur Naturwahrheit des Ganzen bei. Im letzten Akt sah man die Villa Carlotta in ihrem herrlichen Garten bei Mondschein, nur des Herzogs Fenster erleuchtet – das Plätschern des Springbrunnens – im Vordergrund ein Liebespaar – wie muß der Herzog mit seinem feinen Kunstverständnis das Alles genossen haben! Nach Schluß der Vorstellung brach ein stürmischer Jubel los. Die Schauspieler faßten sich an den Händen, bildeten eine lange

44 Sommerresidenz der Meininger Herzöge am Comer See. 45 Max Grube (1854 – 1934), erster Charakterdarsteller am Meininger Theater unter der Regie von Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen.

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Kette und tanzten wie die Kinder auf der Bühne herum. Die Lindner hing sich einen großen Lorbeerkranz um, ergriff die tête und alles verneigte sich unter nicht endenwollendem Jubel. Ich kann mich gar nicht genug freuen, diesen Abend miterlebt zu haben! Den nächsten Tag erfolgte die Abreise des Silberpaares, wozu wir mit allen officiellen Menschen zur Bahn gingen. Sie waren beide sehr guter Laune, die Heldburg sagte mir, daß mir der Herzog ein großes Madonnenbild mit seiner Unterschrift schenken wolle, was mich besonders freute, da ich nicht darum gebeten, trotz des Rats der übrigen Mädchen. Ich entschied mich definitiv, am Donnerstag zu reisen, da ich ein kleines Kostümfest, welches Aschhoff und Buch noch während meines Besuchs arrangieren wollten, nicht versäumen wollte. Dasselbe war am Mittwoch, Mittfasten, in dem Civilkasino und sollte, um rege Beteiligung zu veranlassen, nur 2 M pro Person kosten. Dieses einfache, improvisierte Gepräge gab dem kleinen Fest seinen netten Charakter. Es gab nur Brötchen, Salat, Bier und Selterswasser, aber es war auf den Einladungen ausdrücklich vermerkt, daß man vorher zu Hause essen solle. Auch die Kostüme waren sehr einfach. Tante Maria erschien in einem hellen Sommerkleid mit Reisehut und Schirm, Onkel Max mit Fez und schwarzem Zwicker; ein dicker Major hatte sich mittels Civils, Botanisiertrommel und weißem Schleier um den Hut zum Afrikareisenden gestempelt, viele prangten in schwarzen Spitzen und Granatblüten als angebliche Spanierinnen. Sehr originell war nur eine Schule mit Ränzeln und Matrosenmützen und großen Schürzen, geführt von einer himmellangen Gouvernante. Sie entpuppten sich als die Regimentsdamen, von einem Hauptmann geführt. Den Vogel schoß Grete ab in einem herzigen rosa Hängerkleidchen und Hut, als Baby frisiert, mit einer ebensolchen Puppe im Arm. Ich hatte mir mit Misls Hilfe ein schwarz-weißes Pierettenkostüm zurechtgemacht, was gut zu mir paßte. Ich machte lange Nasen, streckte die Zunge raus und benahm mich meiner Rolle angemessen. Grete und ich waren wohl die einzigen Damen, die auf den Scherz eines solchen Balles eingingen. Die Deutschen sind wenig zu solchen Witzen geeignet, bis auf die Rheinländer. Es ist, als ob sie sich förmlich ihrer Verkleidung schämten und vor einander Angst hätten. Dies war ja eine ganz kleine geschlossene Gesellschaft, die sich genau kannte, aber bis auf unseren kleinen Kreis blieb alles steif. Eine drollige Idee von Misl muß ich erzählen. Sie hatte Herrn von Buch genau mein Kostüm angeraten, sodaß wir bis auf die kleinste Kleinigkeit überein waren. Ich glaube, ihm war es peinlich, mir war es ganz egal. Am nächsten Morgen reiste ich nach den langen, inhaltsreichen Wochen ab. Auf dem Bahnhof fand ein großartiger Abschied statt, der mich ordentlich verlegen machte. Liese Lenz, Heinrich Bodemer, Herr von Buch und von Aschhoff erschienen

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mit großen Sträußen, Misl mit einem Dutzend Brezeln an einer Schnur, Alla, leider erst nach Abgang des Zuges, mit Schokolade. Ich kam mir wie eine Primadonna vor. Minder festlich war die Ankunft in Hörschel im strömenden Regen, wo ich nicht wußte, wie ich Handgepäck, Brezeln, Blumen, Plaid, Schirm und Kleid tragen sollte; und namentlich, wie ich es im zweisitzigen Wagen, in dem schon Mag und eine Frau Kirchenrat saßen, verstauen sollte. In Lauchröden traf ich Mutter, leider recht mager und nervös aussehend; am Sonnabend kam Vater mit Burkhart, der, vom Mündlichen dispensiert, ein strahlender Mulus war. Ich war einmal mit ihm in Eisenach und freute mich über seinen Mangel an Blasiertheit. Er bewunderte jedes Schaufenster mit Wartburgandenken und bat mich, nicht so schnell daran vorbeizugehen. Am Mittwoch, den 23ten fuhren Mutter und ich nach Kassel, wo wir einen gemütlichen Regentag bei Tante Anna verlebten. Am Freitag gab es einen etwas schweren Abschied, als ich für ca. sechs Wochen nach Bückeburg weiterfuhr. Aber nach so viel Vergnügungen und Müßiggang sehnte ich mich auch wieder nach einer Tätigkeit und die hoffte ich reichlich zu finden. Am 25ten März kam ich nach einer ganz abscheulichen Reise bei Regenwetter in Bückeburg an; das Wiedersehen mit Fanny⁴⁶ war natürlich sehr wehmütig; mich frappierte besonders ihr junges, frisches Aussehen, das zu ihrer inneren Verfassung in keinem Einklang steht. Die Kinder fielen wie eine Rotte Korah⁴⁷ über mich her; sie machten mir zuerst keinen sehr angenehmen Eindruck, besonders die großen, aber mit der Zeit kam ich zu jedem einzelnen in ein specielles persönliches Verhältnis und lernte jedes Einzelnen Vorzüge und Fehler, als ob ich ihre Erzieherin gewesen wäre. Luise, das Stiefkind, ist trotz eines goldenen Herzens und eines aufrichtigen Charakters sehr schwer zu behandeln – heftig bis zur Sinnlosigkeit, lärmend und rücksichtslos – mit ihren 15 Jahren das reine Kind. Rudi ist Fannys erklärter Liebling weil seinem Vater sehr ähnlich – brav aber recht grob, was Martin ja gar nicht war. Ich zog das ungezogene, lebhafte, zappelige Hänschen bei weitem vor; wenn er auch stets etwas Dummes vorhatte, ein ganz miserabler Schüler und Leichtfuß war, so machte er das mit seiner zärtlichen, liebenswürdigen Art, seiner natürlichen, kindlichen Fröhlichkeit stets wieder gut. Es war meine größte Freude, ihm eine Geschichte zu erzählen oder ihm etwas zu schenken. Annegretelchen, das Musterkind, in ihrer leisen, weiblichen Art war mir auch sehr lieb, während mich die fünfjährige Ursula durch ihre Ungezogenheit oft in Ver46 Fanny war die junge Witwe des Martin von Wegnern (1855 – 1897), zuletzt schaumburg-lippischer Wirklicher Geheimer Rat und Staatsminister. Nachdem seine erste Frau Luise Rieß von Scheuernschloß 1883 verstorben war, heiratete er 1885 Fanny Freiin von Stein von Nord- und Ostheim, eine Cousine ersten Grades von Hildegard. 47 Zügellose Horde, nach 4. Mose (Numeri) 16: 1 – 3.

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zweiflung brachte. Es ist doch wahrhaft deprimierend, wenn ein vernünftiger, erwachsener Mensch solch kleinen Kerl nicht zum Gehorchen bringen kann. Nur die alte Mademoiselle konnte etwas mit ihr ausrichten und nach deren Abgang setzte es fast jeden Tag Scenen über Scenen, dabei ist sie so klug und manierlich im Betragen, daß man sie stets für älter hält als sie ist. Ein ganz merkwürdiges kleines Persönchen! Mein Liebling war natürlich mein Patenkind – Hildegard, ein goldiges Wurm mit dunklen Augen und goldigen Löckchen, der Sonnenschein fürs ganze Haus. Sie war sehr weit für ihr Alter, kauderwelschte allerliebst und war voll der drolligsten Einfälle. Es ist zu hübsch, die geistige Entwicklung eines solchen kleinen Wesens zu verfolgen, zu sehen, wie jeden Tag fast ein neues Wort, eine neue Folgerung in dem kleinen Gehirn entsteht, wie das Bewußtsein für Dinge um sie her auftaucht, die bisher nicht für sie existierten. Ich wurde nie müde, sie um mich zu haben, auch wenn mir die anderen Kinder auf die Nerven fielen. Das Haus, welches der Fürst genau nach Fannys Angaben hatte bauen lassen, ist eine ganz hervorragend behagliche, geräumige Villa, die Zimmer groß und hell, ein kleiner Wintergarten am Salon, ein herrlicher Korridor mit weitem Treppenhaus – oben herrliche Kinderstuben – alles Zubehör: Keller, Küche, Plättzimmer, Badestube etc. mit modernem Komfort ohne Raffinement. Martin hatte einen sehr guten Geschmack und hat viel Geld – ich fürchte zu viel – auf den Schmuck des Lebens verwandt. Überall waren die herrlichsten alten geschnitzten Schränke und Truhen, schöne Porzellane und Stoffe, die er auf seinen vielen Dienstreisen gesammelt. Als Minister spielte er die erste Rolle in der kleinen Residenz, der Hof schätzte und verwöhnte ihn auf alle Art und die ganze Gesellschaft folgte nach. So waren Wegnerns wohl das erste Haus, hatten einen hübschen Train, sahen viele Menschen und machten sich Freunde und Feinde, wie das stets die Folge einer glücklichen Karriere ist. Und das muß nun mit einem Schlag alles aufhören: die Leute wurden zum größten Teil entlassen, alte Schränke, Bücher etc. wurden verkauft, die schönen Sachen zum großen Teil in Kisten gepackt und nach Wehrda auf den Speicher gestellt, der ganze Haushalt auf einen bescheidenen kleinen Stadtmaßstab reduziert. Wie leicht findet man sich in größere Verhältnisse und unsagbar schwer in verminderte. Man sagt wohl, daß bei einem wirklich großen, tiefen Schmerz die kleinen Nadelstiche verschwänden und unbedeutend würden. Das halte ich für grundverkehrt! Denn jeder kleinste Unterschied vom früheren Leben muß den großen Wechsel ja stets lebendig und wach erhalten; ich glaube, daß gerade ein wundes Herz doppelt fein empfindet, sowohl die kleinen Stiche als die kleinen Freuden. Unempfindlich macht uns nur das Glück. Fanny ist eine sehr starke Natur und weiß sich mutig und besonnen in ihrer schwersten Lage zu behaupten. Von einer hilflosen Witwe kann bei ihr nicht die Rede sein. Dafür hat sie Martin zu selbständig gemacht, hat sie schalten und walten lassen in Haus und Kinderstube und ihr in allen Fragen Rat und Stimme gestattet. Das trägt jetzt seine Frucht.

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Untertags hat sie ja – Gott sei Dank – so viel zu tun, daß sie ihre Einsamkeit nicht beständig empfinden kann, aber die langen Abende denke ich mir trostlos. Da kam auch alles – was sie litt und dachte – zum Vorschein und diese Stunden waren ihr trotz ihres Schmerzes der größte Trost. Ich ward mir da ganz bewußt, wie wenig doch einem Menschen mit tröstlichen Reden und guten Gründen genützt werden kann. Man lasse sie nur alles sagen und klagen, was sie auf dem Herzen haben und lasse sie nur fühlen, daß man sie versteht – das ist das Einzige nach meiner Ansicht. Fanny wurde nicht müde, mir aus der Vergangenheit, von der Hochzeit bis zum letzten Augenblick zu erzählen und gab mir das Bild einer so idealen Ehe, wie sie selten in dieser Welt vorkommen mag. In den langen zwölf Jahren kann sie sich keines Schattens, keines noch so leisen Mißverstehens erinnern – alles war Liebe und großes Vertrauen. Es ist, als ob er seinen Tod, der ganz unerwartet kam, geahnt hätte: Denn gerade in der letzten Zeit bis zum letzten Atemzug hat er ihr besonders liebe, innige, dankbare Worte gesagt. Wie viel hat sie vor anderen Tausenden voraus, die nur auf Bitterkeit und Enttäuschung zurückblicken, die überhaupt niemals solches Glück gekostet! Ich denke es mir viel herrlicher, ein kurzes, reines, hohes Glück zu genießen, zähle es auch nur nach Tagen, als nur den Schatten eines solchen durchs Leben zu ziehen. Bis zu Ostern lebten wir verhältnismäßig unthätig, da noch mehr Leute im Haus waren und wir das Haus nicht frühzeitig ungemütlich machen wollten. Bücher wurden gepackt, Kleider und Wäsche sortiert, die Sommergarderobe der Kinder in Ordnung gebracht und viel gerechnet und bestellt: Fanny stellt alle Hilfen, die sie irgend zur Verfügung hat, gründlich an; sie ist selbst sehr thätig, aber, wie sie selbst mit Offenheit eingesteht, nur, wenn sie keinen anderen Menschen hat, der sie vertreten kann. Ich liebe das so viel mehr, als wenn man bei Leuten zu Gast ist, die sich partout nicht helfen lassen oder nichts aus der Hand geben wollen. Hier hieß es einfach: Ach bitte, die Mädchen müssen plätten – mache Du den Frühstückskuchen – und vielleicht die süße Speise zum Sonntag; eigentlich könntest Du dabei gleich die Eier färben – das macht Dir gewiß Spaß! – Bist Du fertig? Ach sei so gut und garniere die Hüte von den beiden Kleinen – sie brauchen sie morgen und wenn Du fertig bist, kannst Du mir einen oder zwei Briefe schreiben? etc.etc. So ging es manchen Tag, daß ich abends meine Füße nicht mehr fühlte. Dazwischen machten wir erfrischende Gänge in den nah gelegenen Buchenwald und durch das ländliche Städtchen. Bückeburg macht einen dorfähnlichen Eindruck: ein kleines Nest mit niederen Häusern, schlechtem Pflaster, rührenden Läden und fast keinem Verkehr. Die vielen geschnittenen und wilden Heckenwege, die Obstbäume und Gärten, die alten behaglichen westfälischen Bauernhäuser mit ihren großen Toren und hohen Dächern, die ländliche, noch bäuerliche Tracht tragende Bevölkerung geben dem Ort einen anheimelnden, freundlichen Charakter. Daneben führt der elegante Hof, der reichste in Deutschland, sein Leben im großen,

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vornehmen Stil. Schloß und die palastähnliche Villa der Fürstin-Mutter nehmen sich samt den wenigen Beamtenwohnungen aus, wie Herrenhaus und Gutshof in einem märkischen Dorf. Auf dem einen Promenaden- sogenannten Herminenweg lustwandelt bei jedem Wetter Alt und Jung – Vornehm und Gering: Die Fürstin mit Hofdame in neuester Pariser Toilette, die Bauersfrauen mit den weiten Röcken und närrischen Hauben, die kleine Hofgesellschaft in mehr oder minder gespannter Erwartung auf eine Allergnädigste Ansprache, die fünf Prinzen mit Adjutanten und Bonnen, die wenigen Jäger-Offiziere, die alte Fürstin mit einer kleinen Enkelin Reuß, Kindermädchen und vor allem der halbnärrische Bruder des Fürsten, Prinz Hermann, auf einem mächtigen Dreirad, mit dem er zur Fütterung in seinen großartigen Hühnerhof fährt. Das Frontmachen und Knien auf dem engen Trottoir, die Beißereien der fürstlichen mit den übrigen Kötern führen zu den drolligsten Auftritten und man kann sich denken, wie lächerlich mir zu Mut war, wenn ich mit den Kindern vom Spaziergang heimkam, die Kleinen bei den schlüpfrigen Wegen oft in deplorablem Zustand, Hans-Henning mit aufgestriffeltem Ärmel in die Beobachtung von sechs Schnecken auf seinem bloßen Arm versunken, die Mütze im Genick – und dann von weitem die Fürstin erblickte. Sie ist sehr liebenswürdig, redete uns meist an, wobei sie nicht immer Glück hatte. Hans-Henning erwiderte z. B. auf ihre Frage: „Das mögt Ihr wohl gern, wenn ich Euch auf der Straße anrede?“ mit dem größten Aplomb: „Ach nein, da kriegen wir immer kalte Füße!“ Von der kleinen Gesellschaft, die mir eng und klatschsüchtig à outrance ⁴⁸ erscheint, lernte ich nur eine Familie Götz, zwei Frl. von Schele, zwei alte freundliche Jungfern, und näher die Familien Alten und Ditfurth kennen. Ernst Alten, Kammerherr und Hofmarschall der alten Fürstin, ist ein Stiefvetter meines Vaters, macht aber wie die ganze, früher sehr welfische Familie, wenig Gebrauch davon. Mit Wegnerns waren diese Bückeburger Altens sehr intim geworden und standen Fanny sehr treulich zur Seite. Gegen mich waren sie wieder unglaublich steif am Anfang – von Du-Anbieten, nach den Eltern und Geschwistern fragen keine Rede, sodaß ich wirklich glaubte, Mutter und Tochter könnten mich nicht ausstehen. Er ist zu sehr Courmacher, um gegen ein junges Mädchen anders als liebenswürdig zu sein. Aber das ist nun einmal die hannöversche Art, zurückhaltend und steif, viel schwieriger zum Verkehr als die süddeutsche. Nachdem ich öfters im Altenschen Haus war, merkte ich doch die treue Gesinnung und beim Abschied merkte ich an ihrer Zärtlichkeit, Fürsorge und Wärme, daß sie mich liebgewonnen. Sie küßte mich wiederholt und sagte in ihrer ruhigen Art: Wir wissen jetzt, daß wir zueinander gehören!

48 Übersetzt: „bis zum Äußersten“.

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Dithfurths sind ein sehr angenehmes junges Ehepaar in der Nähe der Stadt; er Landrat des preußischen Kreises Rinteln, sie eine Keudell aus Hessen. Wir verlebten einmal einen netten Tag draußen bei ihnen. Die Karwoche kam heran und in ihr vermehrten sich die Besuche des Grabs, für mich das Schwerste meines Aufenthalts. Mir sagen Gräber so wenig: die lieben Erinnerungen an den Verstorbenen kommen mir in seinem Zimmer, an seinem Schreibtisch, gegenüber von einem guten Bild – aber nicht im Kirchhof, auf dem ich nur seine Überreste, nicht ihn selbst weiß und wo ich nie frei bin vom Gefühl der Öffentlichkeit, des Beobachtetseins. Es gibt Kirchhöfe, die durch schöne Lage, alte Bäume, reichen Blumenflor freundliche Gedanken erwecken wie z. B. der Mentoner; dieser hier war das Trostloseste, was man sich vorstellen kann. In einer flachen reizlosen Gegend weit hinter der Vorstadt ein eben angelegter Friedhof ohne Baum und Strauch, ja ohne Gras, darin vielleicht zehn Gräber mit Eisenstaket umgeben, mit verwelkten Kränzen bedeckt – recht ein Ort, von dem man sagen würde: Hier möchte ich nicht begraben liegen! Da standen dann die fünf Kinder um das frische Grab und beteten ein Vaterunser und fielen Fanny weinend um den Hals – wir waren meist ganz zerschlagen, wenn wir den weiten Weg zurückgingen. Am schwersten war der Karfreitag, an dem wir beim Frühgottesdienst waren, dann einen jammervollen Besuch des Grabs, am Nachmittag ein dreistündiges, sehr ergreifendes Abendmahl feierten. Fanny mußte sich sofort danach ins Bett legen und ich war auch mehr tot als lebendig. Oft habe ich Fanny von diesen Gängen abgeredet, aber obwohl es ihr kein persönliches Bedürfnis ist, fühlt sie die Pflicht, die Kinder an die Pflege des Grabs zu erinnern und ihre Trauer noch zu erhalten. Gleich nach Ostern begann der Umzug: die Kinder waren bei Bekannten untergebracht, wir wohnten bei Altens. Zum Unglück sagte im letzten Moment die neue Kindergärtnerin ab und das Kindermädchen mußte mit Influenza ins Krankenhaus gebracht werden. Dagegen hatten wir treue Hilfe von einem alten Junggesellen, Herrn von Campe, Rat im Ministerium und dem Ministerialboten, einem famos tüchtigen Mann. Das waren Zinsen von Martins großer Freundlichkeit. Einen Tag lang packten wir von früh bis spät: Flaschen, Porzellan, Nippes, Kleider, Wäsche, Glas und Bücher. Dann, zwei Tage lang von früh um sechs bis abends um neun, ergoß sich der Strom der Umzugsleute von einem Bückeburger Spediteur über uns. Ich kann die Einzelheiten nicht alle aufführen: der Totaleindruck war, daß eine Vandalenhorde schlimmster Art über uns arme Weiber hereingebrochen war, ohne Direktion oder sachgemäßen Plan alles Hab und Gut an sich riß, unter Stoßen und Schimpfen in die neue Wohnung schleppte und nur so wüstete mit den guten Sachen. Jede Ecke, jeder Vorsprung wurde mit tödlicher Sicherheit im Vorbeiweg mitgenommen. Am ersten Tag, unter Campes Schutz war’s noch leidlich, aber als am Ende des zweiten Tages sämtliche Leute angetrunken und ganz tölpelhaft waren, als der Packer, unsere einzige Stütze im Moment, als er eine Matratze heraustrug, von

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einem Schutzmann wegen schmutziger Geschichten verhaftet und abgeführt wurde, da sanken uns Fanny und ich fast weinend in die Arme. Eine Annehmlichkeit war auch, daß die bestellten Handwerker nicht rechtzeitig anrückten, und ich, wenn ich als erste um sechs Uhr in die neue Wohnung kam, erst in der fremden Stadt die Handwerker zusammenholen mußte. Am dritten Tag um Mitternacht war das Schlimmste überwunden und wir schliefen wie die Dächse trotz Kleister- und Ölfarbengeruch. Nachdem wir in den nächsten Tagen noch Keller, Boden, Küche etc. in Ordnung und ins neue Geleise gebracht, hatte ich ursprünglich den Plan, nach Haus zu reisen. Aber ich fühlte, das Schwerste, das Eingewöhnen in die kleinen Verhältnisse, stand noch bevor; es wäre gewissenlos gewesen, gerade jetzt zu gehen. Die Wohnung war für städtische Verhältnisse nicht übel, ganz behaglich und anständig, aber Fanny und ich, gewöhnt, allein in einem Haus zu wohnen, litten doch recht unter ungekannten Miseren: der Porzellanschrank stand im winzigen Badezimmer, im Gang mußte geplättet werden, die Kinder mußten im Eßzimmer spielen und im Wohnzimmer lernen, sodaß man sie bei schlechtem Wetter nie los wurde. Ich halte mich für sehr kinderlieb, aber es gab Tage, wo ich mich in mein Zimmer, das glücklicherweise im oberen Stock isoliert lag, flüchtete und mich mit Todesgedanken aufs Sofa warf. Die schrillen Stimmen, die große Unverträglichkeit und die engen Stuben trugen die Hauptschuld daran, aber auch Engel von Kindern hielte man, immerfort um sich zu haben, schwer aus. Ich konnte so gut verstehen, daß die junge Kindergärtnerin manchmal nervös und etwas gereizt war, wenn sie auch im Allgemeinen ein bewundernswertes Phlegma besaß. Ehe man das nicht selbst durchgemacht, diese ewige Unruhe, diese Fragen und Wünsche, diese Freuden und Leiden, ist man leicht ungerecht gegen solche Wesen. Ich steckte den ganzen Tag dazwischen: bald hütete ich die Kleinen, bald unterhielt ich die rötelkranken Buben, bald paukte ich Vokabeln und Rechenexempel, bald arbeitete ich an den Gartenbeeten, oft machte ich die Spaziergänge mit den Großen, spielte vierhändig mit Luise, Ball mit Hans etc. etc. Trotz der angreifenden Tätigkeit denke ich mit Freuden daran zurück: die Freude, Dankbarkeit und Liebe erwirbt sich in so viel reicherem Maße als im Verkehr mit Erwachsenen. Aber große Sympathie empfand ich nur für Hans und meine kleine Hildegard. – Die Kinder kamen ganz leicht und gedankenlos über den Wechsel des Umzugs hinweg; Luise sagte mir, sie freue sich riesig über die Abwechslung; – das erleichterte uns die Sache, aber ward Fanny doch auch schwer, weil es ihr bewies, wie wenig die großen Kinder mitempfanden und mittragen halfen. Ich weiß gewiß, daß wir in dem Alter viel reifer waren! Fanny war viel deprimierter und trauriger in ihrer Stimmung als vor dem Umzug, die natürliche Reaktion nach der enormen Arbeit. Die Kündigung der unverschämten Köchin, der Einzug der Nachfolger Feilitzsch führte gleich einen Zusammenbruch herbei und es gab viel zu helfen und zu beruhigen. Ich nahm ihr alles ab, was sie wollte, selbst wenn mir Zumutungen, wie z. B. Rudi 2 Backenzähne

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ausziehen zu lassen und den Fleischer auszuschimpfen, recht merkwürdig vorkamen! Der Frühling war herrlich in diesem Jahr und veränderte die flache Landschaft viel mehr, als es bei uns in den Bergen der Fall ist. Das ganze Ländchen glich einem Garten und der Buchenwald, den wir öfters mit Altens und Scheeles durchfuhren, glich einem zauberhaften grünen Dom, auf dem die Sonnenstrahlen goldene Lichteffekte malten. Von verschiedenen Partieen nach Eilsen, der Arensburg und der Porta machte mir besonders die letztgenannte einen sehr gelungenen Eindruck. Die Gegend kann zwar einem Thüringer Auge nicht imponieren, aber das Denkmal ist sehr großartig und die ganze Färbung und Stimmung war frühjährlich: der Boden dampfte in der Sonne, es roch nach Waldmeister und feuchter Erde, der Kuckuck rief unermüdlich und nach dem ernsten, trüben Leben fühlte ich mit heißem Dank, wie schön die Welt und wie jung ich noch war! – Gleichzeitig begann eine große Sehnsucht nach der Heimat, die sich bis zum Abschied steigerte. Derselbe ward mir nur von Fanny schwer – nichts vereint ja mehr die Herzen als gemeinsam erlebte schwere Zeiten. Mein Patenkind warf sich laut schluchzend auf den Boden, als ich ihr Adieu sagte. Wenn ich das süße kleine Ding wiedersehe, wird das netteste Alter wohl vorbeisein! Am 16ten reiste ich nach Naumburg, wo Dalwigks soeben ins Landratsamt, eine schöne, alte, geräumige Domkurie⁴⁹ gezogen und erwartete bei ihnen meine übrige Familie, die zu Rudis Konfirmation von allen Seiten herbeiströmte. Das Wiedersehen war herrlich und so fröhlich und sonnig waren sie alle, daß ich dasselbe Gefühl hatte wie als kleines Kind, wenn wir aus dem dunklen Zimmer in die Helle des Christbaums traten. Nach der sehr schönen Feier und einem Regentag in Roßleben verlebten wir noch einen gemütlichen bei Breitenbauchs in Bucha und kehrten dann heim. Man kehrt nie heim wie man auszog: das Leben ist so mannigfaltig, daß es immer wieder neue Gedanken in uns erweckt, neue Seiten unseres Seins hervorruft und ausbildet! Der Sommer brachte bald viel lieben und verschiedenartigen Besuch: Mangelsdörfchen⁵⁰ kehrte zuerst ein auf der Rückreise von Wiesbaden; sie war zappelig, devot und hilfsbereit wie immer, und es erweckt eigentümliche Gefühle, sich von jemandem bewundert und vergöttert zu hören, von dem man an die heftigsten Scheltworte und eine nur allzu deutliche Sprache gewöhnt war. Zu Pfingsten waren Hanna, Günther Jagow und Tante Anna Hofacker hier; letztere auf der Rückreise von Schlawe, wo sie Evas Heim eingerichtet, in einer so schrecklichen Stimmung, daß alles vor ihr zitterte. Die Oleg-Episode hat ihre Nerven sehr mitgenommen und

49 Ehemalige Wohnung eines Domherrn. 50 Fräulein Mangelsdorf, die Erzieherin von Hildegard und ihren Geschwistern.

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Ruhe in ihrer Einsamkeit wird ihr sehr gut tun.Von den übrigen Gästen will ich nur Beulwitzens, Dalwigks, Johanna Stein, Hennings, Adelmanns, Heinrich Künßberg und Anni Imhoff nennen. Letztere war wochenlang hier, bei Vater und Brüdern ein gern gesehener Gast, voll Liebenswürdigkeit und Lustigkeit, für alles aufgelegt und stets hilfreich und bei alledem ein Mensch, mit dem ich nie intim werden kann, mit dem ich nie unter die Oberfläche komme, weil ich kein Vertrauen zu ihr fassen kann. Das ist mit Grete Butler ganz anders; als ich an der Silberhochzeit in Dietlas war, kamen wir uns in wenigen Stunden näher, als ich mit Anni in einer Lebenszeit sein würde. Grete und ich wohnten zusammen und hatten sehr ernste, ergiebige Gespräche, wenn alle übrigen Mädchen um uns her längst in tiefem Schlaf lagen. Das Fest war nicht so hübsch wie es hätte sein können, da es wie mit Scheffeln goß. Im Übrigen war der zweite Teil des Sommers aber geradezu ideal und wurde auch wie noch nie von uns ausgenützt. Unsere stille Gegend war kaum wiederzuerkennen, so viel gab es an netter, sommerlicher Geselligkeit. Bald hatten wir Besuch von Mohls, Gabelentzens, Heydens, bald fuhren wir aus oder machten gemeinsame Landpartien nach Orlamünde, Fröhliche Wiederkunft,⁵¹ Böhna, Eyba und Ziegenrück. Anregend war der Verkehr mit den neuen Nachbarn Derenthal, die sich auf der Weißenburg ein wunderschönes Heim geschaffen und sehr liebenswürdige Menschen zu sein scheinen. Das große Ereignis der Gegend war der Besuch des Großherzogs, der Ende Juli seine überseeischen Staaten⁵² bereiste. Der alte Herr leistete Unglaubliches. Nachdem er an einem Tag bei Wurmbs um 12 Uhr gefrühstückt, beim Herzog von Ujest um ein Uhr gespeist, trank er bei uns den Thee und war von der größten Frische und Liebenswürdigkeit, reiste um fünf Uhr ab, fuhr noch von Weimar nach Ettersburg, wo er bei der Erbgroßherzogin dinierte. Nur mit Mühe hatte man ihm ausgeredet, auch bei uns noch ein Diner einzunehmen. Der Besuch war kurz, aber recht animiert und gelungen, der alte Herr aß und trank von allem, während seine Suite schaudernd alle Eßwaren zurückwies. Es gehört eben auch eine Schule dazu, ein Fürst zu sein. Sabine war lange in Lauchröden, sodaß ich mit Haushalt, Obst- und Blumenpflücken reichlich beschäftigt war. Sonst stand unser Haus ganz im Zeichen des „Bien“, da Mutter sich ein Haus gebaut und unter Herrn Pfütschs Leitung zu einer begeisterten Imkerin ausbildete. Schwärme und Honig gab es zwar noch nicht, dafür aber Stiche, für die aber nicht etwa der gestochene Mensch, sondern die sterbende Biene bemitleidet wurde. Ein schrecklicher Sport war eine Schneckenzucht, von Jörge mit großem Leichtsinn begründet, von uns bis auf 1360 Stück vermehrt, im Lauf des Sommers eine Last, unter der wir alle stöhnten. Das ewige

51 Jagdschloß in Wolfersdorf in Thüringen. 52 Gemeint sind die Exklaven des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach.

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Füttern, Gießen und Ausmisten war eine so große Arbeit, daß der Erlös von 6 M. dazu in keinem Verhältnis stand. Nur das Beobachten der merkwürdigen Tiere war äußerst interessant. Am ersten September reisten Mutter und ich nach Tutzing, um uns auf vier Wochen den süddeutschen Verwandten zu widmen und dieser Monat war so wechselvoll und so viel ereignisreicher als wir ahnten, daß wir sehr dankbar und beglückt am 1.10. heimkehrten. Tutzing ist mir einer der sympathischsten Orte, die ich kenne, was Natur und Verkehr anbelangt. Die herrliche Bergkette im Hintergrund, die zu den mannigfaltigsten Touren verlockt und doch nicht beengend nah erscheint, der See in seinen wechselnden Beleuchtungen, seinem idealen Sport, das vollständig ländliche Leben ohne Zwang und die große Nähe Münchens – alles vereinigt sich, um den Aufenthalt dort so angenehm als möglich zu machen. Tante Annas⁵³ Heim – denn das ist es ihr sowie den Ihren überraschend rasch geworden – besteht aus zwei Bauernhäusern in einem großen, wild angelegten Gartengrundstück, auf der Höhe gelegen, mit einer grandiosen Aussicht über See und Berge. Mit Matten, Bambus, Blumen, viel Licht und Luft ist ein entzückendes Sommerhaus geschaffen, das bei dem Sommerwetter sich besonders vorteilhaft zeigte. Im Winter, von Stürmen umtost, denke ich mir Tantens Einsiedlerleben minder heimlich. Im zweiten Haus wohnen Eberhards und die Gäste sehr behaglich. Ein kleiner, netter Salon, in dem wir ungestört lesen und schwätzen konnten, war uns sehr willkommen. Oft nach dem offiziellen Zubettgehen haben Aja, ich und Lothar die tiefsten Gespräche da geführt. Die Spitzembergs und Aja waren die ganze Zeit zusammen da; dazu kamen meist noch Sara und ihre Buben, die dicht am See eine sehr elegante Villa in einem prachtvoll gehaltenen Garten innehatten. Der Verkehr zwischen beiden Villen war recht eifrig und lustig. Den Vormittag faulenzten wir im Garten, mit den reizenden Kindern spielend, dann folgte meist ein prachtvolles Bad (in corpore) im See, ein mir ganz neuer Spaß; Spaziergang in die Berge oder eine Rundfahrt auf dem See, dann zum Schluß anregende Gespräche oder Spiele mit den Prittwitz-Buben. Man sollte meinen, daß dies Leben schon an und für sich genußreich war. Aber noch nicht genug, daß die gute Tante mir ein Billet bis München geschenkt, spendierte sie mir noch eine 10 tägige Bergtour mit Lothar und Hanna. Man wird sich unseren Jubel denken können. Lothar verwandte seine ersten Ersparnisse, um sich und seiner Schwester einen Spaß zu machen und ich war Tantes Gast mit unbeschränkten Mitteln.

53 Die verwitwete Anna Hofacker, verwitwete Freifrau Schott von Schottenstein, geb. Freiin von Varnbüler von und zu Hemmingen, war eine Schwester von Hildegards Mutter.

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Am Sonntag machten wir en famille einen Ausflug auf den Hohenpeißenberg; nach langem, glühend heißen Aufstieg erreichten wir den Gipfel dieses sogenannten „bairischen Rigi“, um – auch nicht das Geringste zu sehen, da die Aussicht ganz von Nebeln verhüllt war. Am nächsten Tag waren wir in München im Glaspalast und in der Secession und waren sehr befriedigt. Die Secession, die durch die Krisis des Verblüffenden in verständlichere Bahnen gelenkt erscheint, bot eine Fülle guter Sachen, feine Stimmungen, wunderbar lebensvolle Bilder, interessante Portraits. Im Glaspalast sahen wir Lenbach und Kaulbach, das war mehr als genug. Von Letzterem war ein Bild der Großherzogin von Hessen da, das Schönste, was ich je an Portrait gesehen. Zurückgekehrt, aß ich noch einmal allein bei Sara. Sie ist nach ihrer Konvertierung milder und liebenswürdiger geworden und läßt wenig von ihrem Katholicismus merken. Auffallend war mir nur ihr gänzlicher Wechsel in Bezug auf ihre Toilette. Die elegante Sara, die uns stets der Inbegriff der Eleganz, des Geschmacks und Raffinements war, lief jetzt jeden Tag im selben schwarzen Wollkleid mit derselben schwarzen Satinbluse und einem abschreckenden Gartenhut herum. Ob sie ein Gelübde getan, ob ihr im Älterwerden das Äußere nebensächlich erscheint – ich weiß es nicht. Aber es gab mir stets einen Shoc, wenn ich sie betrachtete. Haus und Train sind noch immer famos und da sie sich jetzt in Baden-Baden angekauft, hat sie doppelt Gelegenheit, sich in Einrichtungen zu stürzen. Erich hat sich recht herausgemacht und Fredi ist ein prachtvoller, großer, frischer Kerl geworden; dabei derselbe männliche, zuverlässige, reizende Charakter. Er gehört zu den seltenen Buben, die fünfzehn Jahre alt geworden, ohne eine wirklich ungezogene Phase durchzumachen und dabei der bubenhafteste, frischeste Junge zu bleiben. Wie das bei dem Reichtum und dem Zigeunerleben möglich war, ist uns allen ein Rätsel. Für Erich dagegen mit seinem erregbaren, eitlen, weicheren Charakter, würde ich als Mutter große Angst haben. Gott sei Dank, der ihm in dem sehr geliebten Bruder einen Hüter gegeben. Es war am sechsten September als wir drei Genossen: Lothar, Hanna und ich vom Buchenhaus aufbrachen, um in Morgenfrühe unsere Gebirgstour anzutreten. Die Morgennebel zogen und wogten noch über dem See – die ersten Sonnenstrahlen fielen warm und goldig auf die schöne Landschaft – das Leben lag so golden, so verheißend, so sorgenlos vor uns wie es uns Menschen oft vergönnt ist. Alle drei jung, gesund, thatendurstig und mit reichlichem Geld im Beutel, so in den herrlichen Morgen zu fahren, war ordentlich berauschend. Dazu kam, daß wir uns alle sehr gut stehen, sehr nachgiebig und verträglich sind und Lothar uns in keiner Weise tyrannisierte, sondern Rat und Stimme bei jedem Plan gestattete. Gegen Mittag langten wir in Salzburg an und suchten nach einem Hotel, das anständig aber nicht mit Sternchen im Reisebuch versehen war. Lothar mit dem Buch in der Hand,

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Hanna und ich auf beiden Seiten eingehakt, so zogen wir lesend in die Stadt. Nach dem Essen erstiegen wir gleich die herrliche, stolz über die Stadt ragende Feste und erfreuten uns an dem schönen, unbeschreiblichen Blick. Die Stadt mit ihren engen Gassen, flachen Dächern und vielen Kirchen machte mir einen ganz südlichen Eindruck. Die alte Festung mit ihren Toren, Gewölben und Gängen, ihren Sälen und Zimmern mit der schönsten Holzschnitzerei vergegenwärtigte uns die Zeit da die stolzen Fürstbischöfe hier geherrscht und den Kaisern und Städten getrotzt. Nach einem kühlen Trunk im Peterskeller entschlossen wir uns zur Fahrt auf den Gaisberg, den wir in ¾ Stunden per Zahnradbahn erreichten. Es war das erste Alpenpanorama, das Hanna und ich sahen – wir waren ganz überwältigt davon und wenn wir auch später noch höhere, weitere sahen, so machte uns doch dies als erstes den mächtigsten Eindruck. Wir blieben, bis das Abendrot in violette und graue Tinten überging und die großartige Szenerie mit ihren starren, ernsten Formen womöglich noch großartiger vor uns lag in der düsteren, kalten Beleuchtung. – Beim Herunterfahren in der Zahnradbahn entdeckten wir, daß wir die einzigen Nicht-Imker von der ganzen Gesellschaft waren und erfuhren, daß ein internationaler Imkertag in Salzburg tage und heute die Fahrt auf den Gaisberg auf dem allgemeinen Programm gestanden habe. Diese Imker waren rührende Leute, meist Lehrer und Gärtner, die in den verschiedensten Dialekten unseres lieben Vaterlandes den „Bien“ priesen und jeder ein anderes Prinzip ritten. Am meisten Spaß machte uns ein alter Österreicher, der die ganze Gesellschaft zum Besten hatte und doch wie die Harmlosigkeit selbst aussah. Gern hätte ich mich als Imkertochter zu erkennen gegeben, aber ich fürchtete, die Verbrüderung und Intimität würde dann keine Grenzen mehr kennen. Sie ging schon so ziemlich weit. Auf einer Station wurden zwei Glas Bier gekauft und, nachdem alle daraus getrunken, Hanna und mir angeboten. Der eine steckte sich eine Pfeife an, nachdem er mit einem bedeutsamen Blick auf uns zu Lothar gesagt hatte: „Schöne Köpfe raucht man an!“ Wir waren in einer Stimmung, daß wir gar nicht genug Menschen und Lärm haben konnten. Wir folgten daher unseren Genossen in den Burggarten, wo das Fest seinen Fortgang nahm und saßen in einer dunklen Ecke des Gartens bis spät in die Nacht. Lampions und Musik – ein norddeutscher Pastor, der in einer schwungvollen Rede die deutsche Frau mit der Biene verglich, affektierte Imkerlieder, im Chor gesungen, und über allem eine riesige Biene, die in Flämmchen hoch in der Luft schwebte: das war der große Salzburger Imkertag! Am nächsten Morgen kam Loti in unser Zimmer mit dem freudigen Morgengruß: „Kinder, so geht das nicht weiter; wir brauchen zu viel Geld; der gestrige Tag hat ein großes Loch in die Kasse gefressen!“ Bestürzung und lange Beratung, darauf Ischl und Hallstatt aufgegeben und mit Bahn und Omnibus nach Berchtesgaden. Am Bergwerk stiegen wir aus und metamorphisierten uns unter Gelächter in Bergleute.

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Das Zusammentreffen mit den Herren im allgemeinen Warteraum ist zum Totlachen. Loti war so galant, zu finden, daß wir sehr nett aussahen, aber um uns herum wimmelte es von unglaublichen Erscheinungen. Knöchel, Schuhwerk und Beinwerk kam da zum Vorschein, daß man sich mit Grausen gestehen mußte, unsere Frauenröcke seien eine günstige und gnädige Erfindung. In unseren weißen Leinenhöschen zogen wir dann zaghaft über die Straße, mit Jubel von einem Trupp eben einfahrender Touristen begrüßt. Überall stand angeschrieben: Amateurphotographen das Aufnehmen von Bildern strengstens untersagt; aber es gab Verblendete genug, die zu einem Photographen liefen, um ihre Reize der Nachwelt zu gönnen! Das Bergwerk selbst war mir zu sehr auf die Fremden zugeschnitten. Wir sahen und hörten wenig von der Salzgewinnung. Dafür fuhren wir über einen illuminierten See, machten auf Lederschürzen sitzend eine aufregende Rutschpartie und fuhren auf einem Rollwagen wieder hinaus. Ich hatte den Eindruck, wie wenn ich in Poessneck auf dem Vogelschießen gewesen wäre. Berchtesgaden ist reizend. Wie friedlich liegt es zwischen den hohen Bergen eingebettet mit seinen sauberen Schweizerhäuschen und seinen grünen Matten. Wir liefen den ganzen Nachmittag auf den umgebenden Höfen herum und wunderten uns, wie frisch es trotz der großen Hitze aussah. Abends zogen wir Zwetschgen essend durch das saubere Städtchen und hörten eine herrliche Sopranstimme in der kleinen Kirche ein Ave Maria singen. Wir wohnten sehr bescheiden in der „Post“, wo wir zwei Zimmer mit Aussicht verlangten. Das war bei der Menschenfülle nicht zu haben, aber der Wirt teilte insofern gerecht, als wir das Zimmer und Lothar die Aussicht hatte, denn der hatte wirklich kein Zimmer, sondern nur ein Loch. Am nächsten Morgen brachen wir um fünf Uhr auf und fuhren durch den kalten Morgen mit einem Einspänner zum Königsee. Im freundlichen Thal regte sich kaum das erste Leben und selbst der Vater Watzmann schien verschlafen hinabzuschauen. Zwei alte, wortkarge Schiffer ruderten uns über das dunkelgrüne Wasser des Sees, auf dem noch die Morgennebel brauten und wogten. Es war ganz still bis auf das Plätschern der Ruder, unser Boot, das einzige auf der weiten Fläche. Oben am Felsen stand eine Gams; kleine Krickenten schnellten über den glatten Spiegel. Nach und nach kam die Sonne über die Berge, färbte erst die höchsten Spitzen, bis die schrägen Strahlen tiefer und tiefer fielen und zuletzt eine goldene Gasse auf dem Wasser malten. Es war traumhaft schön! Jedes Wort des Preises, des Entzückens, wäre uns wie eine Entweihung vorgekommen und es war gut so! Wir landeten an einer kleinen Bucht und stiegen in drei Stunden steil zur Gotzenalm empor. Der Rückblick auf den See, wenn der Pfad sich höher und höher windet, ist überaus wechselnd und lohnend. Die Alm, auf einer Art Einsenkung gelegen, hat als Hintergrund das große, weiße Feld der Übergossenen Alm, das in

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der sonnigen Beleuchtung blendend wirkte. Weit und breit kein Baum oder Strauch, nur die kurze, glatte Matte. Wir mußten Schatten im Holzstall suchen, wollten wir den Blick vor Augen behalten; und so gut hat mir noch nie Milch geschmeckt als da, zwischen Reisig und Ziegenstall. Lothar brachte es auf vier Glas und die Schmarrnportion war auch nicht bescheiden! Alles war überraschend festlich und sonntäglich wie in der Oper. Die Mädchen blendend mit schönen Schürzen und Strümpfen, die Jager im Wichs in stattlicher Anzahl. Wir blamierten uns schrecklich, da wir nach dem Grund fragten und bekannten uns durch unsere Unkenntnis von Mariä Geburt sofort als Ketzer. Bald begann der Ball: Eine schmucke Sennerin drehte sich unermüdlich mit einem gut gewachsenen Jager in der rauchgeschwärzten Kammer, die von den beiden Menschen gänzlich sowohl in Breite als Höhe ausgefüllt wurde. Da wir leider nicht aufgefordert wurden, stiegen wir noch etwas weiter bis zur Zacke des Berges, die kerzengrad vom Königsee aufsteigt und saßen da wohl eine Stunde. Dicht gegenüber ragt der Watzmann, dessen herrliche Formationen nicht ein Fleckchen Schnee aufwiesen in diesem heißen Sommer. Ganz tief unten, wie ein dunkler durchsichtiger Smaragd, liegt der See, auf dem die Kähne wie die Fliegen herumzogen. So saßen wir lange, lange. Wir hatten geglaubt, gänzlich schwindelfrei zu sein, aber später gestanden Hanna und ich uns gegenseitig ein, daß wir von dem gefährlichen Posten lieber gekrochen als stolz gegangen wären. Der Abstieg auf dem gerölligen Pfad, auf dem der Fuß erst noch festen Halt suchen mußte, war beschwerlich und unsere Knie zitterten, als wir unten anlangten. Wie wohltuend war darauf das Waten im klaren See. Unser bestelltes Boot war noch nicht da, so warteten wir, am Uferrand sitzend, die Beine im kühlen Wasser baumelnd, hoffentlich nicht zum Skandal der vielen vorbeirudernden Pärchen. Der Abend war köstlich und nach dem Marsch war das Liegen im Boot recht wohltätig. Vorbei an der Alm des Herzogs Meiningen, vor der er in Joppe und grünem Hut selbst saß, – sehr stimmungsvoll in die Landschaft passend, vorbei an St. Batholomä mit seinen vier dicken Türmen, die neben Watzmann und steinernem Meer wie Kinderspielzeug ausschauen, vorbei an der kleinen Kapelle langten wir spät in Königsee wieder an und machten uns auf den Rückweg nach Berchtesgaden. Wie schmeckte die Mahlzeit – die erste richtige an dem langen Tag! Wie gut schliefen wir auf den scheußlichen Betten! Leider nur zu gut! Man vergaß, uns früh zu wecken, sodaß wir viel später als beabsichtigt, Berchtesgaden verließen. Die Fahrt im Einspänner das Ramsautal entlang war wohl unbeschreiblich schön. Der Wechsel von wilden Felsenpartieen, hohen Bergen und kleinen, freundlichen Dörfern, Seen, schönen Ahornwäldchen und sprudelndem Wasser ist ganz besonders reizvoll. Aber für unseren Marsch von Hintersee über den Hirschbichlpaß nach Weißbach kamen wir gerade in die Mittagsglut – und die war schlimm. Loti trug den Rucksack mit dem Nachtzeug, während unsere Handtaschen per Post nach Zell gingen. In steiler Serpentine windet sich die wundervolle Straße zum Paß empor, am kahlen, za-

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ckigen Felsgestein entlang. Oben ist Zollrevision und es war bei dem minimalen Gepäck nicht ganz leicht, Lothars Zigaretten zu schmuggeln. Hanna saß, glaube ich, nicht nur auf den Zigaretten, sondern auf Kohlen, während wir mit dem netten Zollbeamten unser Schöpplein tranken. Dann ging’s bergab ins Pinzgau hinab. Es war so heiß, daß es selbst in den dichten Wäldern ordentlich zum Ersticken war, bis uns in der Seifenbergklamm eisige Kühle umfing. Diese Klamm, in der man lange Zeit auf Brücken und kleinen Treppen und Felspfaden geht, ist die schönste, die wir auf unserer Tour sahen. Tief unten sieht man das Wasser toben und schäumen mit elementarer Wut, und die Dunkelheit des engen Schlunds verstärkt den Eindruck des Romantisch-Schaurigen noch bedeutend. Per Bahn, Einspänner und pedes gelangten wir spät nach Zell am See und in ein höchst einladendes Hotel am oder vielmehr im See gelegen. Es war eine behagliche Aussicht, hier ein Weilchen Standquartier zu haben. Der See selbst gefällt mir nicht besonders. Er versumpft nach beiden Enden zu; aber der Ort liegt malerisch auf der kleinen Landzunge und man ist so im Mittelpunkt aller Hochlandtouren, daß es einer der besuchtesten österreichischen Gebirgsorte ist. Wir begnügten uns mit kleineren, unberühmten Bergspitzen; wir sind noch nicht genug in training – die Führer sind enorm teuer – und die Temperatur ist in diesem September wirklich ungewöhnlich heiß gewesen. Wir hatten nicht gewußt, daß man so heiß haben kann und doch so wenig müde dabei sein! Das macht wohl die herrliche Luft dort droben. Am Sonnabend erklommen wir die Schmittenhöhe und fanden den dreistündigen Aufstieg in der Morgenfrische – wir rückten um ½ fünf aus – gar recht beschwerlich. Das Panorama oben war das großartigste, das ich gesehen: Glockner, Glocknerin, Venediger, Dachstein, Wieshorn etc. lagen klar und wolkenlos vor uns und strahlten in blendendem Weiß. Das hat das Hochgebirge mit dem Meer überein, daß es uns Ahnungen von der Ewigkeit, von der Größe und Kraft des schaffenden, waltenden Gottes erweckt, die der kleine Menschenverstand sonst nicht fassen kann. Man fühlt sich klein – und man fühlt sich doch auch wieder groß, wenn man diese wunderherrlichen Schöpfungen auf sich wirken läßt. Um zwölf etwa rissen wir uns von dem unbeschreiblichen Bild los und machten uns auf den Abstieg. Er war schauerlich, heiß, glatt und ermüdend. Zum Schluß wollte Hanna abkürzen – wir kamen vom Weg ab – mußten ein großes Stück zurück – zuletzt eine halbe Stunde in einem engen, schwülen Heckenweg in der Prallsonne nach Zell zurück. Es war zwischen zwei und drei Uhr – die Luft zitterte nur so vor Hitze und wir rannten zuletzt, weil uns die Sonne durch die dünnen Blusen weh tat auf der Haut. Nun baden und umziehen! Aber, o Jammer – unser Gepäck war noch nicht von Berchtesgaden angekommen. Da blieb uns nichts anderes, als uns ins Bett zu legen und zu warten, bis frische Wäsche kam. Hanna und ich schwätzten sehr behaglich auf diese

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Art und beobachteten den See mit seinen zahlreichen Bewohnern vom Bett aus. Ein Engländer ließ sich vor unseren Fenstern vorbeirudern, im Schwimmkostüm und von einer anständig aussehenden Dame. Shocking! Nach Ankunft des Gepäcks stürzten wir uns denn auch ins Bad, tranken Kaffee und ruderten bis Dunkelwerden. Ruhe nach großer Anstrengung, besonders nach großer Hitze, ist mir das wohligste körperliche Gefühl, das es gibt. Dazu kommt die Befriedigung über die Leistung und über das Erreichte – man fühlt sich wie als Kind mit einer guten Zensur. Den Sonntag widmeten wir dem Fuschertal, das wir bis zur Quelle der Fuscher Ache verfolgten. Ferleiten mit dem Blick auf den Glockner ist herrlich. Wolfgang-Fusch enttäuschte uns eigentlich. Begeisternd ist die Wasserfülle – von allen Wänden und Hängen rieselt es herab, bricht schäumend durch Felsenspalten, hüpft über Steine, schäumt und brodelt in kleinen Kesseln und füllt die starre Natur mit fröhlichem Leben. – In dem Gebirg grollte fern ein Gewitter und als wir uns wandten und zurücksahen, waren alle Bergspitzen weiß. Zell war feierlich und still wie immer. Nur vor einem Hotel fiel uns eine Gruppe aufgeregter Ausländer auf, die mit Zeichen des Entsetzens einen laut aus der Zeitung vorlesenden jungen Mann umstanden. Wir traten dazu und hörten das Erschütternde – Furchtbare: den Tod der Kaiserin von Österreich durch Mörderhand! Wir waren alle wie gelähmt davon und es dauerte lange, bis sich die Entrüstung in Worten Luft machte. Und daneben diese Stumpfheit, diese Gleichgültigkeit des österreichischen Volks! Nicht nur alle Kellner, Bootsleute, die Hausdame des Hotels, sondern auch unser Kutscher, mit dem wir uns den ganzen Tag unterhalten, hatten es längst gewußt, aber als zu unwichtig empfunden, um uns mitzuteilen! Es ist wohl wahr, daß die Kaiserin viel abwesend, wenig gekannt und gar nicht populär war. Aber unser alter Knauer weinte doch, als er davon hörte, nicht aus persönlichem Interesse, sondern über die Verderblichkeit und Rohheit als solche. Dort ging alles seinen Gang weiter. Wir fuhren um sechs Uhr vorn auf dem Stellwagen das herrliche Kapruner Tal hinauf. Schloß Kaprun, ein altes Raubnest, aus den grauen Morgennebeln steigend, ist mir besonders schön in Erinnerung geblieben. Die Gemütlichkeit der Beförderung war groß. Wollte der Kutscher trinken, so ließ er uns einfach vor dem Wirtshaus warten. Dann gewahrte er auf einmal an einem Haus ein Dirndl, ich vermute seinen Schatz, und ließ uns mit einem Freudenschrei im Stich, um nach alter Tiroler Sitte zu „fensterln“. Die braven Gäule zogen ruhig weiter, der Vorspannknecht schüttelte ein wenig mit dem Kopf, und wir kamen auch so weiter. In drei Stunden erreicht man das Alpenhaus am Kesselfall, von wo der zweistündige Aufstieg beginnt. Ich war schlapp an dem Tag und mußte mir Gewalt antun, um nicht liegen zu bleiben, obgleich der Weg nicht schlimm war.

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Nur das letzte Stück, ehe man den Moserboden erreicht, ist anstrengend. Es ist dies ein mit Felsblöcken und Geröll besäter Kessel, von Gletschern umgeben, in dem sich die verschiedenen Abflüsse der Schneefelder zum Bergbach sammeln. Der Blick ist selbstverständlich beengt, aber die grünen Gletschermassen sind großartig schön und es ist ein erhebendes Gefühl, dicht am Schnee zu stehen, wenn unten im Tal eine tropische Hitze herrscht. Gleichzeitig mit uns waren drei Herren heraufgekommen, von denen uns der eine mit lebhaftem, scharfgeschnittenem Profil schon aufgefallen war. Wir erinnerten uns nachher, daß er im Wagen unseren Gesprächen, die sich – wie gebildet! – über Treitschke und Ranke bewegten, interessiert lauschte. Auf Bergesspitzen herrscht ja meist Verbrüderung: Er redete uns an und schlug uns sehr bald vor, mit ihm zu essen. „Schaun’s, Ihr Tisch ist zu klein, kommen’s doch zu uns!“ Wir folgten bereitwilligst und fanden solches Gefallen aneinander, daß wir uns den ganzen Tag nicht mehr trennten. Er war ein Wiener Professor von etwa vierzig Jahren, sehr klug und amüsant, merkwürdig vorurteilsfrei für einen Österreicher und Katholiken. Minder angenehm waren uns seine Tageskameraden, die wir nun natürlich auch mit in den kleinen Kreis aufnehmen mußten: Ein dicker westfälischer Pächter und ein Wiener Oberlehrer in Jägerhemd und Tennisgurt. Hanna und ich vergegenwärtigten uns, was Berliner Bekannte gesagt hätten, wenn sie uns in dieser Gesellschaft gesehen hätten. Aber das ist eben nett bei Reisebekanntschaften: Man legt die Reserve leicht ab, weil man weiß, daß man am andern Tag voneinander geht, daß die augenblickliche Intimität keine Konsequenzen hat. Mit unseren neuen Freunden machten wir gemeinsam den Abstieg, tranken Kaffee und fuhren am Abend im Stellwagen zurück. Alle Mitpassagiere verstummten, nur unser Professor führte eine sehr interessante Conversation mit uns über kirchliche und politische Verhältnisse in Österreich, über die Kaiserin, die er persönlich gekannt hatte, über moderne Bücher, die wir auch eben gelesen. Es war wirklich ein ebenso angenehmes wie bildendes Intermezzo auf unserer Reise. In Zell sagten wir uns Adieu. Name und Stand blieb im Dunkeln. Wer weiß, ob wir uns auf dem kleinen Erdball wiederbegegnen? Am nächsten Tag fuhren wir nach dem Achensee weiter. Wer begrüßt uns schmunzelnd am Bahnhof? Unser Professor – und erzählt uns ganz harmlos, daß sein Zug erst in zwei Stunden ginge. Der wenigst eitle Mensch hätte da wohl gemerkt, daß er zu unserem Abschied gekommen war. Es machte uns riesigen Spaß! Mit der herrlichen Giselabahn bis Jenbach, mit Drahtseilbahn weiter gelangten wir an den Achensee. Loti hatte uns so viel von dessen Bläue vorgeschwärmt, daß wir sehr gespannt und ungläubig das Dampfschiff bestiegen, welches uns nach Scholastika bringen sollte. Aber alle Erwartungen wurden übertroffen. Eine solche intensiv blaue Farbe, blau bis auf den tiefsten Grund hinab, habe ich noch nie, selbst

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am Mittelmeer noch nicht gesehen. Dieser See mit seiner Umgebung, mit dem netten Scholastika, Pertisau hat mir einen ganz besonders angenehmen Eindruck hinterlassen, wie ein kleines friedliches Paradies. Am Abend regnete es zwar, zum ersten Mal in diesen Tagen, aber wir hatten doch alles noch im Sonnenschein gesehen. Da wir nicht recht wußten, was beginnen, beschlossen wir, uns einmal etwas Gutes zum Essen zu leisten und stellten uns ein nettes kleines Dinner mit herrlichen Forellen zusammen. Es regnete durch bis zum anderen Morgen, weshalb wir mit Stellwagen nach Kreuth weiterreisten. Derselbe ging aber in solchem Schneckentempo, daß wir bald vorzogen, nebenher zu gehen. In Bad Kreuth blieben wir einige Stunden bei der Familie Schmidthals, die etwas schockiert schien über unsere Selbständigkeit. „Sie drei allein zusammen?“ fragte die Mutter Schmidthals wiederholt mit emporgezogenen Augenbrauen. Gott sei Dank! Daß unsere Mütter so modern denken über solche Dinge! Am Abend überfielen wir die gute Tante Taube zum Thee und wenn wir auch nicht bei ihr wohnten, so widmeten wir ihr doch fast unsere ganze Zeit. Harmonie ist etwas, was ich mehr als vieles andere genieße und empfinde, und hier ging mir das ganze Herz daher auf. Das idyllische, reizende kleine Heim, das sich dem ländlichen Charakter des Tals eng einfügt, das gemütliche, gastliche Leben, die alten treuen Leute und als Mittelpunkt, von dem alles Übrige ausgeht: die kleine, lebendige, frische alte Frau, herzenswarm und herzensjung trotz aller Schicksalsstürme. Die kleine aufrechte Gestalt mit den schneeweißen Löckchen um das frische Gesicht, die sich wie ein Kreisel in den kleinen Zimmern und dem hübschen Garten herumdreht, hat mir stets etwas Rührendes. Alles, was ihr teuer: Mann, Söhne, Geschwister, ist ihr längst vorausgegangen und doch nimmt sie Anteil an Allem, was ihr nahe kommt und versteht es, vielen Menschen wohl zu tun und Liebe zu geben. Am Donnerstag fuhren wir heim bei strahlendem Wetter, wie wir ausgezogen waren. Tegernsee mit seinen reizenden Villen und seinem üppigen Blumenflor bot uns den Abschiedsgruß vom Gebirg. Am Abend waren wir wieder in Tutzing, um die Wette erzählend, schwärmend – lachend. Selten wird eine Gebirgstour so gelingen wie die unsere: Fast immer das strahlende schöne Wetter – weder Regen noch Sturm – überall die klarste, wolkenfreie Aussicht – überall gute Unterkunft trotz der Menschenfülle – keinerlei Kopfweh oder Ermüdung, Fußschmerzen, Sonnenstich – kein Reinfall, keine Enttäuschung – gute Stimmung und fröhliche Kameradschaft – das ist doch viel auf einmal!! Ich kann der Tante gar nicht genug dafür danken, daß sie mir die Möglichkeit zu so viel Schönem gegeben. Ich blieb auf ihren Wunsch noch bei ihr, während Mutter und Spitzembergs nach Hemmingen vorausfuhren und sonderte die vielen Eindrücke und Erinnerungen.

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Die Zeit in Tutzing habe ich noch recht genossen, besonders, als ich nachher mit Tante und Eberhard allein blieb. Es ist merkwürdig, wie wenig gut sich die beiden Tanten⁵⁴ trotz großer Liebe vertragen. Tante Anna machen Tante Higas kleine Schwächen so ungeduldig, daß sie immer in geharnischter Laune ist und Tante Higa leidet wieder unter der ungewohnten Tyrannei. Sie, die Gewaltige, alles Unterdrückende, ganz verzagt, ja sogar verlegen zu sehen, hat mir oft Vergnügen gemacht. Aber doch war die allgemeine Stimmung oft getrübt durch diese jämmerlichen kleinen Reibereien und ich, der beide Tanten ihr Herz ausschütteten, kam mir manchmal ganz hinterlistig und doppelzüngig vor. Mit der Abreise der Spitzembergs schien es, wie wenn ein Bann von Tante Anna genommen und doch waren sie alle drei gut, liebenswürdig und behaglich gewesen! Eberhards Kommen war dagegen reine Freude. Er überraschte uns früher als wir gedacht und Ayas⁵⁵ Vergnügen und die Seligkeit des herzigen Cesare war gut zu sehen. – Wir machten noch viele Ausflüge an den Ufern, nach Berg, wo der unglückliche König den Tod gefunden, nach Hohenleiten, nach Bernried zu Wendlands, nach Weilheim etc. Oft aber, und das war mir das Liebste, saßen und schlenderten wir mit den Kindern im Garten und am See umher und endeten mit einem herrlichen Bad. Ein echtes, wonniges Sommerleben! Eberhard ist viel zugänglicher geworden, ein famoser Mann und Vater. Aya habe ich sehr in mein Herz geschlossen. Sie ist durch und durch modern, aber im besten Sinne des Worts und in der schwermütigen Familie das alles vermittelnde, erheiternde, verständige Glied. Tante Anna hätte gar keine bessere Schwiegertochter bekommen können. Vom 23ten bis 29ten war ich in Hemmingen und überzeugte mich aufs Neue, daß ich dort nicht froh sein kann. Der Vergleich zwischen jetzt und früher ist zu schwer und die Disharmonie zwischen oben und unten mit Spitzembergs in der Mitte, fühlt sich trotz des äußeren guten Verhältnisses zu sehr durch. Natascha war allein mit den Kindern inmitten anarchischer Dienstbotenzustände, die sie nicht im Geringsten störten. Der Kutscher war fortgejagt worden, der Jäger besorgte die Pferde, der französische Koch ging auf die Jagd mit dem Diener, officiell den ganzen Tag, die Küchenmagd kochte und die Katzen holten aus der offenen Speisekammer Braten auf Braten. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre, ein fest gegründetes Haus so rasch zerfallen zu sehen. – Von den Partien, die Spitzembergs unermüdlich entrierten, nenne ich nur einen Tag bei Neippergs, wo ich einen reizenden Einblick tat in eine „unvornehme“, glückliche, natürliche und gute österreichische Familie. Im Gegensatz zum Axelschen Haushalt war hier alles einfach,

54 Gemeint sind die beiden noch lebenden Schwestern von Hildegards Mutter, Anna Hofacker und Hildegard Freifrau von Spitzemberg. 55 Albertine Hofacker, geb. von Uexküll-Gyllenband, Ehefrau von Eberhard Hofacker.

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nicht prunkend, aber gut geführt, gut im Zug und nach anständigen, adligen Grundsätzen. Auf dem Rückweg blieben wir einen Tag in Heidelberg bei Schwarzens.⁵⁶ Das Schloß begeisterte mich, obwohl ich es ungünstig während eines Reparaturbaus sah und das Neckartal war einzig im herbstlichen Schmuck. Onkel war rührend aufmerksam und Tante riß sich auch aus ihrem Phlegma, um die liebenswürdige Hausfrau zu spielen. Die alte Mutter ging uns beiden so auf die Nerven, daß wir den armen Onkel von Herzen bedauerten. Nach einer endlosen Tagesreise, auf der wir den Aufenthalt in Würzburg zur Besichtigung der Residenz benutzten, langten wir nachts um zwei Uhr in Wernburg an, zu unserem Erstaunen von der ganzen Familie wach und munter begrüßt. Burkhart, der mittlerweile von Genf heimgekehrt, braun und mager, und Rudi, waren beide zu Haus. Das Austauschen von Erlebnissen war diesmal sehr ergiebig, Burkhart hatte in Genf ein ausführliches Tagebuch geführt, welches er uns – mit Auslassungen – vorlas. Es machte mir großen Spaß, diese frischen, ersten Eindrücke, diese schroffen Abneigungen und Urteile, diese Begeisterung und dies Entzücken. Die Familie Patry, bei der er in Pension war, muß allerdings so originell gewesen sein, daß man dicke Bücher über sie hätte schreiben können. Sabine machte nun, da ich heimgekehrt, auch ihren Ausflug, aber nach Norden. Sie war vier Wochen teils bei Schwerins in Löwitz, teils bei Maltzahns in Wanselow und amüsierte sich herrlich bei Jagden, Fahrten, Parforcereiten etc., etwas, das uns allen ganz fern liegt bisher. Margarethe war kurz zu Besuch, ebenso einmal die Buchaer Breitenbauchs, aber sonst hatte der Verkehr im Allgemeinen sehr abgenommen. Nur Frau von Heyden, die unermüdliche, arrangierte auch jetzt noch Partien. Die lustigste derselben machten wir nur zu viert, Frau von Heyden, der Hauptmann Holleben (der berühmte Kurt), Burkhart und ich. Nicht daß sie so besonders gelungen gewesen wäre! Es regnete nämlich fast die ganze Zeit in Strömen und der siebenstündige Weg bergauf, bergab über Eichicht, Preßwitz, Neidenberga, Saalthal, Bucha nach Könitz war zwar landschaftlich begeisternd aber aufgeweicht und rutschig. Aber unsere ganze Stimmung war so fidel, vielleicht gerade dem Wetter zum Trotz, wir fühlten uns alle so frisch und rüstig und Holleben übertraf sich selbst an Ausgelassenheit. Noch fidel war dann als Schluß ein solennes Essen in Könitz, wo wir Herrn von Heyden trafen. Sein Erstaunen über unsere verrückte Tour, mein Erscheinen in einem Brokatrock von Frau Reiß, unser Wolfshunger – alles gab Anlaß zu einer nicht enden wollenden Heiterkeit.

56 Eine Schwester von Hildegards Vater, Marie, geb. Freiin von Erffa, war mit Pastor Friedrich Schwarz verheiratet.

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Band V: Tagebuch von 1897 bis 1899

Im Oktober bekam ich die Nachricht von Grete Butlers Verlobung mit einem Herrn von Wangenheim, die mich riesig aufregte und überraschte. Ich hatte schon im Sommer so viel über die Sache gehört, aber sie bei Gretes Sprödigkeit für ganz aussichtslos gehalten. Meine Überzeugung war: Heiratet sie überhaupt, so heiratet sie nur Wangenheim; aber es schien mir sehr unwahrscheinlich. Nun ist doch die Liebe erwacht und hat alle Schwierigkeiten, über die wir so oft geseufzt, beiseite geworfen und Grete so viel weiblicher, milder und freundlicher gemacht, daß ich manchmal ganz perplex bin. Wangenheim soll ein seltener Mensch sein, von ausgezeichnetem Charakter, guten Fähigkeiten und schönem Äußeren. Ich kenne ihn sehr wenig, da er in meinem Meininger Winter ohne Hoffnung und ganz ungenießbar war. Aber gehört habe ich durch Grete so viel von seinen Eigenschaften, daß ich ihn wie einen Freund kenne. Bei einer Taufe von Dalwigks, zu der wir nach Naumburg fuhren, traf ich Siegmund Stein, der mir viel von Meiningen erzählte, aber nicht ahnte, daß ich selber viel besser unterrichtet war als er. Wir wohnten wieder oben, sehr mit Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt. Burkhart und Rudi erhielten eigene Zimmer und da gab es denn viel zu beraten mit den Handwerkern, zu wählen und zu räumen. Das Lesen, das ich sonst in dieser Zeit besonders betreibe, hatte ich mir bis nach Weihnachten aufgespart, da ich – ich weiß nicht, warum – bis zum letzten Tag zu schaffen hatte. Das Weihnachtsfest, sonst so ideal, so ungetrübt, sollte uns diesmal recht versalzen werden. Unser guter Jörge hatte es sich herrlich gedacht, heimlich vor dem Fest seinen Referendar zu machen und den Eltern unter dem Christbaum aufzubauen. Er machte das Examen und fiel durch – und das am 21ten Dezember. Wenn ich an diese ersten Tage denke, dies Ankommen, das Wiedersehen zwischen uns Geschwistern und die ersten Fragen und Erzählungen, so scheinen sie mir die schwersten meines Lebens zu sein. Ich weiß, daß ich nur das Gefühl hatte: Oh wäre der Tag vorbei und die Nacht da! Und wenn ich dann jetzt, nachdem einige Zeit verstrichen, über den eigentlichen Grund des Jammers nachdenke, so scheint er mir so geringfügig, so wenig tragisch, daß ich unseren Schmerz gar nicht verstehe. Wird uns nicht so in der Ewigkeit unser ganzes irdisches Leben in verstärktem Maß erscheinen? Ob Jörge nicht fleißig genug war, ob er speziell im Examen Pech hatte, ob seine große Jugend mitsprach, wie wir hörten – wer kann das untersuchen! Jedenfalls war er tief geknickt, da er wie wir aus allen seinen Himmeln fiel, und seine Niedergeschlagenheit tat uns mehr leid als alles Übrige. Aber in solchen Fällen muß sich die Familie in ihrer sanften und festen Gewalt als Halt und Stütze bewähren und dem Einzelnen über den Mißerfolg hinweg helfen. Wir gaben uns alle Mühe, doppelt fröhlich und weihnachtlich zu sein – Rotenhans waren starke Hilfen – Jörge tröstete sich, als er sah, daß uns das Weihnachtsfest nicht verdorben schien. Wir

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wurden uns klar, was wir aneinander haben und wie wir von Gott bevorzugt, daß uns dies ein großes Leid schien. Darin liegt ein großer Segen! Ich bin überzeugt, daß wir Alle, bewußt oder unbewußt, doch ein gesegnetes, wenn auch kein fröhliches Christfest gefeiert haben! Anfang Januar stiebte der große Kreis auseinander. Sabine ging auf zwei Monate zu Kunststudien nach Berlin zu Spitzembergs, Vater zum Landtag, während Mutter, Jörge und ich uns im oberen Stock zum Winterschlaf einspannen. Jörge kann vor April nicht wieder anfangen; daher lernte er mit Eifer Englisch, während ich ins Italienisch einzudringen suchte. Der Plan, nach Rom zu gehen, hatte sich mehr und mehr gefestigt und als uns Großmutter eines Tags 1000 M Beitrag dazu schickte, stand die Sache gesichert da. Meine ganze Lektüre, die seit Jahren auf Italien gerichtet, konzentrierte sich nun auf Römische Geschichte, Kunst und Kultur. Zuweilen war es mir sauer, da für eine total fremde Stadt begreiflicherweise das Interesse für einzelne Punkte fehlt. Aber das Ziel vor Augen, ist es doch herrlich, wenn ganze Epochen klar hervortreten, wenn man sich sagt: das, was dir schon gelesen so ideal erscheint, siehst du bald mit eigenen Augen. Die Kultur der Renaissance begeisterte mich am meisten. Burckhardt⁵⁷ schreibt geradezu hinreißend. Herr Reiß in Könitz stopfte mich mit bildender Lektüre in richtiger aufsteigender Reihenfolge, zeigte uns Mappen voll Photographien und fügte seine eigenen interessanten Erläuterungen hinzu. Die Nachbarn sahen wir wenig, obwohl das Wetter nicht hinderlich gewesen wäre. Öfters war ich bei der armen Mia, die in einem jammervollen Zustande war: immerfort Schmerzen, schlechte Pflege und den Vater als einzigen Umgang! Einmal waren wir zwei Tage in Rudolstadt, wo wir eine Hoftafel von lauter Damen mitmachten. Tity Beulwitz machte ihre erste Entrée dans le monde,⁵⁸ sah niedlich aus, war aber von einer Aufgeregtheit und einem Widerspruchsgeist beseelt, der alle Grenzen überstieg. Die sämtlichen Prinzessinnen waren sehr gut aufgelegt und äußerst freundlich. Besonders Prinzeß Thekla ist rührend. In Pössneck hatten wir unerwarteten Genuß: einmal eine Theateraufführung der Leipziger Truppe und einmal ein Conzert von dem berühmten Kraus aus Wien. Ich habe mit zwei oder drei Ausnahmen nie so herrlich singen gehört; den Wanderer noch nie so gut und so schön! Sonst waren unsere Tage einförmig – umso rascher verstrichen die Wochen. Am Anfang Februar machten wir den Ball in Magdeburg mit. Vater und Sabine

57 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Der klassische Italienführer, 1860 veröffentlicht. 58 Übersetzt: „Eintritt in die Gesellschaft“.

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waren dazu von Berlin gekommen. Ich muß gestehen, wir waren diesmal enttäuscht davon; hatten unter den Herren wenig gute Bekannte und wenn wir natürlich auch Tänzer genug fanden, besonders unter Jörges Freunden, so war der Eindruck doch, daß das Amüsement zu den Kosten in gar keinem Verhältnis stand. Von Magdeburg reisten wir zu einer Besorgungsrazzia nach Berlin. Vater und Sabine hausten, während Spitzembergs in Rom waren, in deren Wohnung und daselbst fanden auch wir Unterschlupf, von den alten Leuten aufs Beste verpflegt. Das viele Besorgungen-Rennen, das Antichambrieren und Probieren bei dreierlei verschiedenen Schneidern und Schneiderinnen war unersprießlich. Oh wie gut haben es doch die Herren, die die vielen Nuancen von Reise, Stadt, Land, Sommer und Winter nicht mitzumachen brauchen. Aber trotz aller Quälerei fiel noch manch Nettes für uns ab: Verschiedene Familienessen und Diners bei Axels, Schwerins, Speßhardts, Wisa, Walter Hermanns und Manna Winterfeldt, ein reizender musikalischer Thee bei Frau Richter, einige Besuche bei Vater im schönen neuen Abgeordnetenhaus, ein Theaterbesuch und last but not least ein glänzender Ball bei Frau von Radowitz. Die Mädchengesellschaft hat sehr gewechselt, aber unter den Herren traf ich viele gute Freunde, die sich ebenso wie ich, des unerwarteten Wiedersehens freuten. Sehr komisch war, daß wir der Geburt eines kleinen Vetter Varnbüler fast assistierten. Wir kamen am 11.2. ahnungslos um neun Uhr in die Voßstr., der berühmte Stiller meinte unter geheimnisvollen Zeichen, die Baronin habe den ganzen Tag Jour gehabt, werde uns aber kaum mehr empfangen. Dem war aber nicht so. Natascha, sehr erfreut, den aufgeregten Onkel fernzuhalten, ließ uns gar nicht mehr fort. Mutter saß bei ihr im Bärenzimmer, während uns die undankbare Aufgabe ward, Onkel zu unterhalten. Die Situation war urkomisch. Wir sprachen ganz vergnüglich, tranken von Tantes Champagner und verfolgten mit Spannung, ohne dergleichen zu thun, die Vorgänge im Nebenzimmer, bei der thürenlosen Wohnung nicht allzu schwierig. Um halb elf Uhr endlich, als bereits verschiedene weibliche Wesen durch den Salon huschten und Sabine und ich anfingen, uns reichlich de trop zu fühlen, gingen wir. Um ½ 1 Uhr war der kleine Sprößling, der dritte Sohn, zur Stelle. Er sah im ersten Moment Großvater so lächerlich ähnlich, daß Onkel beschloß, ihn Carl zu nennen! Am 13.3. kehrten wir heim in unsere stille Klause, die wir im März schon wieder zu einem Abschiedsbesuch bei Rotenhans verließen. Ein Besuch bei Trautvetters, bei Linchen, ein kleines Diner bei Mag mit den Pflugenberger Eichels, dem Landgrafen und Finkenstein – das waren so die üblichen Ereignisse dort. Hier trafen wir Sabine und Burkhart wieder an. Das große Gepäck nach Rom schon längst fort, genossen wir die letzten Tage bei herrlichem Frühlingswetter in großer Muße. Der schöne Sonnenschein erschwerte uns eigentlich die Abreise. Besonders Vater war ganz

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unglücklich. „Kinder“, sagte er mehr als einmal, „ich gäbe sofort 100 Mark, wenn ich nicht nach Rom müßte“. Das klang sehr wenig erfreulich und hätte uns deprimiert, wenn wir nicht genau gewußt hätten, daß schon vor München die Reiselust erwachen würde und daß so früh der Thüringer Frühling doch niemals einkehrt. Aber die letzten Tage wurden uns lang und als ein eisiger Wind durch alle Fenster pfiff, ward es auch den Eltern ungemütlich. Hier blieben die beiden Söhne, einträchtiglich mit der Wirtschaft, Aufsicht und Kasse beauftragt. Jörge wollte den äußeren, Burkhart den inneren Haushalt – Küche und Keller – führen. Und nun wende ich ein neues Blatt – auch in meinem Leben – um es mit all dem Schönen und Unvergänglichen zu beschreiben, was mir Auge, Geist und Gemüt entzückt und erfüllt hat, um die Erinnerung daran lebendig zu bewahren. Denn „Erinnerung ist ja das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können!“

ROM 1899 (Unter teilweiser Benutzung der Reisebriefe von Mutter, Sabine und mir.) Man müßte mit tausend Griffeln schreiben; was soll hier eine Feder? (Goethe)

Am 22ten März reisten wir um ½ 2 Uhr nach München, wo wir uns vor der langen, angreifenden Fahrt noch ein Nachtlager gönnten. Das einförmige Ratteln durch die wohlbekannten, meist reizlosen Gegenden war ganz dazu geschaffen, in aller Ruhe mit dem Zurückgelassenen, Vergangenen abzuschließen und alle Gedanken und Sinne auf das Kommende zu richten. In München war es winterlich kalt, und als wir uns am Donnerstag früh für die Reise mit Eßwaren verproviantierten, der Brennerzug hat unbegreiflicherweise weder Restaurationswagen noch Mittagsstation! lag hoher Schnee, und der Wind pfiff ungemütlich um die Ecken. Es herrschte unglaubliche Fülle am Zug; Ostern lockte wie stets die Deutschen zur Romfahrt. So kamen wir leider nicht im römischen Wagen unter, wurden aber auf Ala vertröstet, wo „viele römische Wagen“ angehängt werden sollten. Im Fluge zogen die herrlichen Gegenden vorüber: Innsbruck, Franzensfeste, Bozen, Trient – nur hie und da ein etwas bleibender Eindruck – eine besonders schöne Bergformation – ein schlanker Turm – ein altes Raubnest – eine besonders aparte Beleuchtung – dann weiter, immer weiter, bis neue Eindrücke die alten verdrängen, um selbst wieder – wenigstens für einige Zeit in Vergessenheit zu geraten. In Ala nach ganz müheloser

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Gepäckrevision – dank eines Gesandtschaftspasses von Lanza⁵⁹ – stellte sich heraus, daß es mit den versprochenen Wagen doch nichts war. Auch über Vaters Billet, das er in Verona lösen wollte, herrschten die widersprechendsten Ansichten. Vater, der Sprache unkundig, war in einer Aufregung, die uns an ihm fremd und daher sehr beunruhigend war. Wir rasten – er und ich – durch einen dunklen, unterirdischen Gang vergeblich aufs Telegraphenamt, radebrechten mit Kellnern und Billeteur; kurz vor Abgang des Zuges schob uns der Schaffner in den Eingang des D-Zugs und überließ uns unserem Schicksal. Noch jetzt muß ich laut lachen, wenn ich an dies Durcheinander denke. Es war geradezu wüst! In dem Gang des einzigen durchgehenden Wagens stopften sich Passagiere der verschiedensten Nationen mit voluminösem Handgepäck, in allen Sprachen auf den italienischen Schaffner einredend und schimpfend, der für alle das gleiche, freundliche Lächeln, das gleiche Achselzucken hatte. Es waren eben mehr Menschen als Plätze; was ließ sich da machen? Wie wir später hörten, hat die Bahn nicht einmal die Verpflichtung, mehr als eine gewisse Anzahl Reisende zu befördern. Von Vater waren wir gleich getrennt, – jegliche Cirkulation unmöglich – wir beschlossen eben, uns für die Nacht auf unsere Koffer zu postieren, als einige liebenswürdige deutsche Herren uns ihre Plätze gaben und sich draußen etablierten. In Verona lichtete es sich etwas; wir trafen Vater, nahmen glücklich das betreffende Billet und kamen, wenn auch zweiter Classe und mit noch zweien der deutschen Herren, alle vier in einem Coupé unter. Ich habe später so oft Gelegenheit gehabt, mich über unsere Landsleute zu ärgern und zu schämen. Da ist es nur billig, daß ich diese beiden ersten Reisegefährten nach Kräften lobe. Es waren einfache junge Leute, junge Lehrer, Kaufleute oder Mediziner, wie uns schien, ohne große Gewandtheit und Routine. Aber sie benahmen sich durchweg so anständig, ritterlich und bescheiden, daß uns die gemeinsame Nachtfahrt nicht im Geringsten lästig wurde. Es gibt da bis in die vornehmsten Classen hinauf Nuancen in der Ritterlichkeit und Zartheit, die wohl nur eine Frau fühlen und dankbar anerkennen kann! Die Reise – von München 25 Stunden – verlief überraschend schnell mit Schlafen, Futtern, Sehen, Bädeker studieren u.s.f. Die Gewißheit, daß man bis zum nächsten Mittag auf seinem Platz bleibt ohne Unterbrechung nimmt von vornherein alle Ungeduld. Manche Reisen nach Lauchröden, wobei man, des vielen Umsteigens wegen, mit der Uhr in der Hand sitzt und die Zeit in halbe Stunden zerlegt, haben mich ungeduldiger gemacht. In Florenz im kalten Morgengrauen tranken wir den ersten miserablen italienischen Kaffee. In ganz Oberitalien war es hundekalt; winterlich muteten die kahlen Bäume und braunen Wiesen an. Der letzte Teil der Reise, obwohl reich an schönen Aussichten, konnte nicht begeistern, selbst den

59 Mario Graf Lanza di Busca, Italienischer Botschafter in Berlin.

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Nordländer nicht. Umso schöner war die Ankunft in Rom bei idealem Sommerwetter. Wenigen ist dieser beglückende erste Eindruck vergönnt, und doch, was ist es für eine Bevorzugung, den Ort, den man sich als Reiseziel ersehen, im Sonnenglanz kennenzulernen! Die Frauen gingen in hellen Blusen und Strohhüten, auf den Trottoiren schliefen die Bummler, alle Markisen waren heruntergelassen und in den schattigen Anlagen plätscherten die Fontänen, als wir im kleinen offenen Wagen in die ewige Stadt einfuhren. Wir waren ganz überwältigt! – Im Hotel Suisse, Via Nazionale, erwarteten uns in den beiden freundlichen, großen Zimmern große Veilchensträuße von Heydens, aber zum Entsetzen – kein Frachtkoffer. Derselbe war vor fünf Wochen abgegangen, unbegreiflicherweise über den Gotthard geschickt und – Gott weiß, durch welche Schuld in der Welt herumgebummelt. Jedenfalls – er war nicht da und kam auch nicht in den ersten Tagen. Viel unangenehmer, als das Borgen von der nötigsten Wäsche, die Notwendigkeit, in Reisekleid und Stiefeln die ganzen Tage über zu bleiben, – und das war hart genug! – war die Perspektive, daß die gesamte Reiseausrüstung verloren und gestohlen sei. Vater fuhr von Spediteur zu Zollamt, vom Güterschuppen zum sogenannten und officiell dafür eingerichteten „Confusionsbureau“ und telegraphierte nach allen Seiten. Vergeblich! In diesem ganzen Verkehrswesen herrscht haarsträubende Bummelei. Schimpfen oder Grobwerden, das bei uns stets Wunder wirkt, fruchtet hier nicht das Geringste. Die Leute sind liebenswürdig, hilfsbereit, wollen sich zerreißen und versprechen Alles – um auch nicht den Finger zu rühren. Endlich – am Montag – wir waren wieder einmal beim Spediteur Stein und gaben uns den schwärzesten Hoffnungen hin – da meldete ein junger Schreiber die Ankunft des Koffers. Er erschien mir wie ein Bote des Himmels und es fehlte nicht viel, daß wir an Ort und Stelle einen Indianertanz aufgeführt hätten. Wir freuten uns nun doppelt, daß wir nicht gewehklagt und unverständig gejammert hatten in der ungemütlichen Wartezeit; aber wir waren doch alle wie von einem uneingestandenen Druck befreit, der trotz des vielen Neuen und Schönen über der Stimmung der ersten Tage gelastet hatte.Vater hatte des Landtags [sic] wegen beschränkte Zeit; deshalb mußten wir die Zeit ausnutzen, um ihm möglichst viel und möglichst das Wesentliche zu zeigen. Herr von Heyden nannte es „ein wahres Toben“, aber wir hatten uns auf Frau von Heydens vorzügliche Ratschläge einen kleinen Plan gemacht, der nicht zu anstrengend und daher genußreich war. Allerdings setzte er voraus, daß wir alle vier ganz gesund und leistungsfähig blieben. Und daß dies vom ersten bis letzten Tag der Fall war, dafür kann ich Gott nicht genug danken! So vielen unserer Bekannten wurde die Reise durch Krankheit beeinträchtigt, so viele waren nicht frisch genug, die zahlreichen Eindrücke genügend zu genießen. Am Tag unserer Ankunft holten uns Spitzembergs sofort nach dem lunch zu einer gemeinsamen Fahrt in die Villa Doria Pamphili ab. Herrliche städtische Anlagen, die Passegiata Margherita, führen in großen Kehren den Janiculus hinauf

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nach S. Pietro in Montorio, der Acqua Paola und dem Reiterstandbild Garibaldis. Da sahen wir denn zum ersten Mal die ewige, einzige Stadt zu unseren Füßen liegen! Ich hatte mir vom Gesamtbild der Stadt nie eine Vorstellung gemacht und kann daher auch nicht sagen, daß dieser allererste Eindruck meine Erwartungen überstieg oder enttäuschte. Das Bild von dort oben im Abendsonnenschein muß ja entzücken, schon durch die mich ganz überraschende herrliche Färbung. Aber so begeistert wie ich später durch denselben Blick öfters gewesen bin, war ich das erste Mal nicht; das weiß ich gewiß! Das steigerte sich in jedem neuen Sehen, bis ich beim letzten Mal die Augen gar nicht davon losreißen konnte.– Es gab zuerst zu viel zu sehen, und Tante Higa, die sich in den Wochen vorher mit Wissen überfüllt, das sie loszuwerden drängte, überflutete uns mit so viel Erklärungen, Belehrungen und Auskünften, daß wir zu einem rechten Genuß nicht kommen konnten. Dazu gehört für mich, daß ich selbst entdecken, urteilen und empfinden kann. Wir gingen in der Villa spazieren, die mit großer Liberalität von ihren Besitzern an zwei Nachmittagen dem Publikum geöffnet wird. Man darf auf allen Wegen fahren, auf dem Rasen herumlaufen und Blumen pflücken, so viel man will. Entzückend ist eine große, blumige Wiese, von immergrünen Steineichen umgeben, auf der gerade die Zöglinge des englischen Priesterseminars football spielten. Alles hatte solch fröhlichen, sonntäglichen Anstrich, ohne daß es schon eigentlich sommerlich gewesen wäre. Es wurde sogar bald so kalt und unfreundlich, daß wir über Petersplatz und Engelsbrücke nach Hause fuhren. Unser Hotel war sehr angenehm, im Mittelpunkt alles Verkehrs gelegen und gut geführt. Ein großer Vorteil war die anständige, internationale Gesellschaft: Deutsche, Engländer, Österreicher, Schweden und Italiener in buntem Gemisch, ohne daß eine Nation besonders dominierte. Ganz englische Hotels müssen nicht angenehm sein und ganz deutsche wohl noch schlimmer. Ich gehe doch nicht nach Rom, um immer nur mit Landsleuten zusammen zu sein! Wir aßen mit Heydens an kleinem, ovalen Tische im großen Speisesaal, lernten durch sie gleich die Familien Miltitz und Wuthenau kennen. Näher bekannt wird man mit niemand; jeder hat zu viel zu thun und zu sehen. Auch mit Spitzembergs und Tante Johanna Butler stellten wir uns auf unabhängigen Verkehr und hatten es nicht zu bereuen. Früh orientierten wir uns gründlich bei Frau von Heyden, dann zogen wir auf eigene Faust los, meist unter meiner Führerschaft: Um 1 Uhr Lunch, danach allgemeine Siesta, ein Kaffee in einem Lokal und irgendeine schöne Fahrt oder ein Gang durch die Stadt. Nach dem Essen um sieben Uhr blieben wir meist nur kurz in den Salons, die ungenügend, schlecht erleuchtet und entschieden der dunkle Punkt des Albergo Svizzero waren. Wären wir nicht meist so müde gewesen, so hätte uns der furchtbare Straßenlärm die Nachtruhe verbieten müssen. Es war oft ein Getöse von Wagen, ein Geschrei von Zeitungsverkäufern, ein wahrer Hexensabbath!

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Die nächsten beiden Tage wehte die eisige Tramontana, kurze Sonnenblicke wechselten mit kalten Regenschauern, sodaß wir erbärmlich froren. Besonders Vater, der sich trotz aller vorherigen Warnungen den ewigen Frühling erwartet hatte, war deprimiert und erkältet. Aber bei dem raschen Wetterwechsel ist das ja nichts Schlimmes, besonders wenn es das einzige Wetterpech in langer Zeit ausmacht. Am Sonnabend machten wir einen kleinen Bummel durch die „moderne“ Stadt, die ich mir so ganz anders gedacht hatte. Daß der Corso, die „römischen Linden“, nicht größer als eine Poessnecker Gasse, daß von Trottoirs und eleganten Läden keine Spur – hatte ich mir nicht träumen lassen. Aber wie habe ich gerade diese engen Gassen, diese alten Häuser mit ihren herrlichen, verwitterten Farben, diese offenen Lädchen, diese malerischen Durchblicke lieb gewonnen! Da ist doch Individualität darin, ein ausgeprägter Charakter – das ist eben Rom und so, nicht anders muß es sein! Die ersten Tage frappiert das Straßenleben am meisten, während es nach Neapel einen ganz civilisierten, normalen Eindruck macht. So vieles, was uns später nicht einmal mehr auffiel, die Unzahl der Geistlichen, die stattlichen Polizisten, die vielen Kirchen, die ungezählten Droschken, haben wir zuerst mit Staunen und lauten Ausrufen betrachtet. Es gibt kein größeres Gewohnheitstier als der Mensch! Am Sonnabendnachmittag gingen wir zum ersten Mal über Kapitol und Forum nach dem Colosseum, leider bei Regen und Sturm, sodaß der Genuß arg geschmälert war. Aber wir hatten doch den ersten Begriff von der Großartigkeit, der wunderbaren Schönheit dieser Trümmerwelt. Ich habe so viel gelesen und gehört vor der Reise, habe so viele Bilder und Nachbildungen gesehen – aber sie geben ja keinen schwachen Begriff von dieser wunderbaren Größe einer verschwundenen Welt! Von diesen Dimensionen kann man sich ja kein Bild machen! Sie verschieben alle bisherigen Maßverhältnisse, und es vergeht einige Zeit, bis man sie überrascht fassen und in sich aufnehmen kann. Aber dann „geht auch“ – wie schon Goethe empfand – „ein neues Leben an“! Ich glaube, gerade dies allmähliche, langsame Heranreifen und Weiterkommen zu vollem Verstehen und Würdigen, ist der Hauptreiz in Rom. Darum denke ich mir einen kurzen Aufenthalt dort eine Qual! Von Tag zu Tag gingen uns neue Lichter auf, wir lernten ganz anders sehen, verstehen und empfinden, alle Gebiete der bisherigen Bildung erhielten eine neue, klarere Beleuchtung. Am meisten überwältigte uns das Colosseum, obgleich ich es eher unheimlich, monströs, gigantisch als schön fand. – Auf dem Forum kann sich der Fremde zuerst nicht zurechtfinden in der Fülle der Gebäude, und mit dem gründlichen Vater, der den Namen jeder Säule wissen wollte, war das eine gar ernsthafte, angreifende Sache. Wir erholten uns dann bei Aregno, dem ersten rö-

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mischen Café, wo man die ganzen Bürgerkreise, Officiere und Fremden beobachten kann. Specialität sind ausgezeichnete kleine Kuchen, die wir bald alle durchprobiert hatten und in Massen während unseres Aufenthalts vertilgt haben. Am Abend soll alles voll junger Leute, auch der ersten Kreise, sitzen, die anstatt des deutschen Seidels, sich mit zwei ‚Paste‘ genügen lassen. Auffallend war uns die Vertrauensseligkeit, mit der die Eßwaren verabfolgt werden: Jeder ißt und holt sich und gibt dann beim Zahlen dem Kellner selbst die verzehrte Anzahl an. Es soll fast nie ein Betrug dabei vorkommen. – Das Betteln ist nicht schlimm, nur Wagen werden auf Schritt und Tritt mit einem erhobenen Zeigefinger und einem freundlichen „Vuole“? angeboten. Auf dem Heimweg hatten wir ein kleines spaßiges Erlebnis: Mutter hob ein kleines Damensteckkämmchen von der Straße auf in der Annahme, ich hätte es verloren. Kaum hatte ich verneint, als schon ein Liebhaber dafür da war. Ein zerlumptes Sujet mit glattgeschorenem Kopf versicherte uns aufs Treuherzigste, er habe ihn getragen und zog ganz seelenvergnügt damit ab! So sind sie alle; immer auf einen Vorteil aus, aber nie bösartig oder grob, stets von einer beneidenswerten Fröhlichkeit, Hilfsbereitschaft und Gutmütigkeit. Und gar gegen blonde Damen zerreißen sie sich vor Liebenswürdigkeit, vom Trambahnkondukteur bis zum alten Priester. Herr von Below sagt: „Schlimm werden die Italiener erst vom Moment, wo sie Handschuh tragen!“ Das ist sehr bezeichnend! Am Palmsonntag, den 26. März waren wir in St. Peter zur Palmenweihe. Der herrliche große Platz mit seinen Arkaden, Fontänen und die einzige Kirche sind eine Welt für sich, aber mehr noch wie bei allem Übrigen trifft dabei zu, daß man seiner enormen Größe erst bei mehrmaligem Sehen voll bewußt wird. Aber dann gibt es Momente, wo einen ein förmlicher Schauer vor dieser Unendlichkeit und Weite erfaßt, wo man sich unter diesen Kuppeln wie ein Atom vorkommt und sich dann doch wieder mit stolzem Gefühl erinnert, daß es ein Bau von Menschenhand ist, in dem man sich befindet! An diesem Palmsonntag kamen solche Gedanken nicht auf. Jahrmarktserinnerungen lagen da näher. Es war wie ein großer Corso oder wie ein Volksfest im Freien. Alles schrie, lachte und schwatzte; flirtete und rekelte selbst in den Beichtstühlen herum. Die kleinen Kinder saßen und spielten auf dem Fußboden, selbst Hunde, deren Mitnahme bezeichnenderweise verboten, trieben sich herum. Dazwischen beten einige rasch an der Confession, andere, selbst elegante Herren, küssen den abgenützten Zeh der Peter-Statue. Dieselbe soll ursprünglich ein heidnisches Standbild sein und mit dem Gewand und den Emblemen zum Apostelpapst umgestaltet worden sein. Nachdem die Palmen geweiht und in Prozession herumgetragen, begann an verschiedenen Altären das wüsteste Handgemenge, das man sich denken kann, um bei der Verteilung einen geweihten Ölbaumzweig zu ergattern. Wir stürzten uns auch herein zur nicht geringen Gefahr unserer Hüte; alle Kindererinnerungen an solenne Bolzereien mit den Brüdern

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wachten mir auf, als ich mit Herrn von Heyden an einem Ende des Zweigs zog, an dessen anderem Ende eine Schar zerlumpter kleiner Gassenkinder hing. Schließlich hatte jeder sein Reislein ergattert. Wir trafen Kurowskys und Asta, die in einer Laune war, daß man sie am liebsten geohrfeigt hätte. Von der Galerie Corsini ist mir nur die Murillo’sche Madonna und ein Christuskopf von Guido Reni in Erinnerung geblieben. Ich verstand ganz gut, daß Vater diese Besichtigung als verlorene Zeit für seine Person auffaßte. Dafür entschädigte er sich am Nachmittag durch einen Bummel auf dem Pincio, wo wir dem Corso der vornehmen Römer zuschauten. Equipage gilt hier, eingestandenermaßen selbst von der Kirche aus, nicht als Luxus, sondern als notwendige Repräsentation des Adels. Der Wert, der darauf gelegt wird, ist so groß, daß sich verarmte Familien lieber das Essen tragen lassen und ihre Paläste vermieten, als daß sie darauf verzichten. Meist haben sie schwere Carossiers, wundervolle Pferde, aber nicht meine Vorliebe; Wagen, Geschirre und Livreen sind tadellos, ganz englischer Geschmack. So fahren sie nun Tag für Tag, meist im geschlossenen Wagen, um die Anlagen herum, halten auf einem Rondell und besuchen sich gegenseitig. Was das für ein Genuß sein soll, ist mir unverständlich! Die Königin fährt dagegen meist im offenen Vierspänner mit scharlachroten Livreen. Sie hat rot gefärbte Haare, sieht aber noch gut und namentlich äußerst liebenswürdig aus. – Der Blick vom Pincio ist mir noch lieber als der vom Janiculus: Das Bild ist gedrängter und eingeschlossener und hat in der Peterskuppel einen solchen harmonischen, ruhigen Abschluß. Wir begannen die Woche gleich ernsthaft und gründlich, indem wir die Statuensammlung im Vatikan besichtigten. Sie interessierte und fesselte mich viel mehr als die Bildergalerien. Es sind wenig unter den alten Bildern der Italiener, die auf den ersten Blick dem modern gewöhnten Geschmack gefallen. Es gehört eine längere geistige Arbeit dazu, ein Versenken in die Auffassung und den Geist der damaligen Zeit, ein Herausschälen des Gedankens und des Empfindens aus der oft unvollkommenen, gefangenen Ausführung, ehe man den wahren Wert erkennt. Nicht so bei den herrlichen Statuen! Ihre unerreichte, ewige Schönheit, ihre gewaltige, edle Größe spricht vom ersten Augenblick an mit einer siegenden Gewalt zum Herzen.Viele Werke grüßten mich wie alte Bekannte, so vertraut waren sie uns durch Abbildungen und Kopien. Aber ich glaube, auch der gänzlich unvorbereitete Mensch, sofern er nur ein Gefühl für Schönheit hat, muß hier erkennen: Das ist Natur in ihrer reinsten, edelsten Gestalt, das ist die höchste Kunst, deren der Mensch je fähig war! Wir haben alles gesehen, wenn auch bei der Fülle der Schätze dies erste Mal nicht gründlich genug. Baedekers Führung ist auch darin vortrefflich. Vater sah sämtliche besternten Größen⁶⁰ und danach noch ein oder das Andere,

60 Skulpturen, die im Baedeker einen Stern haben.

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worauf Mutter ihn aufmerksam machte, und hatte damit ganz genug. Er war davon so begeistert und empfand die Schönheit so lebhaft, wie ich es nie für möglich gehalten hatte! Nach den eisigen, farblosen Galerien entzückt der kleine Säulenhof des Belvedere wie ein südliches Märchen. Es ist so blendend sonnig, so tropisch heiß auf dem Mosaikboden, wenn man dort über Mittag hineintritt. In der Mitte plätschert träumerisch ein kleiner bizarrer Brunnen, üppige Riesensumpfdotterblumen wuchern darüber und hoch oben ein Stückchen tiefblauer Himmel. Das ist der Süden in seiner verlockenden, erschlaffenden, süßen Gewalt! Der Nachmittag war strahlend schön und klar, wie geschaffen zum Besuch des Palatin. Die großartigen Trümmer der alten Kaiserpaläste waren mir nicht so wohlbekannt von Bildern wie die Ruinen des Forum Romanum, gefielen mir aber viel mehr! Die einzelnen Partien und Gebäude des Forum sind ja unvergleichlich, aber der ganze Plan ist mir zu ordentlich, zu aufgeräumt, ein Museum unter freiem Himmel! Während auf dem Palatin gerade die romantische Wildnis, der Kontrast von Stein und jungem Grün entzückt. Hier bekommt man einen Begriff von der verschwenderischen Pracht, von dem unermeßlichen Reichtum der Kaiserzeit. Diese Räume, diese Maßverhältnisse, diese Fülle an Fragmenten, Säulen, Marmorverzierungen – auf den Wink eines Menschen aus dem Boden hervorgewachsen – ich fing an, zu verstehen, daß die römischen Kaiser in frevelhaftem Wahnsinn sich Gott gleich zu sein dünkten und daß diese ganze Herrlichkeit so rasch, so unglaubhaft rasch, in Trümmer sinken mußte! Jetzt wucherte frisches Frühlingsgrün aus allen Rissen und Höhlen, die Cypressen hoben sich wirkungsvoll von dem rotbraunen, herrlichen Gemäuer und bei dem klaren Wetter konnte der Blick nach allen Seiten in die Weite schweifen, bis an die blauen, zarten Formen der Albaner und Sabiner Berge. Wir wurden nicht müde, auf allen Seiten herumzulaufen, bis die untergehende Sonne und damit eintretende empfindliche Kälte uns heimwärts trieb. Dienstagmorgen sahen wir die andere Hälfte der vatikanischen Herrlichkeiten: Sistina, Stanzen, Bildergalerie und Loggien. Erstere hatte ich mir nicht so klein und nicht so dunkel erwartet. Das Sehen der herrlichen Decke war mir ohne Glas und vor Genickschmerzen kaum möglich. Die guten Reproduktionen und Photographien geben einen klareren und namentlich bequemeren Begriff davon. Ich liebe sie mehr als Alles, was ich an Malerei gesehen, wie ich Michelangelo überhaupt höher als Raffael stelle. Adams Erschaffung ist unvergleichlich; man fühlt, daß so der erste Mensch, nach Gottes Ebenbild geschaffen, ausgesehen haben kann – ja, ich möchte fast sagen – muß! Was mir an der Kapelle besonders gefällt, ist die große Einheitlichkeit im Farbton. Jedes Fleckchen ist bunt gemalt oder vergoldet, und doch ist der Effekt, besonders wenn goldene Sonnenstrahlen von oben hereinfallen, harmonisch und wohltuend. Stanzen und Galerie konnten wir vor Menschen nicht genießen. In

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einer enggestopften, Bemerkungen machenden Menge – Bilder zu sehen – das geht einfach nicht! Dagegen begeisterten mich die Loggien, in denen sich Architektur, Malerei, Raumverhältnisse und Farbe zu einem Licht, Luft und Fröhlichkeit strahlenden Ganzen vereinigte. Am Ende eines der Gänge, vor den Zimmern des Papstes, lustwandelten zwei Kardinäle, (der eine war Rampolla)⁶¹ in ernste Gespräche versunken, und gaben mit ihren schönen Gewändern und charaktervollen Gesichtern die passendste Staffage für den schönen Raum. – Ich hatte das Gefühl, als ob sie sich dessen bewußt waren! Am Nachmittag fuhren wir, um auszuruhen, drei Stunden lang durch die Campagna. Sie verblüfft zuerst durch ihren vollständigen Gegensatz zu dem, was man unter „schöner Gegend“ versteht. Aber sie hat einen eigentümlichen herben Reiz, eine leise Melancholie in Stimmung und Färbung, die die Seele mit sanfter Gewalt gefangen nimmt: Einförmige Weinfelder und Obstgärten, braunrotes Gras, das im Winde weht – in der Ferne die edlen Linien der blauen Berge – dazwischen auch hier immer wieder Spuren der großen Vergangenheit – Tempelreste, Römergräber, die langen Arkadenreihen der großartigen Aquäducte, die gepflasterten Straßen; – wenig Menschen – zuweilen ein malerischer Campagna-Wagen mit einem braunen Jungen darauf – die Hirten, mit ihren kühn geschnittenen, dunklen Gesichtern und ihrer bunten Tracht, mit langen Stäben in der Hand auf den schweren Gäulen dahintrabend – kleine Eselwagen, mit Gemüse beladen – das ist wohl das einzige Leben hier draußen. Durch die Via Appia Antica, die alte Gräberstraße, an der sich Grabmal an Grabmal reiht und die alten römischen Meilensteine noch von dem auf Ewigkeiten gebauten und so schnell verfallenen römischen Staatsgebilde zeugen, kehrten wir heim. Die endlosen Mauern, die den Weg zu beiden Seiten zuletzt begleiten, sind ertötend und der zerfallene Drusus-Bogen bringt Abwechslung fürs Auge. Noch nicht genug mit den Leistungen des Tages, gingen wir nach dem Essen mit Heydens und Miltitzens, um das Coliseo bei Mondschein zu sehen. Kaum ein Fremder verläßt Rom, ohne dies getan zu haben und doch ist es ein gefährliches Unternehmen wegen der dort nachts aufsteigenden Fieberdünste, die man förmlich glaubt ziehen und brauen zu sehen. Aber trotzdem möchte ich es Jedem raten, sich diesen Genuß zu verschaffen. Die Riesenarena ist schaurig schön in dem kalten weißen Mondlicht, das durch die zerfallenen Arkaden und Galerien ungehindert hereinflutet. Alle détails, die sonst den Geist beschäftigen und von dem gewaltigen

61 Mariano Kardinal Rampolla del Tindaro (1843 – 1913), Kardinalstaatssekretär während des Pontifikats Leos XIII. und eine der führenden Persönlichkeiten der katholischen Kirche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

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Gesamteindruck ablenken, verschwinden in tiefem, schwarzem Schatten. Die riesengroße Anlage des Ganzen, die unvergleichlichen Maßverhältnisse lernt man nur so erfassen. Und gleichzeitig steigen in der Stille der Nacht Gedanken auf an die schaurige Vergangenheit, an die Fülle des menschlichen Elends und der menschlichen Verrohung, an die unausdenkbaren Leiden und an die herrlichen Siege, die hier an dieser Stätte ihren Schauplatz gefunden! Sie alle sind vorüber – untergegangen – überwunden; – nur die Steine zeugen noch davon und ewiger und herrlicher als diese – das Christentum. Ja, Gloria victis! Aber daneben fragt man sich mit Entsetzen: Was ist aus diesem so teuer errungenen Christentum geworden? Was haben, besonders hier in diesem Rom, die Menschen für einen Götzendienst daraus gemacht! Über das Forum, das im Mondschein traumhaft schön vor uns lag und durch den weißschimmernden Titusbogen gingen wir schweigend heim! Der ganze nächste Vormittag war dem Kapitol gewidmet. Im Museum läßt mich die berühmte Venus ziemlich kalt, wenn ich auch zugeben muß, daß sie wunderschön ist; dagegen war mir der Fechter wie eine Offenbarung. Es ist kaum zu fassen, wie ein an sich nicht schöner Gegenstand, realistisch behandelt, durch die Größe der Auffassung, die edle Einfachheit der Behandlung so unmittelbar zu dem Edelsten, was in uns ist, reden kann! 260 Stufen klettert man auf den Capitolsturm, um dann aber auch die ganze Stadt wie auf einer Landkarte zu seinen Füßen liegen zu sehen. Tante Higa wartete oben unser, und in diesem Fall konnte sie uns mit ihrer Gründlichkeit und ihrem Wissen nicht erwünschter sein. Es war der klarste Tag, den wir in Rom erlebt, sodaß der Blick großartig war. Die gelbrote warme Färbung und die Anzahl Kirchen sind das Charakteristische Roms. Die sieben Hügel verschwinden unter dem Häusermeer, wenn sie auch beim Besteigen fühlbar genug sind. Von der Mittagshitze gingen wir in die eisige, uralte und ungefuge⁶² Kirche von Aracoeli, in der schöne Grabdenkmäler und – der Hauptanziehungspunkt – das berühmte „Bambino“ sich befinden. Unter einer Glasglocke auf einem Altar steht dies wundertätige Christuskind, eine Wickelpuppe niederster Gattung, mit Geschenken der dankbaren Eltern: Ringen, Orden, den herrlichsten Schmuckstücken, Smaragden und Brillanten, so bedeckt, daß es einem indischen Götzenbild gleicht. Erkrankt ein Kind ernstlich, so schickt man nach diesem Popanz – Briefe, auf denen „Urgente“ stand, lagen dem Kind zu Füßen – worauf es in seiner eigenen Equipage zu den Betreffenden hinfährt und von den kranken Kindern angebetet wird. Einmal nun kam das Bambino von solchem Ausflug mit Beinen wieder, die eine dankbare reiche Mutter an den ursprünglichen Balg hatte anschrauben lassen und – alle Welt

62 Bedeutet: Klobig, unförmig.

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pries das große Wunder und feierte Dankfeste! – Es ist zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre! – Ich bin früher sehr lax gegen die katholische Kirche gewesen, weil mich vieles an ihr, ihre Disziplin, Einigkeit und Klugheit anzog. Aber nach Allem was ich in Rom, besonders in der Karwoche gesehen und gehört habe, ist das vorbei. Ich bin ein viel überzeugterer Protestant geworden und muß mich hüten, nicht intolerant gegen die andere Confession zu werden, die Katholiken nicht mit der Lehre zu verwechseln! Aber das ist schwer, wenn man das würdelose, unheilige Treiben der Italiener, selbst der Priester, in den Kirchen sieht. Selbst die guten deutschen Katholiken wie Ritters sind ganz entrüstet und betrübt darüber. Von dem Ritus und der Musik hatte ich mir mehr erwartet; sie scheint so ohne tiefen Gehalt, so ganz auf die Sinne berechnet. So war es überall: Am Mittwoch in Maria Maggiore, einer herrlichen, prächtigen Basilika, weidete ich mich an dem schönen Bild, ganz à la Passini,⁶³ vor mir. Der erleuchtete Altar mit den vielen Flämmchen in der reich geschmückten Apsis, rechts und links die alten Chorherren, deren lila, weiß und goldene Gewänder wundervoll zu dem Braun der geschnitzten Chorstühle kontrastierten – darüber schwebend kleine Weihrauchwolken – von den durch buntes Glas gebrochenen Sonnenstrahlen beschienen – es war ein begeisternder Effekt! Aber auch eben nichts weiter als das! Dazu wirkten die ewigen, eintönigen Lamentationen, deren Klang mich an das Geschrei von Truthühnern erinnerte und die geplapperten Responsorien, so einschläfernd, daß ich beinahe schon weg war. Sabine war entrüstet über junge Priester, die laut und frech mit Mädchen aus dem Volk geflirtet und geschäkert, während ein anderer, in andächtiges Gebet versunken daneben auf den Stufen des Altars lag. Auch in St. Peter, wo wir am Gründonnerstag zur Altarwäsche waren, schwatzten die Priester ohne Aufhören. Merkwürdig sind die Cardinäle, die stundenlang in ihrer roten Pracht in den Kirchen sitzen und mit einer Angelrute segnen und Sünden vergeben. Jeder Vorübergehende, Mann, Frau oder Kind (letztere oft widerwillig, von den Eltern vorgepufft), kniet einen Moment auf den Teppich, erhält einen leichten Schlag auf den Kopf und ist seiner Sünden los und ledig. Der Gesang in St. Peter ist besonders schlecht; das herrliche Miserere war durch verschiedene gequetschte, unangenehme Stimmen ganz verdorben. Die sogenannte Altarwäsche, bei der die Priester singend den Altar mit großen Spinnenköpfen bearbeiten, wirkt eher komisch als erbaulich, und selbst der Moment, da spät am Abend, wenn alle Lichter verlöscht und das Miserere verklungen, die Reliquien hoch vom Balkon herunter gezeigt werden, war durch die große Unruhe und die geteilte Andacht verdorben. Eigentümlich ist im Miserere der Moment des Erdbebens, der durch Klopfen auf die Bänke und Weinbergratschen künstlich dargestellt wird und eher an ein Kasper-

63 Ludwig Passini (1832 – 1903), österreichischer Maler, der länger in Rom und Venedig lebte.

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letheater als an die Kirche gemahnt. Wirkliche Andacht empfand ich nur im Lateran am Charfreitag; wir hatten uns weit vorgedrängt, sodaß wir unter stillerem Publikum standen und die schönen Stimmen im Miserere voll genießen konnten. Das war wirklich auch nach unseren Begriffen guter Gesang, wenn er sich auch z. B. mit dem Domchor nicht messen kann! Aber was wir an Weihe empfunden, ging uns beim Anblick der Scala Santa wieder verlustig. Muß sich denn nicht Alles in uns empören, wenn wir sehen, wie sich eine Fülle von Menschen aus allen Kreisen auf den Knien rutschend, Stufe für Stufe, eine Treppe hinaufwälzt? Und das, um ihre Seele zu retten? Es drehte sich mir wirklich das Herz um, bei diesem Anblick. Und trotzdem! Treten angesichts dieser Verirrungen täglich Protestanten zur katholischen Kirche über! In England muß ein enormer Abfall sein. Sieht man doch in den Kirchen, auf Schritt und Tritt englische Priester, Nonnen und Katholiken und existieren doch hier große, blühende Collegien für English converts. Auch in unserem Hotel konvertierte in der Charwoche eine Frl. Bonné, die Miltitz’sche Gouvernante, eine protestantische Pastorentochter. Ich bin überzeugt, daß sie nicht durch die Lehre oder den Ritus, sondern nur durch das Beispiel, das Leben der Familie Miltitz, die vorzügliche Menschen sind, gewonnen wurde. Aber was gibt es gerade hier zu überwinden, bis der Entschluß reif geworden. Sie sah sterbenselend aus, verschwand dann einige Tage in das kleine Kloster Santa Maria Reparatrice, die allgemeine Ausbüglerin, und kehrte zu Ostern fröhlich, beruhigt und katholisch wieder. Und das ist nur eine von Hunderten! Da fühlten wir uns doch in unserer Botschaftskapelle, dürftig und klein wie sie ist, bedeutend heimischer. Wir bedauerten nur, daß man gerade für solchen Posten keinen besseren Kanzelredner gewählt. An Klugheit haben wir überhaupt von der katholischen Kirche zu lernen. Zwischen all dem vielen Sehen und Hören ging ein netter Verkehr mit den vielen Verwandten und Bekannten, die sich zusammengefunden. Besonders lieb war uns der mit Tante Johanna Butler, die ich erst kennenlernte und sehr lieb gewann. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und unserem Vater frappierte alle Menschen und machte uns große Freude. Heydens trafen wir auch überall, da sie einem Neffen, Axel Heyden, den sie hatten kommen lassen, die honneurs machten! Am Abend kam zuweilen der junge Eberstein aus Mohrungen, der ein halbes Jahr im Süden ist, um die Welt zu sehen und zu malen. Letzteres war schwach, wenn auch nicht ohne Talent. Leider überwarfen wir uns etwas mit ihm, da er um die Kritik seiner Bilder bat und dieselbe, die offen, aber nicht unfreundlich war, nicht ertragen konnte. Mit Spitzembergs unternahmen wir allerhand, so am Donnerstagvormittag einen Besuch der Caracalla-Thermen und des Aventin. Die Thermen sind so groß, daß alles andere vorher Gesehene mir wieder klein daneben erschien. Im frühen Morgensonnenschein unter dem dunkelblauen Himmel machten sie einen präch-

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tigen Eindruck und ließen uns sehnsüchtig der Zeit gedenken, da alles noch von Marmor und Mosaiken glänzte, da Wasser plätscherte, Riesenfächer Kühlung wehten, Wohlgerüche die Luft erfüllten und die üppigen Römer hier ihr Schlaraffenland führten. Auf dem Aventin liegt außer einigen alten interessanten Kirchen die reizende Villa Malta, das Heim der Ordensritter, trotz seiner hohen Lage zu feucht und ungesund zum Bewohnen. Aber schön ist es da oben – zu Füßen die Stadt mit dem gelbgrünen, sich schlängelnden Tiberstrom und der Peterskuppel – im wohlgepflegten Garten alte Oliven, Orangen, Cakteen, selbst Palmen, eine Fülle von Blumen und Schlingpflanzen; – der Eindruck des Friedens wurde noch vermehrt durch eine herrliche weiße Angorakatze, die in der Sonne lag und behaglich schnurrte. Wie wir erfuhren, war sie un gatto surdo, ⁶⁴ und deswegen an den Gärtner weggegeben. Die Katzen haben hier ein wahres Paradies:Vor allen Läden, zwischen allen Trümmern, in allen Gärten führen sie ein ungefährdetes Dasein. Die Fülle der Menschen ist nun Ostern ganz unsagbar; außer den Fremden strömen Pilger, Mönche und Bettler aus ganz Italien zusammen. In den Trams fährt eine unbeschränkte Zahl Passagiere, da niemals, wie bei uns, jemand abgewiesen wird. Der Wagen wird vorn und hinten einfach gestürmt; geht er dann los, so fallen die Überzähligen, die faktisch keinen Platz zum Stehen fanden, von selbst herunter. Oh es geht alles so gemütlich und einfach! Auch in den Kirchen wird man im ärgsten Mob nicht gepufft oder gedrängt, daran erkennt man die Fremden, die immer die vordersten sein wollen. Der Italiener ist nie grob oder rüpelhaft wie der Deutsche und Engländer. Er wartet ruhig ab und gibt sich leicht zufrieden. Pazienza! ⁶⁵ Das ist sein Motto! Unangenehm sind nur der gräßliche Knoblauchgeruch und das Ungeziefer. Ich habe manchmal hinter Bettelmönchen gestanden, auf deren Kutten es von Flöhen förmlich wimmelte! Der Sonnabend vereinigte in sich die verschiedensten Genüsse: Einen Besuch des glänzenden, vornehmen Palazzo Colonna, des herrlichen Moses von Michelangelo, ein gründliches Studium des Forum, von dem Vater gar nicht genug kriegen kann, die Besichtigung der Fresken auf dem Caffarelli,⁶⁶ die Professor Prell für den Kaiser malte und Heydens und uns selbst erklärte. Sie stellen den Kampf der Jahreszeiten dar, angelehnt an nordische Sagen, und gefielen uns, besonders in den Farben recht gut. Leider kann der Kaiser nicht, wie er plante, zur Eröffnungsfeier herkommen.

64 Übersetzt: „eine taube Katze“. 65 Geduld! 66 Der Palazzo Caffarelli auf dem Kapitol war damals die deutsche Botschaft in Rom

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Die römische Künstlerschaft, die ihn schon „einen lateinischen, nicht einen deutschen“ Kaiser genannt, soll arg enttäuscht sein. Im Gegensatz zu diesem Lob hörten wir eine amüsante kleine Episode, die sich beim letzten Besuch unseres Kaisers im Quirinal zugetragen. Es herrschte, wie schon öfters, eines Abends tödliche Langeweile, als der Kaiser, thatendurstig wie immer, den Vorschlag machte, die Garnison zu alarmieren. Darauf allgemeines Entsetzen bei denen, die in die militärischen Verhältnisse Italiens eingeweiht. Die Königin ruft nach Riechsalz – Umbertos Schnurrbart wird länger und länger – die Generäle erbleichen – verschiedene Damen fallen in Ohnmacht! Schließlich kommt jemand auf den rettenden Gedanken, der plötzliche Schreck könnte für den alten Papst die bedenklichsten Folgen haben. So unterbleibt es denn; aber die Königin soll später geäußert haben: „Ce cher empereur – il lui manque la délicatesse des races latines!“⁶⁷ Am Sonnabend Nachmittag hatte uns Gottlieb Jagow mit Spitzembergs, Belows, einem sehr lustigen Herrn von Plessen und einem greulich unsympathischen Grafen Dönhoff zum Thee eingeladen. Er ist Attaché und hat oben auf dem Caffarelli eine ideale Wohnung inne. Der Blick von seinem Balkon ist einer der schönsten in Rom; sein Zimmer mit großem Geschmack und herrlichen Kunstgegenständen eingerichtet: Er ist, „anders wie alle anderen“, aber mir eigentlich von jeher sehr sympathisch. Eine große Überraschung bereitete mir Frau von Below. Ich hatte so viel von ihr schwärmen hören, selbst von den anspruchsvollsten Herren, wußte, daß sie la pluie et le beau temps ⁶⁸ in Rom macht, und war daher erstaunt, eine überaus einfache, mädchenhafte junge Frau zu finden, in ländlichem, nichts weniger als elegantem Anzug, die alles eher hätte sein können als eine routinierte Diplomatenfrau. Ihr großer Charme, ihre Natürlichkeit und Unbefangenheit nehmen alle Menschen gefangen, dabei soll sie ihre Pflichten als Frau ihres Mannes, den Verkehr mit den „Schwarzen“, Kardinälen, Priestern und Kammerherren, ganz vorzüglich erfüllen und trotz ihrer anscheinenden Harmlosigkeit der Situation ganz gewachsen sein. Besser noch als sie gefällt mir ihr Mann; er macht solch durch und durch guten, anständigen Eindruck. Am Ostersonntag nach der Kirche ging die erste größere Partie vonstatten. Da Vater sich etwas erkältet fühlte, blieben die Eltern zu Haus und stellten uns unter die Chaperonage des jungen Heyden. Eigentlich war es umgekehrt! Auf der Bahn großes Rendez-vous mit Spitzembergs, Wolfram Rotenhan, Below, Ritters mit Kindern und

67 Übersetzt: „Dieser liebe Kaiser, ihm fehlt das Feingefühl der lateinischen Rassen!“ 68 Übersetzt: „den Regen und das gute Wetter macht“; d. h. die tonangebende Dame in Rom ist.

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der Mutter Holnstein, Kageneck, Guisbert Ritter, und einem Geschwisterpaar Gumppenberg. Mit der Bahn nach Frascati gelangt, lagerten wir uns über dem lieblichen Ort in einer Villa Rufinella, wo wir das fidelste Picnic von der Welt hielten. Selbst die Unbequemlichkeiten und kleinen Unglücksfälle bei solchem Futtern im Freien tragen da zur Heiterkeit bei. Die Gesellschaft teilte sich gegen Abend: Ritters und Gumppenbergs kehrten heim, während wir nach Tusculum hinaufstiegen und einen herrlichen Abend da erlebten. Die Gegend ist eher lieblich als schön und kann sich mit den schönen Partien Thüringens nicht vergleichen. Auch war die ganze Vegetation noch zurück, sodaß man einen sehr südlichen Charakter vermißte. Aber die Luft war so klar dort oben, der Sonnenuntergang köstlich und die Stimmung österlich froh. Auf einem alten Steinaltar machten wir ein kleines Opferfeuer, Hanna fungierte als schöne Priesterin – der alte Cicero würde sich in seinem Grabe gefreut haben! Der Abstieg war fast das Schönste; zwischen dem Pinienwald schimmerte feurig rot die sinkende Sonne und in der Ferne leuchtete ein schmaler, glänzender Streifen – das Meer! In der kleinen Osteria verzehrten wir seelenvergnügt schlechtes kaltes Capretto – ein zähes Zicklein – und famose Maccaroni. Noch fideler wie wir war unser zahlreiches Gefolge an Eseltreibern, Mantelträgern, Wegweisern und Kindern, die sich über den Rest des Weins hergemacht und wie alle Italiener wenig vertragen konnten. Davon erlebten wir noch auf der Rückfahrt von der Bahn ins Hotel ein Stücklein; natürlich muß immer so etwas passieren, wenn man mit einem jungen Mann allein ist! Unser betrunkener Kutscher sauste nämlich in eine fremde Droschke, sodaß mir auf einmal der Kopf eines Schimmels in bedenkliche Nähe rückte. Wir sprangen bald heraus – es sammelte sich eine verdächtige Menge, die viel schrie und gestikulierte, aber keine Hand rührte, um die Wagen auseinander zu bringen. Wir gingen daher zu Fuß nach Haus, nachdem wir uns mit dem Kutscher über den Fahrpreis wie wütend gezankt. Der Kerl kam uns ins Hotel nach, wo leider weder Portier noch deutscher Kellner zur Stelle. In unserem Sprachschatz fand sich kein italienisches Schimpfwort und als Heyden endlich etwas von stupido herausgackste, schmetterte uns der Mann mit einem „E voi, ch’è stupido“!⁶⁹ zu Boden. Da gaben wir nach! Ich muß aber sagen, daß dies der erste und letzte Streit mit einem Kutscher blieb; meist sind sie ganz zufrieden und dankbar für das kleinste Trinkgeld. Der Ostermontag war mehr der Geselligkeit als der Stadt gewidmet, da viele Sehenswürdigkeiten geschlossen waren. Wir machten verschiedene Besuche, waren

69 Übersetzt: „Und Sie, Sie Dummer!“

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zu einem sehr eleganten Frühstück bei Rotenhan, zum Essen bei Tante Butler und sonst auf Pincio und Corso. Früh besuchten wir die Diokletiansthermen. Sie machen keinen so überwältigenden Eindruck wie die anderen, da sie zum Teil ausgebaut und im Gebrauch als Schuppen und Lager sind, zeichnen sich aber durch einen reizenden inneren Hof und eine kleine Elitesammlung aus. Der Knabe von Subiaco und ein verschleierter Venustorso gefielen mir ganz besonders! Dienstag – Regentag! Die geplante Partie nach Tivoli wurde leider aufgegeben, und stattdessen für Neapel gepackt, nicht ohne Sorgen für das kommende Wetter. Aber das ist eben das wundervolle Klima hier, daß sich das Wetter so rasch erholt! Bei uns würde es nach solchem Regentag weitermachen oder stark abgekühlt sein; dort ist am nächsten Morgen reines Sommerwetter. Und solch vereinzelter Regentag kommt sowohl der Korrespondenz, als den kleinen Näharbeiten, als – dies die Hauptsache – den Nerven zugut! – Ganz thatenlos braucht man deswegen ja in Rom nie zu sein. Wir besuchten mit Heydens und einer Frau Ahlers, der Käuferin, das Atelier des berühmtesten Aquarellisten hier, Rösler-Franz.⁷⁰ Trotz des deutschen Namens ist er ganz Italiener, spricht nur ein wenig Französisch. Er war riesig liebenswürdig, improvisierte im Atelier einen Junggesellen-Thee und packte Mappen voll Aquarellen aus. Da sah ich Landschaften, daß ich gar nicht wußte, ob ich begeistert über solche Kunst oder melancholisch über meine Talentlosigkeit sein sollte. Es war schwer, sich zu entscheiden unter der Fülle des Schönen; mir gefiel am besten eine Campagna-Stimmung und eine Partie aus der Villa d’Este. Heyden kaufte seiner Frau eine Brücke S. Pietro, nachdem er, wie dies bei selbst den ersten Künstlern gang und gäbe, den Preis um ein Bedeutendes heruntergehandelt hatte. Nach endlosem Beraten und Telegraphieren um Quartier verließen wir Mittwoch, den 5ten April Rom und reisten in Begleitung von Spitzembergs und von einem jungen Grafen Kageneck, Badenser und Freund Lothars, nach Napoli. Die Route führt durch herrliche Gegenden, die in gewittriger, wechselnder Beleuchtung doppelt schön wirkten. Bald senkten sich Wolkenschatten über die üppigen Gefilde, bald trat ein weißes Dorf, ein grünes Tal, ein altes Kloster, durch einen hellen Sonnenblitz beschienen, malerisch aus der übrigen Landschaft hervor. Die Ankunft in Neapel war uns von sämtlichen Bekannten als eine wahre Schlacht, eine lebensgefährliche Prozedur geschildert und Baedeker gab den weisen Rat: Man wappne sich mit Geduld! Woran es nun lag – uns wurde diese Erfahrung nicht zuteil. Es herrschte allerdings ein sinnenverwirrendes Geschrei, aber wir hatten

70 Ettore Roesler Franz (1845 – 1907), italienischer Maler böhmischer Abstammung, schuf vor allem Stadtansichten von Rom.

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Mühe, einen Gepäckträger aufzutreiben. Nun, von solchen Erlebnissen sollten wir noch genug bekommen! Unser Hotel, Continental, lag entzückend, dicht am Meer, mit dem Blick über den ganzen Golf und auf den Vesuv. Es machte mir doch eine eigentümliche Freude, als ich zum ersten Mal das Rauchwölkchen über dem Berg schweben sah und als durch das Dunkel der Nacht die Risse und Spalten auf der Seite des Kegels zu uns herüberglühten! Die deutschen Besitzer waren so aufmerksam, hilfsbereit und angenehm, daß wir uns trotz der Überfüllung wie zu Hause fühlten. In einem Riesenraum wohnten Tante, Hanna, Sabine und ich in schöner Eintracht. Sämtliche Betten und Waschtische waren so sinnreich in Alkoven und Wandschränken angebracht, daß wir untertags den herrlichsten Salon, beinahe Tanzsaal für uns hatten und sogar Herrenbesuch, Kageneck nämlich, darin empfangen konnten. Leider ward Tante Higa in der Nacht krank, an gastrischen Zuständen und mußte einige Tage lang Bett und Zimmer hüten. Das war ein arger Strich durch die Rechnung für die Armen und hätte auch uns die Reise recht verderben können, wenn Vater nicht sofort den edlen Wettstreit, der sich nun entspann, dahin entschieden hätte, daß wir ganz unsere eigenen Wege gehen und die Zeit ausnützen müßten. Das war entschieden am besten so; helfen konnten wir ihr doch nichts und hätten die Reise umsonst gemacht, da Vater wenig Zeit hatte und jeder Tag voll besetzt war. Hanna blieb bei ihrer Mutter und war trotz der Störung ganz befriedigt. Das Wetter war am Donnerstag so herrlich klar und schön, daß uns sämtliche Hotelleute dringend zur Vesuv-Partie zuredeten. Das Glück am Schopf zu nehmen, war stets unser Prinzip; so bestiegen wir eilig einen vom Portier bestellten viersitzigen Wagen und fort ging es, ohne die geringste Vorbereitung oder Erklärung, ohne, wie früher geplant, unter Cook’scher Leitung. Wir waren so gänzlich unwissend über unsere Zukunft, daß wir uns einbildeten, die Drahtseilbahn wäre in einer halben, und nicht in 4 ½ Stunden zu erreichen und erst unterwegs im Baedeker Ratschluß darüber einholten. Dies gab uns zuerst ein höchst unbehagliches Gefühl, ganz dem Zufall und der Gnade des Kutschers preisgegeben zu sein und ließ uns erst aufatmen, als wir uns auf steil ansteigender Straße in der Reihe Cook’scher Wagen befanden. Wohl 1 ½ Stunden fuhren wir durch die Stadt mit ihren Vororten Portici und Resina und sahen dabei viel vom echten, schmutzigen, engen alten Neapel und seinem originellen, bunten Straßenleben. Oh ich wünschte, nur mehr sehen zu können von den drolligen, malerischen Gruppen, dieser Lebhaftigkeit und Ursprünglichkeit. Der Schmutz war maßlos – bodenlos! Es sträubten sich uns die Haare öfters beim Anblick dieser Nahrungsmittel und Kochereien. Die Straßen wurden enger und enger, die Wohnungen immer erbärmlicher – auf einmal fuhr uns der Kutscher in einen glühend heißen, winkeligen kleinen Platz – der Wagen hielt – wir wurden umringt von einem Haufen zerlumpter, schreiender Männer und Weiber, die uns mit entsetzlichem Lärm und vielen Gesten erklärten, daß wir hier

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Vorspann erhalten sollten. Ein jammervoller Schimmel ward denn auch mit Bindfaden und Strippen noch vor unseren Wagen gespannt und mit fürchterlichem Schimpfen und Antreiben in Bewegung gebracht. Es war kein schöner Moment, besonders da die Bettler unseren fühllosen Zustand nach Kräften ausnutzten und wir gewärtig sein mußten, daß die ganze Rotte uns für die geleisteten Dienste ausrauben würde. Dem war aber nicht so, nur der Vorspannkutscher lief die ganze Zeit mit und nötigte uns aufrichtige Bewunderung für seine Leistungsfähigkeit ab. Was der Mensch sich angestrengt, auf diesem beschwerlichen Weg bald die Pferde anzutreiben, bald vorn, bald hinten die Räder zu stützen, überall zu helfen und zu schützen, war wirklich erstaunlich! Er war, wie wir erfuhren, Compagnon des Kutschers und in dessen Preis mit eingeschlossen. So war die ganze Sache aufs Beste geregelt und unsere Nervosität unberechtigt gewesen. Für einige Soldi und eine Zigarre erschöpfte sich der arme Kerl in Dankesworten und Hutschwenken zum Abschied. Dagegen sind die Bettler auf dieser Straße von einer Anzahl und Unverschämtheit, die jeder Beschreibung spottet, und bei der Steilheit des Wegs, der von Mauern umschlossenen Straße, ist man gänzlich unfähig, sie loszuwerden. Musikbanden, Blumenmädchen, Orangenverkäufer, Krüppel, Lahme und Kinder umschwärmen unausgesetzt die Wagen, klettern auf die Räder, hängen sich hinten an und suchen mit lauten Bitten, ausdrucksvollen Gebärden auf ihre Gebrechen, ihre Künste oder ihre zweifelhaften Waren aufmerksam zu machen. Verwelkte Blumen und angebissene Früchte sind alltägliche Freuden; als aber ein schmieriger Bengel uns eine Maultrommel aus seinem Mund heraus verkaufen wollte, riß Vater die Geduld! Besonders interessant wird der Weg, wenn er in steiler Serpentine die Lavafelder erreicht. Er ist zwischen die starren Massen hineingehauen und muß oft verlegt werden, wenn neue gleißende Ströme ihn unterbrechen. Bezeichnend für den mangelnden Unternehmungsgeist der Neapolitaner ist es, daß Cook diesen ganzen Verkehr unter sich hat und natürlich horrendes Geld dabei verdient. Von der Oede auf diesen toten, in den bizarresten Gebilden erstarrten Gefilden macht man sich keinen Begriff. Unheimliche phantastische Gestalten: Giganten – Drachen – Gespenster – monströse Tierköpfe glaubt das Auge in diesen grauen, wunderbaren Massen zu erkennen, die sich stundenlang übereinander türmen; da, wo die Lava von 1895 liegt, von Asche und, höher hinauf von gelbem Schwefel bedeckt. Darüber die rauchende Kuppe des Vesuvs, düster und unheildrohend – unwillkürlich kam uns das Wort: „Und die Erde war wüst und leer!“ in den Sinn und schien greifbare Wirklichkeit zu erhalten. Dazwischen in einer Mulde, in der spärliche Vegetation sich angesetzt hatte, weidete eine Schar buntgescheckter Ziegen im warmen Sonnenschein – ein reizvoller Kontrast: Das frische Leben, vom toten Gestein umrahmt.

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Endlich waren wir, vorbei am Observatorium, an der Station angelangt, stärkten uns in der Restauration und warteten auf unseren Wagen der Drahtseilbahn, die an diesem Tage 200 Menschen hinauf beförderte. Die 25 Minuten von der oberen Station bis zum Krater, die man nur mit Führer zurücklegen darf, wurden uns blutsauer, besonders der armen Mutter. Bis sie der alte Neapolitaner am krummen Arm hinaufzog. Bis über die Knöchel im Aschenstaub versinkend, arbeiteten wir uns mühsam empor, halb erstickt von Rauch und Schwefelgestank, im Kampf gegen den Sturm, der uns den feinen Staub in Augen und Mund trieb. Nun standen wir am Rand des Kraters, der mit gelbem Qualm gefüllt, von dumpfem Donner und Brodeln erdröhnend, einen schauerlichen Eindruck machte. Wie der Eingang zur Hölle erschien mir der unheimliche Schlund und mit Grausen wandte sich mein Blick nach der Ebene, nach der schönen, unvergleichlichen Ebene zurück. In keinem Moment ist mir Neapel so verführerisch schön erschienen, als wie es da tief unten lag mit seinen fruchtbaren Gefilden, seinem blauen Golf, seinen Inseln und Hügeln, seinem Sonnenglanz und seiner Farbenpracht. Nicht an das berühmte veder Napoli e morire ⁷¹ denkt man da, sondern an das blühende, fröhliche, sich ewig verjüngende Leben! Die ganze Heimfahrt über genossen wir diesen einzigen Blick über Thal, Stadt und Meer; ich werde ihn niemals vergessen! – Um acht Uhr kehrten wir heim, um Tante zwar noch im Bett, aber ganz guter Stimmung zu finden. Das Reinigen vom Aschenstaub ist eine große Arbeit: noch nach Tagen entdeckte man solchen in Ritzen, Falten und Nähten der Kleider; aus den Haaren wollte er kaum weichen. Der nächste Tag war Neapel gewidmet und genügte gerade, um uns zu überzeugen, daß dies eine jammervoll kurze Frist dafür war. Das Aquarium mit seinen teils schönen, teils grauenvollen Meerestieren ist ungemein reichhaltig; aber mehr noch beim Museum stand ich unter dem Eindruck, daß seine Reichhaltigkeit und unsere Zeit in keinem Verhältnis standen. Die pompejanischen Sachen – die Psyche – der Merkur – der horchende Narziß – Horaz: bei jedem hätte man verweilen und bewundern mögen! Der Nachmittag wurde zu einer Kahnfahrt auf herrlich bewegtem Meer und einem Stadtbummel nach dem Hafen und den armen Stadtteilen benutzt. Die Stadt ist ja einzig malerisch mit ihren Capellen und Bergketten im Hintergrund – aber wir waren doch sämtlich angewidert von dem Schmutz, der Bettelei, der Verkommenheit und Abgestumpftheit, die uns auf Schritt und Tritt begegnete. Es gab Momente, wo wir uns vor Kageneck, unserem steten Begleiter, für die Menschheit und namentlich für unser Geschlecht schämten. Die Gewandtheit der Leute, die Fremden auszunützen und für den kleinsten Dienst Geld zu erpressen,

71 Übersetzt: „Neapel sehen und sterben“.

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wirkt sehr belustigend, sowie man nicht mehr so töricht ist, sich darüber zu ärgern. Bald erhält man beim Anziehen der Jacke unvermutete Hilfe, bald nimmt jemand behutsam ein Fäserchen von unserem Kleid, bald streckt eine „Dame“ im KapottHut, bald eine in Gebete versunkene Nonne die Hand aus. Am meisten freuten mich die vergnügten, dickbackigen Kinder, die singend strahlend ihr: „Moriamo di fame“⁷² rufen. Lange standen wir mit Hanna auf unserem Balkon in der lauen, dunklen Nacht, während unter dem Fenster das Meer brandete und gegen das alte Castel del Moro toste und die kleinen Bettelkinder mit schrillen Stimmen und fabelhaftem Ausdruck eines der wohlbekannten Lieder nach dem andern sangen. Unglaublich war die Geschicklichkeit, mit der sie im Finsteren die heruntergeworfenen kleinen Münzen fanden. In der Nacht erhob sich ein Sturm; das Meer war großartig wild und schäumte und tobte mit grauen Wellen und weißem Gischt gegen die Felsen. Es goß am anderen Morgen, sodaß wir drauf und dran waren, Pompeji für diesen Tag aufzugeben. Bald aber hellte es sich auf; wir dachten: Frisch gewagt – halb gewonnen und fuhren nach Abschied von Spitzembergs um 11 Uhr noch nach Pompeji. Es gibt viele Leute, die die große Trümmerstadt trübselig, tot und unwirklich finden. Ich möchte um nichts den Eindruck in der reichen Kette derselben missen! Kann sein, daß ich gerade über die römische Stadt mit ihren Einrichtungen und Gebräuchen gut vorbereitet war; kann sein, daß meine Phantasie besonders lebhaft arbeitet: mir waren die Straßen, Hallen und Häuser nicht tot und ausgestorben und die drei Stunden vergingen mir zu rasch. Es ist so interessant, zu sehen, wie aus dem vollen Verkehr heraus, alles stehen und liegen blieb; Parallelen zu ziehen zwischen dem uns so entfernt liegenden Altertum und der Gegenwart. Solche Vergleichung überbrückt die Zeiten in wundersamer Weise. Bei aller Verschiedenheit findet sich so viel Übereinstimmung, gerade in den unbedeutendsten Kleinigkeiten; im Wandel der Sitten und Auffassungen bleibt sich der Mensch in seinem ureigensten Sinn und Wesen so gleich! Das ist schon so oft gesagt worden, aber beim Anblick all der wohlbekannten Alltäglichkeiten, der Restaurationen, Bäckereien, der Reklame-Inschriften an den Straßenecken, der Läden etc. springt es besonders deutlich in die Augen. Am anziehendsten waren mir die Straßen in ihrer langen Perspektive, an deren Ende oft der Vesuv mit seinem Wölkchen das Bild schloß; mit ihren tief eingefahrenen Geleisen, ihren hohen stepping-stones von einem Trottoir zum anderen. Die Häuser sind so geschmackvoll angelegt, so reizend dekoriert, besonders das sogenannte Neue Haus, daß man sich beschämt fragt, warum in unseren Tagen, angesichts

72 Übersetzt: „Wir sterben vor Hunger“.

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solcher Vorbilder, solche Mißgeburten an Villen und öffentlichen Gebäuden entstehen! Im Hotel trafen wir den jungen Eberstein, der von einer Malexpedition auf Ischia begeistert und fröhlich angelangt war. Ich sehe ihn noch, wie er mit dem Hut winkend und lachend unserem Wagen nachsah und ein „auf Wiedersehen in Sorrento“ zurief. Wir sollten ihn nie wiedersehen! Kurze Zeit darauf ist er dort in Pompeji, wo wir ihn so fröhlich verließen, an einer schweren Blinddarmentzündung gestorben, fern von Heimat und Eltern! Es ist unsagbar traurig und hat uns, die wir ihn noch zuletzt gesehen, sehr schmerzlich bewegt. Wie gut, daß die Zukunft unseren Augen verborgen! Glücklich, wie man nur sein kann, fuhren wir am Golf entlang nach unserem nächsten Reiseziel – Sorrent! Die Fahrt von Castellamare über Vico nach Sorrent ist einzig schön! Über Neapel stand ein Gewitter, das uns das jenseitige Ufer verschleierte; aber sonst war die grelle, wechselnde Beleuchtung so ideal, wie selten. Der Augenblick, da man bei einer Biegung des Wegs die Ebene von Sorrent mit ihren üppigen Feldern und Gärten, ihren Orangen- und Citronenbäumen, zwischen denen die freundliche kleine Stadt wie eingebettet liegt, zuerst überschaut, ist nicht mit Worten zu schildern. Das kann man nur fühlen mit hellem Entzücken und Dank gegen Gott! Das Hotel Tramontano ist prachtvoll um einen Säulenhof gebaut, mit großen hohen Räumen, Lese- und Rauchzimmern – alles prima. Unsere Zimmer waren beängstigend schön. Und dabei brandete unter den Fenstern das Meer, die Lichter von Neapel blinkten herüber über den weiten Golf, um den Hof rankten sich Glyzinien und Maréchal Niel-Rosen. Die Aussicht, in diesem Eldorado einige Tage bleiben zu dürfen, war geradezu berauschend; mit den herrlichsten Erwartungen schliefen wir ein, um – bei platterndem Regen zu erwachen. Da saßen wir nun in unserem fürstlichen Lokal, während der Wind eisig durch Türen und Fenster hereinwehte und die Temperatur stark an Wernburg erinnerte. Mit Klagen haben wir uns nicht lang aufgehalten, sondern uns zitternd und Briefe schreibend zusammengesetzt und voll „pazienza“⁷³ dem Schicksal ergeben. Nach Tisch ließ der Regen denn auch nach, sodaß uns Mutter zu einem Spaziergang auf den Deserto, einem Mönchskloster mit Waisenhaus, in der Nähe Sorrents gelegen, beredete. Der Weg führt steil zwischen Weinbergsmauern und Gärten empor, bis man, auf dem Kamm der Halbinsel stehend, einen wundervollen Blick auf beide Golfe gewinnt. Nach kurzem Weg trafen wir den Kaplan von Sorrent, der das gleiche Ziel mit uns hatte und nicht gewillt schien, auf unsere Gesellschaft zu verzichten. Wir unterhielten uns halb italienisch, halb lateinisch mit ihm und entsetzten uns über seine Ungebildetheit und Würdelosigkeit. Ich glaube nicht, daß er gerade ein

73 Geduld.

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unwürdiger Priester war, aber er hätte nach Manieren, Witzen und Äußerem ebenso gut ein Korporal sein können. Über ein Kreuz am Weg brach er in lautes Gelächter aus, schäkerte mit uns Mädchen und schwatzte in einem Patois,⁷⁴ der stark ans Sächsische erinnerte. Der Gedanke, einem solchen Menschen zu beichten, sein Innerstes enthüllen zu müssen, machte mich schaudern und doch kann ein Katholik in diese Lage kommen, sei er noch so gebildet und zartfühlend. Eben noch sahen wir Capri, „Gabri“ nannte es unser Führer! im Sonnenglanz aus den Fluten steigen – kaum hatten wir das Kloster betreten, – so prasselte draußen ein Hagel- und Sturmwetter los, daß wir wie in einem undurchdringlichen Sack steckten. Ungefähr eine Stunde warteten wir droben und unterhielten uns mit einem reizenden alten Bruder Matteo, der mit seinem klugen Gesicht, feinen Manieren und schönem Italienisch unsere Herzen gewann. Rasch wie das Wetter gekommen, zog es vorbei. Aber der Vesuv hatte eine weiße Kappe und auf dem Turm des Klosters konnten wir Schneeballen machen. Es war wirklich ein interessantes Erlebnis – im Inneren dies originelle, friedliche Idyll, während draußen der Kampf der Elemente tobte. Befriedigt stiegen wir auf den glatten Steinen zu Tal, während das Pfäfflein seine Soutane schürzte und in Bocksprüngen unter kindischem Gelächter vor uns herlief. Vater zitierte natürlich sofort: „Es sprang wie ein Böcklein der Abt mit Behagen!“⁷⁵ Trotz niederen Barometerstandes und kalten Wetters bestellten wir uns noch denselben Abend einen Wagen für Amalfi und fuhren am nächsten Morgen um acht Uhr in den kühlen Morgen hinein. Schon nach einer Stunde hatte die Sonne mit ihrer südlichen Kraft die Kälte vertrieben und das ganze herrliche Landschaftsbild förmlich in Gold getaucht. Es war ein so idealer Sommertag wie er auch im Süden zu dieser Jahreszeit noch selten ist; ganz so, wie wir uns in Deutschland trotz aller Gegenvorstellungen Süditalien ersehnen und erträumen. Die Fahrt – hin und zurück sieben Stunden – im famosen Landauer mit drei flotten, beständig trabenden Pferden und nettem Kutscher ist eine der schönsten, die man auf der Erde wohl überhaupt machen kann. Denke ich an sie zurück, so will es mir fast erscheinen, als ob das Glücksgefühl, welches mich erfüllte, als ich mit den liebsten Menschen, die ich auf der Welt habe, durch dieses Eden fuhr, zu groß und rein war, um durch Worte geschildert zu werden. Das Tiefste und Beste in uns können wir Menschen ja nie ausdrücken und ebenso wenig unsere schwersten und seligsten Empfindungen! Aber ich will keine Lücke in meinen Aufzeichnungen lassen! Die Straße überschreitet den Bergrücken zwischen den beiden Golfen, der mit den vollbeladenen, mit Dächlein vom Wetter geschützten Orangenbäumen bedeckt ist; windet sich

74 Dialekt. 75 Zitat aus Gottfried August Bürgers Ballade „Der Kaiser und der Abt“.

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dann längs des Meerbusens von Salerno hin, bei jeder Krümmung neue, herrliche Blicke erschließend. Die Berge, die felsig und nur mit Aloe und Ginster bewachsen, treten bis dicht ans Meer heran, sodaß die Straße nur durch vieles Sprengen, große Mauerarbeiten, oft durch Tunnel hindurch, oft auf hohen Bogenbrücken geführt werden konnte. Und als Gegensatz zu dieser wilden, romantischen Szenerie breitet sich zur anderen Seite das herrliche Mittelmeer, dessen blaue und grüne Farbentöne an diesem Tage bezaubernd waren. Durch viele Ortschaften, die weiß aus dem grauen Gestein leuchteten, erreichten wir Amalfi. Steil aufsteigend an den Felsen geklebt, auf den Höhen Klöster und Ruinen, zu Füßen der kleine Hafen mit Kähnen und badenden Kindern, hat es eine ideal malerische Lage. Und das in ein altes Kloster hineingebaute Hotel Cappucini wirkte so einladend auf uns, daß wir weitere Pläne aufgaben und uns einmal als faule Lazzaroni der Sonne und Ruhe freuten. In dem alten Laubengang des Klostergärtleins, in dem einst fromme und nicht fromme Brüder gewandelt und sich des herrlichen Blicks gefreut, hielten wir eine köstliche Rast. Die Sonne malte durchs Laubendach hindurch helle Flecke auf den gelben Weg – die Luft zitterte förmlich vor Hitze – Goldlack und Verbenen dufteten fast betäubend und die kleinen Eidechsen raschelten zwischen dem Gestein. Wir fühlten uns – wie eine alte Engländerin es ausdrückte – one does feel like a lizard!⁷⁶ Nicht mit Unrecht ist Amalfi seiner Bettelei wegen vor allen anderen Orten verrufen. Bei einem Gang, den wir durch Stadt und Hafen machten, fanden wir, daß jeder, der eine Minute Zeit hatte, uns anbettelte. Und das haben sie dort alle. Eine Familie, die friedlich beim Essen saß – ein Schiffer, Handwerker oder Fuhrmann, wer zufällig unser ansichtig wurde, eilte herzu, die Hand auszustrecken; der Kinder, die mit beneidenswerter Puste unserem Wagen folgten, gar nicht zu erwähnen! Am Vormittag passierte uns dabei folgendes Erlebnis: Ein Bengel warf uns ein armes kleines Rotkehlchen in den Wagen, welches er mit einem Fuß an einen dünnen Bindfaden gebunden hatte. Wir gaben ihm keinen Soldo, da wir den Kutscher ganz auf unserer Seite wußten und ließen uns durch sein Schreien und Schimpfen, das von Steinwürfen begleitet ward, nicht irre machen. Kaum waren wir in nötiger Entfernung, lösten wir den Faden, und es war eine wahre Wonne, zu sehen, wie sich das Tierchen in die Höhe schwang, über ein weites Tal hinweg, der Sonne entgegen! – Bei der Rückfahrt wollte uns derselbe Gutedel Blumen verkaufen, uns nicht erkennend; da sauste ihm des Kutschers Peitsche um die Ohren! Die Rückfahrt auf demselben Weg war fast noch schöner als am Morgen, da die Beleuchtung milder und wärmer war. Die südlichen Abende sind gar nicht zu beschreiben! Und nun komme ich an die einzige Enttäuschung auf unserer Reise, den Besuch Capris und muß leider hinzufügen, daß nicht Wetter oder Schicksalstücke

76 Übersetzt: „Man fühlt sich wie eine Eidechse!“

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ihn uns bereiteten, sondern unsere lieben Landsleute! Auf dem Dampfer des Norddeutschen Lloyd, den wir am Dienstag Morgen bestiegen, trafen wir 250 Mitglieder der Berliner Liedertafeln, alle mit grünen Tiroler Filzhüten und künstlichen Edelweißen geziert! Das erklärt alles! Der Berliner allein ist schon eine Reiseunannehmlichkeit – in Masse ist er gemeingefährlich! Diese Leute, die sich alle aus dem Mittel- und Kleinbürgerstand rekrutierten, hatten durch ihren Gesang in allen italienischen Städten Triumphe gefeiert und waren in einer Stimmung, die ich nur mit Vereinsduselei bezeichnen kann. Sie tanzten, schrien, rollten Bierfässer und kneipten, als ob sie in der Hasenheide und nicht auf dem Golf von Neapel wären, worauf die unausbleibliche Folge eine allgemeine ekelhafte Seekrankheit war, da das Schiff die Grotte nicht verläßt, bis sämtliche Passagiere sie gesehen, so waren wir wohl drei Stunden in der üblen Gesellschaft und mußten die schrecklichsten Kalauer-Buchholzen in drastischster Art – über uns ergehen lassen. Und dies Drängeln, Puffen und Stoßen, das man in Italien gar nicht mehr gewohnt war! Vater und ich fuhren als die ersten ohne Schwierigkeit in die Grotte, nebeneinander im Boden des Kahns liegend. Ich war sehr befriedigt, obwohl mir die Farbe nicht viel blauer drinnen vorkam als überhaupt um Capri herum. Die Felseninsel ist zu schön, um sie im Fluge besichtigen zu können. Wir flohen vor den grünen Hüten aus der kleinen originellen Stadt und verbrachten unsere kurze Zeit auf einer Bank gegenüber von den Klippen der Faraglioni. Da konnte man träumen und angesichts dieses fabelhaften, wundervollen Blaus, dieser wilden Klippen, dieser einsamen Gestade, dieser ganzen wunderbaren Schönheit – den Menschen mit seiner Qual vergessen! Am Abend trafen wir Spitzembergs in Sorrent. Dessen ungeachtet, mußten wir am nächsten Morgen über Castellamare-Neapel nach Rom zurückfahren. Die Tour war einzig gewesen – darüber herrschte kein Zweifel – und doch empfanden wir alle vier ein förmliches Heimatgefühl, als wir wieder am Garten Aldobrandini vorüber in unser geliebtes Rom hineinfuhren. Was ist es, der merkwürdige Zauber dieser Stadt, daß sie so rasch Herz und Sinne gefangen nimmt, daß man in ein förmlich persönliches Verhältnis zu ihr kommt, sich selbst als kleinen Teil des herrlichen großen Ganzen fühlt? Ich kann es nicht ergründen; denn es ist nicht nur die Kunst, die Vergangenheit, die Landschaft – es ist das alles zusammen und die Farbe, die Beleuchtung, die Luft selbst gehört dazu, um die ganze große Schönheit der alten Roma aeterna zu bilden! Am 13ten hatten wir von Vater Abschied zu nehmen, da er über Wien – Dresden zum Landtag nach Berlin zurückfuhr. Daß gerade er die Reise so genossen, erfüllt mich mit großem Dank; denn da Sabine und ich den Anlaß dazu gegeben, fühlten wir eine gewisse Verantwortung und waren überrascht und froh, wie ihn alles begeisterte und erfreute!

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Nachdem vor der Reise nach Neapel der Hauptüberblick über die reichen Schätze Roms gewonnen war, gaben wir uns jetzt mit mehr Muße dem Vertiefen und Studieren hin. Und das ist erst der wahre Genuß! Schon Goethe, dessen Reise ich eben gelesen, sagt darüber: „Wie man die See immer tiefer findet, je weiter man hineingeht, so geht es auch mir in Betrachtung dieser Stadt!“ – Ja, es ist ein herrliches Lernen und Verstehen dort; jeden Tag prägt man sich einen neuen Zug, eine neue Farbe ins Gemüt, bis das ganze, große, herrliche Bild sich im Herzen festgesetzt hat, um nie wieder daraus zu weichen! Am Vormittag waren wir fast nur in Galerien, am Nachmittag ward dann mehr in Natur als in Kunst geschwelgt und diese Vielseitigkeit ließ uns nie ermüden im Sehen und Bewundern. Heydens waren bereits nach Deutschland zurück; nur ihr Neffe Axel, der Blut geleckt und noch fast eifriger als wir war, blieb unser ständiger Begleiter. Rom begann sich bereits von den Ostergästen zu leeren: Kurowskys, Tante Butler, Miltitzens etc. waren bereits fort. Wir schlossen uns enger an die Zurückgebliebenen, Spitzembergs und Frl. von Jasmund und freundeten uns mit den Meininger Heydens und zwei Schwedinnen, Mutter und Tochter Edelstam an. Spitzembergs kehrten sehr befriedigt heim, was wir nicht ganz begriffen. Das Wetter war ihnen nicht günstig und Tantes Gesundheit schwankend gewesen. Amalfi, Capri, Vesuv hatten sie aufgeben müssen, dafür allerdings Neapel gründlicher genossen. Dazu kamen allerlei kleine Reisemalheurs: Auf dem Deserto war Tantes Portemonnaie mit 60 fr. spurlos verschwunden, sodaß sie, wütend über den Verlust, geknickt über die Schlechtigkeit der netten Klosterleute, Sorrent verließen. Die Überfahrt bei starkem Sturm war denkbarst schlecht, das Ausschiffen eine Qual für die arme Tante. Unterwegs lief der Rhabarber im Koffer aus; in Rom erwartete sie eine enorme Kiste, die unfrankiert aus Berlin geschickt, 10 M kostete und – oh Freude! – ein Osterhäslein, mit Bonbons gefüllt, von einem liebenswürdigen aber unpraktischen Berliner Verehrer enthielt! Tante war einfach rasend; aber noch fast ärgerlicher, als sich das Portemonnaie in einer geheimen Tasche, die sie in Italien für gewöhnlich nicht benützte, wiederfand! – Sofort ging ein Entschuldigungsschreiben an Bruder Matteo ab und wir waren alle erleichtert über die Ehrenrettung unseres Klosteridylls! Freitag, den 14ten waren wir in verschiedenen Kirchen; sie sind fast alle prächtig und reich und enthalten sämtlich einzelne, sehr schöne Bilder, Schnitzwerke oder Marmorarbeit. Aber selten konnte ich mich für das Ganze erwärmen oder zu einer Stimmung, geschweige denn Andacht, darin gelangen. Im Lauf der Jahrhunderte durch Schenkungen und reiche Gönner entstanden und ausgeschmückt, fehlt ihnen jegliche Harmonie! S. Paolo fuori in seiner Größe, seinem spiegelnden Marmorschmuck, seinen herrlichen Dimensionen ist neueren Datums, erweckt aber bei fast allen Besuchern als ersten Gedanken: Wie prachtvoll muß sich hier tanzen lassen!

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Also gänzlich verfehlt als Kirche! – Der in der Nähe liegende protestantische Kirchhof, in dem wir das Grab von Mutters Bruder Eberhard suchten, wirkt ungemein rührend durch die vielen Fremden, die hier fern von der Heimat unter Zypressen und Rosen den ewigen Schlaf schlafen. In den Palazzi mit ihren herrlichen Sammlungen finden sich einzelne Perlen, die man immer wieder anschauen möchte. So im Doria der Innocenz X. (Pamfili) von Velasquez; im Borghese gefiel mir Villa, Garten und die prächtigen Möbel besser als die Kunstschätze. Die Italiener haben so leicht etwas Süßliches in ihren Heiligenbildern, während die Niederländer unserem modernen Auge sofort gefallen müssen! Im Hotel drehten sich in diesen Tagen alle Gespräche nur um die Papstmesse in St. Peter. Bei der Hinfälligkeit des Heiligen Vaters,⁷⁷ der in seinem Alter die schwere Operation soeben überstanden, war die Sache bis zuletzt sehr problematisch und die Frage und Aufregung des Tages war, ob man ein Billet zur Tribüne oder nur ein sogenanntes Ingresso, d. h. nur einen Einlaß in die Kirche erhalten werde. Wir hatten ein ganz außerordentliches Glück, indem wir nämlich nach und nach, am Morgen des Tags selbst, drei Tribünenbillette erhielten und zwar zwei davon auf derselben Tribüne wie Hanna. Mutter ging allein, während wir drei Mädchen zusammenblieben. Bei herrlichem Wetter zogen wir los, schwarz gekleidet, mit Spitzentüchern als Spanierinnen drapiert, mit Schokolade, Cakes, Eau de Cologne, Riechsalz und zahlreichen Warnungen und Ratschlägen ausgestattet. Ob die Messe früher mangelhaft organisiert, ob unsere Zeit (9 Uhr) besonders günstig gewählt, oder ob die Leute unerhört übertrieben – ich weiß es nicht. Faktum ist, daß von den angekündigten Schrecken als totgedrückt werden, zerrissenen Kleidern, gestohlenen Schleiern, ohnmächtig werden, ewigem Warten gar nichts eintraf und wir so rasch und ruhig auf unsere Plätze kamen wie es jeden Sonntag in Berlin nicht möglich ist. Über den wimmelnden Petersplatz, durch die Gänge und Treppen der Sakristei gelangten wir gleich von hinten auf unsere Plätze, die gegenüber vom Petersgrab mit dem Hochaltar lagen. Die Tribünen sind nicht erhöht, nur durch Schnüre zu ebener Erde abgeteilt und mit in Reihen zusammengebundenen Stühlen gefüllt. Sie liegen alle um die Confession herum und fassen ca. 6000 Menschen, während im Mittel-und Seitenschiff sich über 50 000 Menschen Kopf an Kopf drängten und stießen. Wir suchten uns gute, gesicherte Plätze und saßen sehr angenehm in der vornehmen schwarzen Gesellschaft, umgeben von englischen Nonnen und Priestern. Die lange Zeit des Wartens wurde uns nicht lang bei all dem Interessanten, all der pompösen Pracht vergangener Jahrhunderte, die sich vor uns

77 Gioacchino Vincenzo Graf Pecci (1810 – 1903), als Leo XIII. Papst 1878 – 1903, er starb 1903 im Alter von 93 Jahren.

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entfaltete: die ganze hohe Geistlichkeit im größten Ornat, (Brokat, Pelz, Gold und Spitzen) – die leuchtenden Cardinäle mit den weißen Pelzkragen und den klugen Fuchsgesichtern – die glänzenden Uniformen der päpstlichen Nobelgarde (lauter römischer Adel in hohen Kürassierstiefeln, weißen Lederhosen, goldenen Römerhelmen) – die Schweizer in gestreiften Pumphosen und Strümpfen, die Hellebarden in der Faust – die glatten, vornehmen Kammerherren in kleidsamer spanischer Tracht, kurzem schwarzen Samtmäntelchen, großer Halskrause, Kette, Degen und Federbarett – man wußte nicht, wohin man zuerst schauen sollte! Und hinter uns flutete und brauste der Menschenstrom wie ein lebendiges Meer; bei jedem falschen Alarm steigerte sich das Summen und Sausen zu lautem Getöse, das wie eine große Woge bis vor zu uns schwoll. Von Andacht war wenig zu merken; aber da wir in anständiger, gesitteter Gesellschaft waren, wurden wir doch nicht durch weiheloses Geschwätz und Unfug gestört wie in der Charwoche. Die meisten unterhielten sich halblaut und genierten sich nicht, Chokolade und Backwerk zu verzehren. Dazwischen brachten es einige Fromme fertig, die ganze lange Zeit andächtig und gesammelt zu beten, was mich in Anbetracht des Lärms mit Hochachtung erfüllte. Auch sah ich etwas, das man in unserer Kirche nie sehen kann: Ein abgeklärtes junges Gesicht. Das hat mir stets einen ungemein rührenden Eindruck gemacht. Aber auch hier sieht man es selten, am meisten unter den ausländischen Geistlichen und Nonnen! Endlich um ½ 11 Uhr verkündete der immer lauter anwachsende Schall der Menge, der das Läuten der Glocken übertäubte und lautes Trompetenschmettern das Herannahen des Papstes.Vom Vatikan her wurde er auf einem Thronstuhl unter kostbarem Baldachin, rechts und links zwei große Wedel aus weißen Straußenfedern, langsam und hoch erhöht, hereingetragen und links vom Altar auf einen Thron niedergesetzt. Man muß das sinnbetäubende, unbeschreibliche, sturmartige Jubelgeschrei und Eviva-Rufen der begeisterten Menge gehört haben, um sich einen Begriff davon machen zu können. Alles sprang auf die Stühle; wir kletterten mit Hilfe unserer englischen Priester auf einen Sims; alles wehte mit Hüten und Tüchern, hielt Gegenstände zum Segnen empor und schrie aus voller Kehle. Und das weite Gewölbe fing den Schall der 6000 begeisterten Menschen auf, es verdoppelnd und zurückhallend. Langsam, allen sichtbar ging der Zug vorwärts. Der arme, gebrechliche alte Mann, dessen kleines verschrumpeltes Gesicht schneeweiß unter der goldenen Tiara hervorsah, grüßte segnend und gerührt nach allen Seiten mit sichtlicher Anstrengung und zitternden Händen – man hatte das Gefühl, daß nur noch der Geist den Körper aufrecht erhalte. Die Messe selbst, von einem Cardinal als Stellvertreter des Heiligen Vaters gelesen, machte mir einen sehr feierlichen Eindruck; der schöne, heilige Moment der Verwandlung, wo alles, vom Cardinal bis zum Schweizer, auf die Knie sank und lautlose Stille den weiten Petersdom erfüllte, war geradezu ergreifend. Kaum aber

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war das letzte Wort verklungen, der Papst in die Mitte der Kirche vor das Petersgrab getragen, als das Hurrageschrei und weltliche Toben in noch erhöhtem Maße begann. Die Rufe: Eviva il Papa Rè!⁷⁸ Eviva, Eviva! wollten kein Ende nehmen; im Hintergrunde nur wurde ein, wohl königliches „Abasso“!⁷⁹ laut, das aber sofort unterdrückt wurde. Dicht vor uns hielt der Zug; ein Cardinal überreichte dem Papst ein großes Buch, worauf er mit klarer, vernehmlicher Stimme ein Gebet las und dann stehend, von zwei Cardinälen gestützt, den Segen und Fluch austeilte, um darauf, wie er gekommen, die Kirche zu verlassen. Besser als durch dieses Fest kann das eigentümliche zwiespältige Wesen der katholischen Kirche gar nicht versinnbildlicht werden, durch diese Mischung von weltlichem Pomp und Glanz mit geistlichen Gütern und Gnadenmitteln; durch dies Einwirken auf die Sinne, Hand in Hand mit der Knechtung der Gemüter durch die übersinnlichen Begriffe von Segen und Fluch; durch dies zähe Festhalten an alter Tradition und Sitte inmitten einer freisinnigen, ungläubigen Welt! Ohne Gedränge gelangten wir heraus, trafen Heyden und gingen zu Fuß durch die belebte, freudig erregte Stadt nach Hause. Wir waren müde, aber doch sehr befriedigt, daß uns dies Erlebnis in den römischen Eindrücken nicht fehlte und so mühelos zu Teil ward. Die armen Menschen, die nur auf Ingresso dabei waren, waren halb totgedrückt worden, zerschunden und gestoßen von der fanatischen Menge. Für die Ohnmächtigen war ein kleines Büffet in der Kirche aufgestellt worden und auf der Unfallstation sollen ca. 200 Ohnmächtige gewesen sein. Dem alten, freundlichen Leo war das Getriebe brillant bekommen; er hielt Audienzen und sonnte sich an der großartigen Ovation, die ihm noch trotz ärztlicher Bulletins und feindlicher Prophezeiungen zuteil geworden! Am Abend war ein lustiger Rout bei Belows, wo wir Saurmas, Spitzembergs, Galens, Jagow, Rotenhan, Plessens, Ritters etc. trafen und das Erlebnis des Tages in allen Tonarten durchsprachen. Bei herrlichem Mondschein gingen wir mit Spitzembergs über das stille, beschienene Capitol mit dem schönen Reiterstandbild zurück – ein friedlicher Schluß des ereignisreichen Tages! Und damit schließe ich auch diesen Band Aufzeichnungen! Das Kinkelsche „Nacht in Rom“⁸⁰ fügt sich hier trefflich ein. An diesem eben beschriebenen Abend ward es uns zum ersten und einzigen Mal aus Gehörtem zu Erlebtem:

78 Übersetzt: „Es lebe der Papst und König!“ 79 Übersetzt: „Ruhe!“ 80 Johann Gottfried Kinkel (1815 – 1882), Theologe und Schriftsteller.

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Ringsum auf allen Plätzen Schläft unbewegt die Nacht, Am blauen Himmel stehet Der Mond in heller Pracht. So totenstill sind beide, das altʼ und neue Rom; Und selbst ihr Riesenwächter Nickt ein – Sankt Petersdom. Nur wundersam noch rauschen Die Brunnen nah und fern, die halten wach die Seele, die selbst entschliefe gern. Die spülen aus dem Herzen Leise das alte Leid. Im blauen Mondlicht dämmert Weit fort die alte Zeit! (Kinkel)

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Abb. 10: Hildegard und Wolf, 1900, Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart P10 Bü 1531 / Fotograf: W. Höffert.

Band VI: Tagebuch von 1899 bis 1900 Begonnen im Juli 99, beendet im Oktober 1900. Suchet den Herrn: so werdet ihr leben! Amos 5,6. Das Leben ist ein Gefäß, in das man so viel Köstliches hineinlegen kann, als man innerlich besitzt! (Wilhelm v. Humboldt) Der Mensch erkennt sich nur im Menschen; nur das Leben lehrt jedem, was er sei! (Goethe)

Rom, im April 1899 Montag, den 17ten April, fuhren wir früh mit Spitzembergs, Heyden und Gräfin Holnstein nach Tivoli und schwelgten bei herrlichem, heißen Wetter in dem wundervollen Garten der Villa d′Este. Seit dem Tode des Cardinal Hohenlohe, der hier im Sommer Villeggiatur¹ hatte, geschieht nicht mehr das Geringste zur Erhaltung von Haus und Garten, sodaß man den gänzlichen Verfall binnen weniger Jahre vor Augen sieht. Jetzt ist sie aber noch ganz entzückend, und gerade die Verwilderung und Vermoosung gibt dem Ganzen ein Gepräge von Romantik und leiser Melancholie, das seinen Reiz noch erhöht. Von dem feudalen Renaissancebau mit den reizenden Giebeln, Terrassen, Balkons und Treppen steigt man herab in den schattigen Garten, in dem Kunst und Natur etwas ganz Einziges geschaffen. Begeisternd ist die Fülle des Wassers, die mit echt italienischer Kunst ausgenutzt und verteilt wurde. Überall sprudelt es kristallhell über große bemooste Schalen, plätschert über Tuffsteine, mit ägyptischen Farnen und Schlingpflanzen bewachsen, rauscht als Wasserfall in die Tiefe, sammelt sich in großen, steinumrankten Becken und springt als meterhoher, schlanker Strahl in die blaue Luft, um als weißer Schaum zurück zu spritzen. Große düstere Cypressen bilden einen wirkungsvollen Hintergrund für das schöne Rot des Judasbaumes und das junge frische Grün, das eben überall herausbrach. Nach dem kühlen, feuchten Schatten empfanden wir die drückende Mittagsschwüle in dem schmutzigen Städtchen, wo wir die Caskatellen und das zierliche Tempelchen besichtigten, doppelt lästig und fühlten uns, nach Rom zurückgekehrt, so ruhebedürftig, daß wir uns nur noch zu einer Fahrt auf der Passeggiata Margherita zu später Abendstunde entschließen konnten. Auch in Rom war während unserer Abwesenheit in Neapel der volle Frühling eingekehrt und die reizenden

1 Sommerfrische. https://doi.org/10.1515/9783111237404-009

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Anlagen entzückten uns durch den samtgrünen Rasen, die malerischen Judasbäume und mächtigen Cakteen. Am Dienstag waren wir so lang bei den Statuen im Vatikan, daß wir fast das Frühstück darüber vergaßen. Wir suchten alle unsere Lieblinge: Den Diskuswerfer, den Apoxyomenos,² die Niobide, den Demosthenes, den Triton und viele andere auf und freuten uns ihrer edlen Schönheit. Das zweite Mal hat man schon ein ganz vertrautes Gefühl, als ob man alte Bekannte in ihnen begrüßte. Am Nachmittag nahmen uns Spitzembergs ins Schlepptau; ich muß sagen mit wenig Glück, denn der moderne Kirchhof, den sie uns zeigten, war so geschmacklos und widerlich, daß uns der Zeitverlust leid tut. San Lorenzo fuori ist eine alte Basilika, die mir fast am besten unter den römischen Kirchen gefiel. Sie ist bedeckt mit Cosmatenarbeit, einem Mosaik von kleinen bunten und goldenen Steinchen – das Ganze macht einen herrlichen, warmen Farbton aus, der nicht harmonischer gedacht werden kann. Wir stiegen hinab zum Grab Pio Nonos,³ welches sich gegenüber von dem Rost des Heiligen Laurentius befindet. Für Gläubige wird der Schrank, der diese Reliquie umschließt, geöffnet, und wir sahen gerade, wie eine Schar Negermädchen voll andächtiger Scheu mit ihren Lippen die Blutflecken auf dem Rost berührten. Der Gedanke, daß man die armen, unwissenden Heidenkinder von ihren Idolen zu diesem Götzendienst bekehrt, hat etwas sehr Schmerzliches. Am Abend waren wir, wie schon öfters, mit Frl. von Jasmund zusammen. Ich habe sie bei näherer Bekanntschaft sehr lieb gewonnen; sie ist entschieden ein sehr kluges, ideal angelegtes Mädchen! Am Mittwoch machten wir in großem Kreis eine Partie nach dem Nemi-See, die eine Fülle von neuen Bildern, Stimmungen und Eindrücken in sich schloß. Das Wetter war am Morgen so trübe, daß unsere Mütter mit der festen Absicht, nicht mitzugehen zur großen Beratung auf den Bahnhof fuhren. Aber unter den übrigen Teilnehmern Below, Rotenhan, Frl. von Jasmund, einer sehr fidelen Österreicherin: Baronin Rosty und Heyden herrschte solche Unternehmungslust, daß sie überstimmt wurden, und als wir in Castel Gandolfo ausstiegen, lächelte nur die wärmste, hellste Sonne! Der Weg nach Castel Gandolfo hinauf, vorbei am päpstlichen, seit 70 verödeten Lustschloß, durch einen alten, verwachsenen Garten, auf dem Kamm eines Hügelzugs dahin, bot herrliche Ausblicke nach beiden Seiten, auf den Monte Cavo, Rocca di Papa etc. In Albano stiegen wir zu zwei und zwei in kleine leichte Wagen und rollten über Ariccia am Hang des Gebirges nach Nemi zu. Ich fuhr mit Rotenhan, dessen kindliches Entzücken über die schöne Natur und die freundlichen Bilder am Weg mich wirklich rührte. Alles war frühlingsgrün und frisch – der Waldboden mit den zartesten Blumen, Alpen-

2 Statue eines Athleten, der sich mit Hilfe eines Strigilis den Schweiß von der Haut abstreift. 3 Giovanni Maria Mastai Ferretti (1819 – 1878), als Pius IX. Papst 1846 – 1878.

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veilchen, Anemonen, gelben Margeriten wie besät. Dazwischen wucherte der malerische Ginster und riesige Wolfsmilch in enormen Büschen. Zwischen den lieblichen grünen Hängen ruht tief unten der kleine runde Nemisee, über dem der gleichnamige Ort mit einem alten Castel der Orsini aufragt. Das Essen im kleinen Wirtshaus, bestehend aus delikaten Maccaroni, kleinen gebackenen Fischen, Salami und Eiern, war urfidel. Ein kurzer plötzlicher Regenschauer fesselte uns drinnen; dann ging′s wieder zurück durch die abgefrischte Luft in den urwaldähnlichen Garten eines Principe Chigi: In dem großen, tief gelegenen, schattigen Park sind die Stämme bis zur Krone hinauf bemoost und mit einer angeflogenen üppigen Vegetation von Farnen und Schlinggewächsen bedeckt. Jeder gefallene Baum ist überwuchert mit dichtem Grün, das alle Zweige umspinnt und umrankt – das Bild eines Urwalds. Sabine und Hanna sahen elf Stück weißes Dammwild [sic], eine malerische Staffage in der märchenhaften Natur. Der Heimweg war herrlich! – eine Allee von alten Steineichen, durch die die untergehende Sonne ihre schrägen Strahlen warf – der weißschimmernde Streifen des Meeres am fernen Horizont – der Albaner See in fahler, nächtlicher Beleuchtung wie ein Gestade des Todes – ein Bild verdrängte das Andere, um sich erst in der Erinnerung wieder als geschlossene Kette aneinander zu fügen. Trotz des schönen Sonnenuntergangs regnete es am folgenden Tag bis gegen Abend; wir besichtigten den Lateran mit Museum und Baptisterium, eine alte, in drei Schiffen übereinander, teils über- teils unterirdisch gebaute Kirche San Clemente und erwischten noch eine bezaubernde Abendbeleuchtung in der schönen Villa Mattei. Am Freitag war es zum ersten Mal ungemütlich heiß über Mittag; aber wir ließen uns nicht dadurch hindern, einen langen Bummelgang durch Rom zu machen und eine Reihe herrlicher Gebäude: Cancelleria, Palazzo Farnese, S. Maria in Trastevere, Marcellus-Theater und die Villa Farnese mit ihren reizenden Fresken von Amor und Psyche zu besichtigen. Aber als wir am Tiber entlang nach Haus zu schlichen, glaubte ich einen Sonnenstich zu bekommen und wunderte mich nicht über die verödeten Straßen. Gegen Abend in der Villa Pamfili war dagegen ein fröhliches Gewimmel von Alt und Jung, die sich der Wärme und der vielen Wiesenblumen freuten. Die Abendbeleuchtungen werden, je näher es dem Sommer geht, immer tiefer, strahlender und intensiver in Farbe und Ton. Wer die Peterskuppel so blau und golden hinter dem Tiber hat aufsteigen sehen, wenn die ganze Stadt in rotem Feuer glüht, wird es niemals vergessen können! Samstag, 22ter war Spitzembergs letzter Tag; wir machten noch einmal eine Fahrt mit ihnen auf der Via Latina; aber die Beleuchtung war schlecht und ohne diese verschwinden alle Reize der Campagna-Landschaft. Sehr interessant sind einige alte Gräber, deren Wände mit einem Stuck bekleidet sind, wie er nach Geschmack

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und Zeichnung nicht reizender gedacht werden kann. Leider sind nur von rücksichtslosen Inglesi und Tedeschi die hübschesten Figürchen herausgeschlagen, die Barbarei dieser modernen Reisemarder erfüllte uns täglich mit Zorn: Nichts ist ihnen heilig; um ein Bröckchen Classizität auf ihren Nippesschrank zu stellen, verwüsten sie das herrliche Rom. Am Sonntag reisten Spitzembergs und Heyden; auch wir dachten mit Wehmut der kurzen Zeit, die uns noch blieb; hatten einen stillen Sonntag, mit Kirchenbesuch, Abschied vom sterbenden Fechter, Aragno ⁴ und Bummel auf dem Pincio gemütlich ausgefüllt. Am Montag hatten wir nur einen Besuch der Villa Adriana in Tivoli vor, nahmen uns Frühstück mit und durchstreiften ergiebig das Riesengebiet. Die kolossalen Trümmerreste, Paläste, Thermen, Bogen, Basiliken, Rennbahnen, Theater und Tempel verwirren durch ihre Fülle und ihre Dimensionen. Die Gebäude des Palatin, die noch in ganzer Höhe stehen, finde ich noch erhabener und schöner, aber hier entzückt besonders die Vegetation, die dunklen Cypressenalleen, die schattigen Ölbaumhaine, die malerischen Pinien, die zu dem rotbraunen Gestein einen wunderbaren Contrast bilden. Der Tag war sehr klar und der Blick auf Tivoli mit seinen blauen Hügeln ungemein lieblich. Wir frühstückten in der Bibliothek des alten Kaisers, malten und ruhten nach Herzenslust, bis um vier Uhr unser heißes, qualmiges Dampfroß wieder mahnte. In der letzten Woche widmeten wir uns weniger der Kunst als unseren Einkäufen. Zwar kauften wir nicht allzu viel, da wir Geldebbe und Zollunannehmlichkeiten fürchteten; aber bis wir für jeden das Passende hatten, gab es viel zu laufen und zu handeln. Am Amüsantesten war′s auf dem Trödelmarkt, der großen Schmutz, viel Ungeziefer und einige schöne alte Sachen enthielt. Wir waren froh, als wir in dem betäubenden Lärm nach endlosem Handeln, Anbieten, Schmeicheln und Schreien einige alte Kupferkessel und ein Paar Campagna-Ochsenhörner ergattert hatten. Großes Kopfzerbrechen machte uns der Einkauf einer Bronzestatuette des horchenden Narziß, die Vater der Mutter als Reiseerinnerung schenken wollte. Bei der Menge derselben Figur waren wir in großer Ungewißheit, bis wir auf den glücklichen Einfall kamen, Mutters Landsmann, den Bildhauer Kopf,⁵ zu Rat zu ziehen. Wir suchten ihn in seinem Atelier inmitten seiner herrlichen Werke auf und fanden ihn von großer Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft. Nachdem er den

4 Berühmtes Café in der Via del Corso. 5 Joseph von Kopf (1827– 1903), Bildhauer mit Atelier in Rom, fertigte naturalistische Porträtbüsten.

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Kauf sanktioniert, gaben wir uns zufrieden und freuen uns jetzt täglich an dem zierlichen Kunstwerk, das so viele Erinnerungen wachruft! Das Kaufen der Photos, Packen, Abschiednehmen von Belows, Rotenhan, Frl. von Jasmund, Seppi etc. ließ uns wenig Zeit zu den Sehenswürdigkeiten, von denen wir doch, ebenso wie von den Menschen, Abschied nehmen mußten. Die Abendbeleuchtungen dieser letzten Tage waren schöner als je, aber es kommt mir vor, als hätte uns alles doppelt gefallen, weil sich mit dem Genuß schon viel Trennungsschmerz vereinigte, weil wir gleichsam alle Fibern unseres Sehens und Fühlens anstrengten, um so viel als möglich für die lange Trennung, vielleicht für das ganze Leben, mit fortzunehmen! Jede lieb und vertraut gewordene Stätte, jedes kleine Bild bekam dadurch eine tiefere Bedeutung, daß man sich immer wiederholte: Es ist das letzte Mal für lange, lange Zeit! – Auch im Verkehr mit lieben Menschen schieben wir ja unsere tiefsten Gefühle so oft bis zur Scheidestunde auf! Beim letzten Besuch in St. Peter machte es mir zum ersten Mal den Eindruck einer Kirche, in der man auch andächtig sein und beten kann. Es war menschenleer, ganz früh am Morgen, und ganz aus weiter Ferne, aus einer der Capellen, klang leiser Orgelklang, sich durch die mächtigen Gewölbe fortsetzend und verhallend. Die Stanzen der Pinakothek lernten wir erst beim zweiten Sehen würdigen und genießen. Die Befreiung des Petrus ist ein ganz besonderer Liebling von mir; sowohl Sujet, als Farbeneffekt als Raumverteilung sind einzig in ihrer Art. Und dann sahen wir immer wieder Rom, die herrliche Stadt, an der man sich nicht satt sehen kann, von den verschiedensten Seiten und Punkten aus. Einmal von einer kleinen Osteria auf dem Aventin, von wo man einen großartigen Überblick über die mächtigen Kaiserpaläste hat. Ein andermal von S. Pietro in Montorio, von wo wir es zuerst gesehen, allerdings mit viel weniger Verständnis als jetzt. Sabine und ich fühlten beide, als ob wir überhaupt andere Menschen geworden wären: Zwischen Ankunft und Abreise lag zu viel Erlebtes! Am letzten Sonntag schenkten wir uns die Kirche und wanderten den ganzen Vormittag auf dem Palatin herum. Im Schmuck der grünen Büsche, Schneeballen, Rosen, Flieder und Wiesenblumen machte er einen ganz sommerlichen Eindruck. Wir setzten uns auf einen Steinsims im Augustus-Palast, mit dem Blick auf die drei Bogen der Constantinsbasilika und hielten dort oben unseren Gottesdienst. Der Lärm der Stadt drang nicht zu uns herauf – nur die Glocken läuteten! Noch einmal sahen wir dann nach allen Seiten und grüßten hinunter nach dem Forum, Colosseum, Capitol, Caracallathermen, St. Peter, die sich in ihrer ganzen großartigen Schönheit und Farbenpracht zu unseren Füßen breiteten. Diese Stunden werden mir unvergeßlich sein: In manchen Kirchen habe ich keinen solchen Gottesdienst gehalten!

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Die Vesper, die wir am Abend von den Nonnen in Trinità del Monte singen hörten, war es jedenfalls nicht, obwohl viele Protestanten eine Erbauung darin finden. Wie die Nonnen sich versammeln, wie eine Kerze nach der andern erglüht, wie die Waisenkinder zu viert und viert in weißen Schleiern hereinkommen und à tempo ⁶ [sic] vor dem Altar niederknien, wie dann einfache, sanfte Weisen ertönen – das ist alles sehr harmonisch, sehr lieblich und hübsch. Aber wie so oft beim katholischen Ritus geht der Inhalt unter den Formen verloren und man kann sich des Gedankens an die Proben und Studien, die zur exakten Ausführung dieser Kniefälle gehören, nicht erwehren. Ein sinniges, hübsch erdachtes und hübsch ausgeführtes, sehr zahmes Ballett. Weiter war es nichts! Und dann der letzte Abend auf dem Pincio! Der Korso war vorüber, die Königin mit ihren scharlachroten Livreen vorbeigefahren. Die Sonne ging prächtig unter, alles mit rotgoldenem Licht übergießend. Die Pinien hoben sich schwarz vom klaren, rosa Abendhimmel – die deutschen Seminaristen in ihren scharlachroten Soutanen bildeten leuchtende Farbflecke auf der weißen Marmorrampe. In der Ferne verschwamm die Peterskuppel in zarten blauen und goldenen Tönen. Ja, das war Rom in seinem ganzen Zauber! Und angesichts dieses unvergeßlichen Bildes nahmen wir denn Abschied von der ewigen Stadt, wie man von einem lieben Freunde scheidet. Werden wir es je wiedersehen? Unser Soldo ⁷ ruht in der Fontana Trevi und Sehnsucht und Hoffnung werden wohl nie aufhören! Aber auch nicht die Dankbarkeit für das genossene Gute! So schließe ich denn, mir zum Trost, meinen römischen Aufenthalt mit den Worten, mit denen Heyse ein Sonett auf Rom beginnt: Wer dich erkannt hat, scheidet nie von dir!

Am 1ten Mai verließen wir Rom und fuhren nordwärts nach Genua. Florenz hatten wir definitiv aufgegeben, da wir uns nach den römischen Strapazen nicht die Kraft fühlten, in wenigen Tagen durch ein neues, vielfältiges Programm zu hetzen. Lieber gar nicht als flüchtig! Das ist unser Prinzip, welches sich auf dieser Reise noch gefestigt hat. Zu Florenz gehört ein Studium für sich und Geist sowohl als Körper verlangten nach Ruhe, die wir am Comersee zu finden hofften und in so reichem Maße fanden. Die Fahrt nach Genua ist durch die vielen Tunnel langweilig und ärgerlich. Für die Stadt hatten wir einen ganzen Tag gerechnet und nutzten denselben reichlich aus. Eine Fahrt auf der Höhe der Stadt; ein Besuch des schrecklichen Campo Santo,

6 Gleichzeitig. 7 Münze.

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uns Nordländern durch die geschmacklosen, in der Darstellung des heiligsten Schmerzes so unkeuschen Grabmäler besonders abstoßend; eine Besichtigung verschiedener Palazzi mit ihren herrlichen Treppenhäusern und Säulenhöfen, ihren unvergleichlichen van Dycks und Velasquez, ein Bummel durch die Stadt mit ihrer Wäscheausstellung hoch über alle Straßen weg; zuletzt ein Spaziergang nach dem Hafen und Leuchtturm, von wo man einen weiten Blick nach beiden Buchten und über ganz Genua hat – das war viel der Leistungen – und doch waren wir nicht befriedigt! Es kamen verschiedene kleine Ärgerlichkeiten zusammen: Die sämtlichen Dampf- und Trambahnen streikten, Mutters Füße schmerzten, zwei Palazzi mit herrlichen Galerien waren geschlossen – aber mehr als das Alles lag wohl an dem großen Katzenjammer, den wir nach unserem geliebten Rom hatten und nicht so schnell verwinden konnten. Genua wird seiner Lage wegen nicht umsonst la Superba genannt und ich weiß, daß ich Zeit meiner ersten italienischen Reise ganz begeistert davon war. Aber nach Rom fanden wir die Stadt so grau und farblos und mit Neapels Golf läßt es sich nun überhaupt nicht vergleichen! – Wir verließen es Mittwoch früh um fünf Uhr und übersprangen einen Zug in Mailand, um Sabine den Dom zu zeigen. Er ist schön wie ein Traum und verdunkelt für mich alle Kirchen Roms! Besonders das Innere, wir trafen es gut, als gerade das Fest der Santa Croce war und ein wundervoller, wohl durch die Nähe der berühmten Scala beeinflußter Chorgesang den halbdunklen Dom erfüllte. Die Gothik ist eben der geschaffene Styl für Kirchen; das schlanke, aufstrebende, hohe der Architektur zieht unwillkürlich den Sinn nach oben und erweckt Andacht. Und das fehlt gänzlich in Rom! Unsere ganze Rückreise ging herrlich vonstatten; mit einiger Routine und einigen Brocken Italienisch schwebt man über der Situation. Ein häßlicher Trick, der uns fast überall begegnete, ist, daß die lieben Beamten das Handgepäck nicht wollen passieren lassen und Größe, Form, Gewicht etc. beanstanden. Als gewandter Reisender drückt man ihnen dann nur heimlich 40 Centesimi in die Hand – so werden die Koffer mit Blitzesschnelle leichter, kleiner und weniger. In Como warteten wir auf das Schiff und fuhren gegen Abend bei herrlicher Beleuchtung den See hinauf bis Tremezzo bei Cadenabbia, unserem Bestimmungsort. Die Fahrt ist unbeschreiblich schön, längs der lieblichen Ufer mit den vielen weißen Orten, den reizenden Gärten und Villen, um die bewaldeten Vorgebirge herum, auf die hohen Berge zu. In Tremezzo wohnten wir in einer sehr primitiven aber ganz idyllischen kleinen Pension, Bazzoni, die mich lebhaft an die Unterkünfte im Seebad erinnerte. Die Wirtin empfing uns selbst am Landungssteg; der Sohn war Oberkellner, die Tochter und Nichte bedienten und die ganze Familie nahm persönlich Anteil am Wohlergehen ihrer Gäste. Wir hatten ein riesiges, niedriges Zimmer, getüncht und mit Fliesen gepflastert, das mit guten Betten und einigen Strohstühlen reinlich aber spärlich möbliert war; außerdem Frühstück auf der entzückenden in den See hineingebauten Terrasse, Lunch und Dinner inclusive Wein und Beleuchtung. Und

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dieser ganze Scherz kostete pro Person und Tag – 5 franks! Das ist doch rührend! Nach dem langen Stadt- und Hotelleben empfanden wir die Ruhe und Ländlichkeit in verstärktem Maß und diese 4 Tage erscheinen mir, wie wenn sie im Paradies verlebt worden wären. Die Unmöglichkeit, hier irgendetwas anderes zu tun als zu faulenzen, war an sich schon eine Wohlthat. Wir wurden nicht müde, auf dem schmalen Steinpfad nach Cadenabbia längs des Sees hin und her zu schlendern und uns an dem ungeahnten Blumenflor zu freuen.Von dieser Fülle und Üppigkeit kann man sich in unserem armen Klima nicht den entferntesten Begriff machen! Die Villa Carlotta, in der uns der Herzog von Meiningen selbst herumführte, glich einem Blütenmeer! Wir wandelten zwischen mannshohen Hecken von Azaleenbüschen in den leuchtendsten Farben, an denen man vor Blüten kein Blatt mehr sah. Alle Häuser waren bis übers Dach mit Rosen berankt, Maréchal Niel und Gloire de Dijon überwucherten jeden Pfeiler und jeden Baum, und zwischen all diesem Blühen und Ranken öffnete sich der Blick auf den blauen See und die glänzenden Schneeberge, gekrönt vom Splügen. Einmal erkletterten wir den Felsen S. Martino, der hinter Cadenabbia aufragt und lagen dort oben in der Sonne, ohne uns von dem einzig schönen Blick trennen zu können. Er muß auch nach Neapel und seiner Umgebung gefallen: er ist zu schön! Unter der Menge spießiger, abstoßender, rücksichtsloser Engländer hatten wir mit geübtem Blick sofort zwei anständige deutsche Herren, einen Herrn von Reiswitz und einen Herrn von Stutterheim ausfindig gemacht. Die Bekanntschaft war leicht geknüpft; Reiswitz war ein Freund von Onkel Lutz und kannte unseren Vater. Da ergab sich von selbst, daß wir viel zusammensaßen, einmal sogar nach Bellagio fuhren und verschiedene recht anregende und interessante Gespräche miteinander hatten. Bellagio, besonders aber die Villa Serbelloni mit dem himmlischen Blick auf beide Seen, ist wundervoll, aber ich ziehe trotzdem unser Ufer in seiner Schmalheit und Ländlichkeit bedeutend vor. Einmal hatten wir drüben das Dampfschiff versäumt und mußten trotz erheblichen Sturms im kleinen Boot zurückrudern. Der armen Mutter war dies eine wahre Qual, während Sabine und ich mit wahrer Wonne in die hohen, schaumgekrönten Wellen und den Sturm hineinsahen. Aber im Allgemeinen hatten wir sehr gutes Wetter; der See glatt wie Oel und die Abende lind wie im Sommer. Bis in die späte Nacht saßen wir auf der Terrasse und hörten der italienischen, teils schnellen, teils melancholischen Musik zu. Drüben glänzten die Lichter von Bellagio, das Dampfschiff zog mit seinen roten Laternen einen langen zitternden Streifen auf zum Wasser und in den Magnolien schlug eine Nachtigall! Reich beladen mit seidenen Decken, Handkoffern und – oh Graus! – einem meterhohen Rosenbaum passierten wir glücklich die Zollgrenze und blieben zur Nacht in Lugano, um dort die Gotthardbahn am anderen Morgen zu fassen. Lugano

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mißfiel mir gründlich; die Kultur in Gestalt von Zahnrad-, Dampf- und elektrischen Bahnen schimpfiert den ganzen Ort und die Mischrasse, schlecht gewachsen und in greulichem Patois ⁸ sprechend, war mir antipathisch. Im bis zum letzten Platz besetzten Zug reisten wir am Montag früh, und passierten bei herrlichem Wetter den Gotthard. Sie ist zu schön, diese Route! Daß man beim Anblick dieser großartigen Natur immer noch Bewunderung für die Großartigkeit des Menschenwerks übrig hat, beweist am besten dessen Wert und erfüllt unwillkürlich mit hoher, stolzer Freude. In Basel trafen wir die Pflugensberger Eichels mit Hedwig und Finckenstein und konnten gleich zu der in unserer Abwesenheit endlich erfolgten Verlobung gratulieren. In Oos holte uns Fredi Prittwitz und zu großer Freude und Überraschung Burkhart an der Bahn ab. Sara⁹ hatte ihn, voll lieber Attentionen, wie sie ist, von München kommen lassen. Dieser Einzug im deutschen Land in das frühlingsgrüne Baden, in Saras komfortables, reizendes Heim bildete einen würdigen Schluß unserer Reise. Und als wir uns im behaglichen Haus an den wohlgedeckten Tisch setzten, im Kreis der lieben Verwandten von den Schönheiten des Südens schwärmend, wurden wir uns doch wohl alle der zwingenden Gewalt bewußt, welche die Heimat, das deutsche Vaterland, über uns ausübt. Gott sei Dank, daß er uns zu all′ dem Guten die Gabe verliehen, es im reichsten Maß zu genießen und uns eine Heimat geschenkt, zu der unser Herz trotz aller Schönheiten der Erde immer wieder zurückzieht! Baden-Baden mit seinen vielen grünen Alleen, schönen Gärten, reizenden Villen vereinigt in sich ländliche Frische und Lieblichkeit mit größtem Luxus an Gartenanlagen, Tennis- und Radfahrplätzen wie kaum eine andere Stadt. Von der Saison und eleganten Welt sahen wir nicht das Geringste, da Sara wie ein Einsiedler lebt und das Leben in der reizenden Villa mit den lieben Buben uns ganz genügte. Mutter reiste schon an Himmelfahrt, Sabine und Burkhart am Sonnabend weiter nach Hemmingen, während ich über eine Woche blieb. Wenige Menschen verstehen es, sich mit ihrem Reichtum ein so komfortables, behagliches Haus zu schaffen wie Sara. Alles ist hübsch, geschmackvoll elegant, ohne protzig und reich zu sein, alles praktisch und zweckentsprechend; und das ist durchgeführt bis zum Kartoffelkeller und zur Kammer des Küchenmädchens. Die Villa ist wunderhübsch gebaut, hoch und hell und mit allen Errungenschaften der Neuzeit, elektrischem Licht in zahllosen Lampen und Flammen. Wasserleitung, herrliche Badestuben, Gasherd, Kachelbelag im ganzen Souterrain etc., famos eingerichtet. Der kleine Garten stößt

8 Dialekt. 9 Sara von Prittwitz und Gaffron, geb. Freiin Schott von Schottenstein, Hildegards früh verwitwete Cousine ersten Grades.

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an die Oos und der Blick geht daher ohne Grenzen in die grünen Alleen und die bewaldeten Berge über. Das Wetter war meist gut, sodaß wir viel Tennis spielten und zwei Partien machten. Der Schwarzwald mit seinen saftigen grünen Thälern, seinen dunklen Tannen und roten Dörflein mutete mich nach der fremdartigen südlichen Landschaft überaus freundlich an. Die sogenannten großen Ruinen des alten Schlosses kamen mir freilich nach den römischen Trümmern wie Kinderspielzeug vor. Eine große Freude war mir, Tante Anna¹⁰ noch ein paar Tage zu sehen. Sie war sehr gut aufgelegt und wußte viel Interessantes aus Pommern und von der Kaisertaufe in Berlin zu erzählen. Der Kaiser hatte sich nämlich angeboten, bei Onkel Axels drittem Sohn Gevatter zu stehen und dieser seine drei Schwestern dazu gebeten. Leider konnte nur Tante Anna der Feier beiwohnen, aber es freute uns ganz besonders, daß sie, nicht Tante Higa, diesmal den Rahm abschöpfte. Sie saß neben S.M. und war entzückt von seiner Liebenswürdigkeit und seiner bedeutenden Unterhaltung. In Baden erhielt ich erst die Einladung zu Grete Butlers Hochzeit und da der Termin noch vor Pfingsten gelegt war, so mußte ich mir aus Wernburg einige alte Fahnen schicken lassen und direkt über Würzburg und Ritschenhausen heimreisen. Gretes Hochzeit, bei der ich glaubte, mich gar nicht dans mon assiette ¹¹ zu fühlen, war eine der hübschesten, gelungensten, die ich je mitgemacht. Das landläufige Amüsement mit Tanzen, großen Aufführungen, vielen Menschen, fehlte gänzlich, aber dafür trug das Fest so den Charakter einer fröhlichen, gemütlichen, frühlingsfrischen Familienvereinigung, daß man das erstere gern entbehrte. Das Wetter war strahlend schön, der Aufenthalt in dem blumengeschmückten altersgrauen Schloß, in dem herrlichen jungen Buchenwald über alle Beschreibung schön. Es waren viele nette und liebe Menschen beisammen und das junge Paar, das nach langen Kämpfen und Zweifeln sich endlich zusammengefunden, war strahlend vor Glück. Was will man mehr von einer Hochzeit? Der Bräutigam war so einsichtsvoll, erst am Polterabend zu kommen, so hatte ich meine Grete noch einmal gemütlich für mich allein und habe das sehr genossen. Sie erzählte mir ihre sehr originelle Verlobungsgeschichte und machte mir so den Eindruck eines ruhig glücklichen und zufriedenen Menschen, daß ich mir über ihre Zukunft auch nicht die leiseste Sorge mache. Mein Brautführer war ein Herr von Wangenheim, der auch in Italien gewesen und viele Berührungspunkte mit mir hatte. Außerdem unterhielt ich mich gut mit Siegmunds,¹² den Vettern Butler, Moritz Baumbach und 10 Saras Mutter, Anna Hofacker, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen, verwitwete Freifrau Schott von Schottenstein, Schwester von Hildegards Mutter. 11 Am richtigen Ort. 12 Siegmund Freiherr Stein von Nord- und Ostheim, Vetter ersten Grades von Hildegard.

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freundete mich mit Perglasens und den Schwestern des Bräutigams an. Besonders Frau von Meyern ist mir ungemein sympathisch. Alle Menschen machten einen so durchaus fröhlichen Eindruck, sei es nun über die Partie, über das herrliche Wetter, über den schönen Aufenthalt – wie ich es selten sonst erlebt habe. Aber es mag auch sein, daß ich selbst in dieser gehobenen Frühlingsstimmung war und auch die anderen Gäste durch meine rosige Brille ansah. Jedenfalls hat sich mir Dietlas, wenn das möglich wäre, noch mehr ins Herz gesetzt als bisher! Mit Vater, den ich dort getroffen, kehrte ich am Freitag, den 19. Mai nach achtwöchiger Abwesenheit in unser liebes Nest zurück. Zu Pfingsten kamen Jörge, Rudi und sein Freund Jagow, mit denen wir ein ganz verregnetes, aber sehr frohes, dankbares Fest feierten. Wernburg, den 2. September 1899. Italien liegt nun schon so weit hinter mir, daß es Momente gibt, in denen ich mich frage, ob nicht alles nur ein idealer Traum gewesen und ob es möglich ist, daß wir unser stilles, nordisches Sommerleben genau ebenso leben, wie wir′s vor einem Jahr lebten. Dann aber brauche ich nur ein Bild zu sehen, einen Namen zu hören oder auch nur durch ein Gefühl, einen vagen Gedanken daran erinnert zu werden – so steigt die ganze Herrlichkeit vor mir auf voll Frische und Lebenskraft. Man ist doch nun viel reicher und reifer durch die Erinnerungen. Sehnsucht empfand ich noch nie; das wird wohl im Herbst und Winter unfehlbar kommen. Der herrliche heiße Sommer ist wenig zu solchen Ideen geeignet. Wir hatten eigentlich ununterbrochen Besuch, sodaß es uns zuweilen fast zu viel ward. Aber ich finde, daß es so zum Landleben im Sommer gehört, andere daran teilnehmen zu lassen. Gleich nach Pfingsten kamen Karl und Bessy, letztere in ihrem sonstigen Ton und Wesen sehr gemildert, Rotenhans, Emmy Speßhardt, Else Henning, Tante Higa mit Hanna, Tante Gertrud Woellwarth mit den Zwillingen etc. etc. Der Nachbarschaftsverkehr litt unter dem vielen Hausbesuch – Heuschreckenschwärme sind nicht jedermanns Sache und teilen ist immer langweilig! So machten wir lieber einige Partien, nach Ziegenrück, Burgk, Löhma, Waldhaus etc. und tranken sogar einmal ganz oben im Wald den Thee. Für solche kleinen Geschichten wie z. B. die letztere habe ich viel mehr Sinn als für die sogenannten Landpartien mit Bahn, schlechten Wirtshäusern und großen Essereien. Sehr genußreich war ein langer Besuch Mags während Hermanns Badekur im Harz. Sie ist ein zu reizender Mensch, so bescheiden, gemütlich und gut – ohne viel zu sagen und zu geben, trägt sie so viel zur Fröhlichkeit bei! Die beiden Hauptinteressen des Sommers waren Bienen und Schwimmstunden. Erstere machten viel Not und Arbeit und sowohl die Mutter, als auch Jörge und Burkhart waren von einer unglaublichen Passion dafür besessen. Nachdem die lieben Tierchen absolut nicht schwärmen wollten, suchten sie sich dann gerade

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Vaters Geburtstag dafür aus, sodaß wir schon für unser Festessen zitterten. Aber sie wurden mühelos eingefangen und zu großem Jubel als Vaters Patenkind erklärt. Uns beiden, Sabine und mir, war dagegen das Schwimmenlernen Lebensfrage. Am Anfang zeichnete sich Bibs dermaßen aus, daß sowohl der Lehrer als seine Frau ihr besten Erfolg prophezeiten. Ich mußte mich furchtbar anstrengen, glaube aber nun endlich über dem Berg oder vielmehr über dem Wasser zu sein. Aber bei der Grobheit und dummen Methode des ungebildeten alten Kerls dort unten gehörte wirklich viel Lust dazu, um auszuhalten. Als ich, zum ersten Mal ohne Leine, ich glaube, in der fünften Stunde, um Hilfe rief und dann ganz kläglich fragte: „Warum geht es denn nur gar nicht?“ Gab er mir kaltlächelnd zur Antwort: „Ja, daran ist eben Ihre Dummheit schuld!“ Jetzt lobt er mich dagegen sehr, während Sabine wegen Bleichsucht und Herzschwäche abbrechen mußte und erst im Sommer wieder anfangen soll. Anfang August kam unser neuer Oberpräsident Bötticher¹³ zum ersten Mal in den Kreis und wurde hier mit einem offiziellen Frühstück fetiert. Die Woellwarths halfen sehr bereitwillig bei den Vorbereitungen und wurden bei Tisch als Geburtstagskinder von Vater leben gelassen; alles war entzückt und jeder der fremden Herren mußte nach ihrem Aussehen und Wesen meinen, daß sie ihren 16. anstatt ihren 25ten Geburtstag feierten! Es war entsetzlich heiß, aber trotzdem hatten wir den Eindruck, als ob sich alle, auch Schulze und Lehrer, gut unterhalten und jedes zu seinem Recht gekommen sei. Nur der Landrat war so eigentümlich, teils laut und aufgeregt, teils ganz niedergeschlagen, daß wir ganz entsetzt waren. Bald hörten wir den Grund – am selben Morgen hatte er die Nachricht von seines Bruders Louis Tod erhalten. Da der Oberpräsident zum ersten Mal im Kreis und schon unterwegs war, mußte alles seinen Gang weitergehen. Es war eine grausige Komödie, die die Armen spielen mußten, aber sie spielten sie heldenhaft zu Ende. Empfang, Frühstück bei uns, Diner in Ranis mit Toasten und Hochrufen, großes Buffet für den ganzen Kreistag, Krieger- und Gesangvereine, Schulen und Deputationen – eines folgte dem anderen. Nur als die Knappschaft mit einem fröhlichen Marsch und Fackeln auf den Burghof gezogen kam, stürzten Landrats hinauf und hielten sich die Ohren zu; sie sagte, es wäre ein schauerlicher Moment gewesen! Der Tod des Oberjägermeisters ging uns allen sehr nah. Den Eltern war er stets ein treuer Freund gewesen und mir war er einer der sympathischsten Menschen, die ich kenne. Ich erinnere mich, daß ich schon als ganz kleines Kind eine wahre Verehrung für ihn hatte; seine große Güte und seine Ruhe wirkten so auf mich, daß ich ihn lieber hatte als alle anderen Nachbarn und Hausfreunde. Ich kann mir das ideale Familienleben ohne diesen Mann und Vater gar nicht vorstellen. Bei der

13 Karl Heinrich von Bötticher (1833 – 1907), 1898 – 1906 Oberpräsident der Provinz Sachsen.

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Beerdigung war ich leider verreist; Mutter und Sabine waren erfüllt von der Ruhe und Fassung der Familie. Ich reiste am 5ten zu den Bayreuther Festspielen und verband damit eine kleine Vetternreise nach Wernstein und Ahorn. Acht Tage war ich fort aber sie waren in jeder Beziehung so inhaltsreich, daß ich Seiten damit füllen könnte. Trotzdem ich im Zug ein starkes Gewitter erlebte und brennende Häuser und Bäume an mir vorbeisausten, kühlte sich die Temperatur nicht im Geringsten ab und Wernstein erschien mir, abgesehen von seiner Schönheit, wie ein Höllenfeuer. Die vielen Bremsen und die Nähe der Ställe mit ihren Ausdünstungen erhöhten die Glut noch beträchtlich. Sonst war es sehr gemütlich und hübsch, über meine Erwartungen. Man muß Bessy wirklich im Haus gesehen haben als famose, umsichtige, brillante Hausfrau, als reizende Mutter mit ihren zwei goldigen babies, als sorgsame, wenn auch nicht hingebende oder freundliche Gattin – ehe man über sie ein Urteil fällt. Gegen mich war sie so lieb und warmherzig, daß es von mir krasser Undank wäre, sie zu richten. Doch kann ich nicht leugnen, daß mir ihre unfeine, burschikose Art in Ausdruck und Manieren, ihre rohe, unanständige, ja selbst frivole Weise, in der sie über alles spricht, sehr zuwider ist. Ich halte sie für unerzogen, aber nicht für oberflächlich, wie sie sich oft den Anschein gibt. Ich glaube, sie sucht etwas darin, ihre besten Seiten zu verstecken und jeder Sitte ins Gesicht zu schlagen. Sehr viel verschuldet auch Karl, der nie den Herrn zeigt und sich zum guten, braven Waschlappen herausgewachsen hat und zu allem Ja und Amen sagt. Das muß ja Bettys Natur aufstacheln und reizen. Am selben Tag wie ich kam H.,¹⁴ wie sich später herausstellte, mit sehr bestimmten Absichten. Sein Besuch konnte mir weiter nicht auffallen und ich bin so daran gewöhnt, mit Vettern ohne Nebengedanken zu verkehren, daß ich mir nicht das Geringste schwanen ließ. Instinktiv, ich weiß nicht woher – hatte ich aber doch das dumpfe Gefühl, schon seit Jahren, als ob mir mit ihm einmal etwas passieren würde. Daher war ich von Anfang an auf der Hut und bin mir klar bewußt, auch nicht die leiseste Anspielung, das kleinste Compliment aus seinem Munde gehört zu haben. Wir waren fast immer zusammen mit Karl und Bessy und führten zwei Tage eines wahren Sommer-Schlaraffenlebens. Vom Frühstück oben am alten Schloß, wo der Blick in das morgenfrische Thal zauberisch schön war, bis zum späten Abend, da wir im Grase liegend Kühlung suchten und die Sterne zählten, lebten und aßen wir im Freien. Dazwischen wurde spazieren gefahren, mit den Kindern geschaukelt, gegossen, der Garten durchstreift – es war wunderhübsch. Am Abend kam H. damit heraus, daß er auch nach Bay-

14 Heinrich von Kuenßberg.

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reuth zum Parsifal fahre – Tante Anna K. habe all unsere Billette besorgt. „Ob ich etwas dagegen hätte, wenn wir zusammen reisten?“ „Aber bewahre! Das ist ja ganz selbstverständlich!“ In der Nacht nun wurde ich so krank, daß ich mich zum Sterben fühlte. War es die tropische Hitze, die selbst in der Nacht nicht wich – war es ein kalter Trunk aus dem Schloßbrunnen – kurz, ich übergab mich von 12 Uhr bis um fünf mit kurzen Pausen und dachte, meine letzte Stunde sei herbeigekommen. Dabei der schreckliche Gedanke der ersehnten Parsifalvorstellung am selben Tag! Es war rein zum Verzweifeln! Wie ein Schreckgespenst erschien ich um sechs Uhr bei Betty und schrie nach Cognac und ich werde nie vergessen, wie reizend besorgt, beinah mütterlich sich der Unband bei dieser Gelegenheit benahm! – Mit der großen Cognacbuddel bewaffnet, fuhren wir dann nebeneinander in den grauen neblichten Morgen hinein, H. und ich, er war sehr besorgt und rücksichtsvoll, ich – vielleicht durch mein körperliches Elend – ängstlicher und aggressiver als jemals sonst während unseres Zusammenseins. Dann saßen wir uns allein im Coupé gegenüber und führten, so viel ich davon weiß, eine blödsinnige, gezwungene Conversation. Ich weiß nur, daß ich dachte: „Wenn er mir jetzt die Cour macht, breche ich in Thränen aus!“ Am Knotenpunkt rettete ich mich ins Damencoupé und trank „unentwegt“ Cognac. Das blieb den ganzen Tag meine einzige Nahrung und ich verstehe jetzt noch nicht, daß ich weder betrunken noch schläfrig davon wurde. In Bayreuth angelangt, legte ich mich ins Bett, von der lieben Tante Marie mit Sorgfalt umgeben, und schlief bis zur Vorstellung, die ich mit Tante Anna und H. besuchte. Mit letzterem saß ich zusammen, von Tante getrennt – aber ich muß gestehen, daß ich seine Gegenwart wie alles Äußere über dem mächtigen Eindruck des Parsifal vergaß. Es gibt Eindrücke, die man nur einmal im Leben hat; bei denen man sich sagt: „So etwas hast du noch nie empfunden und wirst es auch nie wieder genau so empfinden! Öffne alle Schleusen deines Seins, nütze den Moment, solange er dir geschenkt wird!“ – Und daß ich nach dieser Nacht wohl und frei genug war, das zu können, erfüllt mich mit großem Dank gegen Gott! Trotzdem bin ich nicht so begeisterte Wagnerianerin, auch nicht musikalisch gebildet genug, um das Werk ganz und gar in allen seinen Teilen zu genießen. Im dritten Akt fand ich manche Längen und den Chor der Blumenmädchen verstehe ich nicht ganz. Aber als Ganzes nach Musik, Auffassung, Scenerie, Theater, Publikum und Stimmung ist es etwas so Erhabenes, Eigenartiges, Großes, daß es mir wie eine Offenbarung von Schönheit, Harmonie und Kraft – aber eine Offenbarung auf religiösem Gebiet war es mir nicht! Ich kann mir wohl denken, daß es Menschen gibt, denen dadurch ein unklares Sehnen nach Gott, der Wunsch nach Reinheit erweckt wird – fruchtbringend kann ich es mir nicht denken. Ich sehe darin – und ich glaube auch nicht, daß es

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Wagners Absicht war – weder die Feier des heiligen Abendmahls noch in Parsifal den erlösenden Christus. Es ist Symbol, aber nicht Wirklichkeit! Viel mehr als die Handlung erfüllte mich die Musik. Besonders die ersten Töne des Abendmahlsmotivs und die Knabenstimmen aus der Kuppel sind hinreißend schön und wecken wohl in jedem Menschen, der sie liebt, Wiederklänge im tiefsten Innern, die vielleicht sonst ewig schliefen. Kundry (die Gulbransson) war hervorragend; Parsifal kann ich mir noch vollendeter denken, aber auf die einzelne Kraft kommt es ja in Bayreuth nicht so an. Leider goß es in Strömen, sodaß mir der Genuß des schönen Blicks des Treibens um das Theater ganz verloren ging. Die internationale Gesellschaft war sehr gemischt; ich sah wenig Bekannte. Ein Franzose neben mir empörte mich, indem er zu seiner Frau nach der Schlußszene äußerte: „Tu sais, c′est une scène de ballet!“¹⁵ Ich hätte ihn am liebsten seitwärts geboxt vor Zorn! Aber im Übrigen sind gerade die Franzosen die ernstesten und begeistertsten Wagnerverehrer. Am nächsten Tag kam H. gleich nach dem ersten Frühstück und verlebte eigentlich den ganzen Tag mit uns. Früh fuhr Tante Marie mit uns beiden nach der Eremitage und da sie selbst schlecht zu Fuß, durchwanderte ich über eine Stunde mit H. die einsamen Garten- und Laubengänge, in denen die kleinen Einsiedeleien wie ein Rokoko-Schäferspiel anmuten. Die Gelegenheit zu einer Aussprache wäre günstig gewesen – das ist mir jetzt alles klar geworden – aber sie ging ungenützt vorüber. Zu Tisch waren wir bei Tante Anna; danach abermals eine Fahrt zu dritt nach der „Birke“, dem Familienstift, in dem ich seit dem vorigen Herbst wohlbestallte Stiftsdame bin. Das seignoriale Haus mit dem hohen Nürnberger Dach, schöner Treppe und Fluren, großen, hohen, hellen Zimmern, gefiel mir so gut, daß ich nicht abgeneigt wäre, meinen Lebensabend dort mit Mops und Kanarienvogel zu verbringen. Ich durchstöberte jeden Winkel, kroch unters Dach und in den Keller und freute mich über den hübschen Garten. Die Tante fuhr zu einem Thee und schickte mich mit Heinrich in den Schloßgarten zum Konzert. Wieder eine Stunde Auf- und Abpendelns in schattigen, einsamen Alleen! – Wir hatten uns wirklich fast ausgesprochen; wenigstens war das meine Auffassung der Sachlage! Bei dem Thee bei einer Familie Beck war es sehr amüsant und anregend; eines der Blumenmädchen, Anna Wiegand, sang ganz reizend, frisch und angenehm. Nach dem Abendbrot bei Tante Marie reiste Heinrich ab. Ich glaube, die gute Tante ließ uns absichtlich zum Abschiednehmen allein; aber dasselbe war so unbefangen und trivial, daß ihre Zartheit unnötig war. Ich legte mich ins Bett mit dem

15 Weisst Du, es ist eine Ballettszene.

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erleichterten Seufzer: „Was bist du für eine Gans gewesen! Für eine dumme eingebildete Person! Er denkt ja nicht dran!“ Am nächsten Morgen wurde ich mit einem armlangen Rosenstrauß und einem kurzen Briefchen geweckt, der jeden weiteren Zweifel zerstörte.Vor die neugierigen Augen der Tanten mit meinem Riesenbouquet hinzutreten war peinlich im höchsten Grad; ich drehte alles auf den galanten Vetter und tat nach Kräften dumm. Glücklicherweise ging bald mein Zug, in dem ich die schönen Rosen liegen lassen mußte, wollte ich nicht der Cousinen neugierige Fragen hervorrufen. Die zwei Tage in Ahorn mit den Verwandten, Hansens angenehmer, feiner Frau und den süßen Kindern waren sonnig, fröhlich und äußerlich sehr gemütlich. In meinem Inneren war ich sehr unsettled, obwohl mein Entschluß vom ersten Moment an fest stand. Aber der Gedanke an den armen, schüchternen guten Menschen machte mich sehr unglücklich und ich zermarterte mir das Gehirn, um eine ermutigende Äußerung von mir, die eine solche Annäherung hervorgerufen, zu finden. Am 12ten kehrte ich heim, mit demselben Zug wie Schwarzens,¹⁶ die auf drei bis vier Wochen Sommerfrische zu uns kamen. Eine Aussprache, die ich gleich am ersten Abend mit den Eltern hatte, bestärkte und erleichterte mich zugleich. Vaters herrliche Klarheit und Sicherheit war mir ganz besonders ein großer Trost. Ein paar wichtige Fragen – eine kurze Darlegung von Für und Wider – ein gerechtes Abwägen der beiden – und die Sache war erledigt. Ich werde es beiden Eltern nie vergessen, daß sie mir mit keinem Wort zugeredet, daß sie in der ganzen Zeit mir solche Freiheit ließen in Denken und Handeln. In der folgenden Woche habe ich viel gedacht und erwogen, aber es widerstrebt mir, mein innerstes Empfinden und Denken zu Papier zu bringen! Am folgenden Sonntag, den 19., kam der entscheidende Brief an Vater und an mich direkt. Fanny Wegnern, die gerade hier war, wurde auf der Eltern Wunsch von mir ins Vertrauen gezogen, mehr zur Bestätigung als zur Entscheidung. Ich schrieb sofort an Heinrich, wie ich glaube, einen sehr herzlichen Brief. Er ward mir sauer genug, aber es war mir damit wie eine Last vom Herzen gefallen. Nichts ist quälender als solch Zwischenzustand. Während sich so im Hause eine kleine Entscheidung abspielte, fiel zum Schluß des Landtags mit dem Mittellandkanal eine ganz Deutschland erregende große Entscheidung.Vater kam nach endlosen Sitzungen erst Mitte September zurück, die Folgen der unvorhergesehenen Abstimmung nicht ahnend. Dann folgte Schlag auf Schlag die Vergeltung, ich möchte es fast Rache nennen, die S.M. auf das Scheitern

16 Sophie Schwarz (1841 – 1882), geb. Freiin von Erffa, Schwester von Hildegards Vater, mit Pastor Friedrich Schwarz verheiratet, war schon 1882 verstorben. 1885 heiratete er Alice von Wilpert.

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seines Lieblingsprojektes folgen ließ. Zuerst wurden die Landräte abgesetzt – dann die Kammerherrn mittels Dekrets „vom Hoflager verbannt“! Wir persönlich nahmen die Sache nicht tragisch, aber für den Kaiser, für die Regierung sind es Schritte, die jeder Deutsche nur tief beklagen kann. An den kleinen thüringischen Höfen sind wir nun dadurch umso populärer geworden. Der alte Altenburger, bei dem wir zu einer kleinen unofficiellen Tafel geladen waren, schüttelte uns immer wieder unter Freundschaftsversicherungen die Hände und auch die Schwarzburger waren äußerst liebenswürdig. Die achtstündige Fahrt nach Schwarzburg war ziemlich anstrengend, obwohl das Wetter herrlich und der Weg durchs Schwarzathal entzückend war. Dort war eine sehr großartige Tafel mit vielen Gästen: die Oldenburger Erbgroßherzogin mit ihrer reizenden, eben erwachsenen Stieftochter Lotta, deren Suite, Prinz Adolf und Thekla, Landrats, Heydens und das Gefolge. Es herrscht dort die alte – ich will nicht sagen schöne – Sitte, daß jeder Gast, der zum ersten Mal eingeladen, einen Trinkspruch ausbringt und aus einer goldenen Auerhenne den Herrschaften zutrinkt. Die Herren bekommen außerdem noch einen schweren Klotz um den Hals, der ihnen das Reden bedeutend erschwert. Wir waren mit Landrats sechs Opfer an diesem Tag und wir hatten uns die verschiedenen Familienmitglieder der Schwarzburger verteilt und im Wagen kleine Toaste in Poesie und Prosa gezimmert. Aber es ist doch ein schönes Ding um Unbefangenheit und Dreistigkeit: Sabine sagte mir, daß es ihr nicht anders zumute war, als wenn sie zu mir gesprochen hätte, während ich, wohl äußerlich ruhig, aber krebsrot und mit Herzklopfen mein Verschen herausschrie. Es war zum Glück kurz: „Es rauschet die Schwarza – es balzet der Hahn, Gott lasse Haus Schwarzburg nur Gutes empfahn!“ Vater hatte ein reizendes Gedicht gemacht und erntete viel Dank und Freude. Nach Tisch saß man auf der unvergleichlichen Terrasse und machte recht animierte Conversation. Mit der Erbgroßherzogin hatte ich eine längere Conversation über Bayreuth und Geschichte und fand sie recht angenehm und bedeutend. Sie sucht förmlich etwas darin, sich nicht als Fürstin zu geben. Das ist im Verkehr angenehm, fällt aber im größeren Kreis oft als Schlaksigkeit und Mangel an Würde auf. Derenthals und Freges sahen wir einige Mal und freundeten uns mit ersteren weiter an. Emma ist nicht so en beau ¹⁷ wie letztes Jahr, aber ein liebes, originelles, kluges Ding, mir viel sympathischer als Mohls. Frege ist überwältigend in seiner Höflichkeit und in seinem Wortschwall. Winsloe, der gerade bei uns war, als er auf kurzen Besuch herüberkam, sah ihn ganz starr an und meinte nur, nachdem sich die Türe hinter jenem geschlossen, in seiner bedächtigen Art: „Gott! Was kann der Mann reden!“

17 Gutaussehend.

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Der Schwarz′sche Besuch war nicht so genußreich, wie er hätte sein können, ja – es ist häßlich zu sagen! Wir atmeten auf, als sie uns verließen, um über Lauchröden – Wehrda heimzukehren. Onkel war wie stets der liebenswürdigste, bescheidenste, angenehmste Gast, den ich mir denken kann! Er hat die seltene, freundliche Gabe, in der reizendsten Weise auf die Interessen eines Jeden einzugehen, sich ebenso für Mutters Bienen als für Vaters Politik, für meine Lektüre als Sabinens Malen und Burkharts Wassertiere zu interessieren. Ich glaube kaum, daß er dies Interesse wirklich immer empfindet, obwohl er fabelhaft vielseitig ist, aber jedenfalls gelingt es ihm, jeden Einzelnen zu gewinnen und zu überzeugen. Wir erklären allesamt, daß wir Onkel allein gern auf ein ganzes Jahr zu Gast haben möchten. Die Kinder sind auch sympathisch, obwohl ziemlich anspruchsvoll und in Manieren, besonders bei Tisch, schlecht erzogen – aber der Stein des Anstoßes war Tante Alice. So sehr wir uns von ihrer Schönheit und Anmut einerseits angezogen fühlten, so sehr hatten wir zu kämpfen, um unseren Mangel an Sympathie für sie zu verbergen. Mutter war nach unserer Ansicht zu gut gegen sie, doch auch sie und Vater litten oft unter ihrer Unliebenswürdigkeit. Ich muß gestehen, daß wir drei Kinder manchmal einfach empört waren über ihren maßlosen Egoismus, selbst gegen Mann und Kinder, ihre Ansprüche und ihre Launenhaftigkeit. Ich kann mich kaum erinnern, einen schwierigeren Gast gehabt zu haben. Und trotzdem freue ich mich, besonders des lieben Onkels wegen, daß sie keinen Eindruck von unserer Stimmung mit fortnahm, sondern alles harmonisch und verwandtschaftlich ablief. Um der Kinder Amusement hatten wir uns allerdings verdient gemacht; bald eine große Kocherei veranstaltet, bald Spiele bis zur Erschlaffung mitgemacht – der Glanzpunkt war eine Vorstellung des Freischütz, den wir drei Geschwister auf unserem alten Puppentheater mit großem Erfolg spielten. Alte Kindererinnerungen tauchten auf und machten, daß sich die Acteure ebenso amüsierten wie das jugendliche Publikum. Leider nur verdarben sie die schaurigsten Stellen und rührendsten Passagen durch unbesiegbares Gelächter! Der Verkehr mit den Ludwigshöfern¹⁸ florierte sehr trotz der Trauer. Es ist wunderbar zu sehen, wenn ein lieber Verstorbener seinen Geist und Sinn, seine ganze Individualität im Kreise seiner Familie gleichsam zurückläßt. So oft hat man beim Tod des Vaters das Gefühl, als ob nun gleich alles zusammenbricht, als ob Witwe und Kinder vor großem Schmerz haltlos und unthätig geworden oder in anderen Fällen – als ob sie gleich drüber fortleben und alles anders wird. Hier ist es ganz wie früher; sie sind alle weicher und zugänglicher, aber sonst so gesammelt und natürlich, wie ich es selten erlebt. Man fühlt deutlich, daß sie alle sich bemühen, so zu sein und zu handeln, wie es nach des Mannes und Vaters

18 Ludwigshof, heute Ortsteil von Ranis, war im Besitz der Familie von Breitenbauch.

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Willen gewesen. Das einzig störende Element ist Wolfs Frau, eine Berliner Generalstochter, die sich schwer in die fremden Verhältnisse schicken konnte und überhaupt ein merkwürdiges, amazonenhaftes, ungebändigtes Geschöpf zu sein scheint. Aber man muß gerechterweise zugeben, daß der Anfang in der Familie in dieser tiefsten Trauerzeit schwer für sie war, zumal da sie wußte, daß der Verstorbene sie nicht gern gesehen als Schwiegertochter. Ich glaube, ich erwähnte noch gar nicht, daß sich Carl Erffa Anfang Juni mit einer Gräfin Elisabeth Schwerin-Putzar verlobte. Diese Partie, die ihn sehr glücklich machte, war ganz nach unserem Wunsch: ein älteres, anscheinend reizendes Mädchen, eine vornehme Familie, einmal ganz etwas Frisches, Neues. Zu unserer Freude wurden auch Sabine und Burkhart eingeladen – ich bin ja die vereidigte Brautjungfer – sodaß wir am 24ten zu fünft sehr fidel abgondelten. Bei der Ankunft abends in Berlin hatten wir gleich eine sehr komische Rencontre mit den Ahornern. Wir erspähten Alla, wie er eben zu Marie und seiner Braut in eine Droschke steigen wollte, hielten ihn aber für Gotthard und riefen ihn als solchen an. Ob er nun vom Getriebe der Capitale so benommen oder von seiner Braut ganz erfüllt war, er reagierte nicht im Geringsten. Selbst, als Sabine und Burkhart ihm folgten und ihm den immerhin ungewöhnlichen Namen seines Bruders ins Ohr tuteten, Sabine ihn selbst am Ärmel faßte, machte es keinen Eindruck. Er schüttelte sie so energisch ab, daß sie, beide ganz kleinlaut, selbst unsicher geworden, wieder zu uns kamen: „Er hält uns für Bauernfänger, für zudringlichen Großstadtplebs.“ Natürlich zogen wir ihn später weidlich damit auf. Unser netter Plan, Burkhart die Honneurs Berlins zu machen, scheiterte am schlechten Wetter, – wir waren froh, als wir die nötigsten Besorgungen erledigt hatten und trocken in der Spitzemberg′schen Wohnung saßen. Am Abend unterhielten wir uns kostbar im „Biberpelz“ von Hauptmann. Es war das erste realistische Stück, das ich sah und – ich muß sagen – im ersten Akt, besonders in den ersten Scenen, war ich ganz entsetzt und überwältigt von der Häßlichkeit und Gewöhnlichkeit, die sich da für Auge und Ohr darbot. Auch im Leben fühle ich mich in solchen schmutzigen, unordentlichen Wohnungen, mit solch gemeinen Menschen abgestoßen, und daß man dies noch als Extragenuß vorführt, versetzte mir zuerst einen Choc. Dann aber wirkte die fabelhafte Treue der Schilderung sowohl als die Darstellung doch mächtig und ich fing an zu bewundern, etwa so wie man Franz Hals und Menzel bewundert: von der Wahrheit gepackt, halb erschreckt und halb amüsiert – aber gar nicht gehoben oder begeistert. – Ich glaube, daß wir, die auf dem Lande viel mit den Leuten in Contakt gekommen, die Feinheiten des Spiels ganz besonders genießen konnten. Das konnte ja genau so in Wernburg oder in Ranis passiert sein, das konnten unsere Tagelöhner, unser Amtsdiener, unsere Waschfrau sein! Wir sahen uns immer verständnisinnig an und freuten uns über die Echtheit. Es ist eben

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ein ganz anderer Zweck, der von den Modernen verfolgt wird – aber es war in diesem Fall erreicht! Am anderen Morgen fuhr die ganze Erffa′sche Hochzeitsgesellschaft in einem bestellten Salonwagen von Berlin los. Es waren: Tante Bertha, Marie, Lene, Gotthard, Alla mit Braut Mimi Bibra, Speßhardts, Tante Anna Künßberg, Wertherns, Stutterheims und Benecke – letztere drei als Nachbarn und Freunde Carls. In Pasewalk kamen noch Siegmunds Stein und Johanna dazu – eine sehr fidele, laute Gesellschaft, die für den uns in Borkenfriede abholenden zweiten Sohn Schwerin allerdings überwältigend gewesen sein muß. Er schachtelte uns aber mit großer Gewandtheit in fünf Landauer und vierelang ging′s, leider bei Regen, nach Putzar. Letzteres ist ein wunderschönes altes Schloß in herrlichem Park mit großem See und die ganze Sache, Räume, Ausstattung, Einrichtung macht einen sehr feudalen Eindruck, der durch die Einfachheit noch verstärkt wird. Die Gräfin-Mutter empfing uns, umgeben von vier Töchtern und fünf Söhnen, eine sehr stattliche Familie, die noch durch eine Schwiegertochter und Carl vermehrt wurde. Die Gräfin¹⁹ ist eine geborene Mühler, eine überaus tüchtige, energische, begabte Frau, die aber auch les défauts de ses qualités: ²⁰ Herrschsucht, Schroffheit und einen maßlosen Willen besitzt und als „Königin-Wittwe von Pommern“ allgemein gefürchtet wird. Einen alten Familienzwist, der sich noch zu Lebzeiten ihres Mannes wohl durch ihre Schuld anspann, hält sie mit einer fantastischen Hartnäckigkeit aufrecht trotz aller Versöhnungsversuche der Gegenpartei. Es ist, als ob ihr die Fähigkeit zu vergeben und zu vergessen ganz abginge; rätselhaft ist mir nur, wie sie dies Verhalten mit ihrer sonstigen Frömmigkeit vereinigen kann. Ich glaube, daß die Kinder sehr unter diesem Zerwürfnis leiden, aber die Art, wie sie sich ihrer Mutter beugen, hat etwas Rührendes und für mich Großes! – Das war es auch, was die sonst hübsche Hochzeit trübte: Der Mangel an Verwandtschaft von Schwerin′scher Seite. Selbst die einzige, auf eine Stunde wohnende Tante, Schwester des Vaters, war nicht eingeladen; ebenso wenig die Löwitzer, unsere Freunde. Hausgäste waren nur die Großmutter Mühler, die berühmte „Adelheid“,²¹ mit zwei Töchtern und eine Brautjungfer. Dazu kamen noch der alte Schwerinsburger Graf mit Sohn und Enkeln und am Polterabend eine Menge Nachbarn Oertzen, Heyden, Schwerin, Versen etc.

19 Charlotte Gräfin von Schwerin-Putzar (1847– 1925), Tochter von Adelheid und Heinrich von Mühler. 20 „Die Fehler ihrer Eigenschaften“. 21 Adelheid von Mühler, geb. von Goßler (1821 – 1901), Witwe des preußischen Kultusministers Heinrich von Mühler, die als sehr intrigant galt und versuchte, sich in die Politik ihres Mannes einzumischen.

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Zum Polterabend war das Gewächshaus zu einer herrlichen Bühne nebst Zuschauerraum hergerichtet. Der Anziehraum bestand allerdings nur aus dem Gänsestall, der so niedrig war, daß man gebückt stehen mußte und so klein, daß wir ihn zu viert vollständig füllten. Nur ein kippeliger Stuhl mit Lampe mußte zur Beleuchtung drin Platz finden und ich fasse es noch nicht, wie es ohne Feuersbrunst ablaufen konnte. Ähnliche Zustände hatten wir vorausgesehen und uns daher mit Kostümen denkbarst beschränkt. Wir stellten Sonne (ich), Mond (Burkhart), Stern (Sabine) dar, erschienen aber in unserem menschlichen Gesellschaftsgewand, wir in gelben Atlaskleidern, Burkhart in Frack und weißer Weste. Nur die Kopfputze, die betreffenden Gestirne darstellend, wurden im letzten Moment übergestülpt. So machte die ganze Sache einen improvisierten, überraschenden Eindruck und meine paar Verschen erregten große Heiterkeit, trotzdem sie lumpig genug waren. Bei Aufführungen macht ja guter Vortrag und nette Gesten alles; verschiedene andere Produktionen, die reizend gedichtet, zogen klanglos vorüber, weil sie entweder unvernehmlich geflüstert oder häßlich geleiert wurden. Am Reizendsten war eine bildhübsche Gräfin Gudrun Schwerin als Nixe aus dem Putzarer See: Ihre Erscheinung, Stimme und Bewegungen paßten wie geschaffen zu der zarten Poesie. Die Geschwister der Braut führten ein Lustspiel von Lindau auf: „Der Zankapfel“,²² welches mir für Liebhaberaufführungen nicht fein genug war. Als die übrigens charmante Schwiegertochter nachher erzählte: „Sie glauben nicht, wieviel wir gestrichen haben“, dachte wohl jeder: „Wie muß es da im Urtext gewesen sein!“ Das sagt wohl alles! Souper und Tanzen waren lustig und animiert, obwohl nur wenige Tänzer vorhanden waren. Die Söhne des Hauses zeichneten sich sämtlich durch große Liebenswürdigkeit und vornehme Ritterlichkeit aus. Die Braut muß auf den ersten Blick gefallen; ohne hübsch zu sein, hat sie ein so angenehmes, liebes Gesicht, ihr Wesen ist so voll Herzlichkeit und Natürlichkeit, daß man ihr gleich gut ist. Sehr nett und sympathisch ist die folgende Schwester Vera, während die beiden Backfische noch im Elefantenküken-Stadium sind. Unfreundlich war nur die Gräfin Mutter; sie schleuderte uns gleich am Anfang als Dank für unsere Aufführung eine Schnödigkeit über unsere „häßlichen alten Boas“ an den Kopf, ja riß uns später dieselben sogar fort – sodaß wir einigermaßen verblüfft waren! Am Hochzeitstag machte sie aber Alles durch große Liebenswürdigkeit wett und zuletzt war eine Liebe und Herzlichkeit zwischen uns. Am 27.9. war schon um halb ein Uhr die Trauung. Wendland, der Hofprediger aus Potsdam hielt die schönste Traurede, die ich je gehört. Ich hörte fast atemlos zu, bis

22 Der Zankapfel, 1875 erschienener Schwank von Paul Lindau.

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ich die Idee im Kopfe hatte: „Wie würde es sein, wenn du nun hier mit H. ständest?“ Jedes Wort bestätigte mir, daß das einfach entsetzlich wäre, daß ich bei dieser hohen und idealen Auffassung der Ehe, wie er sie da schilderte, nichts empfinden würde als die bitterste Reue, eine namenlose Leere, und daß ich wahrscheinlich jammervoll weinen würde an meiner Hochzeitsfeier. Die Braut war sehr ungünstig frisiert und angezogen und sah nicht hübsch aus; der gute Has²³ machte sich in Kammerherrenuniform recht stattlich und gesetzt. Ich denke, es war seine 28.te Hochzeit, die er mitmachte! Bei Tisch saß ich zwischen zwei Brüdern Schwerin, Max und Victor und unterhielt mich sehr gut. Toaste waren mäßig, aber zum Glück nicht viel. Der Pastor sprach endlos auf das Brautpaar und wenn er auch gut und witzig redet, so ziehe ich Laienreden in diesem Fall bedeutend vor; die Kirche ist sein Reich – beim Essen soll ein Verwandter oder Gast zum Wort gelassen werden. Das ist mein Geschmack! Gleich nach Tisch reiste das junge Paar ab, während wir mit Spazierengehen, Tanzen und Plaudern einen sehr gemütlichen Tag verbrachten. Ich habe auch das Zusammensein mit den mir lieben Verwandten: Siegmunds, Johanna, Lene und Marie sehr genossen. Speßhardts²⁴ Unteroffizierton kann ich nicht verknusen und Alla²⁵ nebst Braut langweilten mich mehr als ich sagen kann. Dies letztere arme Würmchen spielte eine Unglücksrolle, obwohl wir uns alle sehr um sie annahmen. Daß sie häßlich, unterirdisch und schlecht angezogen war, kann uns ja egal sein – aber für die Familie beklagen wir wirklich, daß ihr Niveau an Unterhaltung und Bildung, kurz ihr ganzes Wesen so sehr niedrig scheint. Sie ist nicht unfein oder gewöhnlich, aber eben gar nicht, wie eine Standesgenossin; jedes Kammerjüngferchen oder kleine Poessnecker Mädchen würde sich ebenso, wenn nicht besser benehmen. Aber die Ahorner, anstatt sie noch ein bißchen zu modeln, haben sich aus Widerspruch in eine solche Begeisterung hineingesteigert, daß man kein Wort sagen darf. Und Alla als Bräutigam! Am Morgen trank das Brautpaar in verschiedenen Zimmern Kaffee und das kleine Schäfchen erzählte jedem, der sie darüber interpellierte: „Ja, gestern saßen wir auch zusammen, aber Alla sagt, es wäre ihm so lieber – er könnte mehr essen!“ – Das sollte mir einmal meiner sagen! Am Tag nach der Hochzeit blieben wir noch etwas länger als die übrigen Gäste, da wir per Wagen zu unseren Schwerins in das nahe Löwitz fuhren. So saßen wir bei schönstem Wetter in dem herrlichen Park, nur mit der engsten Familie zusammen und hatten den Eindruck eines wunderschönen, friedlichen Familienle23 Spitzname des Bräutigams Karl Freiherrn von Erffa (1865 – 1911). 24 Dietrich von Speßhardt (1857– 1926), Berufsoffizier, Ehemann von Emmy, geb. Freiin von Erffa (1860 – 1941), Schwester des Bräutigams. 25 Alfred Freiherr von Erffa (1873 – 1933), jüngster Bruder des Bräutigams, verlobt mit Amalie (Mimi) Freiin von Bibra (1878 – 1949).

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bens. Wie sie auch gegen außen hin sein mögen, im Hause zeigen sie sich von der besten, lichtesten Seite und das ist doch das Wichtigste, der Schwerpunkt, auf den es ankommt. Burkhart war direkt nach Haus zurück, während wir unsere pommersche Vettern- und Freundesreise antraten. Sind die Einblicke, die man bei solchem Umherreisen in die verschiedenen Häuser thut, auch flüchtig, so ist es doch ebenso bildend als anregend – und etwas lernen kann man überall! Löwitz ist total anders als Putzar, das Haus modern und nicht eben schön vom jetzigen Grafen gebaut – der Parc erst im Werden begriffen. Aber Haushalt, Train und Einrichtung sind hier bedeutend opulenter und eleganter und man merkt, daß Graf und Gräfin in der Welt herumgekommen und Geschmack und Sinn für ein schönes wohnliches Heim haben. Leider war das Wetter meist ungünstig, sodaß wir von der Umgebung wenig und das nicht in bester Beleuchtung sahen. Sabine war ja nach ihren zwei Aufenthalten dort wie Kind im Haus und feierte mit Allem Wiedersehen, aber ich hätte mir fürs erste Mal doch etwas mehr Sonne gewünscht. Einmal machten wir zwar eine gelungene Pürschfahrt, bei der der Graf einen Bock erlegte, und einmal fuhren wir zum alten Grafen, um den herrlichen, feudalen Besitz, das vom Feldmarschall erbaute Schwerinsburg zu sehen – aber sonst begaben wir uns eigentlich immer vom Eßtisch zum Kaminfeuer und vom Kaminfeuer zum Eßtisch. Denn gegessen wurde alle vier Stunden und in Quantitäten, die uns einfache Thüringer erstarrte. Die Gräfin hatte vor ganz kurzer Zeit ihre einzige Schwester verloren und suchte in langen tête à têtes mit Mutter Aussprache und Trost. So waren wir hauptsächlich auf die junge Gouvernante angewiesen, die ein ungewöhnliches, bedeutendes und liebes Mädchen zu sein scheint. Der Graf ist sehr beschäftigt mit politischen Pflichten, Gutsverwaltung und seinem wundervollen Gestüt. Er ist ein seltener Mensch; obwohl er äußerst schweigsam ist, fühlt man sofort, daß er ein durch und durch guter Mensch ist und diese Überzeugung habe ich bei wenig Menschen vom ersten Sehen an. Bei einem Streit zwischen ihm und der Putzarer Gräfin kann man wirklich nicht im Zweifel bleiben, wer der schuldige Teil war. Vater war schon früher zu einer Tierschau in Ranis nach Hause gefahren. Wir hatten alle drei nach Hinterpommern zu Belows gewollt, aber nach den netten Tagen in Vorpommern fehlte uns sämtlich die Reiselust. Sei es die lange, langweilige Reise nach Stolp, sei es eine sehr verlockende Parforcejagd mit Ball in Schwerinsburg – wir sahen alles in trüber Beleuchtung und der Entschluß war endlos und hart. Schließlich blieb Sabine in Löwitz und ich begleitete die Mutter nach Saleske. Ich muß gestehen, daß ich mir wirklich wie ein Schlachtopfer vorkam, als ich auf die Jagd verzichtete – und möchte doch jetzt die hübschen Tage bei den Verwandten nicht um vieles hergeben, ja, sie erschienen mir als der Glanzpunkt, das beste Teil der ganzen Reise. Wie blind und befangen in unseren Stimmungen und Vorurteilen

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sind wir doch selbst in solch kleinen Entscheidungen im Leben; wie blind müssen wir erst großen Lebensfragen gegenüber sein! Sich darin vom Pflichtgefühl leiten zu lassen, erscheint mir doch als das Einzige, denn wenn es auch nicht stets wie hier, seinen Lohn trägt, so tröstet uns wenigstens innere Ruhe! Am 1ten Oktober langten wir um 11 Uhr todmüde in Saleske an und fühlten uns trotzdem vom ersten Moment an unter dem Banne einer harmonischen, behaglichen und gastlichen Häuslichkeit. Dieser Eindruck des Sichwohlfühlens verstärkte sich von Tag zu Tag, sodaß wir noch etwas Zeit zugaben und fast eine Woche, bis zum 7ten in dem friedlichen Heim blieben. Mutter, die vor fast 30 Jahren als Mädchen schöne Zeiten hier verlebt hatte, ging immerfort in Garten und Haus, an allen lieben alten Flecken, in einer Stimmung herum, die aus Wehmut und schmerzlicher Erinnerung und aus Freude über die junge Generation gemischt war. Ich habe sie selten an einem anderen Ort als in Wernburg so heimisch und ruhig gefunden wie hier. Das Haus ist von außen sehr wenig schön, aber von innen wohnlich und behaglich und von Änni mit englischem Komfort und viel Kunstsinn eingerichtet. Aber mehr als all das sind es doch wohl die Menschen, die, selbst warmherzig und einträchtig, eine Atmosphäre von Wärme und Frieden um sich verbreiten. Walter²⁶ ist ganz der Alte: ein eifriger begeisterter Landwirt – ein rührender Hausherr voll zarter Rücksichten – aber trotz seiner etwas weichen Außenseite tüchtig und energisch. Wie er das für ihn oft sehr bittere, schwierige Verhältnis mit seinem gewalttätigen Vater in Liebe und Frieden weiterführt, ist wahrhaftig bewundernswürdig. Änni ist eine merkwürdige Frau und darf nach ihrer ganzen Abstammung und kosmopolitischen Jugend nicht mit dem Maßstab der deutschen Hausfrau, besonders derjenigen Hinterpommerns gemessen werden. Aber ich finde es doch famos, wie sie sich in die gänzlich fremden Verhältnisse hineingefunden hat und ihren Platz ausfüllt. Nachdem sie einen Winter in Cairo, einen in Paris ausgegangen ist; in London gemalt und in Italien gesungen hat, steht sie jetzt um 6 Uhr auf, um ihren Haushalt zu besorgen, lernt ihre Köchin an, schneidert für ihre Kinder und arbeitet im Garten. Daneben allerdings liest sie alles, was an Interessantem herauskommt, schmückt alle Wände mit entzückenden Landschaften und Stillleben, singt mit einer Leidenschaft und einer Kunst, wie ich selten von Laien gehört und bleibt stets die elegante, gewandte Salondame. Das wird dort weder verstanden noch gewürdigt; man stößt sich an ihrer Lebhaftigkeit und an ihrer allerdings nicht sehr geschmackvollen Toilette, findet sie emancipiert und blaustrümpfig und ihren Gesang affektiert und unnatürlich! So haben sie sich immer mehr von der Nach-

26 Walter von Below (1863 – 1944) und Anna, geb. von Herder, Schriftstellerin (1865 – 1945).

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barschaft zurückgezogen und leben ihr stilles, arbeitsames und idyllisches Leben für sich und ihre drei reizenden Kinder. Diese sind meine ganze Wonne gewesen; das älteste kleine Mädchen ist eine Schönheit, aber lieber und amüsanter war mir noch der zweijährige Wedig, ein süßer, drolliger Bengel. Jedenfalls ist uns die Zeit niemals lang geworden: Mußten wir doch alles und jedes in Walters schöner Wirtschaft gründlich besichtigen und uns am neugeschaffenen, an einen englischen Park erinnernden Garten erfreuen. Inmitten desselben, von Rosen und Thuja umgeben, schlummern neben Tante Sophie²⁷ jetzt auch die beiden verunglückten Kinder. Es ist so friedlich und still dort; das Rehwild läuft darüber und die kleinen Vögel singen; die Zeit hat ihre unmerklich, aber sicher heilende Hand auch auf diese schrecklichste aller menschlichen Tragödien gelegt. Das Wetter war zeitweise miserabel; aber doch gelang es uns, zwei herrliche landschaftliche Eindrücke aus dieser als reizlos verschrienen Gegend mitzunehmen. Der eine war auf der Mole von Stolpmünde, die Sonne ging an wolkigem, düsterem Himmel unter und das Meer erglänzte in zarten bläulichen, irisierenden Tönen, die an das Perlmutter einer Muschel gemahnten. Es war nicht der landläufige, schöne Sonnenuntergang mit seiner glühenden Pracht und seinen glitzernden Wellchen, sondern eine zarte, verschwommene Beleuchtung, in der wenig Farbe, aber viel Stimmung lag; ein Bild, das man wohl in seinem ganzen intimen Reiz empfinden, aber unmöglich glaubwürdig zu Papier bringen könnte! Und dann die Dünen! Schon die Fahrt zu ihnen über die Moorkulturen mit ihrem gelbbraunen Ton, die so einsam und verlassen daliegen, durch das Stranddorf mit den niederen Pfahlbauten, in denen die alten Stränder mit den charaktervollen Gesichtern den Feierabend ihres Stürme- und erfahrungsreichen Weltumseglerlebens halten – ruft vielerlei Gedanken wach. Dann aber, wenn man stundenlang auf den weißen hohen Sandbergen läuft, vor sich nur Sand und Meer, Meer und Sand – jede Vegetation erstickt und erwürgt von dem langsam fortschreitenden Verderben – nur die obersten, armlangen Gipfel hoher Bäume aus dem weißen Einerlei hervorragend – keine Pflanze als die bizarre Stranddistel – kein Leben, kein Laut als das eintönige Plätschern der Wellen – da schweigen alle Gedanken vor dem überwältigenden Gefühl: So ist der Tod! So leise, so still, so unerbittlich und so starr! Auf dem Vesuv dachte ich der Hölle, doch nicht des Todes, denn unter der Asche glüht und donnert das Feuer – und Feuer ist Bewegung, Wärme, Leben! Aber hier ist es still und kalt; nur der Sand treibt leise im Wind und verwischt heute die Spur, die gestern dagewesen; unmerklich, unhörbar geht der Wechsel vor sich; das Leben versinkt, die Decke schließt sich über ihm in ihrer

27 Sophie von Below, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen (1844 – 1876), Schwester von Hildegards Mutter, früh verstorbene Ehefrau von Nikolaus von Below.

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Glätte und Weiße. Neuer Samen fliegt an, um kurz zu keimen, zu grünen, zu sterben! Der uralte ewige Kreislauf in den Dünen und im Menschenleben! Von der Nachbarschaft sahen wir wenig: eine Visite in Pustamin bei Dentzins hinterließ mir einen mopsigen, hinterwäldlerischen Eindruck. Ich kann eine Gastlichkeit nicht begreifen, die in der besten Absicht, die Gäste so zu ehren und zu erfreuen wie möglich, es fertigbringt, es ihnen recht gründlich unbehaglich zu machen! Obwohl wir nicht müde waren, mußten wir uns immer wieder setzen, anstatt uns umzusehen, obwohl wir satt waren, mußten wir essen und trinken, obwohl wir uns weigerten, wurde mit Quälen nicht geruht, bis wir uns unserer Hüte und sämtlicher möglichen Hüllen entledigt hatten. Als all diese Komplimente erledigt waren, mußten wir wieder fortfahren. Und das nennt sich Gastlichkeit!!! Sehr hübsch war es dagegen in Seehof bei Evas²⁸ alter Schwiegermutter, die uns zum Abendessen eingeladen hatte. Sie war im Begriff, das alte Heim, in dem sie das ganze Leben gehaust und geschaltet für das junge Paar zu räumen und in eine ärmliche Wohnung nach Stolp zu ziehen. Abgesehen davon, daß dieses Opfer bei ihrem Alter und ihrer Krankheit als eine Härte erscheint, begreift niemand den Zweck, die Notwendigkeit. Lebten Heinrichs in Seehof, so könnte man, besonders durch die Anwesenheit einer unverheirateten Tante und Schwester, diesen Wechsel verstehen. Da die jungen Leute aber ihr Landratsamt in Schlawe haben und Eva laut erklärt, niemals in das „häßliche Seehof“ ziehen zu wollen, so ist jedermann begreiflicherweise empört und schiebt der jungen Frau alle Schuld zu. Sie verneint aber dies gänzlich, versichert, daß Mann und Schwiegermutter alles hinter ihrem Rücken ausgemacht und sie mit dem fait accompli überrascht hätten. Ich finde, sie hätte auch dann noch dagegen kämpfen müssen und den Schritt nicht leiden dürfen. Die Cusserower glauben steif und fest, daß Tante Anna²⁹ mit ihrer mißverstandenen Sentimentalität und ihrer merkwürdigen Gewalttätigkeit dahinterstecke. Das scheint leider nur zu glaubhaft! Die alte Frau, die Mutter von früher her kannte und liebte, war reizend freundlich und gut; die ältliche interessante Tochter Helene und eine alte Tante Liesel denke ich mir minder leicht als Hausgenossen. Seehof ist ein unschönes Haus mit kleinen niederen Stuben und altmodischen Möbeln, dagegen soll der Park hervorragend schön und herrschaftlich sein. Alles kann der Mensch eben nicht haben. Eva hat nach der Ansicht aller Menschen solch fabelhaftes Glück entwickelt, daß ihr gleich nach der unglückseligen Affaire Oleg die Liebe dieses famosen

28 Eva Hofacker war mit Oleg von Herman verlobt gewesen, der die Verlobung gelöst hatte. Sie heiratete 1898 Heinrich von Below, Landrat in Schlawe. 29 Anna Hofacker, verwitwete Freifrau Schott von Schottenstein, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen, Evas Mutter.

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Mannes zufiel, daß ihr Undank jetzt doppelt unangenehm berührt. Aber die Liebe fehlt eben, und, wie ich fürchte, das rechte Pflichtgefühl! Nach dem Eindruck des Friedens, des liebenden ineinander Aufgehens und für einander Lebens, dem man sich in Saleske nicht entziehen kann, mußte dieser Mangel in Schlawe besonders fühlbar werden. Äußerlich ist ja alles vorhanden, was man sich an Glück für eine junge Frau wünschen kann. Ein großes, ganz behagliches Haus mit Garten, ein Stall mit vier Pferden, ein dicker pausbackiger Bub und ein allgemein geachteter, durch und durch guter Mann, der sie auf den Händen trägt und ihr jeden Wunsch von den Augen abliest. Und das alles nimmt sie gnädig hin, macht abfällige Bemerkungen über das pommersche Klima, die pommersche Geselligkeit, schimpft über die primitive Wohnung, den Mangel an Interessen, die dummen Namen auf „ow“! und was andere Herzlosigkeiten und zugleich Unklugheiten sind. Sie war gegen uns sehr nett; man fühlte ein großes Heimweh durch alles durch. Und darin tut sie mir auch sehr leid, aber ich kann doch ihren Undank, ihr passives Hinnehmen von so vielem Guten nicht verstehen und entschuldigen. Es kommt mir so unedel vor! Heinrich, ernst, etwas dozierend, liebenswürdig und klug, machte uns einen sehr angenehmen Eindruck; wenn er nur einmal den Herrn zeigte, nur einmal aufbegehrte, es könnte vieles besser sein! Onkel Nico hat mit seinem Wunsche: „Landgraf, werde hart!“ nur zu Recht! Wir blieben nur 24 Stunden in Schlawe, bummelten durch das im Herbstschmuck malerische Städtchen und besahen Evas ganze Einrichtung, die merkwürdig wenig hübsch, apart und gediegen erscheint. Ich glaube, sie hatte zu viel Ideen und Wünsche – nun ist es nichts Einheitliches, Behagliches geworden. Tante Wilma war bedenklich krank gewesen, weshalb wir nur ganz kurz nach Cusserow wollten. Auf allseitiges Bitten entschlossen wir uns zu einem Aufenthalt von zwei Tagen und bereuten es nicht: Es waren die fröhlichsten unserer ganzen Reise! Das muß bei dem furchtbaren Verlust Wunder nehmen und den Glauben erwecken, als sei der Schmerz vernarbt, vergessen, dem ist aber nicht so. Die Zimmer der Kinder³⁰ sind ganz geblieben wie sie waren; die Bettchen sind gemacht, die Puppen und Spielsachen liegen umhergestreut, als müßten die kleinen Besitzer jeden Augenblick wiederkommen. Ich glaube, daß Tante viele Stunden in diesen Räumen verbringt; sie sagte mir, daß sie sogar nachts die Tür, die in ihr Schlafzimmer führt, offenließen. Der Name, die Erinnerung kehrt fast in jeder Stunde wieder – und dabei doch dies Interesse, diese Fürsorge für andere, diese Harmonie im Verkehr, dieses große, fromme, ja fröhliche Tragen. Was machen mir Onkels

30 Die beiden Kinder waren 1895 beim Spielen in einer Sanddüne erstickt.

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antipastorale, antikirchliche, etwas sehr weiten Anschauungen? Er ist ein Christ, wie es wenige gibt. Tante war wie ein Hauch und trat bei Onkels Lebhaftigkeit sehr in den Hintergrund, aber sie freute sich so über Mutters langgewünschten Besuch, daß sie behauptete, sie fühle sich besser dadurch. Ganz besonders froh waren wir, Claus³¹ nach langer Zeit wiederzusehen. Er ist viel herumgeworfen worden indessen: Constantinopel, Madrid und Stockholm – das genügt für ein Jahr! Aber er ist trotzdem ganz der alte geblieben, ein vornehmer, sympathischer Mensch mit den angenehmsten Formen und einer unversiegbaren Fröhlichkeit, einer Fröhlichkeit, die nicht auf Gedankenlosigkeit und Leichtsinn, sondern auf innerer Reife und Ruhe aufgebaut ist. In unserer Zeit und in diesem Beruf und Alter – welche Seltenheit! Seine Anwesenheit erleichterte und erheiterte den für Tante immerhin angreifenden Besuch, kümmerte er sich doch um unser materielles Behagen, richtete die Obstschale, ja nahm sogar das Schlüsselkörbchen zur Hand. Es machte mir diebischen Spaß, ihn so zu sehen, ebenso zu beobachten, wie er mit seinen schönen Diplomatennägeln Epheu pflanzte und anband. Die Zeit verging nur zu schnell. Früh zogen wir in Garten und Hof umher und besichtigten Onkels hervorragende Wirtschaft und Brennerei. Onkel und Mutter gingen – alle Minute stehenbleibend – im Garten auf und ab und sprachen von alten Zeiten, während Claus und ich uns Stühle in die Sonne trugen und dort rösteten und schwatzten. Am Nachmittag fuhren wir im reizenden Viererzug durch die wechselvolle, anmutige Gegend. Welliges Terrain, schönes Laubholz, viele Seen und große Wiesen machen das Land zu einem wahren Parc und die Herbstbeleuchtung war so reizvoll, daß wir in Gedanken und Worten alle vier mit Lust aquarellierten. Onkel und Claus tun es auch mit der Tat sehr passioniert. Am Abend war es sehr gemütlich, Claus spielte meist während Onkel seine Geschichtchen erzählte. Einmal kamen Landrats aus Schlawe, sodaß wir einen großen, vergnügten Kreis bildeten. Cusserow ist ein von außen einfaches, aber äußerst geräumiges, schönes Herrenhaus und Onkel hat viel dafür getan. Alles, Haus und Hof, macht einen ausgezeichneten, gut geführten Eindruck und auch jetzt noch, nach dem Tod der Kinder, kümmert sich Onkel mit einer Frische und Tatkraft um die Geschäfte, die erstaunlich wirkt. Seine Originalität und Lebendigkeit war es überhaupt, die mir am meisten Spaß machte. Ich hatte ihn doch nie länger gesehen und saß daher immer wie im Theater. Dies Nachahmungstalent, diese Elastizität und Frische, diese spontanen Einfälle und Schnurren sind einzig in ihrer Art und man vergißt zu gern bei dieser Liebenswürdigkeit les revers de la médaille.

31 Claus von Below-Saleske (1866 – 1939), Diplomat, dritter Sohn von Nikolaus von Below und Sophie Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen.

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Eines Morgens, als wir beim Frühstück saßen, kam ein Bulgare mit einem großen, schönen Bären. Onkels Freude und Rührung kannte keine Grenzen. Einmal ist er fanatischer Tierfreund und dann erwachten Erinnerungen aus seiner russischen Leutnantszeit. Alles, was an Schönem auf dem Tisch war: Honig, Brot, Zucker, Milch mußte herbeigeschafft und dem „gutten, lieben, armen Tier“ auf Meißener Porzellan angeboten werden. Dabei erschütterte er es mit Lobpreisungen und russischen Kosenamen und schließlich machte er es so treffend nach in seinen täppischen, drolligen Bewegungen, daß die Schaustellung eine doppelte war: Der Bär saß gravitätisch da und leckte sehr manierlich seinen Honig, Onkel freute sich wie ein Kind daran; wir freuten uns über den Onkel, Claus schenkte dem Bulgaren Cigaretten – so hatte jeder seine besondere Freude!! Und das brave Tier nicht die größte! Das ist nur ein kleiner Echantillon ³² – aber er kennzeichnet nur treffend die Stimmung! Nachdem wir uns mit Sabine in Stettin vereinigt, machten wir noch als Schluß unserer gemeinsamen Reise einen zweitägigen Besuch in Rühstädt bei Jagows. Es war ein reizender Abschluß in dem großen, schönen Herrenhaus, dem herrlichen Park das fröhliche Leben und Treiben der großen Kinderschar; Rudi, der seine Herbstferien dort verlebte, war schon ganz intim mit allen und seelenvergnügt über unseren Zuwachs. Ich war leider etwas reisemüde und es ward mir schwer, mich in dem Lärm, dem kindlichen, lauten Treiben und Spielen zurecht zu finden. Ich machte alles mit, tanzte stundenlang auf dem Erntefest, spielte Poch bis zur Erschlaffung, tobte in Hof und Ställen umher, aber ohne irgendwelches Animo. Ich glaube, die guten Kinder haben mich für steif und langweilig gehalten, wo ich wirklich und einfach nur todmüde war. Herr von Jagow ist ein Prachtsmensch und seine polternde, langsame, breite Art machte uns große Freude; sie ist keineswegs sympathisch, aber klug, energisch und gut. Von den fünf Kindern, von denen Adelheid, die älteste 19 und das Baby ½ Jahr alt ist, gefallen mir Rudis Freund Carl und die 15jährige Annalise, „Ischen“ genannt, weitaus am besten. Die Älteste ist mir ein wenig zu laut, wozu ihr Perlhuhn-Organ³³ allerdings viel beitragen mag. In Halle trennten sich unsere Wege; Mutter und Bibs kehrten heim, während ich mit einem Nachtquartier bei Sophie nach Lauchröden segelte, meinen lang versprochenen Besuch bei Mag endlich auszuführen. Ich dehnte ihn bis zu drei Wochen aus. Die erste Zeit war so bewegt, daß wir wenig voneinander hatten und wenn die Ereignisse auch nicht nur aus Verkehr mit Neuenhof bestanden, so nahm doch gerade dies verwandtschaftliche Zusammensein viel Zeit in Anspruch. Zu der Hochzeit des Grafen Finckenstein mit Hedwig Eichel hatten sich fast alle Ge-

32 Eine kleine Probe (wörtlich: Muster). 33 Perlhühner gackern besonders hoch und laut.

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schwister der Neuenhöferin³⁴ vereinigt und blieben ca. eine Woche. Da gab es viele interessante Menschenstudien zu machen, wozu mir als Nichtdazugehörige alle Muße blieb. Denn – ob angenehm oder unangenehm! – interessant und charaktervoll sind diese Bernstorffs alle. Doch muß ich gestehen, daß sie als Masse sehr angreifend und durch ihre ausgesprochenen Persönlichkeiten envahissierend ³⁵ wirkten. Sowohl zu der Gräfin Finckenstein, die in tiefer Trauer um ihren Sohn Bechthold, den anderen verheiraten sollte und diese Pflicht in bewundernswerter Weise erfüllte, fühlte ich mich am meisten hingezogen, ebenso fast zu der fröhlichen, jugendlich warmen Diakonissin. Ihre große Selbständigkeit, Thatkraft und Vehemenz des Gefühls erscheint durch die Verhältnisse zu einem sehr angenehmen Wesen herabgemildert, während sie bei der unverheirateten Tante Emma und dem Grafen Eberhard in ungemilderter, oft lästiger Weise hervortreten. Letzterer besonders war durch seine Lebendigkeit und Aufgeregtheit mein Schrecken; mit Tante Emma, dem Schrecken aller Neffen und Nichten, fand ich mich besser ab, dagegen war mir das welfische Ehepaar Knesebeck höchst unsympathisch. Georg und Wisa, Tante Luischen, Frl. von Müffling, ein Riedesel, Frau von Zettritz, Frau von Jagow u. a.m. wechselten sich im gastlichen Schloß ab. Wir waren natürlich mehr unten als oben und erhielten außerdem noch Besuche der einzelnen lieben Tanten und Onkels. Einmal ward eine gemeinsame Wartburg-Partie zu acht Damen unternommen, wir erregten Aufsehen in Eisenach, als wir uns, eine schwarz gekleidete Schlange, die endlos lange Tante Emma, die trotz der Wärme sibirisch vermummt war, an der Tête, durch die Straßen wanden. Auch das Bestellen oben, die Unentschiedenheit, das Durcheinanderfragen, das ewige Umändern, bis sich alle zu Schokolade mit Käsebrot entschieden hatten, erregte allgemeine Heiterkeit. Die Wartburg, wie sie sich im Sonnenglanz aus den braungoldnen Wäldermassen und dem blauen Herbstdufte heraushob, war schöner als je. „Wie Einem, dem von Ferne – der Freundin Auge winkt“ etc.; „Dich liebt das Licht, es webet Goldfäden in dein Kleid“³⁶ etc. – alle diese Stellen, mit denen Scheffel sie besungen, klingen mir laut im Herzen, wenn ich die schöne Burg wiedersehe, daß ich jedesmal wieder glaube, ich hätte sie noch nie in solchem Licht, in solcher Schönheit gesehen. Aus der Schar der Tanten flüchtete ich mich oft zu der netten, lieben alten Frau von Strauch, die auch außerhalb des Kreises stand und mich gleich sehr an ihr warmes altes Herz nahm. Mit ihr zusammen fuhr ich auch zur Trauung nach Eisenach, die wir der Trauer wegen nur als Zuschauer, nicht als Gäste mitmachen konnten. Als Schauspiel war es das Unschönste und Ungeordnetste was ich je ge34 Marie Freifrau von Rotenhan, geb. Gräfin von Bernstorff, Schwiegermutter von Hildegards Schwester Margarethe. 35 Überwältigend. 36 Zitat aus dem Gedicht „Wartburg-Dämmerung“ von Victor von Scheffel (1826 – 1886).

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sehen; kein Zug wurde formiert, sondern ganz zufällig, wie es kam, von verschiedenen Seiten, nicht mal immer paarweise, kamen die Beteiligten herein gelaufen; nicht einmal die Brautjungfern mit der Braut. Letztere sah sehr bräutlich und so vorteilhaft wie möglich aus und beide machten einen sehr vergnügten, strahlenden Eindruck. Es ist eine in jeder Hinsicht passende Partie; das einzige, was mir leid ist: daß zwei Reiche zusammenkommen, birgt doch für sie alle keine Garantie auf Glück. Ruhiger und eigentlich schöner war der zweite Teil meines Aufenthalts. Wir hatten einen wunderbaren Oktober; Hermann war viel auf Jagd und Mag und ich durchstreiften die herbstlichen Wälder zu Fuß und zu Wagen mit immer neuer Begeisterung. O Thüringen, wie bist du schön, wenn die Hügelreihen in dem blauen, eigenartigen Ton schimmern, wenn der Wald in den herrlichsten Gold- und Bronzetönen glänzt und wenn die Natur sich gleichsam noch zu einem jauchzenden Abendlied aufschwingt, ehe sie sich unter fallendem Laub und weißer Schneedecke zur langen Ruhe legt! Einmal waren Rotenhans beide fort und ich indessen in Neuenhof untergebracht. Es war wieder still dort; jene wohlthuende Atmosphäre von Frieden, die die zwei guten, alten Leute um sich zu verbreiten wissen. Wir waren viel im Park und an der Werra und ich schwang mich zum ersten Mal aufs Rad. Der Pfarrer hielt das Rad, ich lenkte, und hui! ging′s fort, gefolgt von Wisa, der ganzen Pfarrfamilie und zwei Kötern. Ich fühlte mich wie ein Vogel in den Lüften und war überrascht, wie leicht das ging. Es war nur schade, daß es bei dem einen Versuch blieb! Am 2ten November kehrte ich heim, wo ich Burkhart nicht mehr antraf und wir bald unser Winterleben mit dem Umzug nach oben begannen. Sabine besuchte auf eine Woche Wurmbs in Weimar; Mutter und ich machten eine zweitägige Razzia in Leipzig; mit Beulwitzens tauschten wir Besuche; Vater ging ab und zu von verschiedenen geschäftlichen Reisen; eine Armenlotterie in Ranis, einige Schlittenfahrten – das waren die äußeren Ereignisse. Doch dahinter und dazwischen liegen schöne, friedliche Tage, die trotz ihrer Ereignislosigkeit ja oft für den Menschen mehr enthalten als die unruhigsten Phasen: Tage voll fröhlichsten Rüstens auf das schönste Fest, voll anregender Lektüre, voll glücklichen Familienlebens. Um kurz zu sein: Adventszeit! Und dann Weihnachten mit allen Geschwistern, so schön, wie ich glaube, daß es sonst nirgends sein kann. Sabine und ich waren hochbeglückt über ein Bücherregal und zwei Fauteuils in unser Zimmer. Ich erhielt außerdem eine Kamm- und Bürstengarnitur und ein herrliches molliges Plaid, Bücher, Briefpapier, Taschentücher etc. Ich hatte alles vorher gewußt, doch that das meiner Freude keinen Abbruch. Wir fuhren wenig aus und hatten mit Ausnahme von Wurmbs keinen Besuch: die Vehikel reichen eben bei der Menge der Menschen nicht aus und trennen mag man sich auch nicht. Solch großer Kreis ist ungemein anregend bei der Vielseitigkeit der

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Interessen und Anschauungen. Hermann gibt dabei natürlich den Hecht im Karpfenteich ab – aber der Vergleich hinkt, denn für Karpfen sind wir alle nicht kaltblütig und dumm genug. Es ging aber verhältnismäßig friedlich ab und der Silvesterabend schloß das Zusammensein diesmal besonders stimmungsvoll ab. Die Mette fiel aus; daher hielten wir eine schöne Andacht mit den Leuten – dann das übliche Baumanzünden, Punsch bereiten und aufs Läuten und Singen warten. Es war diesmal doch bedeutungsvoller als sonst. Wenn auch der Verstand nicht zugeben will, daß das Jahrhundert an diesem Tag zu Ende, so wird man doch unmerklich durch das offizielle Feiern, den großen Trara der Blätter angesteckt und für das Gefühl bedeutet allerdings das Schreiben einer neuen Jahrhundertzahl, der neue Klang im Ohr einen Wechsel. Dem kann man sich schwer entziehen! Das letzte Jahr war in mancher Beziehung bedeutungsvoll für mich; ich möchte es trotz der Offenbarung von so vielem Schönen, das ich erleben durfte, nicht noch einmal leben! – Aber ich kann doch aus vollster Überzeugung sagen: Gott hat es gut gemacht, wie es ist. Er wird weiterhelfen: Seine Hand führt die Planeten Sichern Laufs durch Raum und Zeit, Führt die Seele nach den Fehden Dieser Welt zur Ewigkeit! Ein Jahrhundert will zerrinnen Und ein neues hebt sich an Wohl dem, der mit treuen Sinnen Stetig wandelt seine Bahn! (Scheffel)

1900 Das neue Jahr oder vielmehr Jahrhundert fing sehr bewegt an: Jeden Tag reiste ein anderer ab, zuletzt Mutter, Sabine und ich zu einem Ball in Merseburg, den die Husaren arrangiert hatten. Wir hatten es ausgezeichnet, da wir anstatt in einem mäßigen, schlecht beleuchteten und überheizten Gasthof bei dem Landrat Graf Haussonville wohnten. Da hatten wir denn herrlich Platz in dem gemütlichen alten Haus, eine geschickte, frisierende Jungfer, einen Wagen für uns allein und vor allem die liebenswürdigsten Wirte. Der gute dicke Graf ist ganz der alte geblieben, die Frau, die aufs Erste einen ziemlich unzufriedenen, steifen Eindruck macht, taute bald auf und war eine äußerst aufmerksame, liebenswürdige Hausfrau. Am Nachmittag besichtigten wir Schloß und Dom: Ersteres entzückte mich, mehr als ich sagen kann, während der Dom mich kalt ließ. Die Kreuzgänge sind herrlich; der Kontrast der schweren, soliden, mächtigen Säulen mit dem luftigen Gebilde italie-

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nischer Klosterhöfe, war uns sehr interessant. Aber im Inneren vermisse ich das Hochanstrebende, Schlanke, Harmonische, was die Saalfelder Johanniskirche trotz ihrer Einfachheit für mich hat. Nach einem Besuch bei Recks und einem lustigen kleinen Diner mit Zimmermanns und Waldecks und einem Herrn von Trotha, fuhren wir denn los. Wir hatten uns nicht viel Amüsement erwartet nach Jörges Prophezeiungen und wurden überaus angenehm enttäuscht. Wir kannten fast die ganze Gesellschaft. Hohenthals, Helldorfs, Schulenburgs, Bülows etc. Von unseren alten Berliner Tänzern waren Kleist, Planitz, Schwarzkoppen etc. zur Stelle. Jörge mit seinen Freunden war ebenfalls zur Stelle, sodaß wir unausgesetzt tanzten und uns beide köstlich amüsierten. Selbst Mutter fand es sehr unterhaltend und gelungen und man hörte nur eine Stimme des Beifalls. Sabine ging am andern Morgen nach Naumburg, um den jüngsten Dalwigkschen Sprößling aus der Taufe zu heben und von da nach Berlin weiterzufahren. Sie ist in ihrer alten Pension, aber außer bei Looschen noch im Scarbina′schen³⁷ Atelier. Rudi kehrte – hoffentlich zum letzten Mal – nach Roßleben zurück, Vater siedelte auch nach Berlin und kommt nur zu Besuch hierher, um stets Leben und Anregung in unser stilles tête à tête -Winterleben zu bringen. Außer dem spärlichen Verkehr mit den Nachbarn war der Rudolstädter Hofball unsere einzige größere Abwechslung. Den langen, enervierenden Nachmittag vor dem Hofball fürchtend, tranken wir noch hier Thee, fuhren um fünf Uhr ab, waren um halb 7 in der Beulwitzschen Wohnung, zusammen mit Luischen, und saßen um halb 8 fertig im Wagen. In der ersten halben Stunde fühlte ich mich höchst merkwürdig, da ich keinen einzigen Tänzer kannte und sich mir bei der mangelnden Organisation auch keiner vorstellen ließ. Ich war selbst erstaunt, wie kalt mich das ließ. Auf Anni Imhoffs Frage: „Hast du deine Tanzkarte voll?“ antwortete ich mit lachendem Gleichmut: „Nein, ich warte bis jetzt noch immer, daß sich mir jemand vorstellen läßt.“ Es war zu niedlich, wie mich Dorée und Ilse dann unter ihre schützenden Fittige nehmen wollten. Natürlich ging es mir dann sehr gut, ich lernte die 94er kennen und sogar einige 96er ließen sich herab, mit mir zu tanzen. Ich glaube, daß ich wohl am meisten Sträuße hatte – aber das ist ja nicht maßgebend. Jedenfalls war es ein höchst eigentümliches Gefühl, so über dem Ganzen zu stehen; es war mir so total egal, mit wem ich tanzte. Ob und von wem ich einen Strauß bekam, ob sie mir sagten, daß ich grandios tanze etc. Zum Souper ging es mir sehr drollig. Ich war mit einem Jüngling aus Gera engagiert, der, als ich ihm verkündete, daß wir an Prinzessin Theklas Tisch säßen, blaß und rot wurde und angstvoll fragte: Werde ich mich denn da auch angemessen benehmen? Ich bin nämlich auf meinem ersten Hofball heute! Ich machte ihm denn Mut und er fühlte sich dann doch sichtlich gekratzt über die hohe Ehre. Aber oh Jammer! Als wir uns

37 Franz Skarbina (1849 – 1910), Maler des deutschen Impressionismus.

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dem Tisch näherten, alles schon saß, fand sich nur ein leerer Platz und der arme Ritter mußte betrübt abziehen. Es war ein höchst peinlicher Moment für ihn wie für mich! Ich glaube, daß meine Stiftsdamenwürde mir solchen Rang gab und kann nur sagen, daß ich mich zuerst, zwischen der Prinzeß und Frau von Imhoff sitzend, außerdem eine Prinzeß Isenburg, der Generalsuperintendent und der Landrat Holleben am Tisch, sehr deplaciert fühlte. Aber Prinzeß Thekla ist so gut, der Generalsuperintendent war so amüsant, daß ich bald lustig mitschwätzte. Wer weiß, ob ich mich mit meinem Jungchen so gut unterhalten hätte? Ich bezweifle es! Saal und Ball waren sehr fürstlich und glänzend, die kleinen Greizer Prinzessinnen und Prinz Sizzo³⁸ mit Frau die fürstlichen Gäste. Die Gesellschaft war wie auf allen Hofbällen gemischt und im Großen und Ganzen wenig elegant. Luischen, Roderichs Frau, und eine kleine Brasilianerin, waren wohl die besten Erscheinungen. Titty ist sehr fetiert, hat eine gute Figur, schönes Haar und ein nettes Benehmen. Es war mir eine Enttäuschung, sie am nächsten Tag um 12 Uhr in einem so greulichen, verkaterten Zustand erscheinen zu sehen. Sie kann ja nichts dazu, aber es war wirklich ein deprimierender, kläglicher Anblick! Allerdings hatten wir zur sogenannten „dritten Fuhre“ gehört und saßen als die allerletzten im großen leeren Saal ziemlich erschöpft und mit dem angenehmen Gefühl, daß uns die müden, höflichen Hofschranzen zu allen Teufeln wünschten. Am nächsten Tag hörte ich dann beim üblichen Bummel in der Augustenstraße so viel Klatsch, daß ich mit einer großen Dankbarkeit für mein Los in unser verschneites, einsames Heim zurückkehrte. Das war am 10ten und auch heute am 31ten, während ich dies schreibe, ruht mein Blick auf einer feenhaften Winterlandschaft: die fußhohe weiße Decke über dem welligen Thal, die schwerbelasteten Weihmutskiefern, dahinter das friedliche Dorf und ein blasser bläulicher Himmel! Dabei schneit es lustig weiter und bei dem Flockengewirbel und dem fernen Schlittengeläut fühlen wir uns beide geborgen und bevorzugt vor unserer übrigen Familie. Könnte ich nur dem armen Jörge aus dem greulichen Halle und seinen Examensängsten hierherholen! Er ist wohl der einzige, der sich′s wünscht, denn Bibs und Burkhart schwimmen im Großstadttrubel und schreiben lustige, befriedigte Briefe. Ich bin fleißig gewesen in den ersten Wochen des Monats; alle rückständigen Flickereien, Rechnereien und Räumereien – ein anmutiges Kleeblatt! wurden abgethan. Jetzt genieße ich ein ungestörtes Lesen, Klavierspielen, einige italienische

38 Prinz Sizzo von Leutenberg, (1860 – 1926), seit 1896 Prinz von Schwarzburg-Rudolstadt, verheiratet mit Prinzessin Alexandra von Anhalt (1868 – 1958).

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Studien etc. Herr Reiß hat mir ein herrliches Werk geborgt: „Die klassische Kunst in der italienischen Renaissance“, das mich im Verständnis der damaligen Kunstgeschichte einen ganzen Schub weiterbrachte. Jetzt beginne ich den Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland von Friedjung,³⁹ was sehr gelobt wird. Abends lesen wir uns gegenseitig vor, Romane, Novellen, Gedichte, was wir gerade in unserem Abonnement bekommen. Bis jetzt ist noch kein Moment gekommen, da uns die Zeit lang geworden wäre. Am 17ten Februar trennte ich mich schwer wie immer von Wernburg und reiste nach Bückeburg. Die lange, langweilige Reise war durch allerhand Begegnungen angenehm unterbrochen. In Halle erwartete ich Jörge, der mir beim Umsteigen helfen sollte; und als mir beim Halten des Zuges ein blonder junger Mann von Jörges Statur freudig entgegensprang und sich meiner Hutschachtel bemächtigte, wollte ich ihm daher gerührt um den Hals fallen, entdeckte aber noch rechtzeitig, daß es Eichel II war. Er erzählte mir, daß Jörge Masern habe und ihn mit seiner Vertretung beauftragt hätte. Das that mir besonders leid, als ich ihn gern über sein Examen, welches er immer weiter hinausschiebt und das ihn sehr zu deprimieren scheint, gesprochen hätte. So mußte ich mich begnügen, Eichel etwas auszuholen und ihm Jörge anzuempfehlen. Ich fand ihn recht männlich und etwas weniger philiströs und pflugensbergisch⁴⁰ als früher geworden! In Hildesheim erschien Luischen, frisch und hübsch, mit einem Veilchenstrauß; in Hannover leistete mir Lothar zwei Stunden lang Gesellschaft und war für seine Verhältnisse sehr gesprächig und sogar liebenswürdig. Er erzählte viel von der Geselligkeit, die er jeden Abend mitmacht und bei der er sich gottvoll amüsiert. Mädchen leben doch viel intensiver und darum schneller als junge Leute; denn nicht nur Sabine und ich, sondern auch die jüngere Hanna haben doch das Ausgehen in diesem Maße schon längere Zeit über; während Lothar sich immer göttlich unterhält und seine Befriedigung darin findet. Es ist mir bei seinem sonstigen Ernst ganz unverständlich, wenn nicht ein tieferes Interesse mitspricht, wie es mir scheinen wollte! In Bückeburg bei strömendem Regen that mir der freudige Empfang von meiner guten Nan und den Kindern wirklich wohl. Es war gar nicht, als ob ich zwei Jahre von ihnen fortgewesen wäre, so heimisch war ich mit ihren Gewohnheiten und Verhältnissen. Und daß dieselben behaglicher und geordneter waren als beim letzten Besuch, ist wohl natürlich; aber es wurde mir doch davon klar, was für entsetzliche, schwere Zeiten wir zusammen durchgemacht. 39 Heinrich Friedjung, Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859 – 1866. Das 1897 erschienene Werk erlebte in 20 Jahren zehn Auflagen, sodass Friedjung der meistverkaufte historische Autor seiner Zeit war. 40 Pflugensberg war der Eichel’sche Besitz bei Eisenach.

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Fanny bewohnt jetzt ein halbes Haus mit drei Etagen, Balkons, Gärtchen und guten Nebenräumen. Ich wohnte wieder ganz oben, trotz der vielen Treppen angenehm bei dem Lärm, den die kleine Bande nach wie vor vollführte. Hansel war noch immer mein Liebling; aber aus der ungezogenen Ursula war ein reizendes, sanftes Kind geworden, während mein Patenkind reichlich verzogen ist. Aber sie ist eine zu possierliche kleine Person, derb und dick, mit feuerroten runden Backen, immer lachenden graubraunen Augen und einer Fülle von dunkelblondem Haar. Zwischen den zarten blonden Geschwistern sieht sie aus wie ein kleines dralles Bauernmädchen. Dabei immer in einer Stimmung, die man nur mit einer explodierenden Selterswasserflasche vergleichen kann. Da Fanny schon austrauerte und entschieden Lust zu etwas Verkehr verspürte, begannen wir gleich am ersten Tag mit Besuchen. Altens waren leider verreist, doch bei Frau von Borries, deren Tochter sich eben mit einem Herrn von Poten, Jägeroffizier verlobt hatte, wurden wir gleich festgehalten, um das Ständchen mit anzuhören. Es waren viele Menschen da, teils zum Gratulieren, teils, um die Musik zu hören, doch wurde mir nur ein Geschwisterpaar Gröben und eine Frl. von Arnswaldt klar. Frau von Borries, die als Witwe mit ihren Kindern in Bückeburg lebt, ist Fannys hauptsächlicher Umgang, sodaß auch ich in tägliche Berührung und ihr infolgedessen sehr nah kam. Ich halte sie für eine innerlich sehr reife, edle und feine Natur, die Fanny gerade auf religiösem Gebiet sehr viel sein könnte. Für die praktischen Seiten des Lebens ist sie aber so unselbständig, so hilfsbedürftig, daß wir sozusagen den Borries′schen Haushalt mit führen halfen. Nicht nur daß wir die Küchenzettel machten, die Einladungen besprachen etc., wir wurden auch vor jedem Fest gefragt, was die Damen anziehen sollten, wieviel Tänze Bertha mit ihrem Bräutigam tanzen dürfe u. a.m. Diese Bertha machte mir trotz ihres altklugen, unfrischen Wesens mit ihren 18 Jahren einen derartig unreifen, unausgeprägten und schlappen Eindruck, daß ich nicht verstehe, wie man sie heiraten lassen kann. Dabei ist sie so zart, daß sie aus Angst vor dem Besuch ihres Schwiegervaters solches Herzklopfen bekam, daß man ihr Eisbeutel aufs Herz legen mußte. Aber die Verlobung aufzuschieben, schien unmöglich, da Potens Gesundheit solcher Spannung nicht gewachsen sein soll. Ich verstand sehr gut, daß die arme Mutter sorgenvoll in die Zukunft sah, aber warum gab sie auch gleich nach! Am Montag waren wir bei einem alten Frl. von Busche eingeladen und am Mittwoch gab Fanny einen Kaffee mit lauter alten Damen. Die eine davon, Frau von Heimbracht, frühere Hofdame der Königin von Hannover, gab herrliche alte Hofgeschichten, besonders sächsische, von sich. Am nächsten Abend sollte in der Ressource ein Kostümfest (zur Empire-Zeit) vor sich gehen und ich wollte mich gerade zur Generalprobe der Tänze zurecht

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machen, als die eigentlich naheliegende Frage aufgeworfen war, warum ich nicht lieber zum Fest selbst ginge. Alle alten Damen waren Feuer und Flamme: die eine wollte mich chaperonieren, die andere ein Kleid aus ihrer Mutter Brautzeit, die dritte echten Schmuck borgen; kurz, sie ruhten nicht, bis sie mich überredet und ich gleich mit Frl. von Busche nach Hause ging, um das bewußte echte Brautkleid zu probieren. Es war mir wirklich rührend, wie all die alten Dämchen, wohl der eigenen Jugend gedenkend, nicht genug an mir herumputzen und zupfen konnten. Am nächsten Tag nähte und trennte ich dann wie besessen, aber dank der vielen milden Beiträge – mein Anzug war die reine Aktiengesellschaft – konnte ich mich dann am Abend mit einem wirklich wunderhübschen und sehr echten Kostüm schmücken. Das alte, sehr reich gestickte Mullkleid mit kurzer Taille und Puffärmelchen kam auf meinem grünseidenen Unterrock herrlich zur Geltung und wurde unter der Brust von einer breiten rosa Schärpe gehalten. Rosa Kreuzbänderschuhe, Großmutters Strümpfe, ein langer seidener Shawl, reizender eiserner Schmuck und ein echter Fächer vervollständigten es großartig. Dazu kam eine echte hohe Frisur mit drei rosa Rosen, und wenn ich mir auch selbst nicht besonders in dieser Pracht gefiel, so merkte ich doch zu meinem Erstaunen, daß ich ziemlich vereinzelt mit dieser Ansicht dastand. Das sogenannte Civilkasino war eigens dekoriert worden als großer Jahrmarkt vor 100 Jahren und in diesem Rahmen bewegte sich eine bunte Menge in nicht sehr gelungenen, treuen Kostümen. Außer Empire waren nur die Volkstrachten zugelassen, die es ja immer gegeben, aber dadurch, daß Hüte gestattet und kein Hofkostüm wie bei der Centenarfeier⁴¹ vorgeschrieben war, erschien mir das Gesamtbild wenn auch einfacher, so doch abwechslungsreicher und kleidsamer. Der Einzug des Hofes machte sich sehr grandios. Die Fürstin in blau und silbernem prachtvollem Kostüm, einen Riesenhut mit weißen Federn im gepuderten Haar, einen silbernen Spazierstock in der Hand, kam mir mit ihrer stolzen Figur und ihrer wahrhaft fürstlichen Haltung wie ein Bild aus alter Zeit vor. Es wurde viel bewundert, beobachtet und wenig getanzt, sodaß mir, die ich in recht fremder Gesellschaft war, das Fest etwas lang wurde. Um halb drei Uhr zog sich der Hof erst zurück. Obwohl so ziemlich alles da war, was einen guten Rock oder vielmehr ein Kostüm beschaffen konnte, hatte sich der Ton bis dahin sehr anständig, fröhlich und fein gehalten. Weiteres warteten wir nicht ab. Carola Alten sah herzig aus und Vater Alten war so recht in seinem Element, nahm, seine charmante „Fräulein Nichte“ an den Arm, stieß des öfteren in Sekt auf „dero werte Gesundheit“ an und war liebenswürdig und gut wie immer. Sie ist ja komischerweise in Anwesenheit des Hofes immer ungenießbar.

41 Das Kostümfest bei Hof 1897 zum 100. Geburtstag des alten Kaisers.

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Ich soupierte mit Herrn von der Gröben, einem Jägeroffizier, Freund Potens und daher auch Borries′s. Er war sehr empressiert,⁴² zu sehr, als ich es bei so kurzer Bekanntschaft in großer Gesellschaft liebe. Die Feinheit des Courmachens besteht nach meiner Ansicht darin, daß die Betreffende eine gewisse Huldigung empfindet, ohne daß die übrige Menschheit es sofort auch merken und sehen muß. Auch glaube ich, ein wirklich feinfühlender Mensch wird Mittel und Wege finden, seine Verehrung, Flirtation oder was es nun ist, durchfühlen und verstehen zu machen, ohne sie mit deutlichen Worten und noch deutlicheren Blicken auszusprechen. Das nimmt ja den ganzen Schmelz von der Sache fort! Am anderen Morgen – ich lag in behaglichem Dämmern und Rückerinnerung des Balles – kam Fanny mit der Todesnachricht ihrer Schwiegermutter an mein Bett. Sie hatte sie gelesen im Moment, wo ich den Mantel umnahm und mir in ihrer Güte nicht das Fest verderben wollen. Nun aber tat Eile Not, da sie früh am andern Morgen auf sechs Tage nach Berlin reisen mußte. Wie gut, daß ich da war, um ihr während der Zeit die Sorge für Kinder und Haus abzunehmen! Es war wieder so ein rechter Bückeburger Tag aus der alten Zeit: Trauerkleider mußten genäht und verändert, zahllose Briefe geschrieben, Besorgungen gerannt werden – alle die kläglichen Alltäglichkeiten, die solch Trauerfall nach sich zieht. Der Tod der 83jährigen Frau, die sanft, ohne Leiden hinübergeschlummert, war kein großer Schmerz für Fanny, aber er weckte alle Erinnerungen, riß alte Wunden auf und erschien ihr als letztes Band mit dem Verstorbenen, das sich gelöst. Sie ging recht elend ins Bett, während ich noch bis in die Nacht hinein an ihre Familie schrieb. Am Sonnabend früh brachte ich Fanny zur Bahn und ich gestehe, daß mir der Mut etwas sank, als ich nach dem Haus, mit den fünf Rangen, den fremden Dienstboten, dem fremden Haushalt, einer eingeweichten großen Wäsche und den zahllosen Aufträgen und Pflichten, die mir noch zuletzt aufgetragen worden – vor allem zu der großen Verantwortung zurückkehrte. Andererseits aber machte es mir große Freude, denn ich hatte so selten im Leben das Gefühl, mich wirklich nützlich machen und etwas Rechtes leisten zu können. Hier hatte ich nun die Aufgabe, aber ich schickte viel Stoßgebete zu Gott empor, daß ich auch die Kraft dazu bekäme! Es fing gleich damit an, daß ich die Extemporalien untersuchte und Rudolf eine zu Herzen gehende Rede über eine 5, die ich bei ihm entdeckte, hielt. D. h., die Rede ging nur mir zu Herzen; er ist gänzlich abgebrüht auf diesem Punkt, nach meiner Ansicht überhaupt Fannys Zucht so entwachsen, daß ich ihn so rasch wie möglich fortgeben würde.

42 Bemüht.

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Am Nachmittag besuchte mich Herr von Campe, Fannys Hausfreund, mit dem ich die Schulhefte ansah und ein sehr ernsthaftes Gespräch über die Jungens hatte. Dazwischen kam ein Moment, wo mich die Komik der Situation, wie wir zwei unverheirateten Leute uns allein gegenüber saßen und über das Wohl und Wehe fremder Schuljungen berieten, so überwältigte, daß ich fast laut gelacht hätte. Am selben Abend war ich zu einem Hofball im Palais der Fürstin-Mutter eingeladen und Fanny hatte mir als ausdrücklichen Wunsch, fast Befehl, hinterlassen, denselben zu besuchen. Nun war mir die Verstorbene total ferne, aber der Gedanke, im rosa Ballkleid aus einem Trauerhaus, von den Enkelkindern fortzugehen, widerstrebte mir natürlicherweise sehr. Frau von Alten, die stets hilfreiche, treue, wußte auch hierfür Rat, indem sie mich für die Nacht zu sich einlud. Als der letzte meiner Pfleglinge ins Bett gelegt war, siedelte ich über, zog mich rasch um und fuhr mit Altens und unter ihrem Schutz zum Ball. Außer mir waren noch ein Frl. von Oldershausen und ein Herr von Malinckrodt, beides sehr angenehme Leute, zu Gast. Das Fest, für die kleinen Greizer Enkeltöchter arrangiert, war im ganz kleinen Kreis und wunderhübsch. Das Palais, nach Ernst Altens Geschmack und Angaben entstanden, ist wohl eines der komfortabelsten und vornehmsten Häuser, die ich je gesehen; mit wenig Ausnahmen paßten die Menschen nur nicht recht in den glänzenden Rahmen. Die Fürstin erkundigte sich in wirklich reizender Weise nach Fanny und den Kindern, im Übrigen war sie in einer Laune und Stimmung, daß alles zitterte. Sie scheint ihrer Mutter nicht nur an Schönheit ähnlich zu sein! Wir blieben noch eine Stunde länger als die übrige Menschheit, da Onkel Ernst als Hofmarschall nicht früher abkommen konnte, machten in seinem Zimmer eine kleine Kneiperei und erfreuten uns an den verschiedenen Funden, die die Lakaien grinsend anbrachten, wie z. B. ein Paar zerplatzter und mit Sicherheitsnadeln wieder zusammengesteckter Ballschuhe aus weißem Atlas. Sehr spät legten wir uns zur Ruhe, nur ich muß konstatieren, daß ich zum ersten Mal im Leben einen Kater über mein Benehmen hatte. Die Sache war so: In einer Ballpause fing Carola an, über Groeben zu sprechen und als ich sagte, daß Fanny nicht aufhöre, ihn mir als den nettesten Herrn in Bückeburg zu preisen, legte sie in allen Tonarten los, mir diese Illusion zu nehmen und nach Herzenslust zu raisonnieren; ich, schon etwas gereizt durch das Souper, bei dem er mir nicht sehr gefiel, machte, wenn auch schwächer, mit, als wir zu tödlichem Schreck mit einem Mal bemerkten, daß er hinter uns stand. Ob er es nun gehört hat, oder nicht, er ließ sich nicht das Geringste merken – so werde ich mich doch immer ärgern, etwas so Gewöhnliches, Unfaires, und in meinem Fall Undankbares getan zu haben. Oh, ich finde es so gemein, wenn Mädchen auf dem Ball über die Herren klatschen, so kleinlich und ungebildet – und ehe ich mich versehe, habe ich es selbst getan! O Pfui! Pfui!

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Am nächsten Morgen um neun Uhr hatte ich bereits gepackt und gefrühstückt und klingelte an meinem Haus. Natürlich war noch niemand fertig, die greuliche Köchin mit allem zurück, die Buben, anstatt sich zu waschen, in einer solennen Rauferei und Spritzerei begriffen. Mademoiselle und Emma hatten Kirchentag und ich schiffte nicht ohne Kämpfe die kleine Bande durch Frühstück, kleine Sonntagsandacht und Vormittag. Nach jeder Mahlzeit fühlte ich mich wie ein Feldherr, der eine Schlacht geschlagen, und als ich es nach langem Zureden fertiggebracht, Rudi in die Konfirmanden-Lehre zu schicken, fühlte ich mich groß! Aber man glaubt doch nicht, wie lang so ein ganzer Tag sein kann und tut den armen Bonnen, die doch auch ihre Nerven haben, oft unrecht. Essen, Spaziergang, Kaffee, kindliche Spiele, Abendbrot, zu Bett gehen, Beten – nach dem alles glücklich überwunden, legte ich mich völlig erschöpft und mit den schönsten Kopfschmerzen ins Bett mit dem Trost, daß die übrigen Tage glücklicherweise Wochentage wären und man Pausen zum Atemholen haben würde. Ich liebe ja Kinder, und einige dieser Schar, Hansel und Ursula, ganz besonders zärtlich, aber was den Verkehr mit ihnen so aufreibend macht und entschieden in der sonst guten Erziehung versehen wurde, ist ihre abscheuliche Unverträglichkeit. Corpsgeist ist ein Begriff, der ihnen vollständig abgeht. Wir waren gewiß keine Musterkinder und ich weiß, daß wir uns untereinander oft stritten und balgten. Aber gegen Dritte: Eltern, Lehrer, Bonnen und fremde Kinder hielten wir doch wie eine feste Mauer zusammen, während diese Kinder sich beständig verklagen, anschwärzen und die Aufmerksamkeit auf all die kleinen Unarten und Mißgeschicke lenken, die sonst mal übersehen würden. Bei Tisch z. B. macht der große Rudolf auf jeden Flecken, auf jede Unmanierlichkeit der kleinen Mädchen aufmerksam, anstatt ihnen zu helfen und sie zu schützen, sodaß man keinen vernünftigen Satz zusammen reden kann und mir, deren Gefühl gegen die ewige Zankerei und Schreierei nicht abgestumpft ist, der ganze Appetit vergeht. Wie oft mußte ich an Fredis⁴³ vornehmen, gutmütigen Charakter im Verkehr mit dem schwierigen kleinen Bruder denken! Nach diesen Auslassungen sollte man fast meinen, daß mir die Zeit schwer wurde, aber sie brachte mir doch viel Freude und viel Lohn durch die Anhänglichkeit und Zärtlichkeit der einzelnen. Am Montag war es drückend heiß, sodaß wir ohne Jacken im Freien waren; was mir am meisten Spaß machte, waren diese Waldstreifen, bei denen ich den atemlos Lauschenden die schönsten Räubergeschichten versetzte. Frau von Borries kam

43 Friedrich Wilhelm (Fredi) von Prittwitz und Gaffron (1884 – 1955), Sohn von Hildegards Cousine Sara von Prittwitz und Gaffron, geb. Freiin Schott von Schottenstein.

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freundlicherweise, nach mir zu sehen und gefiel mir in ihrer sanften, mütterlichen Art so gut wie noch nie. Am Dienstagabend ging ich wieder nach dem Zubettgehen der Kinder in eine Abendgesellschaft zu einem Frl. von Götz, einem alleinstehenden Mädchen von etwa 36 Jahren. Zu wunderbar kam mir dies vor, daß ich allein zu ihr, die auch allein, zur Soirée ging, aber eigentlich ist es ganz vernünftig in solch kleiner Stadt. Es waren ein Ehepaar Oppen, die Hofdame aus Greiz, Frau von Oertzen und mehrere Leutnants da. Herr von Oppen ist sehr gescheit und interessierte mich von den Herren Bückeburgs eigentlich am meisten, aber an diesem Abend war er in einer so höhnischen, ausfallenden Stimmung gegen Religion und Christentum, daß er mir gründlich mißfiel. Es ist ja seine Sache, ob er Atheist ist oder nicht, niemand wollte ihm eine Ansicht aufoktruieren. Das, was anderen heilig ist, durch schlechte Witze und Citate aus der Bibel und Gesangbuchliedern herunterzureißen, ist mehr wie schlechter Geschmack; es erscheint mir als Gefühlsschroffheit. Leider war seiner aalgleichen Gewandtheit niemand gewachsen, nur seine Frau lenkte in netter Weise öfters ein. Frau von Oertzen, eine geschiedene Frau, – eine schwere Vergangenheit hinter sich – im Zwang eines unerträglichen Hofdienstes, den sie aber doch der pekuniären und gesellschaftlichen Vorteile wegen nicht aufgeben will, – nach Glück, Vergnügen, Freude hungernd – erschien mir als eines der bemitleidenswertesten Menschenkinder, die ich je gesehen! In ihren Augen las ich eine förmliche Angst, mit sich selbst und ihren Gedanken allein zu sein. Wie unsagbar traurig das ist! Am 1. März kam Fanny zurück. Der Tag war ein besonders fröhlicher, sonniger, denn die Kinder brachten durch Zufall sämtlich Einsen und Zweien unter ihren Extemporalien, Aufsätzen und Diktaten mit. Schon auf der Straße begann das Jubelgeschrei, die Treppe herauf, mir um den Hals, und dazu ein Lärm und eine Freude, daß es wirklich ein Spaß war! Dann ein Brief, der Rudis gutes Abiturium aus Roßleben meldete und zuletzt die feierliche Einholung Fannys mit der ganzen – Gott sei Dank! – gesunden Schar – es war fast zu viel Freude auf einmal, wenn man davon überhaupt jemals zu viel haben könnte! Im Gegenteil, sie, wo sie sich findet, in der rechten Art und recht bewußt zu genießen, macht weder stolz noch leichtsinnig, sondern bleibt ein Schatz, auch für die trüben Zeiten! Die folgende Woche war bei Fannys Trauer auch für mich ganz still; nur der engste Verkehr: Altens, Borries, Frl. von Götz blieb bestehen, was mir Fannys wegen eigentlich leid tat. Wir gingen wieder einmal an Martins Grab, wie so oft vor zwei Jahren und ich konstatierte mit Erstaunen den Wechsel, den diese kurze Spanne Zeit hervorgebracht: die Bäume waren herangewachsen – die Gräber hatten sich überraschend gemehrt und der heiße Schmerz war zu einem sanften Vermissen und Tragen geworden. Es ist ja gut, daß dem so ist, daß das Leben mit seinen Pflichten und Interessen uns mit unwiderstehlicher Gewalt ergreift; vom ethischen

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Standpunkt möchte man fast wünschen, daß zwei Menschen, die sich so liebten wie diese Beiden, auch gemeinsam in die Ewigkeit eingehen! Am 5ten März war ich in einer Gesellschaft bei Borries mit einigen Mädchen und Leutnants. Nach dem Essen schleppte mich Bertha mit Poten und Gröben ins Nebenzimmer; das Brautpaar war ausschließlich mit sich beschäftigt, sodaß ich Gröben gründlich genoß und mich vergeblich herauszubringen mühte, ob er unseren Klatsch neulich gehört oder nicht. Er machte einige trübe Redensarten, daß wir im Leben so oftmals Komödie spielten, sonst schien er aber keineswegs abgeschreckt zu sein. Ganz reizend war der große Markt am folgenden Tag, wo die Bückeburger Bauern in ihren farbenprächtigen seidenen Mänteln und ihren besten goldgestickten Hauben die Straßen Bückeburgs füllten. Ich zog mit der ganzen Bande zu den Sehenswürdigkeiten und gab, wie mir Carola versicherte, selbst eine sehenswerte Truppe ab: Jedes der Kinder hatte eine Zuckerstange im Mund, einen Ballon, einen „Badeengel“, eine Uhr oder eine Harmonika in der Hand und alle schrieen vor Begeisterung. Herr von Alten kaufte allen Mädchen, mir an der Spitze, große Lebkuchenherzen, mit denen wir die feine Herminenstraße herauf und an Fannys Fenster vorbei einen glänzenden Parademarsch machten. Sonntag, den 11.3. machten wir bei herrlichem Frühlingswetter einen langen Spaziergang im Wald. Am Nachmittag war ich bei Carola, die mich nach Lothar ausfragte, und von sehr allgemeinen, wenn auch inofficiellen Gerüchten über eine Verlobung zwischen ihm und Jutta erzählte. Ich verneinte jedes Wissen und strich ihn nach Kräften heraus. Meine Zeit war beinahe abgelaufen und sollte in einer großen Soirée zu der Fürstin Geburtstag am 14ten ihren Abschluß finden. Am 13ten war ich mit Gröben zu Borries zum Kaffee eingeladen und von diesem zum Souper engagiert. In der Nacht träumte ich so deutlich, daß ich davon aufwachte und es mir nicht wie ein Traum, sondern wie eine Warnung erschien, wie Fanny zu mir sagte: „Paß auf! An einem Mittwoch wirst du dich verloben!“ Mittwoch! Da war ja gerade die Hof-Soirée und mein Souper mit Gröben! Ich war so entsetzt über dies Zusammentreffen, daß ich drauf und dran war, unter irgendeinem Vorwand abzureisen. Dann aber schämte ich mich meiner Albernheit und beschloß, meinem Schicksal mutig entgegenzugehen. Wie es auch sein wird, die Entscheidung liegt doch schließlich bei mir und wird niemals zu einer Verlobung führen. Warum müssen aber die Leute, die mir die Cour machen, mir stets so unsympathisch sein! Oder mir so wenig Vertrauen einflößen! Die Menschen finden mich anspruchsvoll – ganz mit Unrecht! Ich habe gar keine besonderen Wünsche in diesem Punkt; ich mache nur den einzigen, allerdings großen Anspruch, daß ich den Mann, dem ich mich anvertraue, über Alles liebe! Das ist ja wohl das Höchste, was man an irdischem Glück wünschen kann, aber zugleich auch das Unerläßliche, die Grundbedingung bei jeder Ehe.

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Erfüllt sich dieser Wunsch nicht – oh dann doch tausend Mal lieber als old maid sterben! Entweder gar nicht oder ganz! Ich hasse alles Halbe, alles Stückwerk! Es kam, wie so oft im Leben und so selten in Romanen, – ganz anders! Am Nachmittag wurde wegen einer plötzlichen Ohnmacht der Fürstin das Fest abgesagt und am 15ten reiste ich kreuzvergnügt ab. Carola und die rührenden Scheeles brachten mir Blumen, Bertha richtete tief errötend Abschiedsgrüße und schmerzliches Bedauern von Gröben, nicht selbst zur Bahn kommen zu können, aus. Träume sind Schäume! Gott sei gedankt! In Hannover kam Lothar, in großer Eile, da er eine Theaterpartie mit Altens zu arrangieren hatte. Ich hütete mich wohl, Carolas Wunsch, ihn zu sondieren, auszuführen, aber ich dachte mir mein Teil. In Berlin holte mich Burkhart im feinen Zylinder ab und brachte mich ins Hotel Holstein am Anhalter Bahnhof, wo ich meine übrige Familie vereinigt fand. Wir hatten drei schöne große Zimmer, aber sonst war mir der Aufenthalt dort nicht angenehm. Treppen und Restaurationsräume sind überhaupt mäßig und waren durch Umbau der elektrischen Leitung in schmutzigstem Zustand. Dazu ein Klopfen und Zimmern Tag und Nacht, das sich mit dem enormen Straßenlärm, durch die unmittelbare Nähe des Bahnhofs noch vermehrt, vermischte. Die Eltern merkten nichts davon, aber meine Nächte waren wenig genußreich und mein Gesundheitszustand untertags auch nicht glänzend. Dabei sollte wieder bei Mutters Tatendrang das Verschiedenste und Unmöglichste vereinigt werden: Rudis Equipierung und unsere Sommertoilette besorgt, sämtliche Verwandten und Freunde besucht, Vater, Sabine und Burkhart möglichst viel getroffen und gemütlich genossen und dabei Rudi in Museen, Theatern und öffentlichen Gebäuden mit den Sehenswürdigkeiten und Genüssen der Großstadt gebildet werden. Es ist wohl selbstverständlich, daß wir dieses Programm nicht einhielten; aber daß wir es erstrebten und nicht erreichten, gab uns öfters ein Gefühl der Hetzerei und Ungemütlichkeit. Sabine wohnte bei Spitzembergs, Rudi bei Burkhart am Schiffbauerdamm, Vater war im Landtag, sodaß es oft ein Verabreden und Verfehlen ohne Ende gab. Andererseits brachte uns die Zeit aber viel Vergnügen, besonders der gute Mulus genoß das viele Neue in vollen Zügen. Freitag, 16ter März, hielten wir uns hauptsächlich in Läden auf und es war lächerlich, wie Rudi sich von Tag zu Tag verfeinerte und aus der Feldmaus eine Stadtmaus wurde. Am Abend waren wir in einer musikalischen Soirée bei Schwerins zu Ehren des Geburtstags der Gräfin; sehr peinlich für uns, da wir denselben teils vergessen, teils nicht gewußt hatten. Die Gesellschaft war fremd, die Musik nur teilweise gut und die Vorträge einer Deklamatorin so affektiert und gräßlich, daß wir vor Lachen erstickten.

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Sonnabend kam Roderich und preßte uns zu einem Besuch in Stolzenberg, bis wir mürbe waren und zusagten. Den Abend verbrachten wir in der Magdeburger Straße und hörten Hannas Manövererlebnisse in Hemmingen. Dieselben sind sehr komisch, daß man Lustspiele darüber schreiben könnte und doch wieder traurig, wenn man die Debacle bedenkt, die eine notwendige Folge der Russen-Wirthschaft und tollen Verschwendung sein muß. Die Brüder waren Lothar Wurmb mit Braut und Schwiegereltern unter den Linden begegnet und waren gleich angerufen und vorgestellt worden, ohne den Namen zu erfahren. Die Überraschung war groß, noch größer die seiner armen Eltern, die plötzlich, nichts ahnend, ein Telegramm erhielten: Habe mich soeben mit Vera von Seydlitz verlobt. Nach drei Tagen kam eine Postkarte: „Ich reise jetzt zu meinen Schwiegereltern nach Schlesien, die ich noch nicht kenne!“ Ist das nicht fin de siècle! Mir gefällt es nicht und die armen Wurmbs alterierten sich so darüber, daß sie, selbst als sich Braut, Familie, Verhältnisse, als sehr nett und gut herausstellten, lange brauchten, bis sie eine Freude empfinden konnten. Der 18.3. war ein rechter Regensonntag, in der Stadt doppelt hindernd und unbequem. Wir patschten im Regen zur Kirche und hörten Stöcker über die Lex Heinze,⁴⁴ die alle Gemüter eben sehr bewegte, predigen. Am Nachmittag machten wir vier Geschwister Besuch bei Wolf Breitenbauch, wo wir Arthur mit seiner entzückenden Braut trafen, und wollten durch ganz Berlin zu Hofackers fahren. Aber die Elektrische war überfüllt, – Rudi und ich, die beiden Unerfahrenen, Ländlichen, standen schon oben – die Bahn wollte davon und die beiden Berliner, Burkhart und Sabine standen unten. Wir schrien nach Leibeskräften: „Sagt uns doch wenigstens Straße und Nummer!“, als Burkhart, rasch entschlossen, sich hinten anklammerte und ebenso rasch, Rudi herunterwarf. Dieser Austausch, so praktisch er war, sah sehr komisch aus und alles Publikum, das uns für zwei falsch zusammengekommene Pärlein hielt, lachte aus vollem Hals. Eberhards haben eine herrliche Wohnung und Aya,⁴⁵ die noch anziehender als früher, fühlt sich sehr wohl im neuen, größeren Kreis. Die Buben sind herzige Kerlchen und reden ein Urschwäbisch, daß es eine Freude ist. Die Kleine war dagegen ungenießbar und knauntschig. Die Urania-Vorstellung am Abend, in der Italien in vielen Bildern vorgeführt wurde, enttäuschte uns. Zwar einzelne wenige Bilder waren echt, die meisten aber 44 Lex Heinze, umgangssprachlich nach dem Berliner Zuhälter Gotthilf Heinze benannt, war ein vom Kaiser initiiertes umstrittenes Gesetz zur Änderung der Sittlichkeitsparagraphen des Reichsstrafgesetzbuchs. 45 Albertine geb. Gräfin von Üxküll-Gyllenband (1872 – 1946), verheiratet mit Eberhard Hofacker. Von Hildegard verschiedentlich „Aya“ und „Aja“ geschrieben.

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in der Farbe so verfehlt, daß es unserer schönen Erinnerung fast wehtat. Am 19ten erfreuten wir uns daher umso mehr an Mühlens unvergleichlichem Gesang. Einige plattdeutsche Lieder waren hinreißend in ihrer Einfachheit und ihrer Zartheit. Rudis Bildung war sehr vielseitig gestaltet: Einmal zeigte ihm Mutter die Nationalgalerie, den nächsten Abend brachte ihn Burkhart in die Dame von Maxim und ins Pschorr; dann ging Vater mit ihm in eine Männerversammlung: „Lex Heinze vom Standpunkt der Sittlichkeit“; er weihte Denkmäler in der Siegesallee mit ein, redete als Jüngster beim Roßlebener Diner, ging ins Aquarium und in den Landtag, kaufte weiße Westen und Tipotip-Kragen und – amüsierte sich göttlich. Einen sehr gemütlichen Abend verbrachten wir bei Speßhardts, obwohl Dietrich sich nicht versagen konnte, mich in die Backen zu kneifen – Burkharts disgustedes Gesicht war eine Studie! Wir folgten mit Spannung der Aufführung des „Probekandidat“⁴⁶ im Deutschen Theater. Über die Tendenz des Stückes kann ich kein Urteil abgeben, wenn ich auch die Mache, die damit getrieben wird, mißbillige, aber ich weiß, daß ich im Moment, da der Held gegen seinen eigenen Vorteil seiner Überzeugung treu bleibt, innerlich gejauchzt habe vor Befriedigung. Die Aufführung war hervorragend und es amüsierte mich, wie Rudi in den verschiedenen Lehrern Roßlebener Erinnerungen auffrischte. Ein höchst zweifelhafter Genuß war das Konzert einer Debütantin, die in Sabinens Pension lebte und allen ihren Bekannten Freibillets aufgedrängt hatte. Ich saß in der ersten Reihe, bereit, mir die Handschuhe durch heftiges Klatschen zu ruinieren und erlebte aus nächster Nähe die Leiden eines völligen Fehlerfolgs mit. Der jämmerliche Vortrag – das vor Angst zitternde und dabei krampfhaft lächelnde Geschöpf, die tremolierende Stimme, das kühle, stumme Publikum, das sich trotz der vielen Freunde in demselben, trotz der reizenden Erscheinung der Sängerin kaum zum kleinsten Beifall aufschwingen konnte – es war einfach furchtbar! Sabine tröstete sie am anderen Morgen und fand sie ruhig, wenn sie auch ihre Carriere in Berlin für abgeschlossen hält! Wisas Geburtstag, im großen Familienkreis gefeiert, verlief nicht sehr amüsant, da wir von Anfang bis Ende auf einem Stuhl festgenagelt sitzen bleiben mußten. Hat man den entsprechenden Nachbarn, so kann das ganz ergötzlich sein, aber so, mit Wolfersdorff – war′s trostlos! Dann doch lieber allein! Sonnabend, der 24te war so ein rechter Tag aus der alten Berliner Zeit: Um vier Uhr ein Theestündchen bei der herzigen Frau Simrock, um sechs Familienessen bei Walter Hermanns, um acht Uhr die Missa solemnis in der Kaiser-Wilhelm-Ge-

46 1899 uraufgeführtes naturalistisches Theaterstück von Max Dreyer, in dem dieser seine Erfahrungen als Lehramtskandidat verarbeitet.

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dächtniskirche, um zehn Uhr Thee bei Eberhards. Aber die Missa beherrschte den Abend! Die Schönheit des Raumes und die Schönheit der Töne verwoben sich zu einem erhabenen und erhebenden Ganzen und hob die Seele empor über die Menschen, die Gedanken und Ereignisse des Alltags zu Höhen, die sie sonst im Getriebe der Großstadt selten findet. Am Sonntag waren wir bei Dryander zur Kirche und frühstückten dann mit einigen Herren bei Spitzembergs. Lothar war herübergekommen, angeblich, um ein Pferd zu kaufen, eigentlich, um mit seiner Mutter Rücksprache über seine Verlobung zu nehmen. Wir wußten das natürlich nicht, aber es lag in der Luft, auf den Gesichtern und in der Stimmung. Am Abend hörte Sabine folgendes Gespräch zwischen Lothar und seinem Freund Keßler durch die Wand: Keßler: „Nun, Spitz, ich gratuliere, gratuliere, habe eben gehört…Ist sie denn hübsch?“ Lothar: „Sehr hübsch! Reizend!“ Hier dachte Sabine tief entrüstet: „Seinen Freunden spricht er davon, seine Familie schneidet er!“ Da hörte sie weiter: Keßler: „Wie groß ist sie denn?“ Lothar: „Zwei Zoll!!⁴⁷“ Also war von der eben erstandenen Stute die Rede, nicht von der Braut! So entstehen Mißverständnisse! Wir hatten viel Besuch am Nachmittag von Onkel Lutze, Volki, Frau von Maltzahn-Gülz etc; ich lernte im Jour bei Frau Richter die berühmte Frau von Heyking kennen, die diesen Winter die erste Violine spielte und malt, dichtet, die beste Conversation und die beste Toilette macht und mir gründlich mißfiel. Am Abend bei Schwerins war es reizend: die Brüder rezitierten Thüringer Sachen und der Bruder Gerstenbergk vertraute Mutter seine hirnverbrannten spiritistischen Erlebnisse. Er ist ein schöner, interessanter, aber ich glaube, kranker Mensch; mir hat er etwas derartig Unheimliches, daß ich ihn nicht ansehen kann, was mir sonst bei keinem Menschen je passierte. Montag machte uns Burkhart die Honneurs vom Colonialmuseum, das wirklich sehr eigenartig und geschickt zusammengestellt wurde. Am Abend sollten wir bei Breitenbauchs sein und getrennt von den Brüdern hingehen. Als wir ankamen, rief uns Burkhart entgegen: „Wo habt ihr denn Rudi gelassen?“ Wir vermuteten ihn bei Burkhart und malten uns nun aus, wie das arme Wurm, ohne Kenntnis der Wohnung, der Pferdebahnen, verlassen von seinen Geschwistern, einen trüben Abend verleben würde. Da öffnet sich die Tür – der Dicke erscheint strahlend und wirft nur einen verächtlichen Blick nach unserer Seite. Er hatte sich im Continental das Adreßbuch geben lassen und war nach der Wohnung per Droschke gefahren.

47 Hier liegt wohl ein Schreibfehler Hildegards vor.

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„Meine Geschwister halten mich wirklich für ein unmündiges kleines Kind, das sich hinsetzt und heult!“ meinte er in seiner neuen Würde gekränkt. Es war eine lustige Gesellschaft von ausnahmsweise lauter netten Leutnants und einigen jungen Mädchen. Wolfs Frau war da so recht in ihrem Element, lachte und kälberte, neckte sich mit Burkhart und war auch nett gegen uns. Wolf war eher ernst, sprach viel von seinem verstorbenen Vater, Ludwigshof und der alten Zeit – man hatte das Gefühl, daß sie gar nicht zusammenpassen können! Dienstag frühstückten wir bei Frau von Hirschfeld und aßen bei Axels mit einigen Schwaben. Mittwoch platzte die große Bombe: Lothars Verlobung mit Jutta Alten. Tante und Hanna waren selig, freuten sich ungeteilt an Lothars Glück und hatten in ihrer überströmenden Art das Bedürfnis, alle und Jeden an ihrer Freude teilnehmen zu lassen. Am 29ten kehrte Mutter mit den Brüdern nach Wernburg zurück, während ich den Besuch bei Beulwitzens ausführte. Von Landsberg an der Warthe fährt man eine Stunde in einer alten herrlichen Lindenallee nach dem einsam im tiefen Wald liegenden Forsthaus, das mit seinem glücklichen jungen Paar und seinen niedlichen Kindern wie ein Idyll anmutet. Ich blieb bis Sonntag und wurde von Sabine, die am Sonnabend kam, abgeholt. Teils zu Wagen, teils zu Fuß durchstreiften wir stundenlang den einsamen Wald, in dem der erste Frühling bereits leise, fast heimlich, seine herben Reize entfaltete. Die uralten grauen Stämme, das scheue Wild, die weiten, unabsehbaren Wasserflächen, schilfumsäumt, hie und da ein silberweißer Reiher auf dem grauen Himmel, und dazu die große, tiefe, weltferne Einsamkeit: es erinnerte mich an die Szenen, wie vom „Wildtöter“ und „Lederstrumpf“, die ich in herrlichen Kindertagen mir so erträumt und vorgestellt hatte. Es ist so eigen, wenn uns etwas, das wir nur in der Phantasie besessen, in Wirklichkeit vor Augen tritt: es heimelt uns an, indem es uns verblüfft. Roderich hat Sinn für das Alles, aber Luise, so glücklich sie als Frau und Mutter ist, paßt mit ihren Generalstochter-Manieren nicht herein in das idyllische Ganze. Sie sehnt sich nach Menschen, Geselligkeit, eleganten Kleidern, Theater etc., wenn sie auch ihren Pflichten sehr treu nachkommt. Geradezu verletzend wirkt ihr grober Unteroffizierston mit den Leuten und ihre strenge Behandlung ihrer kleinen Kinder, die sie dabei abgöttisch liebt. Und gerade solch kleines Kind ist doch etwas so Zartes, Wunderbares, so frisch aus Gottes Hand Entstandenes, daß ich meine, man könne nicht anders als mit heiliger Scheu und mit größter Liebe – wenn sie auch ernst sein muß zuweilen – damit umgehen!

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Sonntag, den 1. April trafen wir wieder bei Spitzembergs ein, wo ich mit Hanna im Zimmer schlief. Sie wunderte sich immer über den vielen Platz in ihrem Zimmer, den ich beim besten Willen nicht sehen konnte. Montag zog ich den geschlagenen Tag mit Tante Luise Bernstorff in Galerien, Conditoreien und Läden umher. Sie ist seit ihrer Krankheit doch etwas eigentümlich geblieben, und ihre neue, frömmelnde Art, die bei der Neuenhöferin so echt und warm erscheint, hat etwas Aufgepropftes, Unnatürliches. Am Abend kam Loti, der glückliche Bräutigam, der acht Wochen lang in Berlin üben muß. Ich hatte mir die Illusion, daß er durch seine Verlobung ganz verändert, liebenswürdiger und weniger prosaisch sein würde, nie gemacht. Ich glaube, wenn sich Männer durch die Liebe überhaupt ändern, so geschieht es nur allmählich, im Laufe der Zeit. Aber Hanna war enttäuscht, da sie sich nach seinen begeisterten Briefen auf eine Umwandlung gefaßt gemacht hatte. Er gehört zu den Menschen, die brieflich besser ihre Empfindungen äußern können. Seine Worte, „über die Seligkeit, das geliebte Wesen endlich zu besitzen“, hatten uns sehr gerührt und nun saß er da, antwortete dürftig auf Hannas interessierte Fragen und brummte und knurrte den ganzen Abend, weil ihn sein steifer Kragen genierte! Kein Wort, kein Blick, der den großen Wechsel in seinem Leben angezeigt hätte! Oh, wie verschieden sind die Menschen! Am Samstag war ich bei Grete Wangenheim, die zwar noch matt aber sehr strahlend mit ihrem kleinen Baby zusammenlag. Sie leben ganz zurückgezogen und sind sich vollauf genug in ihrem Glück und ihrer Liebe. Das ist sehr schön, aber es scheint mir nicht nötig, daß er das allen Menschen, die ihn besuchen, ankündigt, gleichsam, um sie abzuschrecken. Den nächsten Abend waren Sabine und ich bei Hofackers zum Essen eingeladen und wollten uns dort treffen. Ich kam fünf Minuten vor der angegebenen Essensstunde und fand Eberhard bereits mit der Uhr in der Hand sitzen und warten. Als die Uhr schlug, ohne daß Sabine kam, fing er an, zu raisonnieren und seine Ungeduld steigerte sich derartig, daß Aja und ich uns lieber zu Tisch setzten, obwohl ich es bei den weiten Entfernungen und da wir die einzigen Gäste waren, recht ungalant und pedantisch von ihm fand. Zehn Minuten nach der Zeit kam Sabine, wurde mit Vorwürfen überhäuft und den ganzen Abend weiter gehänselt und geärgert, was Aya auch dagegenreden konnte. Es ist doch wirklich schade, wie sich solch kluger und im Grund guter Mensch wegen solcher Lappalie die Laune und seinen Gästen den ganzen Abend verderben kann. Da ist mir Onkel Axels himmlische, wenn auch oft störende großartige Art und Weise doch noch lieber! Danach war ich noch mit Tante und Hanna in einer musikalischen Soirée bei Frau Richter, wo ich die bekannte illustre kleine Clique, vermehrt durch einige neue

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Erscheinungen wie Heykings, Fritsch, Kühlmann etc., beisammen fand. Die Musik war wie immer erster Klasse und ich unterhielt mich gut mit den alten Bekannten: Humbracht, Hindenburg, Pförtner und Keßler. Lori in einem feuerroten Ballkleid mit weißen Lilien sah eigenartig und wirklich wunderschön aus; in ihrer ruhigen, vornehmen Art flirtete sie mit einer Kühle und Herzlosigkeit, die ihres Gleichen suchte. Hanna und ich wunderten uns immer wieder über die Thorheit und Blindheit der Männer, die dies Spiel doch auch mit ansehen müssen. Ich habe sie trotzdem ihrer Freundlichkeit, ihres Witzes und Charmes wegen gern, wenn mich ihre Kaltherzigkeit gegen ihre Opfer auch empört. Helenchen ist immer noch reizend hübsch und anziehend; für mich hat sie dadurch, daß sie ihrer Vorzüge bewußter und verwöhnter wurde, viel an ihrem Reiz eingebüßt. Aber es ist unbillig, von einer Blume zu verlangen, daß sie immer Knospe bleibe, besonders, wenn sie im Treibhaus blüht. – Das Hauptinteresse dieser ganzen Clique ist momentan der neue Stil und Van de Velde, ein Schöpfer und Apostel desselben. Derselbe war in Berlin und hat viel Interessantes und Gutes geredet und vielen dummen und unbeschäftigten Leuten die Köpfe verdreht. Es wird fast in jeder Gesellschaft darüber geredet und gestritten, wobei viel Nachäfferei und Modethorheit mit unterläuft und die Schüler, wie immer, weiter gehen als der Meister. Ich finde, man soll, soweit man kann, Geschmack, Kunstsinn und Schönheit pflegen, aber nicht davon abhängig sein, sich nicht von diesen doch äußeren Dingen ganz beherrschen lassen. Beethoven hat auch in einer Dachkammer und Goethe an keinem stilvollen Schreibtisch Großes geschaffen, und ein Dummkopf wird durch das Sitzen an einem van de Velde’schen⁴⁸ Schreibtisch noch lange kein Genie! Ich soupierte mit Humbracht, dem Getreuen, der sich in seiner Feinheit, seiner Manieriertheit, seiner Anständigkeit und Anhänglichkeit an die Landsleute immer gleich bleibt. Der nächste Tag war inhaltsreich und lustig: Zuerst waren wir beim Musikreiten im Tattersall, das ausnahmsweise früh um zehn Uhr stattfand, danach mit Graf Asseburg und Pförtner in der Katzenausstellung am Alexanderplatz. Es war zu drollig. In wohl über hundert Käfigen, die zum Teil luxuriös mit Gardinen, Puppenmöbeln und seidenen Betten eingerichtet, lagen die schönsten weißen, Tiger, schwarzen, bunten, Angora und Riesenkatzen, zum Teil mit Nachkommenschaft. Katzen können etwas so ganz besonders Selbstzufriedenes haben und diesen verwöhnten Lieblingen sah man es förmlich an, wie kostbar und wertvoll sie sich vorkamen. Eine davon hatte ihrem Besitzer Tausende eingetragen. Der Geruch in diesem Lokal läßt sich denken! Aber manche Menschen haben wirklich keine Nase, denn die Frühstückstische waren trotzdem von Besuchern besetzt.

48 Henry van de Velde (1863 – 1957), Jugendstilkünstler.

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Asseburg kaufte uns drei Mädchen greuliche kleine Katzenköpfe als Broschen und verlangte, daß wir damit unter den Linden gingen, als „Alter-Jungfern-Orden“! Sabine und ich frühstückten bei Axels mit Herrn von Senden, dem sogenannten Wassersenden. Der arme Onkel hatte allerhand häuslichen und Dienstbotenärger und mußte vom Tisch aus in den Bundesrat hetzen. Senden, der für Natascha schwärmt, sah mit ihr die Jugendnummer über die Lex Heinze an und, obwohl wir die Bilder und Witze nicht zu Gesicht bekamen, waren seine Erläuterungen, Blicke und Witze so widerlich, taktlos und anzüglich, daß ich mich über Tantes Gleichmut ärgerte. Ich glaube, sie verstand es teilweise gar nicht, denn eigentlich sind solche Witze gar nicht ihr Genre. Den Nachmittag verbrachten wir bei Emmy Roth, den Abend ganz unter uns, aber sehr lustig bei Spitzembergs. Lothar [von Spitzemberg] bat uns: „Seid nur bitte gerade so, wenn Altens morgen kommen“; was wir entrüstet ablehnten. Ursprünglich wollten wir früher nach Hause zurück, aber Spitzembergs in ihrer herzlichen Art, möglichst viele Leute an ihrer Freude teilnehmen zu lassen, wollten davon nichts wissen. Nur bei der ersten Begrüßung sollten wir fernbleiben und nach zwanzig Minuten, wenn der Gesprächsstoff erschöpft, als Reservemannschaften herbeigeholt werden. Die doppelte Verwandtschaft erleichterte dann wohl die Situation. Fein ersonnen! Aber fünf Minuten waren noch nicht um, als Hanna hereingestürzt kam: „Kommt nur, um Himmels willen, sie reden alle kein Wort!“ Es war denn wirklich auch sehr verlegen zuerst; Tantes Redegabe ließ sie zwar auch hier nicht im Stich, aber die Welfen blieben steif und die arme kleine Braut versank förmlich vor Schüchternheit. Natürlich machte sich das im Laufe der Zeit, da wir sie täglich sahen. Am Sonnabend gab Tante ein Verwandtschafts-Diner, am Sonntag Karl Alten ein solches im Kaiserhof und zwischendurch kamen Mutter und Tochter zum Frühstück und Thee. Vater Alten ist mir wenig sympathisch, geschwollen, protzig und eitel; sie ist so melancholisch, so rührselig, daß es fast krankhaft erscheint, war aber sehr liebenswürdig und freundlich in diesen Tagen. Jutta ist ein liebes Geschöpf mit großen, erstaunten Kinderaugen, wunderschönem blonden Haar und einem reizenden, unschuldigen Ausdruck. Sie soll lustig sein, wenn sie ihre grenzenlose Schüchternheit überwunden hat. Trotz des vielen Herrenverkehrs, den sie stets gehabt hat, macht sie einen unsicheren, fast backfischartigen Eindruck und erschien uns neben der jüngeren, gewandten, gebildeten Hanna wie ein halbes Kind. Tante, die die glückliche Gabe besitzt, an ihre engste Familie (aber nur an diese!) und was zu dieser gehört, ohne alle Kritik, mit heller Bewunderung heranzugehen, war ganz entzückt, erklärte selbst Vater Alten für einen bedeutenden Mann und fand, daß Mutter Alten nicht hannöversch spräche! Da fingen wir aber laut zu lachen an, inclusive Lothars! Der letzte Abend im Kaiserhof war sehr fidel; schließlich, als herauskam, daß wir Damen noch keine Berliner Weiße getrunken hatten, ließ Viktor Eulenburg durch den feinen, innerlich wutbebenden Kellner vier Humpen davon aus einer

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„Destille“ holen und mit zahllosen Toasten und Neckereien und viel Gelächter wurden sie geleert. Am 9ten April kehrten wir endlich nach Wernburg zurück und feierten mit Eltern und Brüdern eine stille Karwoche und ein warmes, frühlingsgrünes Osterfest. Den Brüdern gelang es allen, einen Birkhahn zu erlegen nach allerdings unermüdlichen Anstrengungen. Von den Nachbarn sahen wir nur Wurmbs, die sich schwer in die Überraschung ihres Sohnes und in die neue Schwiegertochter finden können. Sie erzählte Mutter, daß Lothar mich lange Zeit geliebt habe und nur auf Abraten seiner Eltern, die ihn zu jung fanden, auf mich verzichtet habe. Nun aber, da er sich doch verlobt, seien sie beide ganz entsetzlich enttäuscht, daß ich nicht ihre Schwiegertochter würde. Ich komme mir bei dieser verspäteten, höchst überflüssigen Eröffnung eigentlich vor wie der Reiter auf dem Bodensee, nur daß mich die Freude, diesen Unannehmlichkeiten entronnen zu sein, nicht töten wird, hoffentlich. Übrigens glaube ich die ganze Sache nicht oder halte sie für eine ganz oberflächliche Jungensschwärmerei! Albern war er ja oftmals, aber nicht nur gegen mich, sondern gegen viele junge Mädchen. Am 20ten brachte Rudi eine leichte Dyphteritis [sic] aus Oerlsdorf mit, sodaß er bei herrlichem Frühlingswetter fünf Tage zu Bett liegen mußte. Mein Talent, mich anzustecken, bewährte sich auch diesmal, was umso unangenehmer war, als wir am 30ten zur Silberhochzeit nach Porstendorf ⁴⁹ wollten und mein Fehlen die ganze Aufführung, die wir uns rasch ausgedacht hatten, verdorben hätte. Ich that also mein Möglichstes mit Gurgeln, Schwitzen und Einnehmen und reiste denn auch wahrhaftig direkt aus dem Bett am Montag mit ab. Wir trafen nur wenig Menschen, meist Verwandte in dem bis dahin unbewohnten, noch winterkalten Haus. Aber das Wetter war so himmlisch, das Saalethal im ersten Frühlingsschmuck so bezaubernd und die Stimmung, besonders unter uns Wurmb′schen und Erffa′schen Kindern so ausgelassen, daß ich mit großer Freude an diese zwei Tage zurückdenke. Am Nachmittag lag ich zwar ganz hundeelend, in Pelze gewickelt und heißen Rotwein trinkend zu Bett, aber meine Rolle belebte mich etwas und am nächsten Tag war ich kerngesund. Die Bühne bestand aus einem großen Tisch mit entzückend gemaltem Hintergrund und Kulissen von Menci′s Fabrikation. Für viele Menschen war es zu klein und auch beängstigend hoch, sodaß man in der Bewegung gehemmt war. Die vier Kinder erschienen als Porstendorfer Saalnixe, Furraer Waldgeist, Koseler Karpfen und Weimarer Hauswichtchen und sprachen und spielten so gut, daß Menci′s etwas langatmige Dichtung sehr zur Geltung kam. Danach führten wir passender Weise eine Walpurgisnacht auf. Die Szenerie mit einem kupfernen Hexenkessel, unter

49 Besitz der Familie von Wurmb.

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dem ein großes Feuer brannte, mit Eulen- und Krähengeschrei und fernem Gewitter war sehr wirkungsvoll. Sabine, Rudi, Else Henning und Pauli traten als Hexen auf und nahmen besonders Tantens Eigentümlichkeiten tüchtig durch. Zuletzt erschien ich im weißen Gewand mit silbernem Kranz als der anbrechende Silberhochzeitstag, verjagte den Spuk und braute zuletzt mit ihrer Hilfe einen Trank im Kessel, der dem Silberpaar in zwei Bechern überreicht wurde. Es war sehr komisch und wirklich zu hübsch, daß unser Wunsch: „Rinne, Tropfen, rinne! – Wer mit ernstem Sinne – trinkt von der Essenz – wird gar bald Exzellenz!“ – schon am nächsten Morgen in Erfüllung ging. Auch der eigentliche Festtag mit Einsegnung, Essen, sehr lustigem Tanzen war höchst gelungen, am Schönsten aber doch das Sitzen und Wandern in dem herrlichen Maiwetter. Volki hat sich fabelhaft herausgemacht, tanzt hervorragend, ist groß und breit geworden und noch ganz so einfach und lustig wie früher. Zum Essen kam eine „Freundin“ von Tante,⁵⁰ eine Gräfin Poninska mit Tochter, die wie solche polnischen Magnaten einen zweifelhaften Anstrich hatten. Sie waren geistsprühend und charmant, aber hatten Hände, Füße und Gestalten wie Rübenmädchen. Den Mai über war unser Haus das reine Mädchenpensionat: Während der Karlsbader Reise der Eltern waren Menci, Pauli und deren nette 18jährige Gouvernante, Frl. Moroff, eine kleine Deutschrussin, hier. Außerdem kam Else Henning und dann ganz plötzlich – fast wie Schiffbrüchige – Frau von Imhoff mit Anni. Letztere hatte sich nämlich im April bei einem Besuch in Kiel mit einem Marineoffizier Persius verlobt. Das halte ich bei ihren 26 Jahren, da sie ihn nur drei Mal gesehen und nicht die geringste Sympathie oder Neigung für ihn empfand, für die einzige, allerdings sehr große Dummheit. Denn daß sie nach sechswöchiger Verlobung, nach gewiß schweren Kämpfen, den Mut zeigte, die Sache aufzulösen, anstatt das Unrecht fortzusetzen, finde ich nur anständig und richtig. Bei den elenden Verhältnissen und in dem Klatschnest war es ein schwerer, bitterer Schritt. Gleichzeitig wandte sie sich an uns, und bat, um dem ersten Sturm zu entgehen, um sofortige Aufnahme für sich und ihre Mutter. Sie war so mager, so jammervoll elend, so krankhaft aufgeregt, daß wir wirklich inniges Mitleid mit ihr hatten. Dasselbe wäre aber noch größer und anhaltender gewesen, wenn sie ihren Kummer in einer würdigeren, ernsteren Weise getragen hätte. Nicht nur, daß sie an jedem Menschen, auch an Vater, alle détails ihrer Ver- und Entlobungsgeschichte hinredete, sondern sie machte selbst Witze darüber und war von einer gemachten, aufgeregten Heiterkeit und lauten Lustigkeit, die uns alle verletzte. Ich mache mir oft Vorwürfe, daß ich gar kein

50 Gemeint ist wohl die Ehefrau von Hildegards Onkel Axel Varnbüler, der die Familie kritisch gegenüberstand.

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Zutrauen zu ihr fassen kann, ihre Offenheit nie erwidern und nie vertraut mit ihr sein mag. Aber ich kann über ihre innere Zerfahrenheit, ihre Oberflächlichkeit und namentlich über ihren Mangel an reinem Empfinden nicht hinwegkommen; das ward mir nie so klar wie in dieser Zeit, die ihr, richtig aufgefaßt, so segensreich hätte werden können. Gegen den Bräutigam läßt sich nichts sagen, als daß sie ihn eben nicht mochte. Er gefiel sonst allen, die ihn sahen. Wie wohltuend war neben diesen endlosen, unerquicklichen Gesprächen Mencis herrliche Ruhe, ihr vornehmer, zuverlässiger, goldtreuer Charakter, ihre sanfte stille Art. Und auch Pauli machte uns große Freude, war artig, anschmiegend und rührend anspruchslos. Leider war das Wetter meistens kalt und regnerisch, ja am 15ten lag dicker Schnee auf dem frischen Grün und den zarten Blüten – ein betrübender Anblick! Es war uns manchmal schwer, unsere Schar, besonders die Taubstumme, immer in den vier Wänden zu amüsieren, aber schließlich ging′s doch: Wir lasen viel vor, malten, schrieben Romane, hörten mögliche und unmögliche Schwänke aus Annis Leben mit an und machten sehr gelungene, komische Schattenspiele unter Mencis Anleitung. Die Bückeburger Altens kamen von Halle aus auf zwei Tage zu Besuch, was besonders mir eine große Freude war. Carola wird mir immer angenehmer; ihr vornehmes, sicheres und kluges Benehmen gewann ihr sofort die Sympathie beider Eltern. Ende Mai reiste Mutter auf ca. 14 Tage nach Hemmingen, während Emmy Speßhardt⁵¹ uns hier bemutterte. Es klingt vielleicht merkwürdig, daß wir trotzdem ein so besonders schönes, feierliches Pfingstfest feierten, aber es war natürlich hauptsächlich Schuld des herrlichen, warmen Wetters. Gethan und unternommen haben wir so gut wie nichts. Dietrich Speßhardt, Jörge und Vater kamen über die Festtage, alle mit der Absicht, sich recht gründlich auszuruhen; so saßen wir unaufhörlich zusammen und fuhren und gingen im Wald umher. Dabei änderten wir unser Urteil über Dietrich sehr zu seinen Gunsten. Jetzt, da er älter ist, hat seine Zärtlichkeit fast etwas Väterliches und er ist gegen Emmy, gegen seine Schwägerinnen so rücksichtsvoll und gut, daß man auch die etwas abgeschmackte Courmacherei mit in den Kauf nehmen kann. Am 3ten war endlich einmal ein gelungenes Missionsfest im Kreis. Nicht daß die Vorträge besser oder weniger langweilig gewesen wären! Aber Drognitz liegt so wunderhübsch. Die Fahrt dorthin ist eine der schönsten in unserer Nähe, die Luft wehte so frisch und die jungen Pfarrleute waren so natürlich und gastlich, daß man das Gequassel von Franke, Howard und Hergesell nicht so betrübend empfand. Allerdings war damit der Zweck des Missionsfestes nicht erfüllt, aber ich fürchte, das ist bei unserem Geistlichen hier auch nicht möglich.

51 Schwester von Hildegards Vater.

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Sabine hatte solche Künstlerschmerzen nach den Berliner Ausstellungen, daß wir anderen alle zusammenlegten und ihr ein achttägiger Besuch bei Aya gestattet wurde. Ich sollte nicht ganz allein bleiben und schloß mich daher Emmy an, die nach Ahorn reiste.Vom siebten bis sechzehnten verlebte ich eine reizende Zeit dort. Durch die vielen Menschen: Tante,⁵² Marie, Lene, Karl und Elisabeth, zwei Speßhardts war der Kreis anregender als sonst und der Verkehr zwischen vorderem und hinterem Schloß bringt viel Leben und Abwechslung. Karls Frau⁵³ ist schon ganz mit der Familie verwachsen; man muß sie lieb haben in ihrer puritanischen, herzlichen und natürlichen Art. Die Übrigen überboten sich alle, mich zu verwöhnen und zu verhätscheln, was mir – ich kann es nicht leugnen – sehr wohl tat, weil ich weiß, wie treu und aufrichtig es gemeint ist. Es waren warme, laue Junitage, die Natur nach dem regnerischen Mai grün und frisch, sodaß jeder Ausflug, jeder Gang im Wald, jede Mahlzeit auf Tantens großem Balkon doppelter Genuß war. Ich nenne nur eine Tour nach Kloster Banz, das stolz über dem lachenden Mainthal thront, einen Frühgottesdienst in Füllbach, ein Abendbrot auf der einzigartigen Veste unter Ingos Linde, einen Besuch der reichhaltigen, interessanten landwirtschaftlichen Ausstellung in Coburg, wo Carl die meisten Preise einheimste und Waldspaziergänge sonder Zahl. Nie ist mir Ahorn mit seiner Umgebung so reizvoll erschienen, wozu freilich mein ideales Turmstübchen oben im dicken alten Turm seinen Teil beitrug. Da mußte man ja selbst in meinem hohen Alter ganz schwärmerisch werden! Öfters stand ich in der Stille und Schwüle der Nächte auf, setzte mich ans offene Fenster und träumte mit wachen Augen in die zauberhafte, selbst träumende, schweigende Natur hinein. An die Wand hatte ein früherer Bewohner mit Bleistift geschrieben: „Wieviel, das köstlich schien, war doch vergebens – nur eines gibt es, das bleibt ewig jung – und niemand nimmt′s: Du bist′s, Erinnerung – Du bist die Patina am Erz des Lebens.“ – Es machte mir einen tiefen Eindruck, als ich das im hellen Mondschein entzifferte, wenn auch meine Gedanken mehr der Zukunft als der Erinnerung galten. Viele Freude machte mir auch das Musizieren mit Tante Bertha; sie ist aber seit Onkels Tod merkwürdig still und schweigsam geworden, obwohl sie sich an Kindern und Enkeln um sie her sonnt. Am 16.6. traf ich mich mit Mutter in Lichtenfels und kehrte hierher zurück. Jetzt schreiben wir den 22. Juli und diese Wochen liegen hinter mir, wie von einer schwarzen Wolke beschattet. Die Vorgänge in Peking,⁵⁴ die Belagerung und Ermordung der sämtlichen, dort eingeschlossenen Europäer hat wohl die ganze ci52 Bertha Freifrau von Erffa, geb. von Bibra, Schwägerin von Hildegards Vater und deren zwei unverheiratete Töchter. 53 Elisabeth geb. Gräfin von Schwerin, die Hochzeit war im September 1899 gewesen. 54 Die Belagerung des Gesandtschaftsviertels in Peking während des Boxeraufstands.

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vilisierte Welt mit Empörung und Mitgefühl erfüllt. Für unsere Familie, die ihren allgemeinen Liebling Claus Below,⁵⁵ den Sonnenschein seiner armen Eltern, unter der Schar wußte, war die Qual und Sorge und ist jetzt die Trauer unbeschreiblich groß! Wie sich die Besorgnis von Tag zu Tag steigerte, wie man auf Befreiung durch die Engländer fest vertraute und dann so enttäuscht darin wurde, wie man trotz allem die Hoffnung nicht aufgeben wollte, bis die Briefe aus Berlin und die Zeitungsnachrichten die blutige Metzelei in allen ihren grausigen détails brachten, dieses Schwanken, diese Ungewißheit, diese Depression – ich werde das nie vergessen! Jeden Tag brachte Vater als Erstes die Zeitung herunter, über die wir uns begierig stürzten. In der letzten Zeit legte er sie stumm auf den Tisch und lief in den Wald hinauf, um allein zu sein mit seinem Kummer. Belows trauern und schreiben tief traurige Briefe, nur Onkel glaubt fest und freudig, daß sein Sohn noch lebt. Der Arme! Onkel Axel dagegen ist ganz erschüttert und ohne jeden Schein von Hoffnung. Er hat Claus wie seinen Sohn geliebt und ballte die Hände vor ohnmächtiger Wut, nicht helfen, nicht zur Befreiung etwas tun zu können. Ihn, den sonst so lethargischen, schlaffen Menschen, so aufgerüttelt zu sehen, voll Zorn und Schmerz, hat mir einen schrecklichen Eindruck gemacht! Das Leben mit seinen Pflichten und Anforderungen geht dabei weiter, ja, selbst mit seinen Freuden. Aber das ist wirklich fast mehr, als man leisten kann, und der Gedanke an Lothars Hochzeit am 1. August, an Toiletten, Aufführungen und Tanzen, hat uns schon viel Thränen gekostet. Aber er schrieb so herzlich, wie schwer es ihm wäre, von seiner Familie an diesem Tage niemanden dabei zu haben, daß die Eltern es als Pflicht auffassen und mit uns hingehen wollen. Der ganze Juni stand im Zeichen des Bien, da zahllose Schwärme eingefangen wurden und wieder ausrissen, um meist wieder eingefangen zu werden. Sehr gemütlich war ein längerer Besuch Margarethens über Mutters Geburtstag, weniger ein achttägiger von Axels vom 14ten Juli bis gestern. Ich gestehe, daß ich, die den Haushalt zu führen hatte und unter der andauernden großen Hitze, besonders beim Beerenpflücken, oft gelitten habe, die Ruhe jetzt sehr wohlthuend empfinde. Dalwigks waren zuerst hier auf zwei Tage. Dann kamen Onkel, Tante, Johann-Conrad und seine Russin,⁵⁶ die kein Wort Deutsch versteht, und zwar um zwölf Uhr nachts und mit so viel Gepäck, daß unsere Leute, die noch nie gesehen, daß man mit solchem Ballast reisen könne, die drei großen Koffer unten ließen und nur das Handgepäck heraufbrachten. Obwohl sie alles, was sie brauchten, bei sich hatten, 55 Claus von Below (1866 – 1939), Sohn von Nikolaus von Below und Sophie, geb. Freiin Varnbüler von Hemmingen war Legationsrat und zur Zeit des Boxeraufstands Geschäftsträger der deutschen Gesandtschaft in Peking. 56 Axel, Natalia und Johann-Conrad von Varnbüler, und dessen Kindermädchen.

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mußten die Sachen um ein Uhr noch geholt werden und Axels und ein Teil von uns blieben so lange auf. Das war der Anfang! Onkels Besuch war sehr erquicklich; die Ruhe und Behaglichkeit tat ihm wohl und seine Stimmung war weich und freundlich. Leider mußte er bald wieder nach Berlin zurück. Sie führte ein träges Orientalenleben, frühstückte um acht und um elf Uhr im Bett, erschien um eins, oft auch später, zum Essen, lag dann in entzückenden, aus Spitze, Seide und Gaze zusammengestückten Gewändern und Schleiern auf der Chaise-longue im Garten, trank Thee, ging oder fuhr eine Stunde spazieren und legte sich bald nach dem Abendessen wieder ins Bett. Da ihre Unterhaltung sich nur in dem engen Kreis: Kleider – Einrichtung – Spiritismus – Rußland bewegt, so war uns das nicht unangenehm, konnten wir doch den reizenden Konrad so sehr viel für uns haben. Er ist so schön mit seinen langen Locken und seinen interessanten dunkelblauen Augen, daß jeder, der ihn sah, jede Magd auf dem Hof, alle unsere Leute, jeder Gast sein Herz an ihn verlor. Er ist nicht weit voran für sein Alter, da man sich wenig mit ihm abgegeben, aber seine Einfälle sind so drollig, seine Beobachtungsgabe so erstaunlich groß, seine Art und Weise so kindlich froh und dankbar, daß Sabine und ich immer von ihm reden und förmlich Heimweh nach dem süßen Geschöpf empfinden. Wir hatten ihn eigentlich den ganzen Tag bei uns, fuhren mit ihm in den Wald, nahmen ihn mit zum Tennis und zeigten ihm die Ställe. Er wollte auch gar nicht fort, sondern sagte: „Mama und Lena können allein fortreisen; ich bleibe in Wernburg, da ist es viel hübscher.“ Die Abreise gestern um 11 Uhr war eine Komödie, aber nur für die Nichtbeteiligten. Mutter und Sabine sollten sie nach Saalfeld bringen, da sie über Ritschenhausen fahren wollten. Leider war es der heißeste Tag, den wir bis jetzt gehabt, sodaß jeder Schritt eine Anstrengung war. Von acht Uhr an trat die arme, geplagte Russin alle Stunde an Tantens Bett mit der Bitte: „Aufstehen, aufstehen!“ Sie rührte sich nicht! Endlich – das Frühstück stand fertig seit einer Stunde, Konrad schon im Hut und Reiseanzug, drangen wir ins Heiligtum: Alles war noch mit Brillanten, Blusen, Flacons und Bändern bedeckt, die wir trotz ihrer Einrede in die Taschen und Koffer stopften. Sie kam nicht aus ihrer Pomade; obwohl wir hetzten und der Wagen längst vor der Türe stand, steckte sie sich Schmucknadeln an, verlangte ein Honigbrot und weitete ihre Handschuhe aus. Schließlich zogen wir sie heraus, flößten ihr im Stehen eine Tasse Thee ein (Sitzen gestattete Vater nicht!) und hoben sie in den Wagen, das arme Mädchen, die alles allein gepackt und keine Zeit zum Essen gehabt, flog an allen Gliedern. Als sie fertig waren, warfen Vater und ich uns erschöpft auf zwei Stühle und hatten nur den einen Gedanken: „Sie wird doch nicht den Zug versäumen und morgen denselben Zauber aufführen!“ Das ward uns aber erspart! Persönlich war sie liebenswürdig und nicht anspruchsvoll; aber bei ihrer Lebensweise und den Gewohnheiten von Kind und Russin gab es eigentlich jede Stunde etwas zu springen, holen und besorgen, sodaß

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ich recht fertig bin. Diese Arbeit wird so leicht, wenn man heiteren Herzens ist; die Trauer um Peking, die Sorge um Jörges Examen, das am 25ten vor sich gehen soll, wirken so niederdrückend, daß ich jeden Morgen meinen ganzen Mut und mein Gottvertrauen zusammennehmen muß, wenn ich den Tag vor mir liegen sehe. Wie schwer ist doch das Leben! Ohne den Glauben an die Ewigkeit wäre es trostlos, nicht zu ertragen!

Herbst 1900 Ich sehe eben, daß ich die vorstehenden Aufzeichnungen im Juli mit dem Worte schloß: „Wie schwer ist doch das Leben!“ – Wenige Wochen sind vergangen, im Vergleich zum ganzen Leben ein kurzer Augenblick – und ich schreibe aus vollster Überzeugung: Wie schön, wie reich, wie wunderbar ist doch das Leben! So schön, daß man es kaum fassen und ausdenken kann; so reich in einzelnen Minuten höchsten Glücks, daß sie ein Leben der Trübsal aufwiegen; so wunderbar, daß Herz und Mund übergeht voll Dank gegen Gott, der über Bitten und Verstehen gegeben und uns sichtbarlich gesegnet. So verschwindet die Sonne ein kleines Weilchen hinter grauem Wolkenflor, daß wir uns ihrer desto mehr erfreuen möchten! Am 25ten Juli bestand Jörge sein Referendarexamen. Der Tag sollte Vater verheimlicht werden, kam aber leider durch Zufall heraus. So machten die armen Eltern angstvolle Stunden durch. Es war blödsinnig heiß, aber schon vom Essen an gingen sie von Zeit zu Zeit vors Tor und auf die Post, bis endlich das freudige Telegramm einlief. Sehr mager, aber sehr vergnügt folgte er bald in Person nach, um nach wenigen Tagen zum Stiftungsfest nach Göttingen zu reisen. Am 30ten Juli reisten die Eltern mit Sabine und mir nach Hannover zu Lothars Hochzeit und machten in Lauchröden Station, um Vaters Geburtstag zu feiern. Burkhart trafen wir dort schon vor, Jörge kam stockheiser, aber riesig fidel von Göttingen zurück. Den ersten Abend verlebten wir in Neuenhof, wo wie immer ein großer Kreis, u. a. Tante Else B., Georg und Wisa, Mutti, zwei Tanten Schöning, versammelt war. Der Sommerabend auf der Veranda des kleinen Hauses mit dem Blick in den herrlichen Park wäre wunderschön gewesen, wenn uns der Anblick von Frau von Strauch, deren einziger Sohn in Peking mit eingeschlossen war, nicht so ins Herz geschnitten hätte. Gerade sie, die sonst so lebendig und heiter, so zerschlagen und verweint zu sehen, tat mir unbeschreiblich leid. Vaters Geburtstag brach sonnig und warm an. Wir deckten eben den Geburtstagstisch, als ein Telegramm kam. Wir baten Mutter, es nicht mit hinzulegen, sondern zuerst zu lesen, falls es eine schlimme Nachricht enthalte. Es war von Onkel Axel und enthielt nur die kurze Nachricht, daß Claus lebe und ein Brief von ihm aus

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Peking herausgekommen sei. Ich werde diesen Moment nie vergessen: Wir lachten, weinten und jubelten alle durcheinander und fielen uns in die Arme! Dann ward aufgebaut, aber was waren alle Geschenke nach diesem herrlichen! Da kamen auch schon Schwester Else und Frau von Strauch angefahren zu neuem Jubel und neuer Freude. Am Abend gab Mag ein reizendes kleines Festdiner, an dem die Stimmung ausgezeichnet war und Vater und Onkel Georg wunderhübsche Toaste hielten. Mutti setzte sich ans Klavier, wir sangen alle im Chor, daß die Leute auf der Straße stehen blieben und gingen endlich mit dem Gefühl zur Ruhe, noch nie solchen herrlichen Geburtstag verlebt zu haben! Rotenhans hatten aber alles ganz reizend arrangiert; wir waren teils im Pfarrhaus, teils im Haus untergebracht und Lauchröden präsentierte sich so gut wie selten zuvor! Dagegen muß ich sagen, daß die Lindener⁵⁷ Hochzeit, von deren Glanz und Amusement man vorher so viel Lärm gemacht, unseren Erwartungen nicht entsprach. Es war eben eine Stadthochzeit, die erste und hoffentlich die letzte, die ich mitmachte. Nachmittags langten wir in Hannover im Hotel Royal an – nachdem sich uns Rudi in verdoppeltem Kubikinhalt, einfach schauderhaft! in Göttingen gezeigt – begrüßten Spitzembergs und Sara, machten eilig Toilette und fuhren nach Linden. Dieser schöne Besitz, jetzt nur noch aus großem stattlichen Herrenhaus und Garten bestehend, liegt schon ganz innerhalb der Stadt, die sich im Laufe der Zeit auf seinen Wiesen und Feldern breit gemacht hat. Man fährt in Droschke oder selbst elektrischer Bahn hinaus und befindet sich mit einem Mal ganz auf dem Land, in Riesenräumen mit altem, ererbten Hausrat, schönen Familienbildern, alten ländlichen Dienstboten, großen Fluren und Treppen etc. Das macht zuerst einen sehr eigenartigen Eindruck. Hier und in dem schattigen, mit Lampions gezierten Garten war eine große, sehr elegante, aber ganz fremde Gesellschaft versammelt – sozusagen halb Hannover – die man aber bei der Kürze der Zeit und der bekannten Steifigkeit und Zurückhaltung kaum kennenlernen konnte. Unter den Herren der Reitschule und der Ulanen hatten wir viele Bekannte, aber jedes bekannte Gesicht, selbst die der Spitzemberg′schen Leute, empfand man als Freude, und unsere kleine Clique: Hanna, Sara, Kessler und Puttkamer, Lothars Freunde, fühlte sich als behagliche kleine Insel im Menschengewimmel. Etwa 2 ½ Stunden gingen oder besser schlichen wohl hin, mit Aufführungen der Freundinnen und einiger Freunde, das Geist-, Witz- und Trostloseste, was ich jemals in dieser Beziehung angehört habe. Wenn ich sage, daß selbst das arme Brautpaar den Witz der Sache nicht herausfinden konnte und das Publikum, um wenigstens etwas Anteilnahme zu bekennen, das Steckenbleiben als Witz auffaßte und stürmisch lachte, so kann man sich wohl einen Begriff von der Ledernheit machen! Graf

57 Hochzeit ihres Vetters Lothar von Spitzemberg mit Jutta von Alten in Schloß Linden.

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Kessler, der literarische und ästhetische Feinschmecker, war ganz niedergeschmettert davon. Zum Tanzen war wenig Zeit mehr, auch war es drinnen drückend heiß und draußen feuchter Boden; aber hauptsächlich fehlte jede Stimmung. Der Hochzeitsmorgen, sonst ein besonders lustiger Teil solcher Feste, wurde mit Besorgungen ausgefüllt. Der Verkehr im Hotel mit Sara, Spitzembergs, Puttkamer und einem Grafen Wedel mußte uns dafür entschädigen und that es auch in gewissem Maß. Man traf sich in der Kirche, wo eine schöne, würdige Feier stattfand. Jutta war fast die hübscheste Braut, die ich je gesehen und wir zwölf Brautjungfern, alle in Weiß, beinahe selbst wie Bräute, gaben ein ungewohntes, aber eigentlich hübsches Gesamtbild ab. Es waren u. a. Carola, Hanna und ich, eine Stolberg, Brünneck, Knyphausen, Götz, Oldershausen, Seeler, Schack, Alten, während mir die Namen der Brautführer zum Teil entfallen sind. Der meinige war Kessler, den ich am besten kannte und mit dem ich mich sehr gebildet und ausgezeichnet unterhielt. Da neben mir Puttkamer von einer ansteckenden Ausgelassenheit war und gegenüber Wedel und Carola saßen, so fühlte ich mich gänzend placiert. Das Diner und das ganze Arrangement war natürlich tadellos, von den Toasten hörten wir kein Wort, was aber eher ein Gewinn gewesen sein soll. Daß die Altens nicht einmal Tante Higa und Hanna leben ließen, ist doch gewiß ein starkes Stück! Vater saß als einziger Mann der Spitzembergschen Verwandtschaft neben der Braut und fand sie allerliebst. Der Abschied des jungen Paares war derartig herzerschütternd, thränenreich und jammervoll, daß wir als Verwandte des Bräutigams, des Urhebers dieses Trauerspiels, mit ganz schlechtem Gewissen dabei assistierten. Die Nächstbeteiligten sind ja in dieser Lage entschuldigt, obwohl ich solche Ausbrüche in der Öffentlichkeit immer ungehörig finde, aber die Redensarten der weiteren Familie, „daß diese schöne, verwöhnte, einzige Erbtochter einen simplen Assessor heirate“, fand ich unverschämt, oder zum mindesten recht überflüssig und verspätet, da an der Sache nichts zu ändern und Braut und Eltern die Partie sehnlichst gewünscht hatten. Sehr lustiges, flottes, andauerndes Tanzen beschloß den Tag oder vielmehr das Fest, denn im Hotel blieb unsere kleine Gesellschaft noch bis zwei Uhr zusammen, um der abreisenden Sara Gesellschaft zu leisten und alles noch einmal Revue passieren zu lassen. Wir kamen überein, daß wir eigentlich zu alt und zu anspruchsvoll für den in der Hannöver′schen Gesellschaft herrschenden Ton wären, aber ich für mein Teil weiß, daß ich denselben auch vor fünf Jahren nicht mehr genossen hätte. Durch das beständige Zusammensein und den freien, ganz englischen Verkehr ist unter den jungen Leuten ein solches Sichgehenlassen, eine so kameradschaftliche, nonchalante Ausdrucksweise, eine fast aller Ritterlichkeit und Zurückhaltung entbehrende Art eingerissen, daß Hanna und wir, die durch das Berliner Ausgehen doch ziemlich bewandert in diesem Genre sind, oftmals ganz

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entsetzt waren. Andererseits kommen ja stets die Witze und Neckereien einer Gesellschaft dem Beobachter, der ihr nicht angehört, läppisch und albern vor. Am nächsten Morgen machten wir mit Spitzembergs und den beiden Herren einen Ausflug nach dem schönen Herrenhausen, dem Herzog von Cumberland gehörend, das wie alle unbewohnten Schlösser in seiner stolzen einsamen Schönheit und Größe einen wehmütigen Eindruck macht. Puttkamer mit seinem trockenen Witz war unbeschreiblich komisch; besser gefiel uns noch Wedel, der sich der besonderen Gunst von Mutter und Tochter Spitzemberg zu erfreuen hatte. Tante war so hingerissen davon, daß alles andere, selbst Lothars Hochzeit, davor versank und wir alle unter ihrer Laune zu leiden hatten! Und Hanna! Es war wieder mal einer von den Momenten, wo ich ihr gegenüber vor einem vollständigen Rätsel stand, wenn ich nicht der übergroßen Verwöhnung und dem Einfluß Berlins die Schuld zuschreiben könnte. Gott sei Dank ist er ja ein vornehmer, bescheidener Mann, aber um ihrer selbst willen werde ich rot, nur indem ich daran denke und dies schreibe! Am Nachmittag fuhren wir mit Ernst Altens nach Bückeburg, wo wir bis zum Montag früh blieben, trotz schlechten Wetters, Sturm und Regen, gemütliche Zeit verlebten. Von hier sollte sich die Familie trennen: Mutter und Bibs kehrten heim, während ich mit Vater nach Sylt zu einem vierwöchigen Aufenthalt gehen sollte. Seit Jahren hatte er das verschoben und zeigte auch jetzt wenig Lust dazu; ich versprach mir auch nicht allzu viel davon, da ich das Seebadleben gar nicht kannte und die Brüder in Wernburg versäumen mußte. Aber Mutter behauptete, ich müßte unbedingt auf Vaters Wohl aufpassen – so wurde denn ein großer Familienbeschluß gefaßt, Billette bestellt und Koffer gepackt. Der Anfang unserer Seebadereise war keineswegs ermutigend. Montag um sechs Uhr reisten wir schon los, trennten uns in Hannover von Mutter und fuhren den ganzen Tag, über Hamburg – Hoyerschleuse. Vater fühlte sich miserabel und wollte am liebsten umkehren, hielt es aber trotz unbeschreiblicher Hitze und Staub für unumgänglich notwendig, daß ich in den zwei Stunden Aufenthalt in Hamburg einen Eindruck von der Stadt bekam. Als wir endlich in Hoyerschleuse unseren kleinen Dampfer bestiegen, fühlte ich mich bereits so müde, durch das lange Ratteln seit sechs Uhr früh so übel, daß ich der zweistündigen Seefahrt etwas bänglich entgegensah. Aber im Gegenteil: der herrliche Seewind, die wundervolle, sanfte Bewegung, das Bild der weiten, grauen Fläche, über die weiße Möwen dahinschossen, hatte etwas so Belebendes, daß unsere Lebensgeister bald neu erwachten. Von Munkmarsch nach Westerland fährt man noch ½ Stunde mit Dampfbahn; etwa um 11 langten wir an unserem Bestimmungsort an, unser Gepäck aber noch lange nicht, da es auf dem zweiten Schiff befindlich und wohl in die Ebbe geraten war. Im Hotel Royal, wo wir für die erste Nacht Zimmer bestellt, war nichts frei; so mußten wir zu einem Uhrmacher wandern, dessen zwei kleine Buden erst für uns umge-

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räumt werden mußten. Bis nach zwölf warteten wir auf unser Gepäck, um schließlich nachzugeben und ohne dasselbe auf unsere harten Betten zu sinken. Am nächsten Morgen regnete es – und uns stand das Suchen einer Wohnung bevor! Sylt war entsetzlich überfüllt, doch fanden wir endlich in einer Villa Grondziel (Villa ist nicht so genau zu nehmen; bei uns sind die neuen Arbeiterhäuser schöner!) zwei kleine, freundliche Zimmer, die uns besonders des großen, dazugehörenden Flurs wegen anzogen. Zwar stieß man beinahe mit dem Kopf an die Decke, über Mittag war es schlagrührend heiß, und die Bespannung der Wände und Decke mit Leinwand hatte die Eigentümlichkeit, bei jedem Luftzug zu wedeln, zu krachen und sich zu blähen wie ein großes Segel im Wind – aber der Mensch gewöhnt sich an alles und unser Aufenthalt in diesem Eldorado war so beschränkt, daß wir unter seinen Schattenseiten kaum je gelitten haben. Die Nähe des Strandes entschädigte dafür. Ich muß die abgedroschene Bemerkung, daß die Welt klein ist, wirklich noch einmal machen, denn wer wälzt sich uns beim ersten Gang zum Strand, nach vollendeter Etablierung, fett und schmutzig wie immer entgegen? Unser vortrefflicher Hausarzt Dr. Pfeifer, gefolgt von seinem Schwager, unserem Rechtsanwalt. Glücklicherweise waren dies nicht die einzigen der Badegäste, die wir kannten. Nach einer Stunde hatten wir bereits Salms, die mit zwei Töchtern, Anna Görtz und einer Gräfin Solms einen monatelangen Aufenthalt hier machten, freudig begrüßt und trabten mit Asseburgs die lange hölzernen Wandel- hier Trampelbahn genannt, auf und ab. Der erste Eindruck der Nordsee war so großartig, so wild und stürmisch, wie niemals sonst während der übrigen Zeit. Strandkörbe, Zelte, Menschen waren verschwunden, das Baden untersagt und über die hinter dem eigentlichen Strand gelegene Wandelbahn spritzte der salzige Schaum. Das Gehen wurde förmlich schwer und alle Menschen lagen im Kampf mit ihren Hüten, Mützen, Haaren und Capes, was manch possierlichen Anblick bot. War nun auch von dem eigentlichen bunten, lustigen Strandbild, das mir so oft geschildert worden war, nichts zu sehen, so gab das Meer in seiner Großartigkeit vollen Ersatz dafür. Gegen diese hohen Wellen, dieses Toben und Schäumen, dieses wunderbare immer wechselnde und immer erhabene Bild erschienen mir Ostsee und Mittelmeer zahm und feierlich, und es ward mir von neuem zur Überzeugung, daß sich mit dem Meer kein anderes Schauspiel in der Natur messen kann. Schönere mag es geben; gewaltigere und ergreifendere gewiß nicht! Am 8ten, Mittwoch, nahm ich mein erstes Bad, eine wonnige Sensation! Der Wellenschlag ist so stark, daß man meist mit einer am Strand befestigten Leine in der Hand in die See hineinläuft und doch wird man öfters von einer besonders kräftigen Welle flach in den Sand geworfen, worauf man sich prustend und zappelnd em-

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porarbeitet. Es ist, besonders, wenn man zu mehreren badet, natürlich ein Lärmen, Spritzen und Plätschern, eine Lust und Albernheit, als ob es kleine Kinder wären. Minder schön ist die ordinäre, verblendete Eitelkeit, mit welcher eine Anzahl Weiber, darunter dicke, alte Judenmütter, Schauspielerinnen und zweifelhafte Wesen, ihre Badekostüme oder auch oft die Dürftigkeit derselben, außerhalb des Wassers produzierten. Sie selbst können doch nichts davon haben und für die Zuschauer ist es erst recht ein Graus und Schrecken! Wir begannen, da Vater so oft als möglich baden wollte, ein ganz regelmäßiges, eingeteiltes Leben, das sich allerdings nicht durch Überanstrengung auszeichnete: Um acht Uhr frühstückten wir, meist in einer Laube hinterm Haus, erledigten Briefe und Flickereien und zogen gegen neun Uhr mit Arbeit, Buch und Frühstück an den Strand. Das Baden, auf das man manchmal eine Stunde warten mußte, dauerte von 10 – 12 Uhr; dazwischen besuchte man sich in Zelten und Körben, frühstückte oder träumte in angemessener Mattigkeit in seinem geliebten Strandkorb. Um zwei war table d′hôtes, lang und lärmend im Hotel Royal; nach kurzer Siesta gingen wir abermals zum Strand, wo wir auch in einer der dortigen offenen Hallen zu Abend aßen und erst zum Schlafengehen heimkamen. Oft habe ich innerlich gestaunt, daß mein tätiger, unternehmungslustiger Vater sich bei diesem Leben so wohl und gesund fühlte und es spricht wohl am besten für unseren ausnahmsweise netten Kreis, daß nie ein Moment der Langeweile für ihn kam. Ich für meine Person habe das Zusammenleben mit meinem Vater über alle Maßen genossen und als mir Sophie Bernstorff klagte, wie schwer es wäre, mit dem Vater allein im Bad zu sein, sagte ich aus voller Überzeugung, daß ich mir etwas Glücklicheres wie unser unzertrennliches Dasein in Sylt nicht denken könne! (N.B. Jetzt kann ich es aber!) Es war noch immer kalt und stürmisch an diesem Mittwoch, ein Wetter, bei dem wir in Wernburg nur ungern das Zimmer verlassen würden – und hier saßen wir, ohne uns zu erkälten, bis zum Abend mit den alten Asseburgs im Strandkorb. Schritt für Schritt mußten wir vor der grauen Flut zurückweichen, und freuten uns alle unermüdlich an dem wechselnden Bild vor uns. Asseburgs bildeten bald den geliebten und verwöhnten Mittelpunkt unseres Kreises, und ich speciell habe so viel Freundlichkeit von ihnen erhalten, daß ich an den Verkehr mit ihnen mit besonderer Vorliebe zurückdenke. Die Gräfin ist ein sehr interessanter Charakter: Schroff und offen bis zur Grobheit, kann sie von einer bezaubernden, mütterlichen Liebenswürdigkeit sein; sie beobachtet und beurteilt mit Gerechtigkeit, selbst mit Härte, hält aber dafür auch an denen, die sie liebt und die ihr zusagen, mit einer felsenfesten, ehrlichen Treue fest. Mit einem fast männlichen Verstand und feinem Geist verbindet sie ein jugendlich warmes, frisches Herz, das inmitten all der Jugend förmlich aufging. – Wohl kann ich sie mir als

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Gegnerin höchst unbequem denken – wie ich sie kennengelernt habe, als warmherzige Gönnerin, habe ich nur zu danken und zu verehren gehabt. Im Gegensatz zu ihr ist die Prinzessin Salm trotz ihrer sanften, hier wirklich rührenden Höflichkeit und Freundlichkeit mit großer Vorsicht zu gebrauchen. Bei den sanftesten Katzenpfötchen fühlen sich die Krällchen durch und treffen sie auch die andern und nicht mich selbst, so kann ich doch solchen Menschen gegenüber kein Herz fassen. Prinz Salm dagegen, der schon in Berlin unsere Vorliebe, bleibt sich in Ritterlichkeit und Herzlichkeit immer gleich, der vornehme Mensch vom Scheitel bis zur Sohle. Luise ist darin seine echte Tochter und war hier viel zugänglicher, lustiger und netter als im Berliner Ballsaal. Sowohl die zweite Salm, ein gutes, bedauernswert häßliches, aber sehr nettes Geschöpf als die Cousine Solms, ein schwerfälliges, dickes, großes Mädchen, die man am liebsten äußerlich und innerlich mal richtig durchgeknetet und gerüttelt hätte, traten gänzlich in den Hintergrund. Der Glanzpunkt und mir die Liebste von allen war Anna Görtz. Schön, begabt, gescheit, von einem sprudelnden Witz und einer erstaunlichen Lebhaftigkeit, die nur im kleinen Kreis zum Vorschein kommt, hielt sie uns alle in Atem und war mir höchst anziehend und sympathisch. Noch bedeutender war wohl Sophie Bernstorff, mit der ich viel zusammen war; aber die Bernstorffsche Maßlosigkeit und Heftigkeit, die keine Schranken, kein Nachgeben kannte und die bei einem Mädchen unweiblich und unerzogen scheint, verletzte mich oft bei aller sonstigen Sympathie, die ich für sie empfand. Von den anderen Bekannten nenne ich noch Krosigks, Lieres, Lücken, Thammer, Prittwitz, Versen, Lippe etc; wir lernten sie nach und nach kennen, trafen uns täglich, ohne uns irgendwie abhängig von ihnen zu stellen. Oft saßen wir auch nur zu zweit im Korb und genossen die Stille, das Meer und die herrliche Salzluft! Donnerstag, den 9.8. wollten wir eine gemeinsame Segelpartie unternehmen, wurden aber durch Regen und Sturm daran gehindert. Am Abend war ein Wohltätigkeitskonzert zum Besten für China, unter dem Protektorat von Salm, Asseburg, Lippe und Thammer. Vater drückte sich darum; so holten mich Asseburgs ab, nahmen mich in die Mitte und chaperonierten mich mit wahrem Elternstolz. Der Saal war gefüllt bis zum letzten Platz, das Komitee in den ersten Reihen, wir jungen Mädchen ganz vorne dran placiert. Das nahm sich ja soweit ganz gut aus, war aber in Anbetracht der Albernheit, die dieses Alter bei solchen Gelegenheiten zu überfallen pflegt, sehr verhängnisvoll! Beim Vortrag der Sängerinnen behielten alle noch so ziemlich die Fassung, aber als ein dicker Sänger sich uns gegenüberpflanzte und mit dem komischsten, sentimentalen Augenspiel affektierte Liebeslieder schmetterte, senkten sich fast alle Köpfe und eine unterdrückte Heiterkeit ging durch alle Reihen. Anna Görtz, die neben mir saß, lachte aber so unwiderstehlich, so unaufhörlich trotz aller Mahnungen der hinter uns sitzenden Herren, daß sie den

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Zorn des Sängers in besonderem Maße hervorrief. Um gerecht zu sein, will ich sagen, daß er allen Grund für seinen Zorn hatte und über eine Gesellschaft, die ihn zuerst um seine Mitwirkung bat und ihn dann öffentlich auslachte, entrüstet sein konnte. Sein Benehmen war aber nichts weniger als anständig. Beim Verlassen des Podiums blieb er vor uns stehen und zischte Anna mit wutbebender Stimme zu: „Das ist ja ein recht feines Benehmen, sowas ist mir denn doch noch nicht vorgekommen!“ Draußen soll er dann noch ganz andere Worte gebraucht haben und war trotz der Entschuldigungen der Komitee-Herren kaum wieder zum Weitersingen zu bewegen. Es war ein sehr peinlicher Moment: Das Publikum nahm natürlich Partei für den Sänger; Stimmen wurden laut: „Werft die Bande doch heraus, wenn sie nichts von Musik versteht“; Salm und Lippe waren rasend und Luise und ich schämten uns für unsere ganze fernere Gesellschaft, die sich doch unerhört blamiert hatte. Ich hatte zwar ein reines Gewissen, denn Mutters Zucht trägt doch in solchen Momenten gute Früchte. Als der Sänger zum 2ten Mal erschien, sollte Anna in die hinteren Reihen versteckt werden, aber da empörte sich ihr Fürstenblut! Mit blitzenden Augen – ich habe sie selten so schön und stolz gesehen! – sagte sie: „Ich könnte ihn um Entschuldigung bitten – aber vor ihm ausreißen, mich vor ihm verstecken – niemals!“ Die Art, wie sie nachher über den Fall sprach und ihr Unrecht zugab, hat mir sehr gut von ihr gefallen: Es ist das eigentlich ein Prüfstein für einen großen, noblen Charakter! Vater, dem ich abends noch alles mitteilte, war sehr erbaut, daß er dem Zauber ferngeblieben war. Ich hatte mich wohl erkältet oder verstaucht in Linden auf der Hochzeit und laborierte an greulichen neuralgischen Schmerzen im Fuß, sodaß wir uns entschlossen, den Arzt zu konsultieren. Er machte aber einen dermaßen vertrunkenen, unwissenden Eindruck, daß wir das Rezept auf ein innerliches Pulver, von dem ich an einem Tag für 20 Mark einnehmen sollte, ins Meer warfen und Sonne und Seeluft die Heilung überließen. Indem ich nun anfange, die Tage zu schildern, die grundsteinlegend für mein ganzes ferneres Leben sein sollten, – möchte ich fast zagen und die Feder wieder hinwerfen. Es ist mir, als könnte ich ihnen etwas von ihrem tiefen Zauber, von ihrem unaussprechlichen innerlichen Erleben, von ihrem poetischen Glanz nehmen; als sei das Leben an diesem Wendepunkte zu zart, zu leise, zu unbewußt noch gewesen, um es in deutlichen Worten und Begriffen festzuhalten. Aber als Abschluß dieser Aufzeichnungen, zur Erinnerung für später will ich doch die äußeren Ereignisse dieses kurzen Romans niederschreiben. Für die inneren ist das überflüssig: die Menschen, die sie wissen, werden sie doch nicht vergessen! Am Sonnabend, dem 11ten August, grüßten uns beim Eintreten zur table d′hôtes zwei Herren, die wir zuerst nicht erkannten, die sich aber bald als die zwei Brüder

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Trotha aus Hecklingen entpuppten. Den jüngeren kannte ich ganz gut, da er mich bei Haussonville zu Tisch geführt, der ältere war uns als Vortänzer von den Marburger Bällen her bekannt. Ich müßte aber lügen, wollte ich sagen, daß er sich damals irgendwie besonders um mich gekümmert oder mir irgendwelchen Eindruck gemacht hätte! Ich bildete mir eigentlich ein, er sei verlobt, da ich ihn mit seinem Bruder Hans verwechselte. Vater hatte einige Mißverständnisse mit Wolf Krosigk und mit ihm gehabt, sodaß er mir als Mahnung gab: „Sei nur recht nett gegen die Trothas, sonst bilden sich die Kerls ein, ich wäre piquiert!“ Eine Mahnung, welche ich rasch und artig befolgte! Am Nachmittag, als wir mit Krosigks auf der Wandelbahn trabten, begegneten mir abermals die Brüder Trotha und wir verabredeten alle zusammen einen Besuch des Sommertheaters. Beim gemeinsamen Abendessen im „Seestern“ entdeckten wir, daß Wolf unverlobt und unverheiratet sei, was mich ganz gleichgültig ließ. Auch in der Theateraufführung, dem „Raub der Sabinerinnen“, von welchem Zeitpunkt sein Interesse für mich begann, wie er behauptet, amüsierte ich mich nur über das lustige Stück und unterhielt mich umschichtig mit Krosigks und Trothas. Am Sonntag wanderten wir ins Dorf Westerland, das mit seinen schlichten, niederen Häusern, seinen braunen Strohdächern und kleinen Gärtchen einen friedlichen, anheimelnden Eindruck macht. Die Predigt des dortigen Geistlichen, einfach, kernig und ohne großen Wortschwall und Pathos vorgetragen, vertiefte diesen Eindruck noch bedeutend. Ich bin selten so befriedigt von einem Kanzelredner gewesen. Beim Nachhauseweg traf ich die ganze Gesellschaft bis auf die jungen Herren, die sämtlich ausgeschlafen hatten. Ich lernte das nette, lustige Frl. von Prittwitz und eine mir sehr angenehme Frau von Lieres mit ihrer hübschen 16jährigen Tochter kennen. Beim Essen saß Wolf neben mir, wie hinfort immer während seiner Anwesenheit und versuchte mit viel Schlauheit (aber nicht so schlau, daß ich es nicht gemerkt hätte!) mein Alter herauszubringen. Ich hätte es ja gleich ruhig sagen können, aber es amüsierte mich zu sehr, wie er es durch allerhand Schachzüge: die silberne Hochzeit der Eltern, Anzahl und Reihenfolge der Geschwister herausrechnete. Am Nachmittag wurde auf einem blendend heißen, häßlich gelegenen Platz Tennis gespielt, d. h. Anna, Krosigk und die beiden Trothas spielten, während wir an der Wand saßen und zusahen; ich kam auch rasch zur Einsicht, daß das an einem Ort, an dem man das Meer ansehen konnte, eine Verirrung und Zeitverschwendung war und beschloß, die andern ihrem Schicksal zukünftig zu überlassen. Später erschien der dritte Sohn des Prinzen Albrecht, Friedrich Wilhelm von

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Preußen,⁵⁸ der zur Kur mit zwei Herren, Schrotter und Bernewitz, angelangt war. Er sagte mir, er sei mit meinem Herrn Gemahl in Hummelshain zusammen gewesen, worauf ich ihm natürlich gerade ins Gesicht lachte, was ihn, wie er mir später sagte, unsagbar verlegen gemacht hätte. Er ist ein hübscher, großer Mensch, ein rechter Hohenzoller, sehr musikalisch, klug und gut erzogen und gefiel uns allen im näheren Verkehr ausgezeichnet. Es gab natürlich einige Menschen in der Gesellschaft, die zu viel Kultur mit ihm trieben – aber er selbst spielte sich gar nicht auf und unser Zusammensein war daher harmlos und ungezwungen wie bisher. Am Montag war ein herrlicher heißer Tag, sodaß man sich mit Baden, im Sande liegen, Strandkorbsuchen etc. eine Güte antat. Wir waren bei Krosigks, die sich mit hohen Wällen, Treppen und Fahnen eine reizende Burg gebaut hatten. Die Kinder waren nach zweimonatigem Aufenthalt so braungebrannt wie die kleinen Mohren und strotzten von Frische und Gesundheit. Bei Tisch machten wir mit Trothas einen Spaziergang nach Wenningstädt, dem anderen, sehr primitiven Seebad der Insel aus, und obwohl mein Fuß noch sehr schmerzte, zogen wir um fünf Uhr los. Es traf sich immer zufällig und fiel mir auch gar nicht auf, daß Vater und Gebhard und Wolf und ich zusammen gingen, ich hatte nur den Eindruck, daß wir uns sehr gut unterhielten und gut verstanden. Wieviel wir so im Lauf der Tage, bei den Mahlzeiten, am Strand und bei den Spaziergängen zusammen gesprochen, wieviel ernstere Fragen auch berührt und wie gut wir uns kennengelernt haben, wurde mir erst später klar. Der Gang nach Wenningstädt, immer am Meer entlang, war jedenfalls lohnender als das Ziel selbst. Ein schlechtes Hotel, wenig Gäste, ein einsamer Badekarren, ein dummer Kellner und ein schlechtes Rührei – das waren die ersten Sendboten, die die Kultur vorausgeschickt hatte, um das einfache Fischerdorf in ein Modeseebad umzuwandeln. Es war schon dunkel, als wir denselben Weg, den wir gekommen, nach Sylt zurückkehrten und zum ersten Mal ging mir die wundersame, eigenartige Schönheit des nächtlichen Strandes ganz auf. Vor uns dehnte sich der flache, weite, farblose Sand, zur Linken erhoben die kahlen, nur mit vereinzelten Grasbüscheln bewachsenen Dünen ihre bizarren, merkwürdigen Formen, die in der nächtlichen Beleuchtung etwas Gespenstisches, Phantastisches bekamen, und zur Rechten brandete und schäumte das Meer, unaufhörlich, eintönig und gewaltig, wie ein mächtiges und doch beruhigendes Schlummerlied für die ganze große schlafende Erde!

58 Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen (1880 – 1925).

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Mein Fuß tat mir noch sehr weh, sodaß mir Wolf über die Buhnen, (die langen, in das Meer hinausgebauten Steindämme) die häufig unseren Weg kreuzten, helfen mußte, was er mit großer Sorgfalt tat. Hätte ich damals wohl eine Ahnung gehabt, als wir so Hand in Hand über die meerumrauschten Buhnen sprangen und die kleinen Mühsalen des Weges teilten, daß das eine gute Vorbereitung für unser künftiges Leben war, daß ich mich ihm bald noch ganz anders anvertrauen und in ihm meine Stütze und liebe, leitende Hand für immer und ewig finden würde! Am Dienstag sahen wir uns verhältnismäßig wenig, da Trothas einen Landrat von Marwitz getroffen hatten, dem sie sich widmen mußten. Bei Tisch saßen wir allerdings nebeneinander; zu Abend aßen wir im selben Restaurant, aber an getrennten Tischen. Wir entschlossen uns, der Generalin Versen, die hier auf den Dünen eine Villa besitzt und die Rolle einer Königin von Westerland spielt, endlich unseren Besuch zu machen. Die anderen spielten dort Tennis, während ich mich mit Prinzeß Salm und Sophie Bernstorff unterhielt. Letztere sah ich zum ersten Mal und hatte sofort den Eindruck eines ungewöhnlich begabten, bedeutenden Mädchens. Ich versprach mir eigentlich mehr von ihrem Umgang, als ich später davon hatte, aber die Schuld mag auch an mir gelegen haben, da ich „anderweitig“ in Anspruch genommen war! Als wir am Mittwoch zur table d′hôtes kamen, war ich doch ein klein wenig erstaunt, daß die Trothas mit Marwitz an einem anderen Tisch saßen und Wolf meine holde Nachbarschaft verschmähte. An unserem Tisch saß eine sehr unternehmende Wienerin, die zu unserer Belustigung jeden ihrer Nachbarn nach zwei Tagen durch allzu große Liebenswürdigkeit fortgegrault hatte, – das fiel mir natürlich in diesem Moment ein und ich kann nicht leugnen, daß ich mich ärgerte; allerdings nur fünf Minuten, und da kam auch schon Wolf und erklärte, daß sie sich von Marwitz nicht trennen könnten und dieser keinen Platz bei uns gefunden. Wie ich später erfuhr, sagte dieser ahnungslos zu Wolf: „Die kleine Erffa wäre doch eigentlich eine Frau für dich!“ – einen Rat, den sich Wolf nicht zwei Mal geben ließ, wie die Folge lehren wird. Nach Tisch ging ich zu den alten Asseburgs, die nebeneinander sitzend und rauchend, einen alten, schnarchenden gelben Dachshund zwischen sich, das Bild des Behagens gaben. Zum Kaffee kam Frau von Grote und las selbst verfaßte, in der deutschen Romanzeitung veröffentlichte Novellen, Plaudereien und Gedichte vor, für meinen Geschmack etwas weich und süßlich, aber gewandt geschrieben, und voll sinniger Gedanken und zarten Empfindungen, die ich bei jedem anderen Menschen eher gesucht hätte als bei ihr. Frau von Grote war mir wenig sympathisch; taktlos, klatschig und etwas klebrig, paßte sie schlecht in unseren Kreis von wirklich vornehmen Leuten und gab denn auch bald das schwarze Schaf ab, über

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die sich jeder moquierte und die nichts recht machen konnte. Das ist nun mal die Unbarmherzigkeit, die allen Cliquen zu eigen! Da waren es Asseburgs, besonders die Gräfin, die sie hielten und verteidigten und, obwohl sie ihnen selbst auf die Nerven fiel, in jeder Weise sich ihrer annahmen. Bei einer zauberhaften Abendbeleuchtung, in der das Meer wie flüssiges Gold schimmerte, saßen wir mit Trothas und Marwitz auf der offenen Veranda des Hotel Viktoria und aßen zu Abend.Von einem Abendspaziergang hinter den Damenstrand hinaus, der gemeinsam gemacht werden sollte, dispensierte sich Marwitz mit französischem Abschied. So mußte sich Vater abermals mit Gebhard amüsieren – denn daß Wolf und ich zusammen gingen, war nun schon selbstverständlich und fiel niemandem auf, mir am allerwenigsten. Es war wieder ein wundersam schöner Abend, wieder rauschte das Meer und hinter den Dünen kam langsam der Vollmond herauf! Wolf sagte plötzlich: „Nun sind die schönen Tage wieder vorbei“, obwohl das eigentlich gar nicht der Fall und seine acht Tage gerade erst zur Hälfte abgelaufen waren. Da kam mir zum ersten Mal zum Bewußtsein, daß er mir den Hof machte – aber ich sagte mir sofort: „Wenn jemand acht Tage nach Sylt geht, so will er ein bißchen baden, segeln, Hummer essen und die Cour machen – das gehört zum Seebad! Und die anderen Herren tun es ja auch!“ So ging ich friedlich in mein primitives Dachstübchen zur Ruhe und Wolf indessen – zur Réunion! Als wir am Donnerstag zum Strand kamen, war das gewohnte Bild gänzlich verändert. Der Wind wehte vom Land, daher der ungebändigte Ozean mit einem Male einem glatten, leicht bewegten Binnensee glich, auf dem weiße und braune Segel dahinglitten und das sonst so ernste, einförmige Bild lustig belebten. Beim Baden brauchte man keine Leinen zu nehmen und konnte sogar Schwimmversuche machen. Ich hielt mich so lange dabei auf, daß ich gerade zeitig genug an meinem Strandkorb anlangte, um die Salm′sche Gesellschaft sich einschiffen zu sehen. Nur Wolf war da, nahm sich einen Stuhl und setzte sich mir gegenüber. Trotz meines Zuredens war er nicht zu bewegen, sich den Segelnden noch anzuschließen, was ich mir absolut nicht erklären konnte. Bei Tisch saßen wir wieder zusammen, mit Marwitz als vis à vis. Wolf erkundigte sich sehr eingehend nach meiner gesamten Verwandtschaft und meinte schließlich halb verzweifelt: „Das ist ja eine schrecklich komplizierte Verwandtschaft!“, worauf ich rasch und unüberlegt erwiderte: „Sie brauchen sie ja auch gar nicht zu behalten; es genügt doch, wenn ich sie weiß!“ Das mußte ihm natürlich wie ein Guß kaltes Wasser erscheinen, und ich hatte mir doch weiter nichts dabei gedacht, als daß ich Fragen nach fremden Verwandten, die man in einer halben Stunde doch wieder vergißt, stets ziemlich überflüssig und ledern gefunden habe. Für gewöhnlich öden einen doch nur Leute damit, die sonst nichts zu reden wissen!

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Am Nachmittag machten wir nun doch noch eine Segelfahrt mit allen Schlesiern, Tschammers, Lieres, Prittwitz etc. zusammen. Die Seekrankheit trat nicht ein, wie ich angstvoll gefürchtet hatte – im Gegenteil, ich fand die Bewegung des Segelschiffes, wie es so sanft und schwankend vorwärts glitt, eine der angenehmsten Sensationen der Welt. Das Schiff war so voll, daß jeder Platz besetzt war; wir hatten nur die niederen Kajütenbänke herausgeholt und saßen wie die Sperlinge eng aneinander gereiht. Zwei Stunden fuhren wir so an der Küste hin, bis die Sonne tiefer und tiefer sank und zuletzt eine lange goldene Gasse über das Meer und die kleinen tanzenden Wellchen malte. Wolf und Gebhard saßen neben mir und aßen auch nachher mit uns im Freien zu Abend; doch schickte Vater mich bald zu Bett, da ich für die große, auf den Freitag geplante Dampferpartie Kräfte sammeln sollte. Ja diese Dampferpartie! Tagelang hatte man davon geredet; dafür Pläne gemacht, sich verproviantiert, ja selbst sich drüber verzankt und kleine Intrigen gesponnen (s. Prinzeß Salm, Grote und Versen!) und dann war sie noch viel gelungener und hübscher, als wir uns erwartet hatten, und in ihren Folgen für einige der Teilnehmer viel folgenschwerer und inhaltsreicher als eine Seele an Bord ahnen konnte! Um neun Uhr traf sich auf dem Bahnhof die ganze Gesellschaft, ca. 30 Personen: Salms mit ihren vier jungen Mädchen, Frau von Versen mit zwei Söhnen und ihrem Gast, der früheren Hofdame, Frl. von Selchow, Herr und Frau von Tschammer mit Tochter und Schwiegersohn Lücken, Frau von Prittwitz mit Tochter, Krosigks mit einem Töchterchen, Frau von Grote mit ihrem wenig sympathischen Backfisch „Fee“, Vater und ich, der Prinz mit zwei Herren, die beiden Trothas, Sophie Bernstorff und ein Herr von Grünberg. Der arme Lippe, der sich um das Arrangement sehr verdient gemacht hatte, konnte seiner Gesundheit wegen leider nicht mit. In Munkmarsch wartete unser kleiner bestellter Dampfer, und so ging es denn fröhlich in den strahlenden, morgenfrischen Sommertag hinein. Das Wetter blieb himmlisch und klar, die Stimmung war ausgezeichnet, das Meer so ruhig und glatt, wie es dort selten der Fall ist, sodaß von Seekrankheit keine Spur zu merken war – kurz, ich glaube, daß man selten im Leben in so netter Gesellschaft solch wohlgelungene Partie machen kann! Wir fuhren im Wattenmeer die Küste hinauf nach der nördlichen Spitze der Insel und ankerten vor dem Dorfe List, das ganz versteckt in den hohen Sanddünen liegt. Noch auf dem Schiff wurde ein famoses Picnic mit unseren reichen Vorräten gehalten, selbst Kartoffelsuppe und Irish Stew wurde in der winzigen Kajüte gekocht. Am Morgen hatten wir erfahren, daß der bewußte Grünberg in der letzten Stunde um die Erlaubnis, sich zu beteiligen, nachgesucht hatte, weil er sich womöglich mit Frl. von Prittwitz verloben wollte. Das war natürlich für die ganze Jugend ein Haupt-Ulk: Mit Interesse wurde das Pärlein beobachtet und besprochen, der Prinz pfiff den Hochzeitsmarsch und alles erging sich in den schönsten Ver-

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mutungen und Bemerkungen. So wenig angenehm das für die beiden sein mußte, obwohl sie wahrscheinlich den Vogel Strauß darin spielten, so dankbar war ich, daß dadurch die allgemeine Aufmerksamkeit von einer anderen Courmacherei abgelenkt wurde, die sonst vielleicht auch nicht unbemerkt geblieben wäre. Nach dem Essen landeten wir und wurden von zwei bis vier Apparaten für die Nachwelt auf der Platte festgehalten. Der Prinz sowohl wie Frl. von Selchow hatten sich die prinzliche Bowle wohl etwas zu gut schmecken lassen und waren maßlos albern zusammen. Sie genießt ja überhaupt eine gewisse Narrenfreiheit, aber ich finde es doch verletzend, wenn eine ältere Person sich so jeglicher Frauenwürde begibt und sich zum Clown der Gesellschaft macht. Wäre der Prinz ein anderer gewesen, so hätte man gesagt: der dumme Junge hat sich die Nase begossen und ist recht albern; da er ein Prinz war, fand man ihn witzig und belachte ihn! Wolf und ich trennten uns etwas von den anderen und stiegen zusammen die steilen Dünen hinauf. Weder sagte einer von uns etwas Besonderes, noch schlug der Blitz ein, noch geschah etwas Übernatürliches – aber ich fühlte ein großes, helles Licht in mir aufgehen und wußte, daß hinfort etwas in meinem Leben war, das bis dahin nicht dagewesen. Unter diesen Umständen war es mir wenig erfreulich, daß mir Sophie Bernstorff, als wir wieder zur Gesellschaft stießen, zurief: „Oh, kommen Sie doch jetzt mit mir – oder wollen Sie sich auch etwa verloben? – Nicht ganz so harmlos war wohl Schrötter, der hinzutrat, als mir Wolf Heideblumen pflückte und fragte: „Sie interessieren sich wohl sehr für Botanik, gnädiges Fräulein?“! Die Dünen, vom Gipfel, auf dem wir uns lagerten, gesehen, erinnerten im grellen, blendenden Sonnenlicht ans Hochgebirge mit seinen Schneefeldern. Das lange Sitzen und alberne Sandwerfen wurde mir langweilig; so faßten Anni Solms, Emmy Prittwitz und ich den Entschluß, noch weiter zu klettern. Bei ihrem Ritter siegte die Faulheit über die Liebe, aber meiner kam mit und half mir rührend bei der beschwerlichen Steigerei. Etwas müde kehrten wir zum Schiff und zu sehr willkommenem Kaffee und Thee zurück. Telegraphisch hatten wir Nachricht erhalten, daß die Nordsee ruhig und das Landen in Westerland möglich sei, seit Jahren ein nicht dagewesener Zustand, der alle Sylter aufregte. In der Nordsee war es etwas bewegter, aber auch umso schöner und frischer, und der Sonnenuntergang glühend und herrlich. Vater Salm und ich richteten aus allen Resten ein Büffet fürs Abendbrot, das, wie er meinte, das im weißen Saal bedeutend übertrumpfte. Wolf und ich saßen viel zusammen und unterhielten uns über Dampfschiffe, Maschinen und andere „interessante“ Sachen. In Sylt langten wir gerade zu einem Feuerwerk an, das zu Ehren des Geburtstags des österreichischen Kaisers abgebrannt wurde. Vom Schiff aus gesehen, machten sich Raketen, Räder und Fontänen etwas kläglich, während die vielen erleuchteten Kähne und bengalischen Lichter mit ihren langen Spiegeln auf dem

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dunklen Wasser einen wunderhübschen Effekt gaben. Vom Strandkorb sahen Vater und ich, nachdem wir im Gedränge die Übrigen verloren, den Rest des Schauspiels an. Trotz der bis zum Schluß so gelungenen Partie ging ich höchst unbefriedigt ins Bett, da mir Wolf, der, wie ich annahm, am nächsten Morgen abreisen sollte, weder Gutenacht noch Lebewohl gesagt hatte. Nach unserem Verkehr der verflossenen Woche fand ich das ganz unerhört kränkend und ärgerte mich über mich selbst, daß ich die Heideblumen preßte, anstatt sie wegzuwerfen. Die Nacht unter der wehenden, krachenden Leinwanddecke war recht unerquicklich und doch wachte ich früh aus kurzem Schlaf mit der fröhlichen Zuversicht auf, daß alles gut werden würde! Ich hätte am liebsten getanzt und gesprungen, als ich zum Strand hinunterging und als ersten Morgengruß ein Telegramm angeschlagen fand, daß die verbündeten Truppen Peking entsetzt und alle Europäer wohlauf gefunden hätten. Der Strand war noch menschenleer, der wolkenlose Sommertag noch frisch und kühl – ich kletterte weit hinaus auf eine Buhne, gegen die das Meer nur leise anschlug und sah den Möwen zu, die in Scharen umherkreisten und sich auf den Wellen schaukelten. Ich war in einer so frohen, voll Dank gegen Gott erfüllten Stimmung, daß ich hätte mitfliegen mögen dem Himmel zu. Und daß ich eine Stunde später Wolf begegnete, der nicht abgereist war, steigerte dieselbe noch wesentlich. An diesem Vormittag kam er aber nicht zum Strand und auch Vater, der zum Bad und Frühstück ausgezogen war, wollte und wollte nicht wiederkommen. Ich saß bei Asseburgs und konnte mir keinen Reim daraus machen. Einmal durchzuckte mich wohl ein Gedanke, der der Wahrheit nahe kam, aber er wurde im selben Moment – als Wahnsinn wieder verworfen. Und als Vater endlich mit seinem gewöhnlichen Gesicht auftauchte und ganz natürlich erzählte, daß er so lang auf den Schinken habe warten müssen, kroch ich gänzlich auf den Leim und dachte, es sei nichts gewesen. In Wahrheit aber hatte Wolf an diesem Morgen den ahnungslosen Vater überfallen und in einem Sandloch der Dünen in aller Form angehalten. Wie es möglich war, daß mein guter Vater, der sich im Allgemeinen sehr wenig verstellen kann, dem ich, wie ich wähnte, Alles auf dem Gesicht ablesen konnte, daß Beide nie aus der Rolle fielen, kein verständnisvoller Blick, keine Weichheit in Vaters Stimmung mir die Sachlage verriet – das werde ich nie begreifen, und wenn ich hundert Jahre alt werde! War ich denn mit Blindheit geschlagen oder war nur alles zu neu, zu wunderbar? Bei Tisch erzählte mir Wolf von Berufsgenossenschaften, Landarmenverband und Unterstützungswohnsitz – es war wirklich zu langweilig und zu trocken, als daß ich aufpassen konnte! Gegen Abend fanden wir uns mit Frau von Lieres, Emmy Prittwitz und Grünberg zu einer Segelfahrt zusammen. Ich sehe uns noch auf dem kleinen, schmucken, grüngestrichenen Segelboot sitzen, rechts ein Pärchen, links ein Pärchen, in der Mitte das ältere chaperonierende Paar. Es war drückend heiß;

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kein Lüftchen regte sich, das Schiff schaukelte nur wenig unter seinen schlaffen Segeln und keiner wußte etwas zu reden außer dem sehr wenig sympathischen Grünberg, der in seiner polterigen Art alberne Kalauer und sächsische Geschichten erzählte. Zuletzt, als uns das Stillliegen langweilig war, ließen wir uns im kleinen Kahn wohl eine Stunde lang rudern. Das war natürlich herrlich, besonders zuletzt, als die Sonne sank und der ganze Himmel mit rosa Abendwölkchen bedeckt war. Zu dritt saßen wir dann zum letzten Mal in unserem gewohnten Restaurant und sagten uns dann nach kurzem Spaziergang ein ganz alltägliches, kühles, aber doch sehr verlegenes Lebewohl. Ich war im Grunde meines Herzens doch so überzeugt, daß nun nicht alles vorbei sei, sondern daß wir uns, sei es in Wernburg, sei es in Magdeburg wiedersehen würden, daß ich eine nach Umständen gute Nachtruhe fand. Am nächsten Morgen frühstückte Vater in aller Gemütsruhe mit mir und sagte dann mit einem Mal ganz ruhig: „Sieh mal zu, ob draußen eines von den Dienstboten ist und schließe die Thür zu!“ – Da wußte ich alles und die Arme sanken mir schlaff herunter vor Schrecken! Unser Gespräch war kurz, aber befriedigend; ich schrieb einen endlosen Brief an Mutter, an die arme, ahnungslose Mutter, die wirklich bei dieser Angelegenheit sehr zu beklagen war. Ich habe sie sehr vermißt in dieser langen, langen Woche, in der ich vor allen Menschen Theater spielen mußte und kein weibliches Wesen hatte, dem ich mich anvertrauen konnte. Innerlich war ich ganz ruhig, da ich meiner Sache von Anfang an ganz sicher war – aber Vater wollte keine übereilte Entscheidung und mit 25 Jahren überlegt man sich doch auch solchen Schritt nach allen Seiten, selbst wenn man im Grunde schon entschieden hat. An diesem Sonntagabend segelte ich mit allen Schlesiern, während Vater von Krosigk befriedigende Erkundigungen über Wolf einzog. Für Montag hatte uns Frau von Versen alle zum Theater für einen wohlthätigen Zweck und darauffolgende Soirée bei sich gekeilt. Ich langweilte mich über alle Beschreibung und machte, um das zu verbergen, einen blühenden Blödsinn. Ich bewunderte, wie gut und sicher der Prinz mit den Sylter „Spitzen“ Cercle machte; angesichts unserer lachenden, beobachtenden Reihe Mädchen war das wirklich eine harte Probe auf seine Prinzenerziehung! Dienstag war Emmy Prittwitz etwas still und verstimmt, worauf es sofort hieß: Sie hat sich gewiß verlobt, da hat man am nächsten Tag immer Kater! – Ich lachte innerlich, und wenn ich Krosigk begegnete, nickten wir uns verständnisvoll zu!

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Am Mittwoch früh gingen wir zu Salms, um dem Prinzen zum Geburtstag zu gratulieren und sahen uns ihr Fischerhäuschen an. Es war das primitivste Puppenhaus, das ich je gesehen, und der Prinzessin stürmische Art, es zu einem bewundernswerten Logis zu stempeln und auf alle Schönheiten desselben aufmerksam zu machen, wirkte total lächerlich. Seine Art, wie er sagte: „Es ist ne Bude, aber sie ist sehr billig und genügt mir!“ war ungleich vornehmer. Mittags reisten Krosigks und Gebhard ab. Unser Verkehr an der table d′hôtes und am Strand war recht merkwürdig gewesen. Ich hatte und habe auch noch, trotz allen nachträglichen Leugnens, die feste Überzeugung, daß er nichts gemerkt hatte! Am Nachmittag machten wir mit Lieres und Luchens eine Wagentour nach Kampen, bei der wir gründlich einregneten. Am Donnerstag kochten wir jungen Mädchen Chokolade bei Salms und tranken sie sehr vergnügt in dem steifen, blumenreichen Fischergärtchen. Sophie Bernstorff war ausgelassen und witzig wie ich sie noch nie erlebt – aber schließlich artete es in einen Ton aus, den wir anderen nicht goutierten. Mutters Briefe, die anfangs wirklich herzzerreißend waren, wurden infolge von Jörges Einfluß und meiner schriftlichen Beredsamkeit etwas ruhiger und froher, sodaß ich endlich erreichte, daß noch von Sylt aus dem armen Wolf eine Antwort geschickt ward. Am Freitag früh trug ich den wichtigen Brief selbst zur Post und mußte zu meinem Unbehagen den Namen Trotha laut buchstabieren, da der Beamte Vaters Schrift nicht entziffern konnte. Sonnabend war ein regelrechter Regentag, an dem ich leichten Herzens unsere Koffer zu schnüren begann. Asseburgs reisten ab, von der gesamten Jugend mit Rosen überhäuft und mit Ovationen zur Bahn gebracht. Am letzten Sonntag in Sylt wachte ich mit einem solchen Überfluß an innerem Glück auf, daß ich wirklich irgendjemandem eine Freude machen mußte, um nicht zu ersticken. Ich kaufte einen großen Korb Birnen und ging vor dem ersten Frühstück ins Kinderheim, das weit entfernt inmitten der Dünen liegt. Es war zu hübsch, wie sich die armen kleinen Würmer freuten und wie ihre Augen glänzten! Nach der Kirche grub ich mit dem Prinzen zusammen einen Wall vor dem Salm′ schen Zelt und verlor in dieser Gelegenheit meine liebe Uhr, Großvaters letztes Geschenk. Ich war ganz trübselig, als ich zu Mittag den Verlust bemerkte und ging ziemlich hoffnungslos zum Suchen an den Strand. Aber das Glück, das nun mal den Sylter Aufenthalt kennzeichnen sollte, blieb mir treu: Beim ersten Griff in den inzwischen von der Flut bespülten Sand zog ich freudestrahlend Uhr und Kette heraus! Am Nachmittag gab der Prinz einen Thee, hauptsächlich mit jungen Mädchen und einigen Eltern, bei dem er sehr sicher und liebenswürdig den Wirt machte und zu Sophie Bernstorffs herrlichem Spiel sehr gut die Violine spielte. Die Beiden

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hatten viel zusammen musiziert; dazwischen aber gab es einen gehörigen Stuß, weil sie in ihrem mecklenburgischen Lokalpatriotismus über das Gerücht einer Heirat zwischen einem ihrer Herzöge mit der niederländischen Königin⁵⁹ die stärksten Ausdrücke über letztere gebraucht hatte. Abgesehen davon, daß sie des Prinzen Cousine ist, mußte es ihn allerdings unangenehm berühren, daß sie von der vielleicht auch ihm bestimmten Fürstin in Ausdrücken sprach wie: „ekelhafte, unausstehliche Person, viel zu schlecht für einen Mecklenburger“, etc. Schließlich, als sie sagte: „Natürlich, für uns soll gut genug sein, was die preußischen Prinzen nicht haben wollen“, ging er piquiert mit rotem Kopf davon. Bei einem Fest, das Frau von Versen in ihrem Theehäuschen gab, bewogen wir sie zu einer Art Abbitte, die natürlich eher das Gegenteil wurde, aber der Sturm im Glas Wasser legte sich bald auch ohne dieselbe. Mich berührten diese kleinen Zwiste wenig; ich saß viel allein, die Hände im Schoß, in meinem Strandkorb und dachte über mein Schicksal nach und träumte ein wenig in die Zukunft hinaus. Am letzten Abend gingen wir alle am Strand und sprachen über das verflossene, nette Zusammensein und den Abschiedsschmerz, der bei mir allerdings etwas geheuchelt war. Es war schon sehr spät; der kleine Bernewitz neben mir redete sehr sentimental über die Sterne und auch wieder über die schöne Zeit, die nun vorbei sei – aber ich hörte nur auf das Rauschen des Meeres und dachte an Jemand ganz anderen. Wir reisten Montag, den 27ten mit Salm zusammen ab, nach rührendem, blumenreichen Abschied aller zurückbleibenden Freunde. Die gute kleine Marga zerdrückte eine Thräne und Lippe überschüttete mich mit Pfefferminzchen. Mit Übernachten in Hamburg langten wir Dienstag in Wernburg an, wo ich außer allen Geschwistern nur noch Titty Beulwitz fand. Mutter war rasch getröstet, als sie mein vergnügtes Gesicht erblickte und sich alles erzählen ließ. Am Freitag, dem 31. August kam mein Wolf mit dem 1-Uhr-Schnellzug an, und eine halbe Stunde später waren wir ein glückstrahlendes Brautpaar. Und nun schließe ich diese Aufzeichnungen meiner Mädchenzeit – denn für mein Schreibbedürfnis und meine Mitteilsamkeit weiß ich jetzt eine viel bessere Adresse; und das Beste und Wichtigste, was künftig den Inhalt meines Lebens ausmachen

59 Die Hochzeit von Königin Wilhelmina der Niederlande (1880 – 1962) und Herzog Heinrich zu Mecklenburg-Schwerin (1876 – 1934) fand im Jahre 1901 statt.

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Abb. 11: Hildegard und Wolf, Verlobungsanzeige, Quelle: Privatbesitz.

soll – das läßt sich ja gar nicht schreiben und mit alltäglichen, abgenützten Worten und Ausdrücken schildern. Das muß man leben, aber zu zweien leben! Noch einmal wende ich den Blick zurück, und wenn ich die gnädige Führung durch all′ diese langen Jahre bedenke, so kann ich nicht anders schließen als mit heißem Dank gegen Gott und aus vollster Überzeugung sagen: Das Los ist mir gefallen aufs Liebliche; mir ist ein schön Erbteil worden! Ende Hildegard von Erffa

Literaturverzeichnis O.A., Genealogisches Handbuch des Adels. Freiherrliche Häuser, Bd. 17, Limburg a. d. Lahn: C. A. Starke, 1994. O.A., Genealogisches Handbuch des in Bayern immatrikulierten Adels, Bd. 28, Neustadt a. d. Aisch: Degener, 2010. Hans Martin von Erffa, Genealogisches und biographisches über die Familie von Erffa, München, 1987, privat. Rudolf von Erffa, Erinnerungen, privat. Dominic Lieven, The Aristocracy in Europe, 1815/1914, New York: Columbia University Press, 1992. Wilfried Loth, Das Kaiserreich. Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung, München, dtv: 1996. Eduard Müller, Der Großgrundbesitz in der Provinz Sachsen. Eine agrarstatistische Untersuchung, Jena 1912, S. 99 – 101, in: Anne von Kamp, Adelsleben im bürgerlichen Zeitalter. Die Freiherren von Erffa im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Neustadt a. d. Aisch: Gesellschaft für Fränkische Geschichte c/o Verlag PH.C.W. Schmidt, 2010, S. 274. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Machtstaat vor der Demokratie, München: C.H. Beck, 1998. Eberhard Pikart, Preußische Beamtenpolitik 1918 – 1933, in: Viertelsjahrshefte für Zeitgeschichte, 1958/ 2, S. 122 f. Hedwig Richter, Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich, Berlin: Suhrkamp, 2021. Hildegard von Spitzemberg, Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg, geb. Freiin v. Varnbüler. Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des Hohenzollernreiches, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1960. Eckart von Stutterheim, Bibliothek familiengeschichtlicher Arbeiten, Band 51 (Erffa. Beitrag zur Genealogie und Geschichte der Freiherren von Erffa), Neustadt a. d. Aisch: Degener, 1997. Oldwig von Uechtritz, „Land und Stadt“, Deutsches Adelsblatt, 1891, S. 21, in: Stephan Malinowski, Vom König zum Führer, Frankfurt: Fischer, 2004, S. 60. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 3 (Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, 1849 – 1914), München: C.H. Beck, 2008. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 4 (Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten, 1914 – 1949), München: C.H. Beck, 2008.

Archivquelle Schloßarchiv Ahorn, ohne Signatur, Hermann v. Erffa an Eduard v. Erffa, 24. Januar 1884.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1:

Hermann Freiherr von Erffas gesellschaftliche Stellung, als Netzdiagramm visualisiert, Quelle: Verfasser. Abb. 2: Die Familie, 1884: Burkhart, Hildegard, Margarethe, Sabine (vorne), Rudi, Elisabeth, Jörge, Hermann, Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, P10 Bü 1747 / Fotograf: Carl Hempel. Abb. 3: Der Garten in Wernburg, zeitgenössisches Foto, Quelle: Privatbesitz / Digitalisierung: Matthias Raum. Abb. 4: Ansicht von Wernburg, zeitgenössischer Stich, Quelle: Privatbesitz / Digitalisierung: Matthias Raum. Abb. 5: Die Familie, 1892: Rudi, Margarethe, Hermann, Jörge, Elisabeth, Hildegard, Sabine, Burkhart, Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, P10 Bü 1747 / Fotograf: Carl Hempel. Abb. 6: Natascha Freifrau Varnbüler von und zu Hemmingen, Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart P10 Bü 1750. Abb. 7: Axel Freiherr Varnbüler von und zu Hemmingen, Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart P10 Bü 1511 / Fotograf: Erich Sellin. Abb. 8: Elisabeth Freifrau von Erffa, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen (1880), Quelle: Privatbesitz / Maler: Fritz Paulsen, Digitalisierung: Matthias Raum. Abb. 9: Hermann Freiherr von Erffa (c. 1900), Quelle: Privatbesitz / Maler: Alfred Schwarz, Digitalisierung: Matthias Raum. Abb. 10: Hildegard und Wolf, 1900, Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart P10 Bü 1531 / Fotograf: W. Höffert. Abb. 11: Hildegard und Wolf, Verlobungsanzeige, Quelle: Privatbesitz.

https://doi.org/10.1515/9783111237404-011

Register Abgeordnetenhaus 2, 14, 16 – 17, 20, 25 – 26, 462 Abgeordneter 2, 14, 17, 274, 400 Achensee 456 Adel 1, 4 – 5, 7, 18 – 19, 21 – 23, 44, 220, 334, 385, 469, 489, 569 Adelsgeschlecht 211 Adelsleben 23 – 25, 569 Adelsstand 18, 144 Adjudant 376 Adjutant 86, 264, 272, 400, 425, 444 Adliger 1 – 2, 4 – 11, 18 – 24, 141, 224, 233, 385, 459 Agnat 19, 24 Agrarier 27, 344 Ägypten 77 Ahnherr 237 Ahorn 18, 90 – 91, 105, 180, 183, 206, 236, 238, 297, 301, 356, 366, 418, 505, 508, 546, 569 Ahorner 20, 91, 117, 238, 358, 406, 511, 514 Aja (siehe auch Hofacker, Albertine (Aya), geb. Gräfin von Uexküll-Gyllenbrand) 449, 536, 540 Alla (siehe auch Erffa, Alfred (Alla) Freiherr von) 276, 342, 358, 441, 511 – 512, 514 altdeutsch 134, 292, 368 – 370, 404 – 405 Altenburg 35, 38, 40, 45, 47, 51, 60, 66, 75, 81, 86 – 87, 92, 142, 150, 176, 204, 210, 215, 222, 224, 286, 308, 325, 387, 391, 422 Altenburger 85, 128 – 129, 210 – 211, 382, 393, 509 Altreichskanzler 296 Alvensleben 204, 270 – 272, 287, 342, 387, 392 Amerika 14, 75, 77, 217, 232 Amerikaner 153 Amerikanerin 150, 361 Amt 2, 11, 15, 17, 296, 392 Anglomanie 252 Anstand 37, 420 Anstandsbegriffe 381 Antikatholizismus 12, 27 antikirchlich 520 antipastoral 520 https://doi.org/10.1515/9783111237404-012

Antisemit 12, 346 Antisemitismus 27 Antiziganismus 27 Arbeit 18, 24, 26 – 27, 58, 75, 118, 128, 150, 163, 197, 207, 218, 249, 259, 264, 272, 318, 321, 331, 362, 391, 405, 408, 421, 446, 449, 469, 481, 503, 549, 554 Arbeiter 17 – 18, 25, 75, 366, 411 aristocracy 19, 569 Armee 6 – 7, 13, 59, 235, 242 Armut 70, 108, 350 Arnim 124, 126, 189 – 190, 193, 197 – 199, 222, 270, 286, 340, 342 – 343, 350, 371, 379, 385, 387, 392, 395, 401 Artillerie 7, 209, 288 Arzt 217, 315, 325, 359, 418, 556 Ärzte 126, 218 Attaché 328, 400, 476 Audienz 119, 226, 490 Aufseß 204, 245, 279, 358 Ausland 217 Ausländer 312, 373, 455 Ausländerin 207 ausländisch 15, 266, 389, 489 Ausstellung 171, 238, 248, 278, 374, 401, 427, 546 Aussteuer 184 – 185, 401, 433 Aussteuerbesorgung 185, 390 Axel (siehe auch Varnbüler von und zu Hemmingen, Axel Freiherr) 3, 26, 48 – 49, 66 – 67, 131 – 132, 235, 240 – 242, 244 – 247, 265, 269, 274, 288, 297, 312 – 313, 316, 319, 329, 333, 340 – 341, 344, 353 – 354, 362, 395, 397, 401 – 402, 458, 462, 474, 487, 502, 539 – 540, 542, 544, 547 – 549 Aya (siehe auch Hofacker, Albertine (Aya), geb. Gräfin von Uexküll-Gyllenbrand) 458, 536, 540, 546 Baby

42, 228, 271, 274, 280 – 281, 300, 328, 333, 338, 354, 425, 440, 505, 521, 540 Backfisch 71, 279, 291, 431, 513, 561 Backfischchen 299

574

Register

Backfischniveau 328 Backfischschwärmereien 233 Backfischteich 297 Bädeker 464 Baedeker 469, 478 – 479 Baierin 136 bairisch 52, 197, 224 – 225, 450 Ball 8, 12 – 13, 52, 67, 109, 186 – 190, 193 – 195, 208, 210, 212, 221 – 224, 233, 240, 244, 270 – 271, 275 – 283, 285, 289, 291 – 292, 332, 338, 340, 342, 345 – 347, 349 – 350, 352, 355, 377, 379, 385, 389, 391 – 392, 394 – 397, 420, 424, 427 – 428, 433, 437 – 438, 440, 446, 453, 461 – 462, 515, 524, 526, 530 – 531, 557 Balte 150, 155 Baltin 332 Bamberg 290, 367, 371 Bamberger 8, 204, 293, 369, 371 Baron 43, 148, 161, 173, 183, 292, 360, 371 Baronin 3, 196, 462, 494, 569 Bassewitz 298, 340, 351, 353 – 354, 381 – 382, 387 Battenberg 95 Baudissin 387, 395, 402 Bauer 25 – 26, 45, 47, 73, 77, 90, 180, 200, 233, 261, 318, 365, 534 Baumbach 33, 93, 137, 176, 236 – 237, 273, 278, 289, 502 Baunachtal 368 Bayer 93 Bayerisch 18, 90, 100, 290, 311 Bayern 19, 95, 330, 569 Bayreuth 9 – 10, 131 – 132, 311, 358, 506 – 507, 509 Beamter 3, 156, 397, 499, 565 Beethoven 81, 159, 218, 274, 372, 541 Below 96, 142, 159, 161, 246, 276, 298, 312 – 313, 315 – 316, 319, 339, 341, 468, 476, 490, 494, 497, 515, 547 Below, Claus von 243, 318, 520, 547 Below, Eva (Evchen) von 313, 315, 317 – 319 Below, Eva von, geb. Hofacker (siehe auch Hofacker, Eva) 49, 71, 79, 129, 176 – 177, 179, 217 – 218, 223 – 224, 243, 298, 301, 305, 312, 314 – 315, 359, 372, 375, 401, 447, 518– 519 Below, Heinrich von 518

Below, Nikolaus von 243, 246 – 247, 313, 315 – 319, 341, 517, 519 – 520, 547 Below, Rüdiger von 142, 298, 312 – 316, 318 – 319 Below, Sophie von 243, 313, 316, 319, 330, 517, 520, 547 Below, Walter von 516 Below, Wilhelmine (Wilma) von 147, 149, 151, 158, 160, 162, 167 – 168, 313 – 319, 340, 519 Berchtesgaden 451 – 454 Berlepsch 243, 245, 250, 277 – 278, 286 – 287, 340, 343, 376 – 378, 386 – 387, 390 – 392, 395 – 397, 399 Berlichingen 33, 256 Berlin 2 – 4, 6 – 7, 12, 25, 27, 32, 42, 45, 47, 59, 67 – 68, 70 – 72, 75 – 76, 78, 89, 92 – 93, 103 – 107, 109, 114, 116, 120 – 121, 123, 127, 131, 141, 150 – 151, 156, 159 – 160, 176, 178 – 179, 182, 184, 186, 193, 199 – 200, 205, 211, 216 – 217, 222 – 225, 229 – 230, 233, 235, 239 – 240, 242, 250, 264, 266 – 267, 278, 285, 289 – 290, 293, 295 – 296, 300, 309, 312 – 313, 327, 332, 338, 342, 344, 347, 349, 351, 354 – 355, 363, 367, 370, 375 – 377, 381 – 383, 390 – 391, 403 – 404, 416, 421 – 422, 424, 427, 432, 461 – 462, 464, 486 – 488, 502, 511 – 512, 525, 530, 535 – 537, 540 – 541, 547 – 548, 552, 555, 569 Berliner 1 – 2, 6, 70, 152, 186, 211, 213, 216, 224 – 225, 242, 244, 249, 289, 294, 312, 327, 334, 341, 354 – 355, 360, 376 – 378, 383 – 384, 391 – 392, 397, 402 – 403, 410, 419, 423, 425, 427, 456, 486 – 487, 511, 525, 536 – 537, 542, 546, 551, 555 Bernstorff 196, 220, 227 – 229, 263, 362, 401, 522, 540, 554 – 555, 559, 561 – 562, 565 Bernstorff, Sophie Gräfin von 554 – 555, 559, 561 – 562, 565 Bertrab 119 – 120, 213 Beruf 19, 117, 308, 373, 433, 520 Besitz 3, 5, 19 – 26, 45, 60, 89, 131, 138, 201, 208, 224, 229, 304, 325, 361, 368, 415, 420, 510, 515, 527, 543, 550 Besitzer 2, 35, 38, 53, 124, 183, 210, 229, 410, 466, 479, 519, 541 Bessie (siehe auch Künßberg, Elisabeth (Bessie/ Bessy) Freifrau von, geb. Freiin von Lerchenfeld) 357 – 358

Register

Bessy (siehe auch Künßberg, Elisabeth (Bessie/ Bessy) Freifrau von, geb. Freiin von Lerchenfeld) 9 – 10, 503, 505 Bethmann 41, 97 – 98, 114, 281 Beulwitz 23, 32 – 34, 51, 83, 85, 87, 104, 115, 117, 119 – 120, 127, 130, 134 – 137, 140 – 141, 177 – 178, 207, 226, 232, 238, 256, 265, 303, 321, 325, 336, 365, 431, 433, 448, 461, 523, 525, 539, 566 Beust 36, 38 – 39, 41 – 44, 46, 48, 50 – 51, 58, 60, 66 – 67, 69, 73 – 74, 77 – 78, 80 – 81, 83 – 87, 89, 106, 110, 113 – 114, 118, 131, 135, 178, 180, 190, 203, 206 – 207, 210, 212, 215 – 216, 232, 258, 261, 301 – 302, 304 – 305, 308, 311, 356 Bibra 10, 45, 73, 183, 188, 196 – 197, 218, 311, 362, 392, 433, 512, 546 Bibra, Bertha Freiin von 4 Bibs (siehe auch Erffa, Sabina (Sabine), Freiin von) 3, 47, 50, 80 – 81, 176, 261, 278, 298, 302, 339, 355, 358 – 359, 377, 384, 389, 393, 395, 404, 406, 409, 412, 422, 504, 521, 526, 552 Bibsle (siehe auch Erffa, Sabina (Sabine) Freiin von) 56, 58 Bildergalerie 96 – 97, 394, 469 – 470 Bismarck 14, 17, 71 – 72, 95, 115, 196, 223, 296, 340, 342, 349, 376, 392 Bodelwitz 32, 44, 61, 63, 75, 301, 364 Böhmen 347 Boineburgk 305, 360 – 361 Botschaft 40, 243, 389, 475 Botschafter 98, 345, 348 – 349, 389 – 390, 464 Boxeraufstand 546 – 547 Boyneburgk 204, 227 – 230, 263, 323, 360, 424 – 425 Brahms 286, 430 Brandenburg 122, 126, 227, 323 – 324, 360 Brandenburger 125, 348 Braunschweig 236 Braut 71, 73, 91, 97 – 98, 114, 117, 123 – 124, 167, 180, 183 – 184, 235, 237, 239, 250, 262, 266, 292, 295, 298, 321, 351, 357, 364, 369, 375, 377, 413, 433, 511 – 514, 523, 536, 538, 542, 551 Bräute 216, 342, 551

575

Bräutigam 71, 73, 114, 124, 167, 199, 221, 224, 235 – 237, 250, 269, 290, 336, 356 – 357, 371, 390, 399, 502 – 503, 514, 528, 540, 545, 551 Brautjungfer 98, 101, 229, 279, 293, 325, 336, 364, 369 – 370, 382, 511 – 512, 523, 551 Brautpaar 73, 124 – 125, 185, 187, 189, 193, 199 – 200, 231, 237 – 238, 293, 321, 337, 367 – 369, 514, 534, 550, 566 Brautzeit 224, 375, 529 Bredow 117, 120 – 127 Brehm 215 Breitenbauch 41 – 42, 45, 51, 61, 73, 77, 85 – 86, 89 – 90, 93, 113, 118, 128 – 129, 131 – 132, 180, 201, 203 – 204, 207 – 208, 210 – 212, 220, 224 – 225, 230 – 231, 258, 289, 424, 428, 447, 459, 510, 536, 538 Breitenbuch 45 Brenner 175 Bronsart 272, 277, 280 – 282, 346, 349 – 350, 352 – 353 Brumme 420 Bucha 41, 45, 85, 129, 135, 447, 459 Bückeburg 422, 435, 441, 443, 527 – 528, 531, 533 – 534, 552 Bückeburger 444 – 445, 530, 534, 545 Bülow 92, 99, 344, 353, 371, 525 Bundesfürst 13, 16 Bundesrat 3, 542 Burg 42, 77, 145, 180, 327, 361, 409, 413, 415, 522, 558 Bürger 99, 484 Bürgerkreise 468 Butlar 428 Butler 16 – 17, 23, 64, 227, 265, 297, 322 – 324, 347, 365, 406 – 407, 429, 433, 448, 460, 466, 474, 478, 487, 502 Butler, Karl von 23, 322 – 324, 332, 429 Buttlar 427 Buttler 243, 245, 278, 332 Cairo 318, 516 Cannes 135, 160, 168 Capri 292, 484 – 487 Caprivi 72, 387 Cardinal (siehe auch Kardinal) 493 Carow 63, 220

473, 489 – 490,

576

Register

Cavalierball 107 Chicago 232 China 95, 273, 431, 555 Chinesen 273 Christ 172, 520 Christbaum 66, 105, 219, 374, 447, 460 Christentum 172, 472, 533 Clerus 318 Coblenz 415 Coburg 23, 207, 216, 277, 352, 356, 367, 387, 420, 546 Colonialmuseum 538 Colonien 383 Confirmation 297 Constantinopel 72, 520 Conzert 99, 143, 149, 153, 156, 159, 164, 169, 177, 197, 285, 288, 334, 336, 341, 346, 352, 414, 430, 438, 461 Conzertsaal 153, 164 Cook 479 – 480 Corps 69, 235, 242, 331, 355, 395 Cour 100, 186, 199, 212, 238, 272 – 273, 286, 293, 349 – 350, 358, 371, 378 – 379, 438, 506, 534 Courmachen 8, 200, 204, 394, 530, 560 Courmacher 420, 444 Courmacherei 367, 395, 545, 562 Cumberland 552 Cusserow 313, 316 – 317, 319, 518 – 520 Dalwigk 235 – 237, 253, 303, 447 – 448, 460, 525, 547 Dame 7 – 8, 10, 36, 39, 41, 44, 61, 88, 97, 101, 121 – 124, 128, 134, 141, 143, 150, 157 – 158, 164 – 165, 170, 176, 186 – 187, 190, 193 – 195, 200 – 201, 207, 210, 212, 214, 222, 228, 244, 249, 262, 283, 291, 327, 349 – 350, 352, 372, 378 – 379, 386, 390, 394, 397, 402, 413, 424, 429, 432, 440, 455, 461, 468, 476, 482, 522, 528 – 529, 537, 542 Delbrück 96, 129, 349 Dellingshausen 150 – 151, 153, 155, 158 – 159, 162 – 163, 167, 172 Demokrat 17, 27, 296 Demokratie 14, 26, 569 Denkmal 13, 146, 416 – 417, 447, 537 Denkmalseinweihung 415

Depression 307, 547 Deputation 407, 416, 504 deutsch 1 – 2, 4, 7, 11, 13 – 20, 22, 26 – 28, 59, 88, 98, 122, 147 – 150, 158, 173, 179, 223, 320, 339, 345, 347, 356, 361, 378, 389, 416 – 417, 426, 430 – 431, 437, 440, 451, 463 – 464, 466, 468, 473, 475 – 479, 498, 500 – 501, 509, 516, 525, 537, 547, 559, 569 Deutschland 1, 7, 14, 17, 115, 223, 296, 411, 443, 484, 487, 508, 527 Dewitz 138 Dialekt 11, 247, 299, 451, 484, 501 Diener 11, 25, 49, 84, 109, 199, 209, 329, 331, 338, 354, 376, 439, 458 Dienst 2, 6, 26, 56, 187, 213, 247, 318, 322, 332, 365, 370, 399, 403, 480 – 481 Dienstboten 61, 69, 125, 178, 205, 242, 266, 309, 401, 431, 530, 550, 564 Dienstbotenärger 542 Dienstbotenzustände 11, 458 Dietlas 23, 322 – 323, 448, 503 Diner 13, 50, 66, 69, 71, 93, 95, 101, 129 – 130, 132, 134 – 135, 137, 142, 179 – 180, 203 – 204, 206, 210, 216– 218, 230, 240, 248, 252, 258, 263 – 264, 271, 277, 281, 288, 291, 295 – 296, 324, 326, 333 – 334, 346 – 347, 349, 352 – 353, 362, 368, 391 – 392, 397, 400, 402, 426, 432, 448, 462, 504, 525, 537, 542, 551 Diplomat 2 – 3, 48, 131, 243, 287, 318, 397, 520 Dittersdorf 35, 51 – 53, 89, 177, 265, 311, 366 Dohna 110, 141, 189, 197 – 199, 221 – 222, 270, 280, 338, 340, 342, 347, 390 Döllinger 68 Dönhoff 244, 377, 476 Döpfner 91 Dorf 47, 62, 65 – 66, 77, 80, 84, 114, 136, 139, 154 – 155, 170 – 171, 184, 200, 260, 295, 300, 316, 325, 356, 363, 365, 420, 444, 478, 526, 557, 561 Dragoner 7, 241, 250 Dresden 67, 82, 89, 93, 101, 103– 104, 114 – 116, 118, 127, 176, 207, 264 – 265, 375, 486 Dryander 99, 102, 282, 351, 377, 381, 385, 394, 538 Dungern 290, 358, 371 Ebern

290, 368

Register

Ebersdorf 55, 179 Edelfräulein 86 Edelmann 318 Edinburgh 95, 98 Egloffstein 236, 382, 392 Ehefrau 288, 400, 458, 517, 544 Ehemann 20, 144, 229, 321, 392, 394, 514 Ehen 8 Ehepaar 8, 36, 93, 113, 128, 135, 149, 165, 207, 236, 277, 372, 377, 388, 436, 439, 445, 522, 533 Ehre 1, 16, 41, 46, 70, 101, 116, 120, 153, 212, 226, 317, 332, 378, 391, 397, 432, 437, 518, 525, 535, 562 Ehrenbreitstein 13, 416– 417 Ehrenjungfrau 71, 355 Ehrenmann 311 Eichel 227 – 228, 230, 263 – 264, 290, 293 – 294, 348, 361 – 362, 422, 424, 427 – 428, 436, 462, 501, 521, 527 Einrichtung 14, 41, 53 – 54, 65, 71, 134, 137, 148, 176, 206, 211, 226, 295, 307, 328, 337, 341, 411, 450, 482, 512, 515, 519, 548 Einrichtungssorgen 244 Eisenach 3, 184, 188, 200, 227 – 228, 230, 262, 264 – 265, 297, 322, 422, 424 – 425, 428, 441, 448, 522, 527 Elektricität 385, 411 elektrisch 145, 147, 221, 436, 501, 535, 550 Elektrische 66, 536 Eltern 1, 3, 5, 8 – 9, 12, 15 – 16, 20, 24, 31– 34, 38 – 41, 43 – 47, 50, 52, 57, 60, 64, 67, 70, 75, 81 – 82, 84 – 88, 90 – 91, 103, 105, 107, 109 – 110, 113, 116, 118, 120, 125, 129 – 131, 134, 137 – 138, 150 – 151, 165, 175, 179 – 181, 184 – 186, 193 – 196, 200 – 203, 208, 215, 219, 222, 224, 232, 238, 249, 251, 260, 264, 266, 269, 271, 277 – 278, 286, 291 – 292, 297, 299, 304 – 305, 308 – 309, 313, 318 – 319, 323, 325, 331, 334 – 335, 339, 350, 354 – 355, 361 – 362, 369, 377, 384, 393, 397, 403 – 404, 407, 410, 415, 418 – 419, 422, 424, 444, 460, 463, 472 – 473, 476, 483, 504, 508, 532, 535 – 536, 543 – 545, 547, 549, 551, 557, 565 Elternhaus 39, 48, 56 Elternliebe 317 Elternstolz 555

577

emancipiert 177, 516 empereur 476 Empfang 62, 66, 117, 127, 166, 169, 184, 199, 230, 303, 309, 328, 396, 417, 504, 527 Empire 250, 292, 299, 334, 371, 435, 528 – 529 Ems 412 – 413, 415, 418 Enckevort 279, 432 England 76, 101, 251, 341, 474 Engländer 147, 153, 157 – 158, 162, 165, 215, 243, 250, 280, 288, 354, 381, 386, 388, 455, 466, 475, 500, 547 Engländerin 41, 165, 485 englisch 65, 149, 157, 183, 242 – 243, 276, 286, 295, 384, 386, 389, 466, 469, 488 – 489, 516 – 517, 551 English 76, 474 Enkevort 273, 431 Enklave 36 Erbe 363 Erbfolge 352 Erbgroßherzog 88, 188, 343 Erbgroßherzogin 84, 325, 418, 424 – 425, 448, 509 Erbprinz 130, 179, 222, 274, 277, 371 Erbprinzessin 101 Erbprinzeß 190, 194 Erbschaft 21, 431 Erbteil 117, 567 Erbtochter 551 Erdbeben 159 – 160, 162, 171, 221, 305– 307, 473 Erffa 2 – 4, 8 – 11, 16 – 26, 28, 33, 35, 37, 42, 56, 69, 73, 83, 91, 115, 117, 130, 138, 140, 182 – 183, 185, 196, 218, 229, 236, 241, 254, 276 – 277, 295 – 296, 303, 311, 322, 326, 335, 342, 349, 358 – 359, 361, 367, 387, 418, 420, 459, 508, 511 – 512, 514, 543, 559, 567, 569, 571 Erffa, Alfred (Alla) Freiherr von 276, 342, 358, 441, 511 – 512, 514 Erffa, Bertha Freifrau von, geb. Freiin von Bibra 183, 546 Erffa, Burkhart Freiherr von 3 – 4, 30, 36 – 37, 40, 44, 48 – 49, 53, 55 – 56, 59 – 60, 62, 67 – 69, 71 – 72, 77, 80 – 81, 83 – 85, 87, 90, 92, 105, 107 – 108, 129 – 130, 136– 137, 192, 194, 201, 215, 231, 254, 264, 283, 297, 299, 308, 335, 337, 355, 359, 364, 405, 407, 410 – 412, 441, 459 – 460, 462 – 463, 501, 503,

578

Register

510 – 511, 513, 515, 523, 526, 535 – 539, 549, 571 Erffa, Eduard Freiherr von 17, 19, 73, 183, 358, 366, 418 Erffa, Elisabeth Freifrau von, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen 37, 284, 330, 571 Erffa, Georg ( Jörge) Freiherr von 1, 3, 8, 10, 30, 36 – 42, 44 – 45, 48, 50, 53, 55– 56, 59, 61, 64, 66 – 68, 71 – 74, 82 – 84, 86, 90, 92, 104 – 106, 110, 113 – 114, 116, 119, 127 – 128, 130, 137 – 138, 144, 165, 172, 183, 192, 201 – 202, 213, 215, 219, 230 – 231, 240, 254 – 256, 261, 264, 266, 283, 289, 295 – 297, 299, 301 – 304, 308 – 309, 312, 325, 331 – 333, 337, 344, 347, 355 – 357, 361 – 362, 366, 389, 403, 405 – 407, 420, 448, 460 – 463, 503, 525 – 527, 545, 549, 565, 571 Erffa, Gotthard Freiherr von 91, 93, 105, 180, 182 – 183, 196, 234, 276, 326, 349, 352, 354, 356 – 358, 365, 379, 406, 465, 501, 511 – 512 Erffa, Hans Freiherr von 117, 182, 322, 335, 349, 367, 392 Erffa, Hermann Freiherr von 2, 8, 13, 16 – 21, 24 – 26, 30, 37, 69, 130, 138, 192, 218, 380, 571 Erffa, Karl Freiherr von 183, 238, 295 – 296, 359, 366, 418, 514, 546 Erffa, Margarethe Freiin von Erffa (siehe auch Rotenhan, Margarethe Freifrau von, geb. Freiin von Erffa) 3, 6, 8, 30, 32, 34 – 35, 37 – 38, 40 – 41, 47 – 51, 55– 58, 60 – 62, 64, 66 – 72, 74 – 76, 78, 81 – 87, 89 – 92, 102, 104 – 105, 108, 110, 116– 117, 120, 127 – 134, 137 – 141, 143, 176, 179 – 186, 192, 202 – 203, 215 – 217, 219, 228 – 230, 234, 239, 254 – 256, 264 – 265, 274, 295, 310, 321, 323 – 324, 335, 337, 349, 361, 394, 414, 421 – 422, 459, 522, 547, 571 Erffa, Mathilde (Illa) Freifrau von, geb. Freiin von Künßberg 91 – 92, 105, 180, 182, 234, 290, 293, 326, 349, 356, 358, 365, 379, 388 Erffa, Rudolf (Rudi) Freiherr von 3, 30, 37, 43, 45, 48 – 49, 55 – 56, 58 – 60, 64, 66 – 68, 71, 74, 78 – 79, 81 – 83, 87, 90, 93, 103 – 106, 108, 114 – 115, 119, 128 – 130, 134 – 136, 143, 177, 181, 183, 190, 192, 201, 204 – 205, 208 –

210, 212, 220 – 221, 230 – 231, 237, 239, 250, 254, 260 – 261, 265, 267, 289, 297 – 299, 308, 321, 337, 355, 361, 363, 368, 404 – 405, 407, 441, 446 – 447, 459 – 460, 503, 521, 525, 532 – 533, 535 – 538, 543 – 544, 550, 571 Erffa, Sabine Freiin von (siehe auch Krosigk, Sabine von, geb. Freiin von Erffa) 30, 37 – 38, 40 – 41, 44, 47 – 50, 56, 58 – 59, 63, 68, 72 – 73, 76, 78 – 79, 81 – 83, 86 – 88, 90, 93, 105 – 108, 130, 139, 170, 172, 184, 186, 189, 192, 195 – 197, 203 – 204, 206, 212, 219, 225 – 228, 230, 233 – 235, 237, 239, 250 – 251, 254, 256 – 257, 260 – 261, 265, 270, 272 – 274, 281, 289, 296, 298 – 299, 302, 308, 324, 326, 328, 331, 338, 343, 345, 347, 352 – 353, 357, 361, 365, 370, 375, 378, 383, 386 – 389, 396 – 397, 400 – 401, 403, 405 – 406, 419, 421, 423, 448, 459, 461 – 463, 473, 479, 486, 495, 497, 499 – 501, 504 – 505, 509 – 511, 513, 515, 521, 523 – 525, 527, 535 – 540, 542, 544, 546, 548 – 549, 571 Erfurt 17, 32, 75, 129, 135, 238, 261 – 262, 304, 365 Ernte 5, 51, 90, 130, 203, 256 – 257, 366, 413 Erntefest 137, 331, 521 Erntekranz 206 Erstgeborener 165 erwachsen 19, 121 – 122, 228, 232, 315, 442 Erwachsener 70, 85, 256, 263, 405, 431, 446, 509 Erzherzog 281, 390 Erzieher 201 Erzieherin 33, 49, 441, 447 Erziehung 1, 3, 110, 208, 361, 375, 430, 532 Erziehungsversuche 127 Esebeck 344, 349, 352, 387, 394, 424, 427 Este 478, 493 Estländer 167 Eugène 279 Eugénie 164, 168 Eulenburg 3, 188 – 189, 193, 345, 351, 353, 384, 387, 393 – 394, 398, 542 Europa 18, 75 Europäer 546, 563 europäischen 27, 75 Europe 19, 569 Evle (siehe auch Hofacker, Eva) 330

Register

Examen 40, 146, 245, 289, 297, 460, 527, 549 Examensängsten 526 Excellenz 272 Exkaiserin 164 Exklave 448 Exzellenz 201, 252, 347, 544 Eyrichshof 8, 181 – 182, 193, 204, 279, 289 – 291, 295 – 296, 367 – 368, 371, 382 Eyrichshöfer 188 – 189, 193, 204, 289 – 290, 294 – 295, 311, 352, 356 – 359, 368 Eyring 291, 368 Fabeck 124 – 125, 270 Fabrik 18, 35, 75, 379 Fabrikant 54, 69, 224 Fabrikantentochter 224 Fabrikarbeiter 35 Fabrikbezirk 26, 318 Fabrikgesindel 18 Familie 1 – 8, 10 – 12, 16 – 17, 19 – 26, 30, 33, 36 – 39, 42, 45 – 46, 52, 57 – 58, 66, 77, 83 – 85, 88 – 90, 106, 108, 113, 131 – 132, 140, 142, 161, 164, 178, 182, 186, 188, 192 – 193, 200 – 201, 204, 208 – 209, 226, 228, 232 – 233, 246, 248, 258, 271, 289 – 291, 293 – 295, 299, 303, 305, 309, 311, 318, 321, 323, 328 – 329, 341, 345, 348, 350, 353, 356, 358, 361 – 363, 368, 371 – 372, 375 – 376, 385, 400, 405, 409, 412, 418 – 420, 427, 432 – 433, 435, 444, 447, 457 – 460, 466, 469, 474, 485, 499, 505, 507, 510 – 512, 514, 526, 530, 535 – 536, 538, 542 – 544, 546 – 547, 551 – 552, 569, 571 Familienbeschluß 552 Familienbesitz 11 Familienbild 74, 550 Familiencharakter 392 Familiendiner 361 Familienessen 407, 462, 537 Familienfest 116, 212 Familiengeschichte 420 Familienhaupt 418 Familienkreis 3, 289, 307, 336, 373, 375, 406, 537 Familienleben 323, 336 – 337, 408, 504, 523 Familienrat 131, 160, 404 Familienvater 238, 322 Familienvereinigung 502

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Familienverhältnisse 73 Familienzwist 512 famille 88, 450 family 432 Feier 72, 77, 80, 142, 179, 231, 261, 298, 309, 339, 358, 363 – 364, 384, 403, 447, 502, 507, 551 Feiertag 46, 59, 67, 104 – 105, 113, 116, 144, 219, 298, 361 – 362 Feilitzsch 446 Feldherr 532 Feldmarschall 7, 515 Feldzug 271, 401 Festtag 308, 357, 406, 421, 544 – 545 Fideikommiss 22 – 23 Fideikommißbesitz 23 – 24 Finckenstein 196, 282, 501, 521 – 522 Finkenstein 227, 230, 323 – 324, 427, 462 Flitterwochen 245 Flügeladjutant 223, 390 Fortschritt 27, 70, 102, 115, 326, 365 Franke 136, 545 Franken 170 Frankfurt 5, 61, 73, 250, 291, 418, 569 Frankfurter 149, 182, 290, 322, 349 fränkisch 23 – 24, 33, 569 Frankreich 75 Franzensfeste 463 Franzose 58, 153, 507 Französin 83, 88, 110, 113, 117 französisch 11, 59, 105, 159, 164, 168, 269, 271, 286, 294, 305, 349, 370, 437, 458, 560 Frauenfrage 426 Frauenrechtlerin 426 Frauenwürde 562 Freiburg 167 Freienorla 206 Freifrau 9 – 11, 16, 33, 36, 60, 79, 114, 127, 140, 232, 236, 304, 335, 429, 433, 449, 502, 518, 522 Freiheitskrieger 342 Freiherr 7, 10 – 12, 17 – 21, 23 – 26, 36 – 37, 42, 60, 73, 77, 96, 138, 210, 217, 229, 232, 235, 290, 302 – 303, 321, 333, 336, 433, 514, 569, 571 Freiherrlich 2, 18, 569

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Freiin 3 – 4, 9 – 11, 16, 20, 26, 28, 33, 35 – 37, 60, 73, 79, 91, 127, 138, 140, 144, 183, 185, 188, 204, 221, 229, 236, 241, 279, 290, 292, 302 – 303, 308, 311, 313, 316, 321, 324, 330, 335, 349, 367, 382, 449, 459, 501, 508, 514, 532, 547, 569 freisinnig 490 Frieden 68, 81, 104, 196, 228, 265 – 266, 316 – 317, 355, 475, 516, 519, 523 Friedrichsroda 116 Friedrichsruh 17, 223, 296 Friedrichswerth 11, 420 Frömmigkeit 319, 339, 408, 512 Fulda 236, 430 Furra 361 Furraer 424, 543 Fürst 3, 14, 16, 18, 22, 53 – 54, 68, 70 – 72, 95, 98, 140, 169, 205 – 206, 296, 303, 322, 336, 342, 352, 387, 437, 442, 444, 448 Fürstbischöfe 451 Fürstenberg 101, 280, 387 Fürstenblut 556 Fürstenkind 201 Fürstenpaar 303 Fürstin 153, 157, 169, 176, 206, 215, 226, 307, 369, 378, 414 – 415, 418, 444, 509, 529, 531, 534 – 535, 566 fürstlich 16, 18, 55, 142, 182, 225, 303, 305, 336, 418, 444, 483, 526, 529 Fürstlichkeiten 382 Füsiliere 376 Gabelentz von der 47, 333, 448 Gadow 190, 200, 278 – 279, 282 Gaffron 239, 532 Gala 95, 140, 163, 363, 382, 391 Galaoper 97, 107, 187, 274, 341 Galauniform 416 Galavorstellung 273, 439 Galawagen 341 Galerie 6, 124, 383, 399, 469 – 471, 487, 499, 540 Garde 13, 113, 235, 242, 395 Gardedragoner 11, 199 Gardegrenadierregiment 124 Gardekürassier 279 Garderegiment 7, 187, 222, 242, 270, 349

Gardereiter 176, 333 Gardeton 239 Gärtner 5, 34, 104 – 105, 178, 259, 262, 307, 316, 451, 475 Gas 221 Gasanlage 411 Gasherd 501 Gatte 255, 317, 322, 334, 365 Gattin 505 Gavriliuk, Natascha, siehe auch Varnbüler von und zu Hemmingen, Natascha Freifrau von, geschiedene Siemens, geb. Gavriliuk 3, 266 Geck 8, 204, 213, 276, 351, 401 Geinitz 32 – 33, 42, 47, 310, 331 Geistlicher 61, 63, 80 – 81, 233, 319, 467, 489 – 490, 545, 557 Geistlichkeit 489 Geld 10, 35, 68, 115, 154, 165, 200, 301, 356, 365, 442, 450 – 451, 480 – 481 Geldheirat 224 Geldsäcke 356 Geldsucht 154 Gemmingen 188, 248, 277, 280, 290, 305, 321, 324 Gender 19 – 21 Genealogie 19, 569 Genealogisch 11, 18 – 19, 25, 569 Genf 459 Genfer 263 Genova 147 Genua 140, 145 – 146, 498 – 499 Genuese 146 Gera 41 – 42, 216 – 217, 222, 224 – 225, 233, 274, 525 Geraer 54, 222 – 223, 233 Gerlach 11, 117 – 119, 132, 134, 136, 197, 199, 225 – 226, 234, 239, 249, 266, 270 – 271, 279, 285, 333, 345, 384, 402 Germane 59 Germania 383 Germanisch 327 Gerson 12, 102, 120, 243, 346 Gesandter 77, 98, 240, 242, 304, 353 Gesandtschaft 247, 547 Geschlecht 26, 318, 348, 414, 481

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Geschmack 36, 95, 129, 134, 242, 247, 297, 307, 382, 398, 417, 425, 442, 450, 469, 476, 495, 514 – 515, 531, 533, 541, 559 Geschmacklosigkeit 54 Gesellschaft 1, 5 – 8, 11 – 12, 16 – 17, 23 – 24, 26 – 27, 48, 115, 124, 132, 137, 141 – 143, 147, 149, 152, 165, 169, 179, 188, 197, 212 – 214, 220, 232 – 233, 235, 258, 270, 274 – 276, 278, 280, 287 – 289, 291 – 293, 303, 305, 311, 320, 322, 328, 333, 342, 344 – 345, 359, 362, 377 – 379, 384 – 385, 391 – 392, 394, 403, 406, 412 – 415, 418, 420, 424, 427 – 428, 433, 435, 440, 442, 444, 451, 456, 461, 466, 477, 483, 486, 488 – 489, 507, 512, 525 – 527, 529 – 530, 534 – 535, 539, 541, 550 – 552, 556 – 558, 560 – 562, 569 Gesetz 24, 38, 337, 356, 536 Gesundheit 43, 230, 240, 256 – 257, 281, 313, 328, 393, 413, 487, 528 – 529, 558, 561 Gesundheitszustand 535 Glaube 6, 8, 10, 36, 44, 57, 65, 88, 124, 141 – 142, 157, 166, 168 – 169, 172, 175, 181 – 182, 185, 188, 195, 198, 200– 201, 204, 218, 223, 225, 246, 264, 275, 279 – 280, 290, 292 – 293, 300, 305, 336, 342, 347, 350, 352, 354, 356, 358, 361, 369, 379, 382, 390, 393, 398, 400, 413, 417, 422, 440, 442, 454, 467, 469, 483, 504 – 508, 510 – 512, 519, 521 – 523, 525 – 526, 530, 538, 540, 542 – 543, 561 Glienicke 196, 242 Goethe 144, 374, 381, 426, 430, 463, 467, 487, 493, 541 Görtz 388, 427 – 428, 553, 555 Göschwitz 226, 262, 322, 423 Gössel 82 – 83, 89, 115, 255, 264 Gotha 18, 95, 207, 216, 277, 352, 420 Gothaer 420 Gott 1, 15, 32 – 34, 40 – 41, 43 – 44, 47, 57, 62, 64, 66, 68, 75 – 77, 80 – 82, 90 – 91, 99, 106, 113, 117, 119, 129, 142, 144, 149, 157, 169, 172, 177, 185, 190, 193, 206, 215, 218 – 219, 230 – 231, 246, 251, 254, 256, 265 – 266, 296, 300, 302, 310, 313, 315 – 316, 329, 333, 335, 337, 353, 358 – 359, 362, 371, 403, 408, 412, 414, 418, 443, 450, 454, 457, 461, 465, 470, 483, 501, 506, 509, 524, 530, 533, 535, 539, 549, 552, 563, 567

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Gottesdienst 55, 61 – 62, 73, 152, 194, 274, 293, 325, 339, 349, 374, 497 Gotthardbahn 175, 500 Gotthardtunnel 145 Gouvernante 3, 49 – 50, 108, 138, 313– 314, 370, 440, 474, 515, 544 Goßler 107, 122, 512 Graf 3, 7, 18, 48, 51, 59, 72 – 73, 96 – 97, 100, 110, 116, 124 – 125, 132, 150 – 151, 175, 190, 193, 195, 210, 220, 223, 235, 240, 245, 250, 269, 280 – 281, 288, 290, 340 – 342, 344 – 345, 349 – 350, 353, 362 – 363, 376, 378, 387 – 388, 390, 392, 394 – 395, 401, 431 – 433, 464, 476, 478, 488, 512, 515, 521 – 522, 524, 541, 550 – 551 Grafenclique 428 Gräfendorf 117, 130, 206, 212, 233, 309 Gräfin 10, 33, 81, 97 – 98, 123, 126, 149, 151, 156, 159, 165, 169, 171, 179, 187, 194, 196, 198, 201, 227 – 228, 244, 248, 256, 263, 269, 271 – 272, 282, 285, 289 – 290, 296, 339, 342 – 343, 349, 351, 353, 384, 387 – 388, 395, 397 – 398, 415, 425, 428, 432, 493, 511 – 513, 515, 522, 535 – 536, 544, 546, 553 – 554, 560 gräflich 18, 431 Greiz 136, 533 Greizer 526, 531 Grobengereuth 209 Grolman 188, 196, 370 Grolmann 188, 196, 270, 281, 286, 288, 371, 422 Grote 559, 561 Großherzog 424 – 425, 448 Großherzog von Weimar 343 Großherzogin 343, 345, 450 großherzoglichen 424 Großherzogtum 448 Großmutter 33, 65 – 66, 69, 76, 78, 92 – 93, 110, 114 – 115, 127, 131, 135, 140, 144 – 147, 149 – 162, 165 – 172, 175, 219, 222, 265 – 266, 277, 293, 328 – 329, 333, 338, 341, 343 – 344, 347, 354, 365, 372, 375 – 376, 381, 384, 396 – 397, 401 – 403, 406 – 407, 421, 437, 461, 512, 529 Großstadt 242, 250, 378, 535, 538 Großstadtplebs 511 Großstadttrubel 526 Güntzel 127, 131, 147, 149, 151 – 154, 156, 158, 160 – 161, 163, 165 – 167, 170, 172, 175, 219,

582

Register

265, 328, 330, 338, 375, 377, 384, 386, 406, 421 Günzel 94, 96 – 99, 101, 103, 140, 145, 150, 153 Gura 197, 353, 402 Güter 2, 5, 229, 418, 429, 490 Güterkäufe 247 Gutsbesitzer 207, 290, 356 Gutsbesitzerin 313 Gutsherr 262 Gutshof 444 Gutsübernahme 395 Gutsverwaltung 515 Guttenberg 208, 292, 358 Habsburg 412 Hagenbucher 10 – 11, 114 Halberstadt 221 Halle 3, 42, 45, 63, 68, 74, 76, 193, 199, 217, 220, 243, 259, 261, 290, 353, 386, 420, 521, 526 – 527, 545 Hallstatt 451 Hamburg 60, 552, 566 Hammerstein 17, 201, 236, 274 – 275, 282, 344, 352 – 353, 391 – 392 Hann von Weyhern 347, 384, 389 Hannover 344, 377, 527 – 528, 535, 549 – 550, 552 Hanslick 426 Hardenberg 36, 106, 232, 261, 302, 356 Harnier 187 – 188, 230, 265, 422 – 423, 427, 436 Harrach 94, 97 – 98, 116, 271, 353, 379, 384, 386 – 387, 395, 402 Harz 45, 49, 297, 309, 503 Harzburg 298 Harzreise 430, 438 Harzsemester 302 Hauptstadt 16, 431 Hauptstadtparkett 6 Hausfrau 212, 227, 229, 247, 320, 360, 414, 422, 434, 459, 505, 516, 524 Hausfrauensorgen 311 Haushalt 25, 76, 90, 150, 185, 241, 263, 272, 320, 344, 349, 419, 421, 442, 448, 458, 463, 515 – 516, 528, 530, 547 Haushaltssorgen 341 Haushaltungskursus 426

Hausherr 178, 212, 294, 329 – 330, 368 – 369, 427, 433, 516 Hausminister 349 Hausstand 382 Havel 121 Havelsee 121 Heidelberg 459 Heidelberger 11 Heidenkinder 12, 494 Heidenmission 178 Heilkraft 89 Heilmagnetiseur 89, 115 Heilung 43, 158, 412, 556 Heimat 36, 46, 56, 104, 167, 173, 217, 237, 326, 362 – 363, 447, 483, 488, 501 Heimatgefühl 486 Heine 434 Heinze, Gotthilf 536 – 537, 542 Heirat 2, 9 – 10, 91, 281, 390, 401, 566 Heiratsantrag 124 Heiratsgedanke 300 Held 14, 102, 149, 218, 537 Heldburg, Helene Freifrau von, geb. Franz 16, 429 – 430, 434, 436, 439 – 440 Heldengestalt 16, 437 Heldenkaiser 7, 115 Heldin 334 Helgoland 95, 124, 197 – 198 Helgoländer 197 – 198 Helgoländerin 123 Helldorf 211, 326, 391, 525 Helldorff 197 Hemmingen 10, 12, 26, 50, 56, 79, 114, 139 – 140, 144, 250 – 251, 308, 312 – 313, 320 – 321, 326, 328, 330, 333, 449, 457 – 458, 501, 536, 545, 547 Hemminger 85, 180, 326 Henckel 156, 195, 199, 339 Heraldik 420 Herbette, Jules Gabriel 349 Herder 516 Herleshausen 227, 262, 264 Herman 94, 217, 327, 361, 365, 375, 518 Herman von Wain, Benno Freiherr 217, 246, 252, 273, 275 – 276, 278, 280 – 282, 287, 328, 361, 378

Register

Herman von Wain, Oleg Freiherr 94 – 95, 97, 101 – 102, 327 – 328, 365, 375, 401, 447, 518 Herold 101, 369 – 370 Herrenhaus 87, 102, 240, 313, 444, 520 – 521, 550 Herrenhausen 552 Herrngosserstädt 389 Herrnhuter 55, 194 Herrschaft 53, 205, 311, 399, 417, 509 Herrschsucht 512 Herwarth 225, 349 Herweg 68 Herzog 16, 66, 71, 86 – 87, 95, 103, 142, 204, 207 – 208, 277, 330, 352, 366, 387 – 388, 393, 422, 429 – 430, 434 – 435, 437, 439 – 440, 448, 453, 500, 552, 566 Herzogin 75, 98, 204, 330, 366 Herzogsbesuch 86 – 87, 205 Herzogspaar 330 Herzogtum 2, 17, 83, 277, 352, 420 Hessen 75, 264, 268, 272, 363, 400, 445, 450 Heyden 128, 133 – 134, 136 – 137, 140, 179, 201 – 204, 208, 214, 216, 218, 250– 251, 254, 256, 258, 301, 309, 334, 347, 381, 389, 392 – 393, 420 – 421, 448, 459, 465 – 466, 469, 471, 474 – 478, 487, 490, 493 – 494, 496, 509, 512 Heyse 498 Higa (siehe auch Spitzemberg, Hildegard Freifrau von, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen) 50, 92, 269, 271, 273, 281, 285, 297, 313, 332, 340, 378, 383, 401, 403, 406, 421, 458, 466, 472, 479, 502 – 503, 551 Hildesheim 527 Hindenburg 243 – 244, 250, 377, 379, 387, 402, 541 Hinterpommern 515 – 516 hinterwäldlerisch 518 Hirschfeld 101, 110, 217, 395, 539 Historiker 1, 356 historisch 13, 15, 20, 179, 334, 348, 527 Hochberg 99, 101, 169, 242, 274, 280, 341, 387, 400 Hochzeit 1, 9, 40, 71, 79, 95, 116 – 117, 121, 124 – 125, 184 – 186, 204, 218, 229 – 233, 235, 240, 248, 253, 265, 279, 289 – 290, 296, 311, 320, 328, 331 – 332, 356– 357, 359, 364, 366, 368, 382, 401, 403, 405, 420, 437, 439, 443, 502,

583

512, 514, 521, 546 – 547, 549 – 550, 552, 556 – 557, 566 Hof 8 – 9, 16, 20, 25, 52, 86, 119, 134, 140, 174, 176, 181, 186 – 187, 194, 210, 215, 221, 224, 261, 298, 325 – 326, 336, 346 – 347, 349, 355, 363, 366, 369, 374, 377, 381, 397 – 399, 407, 414, 432, 437, 442 – 443, 478, 483, 520 – 521, 529, 534, 548, 560 Hofacker 144, 177, 241, 271, 296, 298, 330, 359, 375, 458, 536, 540 Hofacker, Anna,verwitwete Freifrau Schott von Schottenstein, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen 26, 79, 140, 217, 241, 296, 305, 330, 447, 449, 458, 502, 518 Hofacker, Cäsar 26, 80, 144, 281, 298, 359 Hofacker, Eberhard 4, 144, 197, 241, 244 – 245, 247, 271, 296, 298 – 299, 330, 359, 386, 449, 458, 488, 522, 536, 538, 540, 569 Hofacker, Eva (siehe auch Below, Eva von, geb. Hofacker) 49, 71, 79, 129, 176 – 177, 179, 217 – 218, 223 – 224, 243, 265, 298, 301, 305, 312, 314 – 315, 330, 359, 372, 375, 401, 447, 518 – 519 Hofball 86, 108, 150, 187, 189, 194, 222, 224, 275, 278, 281, 325, 343, 345, 349, 384, 386, 390, 398 – 399, 525 – 526 Hofdame 2, 59, 119, 206, 269, 278, 282, 336, 340, 363, 428, 444, 528, 533, 561 Hofdienst 533 Hofetikette 269 Hoffourier 274 Hofgesellschaft 3, 336, 424, 426, 444, 569 Hofkabale 177 Hofkostüm 529 Höflichkeit 37, 166, 229, 264, 509, 555 Hofmarschall 8, 86, 119, 235, 287, 390, 428, 444, 531 Hofmarschallamt 96 Hofprediger 178, 353, 377, 385, 403, 513 Hofschranze 205, 400, 526 Hoftrauer 289, 343, 345 Hofzwang 119 Hoheit 206, 400 Hohenheim 2 Hohenlohe 371, 493 Hohenthal 41, 71 – 74, 98, 107, 244, 282, 285, 349, 378, 525

584

Register

Hohenzoller 15, 558 Hohenzollern 121, 269, 273, 281 Hölderlin 430 Holländer 149, 153 Holländerin 156, 205, 288 holländisch 204, 240, 279 Holleben 50, 59, 83, 119, 129, 137, 140 – 141, 223 – 224, 250, 258, 265, 420, 459, 526 Holnstein 210, 344, 477, 493 Holstein 347, 350, 363, 382, 384, 535 Holtzendorf 113 Holtzendorff 113 Holzendorff 425 Homöopath 203 Honneurs 348, 364, 394, 397, 402, 474, 511 Hotel 12, 53, 120, 141, 144, 147 – 148, 152, 162 – 163, 174, 186, 190, 222, 225, 240, 267, 277, 307, 322, 328, 334, 344, 346, 381, 386, 390, 393, 397, 422 – 423, 427, 454 – 455, 465 – 466, 474, 477, 479, 483, 485, 488, 535, 550 – 552, 554, 558, 560 Hotelleben 161, 279, 500 Hubertusstock 349 Humboldt 190, 199, 270, 272, 278, 343, 493 Hummelshain 66, 69, 76, 86, 92, 116, 134, 142, 204, 216, 253, 256, 558 Hungerpastor 219 Husar 122, 124, 129, 225, 236, 524 Husarenuniform 194, 339, 370 Ibsen 326 Ibsensche 373 Illa (siehe auch Erffa, Mathilde (Illa) Freifrau von, geb. Freiin von Künßberg) 91 – 92, 105, 180, 182, 234, 290, 293, 326, 349, 356, 358, 365, 379, 388 Ilmenau 137 Imhof 127, 135 Imhoff 7, 59, 78, 137, 140, 178, 200, 202, 214, 226, 303, 365, 448, 525 – 526, 544 Impressionismus 525 Individualität 173, 320, 362, 424, 467, 510 Infanterie 7, 241, 338, 432 Influenza 66 – 69, 108 – 109, 152 – 153, 159 – 160, 229 – 230, 279 – 280, 282, 287, 289, 294, 390, 445 Innsbruck 175, 463

Intrige 272, 356, 561 Investitur 80 – 81 Ischia 483 Ischl 451 italiänisch 403 Italie 168, 174, 524 Italien 110, 131, 135, 139, 143 – 144, 176, 461, 475 – 476, 486 – 487, 502 – 503, 516, 536 Italiener 199, 239, 276, 466, 468 – 469, 473, 475, 477 – 478, 488 Italienerin 199, 254, 292, 386 Italienführer 461 italienisch 5, 40, 135, 150, 165, 175, 259, 305, 345, 348, 464, 478, 486, 493, 499 – 500, 526 – 527 Italienreise 12, 15 Jagd

11, 66, 90, 92, 105, 126, 130, 137, 142 – 143, 213, 329, 333, 337, 458– 459, 515, 523 Jagdschloss 54, 204, 275, 349, 366, 448 Jäger 11, 242, 314, 433, 444, 458 Jägeroffizier 528, 530 Jagow 77, 94, 124, 194, 221, 447, 476, 490, 503, 521 – 522 Jahrhundert 1, 6 – 7, 22 – 27, 53, 72, 74 – 75, 84, 138, 168, 369, 414, 426, 471, 487 – 488, 524, 569 Japan 77, 95 Japanerbude 140 Japanerinnen 140 Japanesle 320 japanisch 33, 83, 140, 188, 300, 320 Jasmund 363, 487, 494, 497 Jawort 375 Jena 23, 75, 81 – 82, 113, 129, 201, 215, 220, 262, 356, 569 Jenbach 456 Jerusalem 32, 62, 335 Jettina 64, 83 – 84, 106, 140, 302, 309 Jiaozhou 431 Joachim 36, 38 – 39, 50 – 51, 58, 73, 77, 103, 280, 298, 302, 308, 341 Johanniter 45 Johanniterorden 80 Jörge (siehe auch Erffa, Georg ( Jörge) Freiherr von) 1, 3, 8, 10, 30, 36 – 42, 44 – 45, 48, 50, 53, 55 – 56, 59, 61, 64, 66 – 68,

Register

71 – 74, 82 – 84, 86, 90, 92, 104 – 106, 110, 113 – 114, 116, 119, 127 – 128, 130, 137 – 138, 144, 165, 172, 183, 192, 201 – 202, 213, 215, 219, 230 – 231, 240, 254 – 256, 261, 264, 266, 283, 289, 295 – 297, 299, 301 – 304, 308 – 309, 312, 325, 331 – 333, 337, 344, 347, 355 – 357, 361 – 362, 366, 389, 403, 405 – 407, 420, 448, 460 – 463, 503, 525 – 527, 545, 549, 565, 571 Jour 190, 199, 269, 271 – 272, 277 – 278, 340, 346, 376 – 377, 381, 395, 399, 462, 538 Jude 12 – 13, 146, 322, 342, 346 Judenbengel 13, 243 Judenmütter 554 Jüdin 360 jüdisch 12, 243, 295 Jugend 6, 14, 62, 136, 210, 239, 247, 297, 339, 347, 410, 428, 434, 460, 516, 529, 554, 561, 565 jugendfrisch 271, 285, 362 jugendlich 124, 142, 161, 183, 263, 292, 322, 390, 510, 522, 554 Jugendtisch 130, 323, 378 Jungfer 67, 75, 78, 236, 257, 268, 279, 281, 292, 328, 365, 369, 444, 524, 542 Jungfrau 55, 74 – 75, 286, 435 Junggeselle 188, 241, 244, 247, 271, 348, 428, 445, 478 Jura 3 – 4, 356 Kadett 50, 100, 103, 128 Kadettle 99 Kageneck 477 – 479, 481 Kairo 318 Kairoer 303 Kaiser 2 – 3, 13 – 16, 19 – 20, 27, 51, 53, 59, 66, 69, 71 – 72, 89, 95, 98, 107, 117, 135, 142, 152, 188, 193, 197 – 199, 223, 241 – 242, 247, 269, 273 – 274, 278, 290, 296, 312, 325, 339, 341, 348 – 349, 352, 356, 373, 381, 388, 390, 394, 398 – 399, 416, 451, 470, 475 – 476, 484, 496, 502, 509, 529, 536 – 537, 562 Kaiserbesuch 415 Kaiserhof 217, 270, 275, 340, 383, 400, 542 Kaiserhofball 275, 343, 379, 391 Kaiserhofsaal 382

585

Kaiserin 66, 68, 95 – 96, 98, 101, 107, 168, 190, 194, 198, 223, 349, 377, 384, 394, 398, 455 – 456 Kaiserjagd 142 kaiserlich 59, 352 Kaiserpaar 186 Kaiserpaläste 470, 497 Kaiserreich 14 – 15, 26 – 28, 59, 431, 569 Kaiserschiff 417 Kaisertaufe 502 Kaisertheatervorstellung 66 Kaiserwetter 341 Kaiserzeit 356, 415, 470 Kamerun 383 Kammerdiener 306 Kammerherr 2, 8, 13, 15 – 16, 37, 53, 278, 399, 427, 444, 476, 489, 509 Kammerherrenfrack 219 Kammerherrenknopf 219 Kammerherrenschlüssel 219 Kammerherrenuniform 514 Kammerjungfer 319, 514 Kanadier 269 Kanitz 41, 243 – 244, 340, 379, 387 Kanzler 14, 71, 223 Kaprun 455 Kardinal (siehe auch Cardinal) 471, 476 Kardinalstaatssekretär 471 Karlsbad 239 Karlsbader 544 Kassel 215, 422, 441 Katholicismus 450 Katholik 12, 158, 222, 349, 456, 473 – 474, 484 katholisch 11 – 12, 22, 26, 114, 318, 405, 471, 473 – 474, 490, 498 Katholizismus 11 Kaufhaus 103 Kaufmann 45, 295, 439 Kaufmannstand 373 Kaulbach 276, 450 Kaulsdorf 412 Kavalier 16, 87, 390, 399, 437 Kavalierball 270 Kavallerie 7, 241, 356 Kessow 5, 42, 186, 259, 261, 300 – 301, 310, 331, 333 – 334 Kiatschao 431

586

Register

Kiautschou 431 Kiel 544 Kiew 266 Kindererziehung 63 kinderlos 89, 128, 141, 165, 377, 409, 521 Kinderlosigkeit 373, 421 Kindermädchen 33, 410, 431, 444 – 445, 547 Kinderstube 219, 442 Kindertage 539 Kinderzeit 215, 259 Kindheit 14, 31, 317, 328, 434 kindisch 50, 261, 272, 308, 484 kindlich 142, 167, 207, 231, 255, 262, 294, 317, 319, 326, 328, 357, 388, 416, 441, 521, 532 Kindlichkeit 308 Kindskopf 48, 332 Kinematograph 383 Kirche 11 – 12, 32, 34 – 36, 40, 44, 46, 49, 61 – 63, 65 – 66, 68, 72 – 73, 75, 80, 84, 96, 102, 105, 127, 133, 135 – 136, 139, 148 – 149, 151 – 152, 154, 156, 164 – 165, 171 – 175, 178, 181, 194, 237, 239, 288, 293, 316, 319, 324 – 325, 353, 356, 358, 364, 375, 384, 403, 409, 426, 451 – 452, 467 – 469, 471 – 476, 487 – 490, 494 – 495, 497, 499, 514, 536, 538, 551, 565 Kissingen 86 Klagenfurt 258 Klatsch 278, 526, 534 Klatschbase 292 Klatscherei 336 klatschig 202, 559 Klatschnest 544 klatschsüchtig 444 Klavier 95 – 96, 101, 245, 252, 285, 294, 376, 378, 392, 430, 550 Kleid 35, 50, 55, 65 – 67, 75, 83, 87, 92 – 93, 95, 97, 102, 110, 140, 143, 156, 160, 163, 168, 183, 185 – 186, 237, 245, 250, 254, 258, 276, 281, 292 – 293, 298, 337, 339, 346, 352, 357, 364, 371, 376, 386, 395, 397, 406, 423, 433, 441, 443, 445, 481 – 482, 488, 522, 529, 539, 548 Kleidung 306, 437 Kleidungsstück 383 Kleinbürgerstand 486 Kleinstadt 336 kleinstädtisch 222, 233, 370, 403, 428 Klengel, Julius 177, 218, 372, 404

Klinckowström 271, 279, 340, 377, 387 Klinik 82, 261 Klinikerlebnissen 373 Knabe 305 – 307, 425, 478 Knix 186, 212, 272, 343 Knyphausen 189, 344, 350, 551 Koblenz 13, 413, 415 Koburg 136, 183, 206 Koburger 137, 183, 216, 278, 352, 382 Koch 11, 118, 130, 223, 279, 305, 458 Kolonie 4 Komponist 159, 242 – 243, 288, 370 Konfirmand 33 – 34, 231, 355, 360, 532 Konfirmation 1, 31, 38, 65, 69, 73, 170, 172, 184, 231, 233, 250 – 251, 359, 447 König 2, 5, 13 – 16, 19, 26, 40, 45, 53, 71, 73, 79, 82, 95, 109, 164, 211, 223, 232, 253, 290, 298, 318, 348, 458, 490, 569 Königin 70, 97, 108, 124, 164 – 165, 168, 298, 469, 476, 498, 512, 528, 559, 566 königlich 2, 24, 26, 91, 238, 341, 348, 351, 394 Königsberg 83 Königsmarck 195, 244, 269, 285, 387, 392 – 393, 402 Königstochter 108 konservativ 14, 27, 262, 274 Konvertierung 450 Konzert 95, 103, 110, 140, 143, 170, 218, 276, 280, 282, 347, 384, 400, 430, 507, 537 Korff 232, 400 Krankenhaus 410 – 411, 445 Krankheit 67, 118, 194, 203, 254, 304, 360, 465, 518, 540 Krieg 15, 27, 59, 68, 89, 307, 410 Krieger 310, 504 Kriegerfest 309 Kriegerverein 325, 363, 407 Kriegsakademie 190, 197 Kriegsminister 346 Krockow 340, 350, 398 Kronbiegel 38, 40 – 41, 254 Krone 55, 173, 198, 435, 495 Kronprinz 51, 95 Krosigk 3, 8, 10, 37, 116, 180, 211 – 212, 220 – 221, 259, 270, 344, 391, 555, 557 – 558, 561, 564 – 565

Register

Krosigk, Sabine von, geb. Freiin von Erffa 30, 37 – 38, 40 – 41, 44, 47 – 50, 56, 58 – 59, 63, 68, 72 – 73, 76, 78 – 79, 81 – 83, 86 – 88, 90, 93, 105 – 108, 130, 139, 170, 172, 184, 186, 189, 192, 195 – 197, 203 – 204, 206, 212, 219, 225 – 228, 230, 233 – 235, 237, 239, 250 – 251, 254, 256 – 257, 260 – 261, 265, 270, 272 – 274, 281, 289, 296, 298 – 299, 302, 308, 324, 326, 328, 331, 338, 343, 345, 347, 352 – 353, 357, 361, 365, 370, 375, 378, 383, 386 – 389, 396 – 397, 400 – 401, 403, 405 – 406, 419, 421, 423, 448, 459, 461 – 463, 473, 479, 486, 495, 497, 499 – 501, 504 – 505, 509 – 511, 513, 515, 521, 523 – 525, 527, 535 – 540, 542, 544, 546, 548 – 549, 571 Küche 43, 65, 81, 97, 216, 249, 301, 305 – 306, 327, 332, 386, 406, 411, 442, 446, 463 Kuenßberg 505 Kultur 409, 461, 501, 558 Kultus 94 Kultusminister 385, 512 Kunst 50, 156, 173, 190, 207, 257, 276, 294, 353, 360, 364, 382, 402, 420, 435, 439, 461, 469, 478, 480, 486 – 487, 493, 496, 516, 527 Kunstausstellung 120, 127, 245, 249, 278 Kunstgegenständen 211, 476 Kunstgenuß 346, 430 Kunstgeschichte 114, 303, 527 Kunstgewerbemuseum 96 Künstler 215, 478 Künstlerin 46, 365 Künstlerschmerzen 546 Kunstschätze 488 Kunstsinn 342, 516, 541 Kunststudien 461 Kunstverständnis 439 Kunstwerk 145, 174, 497 Künßberg 9 – 10, 33, 35, 47, 78, 91 – 93, 182, 204, 208, 234, 289 – 290, 292, 300, 311, 326, 349, 354, 358, 363, 371, 448, 512 Künßberg, Anna Freifrau von 311 Künßberg, Gustav Freiherr von 300, 311, 357 Künßberg, Heinrich Freiherr von 9, 290, 292, 358, 448, 505, 507– 508 Künßberg, Karl Freiherr von 9, 93, 357, 503, 505 Künßberg, Marie Freiin von 9 Künßberg, Mathilde Freiin von 180, 326

587

Kur

7 – 8, 15, 127, 135, 226 – 227, 265, 372, 375, 410, 412, 558 Kürassier 7, 122, 124, 129, 241, 388, 398, 418 Kurfürst 187, 341, 366 Kurfürstendamm 245, 270 Kurländer 155, 247 Kurowsky 99, 187, 235, 282, 340, 371, 377 – 378, 381, 387, 394, 469, 487 Kusserow 313, 339 Kutscher 11, 42, 222, 314, 317, 329, 455, 458, 477, 479 – 480, 484 – 485 L’Estocq 190, 198 – 199, 351 ladylike 433 Lago Maggiore 145 – 146, 175, 473 Lahn 18, 412, 414, 569 Lahntal 413 Lahnufer 414 Lakai 120, 437, 473, 531 Lakei 336 Lancier 67, 109, 113, 194, 270, 344, 350, 385, 393 Land 4 – 6, 14, 20, 22 – 23, 25 – 27, 36, 75, 102, 121, 126, 152, 223, 239, 250, 260, 276, 300, 318, 325, 330, 332, 335, 355, 401, 403, 405, 410, 414, 433, 462, 501, 511, 520, 550, 560, 569 Landadel 22, 38 Landarmenverband 563 Landbevölkerung 5, 26, 318 Landedelmann 182 Landesgestüt 330 Landesherr 2, 13, 19 – 20 Landesmutter 140 Landesteile 20, 22 Landgestüt 26 Landgraf 264, 268, 272, 287, 338, 342, 376, 386, 400, 462, 519 Landgräfin 75, 251, 325 landgräflicher 376 Landkind 189, 382 Landleben 6, 156, 320, 355, 503 Landpartie 56, 127, 448, 503 Landpomeranze 341, 354 Landrat 3 – 4, 7, 15, 20, 56, 61, 63, 66, 70, 75, 77, 80, 108 – 109, 116, 120, 129 – 130, 134, 137, 154, 176, 179 – 180, 205 – 207, 219, 221, 226,

588

Register

240, 250 – 251, 257, 259, 265, 290, 299, 310, 315, 321, 333– 334, 352, 445, 504, 509, 518, 520, 524, 526, 559 Landrätin 251 Landratsamt 87, 221, 447, 518 Landratsuniform 49 Landsberg 539 Landsleute 464, 466, 486, 541 Landsmann 496 Landsmännin 425 Landtag 24, 69, 274, 377, 422, 461, 465, 486, 508, 535, 537 Landwehrkavallerie 37 Landwirt 3, 37, 184, 222, 230, 516 Landwirtschaft 3, 5, 25, 206 Landwirtschaftsminister 17, 96, 344 Langenorla 60, 69, 84, 113, 205, 304 Langensalza 63 Lanza di Busca, Mario Graf von 345, 348 – 349, 464 Lascelles, Sir Frank 389 Latendorf 41, 45, 89, 110, 136, 310 Lateran 474, 495 Lauchröden 3, 184 – 185, 201 – 202, 219, 225 – 227, 229 – 230, 235, 250, 261 – 262, 264, 297, 301, 304, 309 – 310, 322, 331, 359 – 360, 362, 408, 418, 421 – 422, 435, 441, 448, 464, 510, 521, 549 – 550 Lauchrödener 204 Lauchröder 230, 361 Lauenburg 71 Lausnitz 58, 76, 79, 82, 85, 108 – 109, 139, 207, 223, 240, 258, 302 Lausnitzer 113, 116, 258 – 259 Lautertal 330 Legationsrat 426, 547 Lehrer 34, 40 – 42, 52, 61, 81, 83, 177, 372, 401, 451, 464, 504, 532, 537 Lehrerin 34, 74, 274, 343 Lehrerinnenexamen 431 Leipzig 64 – 65, 110, 142 – 143, 177 – 178, 185, 217, 261, 265, 299, 334, 372, 375 – 376, 384, 403 – 404, 421, 430, 523 Leipziger 41, 187, 195, 334, 461 Lenbach 450 Lepel 149, 195, 236 – 237

Lerchenfeld 9 – 10, 97, 100, 188, 244, 271, 274, 280 – 282, 358 Lessing 430 Lestock (siehe auch L’Estocq) 190 Leutenberg 411, 526 Levetzow 280, 344 – 345, 352 Lewis, Lydia 3, 42 – 46, 48 – 52, 55, 58 – 61, 63 – 64, 66 – 72, 74, 76, 252, 254– 256 liberal 17, 22, 429 Liberalität 466 Liberty 249 Lichnowsky 183, 235, 277, 280, 285, 289, 295, 303, 372, 546 Lieven 19, 569 Limberg 44, 46, 48, 92, 215, 300 Limburg 18, 569 Lindau 430, 513 Lippe 95, 206, 215, 422, 555 – 556, 561, 566 lippisch 4, 441 Literatur 373 Liturgie 12, 32, 55, 62, 125 Livland 251 Livree 469, 498 Lobenstein 409 Lobensteiner 410 Lohengrin 87, 101 – 102, 196 Löhma 23, 325, 503 Löhna 177 Lohndiener 333 Lokalpatriotismus 566 Löma 51 London 249, 516 Looschen 378, 401, 419, 525 Loquitztal 412 Löwitz 409, 459, 514 – 515 Löwitzer 512 Lucius von Ballhausen, Robert Freiherr 17, 32, 69 – 70, 96, 100 – 101 Lüderitz 438 Ludwigsburg 359 Ludwigshof 86, 88, 130 – 132, 208, 210 – 212, 258, 260, 332, 510, 539 Ludwigshöfer 132, 206, 212 – 213, 258 – 259, 510 Ludwigsstadt 411 Lugano 500 Luther 33 lutherisch 382

Register

Lutherzeit 262 Lytton 219 Madrid 520 Magd 106, 299, 410, 548 Magdeburg 2, 220, 391, 461 – 462, 564 Magdeburger 8, 246 – 247, 421, 536 Magnat 26, 318 Magnatenball 8, 220, 391 Magnetiseur 82 Mahren (siehe auch Ahorn) 356, 366 Mahrener (siehe auch Ahorner) 367 Mahrner (siehe auch Ahorner) 238 Mailand 40, 173, 499 Mainthal 546 Majestät 194, 198, 339, 342, 377, 394, 399, 416 – 418 Majoratsbesitzer 235 Majoratsherr 356 Majorität 17, 296 Maler 13, 121, 247, 255, 276, 284, 288, 290, 292, 341, 378, 380, 401, 419, 424, 427, 473, 478, 525, 571 Malerei 53, 74, 373, 470 – 471 Malerin 178, 274, 333 Malinckrodt 531 Malinowski 4 – 5, 19 – 20, 569 Malta 475 Maltzahn 110, 116, 186, 190, 194, 197 – 199, 222, 225, 250, 278, 340 – 341, 345, 412, 459, 538 Maltzans 409 Mama 312, 548 Mangelsdorf, Luise 3, 33, 37, 43, 47 – 49, 58 – 59, 61, 67 – 69, 72, 76, 88, 90, 108 – 109, 118, 127, 131 – 132, 135, 138 – 139, 175, 177, 186, 320 – 321, 447 Mangelsdörfchen 222, 320, 322, 447 Manieren 40, 229, 247, 403, 432, 484, 505, 510, 539 Manieriertheit 541 manierlich 110, 245, 249, 442, 521 Manierlichkeit 254 Manöver 13, 205, 208 – 209, 212, 262, 413 Manöverball 208 Manövererlebnisse 536 Mansfeld 63 Manteuffel 278

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Marbach 26, 139, 240, 330, 363 Marineofficier 399 Marineoffizier 7, 544 Marisfeld 436 Markgröningen 329 Markusplatz 174 Marwitz 101, 559 – 560 Massenbach 248, 280 Matkowski 351 Matkowsky 233, 351 Mecklenburg 387, 393, 566 Mecklenburger 382, 566 mecklenburgischen 566 Medizin 197, 223, 373 Mediziner 464 Meiningen 2, 16 – 17, 47, 67, 83, 194, 207, 218, 227, 265, 297, 301, 332, 421 – 422, 428 – 432, 434 – 435, 439, 453, 460 Meininger 16, 18, 64, 372, 430 – 431, 439, 460 Meisenburg 50 Meistersinger, Die 64, 342 Mendelsohn 286, 419 Mendelson 63 Mendelssohn 96 Mennonitenprediger 277 Menton 150 – 152, 169 Mentone 140 – 141, 144 – 145, 147, 149 – 151, 153, 155 – 157, 159 – 161, 163 – 167, 169, 171, 173 – 175, 177, 179, 181, 183, 185, 187, 189 Mentoner 445 Mentonesen 157, 162 Mentoneserin 164 Merseburg 68, 220, 239, 271, 308, 524 Merseburger 220, 225 Messina 295 Methodistenversammlung 374 Meyerbeer 13, 242 – 243, 288 Meysenbug 55 Meysenbugk 216 – 217, 222, 233 Michelangelo 470, 475 Migräne 78, 125, 137, 237 Milano 173 Militair 141, 205 militairfromm 208 Militairkonzert 205 Militär 6, 35, 342 Militarismus 241

590

Register

Militärkonzert 416 Miltitz 466, 471, 474, 487 Minister 59, 67, 84, 180, 342, 344, 398, 442 Ministerium 17, 429, 445 Miquel 103, 190, 243, 248, 288 Mirbach 378, 390 Mission 61, 178, 182, 225, 328 Missionsfest 61, 125, 136, 178, 310, 366, 408, 424, 545 Missionspredigt 46, 139 Mittelalter 356, 368 mittelalterlich 327, 368 Mittellandkanal 14, 27, 508 Mittelmeer 457, 485, 553 Mitterwurzer 143 Mitzlaff 343, 379, 387 Mißernte 200, 219 Mob 475 Mode 6, 308, 347, 365, 381 modern 2, 6, 27, 54, 66, 159, 190, 343, 382, 414, 422, 425, 435, 442, 456, 467, 488, 494, 496, 512, 569 Modeseebad 558 Modethorheit 541 Mohr 249, 558 Molière 209 Moltke 7, 88, 95, 98, 115, 132, 149, 223, 240 – 241, 244 – 245, 277 – 278 Monaco 40, 154, 156, 159, 171 Monarch 15, 398 Monarchie 1, 11, 13, 15 – 17, 19, 21, 23, 25, 27, 242 Monrepos 329 Mosel 416– 417 Moselseite 416 Mundart 299, 331 mundartlich 53, 86, 356 Murillo 469 Musik 6, 89, 95, 99, 114, 132, 141, 143, 156, 161, 175, 188, 190, 199, 205, 212, 222, 270, 274, 280 – 281, 292, 325, 342, 345, 347, 352, 360, 369 – 370, 372 – 375, 386, 402 – 404, 414, 416, 434, 451, 473, 500, 506 – 507, 528, 535, 541, 556 Muskau 385, 387 Muskauer 392

Natascha (siehe auch Varnbüler von und zu Hemmingen, Natascha Freifrau von, geschiedene Siemens, geb. Gavriliuk) 3, 11, 266 – 267, 272, 328, 333, 338 – 341, 352, 354, 458, 462, 542, 571 Nation 464, 466 Nationalgalerie 6, 94, 348, 383, 537 Nationalgalerieverein 312 Nationalhymne 273, 396 Nationalität 414 Nauheim 359, 362 Naumburg 56, 91, 299, 447, 460, 525 Neapel 40, 164, 467, 478 – 479, 481, 483, 486 – 487, 493, 499 – 500 Neapolitaner 124, 480 – 481 Neckartal 459 Nesthäkchen 37 Neuenhof 3, 11, 23, 184, 227 – 230, 262 – 265, 323 – 324, 360 – 362, 408, 424, 521, 523, 549 Neuenhöfer 180, 187 – 188, 210, 228 – 229, 262 – 264, 323, 360 – 362, 424, 428 Neuenhöferin 408, 426, 522, 540 Neuerung 14, 71, 376 Neuhaus 336 Neustädles 431 Neustadt 19, 23 – 24, 45, 77, 83, 88 – 89, 118, 177, 179, 209, 260, 333, 569 Neustädter 205, 260 Neustädtles 10 Neuwied 413 Neuzeit 354, 501 Niederlande 566 Niederländer 369, 488 niederländisch 254 – 255, 566 Niko (siehe auch Below, Nikolaus von) 246 – 247 Nimritz 36, 38 – 39, 46, 50, 57, 67, 69, 73 – 74, 77, 83, 86 – 87, 110, 113, 117, 131, 142, 178, 203, 215, 232, 298, 301, 305, 311, 333, 356 Nimritzer 113, 116, 310 Nipperdey 14 – 15, 569 Nizza 154, 156, 165, 168 – 171 Norderney 249 Nordostsee 312 Nordostseekanal 309 Nostitz 378, 381 – 382, 402

Register

591

Nürnberg 58, 99, 326 – 327 Nürnberger 507

östreichischen Oxford 250

Oberforstmeister 59 Oberhofmarschall 393 Oberjägermeister 504 Oberlandstallmeister 26, 80, 144 Oberpfarrer 117 – 118, 127 – 128, 199, 211, 333 Oberpräsident 129, 504 Oberschwaben 217, 375 Obersthofmeisterin 269 Oerlsdorf 2, 4, 24, 143, 320, 395, 543 Oerlsdorfer 2 Offenbach 292 Officier 141, 146, 164, 168, 189, 198, 205 – 207, 211, 214, 242, 246, 251, 288, 369, 413, 420, 422, 432 – 433, 468 Offizier 6 – 7, 10 – 11, 122, 164, 224, 288, 416, 444 Oleg (siehe auch Herman von Wain, Oleg Freiherr) 94 – 95, 97, 101 – 102, 327 – 328, 365, 375, 401, 447, 518 Ompteda 345, 353, 419 Oper 81, 95, 370, 382, 384, 402, 453 Operation 82, 261, 298, 373, 488 Operette 279, 292, 370 Opernhaus 274, 381, 384, 400, 402 Oppersdorf 282 Oppurg 36, 82, 131, 205 Orden 74, 136, 141, 241, 261, 292, 325, 339, 472, 542 Ordensfest 339 Ordensritter 475 Orla 2, 52, 118 Orlabahn 69 Orlamünde 47, 60, 201, 258, 448 Orlamünder 81 Örlsdorf 61, 83, 90, 136, 139, 183, 204, 210, 213, 260 – 261, 265, 297, 299, 334, 355, 357 Örlsdorfer 84 Österreich 281, 455– 456 Österreicher 76, 390, 451, 456, 466 Österreicherin 494 österreichisch 8, 12, 26, 77, 114, 143, 218, 318, 341, 345, 454 – 455, 458, 473, 562 Östreicher 258, 281, 376 Östreicherin 378

Pächter 5, 25, 200, 366, 456 Pächtergenre 400 Pächterhaus 184 Pächtersleute 125 Palais 156, 196, 531 Palast 146, 174 – 175, 277, 469, 496 – 497 Palastdame 271 Palazzo 146, 475, 488, 495, 499 Papst 12, 348, 471, 476, 488 – 490, 494 Papstmesse 488 Paris 149, 156, 251, 365, 404, 516 Pariser 171, 444 Pariserin 156 Parlamentarismus 16, 27, 275 Parsifal 132, 506 – 507 Parsifalvorstellung 506 Pertisau 457 Pesaro 175 Pessin 122, 125, 127 Pessiner 126 Petersburg 3, 246, 401 Pfarrer 11, 31 – 36, 38, 45, 48, 50, 52, 60 – 63, 65, 69, 71, 73, 77 – 78, 80 – 81, 86, 93, 102, 105, 132, 148, 150, 227, 229, 252, 311, 317, 523 Pfarrfrau 52, 61, 80 – 81 Pfarrhaus 32, 34, 50, 52, 60, 89, 107, 109 – 110, 126, 136, 150, 177, 179, 229, 236, 295, 311, 366, 550 Plebs 157, 162 Poellnitz 38 Poessneck 33, 219, 289, 334, 410, 452 Poessnecker 467, 514 Poeßneck 36 Poggio 307 Polen 17, 296 Polin 171, 207 Politik 13, 15, 17, 19, 21, 23, 25, 27, 96, 239, 510, 512 Politiker 24 politisch 2 – 3, 13 – 14, 17, 19 – 22, 26 – 28, 142, 456, 515, 569 Polizist 35, 164, 467 polnisch 149, 386, 400

204

592

Register

Pommern 20, 235, 316 – 317, 502, 512 pommersch 250, 377, 400, 515, 519 pompejanischen 481 Pompeji 219, 482 – 483 Porstendorf 79, 84, 86, 128 – 129, 138, 201 – 202, 204, 543 Porstendorfer 134, 258, 543 Posadowski 272 Pössneck 461 Potsdam 13, 242, 247 – 248, 279, 315, 349, 392, 395, 513 Potsdamer 93, 242 Pourtalès 353, 398 Pößneck 2, 18, 38, 40, 43, 47, 68, 71, 75, 83, 104, 108, 114, 119, 127, 136, 144, 186, 206 – 207, 209, 211, 240, 253, 295, 299, 301, 357 Pößnecker 35, 40, 47, 59, 72, 110, 134, 205, 214 Pracht 167, 174, 182, 222, 225, 300, 336, 470, 473, 488, 491, 517, 529 Präsident 2, 17, 20, 236, 296 Prediger 277 Predigt 9, 35 – 36, 44, 61 – 64, 99, 101, 105, 121, 125, 139, 148, 152, 171 – 173, 178, 231, 238, 273, 282, 317, 324, 351, 364, 381, 394, 426, 557 Prenzlau 37, 49 Preussen 24, 338 Preußen 2, 5, 13 – 16, 22, 24, 36, 47, 53, 95, 142, 242, 269, 290, 338, 341, 400, 558 Preußendiner 69 preußisch 2 – 4, 6 – 7, 12 – 17, 20, 22 – 23, 25 – 26, 47, 51, 96, 115, 235, 241, 318, 344, 346, 351, 385 – 386, 445, 512, 566, 569 Priester 468, 473 – 474, 476, 484, 488 – 489 Prince 161 Princesse 161 Princillon 176 Principe 495 Prinz 15 – 16, 51, 94, 96, 98 – 99, 103, 119, 142, 165, 169, 176, 187, 194, 201, 216, 242, 269, 273, 277, 280, 287 – 288, 338, 343, 348, 351, 378, 382, 387 – 388, 390, 393 – 394, 399 – 400, 402, 422, 439, 444, 509, 526, 555, 557 – 558, 561 – 562, 564 – 566 Prinzenerziehung 564

Prinzess 40, 95, 98, 119 – 120, 134, 168, 176, 225 – 226, 269, 278, 286 – 287, 336, 387, 394, 398, 400, 461, 526, 559, 561 Prinzessin 74, 85 – 86, 95, 98, 119, 156 – 157, 165 – 166, 171, 188, 226, 282, 287, 363, 377, 384, 389 – 390, 394, 400, 418, 422, 428, 461, 525 – 526, 555, 565 Prinzeßchen 321 Prinzlein 321 prinzlich 562 Prittwitz 166, 239, 449, 501, 532, 555, 557, 561 – 564 Prittwitz und Gaffron, Erich von 148, 151 – 152, 157, 165 – 166, 208, 247, 268, 305 – 306, 450, 571 Prittwitz und Gaffron, Friedrich (Fredi) von 148 – 149, 151, 157, 159, 163 – 165, 167, 170 – 171, 241, 245, 306, 450, 501, 532 Prittwitz und Gaffron, Sara von, geb. Hofacker 132, 140 – 141, 147 – 154, 156 – 166, 168 – 175, 224, 235, 239 – 241, 243 – 248, 299, 305 – 307, 363, 401, 449 – 450, 501 – 502, 532, 550 – 551 Privatball 189 Privatbesitz 57, 112, 284, 380, 567, 571 Privatschule 43, 59, 74, 76, 89 Protestant 12, 158, 473 – 474, 498 protestantisch 11, 20, 22, 405, 474, 488 Putbus 3 Puttkamer 373 – 374, 404, 550– 552 Puttkammer 280 Putzar 511 – 512, 515 Putzarer 513, 515 Pyrmont 98, 287 Qingdao 431 Quitzow 121 Radolin 392 Radowitz 12, 195, 243, 270, 288, 340, 346, 462 Radowitzschen 346 Radziwill 282, 387, 398 Raffael 470 Ramsautal 453 Ranis 18, 42, 61, 63, 66, 69 – 70, 75 – 77, 92, 107 – 110, 115 – 116, 129 – 130, 132, 142, 176, 180, 204, 209, 212, 215, 231, 259, 295, 299,

Register

309, 321, 332, 334, 357, 385, 504, 510 – 511, 515, 523 Raniser 113, 129, 212, 258, 297 Rechtsritter 80 Referendar 101, 137, 141, 287, 292, 460 Referendarexamen 549 Reform 22, 27, 61, 569 Reformer 27 Regierung 3, 15, 422, 509 Regierungsdirektor 3, 311 Regiment 6 – 7, 43, 207, 221, 235, 392, 398, 431– 433 Reichskanzler 69, 72, 371 Reichspanier 339 Reichstag 17, 26, 31, 282, 296, 346 Reichstagspräsident 344 Reichstagswahlen 17, 69 Reise 5, 40, 52, 54, 58, 68, 70, 82, 90, 115, 118 – 120, 127, 130, 144, 147 – 148, 160, 173 – 175, 217, 225 – 226, 230, 235, 239 – 240, 245, 250, 255, 259, 261, 265, 289, 301, 304, 322, 324, 326, 328, 359, 379, 396, 403, 441, 456, 462 – 465, 467, 479, 485 – 487, 498 – 499, 501, 515, 519, 521, 527, 536, 544 Reiselust 132, 463, 515 Reisender 139, 416, 464, 499 Reiseplan 181, 225, 422 Renaissance 54, 377, 461, 527 Renaissancebau 493 Renaissancestil 133 Rentier 439 Rentmeister 229 Rentweinsdorf 117, 181 – 182, 216, 290 – 291, 368, 370 Rentweinsdorfer 204, 216, 290, 294, 368 – 369 Residenz 442, 459 Reuß 16, 53, 145, 157, 166, 168 – 170, 173, 179, 444 reußischen 311 Revolution 4, 10, 18, 27, 75 Reymond 343 Rhein 145, 258, 413, 415, 417 Rheinfall 145 Rheingold, Das 254 Rheinländer 416, 440 Rheinprovinz 416 Rheinstrom 417

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Rhönberge 323 Rialto 175 Richthofen 204, 216, 348 Riedesel 262, 522 Ritter 19, 73, 176, 190, 197 – 198, 388, 473, 476 – 477, 490, 526, 562 Ritterblüte 138 Ritterfrau 369 Rittergut 2, 4, 83, 89 Rittergutsbesitzer 37 ritterlich 323, 390 Ritterlichkeit 356, 464, 513, 551, 555 Rittersaal 293, 371 Ritterschlag 71 Rittertag 45 Rom, 12, 100, 172, 249, 301, 403, 461 – 463, 465 – 467, 469, 471 – 473, 475 – 479, 481, 483, 485 – 487, 489 – 491, 493, 495 – 499 Roma 486 Rotenhan 8, 10 – 11, 23, 117, 180 – 184, 187 – 190, 193, 198, 202 – 204, 210, 229 – 230, 239 – 240, 247 – 248, 264 – 265, 270, 279, 287, 289 – 295, 297, 323, 332, 335, 337, 348 – 349, 351, 353, 356, 360, 365, 367 – 368, 370 – 371, 375, 377, 382, 394 – 396, 402, 404, 406 – 408, 412 – 413, 422 – 424, 427 – 428, 460, 462, 476, 478, 490, 494, 497, 503, 522 – 523, 550 Rotenhan, Hermann Freiherr von 3, 23, 183 – 186, 193, 203, 219, 226, 228, 230, 239, 254, 261 – 265, 303, 321, 330, 332, 360, 394 – 395, 406, 408, 421, 423, 427, 503, 523 – 524 Rotenhan, Luise (Wisa) Freifrau von, geb. Freiin von Beneckendorff und von Hindenburg 196, 248, 262 – 265, 275, 353 – 354, 360, 362, 462, 522 – 523, 537, 549 Rotenhan, Margarete Freiin von 11, 117 Rotenhan, Margarethe Freifrau von, geb. Freiin von Erffa 3, 6, 8, 30, 32, 34 – 35, 37 – 38, 40 – 41, 47 – 51, 55 – 58, 60 – 62, 64, 66 – 72, 74 – 76, 78, 81 – 87, 89 – 92, 102, 104 – 105, 108, 110, 116 – 117, 120, 127 – 134, 137 – 141, 143, 176, 179 – 186, 192, 202 – 203, 215 – 217, 219, 228 – 230, 234, 239, 254 – 256, 264 – 265, 274, 295, 310, 321, 323 – 324, 332, 335, 337, 349, 361, 394, 414, 421 – 422, 459, 522, 547, 571

594

Register

Rotenhan, Marianne (Manna) Freiin von, siehe auch Winterfeldt, Marianne von, geb. Freiin von Rotenhan) 189, 197, 293 – 295, 351, 356 – 358, 366, 371, 376, 382, 397, 462 Rothkirch 220, 258 Roßleben 1 – 5, 38, 40 – 41, 44, 68, 86, 116, 138, 194, 203, 215, 230, 266, 297, 299, 355, 359, 361, 447, 525, 533 Roßlebener 61, 74, 177, 220, 295 – 296, 304, 308, 331, 388 – 389, 537 Rubinstein 276, 286 Rüdersdorf 95 Rüdesheim 415 Rüdesheimer 353 Rudi (siehe auch Erffa, Rudolf (Rudi) Freiherr von) 3, 30, 37, 43, 45, 48 – 49, 55 – 56, 58 – 60, 64, 66 – 68, 71, 74, 78 – 79, 81 – 83, 87, 90, 93, 103 – 106, 108, 114 – 115, 119, 128 – 130, 134 – 136, 143, 177, 181, 183, 190, 192, 201, 204 – 205, 208 – 210, 212, 220 – 221, 230 – 231, 237, 239, 250, 254, 260 – 261, 265, 267, 289, 297 – 299, 308, 321, 337, 355, 361, 363, 368, 404 – 405, 407, 441, 446 – 447, 459 – 460, 503, 521, 525, 532 – 533, 535 – 538, 543 – 544, 550, 571 Rudile (siehe auch Erffa, Rudolf (Rudi) Freiherr von) 82 Rudilein (siehe auch Erffa, Rudolf (Rudi) Freiherr von) 115, 231 Rudolstadt 6, 16, 46, 60 – 61, 67 – 68, 74, 78, 83 – 84, 115 – 116, 119, 127, 129, 136 – 137, 140, 177, 180, 200, 202, 206, 213, 217, 226, 233, 238, 254, 257, 265, 302, 335, 337, 402, 461, 526 Rudolstädter 83, 119, 141, 214, 233, 251, 299, 336, 365, 420, 525 Rudolstädtische 59 Russe 4, 150, 158, 194, 536 Russin 149, 163 – 165, 246, 547 – 548 russisch 98, 150, 153, 165, 219, 246 – 247, 307, 401, 414, 521 Saalberge 57, 135, 178 Saalburg 53 – 54, 56 Saale 2, 47, 52 – 55, 67, 82, 90, 117, 127, 133, 135, 239, 249, 256, 258, 398 Saalekreis 7

Saalethal 543 Saalfeld 41, 60, 83, 87, 133, 139, 253, 295, 548 Saalfelder 525 Saalthal 459 Sabina (siehe auch Erffa, Sabina (Sabine) Freiin von) 3, 8, 37, 51, 59, 67, 69, 127 – 128, 131, 138, 143, 172, 178 Sabinchen (siehe auch Erffa, Sabina (Sabine) Freiin von) 85, 129, 212 Sachse 138, 333 Sachsen 2, 7 – 8, 16 – 17, 20, 22 – 24, 36, 66, 86, 95, 142, 164 – 165, 168, 188, 204, 207, 216, 220 – 221, 224, 277, 331, 352, 366, 420, 422, 424 – 425, 429, 439, 448, 504, 569 Sachsenburg 179 Sachsen-Coburg und Gotha 95 sächsisch 333, 484, 528, 564 Salerno 485 Saleske 313, 315 – 317, 320, 515– 516, 519– 520 Salesker 317 Salm 285, 378, 384, 387 – 388, 392, 398, 553, 555 – 556, 559 – 562, 565 – 566 Salon 41, 63, 94, 100 – 101, 149 – 151, 153, 163, 168, 196, 220, 238, 241, 249, 305, 338, 344, 351, 353, 360, 364, 419, 442, 449, 462, 466, 479 Salondame 516 Salonnière 242 Salzburg 450– 451 Salzburger 451 Sara (siehe auch Prittwitz und Gaffron, Sara von, geb. Hofacker) 132, 140 – 141, 147 – 154, 156 – 166, 168 – 175, 224, 235, 239 – 241, 243 – 248, 299, 305 – 307, 363, 401, 449 – 450, 501 – 502, 550 – 551 Savigny 269, 287 Savoy 12, 346 Saxonia 331, 337 Scharfenberg 245 Scharffenberg 269 – 271, 273, 278, 285 Scharlach 72, 194, 224 Scharlachfieber 71 Schaumburg 4, 95, 422, 441 Schaumburgisch 98, 342 Schauspiel 43, 53, 71, 121, 242, 341, 416, 522, 553, 563 Schauspieler 102, 143, 233, 247, 430, 439

Register

Schauspielerin 16, 351, 429, 434, 554 Schauspielertalent 280, 299 Schauspielhaus 197, 350 – 351 Scheidung 232, 266, 373 Scheidungsklage 310 Schimmelschmidt 33, 91, 107 – 108, 137, 233, 309, 333, 407 Schlawe 315, 317, 447, 518 – 520 Schlawer 315 Schlesien 26, 318, 536 Schlesier 561, 564 schlesisch 49, 245, 288 Schleswig 384 Schlettwein 57, 89, 117 Schleusingen 17, 210 Schlieffen 124, 343, 387 Schlippenbach 271, 282, 289, 349 Schloss 2, 4, 8 – 9, 16, 25, 36, 329, 348, 361, 366, 368, 411, 437, 502 Schlotter, Bernhard Friedrich, Pfarrer 33, 35, 51, 53, 58, 78, 89, 131, 179, 311 Schloß 33, 35, 39, 53, 57, 66, 73, 83 – 84, 92, 97, 114, 117, 119, 129, 131, 134, 142, 145, 173, 182, 184, 190, 211, 217, 221 – 222, 226, 274, 292 – 293, 304, 330, 340, 348, 357, 361, 364, 368 – 369, 373, 375, 394, 407, 416 – 417, 436 – 437, 444, 455, 459, 482, 494, 502, 505, 512, 522, 524, 546, 549 – 550, 552 Schlößchen 121, 329 Schorfheide 349 Schott von Schottenstein 79, 140, 239, 449, 501 – 502, 518, 532 Schubert 286, 384 Schule 37, 62, 76, 115, 121, 276, 411, 439 – 440, 448 Schulenburg 86 – 87, 92, 94, 134, 205, 221, 256, 260, 383, 387, 391 – 393, 395 – 396, 401, 525 Schüler 45, 61, 74, 212, 256, 308, 331, 355, 441, 541 Schülerin 41, 49 Schülerstrike 64 Schumann 96, 104, 140, 280, 341 Schwaben 253, 539 Schwabenland 330 Schwäbin 425 schwäbisch 26, 180, 190, 277, 298 Schwarz, Alice, geb. von Wilpert 130

595

Schwarz, Friedrich, Pfarrer 11, 130, 132, 459, 508 Schwarz, Sophie, geb. Freiin von Erffa 11, 130, 508 Schwarza 509 Schwarzathal 509 Schwarzburg 16, 70, 119, 180, 240, 509, 526 Schwarzburger 509 Schwarzwald 502 Schwarzwaldthäler 145 Schweden 347, 466 Schwedin 487 Schwerin 110, 116, 187, 196, 269, 281, 385, 409, 412, 459, 462, 511 – 514, 535, 538, 546, 566 Schwerin, Charlotte Gräfin von 512 Schwerin, Elisabeth Gräfin von 9 Schwerinsburg 515 Schwerinsburger 512 Secession 6, 121, 383, 450 Secessionisten 350 Seckendorf 97, 371 Seckendorff 236 – 237, 289 – 290, 292 – 293 Sedan 59, 89 Sedanfeier 15, 89, 134 Sedanfest 59 Sedanfeuer 260 Sedanstag 325 Selchow 561 – 562 Senzke 120, 122 – 123, 126 – 127 Seydlitz 354, 387, 536 Shandong 431 Silberhochzeit 211, 439, 448, 543 Silberhochzeitstag 544 Simrock 274, 537 Socialdemokraten 17 – 18, 70, 75 socialistischen 373 society 405 Soden 10, 431– 433 Soldat 20, 45 – 46, 56, 146, 162, 208, 218, 288, 374, 417 – 418 Solemacher 107 Solms 125, 194, 196, 286, 288, 344, 388, 392, 553, 555, 562 Sömmerda 38, 56 Sondershausen 361 Sorrent 483, 486 – 487 Sorrento 483

596

Register

Souper 125, 176, 186 – 189, 193 – 196, 207, 212, 214, 221 – 223, 225, 270, 275, 278 – 280, 293 – 294, 343, 345 – 346, 349, 351 – 352, 358, 360, 376 – 378, 386, 390 – 391, 393, 395 – 396, 399, 401, 407, 427 – 428, 433, 436, 438, 513, 525, 531, 534 Sozialdemokraten 346 Sozialdemokratie 18, 27 sozialdemokratisch 3, 17 Spanierin 440, 488 spanisch 69, 261, 489 SPD, 17 Spesshardt 289 Speyer 53, 68, 79 Speßhardt 73, 185, 352, 365, 388, 462, 503, 512, 514, 537, 545 – 546 Speßhardt, Dietrich Freiherr von 73, 352, 514, 537, 545 – 546 Speßhardt, Emmy Freifrau von, geb. Freiin von Erffa 24, 33, 45, 47, 51, 73, 185, 365, 367, 370 – 371, 388, 503, 514, 542, 545 – 546, 562 – 564 Spitzemberg 3, 10, 33, 48, 196, 198, 213, 240 – 242, 245, 247 – 248, 269, 273, 278 – 281, 288, 298, 312, 330, 332, 338, 341, 345, 352 – 354, 372, 375, 377 – 378, 381, 384, 387, 390, 395, 397, 402 – 403, 419, 449, 457 – 458, 461 – 462, 465 – 466, 474, 476, 478, 482, 486 – 487, 490, 493 – 496, 511, 535, 538, 540, 542, 550 – 552, 569 Spitzemberg, Hanna Freiin von 9, 20, 332 Spitzemberg, Hildegard (Higa) Freifrau von, geb. Freiin Varnbüler von und zu Hemmingen 1, 48, 50, 84, 92, 127, 195, 269, 271, 273, 281, 285, 297, 308, 313, 330, 332, 340, 378, 383, 401, 403, 406, 421, 458, 466, 472, 479, 502 – 503, 551 Spitzemberg, Lothar Freiherr von 48 – 49, 94, 97 – 100, 103, 190, 195 – 196, 198, 213 – 214, 220, 238 – 239, 246 – 247, 250, 271, 308, 350, 362, 377 – 378, 381, 398, 401 – 403, 449, 451 – 453, 478, 527, 534, 536, 538– 539 Spitzembergischen 403 Spitzembergschen 551 Staat 14, 26 – 27, 36, 71, 74, 325, 391, 423, 429, 448, 569 Staatsdiner 325

Staatsminister 2, 4, 31, 441 Staatsrat 17, 129, 223, 420 Stadt 5, 43, 54, 61, 66, 118, 122 – 123, 126, 135, 147, 150, 154, 159, 161, 166, 169, 173 – 175, 213, 276, 305 – 307, 317 – 318, 336, 348, 368, 370, 374, 376, 396, 403, 409, 416, 424 – 425, 445 – 446, 451, 461 – 462, 465 – 467, 472, 475, 477, 479, 481 – 483, 485 – 487, 490, 495, 497 – 501, 533, 536, 550, 552, 569 Städtchen 54 – 55, 61, 224 – 225, 300, 310, 410 – 411, 443, 452, 493, 519 Städter 276, 317, 344, 382 Stadthochzeit 240, 550 Stadtleben 6 Stall 128, 248, 329, 345, 359, 519 Stammbaum 420 Stammburg 413 Stammhalter 333 Stammsitz 11, 217 Standesgenossin 514 Stechow 121, 125 Stein von Nord- und Ostheim, Anna Freifrau 33 Stein von Nord- und Ostheim, Fanny Freiin 441 Stein von Nord- und Ostheim, Friedrich (Fritz) 10 – 11, 51, 99, 114, 138, 229, 284, 297, 301, 303, 342, 415, 417 – 418, 430, 571 Stein von Nord- und Ostheim, Maria Freifrau 91 Stein von Nord- und Ostheim, Siegmund Freiherr 91, 502 Stein von Nord-und Ostheim, Sophie Freiin 229, 231, 233, 235, 237 – 238, 301, 303 Stettin 319, 521 Stieglitz 287, 349, 382 Stift 38, 46, 69, 110, 113, 139, 224, 256 Stiftsdame 10, 131, 311, 507 Stöcker, Adolf, Hofprediger 178 – 179, 353, 403, 536 Stockhausen 230, 236 – 237 Stockholm 520 Stockmar 371 Stoecker, Adolf, Hofprediger 178, 353, 403 Stolberg 97, 190, 197 – 198, 242, 269, 280, 340, 343 – 344, 351, 379, 387, 551 Strohgäu 26, 318 Student 45, 94, 212, 276, 292, 416 Studien 4, 12, 135, 147, 334, 382, 419, 498, 527 Studnitz 386

Register

Stutterheim 19, 500, 512, 569 Stuttgart 30, 114, 120, 139, 144, 150, 154, 177, 192, 251, 267 – 268, 271, 298, 328, 330, 492, 571 Stuttgarter 363 Südamerika 75 Suhl 210 Sullivan 370 Sünde 89, 246, 317, 356, 473 Superintendent 62 – 63, 80, 107 – 110, 118, 132, 136, 177, 211, 231, 234, 298, 325, 364, 407, 419 Süßkind 114, 127, 271, 354 Tagelöhner 511 Tagelöhnerbescherung 105, 219 Tagelöhnerkinder 315 Tannhäuser 95, 102, 132, 367 Tanz 8, 46, 76, 124, 194, 214, 237, 278, 292, 342, 344, 352, 367 – 368, 387 – 388, 392 – 393, 407, 525 Tanzbeine 219 Tänzer 10, 125, 176, 194, 200 – 201, 212, 214, 222, 224, 237, 278, 280, 296, 342, 344, 346, 350, 352, 388, 393, 397, 420, 422, 427 – 428, 462, 513, 525 Tanzerei 176, 340 Tänzerin 428 Tanzfest 141, 176, 190, 207 Tanzgelegenheit 186, 392 Tanzkarte 422, 525 Tanzstunde 99, 102, 107, 124, 383, 387, 389, 391, 396 – 397, 435, 437 Teck 164, 330 Tegernsee 90, 457 Telegramm 40, 48, 91, 94, 114 – 115, 131, 205, 214, 238, 293, 296, 311, 315, 359, 407, 536, 549, 563 Telegraphenamt 464 Telegraphenleitung 152 Telephon 243 Tennis 205, 239, 244, 252, 257 – 258, 297, 303, 323, 501 – 502, 548, 557, 559 Theater 66, 95, 124 – 125, 143, 188 – 189, 218, 279, 291, 305, 334, 336, 350, 372, 377, 381, 404, 430, 433 – 434, 439, 495 – 496, 506 – 507, 520, 535, 537, 539, 564 Theateraufführung 401, 461, 557 Theaterbesuch 107, 462

597

Theaterstück 433, 537 Thüringen 20, 26, 52, 75, 336, 407, 412, 448, 477, 523 Thüringer 23, 136, 311, 325, 364, 374, 411, 447, 463, 515, 538 Thüringerlande 36 thüringisch 2, 6, 20, 52, 311, 432, 509 Tiber 495 Tiberstrom 475 Tizian 175 Trautvetter 60, 62, 68, 78, 83, 88, 93, 137, 140, 178, 202, 225 – 226, 233, 303, 333 – 334, 336, 363, 423, 428, 462 Trauung 125, 187, 293, 371, 376, 513, 522 Treitschke 456 Trotha 1, 7 – 10, 38 – 39, 400, 525, 557– 561, 565 Trotha, Wolf von 1, 7 – 10, 492, 525, 559 – 567 Truchseß 290 Tschudi, Hugo von 6, 383 Tsingtau 431 Tutzing 449, 457 – 458 Uexküll 458 Uexküll-Gyllenband 296 Ulan 209, 242, 262, 280, 290, 293, 345, 398, 550 Ulanenregiment 290 Uniform 35, 68, 225, 241 – 242, 293, 398, 433, 489 Unmanierlichkeit 532 Unteroffizierston 539 Unteroffizierton 514 Unterstaatssekretär 188, 279 Urach 330 Urschwaben 277 Urschwäbisch 536 Usedom 96 Uslar 301 Uttenhoven 358 Üxküll 271, 536 Vanselow 409, 412 Varnbühler 25 Varnbüler 3, 10, 12, 26, 31, 33, 37, 79, 114, 127, 140, 144, 241, 243, 247, 276 – 277, 288, 308, 313, 316, 319 – 321, 326, 330, 333, 338, 352, 365, 415 – 416, 449, 462, 544, 547, 569

598

Register

Varnbüler von und zu Hemmingen, Anna Freiin 298 Varnbüler von und zu Hemmingen, Axel Freiherr 3, 26, 48 – 49, 66 – 67, 131 – 132, 235, 240 – 242, 244 – 247, 265, 268 – 269, 274, 288, 297, 312 – 313, 316, 319, 329, 333, 340 – 341, 344, 353 – 354, 362, 395, 397, 401 – 402, 458, 462, 474, 487, 502, 539 – 540, 542, 544, 547 – 549, 571 Varnbüler von und zu Hemmingen, Karl Freiherr 2, 25, 31 Varnbüler von und zu Hemmingen, Natascha Freifrau, geb. Gavriliuk, geschiedene Siemens 3, 11, 266 – 267, 571 Vaterland 13, 26, 72, 318, 385, 417, 451, 501 Vaterlandsliebe 292 Vaterliebe 66 Vaterstadt 146 Vatikan 469, 489, 494 vatikanischen 470 Vaudois 171 Vehra 56 Velasquez 488, 499 Velde 541 Velociped 324 Venedig 172 – 174, 439, 473 Venediger 454 Venezia 174 – 175 Venezianerin 434 venezianisch 79, 175 Verlöbnis 95 Verlobte 11, 116, 204, 224, 234, 279, 375, 390, 511 Verlobung 7 – 8, 10, 71, 93, 97, 105, 117, 136, 140, 167, 180 – 182, 184, 199, 204, 234, 277, 279, 281, 336, 351, 390, 396, 401, 460, 501, 518, 528, 534, 538 – 540, 544 Verlobungsanzeige 567, 571 Verlobungsgeschichte 262, 502 Verlobungstag 203 Verwandte 9, 16, 33, 108, 113, 144, 154, 177, 181, 184, 188, 193, 196, 212, 221, 235, 238, 250 – 251, 328, 338, 366, 371, 377, 379, 402, 413, 418, 424, 429, 431, 449, 474, 501, 508, 514 – 515, 535, 543, 551, 560 Verwandtschaft 10, 166, 211, 423, 512, 542, 551, 560 verwandtschaftlich 183, 256, 259, 303, 510, 521

Vesuv 479 – 480, 482, 484, 487, 517 Veteran 325, 399 Vicenza 174 Viebahn, Hermann von 432 Vierwaldstädter See 98, 145 – 146 Vitzthum 116, 244, 349 Volk 62, 65, 72, 99, 117, 200, 223, 318, 339, 364, 396 – 397, 419, 439, 455, 473 Völkershäuser 431 – 432 Volki (siehe auch Wurmb, Volker (Volki) Freiherr von) 110, 113, 406 – 407, 538, 544 Vollblutpommern 377 Wagenitz 121, 123 – 126 Wagenitzern 123 Wagner 6, 347, 392, 507 Wagnerianerin 506 Wagnerkonzert 347 Wagnermusik 240 Wagnerverehrer 507 Wahl 17 – 18, 69 – 70, 72, 249, 274, 276, 282, 290 Wahlkreis 17 – 18, 70 Wahlrede 69, 210 Wain 217, 375 Wainer 217 Waldeck 98, 287, 525 Waldow 225 Wallenstein 350 – 351, 419 Wangenheim 258, 400, 433, 460, 502, 540 Wannsee 13, 242 – 243 Wanselow 459 Wartburg 184, 262, 360, 522 Wartensleben 41, 220 – 222 Washington 304, 328, 361, 378 Wedel 344 – 347, 349, 352 – 354, 376, 391 – 392, 397 – 398, 400, 402, 425, 428, 489, 551 – 552 Wedell 107, 190, 198, 244, 272, 281 – 282, 285, 287, 289, 424 Wegnern 4, 10, 221, 236, 342, 422, 442, 444, 508 Wegnern, Fanny von, geb. Freiin Stein von Nordund Ostheim 4, 10, 221, 236, 342, 422, 435, 441 – 446, 508, 528, 530 – 531, 533– 534 Wegnern, Luise von 4, 221, 236 – 237 Wegnern, Martin von 4, 221, 238, 342, 422, 441 – 442, 445, 533 Wehrda 138 – 139, 229, 235 – 236, 297, 301, 304, 442, 510

Register

Weib 172, 364, 439, 445, 479, 554 weiblich 39, 61, 76, 205, 218, 227, 412, 426, 441, 460, 462 Weiblichkeit 253, 422 Weidenhammer 34, 107, 128, 130, 135, 176, 181, 204, 212 Weidenhammer, Irene 202 Weihnachten 3, 65, 68, 104 – 105, 143 – 144, 147, 202, 218, 239, 337, 341, 372, 375, 396, 403, 419, 421, 460 Weilheim 458 Weimar 188, 201, 203, 230, 322, 343, 352, 388, 422 – 425, 433, 448, 523 Weimaraner 382 Weimarer 4, 424 – 425, 427, 433 Wenningstädt 558 Wernburg 2 – 3, 5 – 6, 8 – 9, 17, 20, 23 – 26, 31 – 32, 36 – 38, 47, 51, 55, 57, 59 – 60, 62, 70, 95, 103, 112, 120, 127 – 129, 144, 172 – 173, 175, 179, 209 – 210, 227 – 228, 230, 250, 265, 267, 274, 289, 324, 326, 338, 353 – 354, 361, 366, 402 – 403, 415, 418, 459, 483, 502 – 503, 511, 516, 527, 539, 543, 548, 552, 554, 564, 566, 571 Wernburger 2, 5, 24 – 25, 38, 104, 260, 341 Wernigerode 63, 298 Wernstein 9, 79, 90, 92, 182, 357, 505 Wernsteiner 358 Werra 227 – 228, 323, 431, 523 Werrabahn 322 Werratal 360 Werthern 275, 283, 336, 381, 402, 425, 427 – 428, 512 Westerland 60, 552, 557, 559, 562 westfälisch 443, 456 Weyerns 347 Weyhern 389 Wien 3, 91, 273, 461 Wiener 456 Wienerin 91, 559 Wildenbruch 121, 348 Wildenbruchsche 348 Willich 279, 290, 367, 369, 371 Wilma (siehe auch Below, Wilhelmine (Wilma) von) 147, 149, 151, 158, 160, 162, 167 – 168, 313 – 319, 340, 519

599

Winsloe 214 – 215, 274, 365, 412, 509 Winterfeld 189 – 190, 289, 292 – 294 Winterfeldt 193, 197 – 198, 290, 338, 343, 349, 352, 356, 369, 371, 382, 387, 462 Winterfeldt, Marianne (Manna) von, geb. Freiin von Rotenhan 165, 189, 197, 293 – 295, 351, 356 – 358, 366, 371, 376, 382, 397, 462 Wisa (siehe auch Rotenhan, Luise (Wisa) Freifrau von, geb. Freiin von Beneckendorff und von Hindenburg) 196, 248, 262 – 265, 275, 353 – 354, 360, 362, 462, 522 – 523, 537, 549 Woellwarth 503 – 504 Woellwarthschen 144, 252 Wöhlsdorf 128, 181, 376 Wolden 270, 273, 387, 389, 392 – 393, 396, 399 Wolf 1, 7 – 9, 207, 211 – 212, 224, 289, 492, 536, 539, 557, 559 – 567, 571 Wolfersdorf 448 Wolfersdorff 537 Wrede 155 Wurmb 47, 58 – 59, 66, 79, 84, 86, 93, 108 – 109, 111, 113, 128, 135, 176, 179, 201, 203 – 205, 208 – 209, 224, 226, 258, 310, 326, 356, 361, 406 – 407, 425 – 426, 448, 523, 536, 543 Wurmb, Volker (Volki) von 110, 113, 406 – 407, 538, 544 Wurmb, Lothar von 93, 128, 406 – 407, 536 Wurmbschen 108, 176 Württemberg 2, 26, 30, 192, 267 – 268, 492, 571 württembergisch 2 – 3, 26, 31, 80, 144, 326, 330 Würtzburg 369, 371 Würzburg 226 – 227, 459, 502 Wuthenau 466 Zedtwitz 110, 113 – 114, 194, 244 Zedwitz 176 Ziegenrück 2 – 3, 11, 17, 20, 36, 55, 61, 69, 90, 117 – 118, 127, 178, 225, 239, 266, 333, 366, 409, 448, 503 Zieten 116, 124, 187, 196, 269 Zieten-Schwerins 110 Ziethen 385, 399 Ziethenhusaren 398 Zigeuner 48, 124, 314, 345, 370 Ziller, Edda 33, 431