Kanonist, Ordensmann und Gestalter: Festschrift zur Emeritierung von Univ.-Prof. Mag. theol. Dr. iur. Dr. iur. can. Severin Johann Lederhilger OPraem [1 ed.] 9783428586844, 9783428186846

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Kanonist, Ordensmann und Gestalter: Festschrift zur Emeritierung von Univ.-Prof. Mag. theol. Dr. iur. Dr. iur. can. Severin Johann Lederhilger OPraem [1 ed.]
 9783428586844, 9783428186846

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Kanonist, Ordensmann und Gestalter Festschrift zur Emeritierung von Univ.-Prof. Mag. theol. Dr. iur. Dr. iur. can. Severin Johann Lederhilger OPraem

Herausgegeben von

Wilhelm Rees, Herbert Kalb und Christoph Niemand

Duncker & Humblot . Berlin

WILHELM REES, HERBERT KALB und CHRISTOPH NIEMAND (Hrsg.)

Kanonist, Ordensmann und Gestalter Festschrift zur Emeritierung von Univ.-Prof. Mag. theol. Dr. iur. Dr. iur. can. Severin Johann Lederhilger OPraem

Kanonistische Studien und Texte begründet von Dr. A l b e r t M . K o e n i g e r † o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn fortgeführt von Dr. Dr. H e i n r i c h F l a t t e n † o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn sowie von Dr. G e o r g M a y Professor für Kirchenrecht, Kirchenrechtsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Universität Mainz und Dr. A n n a E g l e r Akademische Direktorin i. R. am FB 01 Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Mainz herausgegeben von Dr. W i l h e l m R e e s Professor für Kirchenrecht an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und Dr. C h r i s t o p h O h l y Professor für Kirchenrecht an der Kölner Hochschule für Katholische Theologie (KHKT)

Band 79 WILHELM REES, HERBERT KALB und CHRISTOPH NIEMAND (Hrsg.)

Kanonist, Ordensmann und Gestalter Festschrift zur Emeritierung von Univ.-Prof. Mag. theol. Dr. iur. Dr. iur. can. Severin Johann Lederhilger OPraem

Kanonist, Ordensmann und Gestalter Festschrift zur Emeritierung von Univ.-Prof. Mag. theol. Dr. iur. Dr. iur. can. Severin Johann Lederhilger OPraem

Herausgegeben von

Wilhelm Rees, Herbert Kalb und Christoph Niemand

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, 97222 Rimpar Druck: Druckteam Berlin Printed in Germany ISSN 0929-0680 ISBN 978-3-428-18684-6 (Print) ISBN 978-3-428-58684-4 (E-Book)

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 23. Juli 2023 wird Univ.-Prof. Mag. theol. Dr. iur. Dr. iur. can. Severin Johann Lederhilger OPraem sein 65. Lebensjahr vollenden und mit Ende des Studienjahres 2022/23 seinen aktiven akademischen Dienst an der Katholischen Privatuniversität Linz als Professor für Kirchenrecht und Vorstand des Instituts für Kirchenrecht beenden. Er wird dann auf 30 Jahre fruchtbarer Tätigkeit als Universitätsprofessor an der KTU bzw. KU Linz in Forschung und Lehre zurückblicken können. Darüber hinaus hat Severin Lederhilger wertvolle Dienste für die institutionelle und rechtliche Gestaltung des kirchlichen Lebens und des Ordenslebens sowie in der kirchenrechtlichen und seelsorglichen Beratung geleistet. Fachkolleginnen und -kollegen, Freunde, Schüler und Weggefährten aus der akademischen Welt Österreichs und darüber hinaus sowie Ordensmitglieder nehmen das bevorstehende Ereignis zum willkommenen Anlass, dem hochgeschätzten Jubilar die vorliegende Festschrift zu widmen und ihm mit ihren Beiträgen reiche Glück- und Segenswünsche zu übermitteln. Seine Person und sein Wirken sollen auf diese Weise eine dankende Würdigung erfahren. Die Festschrift trägt den Titel „Kanonist, Ordensmann und Gestalter“. Sie soll zentrale Anliegen widerspiegeln, denen sich Severin Lederhilger in seiner wissenschaftlichen Arbeit und in der Mitwirkung am Leben der Kirche und des Ordens in hohem Maß verpflichtet sieht. So nimmt der Titel, der für den Band gewählt wurde, nicht nur Bezug auf Severin Lederhilgers ertragreiche, forscherische Tätigkeit auf dem Gebiet des kanonischen Rechts der katholischen Kirche, sondern spiegelt auch das Interesse des Geehrten an zahlreichen Bereichen des kirchlichen Rechts, insbesondere der Grundlegung des Kirchenrechts, dem kirchlichen Verwaltungsrecht, dem Verfassungsrecht und Ordensrecht sowie dem kirchlichen Strafrecht wider. Zudem bringt er dessen gestalterische Kompetenz und Aktivitäten als Schlüsselfigur in vielfältigen Bereichen des wissenschaftlichen und kirchlichen Lebens sowie im Ordensleben zum Ausdruck. Der Dank der Herausgeber richtet sich zuerst an die Autorinnen und Autoren, die der Einladung zur Mitarbeit gern gefolgt sind und mit ihren thematisch breit gestreuten Beiträgen die Grundlage für diesen Sammelband geschaffen haben. Ein besonderer Dank gilt Frau Johanna Berger, studentische Mitarbeiterin am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck, für die redaktionelle Bearbeitung. Frau Juliane Kapferer vom selben Institut danken die Herausgeber für die Begleitung des Vorhabens im Sekretariat. Dem Verleger Dr. Florian R. Simon (LL.M.) gilt unser Dank für die Aufnahme der Festschrift in das Verlagsprogramm des Hauses Duncker & Humblot, Berlin. Ge-

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Vorwort

dankt sei auch Frau Norina Stefan vom Verlag für die kompetente Betreuung und gute Zusammenarbeit bei der Herstellung dieses Buches. Nicht zuletzt danken die Herausgeber den Geldgebern, die durch ihre finanzielle Unterstützung das Erscheinen der Festschrift ermöglicht haben. Linz und Innsbruck, am 6. Juni 2023, dem Fest des Hl. Norbert von Xanten

Herbert Kalb, Christoph Niemand, Wilhelm Rees

Inhaltsverzeichnis Zu Leben und Werk von Univ.-Prof. Mag. theol. Dr. iur. Dr. iur. can. Severin Johann Lederhilger OPraem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Macht, Recht und Liebe. Oder: Warum wir das Kirchenrecht brauchen . . . . . . . . .

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About Prof. DDr. Severin Lederhilger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Grundfragen des Kirchenrechts Bernhard Sven Anuth Zum Umgang mit Konflikt und Dissens in der römisch-katholischen Kirche. Eine Bestandsaufnahme aus kirchenrechtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sabine Demel Die kirchliche Vollmacht über die Priesterweihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sabine Konrad Die musikalische Dimension des Kirchenrechts. Die musica sacra als Gegenstand des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ernst Pucher „Leges ab omnibus intellegi debent.“ (CpJCiv., Cod. Justinianus 1.14,9): Nicht nur ein neuer Gratian, auch ein neuer Gasparri, Benedikt XV. und Johannes Paul II. wären nötig! Gedanken zum status iuris in der katholischen Kirche . . .

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Thomas Schüller Kirchenrechtliche Konfliktkultur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Kirchliches Verfassungsrecht Rüdiger Althaus Die „Fülle des Weihesakramentes“. Dogmatischer Anspruch und kirchenrechtliche Wirklichkeit des Bischofsamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Heribert Hallermann Der Notar – Ein Kirchenamt mit Defiziten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Christoph Lauermann Überblick über das Partikularrecht der Diözese Linz im Jahr 2022 . . . . . . . . . . 149

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Inhaltsverzeichnis

Thomas Neumann Kollegialität als Leitungsmodell? Kirchenrechtliche Perspektiven für Machtverteilung und Partizipation in der Pfarrei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Szabolcs Anzelm Szuromi OPraem Old and new emphases in seminarian and religious education . . . . . . . . . . . . . . 195 Ewald Volgger OT Der liturgische Eigenkalender als Teil des Partikularrechtes der Diözese Linz und der Identität einer Ortskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

III. Ordensrecht Thomas Handgrätinger OPraem Norbertine Identity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Yves Kingata Präzisierungen zum Entlassungsprozess im kirchlichen Gesetzbuch: Die Änderung des c. 695 § 1 CIC durch das Motu proprio Recognitum librum VI . . . . . . 247 Martin Krutzler OCist Ecclesia semper reformanda est. Jüngste Entwicklungen im Ordensrecht . . . . . 257 Matthias Pulte Vermögensaufsicht im Rahmen von Visitationen im Bereich des Ordensrechts

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IV. Kirchliches Strafrecht und Prozessrecht Frans Daneels OPraem Il riferimento al c. 1348 come asserita base legale per la sospensione amministrativa non penale nella giurisprudenza della Segnatura Apostolica . . . . . . . . . 295 Wilhelm Rees Neuerung und Veränderungen im ersten Teil „Straftaten und Strafen im Allgemeinen“ des revidierten Buchs VI „Die Strafbestimmungen in der Kirche“ des Codex Iuris Canonici . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Martin Rehak „Qui sibi devincit minorem“ Erwägungen zum Grooming-Tatbestand in c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Karl-Heinz Selge Das Seepferdchen im kirchlichen Ehenichtigkeitsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

V. Interreligiöses/ökumenisches Recht und Religionsrecht Burkhard Josef Berkmann Ambivalenz des Rechts und ambivalente Einstellungen zum Kirchenrecht: Evangelische und katholische Ansätze im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 379

Inhaltsverzeichnis

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Manfred Eder Pfarrer Franz Joseph Mahr vor Gericht (1873) und im Gefängnis (1874). Ein grelles Schlaglicht auf die Kulturkampfzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Andreas E. Graßmann Grundlagen des Dialogs der kirchlichen Rechtsordnung mit andersreligiösen und staatlichen Rechtsordnungen in der postsäkularen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . 441 Herbert Kalb Sterben in Würde: Assistierter Suizid. Rechtliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Gerlinde Katzinger Die Ukrainische Griechisch-Katholische Seelsorgestelle St. Markus in Salzburg. Historische, kanonistische und pastorale Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Andreas Kowatsch Religionsrechtliche Fragen der Krankenhausseelsorge in Österreich . . . . . . . . . 517 Richard Potz und Brigitte Schinkele Religions- und Kunstfreiheit während der Corona-Pandemie. Überlegungen aus Anlass des VfGH-Erkenntnisses V 312/2021 vom 30. Juni 2022 . . . . . . . . . . . . 553 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587

Zu Leben und Werk von Univ.-Prof. Mag. theol. Dr. iur. Dr. iur. can. Severin Johann Lederhilger OPraem Severin J. Lederhilger, Prämonstratenser Chorherr des Stiftes Schlägl, Professor für Kirchenrecht und Vorstand des Instituts für Kirchenrecht an der Katholischen Privat-Universität Linz sowie Generalvikar der Diözese Linz und Beigeordneter Gerichtsvikar/Vizeoffizial des Linzer Diözesangerichtes, wurde am 23. Juli 1958 in Lenzing, einer Marktgemeinde im oberösterreichischen Bezirk Vöcklabruck im Hausruckviertel, geboren. Nach dem Besuch der Volksschule Lenzing und des Gymnasiums der Kamillianer in Losensteinleiten studierte er ab 1976 Rechtswissenschaften an der Johannes Kepler Universität Linz (JKU), wo er 1980 zum Dr. iur. promoviert wurde, sowie von 1981 bis 1986 Katholische Theologie in Linz und München (Mag. theol.). Von 1978 bis 1981 war er Assistent am Institut für Römisches Recht der JKU und absolvierte in dieser Zeit auch ein Gerichtspraktikum. Am 28. August 1982 trat er in das Prämonstratenser-Chorherrenstift Schlägl ein (Profess 1983/ 1986), sodass Herr Severin, wie man ihn dort nennt, neben seiner langen wissenschaftlichen Tätigkeit auch auf mehr als vierzig Jahre Ordenszugehörigkeit zurückblicken kann. In den Jahren 1986 bis 1988 war der Jubilar Religionslehrer (Landwirtschaftliche Fachschule Aigen/Schlägl; Hauptschule Ulrichsberg) und Pfarrseelsorger (Ulrichsberg), nachdem er am 8. Juni 1987 von Bischof Dr. h.c. Maximilian Aichern OSB (1982 – 2005) zum Priester geweiht wurde. Das Interesse am kirchlichen Recht und die Liebe dafür führten Lederhilger in den Jahren 1988 bis 1991 zum Studium des Kirchenrechts an das Institutum Utriusque Iuris der Päpstlichen Lateranuniversität nach Rom, wo er 1990 das Lizentiat (Lic. iur. can.) und 1991 das Doktorat des kanonischen Rechts (Dr. iur. can.; Dissertation: Das „ius divinum“ bei Hans Dombois) erwarb. Sehr bald richteten die Diözese Linz und ihr Bischof das Augenmerk auf den im kirchlichen Recht exzellent ausgebildeten und hochkompetenten Kanoniker des Prämonstratenserordens aus Stift Schlägl. So wurde Lederhilger durch Bischof Aichern im Jahr 1990 zum Richter am Diözesangericht Linz ernannt. 1991 erfolgte die Ernennung zum Bischöflichen Gerichtsvikar der Diözese Linz, d. h. zum Offizial (Präsident) des Diözesangerichtes Linz, und ebenso zum Rechtsreferenten im Bischöflichen Ordinariat Linz, verantwortungsvolle diözesane Ämter, die er bis 2013 innehatte. In den Jahren 1991 bis 2005 war er Mitglied der Ökumenischen Kommission der Diözese Linz und im Rahmen der Evangelisch-Katholischen Theologischen Kommission maßgeblich an der Ausarbeitung des Gemeinsamen Wortes für die Evangelische und Katholische Kirche Oberösterreichs (2017) beteiligt. Seit 1992 ist er Vi-

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zepostulator in der Seligsprechungs-Causa „Bischof Franz Joseph Rudigier“ (7. April 1811 – 29. November 1884). Mit der Eröffnung des Seligsprechungsprozesses für Franz Jägerstätter im Jahr 1997 übernahm er die Funktion des Bischöflichen Untersuchungsrichters in dieser Causa (Seligsprechung 2007). Lederhilger war im Diözesanverfahren „super miro“ für Anna Schäffer (Seligsprechung 1999; Heiligsprechung 2012). Seit 1994 ist Lederhilger Mitglied im Priesterrat der Diözese Linz, dessen Stellvertretender Sprecher er von 1996 bis 1998 war, seit 1998 auch Mitglied im Erweiterten Bischöflichen Konsistorium der Diözese Linz (seit 2005: Geschäftsführender Vorsitzender). Von 1994 bis 2005 war er Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Österreichischer Priesterräte. In den Jahren 2003 bis 2005 hatte er das Amt des Stellvertretenden Generalvikars der Diözese Linz inne. Am 18. September 2005 wurde er vom damaligen neuen Diözesanbischof Dr. Ludwig Schwarz SDB zum Generalvikar der Diözese Linz ernannt. Mit 1. Oktober 2006 datiert seine Ernennung zum Ehrenkanonikus des Linzer Domkapitels. Im Jahr 2014 wird er Vizeoffizial des Diözesangerichtes Linz. Nachdem Bischof Dr. Manfred Scheuer mit 17. Januar 2016 die Leitung der Diözese Linz übernommen hatte, erfolgte mit gleichem Datum auch Severin Lederhilgers Ernennung zum Generalvikar der Diözese Linz. Bereits am 29. Juni 1995 war die Ernennung zum Geistlichen Rat, am 24. Dezember 1998 zum Konsistorialrat durch Bischof Maximilian Aichern erfolgt, am 1. Oktober 2006 jene zum Ehrenkanonikus des Linzer Domkapitels. Am 17. Juni 2017 wurde Lederhilger in den Ritterorden vom Hl. Grab zu Jerusalem aufgenommen. Maßgeblich und gestalterisch hat Lederhilger mit seinem Rat am Diözesanen Zukunftsprozess 2008 – 2015 der Diözese Linz mitgewirkt. Seit 2003 ist Lederhilger Firmspender in der Diözese Linz. Er hat zahlreiche Eheverfahren, Laisierungsverfahren und Strafverfahren im Kontext der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs geführt. Die Laufbahn als Universitätslehrer begann im Jahr 1991 mit der Übernahme von Lehraufträgen an der Katholisch-Theologischen Hochschule Linz (KTHL). 1993 wurde Lederhilger an dieser Hochschule zum Ordentlichen Professor für Kirchenrecht ernannt. Seitdem ist er auch Vorstand des gleichnamigen Instituts. In den Jahren 1998 bis 2002 leitete er die KTHL für zwei Amtsperioden. Herausragend dabei: Im Milleniumsjahr 2000 erreichte Rektor Lederhilger ihre Akkreditierung als Österreichs erste Privatuniversität. In der Folge führte sie den Namen Katholisch-Theologische Privat-Universität Linz (KTU Linz). Sie heißt seit 2015, als zur Fakultät für Theologie auch eine eigenständige Fakultät für Philosophie und für Kunstwissenschaft hinzukam, nunmehr Katholische Privat-Universität Linz (KU Linz). Dieser „seiner“ Hochschule bzw. Universität blieb Lederhilger bis zur Emeritierung, die mit Ende des Studienjahres 2022/23 ansteht, treu. Er diente ihr vor, während und nach seinem Rektorat auch in vielen weiteren Funktionen mit großem Einsatz. Von 1995 bis 2005 war Lederhilger Redaktionsmitglied der von den Professorinnen und Professoren der KU Linz herausgegebenen „Theologisch-praktischen Quartalschrift“, die sich als Bindeglied zwischen theologischer Wissenschaft und kirchlicher sowie gesellschaftlicher Praxis versteht. Er ist Mit-Initiator der 1999 erstmals veran-

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stalteten Ökumenischen Sommerakademie Kremsmünster, die er seit damals im Verein mit einem ökumenisch breiten Team jährlich aufs Neue konzipiert und begleitet. Die mittlerweile 23 Tagungsbände hat allesamt er redigiert und herausgegeben. 2002 bis 2006 war Lederhilger Pro-Rektor. 2015 wählte ihn seine Kurie zum Mitglied des Fakultätskollegiums der Theologischen Fakultät und in den Universitätssenat der KU Linz. Nachhaltig und tiefreichend prägte Lederhilger das alltägliche Leben und Wirken der Hochschule bzw. Privatuniversität über all die Jahre, indem er – geduldig und uneigennützig – viele ihrer Regelungstexte, Geschäftsordnungen und Statuten ausgearbeitet und formuliert hat, bevor sie in den zuständigen Gremien beschlossen und vom Großkanzler bzw. den vatikanischen Behörden approbiert wurden. Es ist ein wesentliches Verdienst des Jubilars, wenn die KU Linz in statutarischer Hinsicht heute sehr solide aufgestellt ist. Die Studierenden schätzen Severin Lederhilgers Vorlesungen und Seminare, in denen er das Fach Kirchenrecht in ganzer Breite vorführt und vermittelt. Seine Lehre gilt als Interesse weckend, gleichermaßen informierend wie inspirierend und nicht selten auch als unterhaltsam. Einige junge Kanonisten hat er zur Promotion geführt, einer davon ist selbst Universitätsprofessor, ein weiterer Bischof geworden. Im Sinne der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses erweist sich Lederhilger auch immer wieder als guter Gastgeber der Kanonistischen Kolloquien im Stift Schlägl. Doch auch über die KTU Linz bzw. KU Linz hinaus war Severin Lederhilger in der Lehre tätig: Von 1994 bis 2005 dozierte er das Fach Kirchenrecht an der Religionspädagogischen Akademie der Diözese Linz, heute Teil der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz, der die Aus-, Fort- und Weiterbildung der Pädagog:innen und Religionslehrkräfte übertragen ist. Im Jahr 1997 hatte er die Lehrstuhlvertretung Kirchenrecht an der Universität Regensburg inne. Im Wintersemester 2018/19, nach dem Ausscheiden von Univ.-Prof. Ludger Müller, wurde ihm ein Lehrauftrag an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien übertragen. Am St. Norbert College, DePere (Wisconsin/USA), hielt er – als „Norbertine Visiting Fellow“ – im Herbst 2003 Gastvorlesungen. Die gründliche und viele Bereiche umfassende Forschung – mit den Schwerpunkten Verwaltungsrecht der (katholischen) Kirche, Verfassungsrecht der Kirche (darunter Strukturentwicklung von Diözesen), Ordensrecht (insbesondere Erneuerung von Konstitutionen) und Kirchenstrafrecht (hier vor allem in Fällen von sexuellem Missbrauch Minderjähriger) – brachte zahlreiche Publikationen hervor, wie die Bibliographie am Ende der Festschrift zeigt. Lederhilger absolvierte Forschungsaufenthalte an Colleges und Abteien zu klösterlichen/kanonischen Regeln in Rom, Belgien und in den USA (Philadelphia, Los Angeles, DePere). Severin Lederhilger war auch seitens der Österreichischen Bischofskonferenz ein gefragter Experte. So berief ihn diese im Jahr 1994 zum Mitglied der Österreichischen Theologischen Kommission der Österreichischen Bischofskonferenz, zu dessen Stellvertretendem Vorsitzenden er im Jahr 2002 gewählt wurde. Im Jahr 2004

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erfolgt die neuerliche Betrauung bis 2014. Er arbeitete in mehreren Arbeitsgruppen mit, u. a. zur Vorbereitung der „Rahmenordnung für die katholische Kirche in Österreich – Maßnahmen, Regelungen und Orientierungshilfen gegen Missbrauch und Gewalt: Die Wahrheit wird euch freimachen“ aus den Jahren 2010, 2016 und 2021, zum „Wegweiser zur Führung der Pfarrmatriken“ (2010) und für die „Option zeitgemäße Strukturen“. Zahlreiche Funktionen übernahm der Geehrte für den Prämonstratenserorden. So war er 1988 Notar des Generalkapitels des Prämonstratenserordens in Steinfeld (D), fungierte von 1994 bis 2005 als Zirkarie-Sekretär des Vikars des Generalabtes für die deutschsprachige Zirkarie, einem Visitations- und Verwaltungsbezirk im Prämonstratenserorden, und war im Jahr 2000 Peritus (Kirchenrecht) am Generalkapitel OPraem in Rom. Von 2000 bis 2006 war Lederhilger Mitglied im Definitorium des Prämonstratenserordens, dem Internationalen Ratsgremium für den Generalabt, 2004/05 Visitator des Ordens für bestimmte Gemeinschaften in Australien, USA, Italien und Ungarn, nachdem er diese Aufgabe bereits 1991 für Indien übernommen hatte. 2017 wurde er zum Visitator des Ordens in den USA (CA) und 2009/10 zum Visitator des Ordens für Irland bestellt. Bereits 2009 war Lederhilger zum Praeses der (Internationalen) Juridischen Kommission des Prämonstratenserordens ernannt worden, wozu er 2013 und 2019 wiederbestellt wurde. Seit 1990 war er bereits Mitglied der Juridischen Kommission des Prämonstratenserordens. Seit Sommer 2018 ist er Definitor (d. h. Mitglied des Leitungsgremiums) im Generalkapitel des Ordens in Rolduc/NL. Im Jahr 2018 und erneut 2022 erfolgte die Wahl ins Consilium Abbatis (Abtrat) des Stiftes Schlägl. Darüber hinaus wird Lederhilgers ordensrechtliche Beratung mit Blick auf Konstitutionen, Satzungen und Statuten auch von nicht wenigen anderen Orden und Kongregationen geschätzt. Zahlreiche Mitgliedschaften prägen das Leben Severin Lederhilgers und bringen nicht nur seinen Einsatz in ganz unterschiedlichen Bereichen zum Ausdruck, sondern zeigen auch die Wertschätzung, die ihm entgegengebracht wird. Er ist seit 1997 Mitglied der Associatio Winfried Schulz (heute: Deutsche Gesellschaft für Kirchenrecht), seit 1998 Mitglied der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie, seit 1999 (bis 2017) Mitglied im Erweiterten Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Kirchenrecht, seit 2003 auch Mitglied der Österreichischen Gesellschaft für das Recht der Ostkirchen und darüber hinaus Mitglied des Komitees der Stiftung Pro Oriente (Sektion Linz), seit 2010 ebenso Mitglied der Consociatio Internationalis Studio Iuris Canonici Promovendo und seit 2012 Mitglied im Religionsbeirat des Landes Oberösterreich sowie seit Oktober 2017 Vorstandsmitglied im Katholischen Pressverein der Diözese Linz und Mitglied der Österreichischen Gesellschaft für Recht und Religion. Bereits 2006 wurde der Jubilar zum Mitglied des Hochschulrats der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz (PHDL) ernannt. Am 17. Juni 2017 erfolgte seine Aufnahme in die Linzer Komturei des Ritterordens vom Hl. Grab zu Jerusalem. 2022 wurde er zum Stellvertretenden Vorsitzenden des Hochschulrates der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz

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(PHDL) gewählt. Lederhilger hat sich in zahlreichen Projekten unterschiedlicher Einrichtungen mit großem Einsatz und breitem Wissen engagiert. In Würdigung seiner verdienstvollen Tätigkeiten, die sich neben dem kirchlichen und ordensinternen Feld auch auf den wirtschaftlichen, sozialen und zivilgesellschaftlichen Bereich erstrecken, erhielt Lederhilger am 24. März 2003 das Silberne Ehrenzeichen des Landes Oberösterreich durch den damaligen Landeshauptmann Dr. Josef Pühringer überreicht. Severin J. Lederhilger ist nicht nur ein exzellenter Theologe und Kanonist, Ordensmann und Gestalter. Er ist auch ein Intellektueller alter Schule. Für ihn gilt „Lesen ist Leben“, eine „narrative Resonanz“, die sich auch in seinen – oftmals brillanten – Predigten widerspiegelt. Lieber Severin, gebe Gott, dass deine Freundschaft, dein Engagement und deine frohe Schaffenskraft uns – und vielen – noch lange erhalten bleiben! Herbert Kalb, Christoph Niemand und Wilhelm Rees

Grußwort

Es ist mir eine Ehre und große Freude, mich anlässlich der Emeritierung von Univ.-Prof. Mag. theol. Dr. iur. Dr. iur. can. Severin Johann Lederhilger OPraem an die Glück- und Segenswünsche sowie die Ehrerbietungen von vielen Seiten anschließen zu dürfen. Neben den vielen Ämtern, die Herr Severin innehat, und den vielen Aufgaben, denen er sich widmet, möchte ich ihn besonders als Mitbruder und Regularkanoniker des Stiftes Schlägl grüßen. Wir haben uns als Studenten in Rom kennengelernt, als wir beide damals Kirchenrecht, wenn auch an verschiedenen Universitäten, studiert haben. Es lag daher auf der Hand, dass Herr Severin nach diesem Studium und seiner intensiven Ausbildung gebeten wurde, Mitglied der Juridischen Kommission unseres Ordens zu werden, einer Kommission, dessen Vorsitzender er jetzt ist. Herr Severin hat sich über die Jahre eine breite Expertise aufgebaut. Es gibt wohl kaum einen Bereich des kanonischen Rechts, in dem er nicht eine breite Kenntnis und vielfältige Praxis besitzt, die er an Studierende, die Diözese Linz und zahlreiche andere kirchliche und weltliche Einrichtungen weitergibt. Er ist mit den Feinheiten des Rechts der Katholischen Kirche und des Rechts unseres Ordens bestens vertraut. Trotz seiner Fachkompetenz oder gerade wegen dieser ist Herr Severin immer offen und bereit, sich die Argumente der anderen Kommissionsmitglieder anzuhören und mitzuüberdenken, sodass eine Sitzung weithin oft einem Seminar gleicht, in dem wir gemeinsam zu einem Ergebnis kommen. Herr Severin hat seinen Mitbrüdern und dem Prämonstratenserorden bei vielen Gelegenheiten den Weg der richtigen Rechtsanwendung in konkreten Fällen gezeigt. Er tut dies auf eine ernsthafte, aber stets freundliche Art, oft mit einer humorvollen

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Grußwort von Generalabt Jos Wouters

Note. Wie viele andere hoffe ich, noch lange auf seine Expertise zählen zu können. Ich schließe mich daher dem Dank vieler Menschen an Herrn Severin und der würdevollen Ehrung durch diese Festschrift zum Abschluss seiner akademischen Laufbahn an. Ad multos annos! Jos Wouters, OPraem, Generalabt

Macht, Recht und Liebe Oder: Warum wir das Kirchenrecht brauchen Der nationalsozialistische Staat hatte den Rechtsstaat fundamental pervertiert. Der Staat und das organisierte Verbrechen waren identisch geworden. Ein Staat, der nicht durch Gerechtigkeit definiert wäre, wäre nur eine große Räuberbande (Augustinus)1. Es braucht ein neues Nachdenken über die Bedeutung des Rechts für die Humanität, des Rechtsstaates für ein friedliches Zusammenleben und für das Gemeinwohl. Natürlich kann der Buchstabe des Gesetzes töten. Die Zuspitzung des Rechts kann zum größten Unrecht werden. Summum ius – summa iniuria! Aber das Gegenteil von Recht ist nicht die Freiheit und auch nicht die Liebe, sondern das Unrecht, die Barbarei, die Willkür und die Unterdrückung. Kommunikation und Kooperation im Hinblick auf Gerechtigkeit müssen in einer Sackgasse enden, wenn es nur noch parteiische Standpunkte gibt und damit Lösungen von Unrecht eo ipso neues Unrecht bringen. Der Preis dieser Skepsis ist die Auflösung jeder belangvollen Form von Gerechtigkeit. Die Frage nach Recht und Unrecht würde in der Folge ähnlich der Frage nach dem Wetter eine Position des Geschmacks und der Laune. Die Unterscheidung zwischen Humanität und Barbarei, zwischen sittlichen Prinzipien und verbrecherischen Grundsätzen würde dann auf der Ebene der bloßen Emotion oder des Durchsetzungsvermögens liegen.2 Wenn in der Nacht alle Kühe schwarz erscheinen, d. h. wenn alle Religionen, Ideologien und Moden ohnehin gleichgültig sind, dann gibt es auch keine Anwälte für Menschenrechte und für Menschenwürde.3 Es wäre fatal, wenn Recht zu bekommen zu einer Frage der Macht und des Geldes verkommen würde. Rechtskultur und Rechtsstaatlichkeit sind eine Zukunftsfrage für unsere Gesellschaft. Es ist die Aufgabe der Politik, ökonomische und auch wissenschaftliche Macht (Francis Bacon: Wissen ist Macht) unter das Maß des Rechtes und der Gerechtigkeit zu stellen und so ihren sinnvollen Gebrauch zu ordnen. Nicht das Unrecht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts muss gelten. Macht in der Ord-

1

„Remota itaque iustitia quid sunt regna nisi magna latrocinia?“ (Augustinus, De civitate Dei IV,4: CCL 47,102). 2 Vgl. Georg W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (WW 7, ed. Glockner), S. 19 – 37. 3 Georg W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (Theorie Werkausgabe Bd. 3, 22).

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Grußwort von Bischof Manfred Scheuer

nung und im Dienst des Rechtes ist der Gegenpol zur Gewalt, unter der wir rechtlose und rechtswidrige Macht verstehen.4 Macht, Recht und Liebe Die „Mächtigen“ und „Autoritäten“ gelten oft als sehr weit weg von den gewöhnlichen Menschen. Diese negative und kritische Einschätzung der Macht und der Mächtigen hängt oft mit massiven Erfahrungen des Missbrauchs von Macht zusammen. Formen dieser Übermacht sind Zwang und Gewalt, wenn der Starke den Schwächeren drückt und erdrückt ohne irgendwelche Beziehungen zu Recht und Güte. Macht in der Form der Gewalt und des Unrechts führt zur Erstarrung, zur Kälte. Das Lebendige, das Schöpferische, das Persönliche werden erdrückt und eingekerkert. Eine andere Form der Übermacht heißt Feindseligkeit: Leben ist nicht auf Geschenk und auf Güte und Versöhnung, sondern auf Kampf eingestellt. Macht gilt als suspekt. Macht korrumpiert. Gegen sie muss man sich schützen. Aber: Die Kritik an der Autorität allein ist noch nicht rational. Nicht gesehen wird bei diesem fundamentalen Verdacht der Autorität gegenüber, dass es auch eine „Machtausübung der Machtlosen“ gibt. Wer bekommt durch Ächtung oder Kriminalisierung von Macht und Autorität denn de facto die Macht zugespielt? Der Verzicht auf Macht kann ein Mittel sein, eine andere durchzusetzen. Manche entwickeln eher Mitleid mit sich selbst als Empathie für andere. Es gibt gar nicht so wenig Wehleidigkeit, das Verliebtsein in die eigene Traurigkeit, das lähmende Ressentiment, den „vittimismo“, das Zelebrieren des eigenen Opferstatus, um nicht Verantwortung für andere wahrnehmen zu müssen. Nicht den Leidenden an sich darf schon alle Macht gegeben werden, nicht das Leid selbst ist schon automatisch die Wahrheit. Gerade da braucht es die „Unterscheidung der Geister“: Welche Macht dient der Ermächtigung zum Leben, welche der Überwindung des Leidens? Was gibt den Leidenden und Opfern Würde und Hoffnung? Und wo ist die Ohnmacht der Weg der Freiheit, der Liebe und der wirklichen Beziehung? Soziale Gerechtigkeit ist nicht alles, sie muss umfangen bleiben von Liebe und Barmherzigkeit. „Wenn wir nur die Gerechtigkeit predigen, können wir zu unmenschlichen Aktivitäten kommen. Es gibt nichts Menschlicheres – gerade weil es von Gott kommt – als die frei geschenkte Liebe. In der Beziehung zwischen Gerechtigkeit und geschenkter Gnade, zwischen Prophetie und Kontemplation liegt der große Weg, um zu sagen: ,Dein Reich komme‘.“5 Gerechtigkeit ohne freie Gnade wird zum rigorosen Fanatismus, zum Terror und zur Gewaltherrschaft. Die konturund profillose Rede von Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit hingegen sanktioniert bestehende versklavende Unrechtsverhältnisse und verrät die Liebe. Die Gerechten 4 Vgl. dazu: Joseph Kardinal Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg i. Br. 2005, S. 29 f. 5 Gustavo Gutierrez, Bartolomé de las Casas und die Evangelisierung Lateinamerikas, in: Thomas Eggensberger/Ulrich Engel, Bartolomé de las Casas. Dominikaner, Bischof, Verteidiger der Indios, Mainz 1991, S. 134.

Macht, Recht und Liebe

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sind beim Gericht jene, die den Hungernden zu essen geben, den Durstenden zu trinken, die Nackten bekleiden, Kranke und Gefangene besuchen, Obdachlose aufnehmen (Mt 25,31 – 46). Die „größere“ Gerechtigkeit Jesu gibt sich auch nicht mit dem Schuldspruch der anderen, der Sünder zufrieden. In der am Kreuz zugespitzten Feindesliebe zeigt er die Bereitschaft zur Versöhnung, sagt er Vergebung zu. Er leidet gewaltfrei die Verleiblichung von Bosheit aus, worin sich der Bund Gottes mit dem Menschen unwiderruflich verwirklicht. Generalvikar Univ.-Prof. DDr. Severin Lederhilger OPraem hat in den vergangenen Jahrzehnten dem Kirchenrecht ein theologisches Profil und ein menschliches Gesicht gegeben. Dabei waren es oft sehr wenige an den Theologischen Fakultäten und auch in der Pastoral, die wie er eine Sensibilität für die christliche und humane Bedeutung des (Kirchen-)Rechts entfalteten. Ein „Machthaber“ wie ein Generalvikar und ein Kirchenrechtler hat oft mit Unverständnis und auch mit Gegenwind zu kämpfen. Ich danke „meinem“ Generalvikar für die Ausübung seines Amtes im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils: Kirchliche Strukturfragen haben ja keinen Selbstzweck, sondern sollen helfen, dass die Kirche deutlicher Sakrament, d. h. Zeichen und Werkzeug der Gemeinschaft mit Gott und der Menschen untereinander, sein kann (LG 1). Ich gratuliere DDr. Severin zum 65. Geburtstag und der damit verbundenen Emeritierung und erbitte für ihn Gottes Geist und Segen. Bischof Manfred Scheuer, Linz

About Prof. DDr. Severin Lederhilger It was in August 2006 when I met Univ.-Prof. DDr. Severin Lederhilger in his office for the first time. By then I was a priest from the Archdiocese of Dar es Salaam Tanzania, and I arrived in Austria for further studies. I had to report to him since he was a Vicar General and University Professor of Canon Law at the Catholic Theological University in Linz (KTU). He welcomed me with a good heart in his office. That day I disclosed to him my desire to take Doctoral Program at KTU, and I asked him to be my Professor (Supervisor) and he accepted. Since I didn’t know German language, he told me to take a language course, and after getting a Certificate, then I can register myself at KTU for studies. I was assigned to stay at Grieskirchen parish, where I met a friendly Parish Priest called Johann Gmeiner. I took a language course at Johannes Kepler University – Linz, and after getting a certificate of German language in 2007, I registered myself at KTU, where I began my Doctoral Program under the supervision of Prof. DDr. Severin Lederhilger. I remember very well that my Professor DDr. Severin Lederhilger at the beginning of my Doctoral Program, he gave me a book to read and he told me that after finishing reading it I should come to his office for discussion. Not knowing I was being tested, I read the book within a week and made summary of it and then I went back to his office for discussion. After discussion, he gave me another book to read, and after one week I went to him with my summary for discussion. He then gave me a third book to do the same. After a week I went to him with the summary of the book for discussion. That day he said: “Now I have proved that we can work together”. Prof. DDr. Severin Lederhilger was indeed a good Professor. I attended his lectures and he was very good in lecturing. By then I was the only student who was taking a Doctoral Program in Canon Law. He gave me several themes to prepare as seminars. I tried my best to write on those themes and submitted to him for discussion. When the time came for me to write my Dissertation, Prof. DDr. Severin Lederhilger told me to choose a topic. I was interested in writing about Canonical Marriage, but he told me that it was too general and many people have written about it. He advised me if I could write something about marriage in my home-country Tanzania. So I decided to write about Marriage Consent in my tribe, and he accepted my proposal. The heading of my Dissertation was “Determination to Marriage and Matrimonial Consent: Force and Fear (c. 1103) in the Context of Tribal Customs of Chagga in Tanzania”.

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About Prof. DDr. Severin Lederhilger

Prof. DDr. Severin Lederhilger was very strict but helpful and cooperative in supervising a scientific work. As I was writing my Dissertation, the first chapter I had to re-write it several times. When I went to his office, he received me with great love, and he used to put everything aside and listened to me. We had always a very good atmosphere during the discussion of my work of Dissertation. Prof. DDr. Severin Lederhilger was indeed very friendly and cooperative. I remember, he used to supply me some of his books to help me in the work of writing my Dissertation. The books were written in different languages (German, English, French, Italian, etc.) One day he visited Rome and as he was there he came across some books which were helpful to my work. He bought them and brought them to me. He guided me well during the whole time of writing my Dissertation, and since he was so cooperative and helpful, I managed to submit my work as it was required by the KTU regulations. Finally, the date to defend my work was set down. Thanks to God, the defence went on well. During the day of Graduation, I was very happy to see the presence of my Professor – DDr. Severin Lederhilger. I could see him smiling as the degree of Doctorate was conferred upon me. It is through his good Supervision, that I became a Doctor of Canon Law. It was a very special day to me and I cannot forget it. Now that Prof. DDr. Severin Lederhilger has retired as a University Professor, I would like to thank him for what he laboured for me and to other students at KTU. I wish him all the best and many God’s blessings during this time of his retirement. Henry Mchamungu Auxiliary Bishop – Dar es Salaam, Tanzania

I. Grundfragen des Kirchenrechts

Zum Umgang mit Konflikt und Dissens in der römisch-katholischen Kirche. Eine Bestandsaufnahme aus kirchenrechtlicher Sicht Bernhard Sven Anuth Wo Menschen in Gemeinschaften zusammenleben, sind Meinungsunterschiede und ist Streit nicht zu vermeiden. In der Regel dient dann das Recht dazu, solche Konflikte innerhalb einer Gemeinschaft geordnet auszutragen und den Rechtsfrieden wiederherzustellen. Wo Menschen eine Glaubensgemeinschaft bilden, kommen oft Konflikte um die rechte Lehre und ihre Bewahrung beziehungsweise Reform hinzu. Sie werfen in besonderer Weise die Frage auf, wie eine religiöse Gemeinschaft mit Dissens umgeht, bis zu welchem Grade sie ihn toleriert und vielleicht sogar als produktiv betrachtet oder ob und gegebenenfalls ab wann sie ihn um der gemeinsamen Glaubensüberzeugung willen bekämpft. Die römisch-katholische Kirche ist eine rechtlich hochgradig organisierte Glaubensgemeinschaft. Sie hat differenzierte rechtliche Regeln und Verfahren, wie innerhalb der Communio mit Konflikten und Dissens umzugehen ist, und versucht mit ebenfalls rechtlichen Mitteln, gemeinschafts- und glaubensgefährdenden Abweichungen vorzubeugen. Auch an diesen kirchenrechtlichen Bestimmungen lässt sich das Selbstverständnis der katholischen Kirche und damit die Theologie des Gesetzgebers ablesen, insbesondere seine Ekklesiologie.1 Deshalb geht es im Folgenden nicht um einen persönlichen theologischen Entwurf, sondern um die realistische Information über amtliche Lehre und geltendes Recht der katholischen Kirche. Dafür sind zunächst jene kirchenrechtlichen Bestimmungen zu sichten, die Konflikt und/ oder Dissens möglichst zu vermeiden suchen. In einem zweiten Schritt sind dann unterschiedliche Konfliktkonstellationen und -arten mitsamt den zugehörigen kirchenrechtlichen Verfahren zu behandeln, wobei zu unterscheiden sein wird zwischen Konflikten, die einzelne Gläubige untereinander haben, sowie Konflikten zwischen Gläubigen und Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft und solchen zwischen Gläubigen und der kirchlichen Hierarchie im Bereich sowohl der kirchlichen Disziplin als auch der amtlichen Lehre.

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Vgl. z. B. schon Werner Böckenförde, Zur gegenwärtigen Lage in der römisch-katholischen Kirche. Kirchenrechtliche Anmerkungen, in: Orientierung 62 (1998) S. 228 – 234, hier S. 232, der es als grundlegend bezeichnet hat, „sich dieser Situation sehenden Auges auszusetzen, […] in der Rechtsgestalt der Kirche das Kirchenverständnis des Gesetzgebers zu erkennen.“

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Bernhard Sven Anuth

I. Kirchenrechtliche Prävention gegen Konflikt und Dissens … 1. … durch generelle Inpflichtnahme aller Gläubigen Die beiden in der römisch-katholischen Kirche geltenden Gesetzbücher, der Codex Iuris Canonici von 1983 (CIC) für die lateinische Kirche2 und der Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium von 1990 (CCEO) für die mit Rom unierten Ostkirchen3, verpflichten alle Katholik:innen dazu, in Äußerungen und Verhalten immer die Gemeinschaft mit der Kirche zu wahren (c. 209 § 1 CIC/1983; c. 12 § 1 CCEO) und mit „großer Sorgfalt“ ihre Pflichten gegenüber der Universal- und ihrer jeweiligen Partikularkirche zu erfüllen (c. 209 § 2 CIC/1983; c. 12 § 2 CCEO). Kirchenrechtlich müssen Gläubige in der katholischen Kirche zudem nach Kräften ein heiliges Leben führen, das Wachstum der Kirche sowie ihre ständige Heiligung fördern (c. 210 CIC/1983; c. 13 CCEO)4 und zur Verbreitung der göttlichen Heilsbotschaft beitragen (c. 211 CIC/1983; c. 14 CCEO).5 Vor allem aber sind sie verpflichtet, in christlichem Gehorsam zu befolgen, was die geistlichen Hirten in Stellvertretung Christi als Lehrer des Glaubens erklären oder als Leiter der Kirche bestimmen (c. 212 § 1 CIC/1983; c. 15 § 1 CCEO). Diese Rechtspflicht ist strafbewehrt6 und erstreckt sich in Fragen der Lehre nach dem Wortlaut des Gesetzes auf alle vom kirchlichen Lehramt mit entsprechender Autorität vorgelegten Lehren.7 Dass Gläubige den geschuldeten Gehorsam „im Bewusstsein der eigenen Verantwortung“ zu leisten 2

Vgl. Codex Iuris Canonici, auctoritate Ioannis Pauli PP. II promulgatus, in: AAS 75 (1983) Pars II, S. 1 – 301 mit Corrigenda ebd., S. 321 – 324, zuletzt geändert durch: Papst Franziskus, Motuproprio „Competentias quasdam decernere“ v. 11. 02. 2022, in: OR 167 (2022) Nr. 37 v. 15. 02. 2022, S. 8. 3 Vgl. Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium, auctoritate Ioannis Pauli PP. II promulgatus, in: AAS 82 (1990) 1033 – 1364, zuletzt geändert durch: Papst Franziskus, Motuproprio „Competentias quasdam decernere“ v. 11. 02. 2022, in: OR 167 (2022) Nr. 37 v. 15. 02. 2022, S. 8. 4 Verheiratete sind zudem besonders verpflichtet, in Ehe und Familie am Aufbau des Gottesvolkes mitzuwirken (c. 226 § 1 CIC/1983; c. 407 CCEO) und die lehrkonforme katholische Erziehung ihrer Kinder sicherzustellen (c. 226 § 2 CIC/1983). 5 Laien sind über die Gemeinpflicht von c. 211 CIC und c. 14 CCEO hinaus verpflichtet, sich für die Ausbreitung der göttlichen Heilsbotschaft einzusetzen, wo Menschen nur durch sie das Evangelium hören und Christus kennen lernen können (c. 225 § 1 CIC/1983; c. 411 CCEO). 6 Vgl. cc. 750 u. 752 f. CIC/1983 i. V. m. cc. 1364 u. 1371 § 1 CIC/2021; cc. 598 – 600 i. V. m. cc. 1436 u. 1446 CCEO sowie dazu im Einzelnen nachfolgend unter II.3. 7 Nach Lehre und Recht der römisch-katholischen Kirche kommt es allein dem kirchlichen Lehramt (magisterium) zu, die in Schrift oder Tradition überlieferte Offenbarung verbindlich auszulegen (vgl. DV 10 sowie c. 747 § 1 CIC/1983; c. 595 § 1 CCEO), das natürliche Sittengesetz zu erkennen und zu interpretieren, „die sittlichen Grundsätze auch über die soziale Ordnung zu verkündigen wie auch über menschliche Dinge jedweder Art zu urteilen, insoweit die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen dies erfordern“ (c. 747 § 2 CIC/1983; c. 595 § 1 CCEO). Dabei ist das kirchliche Lehramt seinem Selbstverständnis nach dem Wort Gottes nicht über-, sondern ihm dienend untergeordnet (vgl. DV 10 sowie mit Berufung darauf KKK 86).

Zum Umgang mit Konflikt und Dissens

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haben, wird bisweilen so gedeutet, als dürften sie zumindest in Einzelfällen legitim von Vorgaben des kirchlichen Lehramts abweichen.8 Stimmt das? Die konkret geforderte Antworthaltung gegenüber lehramtlichen Erklärungen hängt vom Verbindlichkeitsgrad der jeweiligen Lehre ab und ist dementsprechend nach den Spezialnormen des kanonischen Lehrrechts zu bestimmen: Bei definitiven, d. h. unfehlbaren Offenbarungslehren verlangt das Kirchenrecht Glaubensgehorsam als unwiderrufliche Zustimmung auf göttliche Autorität hin; was solchen Lehren entgegensteht, müssen Katholik:innen meiden (c. 750 § 1 CIC/1983; c. 598 § 1 CCEO). Definitive Lehren, die selbst nicht in der Offenbarung enthalten sind, aber gemäß amtlicher Einstufung in einem engen Zusammenhang mit ihr stehen und als unfehlbar vorgelegt werden, sind mit einem ebenfalls unwiderruflichen, wenngleich nur kirchlich geforderten Gehorsam „fest anzunehmen und zu bewahren“ (c. 750 § 2 CIC/1983; c. 598 § 2 CCEO).9 Dies gilt z. B. für die kirchlichen Lehren über die Unmöglichkeit der Priesterweihe für Frauen, die Unerlaubtheit der Euthanasie oder die Unrechtmäßigkeit der Prostitution.10 Gegenüber nicht-unfehlbaren Lehren des authentischen Lehramts, z. B. über die sittliche Beurteilung der Homosexualität oder der Empfängnisverhütung11, sind die 8 Die eigene Verantwortung als Christ(in) ergebe sich „einerseits aus demselben Gehorsam gegenüber Christus und andererseits aus den persönlichen Lebensumständen sowie den Aufgaben, die jemand in der Kirche hat“, so Winfried Aymans/Klaus Mörsdorf, Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici, Bd. 2: Verfassungs- und Vereinigungsrecht, 13., völlig neu bearb. Aufl. Paderborn 1997, 96. Es werde also kein „blinder“ Gehorsam verlangt, vgl. z. B. Ludger Müller, „Im Bewusstsein der eigenen Verantwortung …“. Die Gehorsamspflicht im kanonischen Recht, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 165 (1996) S. 3 – 24, hier S. 24, Sabine Demel, Handbuch Kirchenrecht. Grundbegriffe für Studium und Praxis, 2., durchgesehene u. aktualisierte Aufl., Freiburg i. Br. 2013, S. 233 f. oder Rüdiger Althaus, c. 212, Rdnr. 6, in: MK CIC (Stand: Januar 2022). 9 Vgl. dazu auch Peter Hünermann, Die Herausbildung der Lehre von den definitiv zu haltenden Wahrheiten seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Ein historischer Bericht und eine systematische Reflexion, in: Cristianesimo nella storia 21 (2000) S. 71 – 101. 10 Vgl. hierzu sowie für weitere Beispiele: Kongregation für die Glaubenslehre, Nota doctrinalis zur Schlussformel der Professio fidei, 29. 06. 1998, in: AAS 90 (1998) S. 544 – 551, Nr. 11. 11 Für nicht-unfehlbare Lehren nennt die Kongregation für die Glaubenslehre, Nota doctrinalis (Anm. 10), Nr. 11 keine Beispiele, sondern verweist allgemein auf jene Lehren, „die vom authentischen ordentlichen Lehramt in nicht endgültiger Weise vorgelegt werden und einen differenzierten Grad der Zustimmung erfordern entsprechend der kundgetanen Auffassung und Absicht, die sich vornehmlich aus der Art der Dokumente, der Häufigkeit der Vorlage ein und derselben Lehre und der Sprechweise erkennen läßt.“ Für die kirchliche Lehre über das ausnahmslose sittliche Verbot der Empfängnisverhütung steht allerdings durch Papst Johannes Paul II. seit 1997 die öffentliche Qualifizierung als „unfehlbar“ im Raum. Vgl. hierzu ausführlich Norbert Lüdecke, Einmal Königstein und zurück? Die Enzyklika Humanae Vitae als ekklesiologisches Lehrstück, in: Dominicus M. Meier u. a. (Hrsg.), Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils in Theologie und Kirchenrecht heute. Festschrift für Klaus Lüdicke zur Vollendung seines 65. Lebensjahres (= MK CIC. Beihefte 55), Essen 2008, S. 357 – 412, hier S. 399 – 407. Zuletzt hat Papst Benedikt XVI., Ansprache v. 10. 05. 2008 an die Teilnehmer des Internationalen Kongresses der Päpstlichen Lateranuniversität anlässlich

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Bernhard Sven Anuth

Gläubigen zu religiös begründetem Gehorsam des Verstandes und des Willens verpflichtet (cc. 752 f. CIC/1983; cc. 599 f. CCEO), das heißt zu äußerer Befolgung und intellektueller Zustimmung sowie Aneignung der jeweiligen Lehre.12 Alles, was solchen Lehren nicht entspricht, müssen Katholik:innen meiden (c. 752 CIC/1983; c. 599 CCEO). Als maximale Abweichung von nicht-unfehlbaren Lehren sowohl des universal- wie auch des partikularkirchlichen Lehramts13 und nur in begründeten Ausnahmefällen ist ein gehorsames Schweigen zulässig.14 Dieses silentium obsequiosum „hat den Sinn, die Nicht-Zustimmung nicht über den privaten Bereich hindes 40. Jahrestages der Enzyklika „Humanae vitae“, in: OR 148 (2008) Nr. 110 v. 11. 05. 2008, S. 1 betont, die in der Enzyklika „Humanae vitae“ Papst Pauls VI. zum Ausdruck gebrachte Wahrheit könne sich nicht ändern: „Quanto era vero ieri, rimane vero anche oggi. La verita espressa nell’ Humanae vitae non muta“ (Hervorhebung im Original). 12 Vgl. die entsprechenden Erläuterungen der Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion „Donum veritatis“ über die kirchliche Berufung des Theologen, 24. 05. 1990, in: AAS 82 (1990) S. 1550 – 1570, Nrn. 23 – 41. Nach Norbert Lüdecke, Die Grundnormen des katholischen Lehrrechts in den päpstlichen Gesetzbüchern und neueren Äußerungen in päpstlicher Autorität (= FzK 28), Würzburg 1997, S. 328, wird demnach grundsätzlich „erwartet, daß ein eventueller Mangel an Einsicht in die inneren Gründe einer nicht-definitiven Lehre mit Hilfe eines Willensaktes überbrückt und auf diese Weise doch in eine innere Zustimmung überführt wird. Möglich ist dies nur in einem Gehorsam aus religiöser Motivation, die in der Anerkennung der kirchlichen Autorität besteht.“ Vgl. entsprechend und mit Verweis auf Lüdecke auch Demel, Handbuch (Anm. 8), S. 239: „Deshalb müssen jene, die inhaltliche Schwierigkeiten mit einer nicht definitiv vorgelegten Lehre gemäß c. 752 f. haben, dennoch diese Lehre annehmen und befolgen, und zwar nicht nur äußerlich durch eine Beugung des Willens, sondern auch innerlich durch eine zustimmende Aneignung“, also einen Gehorsam leisten, „der das eigene Urteil dem Urteil der kirchlichen Autorität unterwirft.“ Zur Entwicklung dieser spezifischen Zustimmungspflicht vgl. etwa Hans J. Kothuis, The Response of the Christian Faithful to the Non-infallible Magisterium. A Canonical Investigation from the Times of Pius IX until the Revised Code of Canon Law, Rom 1988, bes. S. 182 – 375; Lüdecke, Grundnormen (Anm. 12), S. 310 – 328; Justin M. Wachs, Obsequium in the church. Sacred tradition, Second Vatican Council, 1983 Code, and sacred liturgy (= Collection Gratianus. Section Monographs), Montréal 2014, S. 72 – 118 u. 134 – 155. 13 Vgl. Lüdecke, Grundnormen (Anm. 12), S. 364 – 368; Wachs, Obsequium (Anm. 12), S. 156. 14 Vgl. Manfred Heim, Obsequium religiosum intellectus et voluntatis, in: MThZ 42 (1991) S. 359 – 370, hier S. 370; Hubert Wolf, „Wahr ist, was gelehrt wird“ statt „Gelehrt wird, was wahr ist“? Zur „Erfindung“ des „ordentlichen“ Lehramts, in: Thomas Schmeller/Martin Ebner/Rudolf Hoppe (Hrsg.), Neutestamentliche Ämtermodelle im Kontext (= QD 239), Freiburg 2010, S. 236 – 259, hier S. 256. Zur Konturierung des silentium obsequiosum vgl. Lüdecke, Grundnormen (Anm. 12), S. 320 – 332 und S. 485 – 490 sowie in Anwendung auf Theolog:innen ausdrücklich Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion „Donum veritatis“ (Anm. 12), Nr. 31: Es könne vorkommen, dass Schwierigkeiten bei der Annahme einer kirchlichen Lehre auch „nach Abschluß einer ernsthaften Prüfung in der Bereitschaft, ohne inneren Widerstand gegen den Spruch des Lehramtes zu hören,“ weiter bestehen bleiben, „weil dem Theologen die Gegengründe zu überwiegen scheinen.“ Dann müsse er „angesichts einer Zustimmung, die er nicht geben kann, bereit bleiben, die Frage gründlicher zu studieren.“ Dabei gesteht die Kongregation zu, eine solche Situation könne für „eine loyale Einstellung, hinter der die Liebe zur Kirche steht, […] gewiß eine schwere Prüfung bedeuten. Sie kann ein Aufruf zu schweigendem und betendem Leiden in der Gewißheit sein, daß, wenn es wirklich um die Wahrheit geht, diese sich notwendig am Ende durchsetzt.“

Zum Umgang mit Konflikt und Dissens

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aus erkennbar werden zu lassen.“15 Ein öffentlicher Dissens hingegen verstieße gegen die Gehorsamspflicht gemäß cc. 752 f. CIC/1983 beziehungsweise cc. 599 f. CCEO.16 Insbesondere die rechtliche Gehorsamspflicht gegenüber Lehren des nicht-unfehlbaren universalkirchlichen Lehramts und ihre strafrechtliche Sanktionierung wurden und werden theologisch und kanonistisch seit langem kritisiert: Die durch den CIC/1983 geschaffene Rechtslage sei „jedenfalls mit Rücksicht auf die Wissenschaftsfreiheit der Theologie, die Respektierung der Gewissensüberzeugung und im Hinblick auf die Bildung eines sensus fidelium in der Kirche mehr als problematisch“; das Kirchenrecht täte gut daran, „keinen rechtlich sanktionierten Gehorsamsanspruch aufzustellen, der den Eindruck erweckt, als sei Glaubensgehorsam und Rechtgläubigkeit mit der Zustimmung zu einem abstrakten Lehrsystem gleichzusetzen.“17 Die einzige Änderung im kanonischen Lehrrecht durch Papst Johanes Paul II. bestand allerdings darin, hinsichtlich der Gehorsamsforderungen eine gesetzliche Sanktionslücke zu schließen: Seit 1998 ist die Antworthaltung der „festen Annahme und Bewahrung“ aller unfehlbaren Lehren aus dem sogenannten Sekundärbereich des kirchlichen Lehramts für alle Gläubigen eine strafbewehrte Rechtspflicht (c. 750 § 2 CIC/1983 i. V. m. c. 1371 § 1 CIC/2021).18 Vor diesem Hintergrund haben schon 2011 mehr als 300 Theolog:innen vor allem aus dem deutschsprachigen Raum gemeinsam erklärt: Katholik:innen „eher autoritativ denn überzeugend entgegenzutreten“, werde den Erosionsprozessen im kirchlichen Raum „keinen Einhalt gebieten. […] Gläubigen, die als überzeugte Bürgerin15

Lüdecke, Grundnormen (Anm. 12), S. 330. Vgl. Eloy Tejero, [Kommentar zu c. 752], in: Ángel Marzoa/Jorge Miras/Rafael Rodríguez-Ocaña (Hrsg.), Exegetical Commentary on the Code of Canon Law. Prepared under the Responsability of the Martín de Azpilcueta Institute, Faculty of Canon Law, University of Navarre. Vol. III/1, Montreal-Chicago 2004, S. 39 – 42, hier S. 42. Es ist daher nach Wachs, Obsequium (Anm. 12), S. 24 „insufficient, if not erroneous, to translate obsequium as ,respect‘ or ,reverence‘.“ 17 Helmuth Pree, Die Meinungsäußerungsfreiheit als Grundrecht des Christen, in: Winfried Schulz (Hrsg.), Recht als Heilsdienst. Matthäus Kaiser zum 65. Geburtstag gewidmet von seinen Freunden, Kollegen und Schülern, Paderborn 1989, S. 42 – 85, hier S. 81. Vgl. zustimmend Dagmar Steuer-Flieser, „Grundrechte“ im Codex Iuris Canonici von 1983 im Vergleich mit dem deutschen Grundgesetz. Eine exemplarische Untersuchung anhand der Wissenschaftsfreiheit (= Nomos-Universitätsschriften. Recht 313), Baden-Baden 1999, S. 171 f. Anm. 244. 18 Vgl. Papst Johannes Paul II., Motu proprio „Ad tuendam fidem“, 18. 05. 1998, in: AAS 90 (1998) S. 457 – 461 sowie dazu etwa Bruno Primetshofer, „Assensus“ und „Dissensus“. Überlegungen zur apostolischen Konstitution „Ad tuendam fidem“, in: Antoni De˛ bin´ski/Elz˙ bieta Szczot (Hrsg.), Plenitudo legis dilectio. Ksie˛ ga pamia˛tkowa dedykowana prof.dr.hab. Bronisławowi W. Zubertowi OFM z okazji 65. rocznicy urodzin, Lublin 2000, S. 573 – 593, hier S. 573 – 576 oder Norbert Lüdecke, Also doch ein Dogma? Fragen zum Verbindlichkeitsanspruch der Lehre über die Unmöglichkeit der Priesterweihe für Frauen aus kanonistischer Perspektive. Eine Nachlese, in: Wolfgang Bock/Wolfgang Lienemann (Hrsg.), Frauenordination (= Studien zu Kirchenrecht und Theologie 3, Texte und Materialien Reihe A Nr. 47), Heidelberg 2000, 41 – 119, 111. 16

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nen und Bürger eines demokratischen Verfassungsstaates durch und durch an Partizipation gewöhnt sind, ist es nur schwer zu vermitteln, dass sie, was ihren Glauben angeht, nur Empfangende beziehungsweise Hörende des Lehramts sein sollen.“19 2. … durch spezielle Kautelen für Kleriker und andere Multiplikator:innen Trotz aller Kritik bestehen aber nicht nur die genannten Gehorsamspflichten für alle Gläubigen bis heute fort. Bereits seit 1983 gelten zudem spezifische Anforderungen an Kandidaten für den klerikalen Führungsstand der katholischen Kirche sowie an laikale Multiplikator:innen wie Religionslehrer:innen oder akademische Lehrer:innen der Theologie. Kleriker Alle Kleriker, also Männer, die mindestens die Diakonenweihe empfangen haben20, sind gesetzlich „in besonderer Weise verpflichtet, dem Papst und ihrem Ordinarius Ehrfurcht und Gehorsam zu erweisen“ (c. 273 CIC/1983; vgl. c. 370 CCEO). Bei der Schlussredaktion des CIC/1983 hat Papst Johannes Paul II. diese Pflicht bewusst an die Spitze des Katalogs der Klerikerpflichten und -rechte gestellt.21 Damit Kleriker den geforderten Gehorsam auch tatsächlich leisten, sollen sie durch die Seminarausbildung entsprechend geformt werden.22 Bereits in der Ausbildungszeit 19 Judith Könemann/Thomas Schüller, Das Memorandum – Anlass, Grundgedanke und Inhalte, in: dies. (Hrsg.), Das Memorandum. Die Positionen im Für und Wider, Freiburg i. Br. 2011, S. 19 – 27, hier S. 25. Vgl. Michael Rosenberger, „In Wahrhaftigkeit und Mut, Ehrfurcht und Liebe“ (LG 37). Zum spirituellen und ethischen Verständnis des (kirchen-) amtlichen Gehorsams, in: ThPQ 163 (2015) S. 171 – 183, hier S. 178, der feststellt: Katholik:innen hätten „heute ein anderes Bild des Gehorsams als noch vor fünfzig oder hundert Jahren“. Vgl. entsprechend Hans Reinhard Seeliger, Zum letzten Mal, in: Könemann/Schüller (Hrsg.), Memorandum (Anm. 19), S. 122 – 127, hier S. 123: Das Lehramt nehme die bewusste Abweichung der Gläubigen von moralischen Lehren seit Jahrzehnten in Kauf, was „auf die Vertrauensbindungen in der Kirche auf Dauer erodierend wirken“ müsse. Letztlich habe die Kirche „ihre Glaubwürdigkeit weitgehend in den Betten ihrer Gläubigen verspielt“ (ebd.). 20 Vgl. c. 207 § 1 i. V. m. c. 266 § 1 CIC/1983 beziehungsweise c. 323 i. V. m. c. 358 CCEO. 21 Vgl. noch Pontificia Commissio Codicis Iuris Canonici recognoscendo (Hrsg.), Codex Iuris Canonici. Schema Novissimum post consultationem S. R. E. Cardinalium, Episcoporum Conferentiarum, Dicasteriorum Curiae Romanae, Universitatum Facultatumque ecclesiasticarum, necnon Superiorum Institutorum vitae consecratae recognitum, iuxta placita Patrum Commissionis deinde emendatum atque SUMMO PONTIFICI praesentatum, Città del Vaticano 1982, c. 276 sowie dazu Norbert Lüdecke, Die Täuschung. Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen?, Darmstadt 2021, S. 187 oder Rüdiger Althaus, Priesterlicher Gehorsam und Hierarchischer Rekurs – ein unüberbrückbarer Widerspruch?, in: Theologie und Glaube 103 (2013) S. 118 – 136, hier S. 123 mit Anm. 21. Auch wenn für diese Verschiebung keine Begründung mitgeteilt wurde, kann „darin eine deutliche Akzentuierung des Gehorsams als Grundprinzip der Teilhabe an der Sendung der Kirche kraft des Weihesakramentes und als Klammer und Schlüssel aller klerikalen Pflichten gesehen werden“ (ebd., 123). 22 Vgl. c. 245 § 2 CIC/1983, wonach die Alumnen „so zu bilden [sind], dass sie […] dem Papst als Nachfolger Petri in demütiger und kindlicher Liebe ergeben sind und dem eigenen Bischof als dessen treue Mitarbeiter anhängen und gemeinsam mit den Mitbrüdern ihren

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muss sich der Diözesanbischof zweimal von der Eignung eines Kandidaten und danach jeweils noch einmal vor der Diakonen- und der Priesterweihe überzeugen („Skrutinium“).23 Vor der Zulassung zum Diakonat muss jeder Kandidat zudem die sogenannte „Professio fidei“ ablegen (c. 833 Nr. 6 CIC/1983) und dabei seine gegenwärtige „Totalidentifikation mit allen kirchlichen Lehren bekennen.“24 Hierfür wurde die Formel der „Professio fidei“ zuletzt 1989 geändert und zur „Vervollständigung“ außerdem die Pflicht zur Ablegung des Treueid u. a. auch auf Kandidaten für die Diakonenweihe ausgeweitet.25 Diese Komposition aus präsentischem Bekenntnis und promissorischem Schwur dient in der lateinischen Kirche seither „wie früher der Antimodernisteneid der präventiven Loyalitätsvergewisserung und -sicherung.“26 Jeder Priester, der später das Amt eines Pfarrers übernimmt oder General-, Bischofs- beziehungsweise Gerichtsvikar wird, muss erneut sowohl die „Professio fidei“ als auch den Treueid ablegen (c. 833 Nr. 5 f. CIC/1983). Auch alle zum Bischof Ernannten beziehungsweise dem Diözesanbischof rechtlich Gleichgestellten sind zur Ablegung der „Professio fidei“ verpflichtet (Nr. 3); künftige Bischöfe müssen vor ihrem Amtsantritt zudem einen speziellen Treueid leisten, in dem sie dem Papst immerwährende Treue versprechen und sich u. a. dazu verpflichten, dem Apostolischen Stuhl gegenüber Rechenschaft über ihre Amtsführung abzulegen und dessen Aufträge beziehungsweise Ratschläge gehorsam anzunehmen und auszufüh-

Dienst leisten“. Vgl. entsprechend c. 346 § 2 Nr. 7 CCEO, wonach die Alumnen „zum Empfinden mit der Kirche [sensus Ecclesiae; B. A.] und ihrem Dienst erzogen werden [sollen], ebenso zur Tugend des Gehorsams und zur engen Zusammenarbeit mit den Brüdern“. 23 Vgl. c. 1051 f. CIC/1983 sowie Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentendisziplin, Rundbrief v. 10. 11. 1997: Die Skrutinien über die Eignung der Kandidaten (Prot. N. 589/97), in: Notitiae 33 (1997) S. 507 – 518 sowie in: Communicationes 30 (1998) S. 50 – 59. 24 Norbert Lüdecke/Georg Bier, Das römisch-katholische Kirchenrecht. Eine Einführung, Stuttgart 2012, S. 91. Die „Professio fidei“ besteht seit 1989 aus dem nicäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis und drei Zusätzen, die inhaltlich den cc. 750 §§ 1 f. und 752 CIC/1983 beziehungsweise cc. 598 f. CCEO entsprechen. Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Professio fidei et iusiurandum fidelitas in suscipiendo officio in nomine Ecclesiae exercendo, in: AAS 81 (1989) S. 104 – 106, hier S. 105. 25 Vgl. Nota di presentazione, in: Kongregation für die Glaubenslehre, Professio fidei (Anm. 24), 104: „La formula dello ,iusiurandum fidelitatis in suscipiendo officio nomine Ecclesiae exercendo‘, intesa come complementare alla ,Professio fidei‘ […]“. Für die Formel des Treueids vgl. ebd., 106 sowie zum Ganzen ausführlich Heribert Schmitz, „Professio fidei“ und „Iusiurandum fidelitatis“. Glaubensbekenntnis und Treueid. Wiederbelebung des Antimodernisteneides?, in: AfkKR 157 (1988) S. 353 – 429, bes. S. 387 – 427; Lüdecke, Grundnormen (Anm. 12), S. 416 – 452. 26 Norbert Lüdecke, Kommunikationskontrolle als Heilsdienst. Sinn, Nutzen und Ausübung der Zensur nach römisch-katholischem Selbstverständnis, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 28 (2009) S. 67 – 98, hier S. 77, der für die „Analogie zwischen dieser Formelkomposition und dem Antimodernisteneid“ auf Umberto Betti, Professione di fede e giuramento di fedeltà. Considerazioni dottrinali, in: Notitiae 25 (1989) S. 321 – 325, hier S. 323 verweist.

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ren.27 Kandidaten für ein Bischofsamt haben zuvor bereits den sogenannten Informativprozess durchlaufen, mit dem der Apostolische Nuntius ihre Eignungsbeurteilung durch den Apostolischen Stuhl vorbereitet (cc. 377 § 3; 378 § 2 CIC/1983). In diesem Verfahren wird unter dem kirchlich höchsten Siegel der Verschwiegenheit, dem päpstlichen Geheimnis, bei ausgewählten Klerikern und Laien u. a. erfragt, wie sie die Rechtgläubigkeit des Kandidaten einschätzen, d. h. konkret u. a., ob er „eine überzeugte und loyale Zugehörigkeit zur Lehre und zum Lehramt der Kirche“ lebt, welche Haltung „er zu den Dokumenten des Heiligen Stuhles über das Amtspriestertum, Priesterweihe der Frau, Ehe, soziale Gerechtigkeit und Sexualethik“ hat und ob er „treu gegenüber dem Heiligen Vater, dem Apostolischen Stuhl und der wahren kirchlichen Tradition“ ist; als weitere Auswahlkriterien gelten unter dem Stichwort „Disziplin“, ob der Kandidat „den Zölibat als Zeichen der völligen Hingabe an Christus“ lebt und fördert sowie bei liturgischen Feiern und der Spendung von Sakramenten „treu“ die liturgischen Bücher beachtet; zudem wird u. a. erwartet, dass „er einen nüchternen, demütigen und gehorsamen Lebensstil zu verkörpern“ weiß.28 Für den Bischofsstand und insbesondere das höchste partikularkirchliche Leitungsamt des Diözesanbischofs kommt also ausdrücklich nur in Frage, wer Lehrkonformität und Gehorsam erwarten lässt. Religionslehrer:innen Nach ähnlichen Kriterien werden auch Religionslehrer:innen ausgewählt: Weil das kirchliche Gesetzbuch den „Religionsunterricht und die katholische religiöse Erziehung, die in den Schulen jeglicher Art vermittelt […] werden“, der kirchlichen Autorität unterstellt, muss der Diözesanbischof diesen Bereich nicht nur allgemein regeln und überwachen (c. 804 § 1 CIC/1983; vgl. c. 636 § 1 CCEO), sondern hat er auch dafür Sorge zu tragen, dass sich in seiner Diözese alle Religionslehrer:innen durch Rechtgläubigkeit, Zeugnis christlichen Lebens und pädagogisches Geschick auszeichnen (c. 804 § 2 CIC/1983). Er hat deshalb das Recht, „Religionslehrer zu ernennen beziehungsweise zu approbieren und sie, wenn es aus religiösen oder sittlichen Gründen erforderlich ist, abzuberufen beziehungsweise ihre Abberufung zu fordern“ (c. 805 CIC/1983; vgl. c. 636 § 2 CCEO). Dieser Anspruch wirkt sich z. B. in Deutschland auch an staatlichen Schulen aus, weil Religionsunterricht dort nach dem Grundgesetz nur in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt werden darf (Art. 7 Abs. 3 GG). Der deutsche Staat er27

Vgl. für den lateinischen Text der seit 1987 gültigen Fassung des bischöflichen Treueids Schmitz, „Professio fidei“ (Anm. 25), S. 378 f. Anm. 93 oder Georg Bier, Die Rechtsstellung des Diözesanbischofs nach dem Codex Iuris Canonici von 1983 (= FzK 32), Würzburg 2001, S. 266 Anm. 675 mit Kommentierung ebd., S. 265 – 269. 28 Vgl. den amtlich nicht veröffentlichten „Fragebogen zur Bewertung von Kandidaten für das Bischofsamt“ des Apostolischen Nuntius, der dank journalistischer Recherchen aber verfügbar ist unter: https://www.ksta.de/blob/39699586/a5ef41628f762117c81969ecc0c1c79a/ pdf-der-fragebogen-zur-bewertung-von-kandidaten-fuer-das-bischofsamt-data.pdf [Zugriff: 22. 08. 2022]. Vgl. den Abdruck des früheren Fragebogens bei Urs Jecker, Risse im Altar. Der Fall Haas oder Woran die katholische Kirche krankt, Zürich 1993, S. 270 f. sowie zum Ganzen bereits Bier, Rechtsstellung (Anm. 27), S. 89 – 92.

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kennt deshalb an, dass ohne sogenannte „Missio canonica“ der Kirche kein(e) Lehrer(in) im Religionsunterricht eingesetzt werden darf.29 Die „Missio canonica“ erhält dabei nur, wer sich schriftlich bereit erklärt, den Religionsunterricht in Übereinstimmung mit der Lehre der katholischen Kirche zu erteilen und deren Grundsätze in seiner beziehungsweise ihrer persönlichen Lebensführung zu beachten.30 Gegen diese Verpflichtung verstößt, wer z. B. in einer nicht-ehelichen hetero- oder homosexuellen Lebenspartnerschaft oder kirchenrechtlich ungültigen Ehe lebt, eigene Kinder nicht taufen lässt oder vor dem deutschen Staat einen „Kirchenaustritt“ erklärt; die zuständige kirchliche Behörde wird Bewerber:innen in diesen und gegebenenfalls anderen Fällen die Missio canonica verweigern, sie werden also nicht als Religionslehrer:innen arbeiten können.31 Theolog:innen Auch Dozent:innen der katholischen Theologie unterliegen einer entsprechenden Präventivkontrolle der kirchlichen Autorität: Diese muss nach dem Kirchenrecht generell dafür sorgen, dass an kirchliche Hochschuleinrichtungen nur solche Dozent:innen berufen werden, die sich auch „durch Rechtgläubigkeit und untadeliges Leben auszeichnen“ (c. 810 § 1; vgl. c. 818 CIC/1983; c. 644 CCEO). Wer eine theologische Disziplin vertritt, benötigt zudem ein kirchliches Mandat (c. 812 CIC/1983; c. 644 CCEO). Lehrende in Fächern, die Glaube und Sitte betreffen, müssen in der lateinischen Kirche vor Amtsantritt ebenfalls die „Professio fidei“ (c. 833 Nr. 7 CIC/ 1983) und zu deren Vervollständigung seit 1989 in der Regel einen Treueid ablegen.32 Vor der Festanstellung von Dozierenden beziehungsweise ihrer Beförderung zur obersten Stufe der Lehrbefähigung muss zudem das „Nihil obstat“ des Heiligen Stuhls eingeholt werden.33 Papst Franziskus hat 2017 bei seiner Revision des kirch29 Vgl. Thomas Meckel, Religionsunterricht im Recht. Perspektiven des katholischen Kirchenrechts und des deutschen Staatskirchenrechts (= Kirchen- und Staatskirchenrecht 14), Paderborn u. a. 2011, S. 318 f. sowie zur Gewährleistung von Art. 7 Abs. 2 f. GG auch Michael Frisch, Grundsätzliches und Aktuelles zur Garantie des Religionsunterrichts im Grundgesetz, in: ZEvKR 49 (2004) S. 589 – 638. 30 Vgl. Rahmenrichtlinien der Deutschen Bischofskonferenz vom 12. bis 15. März 1973 zur Erteilung der kirchlichen Unterrichtserlaubnis und der Missio canonica für Lehrkräfte mit der Fakultas „Katholische Religionslehre“ und Rahmengeschäftsordnung zu diesen Richtlinien, in: AfkKR 142 (1973) S. 491 – 493, Nr. 7 sowie die entsprechenden Antragsformulare der deutschen (Erz-)Diözesen. 31 Vgl. zum Ganzen Heike Künzel, Die „Missio Canonica“ für Religionslehrerinnen und Religionslehrer. Kirchliche Bevollmächtigung zum Religionsunterricht an staatlichen Schulen (= MK CIC. Beihefte 39), Essen 2004; Bernhard Sven Anuth, Aufgabe und „Sendung“ von ReligionslehrerInnen in kirchenrechtlicher Sicht, in: Religionsunterricht an höheren Schulen 52 (2009) S. 133 – 138; für Österreich vgl. etwa Herbert Kalb, Die Missio canonica für Religionslehrer. Bestandsaufnahme, Überlegungen, in:ÖAKR 42 (1993) S. 16 – 45. 32 Vgl. oben Anm. 25 f. 33 Vgl. bereits Papst Johannes Paul II., Apostolische Konstitution „Sapientia Christiana“, 15. 04. 1979, in: AAS 71 (1979) S. 469 – 499, Art. 27 § 2 (künftig: SapChr) sowie aktuell Papst Franziskus, Apostolische Konstitution „Veritatis Gaudium“, 08. 12. 2017, in: OR 158 (2018) Nr. 208 v. 14. 09. 2018 (Anlage), S. 1 – 13, Art. 27 § 2. Für die Katholisch-Theologischen Fa-

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lichen Hochschulrechts nicht nur all diese Bestimmungen bestätigt, sondern auch die inhaltliche Fortgeltung der Instruktion „über die kirchlichen Berufung des Theologen“, mit der die Kongregation für die Glaubenslehre 1990 die Gehorsamspflicht von Theolog:innen gegenüber dem Lehramt (c. 218 CIC/1983; c. 21 CCEO) eingeschärft und konkretisiert hat.34 Darüber hinaus gilt weiterhin die gesetzliche Verpflichtung, dass an Theologischen Fakultäten in Studium und Lehre „der Treue zum Lehramt der Kirche stets eine besondere Bedeutung beigemessen“ und im theologischem Vollstudium „hauptsächlich das gelehrt werden [soll], was zum gesicherten Lehrgut der Kirche gehört.“ Meinungen, die nur wahrscheinlich, aber nicht gesichert sind, und persönliche Ansichten der Dozent:innen, „die sich aus neueren Forschungen herleiten, sollen in Bescheidenheit [und nur] als solche vorgetragen werden.“35 II. Umgang mit und Verfahren bei Konflikten … Alle Gläubigen müssen über ihre oben genannten Pflichten zur Gemeinschaftswahrung und zum Lehr- und Leitungsgehorsam hinaus bei der Ausübung ihrer Rechte immer auf das kirchliche Gemeinwohl, die Rechte anderer sowie ihre eigenen Pflichten gegenüber anderen Rücksicht nehmen (c. 223 § 1 CIC/1983). Zudem sind Gläubigenrechte in der Kirche, auch wenn sie bisweilen „fundamental“ genannt werden, keine Grundrechte im staatlichen Sinn36, sondern stehen immer unter dem Vorbehalt, dass die kirchliche Autorität im Hinblick auf das kirchliche Gemeinwohl ihre Ausübung regeln kann (c. 223 § 2 CIC/1983).37 Wo Gläubige ihre Rechte verletzt kultäten in Deutschland dürften diesbezüglich weiterhin gelten die von der Kongregation für das Katholische Bildungswesen 2010 für fünf Jahre probeweise in Kraft gesetzten „Normen zur Erteilung des Nihil obstat bei der Berufung von Professoren der Katholischen Theologie an den staatlichen Universitäten im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ vom 25. 03. 2010, in: Sekretariat der DBK (Hrsg.), Katholische Theologie und Kirchliches Hochschulrecht. Einführung und Dokumentation der kirchlichen Rechtsnormen, 15. 05. 2011 (= Arbeitshilfen 100), 2., vollständig überarbeitete Auflage Bonn 2011, S. 388 – 399. Sie haben gemäß ihrer Schlussbemerkung (Nr. 25) die früheren „Normen zum Einholen des Nihil obstat, von dem Art. 27 § 2 der Apostolischen Konstitution ,Sapientia Christiana‘ handelt“, vom 12. 07. 1988 ausdrücklich ersetzt. Amtlich wurde auf den Ablauf der Probezeit bislang nicht reagiert. Bis zu ihrer förmlichen Entfristung oder einer neuen Regelung der Materie ist daher von ihrer übergangsweisen Fortgeltung auszugehen. 34 Papst Franziskus, „Veritatis Gaudium“ (Anm. 33), Art. 26 f. mit Verweis auf Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion „Donum veritatis“ (Anm. 12), Nrn. 23 – 41. Vgl. zu dieser Instruktion ausführlich die Analyse von Lüdecke, Grundnormen (Anm. 12), S. 452 – 497. 35 Papst Franziskus, „Veritatis Gaudium“ (Anm. 33), Art. 73. Vgl. wortlautidentisch Papst Johannes Paul II., Apostolische Konstitution „Sapientia Christiana“ (Anm. 33), Art. 70. 36 Vgl. hierzu mit ausführlichen Belegen bereits Bernhard Sven Anuth, Das Recht katholischer Laien auf Anerkennung ihrer bürgerlichen Freiheiten (c. 227 CIC/c. 402 CCEO) (= FzK 39), Würzburg 2016, S. 32 – 36. 37 Vgl. Jean-Pierre Schouppe, Le droit d’opinion et la liberté de recherche dans les disciplines ecclésiastiques (cc. 212 et 218): nature et portée, in: L’année canonique 37 (1995) S. 155 – 184, hier S. 158 u. 162 sowie im Einzelnen zu den „Grenzen der innerkirchlichen

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oder bedroht sehen, können sie diese innerkirchlich aber durchaus geltend machen und gegebenenfalls auch mit rechtlichen Mitteln verteidigen beziehungsweise durchsetzen (c. 221 § 1 CIC/1983). Zugleich ist jeder Diözesanbischof von Amts wegen verpflichtet, „die gemeinsame Ordnung der ganzen Kirche zu fördern und deshalb auf die Befolgung aller kirchlichen Gesetze zu drängen“ (c. 392 § 1 CIC/1983). Er hat außerdem die „Unversehrtheit und Einheit der Glaubenslehre […] in fester Haltung zu schützen“ (c. 386 § 2 CIC/1983). Seine gesetzliche Pflicht, „darauf zu achten, dass sich kein Missbrauch in die kirchliche Ordnung einschleicht“, gilt dabei „vor allem in Bezug auf den Dienst am Wort“ (c. 392 § 2 CIC/1983). Hier stets wachsam zu sein, hat er in seinem bischöflichen Treueid vor dem Amtsantritt eigens geschworen.38 Wo Gläubige in Fragen der Lehre oder der persönlichen Lebensführung von kirchlichen Vorgaben abweichen, kann dies also kirchenrechtlich konkrete Folgen haben, z. B. die Nichtzulassung zu Sakramenten oder den Verlust der „Missio canonica“. Manche Verstöße gegen Recht oder Lehre der Kirche sind sogar Straftaten und können entsprechend verfolgt werden. Vor diesem Hintergrund kommen in der katholischen Kirche je nach Konfliktgegenstand und -konstellation unterschiedliche Verfahren zur Anwendung, um Streit zu befrieden, Rechtsverstöße disziplinarisch beziehungsweise strafrechtlich zu ahnden und dissentierende Multiplikator:innen gegebenenfalls aus ihrem Amt zu entfernen.39 Diese unterschiedlichen Anlässe und Konstellationen von Konflikten samt der entsprechenden Verfahren und weiteren Möglichkeiten amtlicher Reaktion sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. 1. … zwischen einzelnen Gläubigen Alle Gläubigen sollen nach kirchlichem Recht eifrig bemüht sein, rechtliche Streitigkeiten im Gottesvolk möglichst zu vermeiden, solange die Gerechtigkeit dadurch nicht beeinträchtigt wird, oder baldmöglichst friedlich beizulegen (c. 1446 § 1 CIC/1983; c. 1103 § 1 CCEO).40 Sie sind allerdings auch berechtigt, ihre Rechte in der Kirche legitim geltend zu machen und nach Maßgabe des Rechts vor der zuständigen kirchlichen Instanz zu verteidigen (c. 221 § 1 CIC/1983; c. 24 § 1 CCEO). DieGrundrechtsbetätigung“ Felix Hafner, Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte (= Freiburger Veröffentlichungen aus dem Gebiete von Kirche und Staat 36), Freiburg i. Ue. 1992, S. 246 – 252 oder Stefano Mazzotti, La libertà dei fedeli laici nelle realtà temporali (C. 227 C.I.C.) (= Tesi Gregoriana: Serie diritto canonico 78), Rom 2007, S. 108 – 111. 38 Vgl. Schmitz, „Professio fidei“ (Anm. 25), S. 379 Anm. 93; Bier, Rechtsstellung (Anm. 27), S. 266 Anm. 675. 39 Vgl. für einen Überblick über die kanonischen Rechtswege z. B. Andreas Weiß, Grundfragen kirchlicher Gerichtsbarkeit, in: HdbKathKR3, S. 1647 – 1660, hier S. 1651 – 1658. 40 Zur Bevorzugung außergerichtlicher Lösungen in der kirchlichen Gesetzgebung vgl. Zenon Grocholewski, Die leitenden Prinzipien im Buch VII des CIC, in: DPM 8/1 (2001) S. 13 – 40, hier S. 18 – 20.

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ses Gemeinrecht aller Gläubigen auf Rechtsschutz wird in beiden kirchlichen Gesetzbüchern in den einleitenden Bestimmungen zum Prozessrecht konkretisiert: Nach c. 1491 CIC/198341 und c. 1149 CCEO ist jedwedes Recht prinzipiell einklagbar.42 Gegenstand kirchlicher Rechtsprechung sind sowohl die Verfolgung beziehungsweise der Schutz von Rechten physischer oder juristischer Personen als auch die Feststellung von Rechtstatsachen (facta iuridica).43 Zur Durchsetzung wie zum Schutz subjektiver Rechte gegen Gefährdung oder Verletzung, d. h. zur Realisierung eines rechtlichen Anspruchs, kann also ein kirchliches Gericht angerufen werden. Dies geschieht mittels einer Forderungsklage, die abhängig vom Sachverhalt und dem Rechtsschutzbedürfnis des Klägers auf ein Tun oder ein Unterlassen abzielen kann.44 Die Festlegung des Streitgegenstandes erfolgt abhängig vom konkreten Klagebegehren und dem zu Grunde liegenden Sachverhalt.45 Der kirchliche Richter soll allerdings schon zu Beginn eines Rechtsstreites wie auch zu jedem anderen Zeitpunkt im Prozess, sofern er diesbezüglich irgendeine 41 Auf den Zusammenhang von c. 221 § 1 und c. 1491 CIC/1983 hat schon hingewiesen: Heribert Heinemann, Recht und Rechtsschutz im neuen kirchlichen Gesetzbuch, in: Klaus Lüdicke/Hans Paarhammer/Dieter A. Binder (Hrsg.), Recht im Dienst des Menschen. Festgabe für Hugo Schwendenwein zum 60. Geburtstag, Graz/Wien/Köln 1986, S. 331 – 347, hier S. 335. 42 Vgl. Klaus Lüdicke, c. 1491, Rdnr. 2, in: MK CIC (Stand: März 1988) sowie entsprechend Rüdiger Althaus, c. 221, Rdnr. 4, in: MK CIC (Stand: Januar 2022). Die Klagemöglichkeit kann allerdings gesetzlich auch explizit ausgeschlossen sein, so z. B. beim Recht auf Eheschließung nach einer Verlobung (c. 1062 § 2 CIC; c. 782 § 2 CCEO). Vgl. etwa Lawrence G. Wrenn, Trials in general [cc. 1400 – 1500], in: John P. Beal/James A. Coriden/Thomas J. Green (Hrsg.), New commentary on the Code of Canon Law. Commissioned by the Canon Law Society of America, Study ed., New York, N.Y./Mahwah, N.J. 2000, S. 1614 – 1654, hier S. 1650. 43 Vgl. c. 1400 § 1 Nr. 1 CIC/1983; c. 1055 § 1 Nr. 1 CCEO. Hinzu kommen als obiectum iudicii Straftaten: Nach c. 1400 § 1 Nr. 2 CIC/1983 sowohl hinsichtlich der Feststellung des Eintritts einer Tatstrafe als auch der Verhängung einer nicht schon durch die Tat zugezogenen Strafe, nach c. 1055 § 1 Nr. 2 CCEO hingegen nur in Bezug auf die Verhängung einer Spruchstrafe, weil der CCEO keine Tatstrafen kennt (vgl. im Folgenden mit Anm. 82). 44 Vgl. Klaus Lüdicke, c. 1400, Rdnr. 2, in: MK CIC (Stand: März 1988). Grundlegendes Instrument für die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens ist die Klageschrift (vgl. c. 1502 CIC; c. 1185 CCEO). Mit ihr verlangt die klagende Partei vom Gericht die Lösung eines Konfliktes oder die Klärung einer Rechtsfrage. Vgl. ders., c. 1502, Rdnr. 5, in: MK CIC (Stand: Mai 1989); Craig A. Cox, The Contentious Trial [cc. 1501 – 1670], in: Beal/Coriden/ Green (Hrsg.), New commentary (Anm. 42), S. 1655 – 1753, hier S. 1657; Pio Vito Pinto, I processi nel Codice di Diritto Canonico. Commento sistematico al Lib. VII, Vatikanstadt 1993, S. 226. 45 Vgl. grundlegend z. B. Javier Ochoa, „Actio“ e „contestatio litis“ nel processo canonico, in: Apollinaris 52 (1979) S. 102 – 133, sowie zur Streitfestlegung als Eigentümlichkeit des kanonischen Prozesses ausführlich Dominicus M. Meier, Subjektive Rechte und Rechtsschutzgarantien in der katholischen Kirche – eine Problemskizze auf dem Hintergrund eines Ehenichtigkeitsverfahrens, in: DPM 8 (2001) S. 285 – 298 sowie Bernhard Sven Anuth, Der Streitgegenstand: Begriff und Funktion im ordentlichen Streitverfahren und im Ehenichtigkeitsprozess, in: DPM 17/18 (2010/2011) S. 305 – 335.

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Aussicht auf Erfolg erkennt, die Parteien ermuntern und ihnen helfen, „dass sie in gemeinsamer Überlegung für eine der Billigkeit entsprechende Beilegung des Streites sorgen“ (c. 1446 § 2 CIC/1983; c. 1103 § 2 CCEO). Wo ein Rechtsstreit nur das private Wohl der Parteien und nicht auch das kirchliche Gemeinwohl betrifft, soll der Richter zudem prüfen, ob der Streit nicht durch einen Vergleich, also eine gütliche Einigung der Parteien, oder durch einen Schiedsspruch nach dem entsprechenden kirchlichen Verfahren (cc. 1713 – 1716 CIC/1983; cc. 1168 – 1184 CCEO) beendet werden kann (c. 1446 § 3 CIC/1983; c. 1103 § 3 CCEO).46 Wo aber die Effektivität des gemeinrechtlich gesicherten Rechtsschutzes konkret auf die Probe gestellt wurde, zeigte sich „eine gewisse Unbeholfenheit bei der Umsetzung des Schutzes der subjektiven Rechte in den konkreten Alltag der diözesanen Gerichte“47. Kanonist:innen fordern deshalb schon seit langem, die Kirche solle „den garantierten subjektiven Rechten der Gläubigen eine größere Bedeutung schenken“, denn wo Gläubige bei den Bischöfen und ihren Gerichten entsprechende Aufmerksamkeit erführen, könne dies sicher dazu beitragen, „das derzeitige Unbehagen vieler [… zu] überwinden, dass Recht(e) haben und Recht zu bekommen innerhalb der communio der Kirche nicht dasselbe sind.“48 Leider ist diese Problemanzeige bis heute bleibend aktuell. 2. … zwischen Gläubigen und Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft Einen hier nur kurz zu erwähnenden, weil universalkirchenrechtlich nicht geregelten Sonderfall bilden arbeitsrechtliche Konflikte zwischen Gläubigen und Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft49, wie es sie z. B. in Deutschland gibt, wo der Staat die Regelung von Arbeitsverhältnissen als zum Selbstbestimmungsrecht

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Vgl. Matthias Pulte, Konfliktlösung in der katholischen Kirche, in: Peter Collin (Hrsg.), Konfliktlösung im 19. und 20. Jahrhundert (= Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 4), Berlin 2021, S. 317 – 328, hier S. 321. 47 Meier, Rechte (Anm. 45), 297. Denn die „Frage des Rechtsschutzes, insbesondere seine prozessrechtliche Aktualisierung und Realisierung, ist noch nicht genügend in den Blick gekommen. Die Gerichtspraxis scheint vorwiegend von der Abwicklung von Ehenichtigkeitsverfahren bestimmt zu sein, als dass sie sich mit der Durchsetzung von subjektiven Rechten Einzelner befasst, ganz zu schweigen von einem gerichtlichen Schutz gegen Maßnahmen der kirchlichen Verwaltung“ (ebd.). 48 Ebd., 298 (Hervorhebung im Original). 49 Universalkirchenrechtlich gibt es lediglich drei für die berufliche Tätigkeit von Laien einschlägige Canones: C. 231 CIC/1983 und c. 409 CCEO sind dabei eine allgemeine Rahmenbestimmung über Ausbildung, Eintritt in den kirchlichen Dienst und Mindestrechte wie Anspruch auf Vergütung, soziale Vorsorge und Sicherheit (z. B. Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung) sowie Gesundheitsfürsorge (Krankenversicherung) für Laien, die „für einen besonderen Dienst der Kirche bestellt werden“ (§ 1). Die cc. 1286 und 1290 CIC/1983 bzw. cc. 1030 und 1034 CCEO konkretisieren dies u. a. durch die Pflicht zur Beachtung des weltlichen Arbeits- und Sozialrechts sowie generell durch Rezeption staatlicher Vorgaben für Verträge und daraus resultierender Verpflichtungen.

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der Kirche gehörend anerkennt.50 Zwar gilt für privatrechtliche Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten z. B. der Caritas auch in Deutschland prinzipiell das staatliche Arbeitsrecht, das kirchliche Selbstbestimmungsrecht eröffnet allerdings einen beachtlichen Gestaltungsspielraum: So müssen kirchliche Einrichtungen in Deutschland etwa keine Betriebs- beziehungsweise Personalräte einrichten, sondern können durch „Mitarbeitervertretungen“ einen eigenen Weg gehen. Auch die Aushandlung der Arbeitsbedingungen erfolgt nicht nach dem System des Tarifvertrags mit etwaigem Arbeitskampf, sondern in paritätisch besetzten sogenannten Arbeitsrechtlichen Kommissionen. Nach der von der Deutschen Bischofskonferenz beschlossenen „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ ist das Verhältnis zwischen kirchlichen Einrichtungen und ihren Mitarbeiter:innen nämlich nicht vom Gegensatz streitiger Interessen, sondern vom Leitbild der sogenannten „Dienstgemeinschaft“ geprägt.51 Demnach wirken alle im kirchlichen Dienst Tätigen unabhängig von Status, Funktion und Religion gleichwertig an der Erfüllung des Sendungsauftrages mit.52 Dienstgeber und -nehmer erbringen dabei eine gemeinsame Leistung; unterschiedliche Interessen kann es zwar geben, sie müssen aber mit Rücksicht auf den gemeinsamen kirchlichen Auftrag möglichst konsensuell ausgeglichen werden. Für Konflikte im Bereich des kollektiven Arbeitsrechts sind deshalb in Deutschland eigene kirchliche Arbeitsgerichte zuständig.53 Aus dem 50 Vgl. Art. 140 des deutschen Grundgesetzes i. V. m. Art. 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung. 51 Vgl. zur kirchlichen Übernahme dieses Begriffs aus dem nationalsozialistisch geprägten Arbeitsrecht Hermann Lührs, Kirchliche Dienstgemeinschaft. Genese und Gehalt eines umstrittenen Begriffs, in: Kirche und Recht 13 (2007) S. 220 – 246, bes. S. 227 – 230; Hartmut Kreß, Kirchliches Arbeitsrecht in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Rückfall hinter die Standards der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 63 (2019) S. 131 – 136, hier S. 132 f. 52 Bis zur grundlegenden Überarbeitung der „Grundordnung“, die zum 1. Januar 2023 in den deutschen (Erz-)Diözesen in Kraft treten soll (vgl. Sekretariat der DBK, Neufassung des Kirchlichen Arbeitsrechts. Pressemeldung Nr. 188 v. 22. 11. 2022, in: https://www.dbk.de/pres se/aktuelles/meldung/neufassung-des-kirchlichen-arbeitsrechts; 02. 12. 2022) hatten sich alle Beschäftigten innerhalb der Dienstgemeinschaft zudem an der Glaubens- und Sittenlehre der katholischen Kirche und an ihrer Rechtsordnung auszurichten. Vgl. Sekretariat der DBK (Hrsg.), Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse, 27. 04. 2015 (= Die deutschen Bischöfe 95 A), 4., völlig überarb. Neuaufl., Bonn 2015, Art. 1. Diese Vorschrift ist in der aktuellen Neufassung der Grundordnung entfallen. Vgl. Sekretariat der DBK (Hrsg.), Grundordnung des kirchlichen Dienstes in der Fassung des Beschlusses der Vollversammlung des Verbandes der Diözesen Deutschlands vom 22. November 2022 (https:// www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/VDD-Arbeitsrecht/Grundordnung-deskirchlichen-Dienstes-22.-November-2022.pdf; 02. 12. 2022), Art. 2. 53 Vgl. Grundordnung/2015 (Anm. 52), Art. 10 bzw. Grundordnung/2023 (Anm. 52), Art. 11. Eine dementsprechend eigene kirchliche Arbeitsgerichtsbarkeit hat die katholische Kirche in Deutschland 2005 eingerichtet: Einzelheiten regelt die „Kirchliche Arbeitsgerichtsordnung“ (KAGO). Für die 1. Instanz wurden elf diözesane oder interdiözesane Arbeitsgerichte eingerichtet. Als Revisionsinstanz gibt es für ganz Deutschland den Kirchlichen Arbeitsgerichtshof mit Sitz in Bonn. Vgl. als Überblick Alfred E. Hierold, Die Arbeitsgerichtsbarkeit der Katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, in: Stephan Hae-

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Grundverständnis des kirchlichen Dienstes resultierten bis Ende 2022 zudem sogenannte Loyalitätsobliegenheiten kirchlicher Dienstnehmer:innen, die über die eigentliche Leistungserbringung hinaus auch die persönliche Lebensführung betreffen konnten. Da der deutsche Staat bei diesbezüglichen Konflikten für rechtlichen Ausgleich sorgen muss, insofern nach Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes niemand aufgrund seiner religiösen Anschauungen benachteiligt werden darf, werden Reichweite und Grenzen des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Bereich des individuellen Arbeitsrechts regelmäßig von staatlichen Arbeitsgerichten überprüft. Bisher waren die deutschen Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht den Kirchen dabei meist wohlgesonnen. Ob und inwiefern sich dies aufgrund der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH)54 verändern wird, bleibt abzuwarten. Mit der Ende 2022 beschlossenen Neufassung der „Grundordnung des kirchlichen Dienstes“, die die deutschen Diözesanbischöfen zum 1. Januar 2023 in Kraft setzen wollen55, hat die Kirche ihren diesbezüglichen Anspruch allerdings inzwischen selbst zurückgenommen: Künftig soll außer bei Klerikern, Weihekandidaten, Ordensleuten sowie Noviz:innen und Postulant:innen für alle kirchlich Beschäftigten und ehrenamtlich Engagierten der „Kernbereich privater Lebensgestaltung, insbesondere Beziehungsleben und Intimsphäre, […] rechtlichen Bewertungen entzogen“56 sein. Ähnlich wie bis 2022 in Deutschland verhält es sich noch heute in den Vereinigten Staaten von Amerika.57 Auch hier können kirchliche Einrichtungen Anforderungen ring u. a. (Hrsg.), In mandatis meditari. Festschrift für Hans Paarhammer zum 65. Geburtstag (= KStT 58), Berlin 2012, S. 671 – 680 sowie für die rechtliche Situation davor Ulrich Rhode, Als es noch keine kirchlichen Arbeitsgerichte gab. Der Rechtsschutz bei Streitigkeiten aus dem Bereich des kollektiven kirchlichen Arbeitsrechts in der Zeit von 1971 bis 2005, in: Elmar Güthoff/Stephan Haering (Hrsg.), Ius quia iustum. Festschrift für Helmuth Pree zum 65. Geburtstag (= KStT 65), Berlin 2015, S. 799 – 822. 54 Vgl. z. B. Andrea Edenharter, „Aggiornamento made in Europe“ – Neujustierung des deutschen kirchlichen Arbeitsrechts durch den EuGH, in: Christoph Ohly/Stephan Haering/ Ludger Müller (Hrsg.), Rechtskultur und Rechtspflege in der Kirche. Festschrift für Wilhelm Rees zur Vollendung des 65. Lebensjahres (= KStT 71), Berlin 2020, S. 817 – 834; Hermann Reichold, Der EuGH als Promotor eines neuen Loyalitätsrechts, in: Annette Schavan/Gregor Thüsing (Hrsg.), Kirchlicher Dienst in säkularer Gesellschaft. Festschrift für Norbert Feldhoff zum 80. Geburtstag (Schriftenreihe zum kirchlichen Arbeitsrecht 7), Freiburg i. Br. 2019, S. 463 – 473; Hartmut Kreß, Ende der Sonderrolle. Warum das kirchliche Arbeitsrecht reformiert werden muss, in: Zeitzeichen 20 (2019) Nr. 4, S. 12 – 14; Sarah Röser, Eine hausgemachte Krise. Zu den Debatten um das kirchliche Arbeitsrecht, in: Herder-Korrespondenz 75 (2021) Nr. 6, S. 39 – 41. 55 Vgl. Sekretariat der DBK, Neufassung (Anm. 52). 56 Vgl. Grundordnung/2023 (Anm. 52), Art. 7 Abs. 2 i. V. m. Art. 6 Abs. 1. 57 Vgl. für einen Überblick Sarah Röser, Im Verteidigungsmodus. Kirchliches Arbeitsrecht in den USA, in: Herder-Korrespondenz 74 (2020) Nr. 10, S. 36 f. sowie etwa Carolyn Evans/ Anna Hood, Religious Autonomy and Labour Law: A Comparison of the Jurisprudence of the United States and the European Court of Human Rights, in: Oxford Journal of Law and Religion 1 (2012) S. 81 – 107, hier S. 83 – 94 oder Boris I. Bittker/Scott Idleman/Frank S. Ravitch, Religion and the State in American Law, New York 2015, S. 451 – 502.

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an das Privatleben ihrer Beschäftigten stellen und die Kirchenmitgliedschaft als Einstellungskriterium verlangen.58 Mit der sogenannten „ministerial exception“59, die auf den ersten Zusatzartikel zur US-Verfassung zurückgeführt wird, haben Religionsgemeinschaften in den USA bei der Gestaltung kirchlicher Arbeitsverhältnisse sogar weiter reichende Möglichkeiten als in Deutschland: Klassifiziert eine kirchliche Einrichtung in den USA eine(n) Beschäftigte(n) als „minister“, begründet dies eine vollständige Ausnahme vom Antidiskriminierungsrecht, so dass staatliche Gerichte eine Kündigung nicht mehr auf etwaige Diskriminierungsmerkmale hin überprüfen können (z. B. Behinderung, Alter). Während die „ministerial exception“ früher nur für Amtsträger und „verkündigungsnahe“ Berufe genutzt wurde, klassifizieren kirchliche Schulen inzwischen zunehmend auch Lehrer:innen als „minister“ und lässt sich in den USA aktuell insgesamt eine Verschärfung des kirchlichen Arbeitsrechts beobachten.60 3. … zwischen Gläubigen und der kirchlichen Autorität … Konflikte zwischen Gläubigen und der kirchlichen Autorität können höchst unterschiedliche Ursachen haben. Abhängig vom konkreten Gegenstand und dem rechtlichen Charakter einer Entscheidung der kirchlichen Autorität sowie der hierarchischen Stellung der Konfliktparteien können zur Konfliktlösung verschiedene kirchenrechtliche Verfahrenswege beschritten werden. Formal ist dabei grundsätzlich zwischen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu unterscheiden. Die kirchliche Autorität kann dabei z. B. im Strafrecht meist frei wählen, auf welchem dieser Wege sie eine Straftat verfolgt (cc. 1341 CIC/2021 i. V. m. 1718 § 1 CIC/1983; cc. 1402 i. V. m. 1469 CCEO). Gläubigen bleibt hingegen der Gerichtsweg manchmal versagt, weil es in der katholischen Kirche etwa eine teilkirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht gibt. Vor diesem Hintergrund ist im Folgenden zunächst zu klären, wie sich Gläubige rechtlich gegen Verwaltungsakte der kirchlichen Autorität zur Wehr setzen können. In einem zweiten und dritten Schritt werden dann Konfliktvarianten behandelt, die Abweichungen von Gläubigen im Bereich der kirchlichen Disziplin beziehungsweise der Lehre betreffen. Das kirchliche Strafrecht ist dabei kein eigenständiger Untersuchungsgegenstand, sondern kommt jeweils dort zur Sprache, wo Konfliktvarianten auch strafrechtliche Konsequenzen haben können. 58 Vgl. Title VII of the Civil Rights Act of 1964, Section 702 f. sowie dazu Catriona Morag MacRae Cannon, Freedom of Religious Association: The Case for a Principled Approach to the Employment Equality Exceptions, PhD thesis/University of Glasgow 2018, in: http://the ses.gla.ac.uk/30589/7/2018CannonPhD.pdf [Zugriff: 22. 08. 2022], S. 80 – 87. 59 Vgl. Amy Dygert, Reconciling the Ministerial Exception and Title VII: Clarifying the Employer’s Burden for the Ministerial Exception, in: Washington University Journal of Law and Policy 58 (2019) S. 367 – 392 sowie auch Bittker/Idleman/Ravitch, Religion (Anm. 57), S. 278 – 283 und S. 494 – 502. 60 Vgl. Röser, Verteidigungsmodus (Anm. 57), S. 36 f.

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a) … nach Verwaltungsentscheiden Streitigkeiten, die sich aus kirchlichem Verwaltungshandeln ergeben, sind nach geltendem Recht nicht Sache der ordentlichen Gerichte (c. 1400 § 2 CIC/1983; c. 1055 § 2 CCEO). Zumindest teilkirchlich können Gläubige deshalb gegen kirchliche Verwaltungsakte nur auf dem Beschwerdeweg vorgehen, was manche als „eine bizarre Situation“ empfinden, weil „gerade in diesem Bereich am häufigsten von Gläubigen ein rechtliches Fehlverhalten von kirchlichen Amtsträgern geltend gemacht wird.“61 Wer sich durch einen kirchlichen Verwaltungsakt beschwert fühlt, muss zunächst bei dessen Urheber schriftlich die Rücknahme oder Abänderung der Entscheidung beantragen (c. 1734 CIC/1983). Erst danach kann er/sie als einzigen Rechtsweg den des sogenannten „hierarchischen Rekurses“ beschreiten (cc. 1732 – 1739 CIC/1983; cc. 996 – 1006 CCEO)62: Dabei überprüft die jeweils übergeordnete kirchliche Autorität beziehungsweise der hierarchische Obere dessen, der den Verwaltungsakt erlassen hat, die rechtlich angegriffene Entscheidung und kann diese im Ergebnis frei bestätigen, abändern oder auch widerrufen (c. 1739 CIC; c. 1004 CCEO). Kanonistisch wird dieses Beschwerdeverfahren, „da im kanonischen Recht nur ansatzhaft geregelt, als suboptimal und realitätsfern kritisiert.“63 Ebenfalls schon seit langem kritisiert wird das Fehlen einer partikularkirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit64 zur unabhängigen Überprüfung kirchlichen Verwaltungshandelns: Schon nach dem II. Vatikanum hatte die nach ihrem Tagungsort sogenannte „Würzburger Synode“ der (Erz-)Bistümer in der Bundesrepublik Deutsch-

61 Sabine Demel, Beteiligungsrechte der Laien und Frauen in der katholischen Kirche. Grundlagen und Grenzen im CIC/1983, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 55 (2014) S. 179 – 198, hier S. 187. 62 Vgl. hierzu etwa Hans Heimerl, Der hierarchische Rekurs (can. 1732 – 1739 CIC), in: Helmuth Pree (Hrsg.), Gedenkschrift Hans Heimerl, Tuchów 2000, S. 181 – 200; Kurt Martens, Die Einklagbarkeit von Grundrechten – oder die Bedeutung von Administrativverfahren in einer Religionsgemeinschaft, in: Adrian Loretan (Hrsg.), Religionsfreiheit im Kontext der Grundrechte. Religionsrechtliche Studien, Teil 2 (= Edition NZN bei TVZ), Zürich 2011, S. 261 – 286, hier S. 267 – 278; G. Paolo Montini, I ricorsi gerarchici. (Cann. 1732 – 1739) (= Diritto canonico 7), Rom 2020 oder Aurimas Rudinskas, The Procedure for Administrative Recourse. A Comparative Study of the Latin and Eastern Codes, in: Studia Canonica 54 (2020) S. 265 – 290. 63 Pulte, Konfliktlösung (Anm. 46), S. 324. 64 Vgl. zum Desiderat einer partikularkirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit ausführlich Dominicus M. Meier, Verwaltungsgerichte für die Kirche in Deutschland? Von der gemeinsamen Synode 1975 zum Codex Iuris Canonici 1983 (= MK CIC. Beihefte 28), Essen 2001; Matthias Pulte, Die Schaffung einer kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit für die deutschen Diözesen, in: Wilhelm Rees/Sabine Demel/Ludger Müller (Hrsg.), Im Dienst von Kirche und Wissenschaft. Festschrift für Alfred E. Hierold zur Vollendung des 65. Lebensjahres (= KStT 53), Berlin 2007, S. 771 – 788 oder jüngst Matthias Ambros, Kontrolle kirchlichen Verwaltungshandelns. Ein Beitrag zur Diskussion um die Errichtung von Verwaltungsgerichten auf Ebene der Bischofskonferenz, Darmstadt 2020.

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land (1971 – 1975)65 eine kirchliche Verwaltungsgerichtsordnung beschlossen, die jedoch nie in Kraft getreten ist.66 Und auch im letzten Gesamtentwurf zur Codexrevision, dem Schema Novissimum von 1982, war eine teilkirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit noch vorgesehen67, wurde bei der Schlussredaktion von Papst Johannes Paul II. allerdings ohne Begründung gestrichen.68 In der katholischen Kirche gibt es deshalb mit der 1967 von Papst Paul VI. als obersten Verwaltungsgerichtshof errichteten Zweiten Sektion der Apostolischen Signatur bis heute nur ein einziges Verwaltungsgericht auf Ebene der Universalkirche.69 Die Hürde für einfache Gläubige, sich mit einer Klage dorthin zu wenden, ist entsprechend hoch.70

65 Vgl. Karl Lehmann (Hrsg.), Gemeinsame Synode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland. Offizielle Gesamtausgabe, Neuausgabe, Freiburg i. Br. 2012. 66 Vgl. Gemeinsame Synode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland, Beschluss: „Ordnung für Schiedsstellen und Verwaltungsgerichte der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland“, in: Lehmann (Hrsg.), Synode (Anm. 65), S. 734 – 763 sowie dazu etwa Heinrich Flatten, Kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit, Neuss 1975; Meier, Verwaltungsgerichte (Anm. 64), S. 75 – 120 oder Thomas Schüller, Vergessenes Recht – die „Würzburger kirchliche Verwaltungsgerichtsordnung“, in: Pastoraltheologische Informationen 31 (2011) S. 171 – 187. 67 Vgl. Pontificia Commissio Codicis Iuris Canonici recognoscendo (Hrsg.), Schema Novissimum (Anm. 21), cc. 1737 – 1740. 68 Vgl. Dominicus M. Meier, Recht(e) haben und Recht bekommen sind nicht dasselbe. Anmerkungen zum gegenwärtigen Rechtsschutz in der katholischen Kirche, in: Stephan Haering/Josef Kandler/Raimund Sagmeister (Hrsg.), Gnade und Recht. Beiträge aus Ethik, Moraltheologie und Kirchenrecht. Festschrift für Gerhard Holotik zur Vollendung des 60. Lebensjahres (= Schriftenreihe des Erzbischof-Rohracher-Studienfonds 5), Frankfurt a. M. 1999, S. 439 – 472, hier S. 462 beziehungsweise Klaus Lüdicke, Rechtsschutz in der Kirche – notwendige Schritte, in: Marianne Heimbach-Steins/Gerhard Kruip/Saskia Wendel (Hrsg.), „Kirche 2011: ein notwendiger Aufbruch“. Argumente zum Memorandum, Freiburg i. Br. 2011, S. 230 – 240, hier S. 233, der das Fehlen einer Verwaltungsgerichtsbarkeit im CIC/ 1983 nicht als grundsätzliches Nein zur gerichtlichen Überprüfung kirchlichen Verwaltungshandelns versteht. Welche Gründe allerdings bei der Codexrevision maßgeblich gewesen seien, „– etwa hierarchische: ,Wie sollen einfache Kleriker über Entscheidungen von Bischöfen urteilen?‘ oder politische: ,Es schwächt die Kirche im autoritären Staat Polen, wenn ihre Entscheidungen gerichtlicher Kontrolle unterworfen werden!‘ –, lässt sich nur vermuten“ (ebd.). 69 Vgl. Papst Paul VI., Apostolische Konstitution ,,Regimini Ecclesiae universae“, 15. 08. 1967, in: AAS 59 (1967) S. 885 – 928, für die Rechtslage bis 2021 Papst Johannes Paul II., Apostolische Konstitution „Pastor bonus“, 28. 06. 1988, in: AAS 80 (1988) S. 841 – 934, Art. 123 sowie aktuell Papst Franziskus, Apostolische Konstitution „Praedicate Evangelium“, 19. 03. 2022, in: OR 162 (2022) Nr. 74 v. 31. 03. 2022 (Anlage), Art. 194 – 199. 70 Vgl. als diesbezüglichen Erfahrungsbericht etwa Johannes Grabmeier, Kirchlicher Rechtsweg – vatikanische Sackgasse! Kirchliches Rechtssystem in der römisch-katholischen Kirche endgültig gescheitert. Dargestellt an einem konkreten Fall eines hierarchischen Rekurses von Regensburg bis Rom zur Mitwirkung der Laien in der Kirche, Schierling 2013. Für einen Überblick über von der Apostolischen Signatur gemäß Art. 123 „Pastor bonus“ (Anm. 69) als Verwaltungsgericht entschiedene Fälle vgl. William L. Daniel (Hrsg.), Ministerium Iustitiae. Jurisprudence of the Supreme Tribunal of the Apostolic Signatura. Official Latin with English Translation, Montréal 2011, S. 85 – 637.

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b) … im Bereich der kirchlichen Disziplin Wo Gläubige ihrer Pflicht zum Leitungsgehorsam gegenüber den geistlichen Hirten (c. 212 § 1 CIC/1983; c. 15 § 1 CCEO) nicht entsprechen oder spezifische Amtsoder Standespflichten verletzen, kann der zuständige kirchliche Obere dies rechtlich sanktionieren: Wer der rechtmäßig ge- oder verbietenden kirchlichen Autorität nicht gehorcht und nach Verwarnung im Ungehorsam verharrt, soll nach beiden kirchlichen Gesetzbüchern sogar mit einer Strafe belegt werden (c. 1371 Nr. 2 CIC/ 1983; c. 1446 CCEO).71 Zwar haben Strafen in der katholischen Kirche bis heute nur subsidiären Charakter und können Bischöfe von einem Strafverfahren absehen, wenn sie überzeugt sind, durch brüderliche Ermahnung, Verweis oder auf anderem Wege das entstandene Ärgernis hinreichend beheben, die Gerechtigkeit wiederherstellen und den/die Täter(in) bessern zu können (c. 1341 CIC/2021; c. 1403 CCEO).72 Allerdings hat Papst Franziskus das Strafrecht der lateinischen Kirche 2021 revidiert, um es als reguläres Instrument kirchlicher Pastoral für die Bischöfe leichter handhabbar zu machen.73 Die Neufassung von Buch VI des CIC ist am 8. Dezember 2021 in Kraft getreten74 und hat die in c. 1371 Nr. 2 CIC/1983 bislang unbestimmte Androhung einer „gerechten Strafe“ (iusta poena) dahingehend konkretisiert, dass künftig jede/r, der/die „dem Apostolischen Stuhl, dem Ordinarius oder dem Oberen, der rechtmäßig gebietet oder verbietet, nicht gehorcht und nach Verwarnung im Ungehorsam verharrt“, abhängig von der Schwere des Falles mit einer Beugestrafe, Amtsverlust oder auch einer Sühnestrafe bestraft werden soll (c. 1371 § 1 CIC/2021), wobei für kirchliche Bedienstete neuerdings auch Geldstrafen in Frage kommen, indem ihre kirchliche Vergütung strafweise ganz oder teilweise einbehalten wird (c. 1336 § 4 Nr. 5 CIC/2021). 71

Vgl. Stephen S. Doktorczyk, Persistent disobedience to Church authority. History, analysis and application of Canon 1371, 28 (= Tesi Gregoriana. Serie Diritto Canonico 105), Rom 2016. 72 Vgl. David Deibel, Canon 1341: Pastoral Principles Within the Penal Process, in: Patricia M. Dugan (Hrsg.), Towards Future Developments in Penal Law: U.S. Theory and Practice. A Symposium Held Under the Auspices of the Pontifical Council for Legislative Texts at the Pontifical University of the Holy Cross, Rome, March 5 – 6, 2009 (= Collection Gratianus series. Proceedings) Montréal 2010, S. 83 – 115. Nach Velasio De Paolis, c. 1341, in: Marzoa/Miras/Rodríguez-Ocaña (Hrsg.), Exegetical Commentary (Anm. 16), Vol. IV/1, S. 364 – 366, hier S. 364 ist c. 1341 CIC/1983 „a key canon for interpreting penal law in general and the norms for applying penalties in particular.“ Papst Franziskus hat die Formulierung des c. 1341 CIC bei der Strafrechtsreform 2021 (vgl. Anm. 73) nur leicht geändert, indem er das einschränkende „tunc tantum promovendam curet“ gestrichen hat. 73 Vgl. Papst Franziskus, Apostolische Konstitution „Pascite Gregem Dei“, 23. 05. 2021, in: OR 161 (2021) Nr. 122 v. 01.06. 2021, S. 2 f., hier S. 2: Es sei nötig gewesen, die strafrechtlichen Bestimmungen des CIC/1983 „auf eine Weise zu verändern, die es den Hirten erlaubt, sie als flexibleres therapeutisches und korrigierendes Instrument zu benutzen, das zeitgerecht und mit pastoraler Liebe eingesetzt werden kann, um größerem Übel zuvorzukommen und die durch menschliche Schwäche geschlagenen Wunden zu heilen“ (dt. Übers. nach: ORdt 51 [2021] Nr. 23 v. 11. 06. 2021, S. 7). 74 Vgl. ebd., 3.

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Auch unterhalb der Schwelle zur Strafbarkeit können Rechtsverstöße und kann Ungehorsam gegenüber einer konkreten Weisung der kirchlichen Autorität Folgen haben: Geistliche Hirten können Laien dann etwa als für kirchliche Ämter und Aufgaben nicht geeignet halten75 und ihnen diese nicht übertragen oder entziehen. Ähnlich können sich Laien aus Sicht der kirchlichen Autorität durch zu geringe Rechtstreue oder mangelnden Gehorsam als Sachverständige und Ratgeber disqualifizieren und deshalb aus entsprechenden Funktionen beziehungsweise Gremien entlassen werden.76 Wo jemand kurz davor steht, sich strafbar zu machen, können Gläubige in der lateinischen Kirche verwarnt werden (c. 1339 § 1 CIC/2021); der Hierarch einer katholischen Ostkirche kann ebenfalls eine Verwarnung (monitio) aussprechen, wann immer er ein Gesetz einschärfen will, das kein Strafgesetz ist (c. 1406 § 2 CCEO). In der lateinischen Kirche konnten Ordinarien zudem immer schon einen Verweis (correptio) erteilen, wenn Gläubige durch ihren Lebenswandel Ärgernis (scandalum) erregt oder eine schwere Verwirrung der Ordnung (gravis ordinis perturbatio) verursacht haben (c. 1339 § 2 CIC/1983). Das 2021 neu gefasste Strafrecht gibt dem Ordinarius darüber hinaus die Möglichkeit, einen Strafbefehl zu verhängen, „in dem er genau vorschreibt, was zu tun oder zu unterlassen ist“, wenn zuvor „Verwarnungen oder Verweise gegen jemand ein- oder mehrmals vergeblich erfolgt sind oder wenn durch sie keine Wirkung zu erhoffen ist“ (c. 1339 § 4 CIC/2021). Kirchliche Mitarbeiter:innen müssen gegebenenfalls mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen bis hin zu Entlassung rechnen und Kleriker, die dem Papst und ihrem jeweiligen Ordinarius ja besonderen (Standes-)Gehorsam schulden (c. 273 CIC/1983; c. 370 CCEO) und diesen mindestens einmal auch im Treueid geschworen haben, mit Disziplinarmaßnahmen: Über Ermahnung, Verwarnung oder Verweis hinaus kann der zuständige Ordinarius u. a. eine Versetzung (cc. 190 f. CIC/1983; cc. 972 f. CCEO) oder Amtsenthebung (cc. 192 – 195 CIC/1983; cc. 974 – 977 CCEO) verfügen. Kirchenrechtlich geregelte Verfahren zur Amtsenthebung und Versetzung gibt es nur für Pfarrer (cc. 1740 – 1752 CIC; cc. 1388 – 1400 CCEO) sowie seit 2016 für Diözesan- oder Eparchialbischöfe, die ihre Sorgfaltspflicht im Umgang mit sexueller Gewalt von Klerikern gegen Minderjährige schwer verletzt haben.77 Eine Absetzung 75

Nach c. 228 § 1 CIC/1983 sind ausdrücklich nur solche „Laien, die als geeignet befunden werden, […] befähigt, von den geistlichen Hirten für jene kirchlichen Ämter und Aufgaben herangezogen zu werden, die sie gemäß den Rechtsvorschriften wahrzunehmen vermögen.“ Für die katholischen Ostkirchen formuliert c. 408 § 2 CCEO zwar nicht ausdrücklich ein entsprechendes Eignungserfordernis, setzt aber dennoch voraus, dass Laien von der zuständigen kirchlichen Autorität lediglich ersatzweise herangezogen werden können. 76 Schließlich sind nach c. 228 § 2 CIC/1983 nur „Laien, die sich durch Wissen, Klugheit und Ansehen in erforderlichem Maße auszeichnen, […] befähigt, als Sachverständige und Ratgeber, auch in Ratsgremien nach Maßgabe des Rechts, den Hirten, der Kirche Hilfe zu leisten.“ Vgl. ähnlich c. 408 § 1 CCEO. 77 Vgl. Papst Franziskus, Motu Proprio „Come una madre amorevole“, 04. 06. 2016, in: AAS 108 (2016) S. 715 – 717 sowie dazu etwa Thomas Meckel, Das Motu Proprio „Come una madre amorevole“ zur Amtsenthebung von Bischöfen, in: Christoph Ohly/Stephan Haering/ Ludger Müller (Hrsg.), Rechtskultur und Rechtspflege in der Kirche. Festschrift für Wilhelm Rees zur Vollendung des 65. Lebensjahres (= KStT 71), Berlin 2020, S. 263 – 273.

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(privatio) kommt kirchenrechtlich hingegen nur als Strafe für eine Straftat in Betracht (c. 196 CIC/1983; c. 978 CCEO); die Höchststrafe der Entlassung aus dem Klerikerstand kann in der lateinischen Kirche zudem nur der universalkirchliche Gesetzgeber festsetzen (c. 1317 CIC/2021). Weil der kirchenrechtlich von allen Gläubigen geforderte Gehorsam nach c. 212 § 1 CIC/1983 und c. 15 § 1 CCEO „im Bewusstsein der eigenen Verantwortung“ zu leisten ist, sehen manche Kanonist:innen einen „verantworteten Ungehorsam“ gerechtfertigt: Ohne ihn hätten in der katholischen Kirche „wohl viele sinnvolle Neuerungen nicht stattgefunden“78. Allerdings dürfe dies nicht dazu führen, den Ungehorsam in einem falschen Sinn zu idealisieren. Vom verantworteten sei der willkürliche Ungehorsam zu unterscheiden: Ersterer werde „nach gründlicher Abwägung und aus tiefer Überzeugung geleistet“, um „die Gemeinschaft auf verfehlte Einzelregelungen aufmerksam [zu] machen“ und „vor möglichen Fehlentwicklungen zu schützen“. Der willkürliche Ungehorsam sei dagegen auf einen individuellen Vorteil aus und geschehe „in der Regel aus Bequemlichkeit oder Überheblichkeit.“ Deshalb gehöre „zum verantworteten Ungehorsam auch die Bereitschaft, die rechtlichen Konsequenzen des praktizierten Rechtsbruches in Kauf zu nehmen und zu tragen. Denn gerade die Bereitschaft dazu dient als Beweis dafür, dass die grundsätzliche Geltung der Grundlagen und damit der Rechtsordnung anerkannt wird.“79 Dieser letzte Hinweis ist wichtig, damit keine falschen Hoffnungen geweckt werden: Das Kirchenrecht kennt keinen „verantworteten Ungehorsam“, weshalb die Berufung darauf niemanden vor den rechtlichen Konsequenzen seines oder ihres Handelns schützt. Wenn zum Beispiel ein Pfarrer seine Pastoralreferentin trotz universalkirchlich wiederholt eingeschärften Verbots80 in der Eucharistiefeier predigen lässt, weil er den Klerikervorbehalt in Bezug auf die Homilie für falsch hält, müssen sich sowohl er selbst als auch die Pastoralreferentin bewusst sein, dass der Diözesan- oder Eparchialbischof sie dafür abmahnen oder sogar ihrer Ämter entheben kann. Auch ein Bischof, der in seiner Diözese oder Eparchie den Predigtdienst von Laien in der Eucharistiefeier duldet, obwohl er qua Amt eigentlich „dafür zu sorgen [hat], dass die Vorschriften der Canones […] vor allem über die Homilie […] sorgfältig befolgt werden“ (c. 386 § 1 78

Demel, Handbuch (Anm. 8), S. 234. Ebd., S. 234 f. Vgl. dazu auch die Überlegungen bei Werner Wolbert, Ist (Un-)Gehorsam eine Tugend?, in: Elisabeth Kapferer u. a. (Hrsg.), Der gesellschaftliche Mensch und die menschliche Gesellschaft. Gedenkschrift für Franz Martin Schmölz (= Salzburger Theologische Studien 52), Innsbruck/Wien 2014, S. 107 – 121. 80 Vgl. c. 767 § 1 CIC/1983 und c. 614 § 4 CCEO sowie zur Einschärfung des Verbots der Laienhomilie: Kongregation für den Klerus u. a., Instruktion „Ecclesiae de mysterio“, 15. 08. 1997 zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester, in: AAS 89 (1997) S. 852 – 877, Art. 3 § 1; Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentendisziplin, Instruktion „Redemptionis sacramentum“, 25. 03. 2004 über einige Dinge bezüglich der heiligsten Eucharistie, die einzuhalten und zu vermeiden sind, in: AAS 94 (2004) S. 549 – 601, Nr. 65 f. sowie jüngst Kongregation für den Klerus, Instruktion „La conversione pastorale della comunità parrocchiale al servizio della missione evangelizzatrice della Chiesa“, 29. 06. 2020, in: OR 160 (2020) Nr. 164 v. 20./21. 07. 2020, S. 7 – 11, Nr. 99. 79

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CIC/1983; vgl. c. 196 § 1 CCEO)81, darf dementsprechend nicht überrascht sein, wenn der Papst gegen ihn ähnliche Maßnahmen ergreift. c) … im Bereich der kirchlichen Lehre Nicht nur fehlender Leitungsgehorsam kann für Gläubige in der katholischen Kirche rechtliche Konsequenzen haben. Auch bei einem Dissens in der Lehre drohen ihnen abhängig vom konkreten Verstoß und ihrer jeweiligen Stellung verschieden weit reichende Rechtsfolgen. Unterschiedslos für alle Gläubigen gelten die kirchenrechtlichen Strafdrohungen bei Ungehorsam gegenüber lehramtlich als verbindlich vorgelegten Lehren, an denen Papst Franziskus bei seiner jüngsten Strafrechtsrevision ausdrücklich festgehalten hat: Wer eine nach c. 750 § 1 CIC/1983 oder c. 598 § 1 CCEO kraft göttlichen und katholischen Glaubens zu glaubende Wahrheit leugnet oder beharrlich an einer solchen Glaubenswahrheit zweifelt, ist Häretiker(in) und zieht sich im lateinischen Rechtskreis die Tatstrafe der Exkommunikation zu (c. 751 CIC/1983 i. V. m. c. 1364 § 1 CIC/2021); Angehörige der katholischen Ostkirchen sollen bei gleichem Vergehen als Häretiker:innen mit der großen Exkommunikation bestraft werden, wenn sie nach rechtmäßiger Verwarnung nicht zur Einsicht kommen (c. 1436 § 1 CCEO).82 Sobald der Eintritt der Tatstrafe auf dem Gerichtsoder Verwaltungsweg festgestellt beziehungsweise die große Exkommunikation als Strafe gerichtlich oder durch außergerichtliches Dekret verhängt wurde, dürfen betroffene Gläubigen keine liturgischen Dienste mehr ausüben, weder Sakramente spenden noch empfangen, keine kirchliche Ämter, Aufgaben und Dienste ausüben und können Akte kirchlicher Leitungsgewalt nicht mehr gültig setzen (c. 1331 CIC/2021; c. 1434 CCEO). Auch Nicht-Häretiker:innen machen sich kirchenrechtlich strafbar, wann immer sie eine vom Papst oder von einem Konzil verworfene Lehre vertreten oder eine gemäß c. 750 § 2 oder c. 752 CIC/1983 beziehungsweise c. 598 § 2 oder c. 599 CCEO vorgelegte Lehre trotz amtlicher Verwarnung hartnäckig ablehnen. In der lateinischen Kirche sollten sie seit 1983 eine auf dem Gerichts- oder Verwaltungsweg zu verhängende „gerechte Strafe“ (iusta poena) erhalten (c. 1371 Nr. 1 CIC/1983). 81 Zu seiner Pflicht, auf die Befolgung aller kirchlichen Gesetze zu drängen (c. 392 § 1 CIC/1983; c. 201 § 1 CCEO) und „darauf zu achten, dass sich kein Missbrauch in die kirchliche Ordnung einschleicht, vor allem in Bezug auf den Dienst am Wort“ (c. 392 § 2 CIC/ 1983; c. 201 § 2 CCEO) sowie seinem diesbezüglichen bischöflichen Treueid vgl. schon oben unter 2. 82 Anders als der CIC kennt der CCEO keine Tatstrafen. Vgl. hierzu etwa Jobe Abbass, CCEO e CIC a confronto, in: Apollinaris 74 (2001) S. 208 – 256, hier S. 240 f.; ausführlich Thomas J. Green, Penal Law in the Code of Canon Law and in the Code of Canons of the Eastern Churches. Some Comparative Reflections, in: StCan 28 (1994) S. 407 – 451; Sabine Demel, Tatstrafe contra Spruchstrafe? Ein Vergleich des CIC/1983 mit dem CCEO/1990, in: AfkKR 165 (1996) S. 95 – 115 oder John D. Faris, Penal Law in the Catholic Churches: A Comparative Overview, in: Folia Canonica. Review of Eastern and Western Canon Law 2 (1999) S. 53 – 93, bes. S. 73 – 75.

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Ab dem 8. Dezember 2021 drohen ihnen neben einer Beugestrafe und dem Amtsverlust auch konkrete Sühnestrafen (c. 1365 CIC/2021). Für Angehörige der katholischen Ostkirchen gilt nach wie vor die Androhung einer „angemessenen Strafe“ (congrua poena) (c. 1436 § 2 CCEO), wenn sie eine vom Papst oder vom Bischofskollegium in Ausübung ihres authentischen Lehramtes als endgültig zu halten vorgelegte Lehre hartnäckig ablehnen oder an einer als irrig verworfenen Lehre festhalten und trotz rechtmäßiger Ermahnung nicht zur Einsicht kommen. Für die Strafverhängung steht der zuständigen kirchlichen Autorität in beiden Fällen sowohl der Gerichts- als auch der Verwaltungsweg offen (cc. 1341 f. CIC/2021; c. 1402 CCEO). Katholik:innen in Politik, Beruf und Gesellschaft Potenziell strafbare Verstöße gegen lehramtliche Vorgaben können dabei keineswegs nur in der Katechese, im Religionsunterricht oder in der theologischen Lehre vorkommen, sondern auch im alltäglichen gesellschaftlichen oder politischen Engagement von Gläubigen. Dass Katholik:innen auch dort an ihre Gehorsamspflicht gegenüber dem kirchlichen Lehramt gebunden sind, hat die Kongregation für die Glaubenslehre 2002 in einer Nota doctrinalis eigens eingeschärft und angesichts „zweideutige[r] Auffassungen“ und „bedenkliche[r] Positionen“ betont: „Es wäre ein Irrtum, die richtige Autonomie, die sich die Katholiken in der Politik zu eigen machen müssen, mit der Forderung nach einem Prinzip zu verwechseln, das von der Moralund Soziallehre der Kirche absieht.“83 Das „gut gebildete“, d. h. mit Hilfe des kirchlichen Lehramtes geformte christliche Gewissen84, gestatte niemandem die Unterstützung eines politischen Programms, in welchem „die grundlegenden Inhalte des Glaubens und der Moral durch alternative oder diesen Inhalten widersprechende 83 Kongregation für die Glaubenslehre, Nota doctrinalis de christifidelium rationibus in publicis negotiis gerendis, 24. 11. 2002, in: AAS 96 (2004) S. 359 – 370, Nr. 6. 84 Das II. Vatikanum hat die Pflicht und das Recht aller Menschen anerkannt, „sich rechte und wahre Gewissensurteile zu bilden“ (DH 3). Weil das Gewissen jedoch aus „Gründen, die nicht immer frei von persönlicher Schuld sind, […] auch Fehlurteile bilden“ kann, hat der Mensch „die Pflicht, es zu pflegen, zu formen, zu bilden. Es hat nur dann Anspruch auf Achtung und Gehorsam, wenn der Mensch […] ihm die Sorge zuteil werden läßt, die seiner Würde entspricht. Das Recht des Gewissens ist eine Pflicht der Gewissensbildung“, so Joseph Ratzinger, Der Auftrag des Bischofs und des Theologen angesichts der Probleme der Moral in unserer Zeit, in: IKZ Communio 13 (1984) S. 524 – 538, hier S. 532. Bei dieser Gewissensbildung müssen Katholik:innen schon nach der Lehre des II. Vatikanums „die heilige und sichere Lehre der Kirche sorgfältig vor Augen haben. Denn nach dem Willen Christi ist die katholische Kirche die Lehrerin der Wahrheit; ihre Aufgabe ist es, die Wahrheit, die Christus ist, zu verkündigen und authentisch zu lehren, zugleich auch die Prinzipien der sittlichen Ordnung, die aus dem Wesen des Menschen selbst hervorgehen, autoritativ zu erklären und zu bestätigen“ (DH 14). Vgl. Papst Johannes Paul II., Enzyklika „Veritatis splendor“, 06. 08. 1993, in: AAS 85 (1993) S. 1133 – 1228, Nr. 64, wonach Gläubige dabei in der Kirche und ihrem Lehramt eine große Hilfe hätten und autoritative lehramtliche Vorgaben der Gewissensfreiheit „keinerlei Abbruch“ täten, „nicht nur, weil die Freiheit des Gewissens niemals Freiheit ,von‘ der Wahrheit, sondern immer und nur Freiheit ,in‘ der Wahrheit ist, sondern auch weil das Lehramt an das christliche Gewissen nicht ihm fremde Wahrheiten heranträgt, wohl aber ihm die Wahrheiten aufzeigt, die es bereits besitzen sollte“.

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Vorschläge umgestoßen werden.“85 Wann immer es um moralische Prinzipien gehe, „die keine Abweichungen, Ausnahmen oder Kompromisse irgendwelcher Art zulassen“, sei das gesellschaftliche und politische Handeln von Katholik:innen „deutlicher sichtbar und mit größerer Verantwortung verbunden.“86 Ein mit lehramtlichen Vorgaben erkennbar nicht konformes Verhalten ist daher nur ausnahmsweise zulässig, wenn es darum geht, größeren Schaden zu vermeiden, und zugleich der Lehrgehorsam der handelnden Personen nicht nur in der Sache feststeht, sondern auch öffentlich bekannt ist.87 Vor diesem Hintergrund haben Diözesanbischöfe und Bischofskonferenzen in der Abtreibungsfrage kompromissbereite katholische Politiker:innen verschiedentlich zur Einhaltung der kirchlichen Lehre aufgefordert beziehungsweise das Abweichen von ihr sanktioniert: Erst 2021 wurde in der USamerikanischen Bischofskonferenz noch diskutiert, ob man US-Präsident Joe Biden nicht wegen seiner Haltung in der Abtreibungsfrage die Kommunion verweigern müsse.88 Auch katholische Wähler:innen dürfen nach Recht und Lehre ihrer Kirche nicht, wie etwa 2015 in Irland, dafür votieren, das staatliche Rechtsinstitut 85

Kongregation für die Glaubenslehre, Nota doctrinalis (Anm. 83), Nr. 4. Ebd. 87 Vgl. für die Mitwirkung katholischer Politiker:innen an der staatlichen Abtreibungsgesetzgebung entsprechend Papst Johannes Paul II., Enzyklika „Evangelium Vitae“, 25. 03. 1995, in: AAS 87 (1995) S. 401 – 522, Nr. 73 sowie an Gesetzen zur Rechtsstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften Kongregation für die Glaubenslehre, Nota de contubernalibus eiusdem sexus quoad iuridica consectaria contubernii, 03. 06. 2003, in: AAS 96 (2004) S. 41 – 49, Nr. 10. Zur Übertragung der von „Evangelium vitae“ Nr. 73 formulierten Lösung auf ähnlich gelagerte Fälle vgl. z. B. Tarcisio Bertone, Catholics and Pluralist Society. „Imperfect laws“ and the Responsibility of Legislators, in: Juan de Dios Vial Correa/Elio Sgreccia (Hrsg.), Evangelium vitae: Five Years of Confrontation with the Society. Proceedings of the Sixth Assembly of the Pontifical Academy for Life. Vatican City, 11 – 14 February 2000, Vatikanstadt 2001, S. 206 – 222, hier S. 213 – 220; zu entsprechenden Fragen im Bereich der Bio-Ethik vgl. Anthony Fisher, The Duties of a Catholic Politician with Respect to BioLawmaking, in: Notre Dame Journal of Law, Ethics & Public Policy 20 (2006) S. 89 – 123. 88 Vgl. Massimo Faggioli, Die Hostienkrieger. Die US-amerikanischen Bischöfe riskieren einen beispiellosen Kulturkampf. Er zielt gegen Joe Biden und Papst Franziskus, in: PublikForum 13/2021, S. 34 f. sowie zur entsprechenden Diskussion 2004 im Vorfeld der US-Präsidentenwahl bezüglich des katholischen Kandidaten John Kerry: Michael J. Sheridan, On the Duties of Catholic Politicians and Voters, 01. 05. 2004 (https://www.ewtn.com/catholicism/lib rary/on-the-duties-of-catholic-politicians-and-voters-3664; [Zugriff: 22. 08. 2022]). Zur Begründung vgl. Raymond Leo Burke, Canon 915: The Discipline Regarding the Denial of Holy Communion to those Obstinately Persevering in Manifest Grave Sin, in: PerRCan 96 (2007) S. 3 – 58. Im Jahr 2007 wurden Lokalpolitiker in Mexiko-Stadt sogar exkommuniziert, nachdem sie die Abtreibung im Hauptstadt-Distrikt weitgehend straffrei gestellt hatten. Der Papst billigte diese restriktive Reaktion insbesondere des zuständigen Erzbischofs, vgl. Papst Benedikt XVI., Interview v. 09. 05. 2007, in: OR 147 (2007) Nr. 106 v. 11. 05. 2007, S. 6. In Polen rief die Bischofskonferenz 2009 in einem 100-seitigen Dokument die kirchliche Lehre über Ehe, Familie, Fortpflanzung und Abtreibung in Erinnerung und warnte katholische Politiker:innen u. a., sie zögen sich die Tatstrafe der Exkommunikation zu, wenn sie öffentlich für Abtreibung einträten, vgl. Polnische Bischofskonferenz, Słuz˙ yc´ prawdzie o małz˙ en´stwie i rodzinie, 19. 06. 2009 (http://www.kodr.pl/wp-content/uploads/2018/10/SUYC_PRAWDZIE_ O_MAESTWIE_I_RODZINIE.pdf; [Zugriff: 22. 08. 2022]). 86

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Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen.89 Als Ärzt:innen sowie Hebammen dürfen Katholik:innen nicht an Abtreibungen mitwirken90, als Jurist:innen ihr Geld nicht als Scheidungsanwält:innen verdienen91 und müssen sich als Apotheker:innen, wo dies nach staatlichem Recht möglich ist, auf ihr Gewissen berufen, um die Abgabe von Medikamenten mit nidationshemmender oder abortiver Wirkung zu verweigern.92 Diesbezügliche und etwaige andere Verstöße gegen die kirchliche Lehre können, auch wenn durch sie noch nicht ein Straftatbestand verwirklicht wird, dazu führen, dass Gläubigen die Kommunion verweigert wird, weil sie aus Sicht ihrer Bischöfe oder Pfarrer „hartnäckig in einer offenkundigen schweren Sünde verhar89 Vgl. zuletzt Kongregation für die Glaubenslehre, Nota (Anm. 87). Demnach sind alle Gläubigen verpflichtet, „klar und deutlich Einspruch“ gegen die rechtliche Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaften mit der Ehe zu erheben. Außerdem müssen sie sich „jedweder Art formeller Mitwirkung an der Promulgation und Anwendung von so schwerwiegend ungerechten Gesetzen und, soweit es möglich ist, auch von der materiellen Mitwirkung auf der Ebene der Anwendung enthalten“ (Nr. 5). Katholische Politiker:innen tragen hierbei eine besondere Verantwortung: Sie sind sittlich verpflichtet, „klar und öffentlich […] Widerspruch zu äußern und gegen den Gesetzesentwurf zu votieren. Die eigene Stimme einem für das Gemeinwohl der Gesellschaft so schädlichen Gesetzestext zu geben, ist eine schwerwiegend unsittliche Handlung“ (Nr. 10). Im Sinne der kirchlichen Lehre durchaus konsequent war das Ergebnis des irischen Referendums vom 22. 05. 2015 für Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin „[n]on solo una sconfitta dei principi cristiani, ma una sconfitta dell’umanità“, in: AA. VV., Per un rinnovato impegno della Chiesa, in: OR 165 (2015) Nr. 119 v. 28. 05. 2015, S. 7. 90 Vgl. c. 1398 CIC/1983 und c. 1397 § 2/2021 sowie c. 1450 § 2 CCEO. Daraus kann für katholisches Klinikpersonal durchaus ein Konflikt mit dem Arbeitgeber entstehen. Vgl. etwa den Prozess, den zwei katholische Hebammen aus Schottland gegen das Southern General Hospital in Glasgow angestrengt haben, nachdem die Klinik sie nach internen Umstruktierungen nicht mehr von der Beteiligung an Abtreibung freistellen wollte. Anfang 2012 hat die Klinik den Rechtsstreit gewonnen (vgl. https://www.kath.net/news/35428; [Zugriff: 22. 08. 2022]). 91 Nach Papst Johannes Paul II., Ansprache v. 28. 01. 2002 an die Römische Rota, in: AAS 94 (2002) S. 340 – 346, Nr. 9, müssen es freiberuflich tätige Anwälte „stets ablehnen, ihren Beruf auszuüben für eine der Gerechtigkeit entgegengesetzte Zielsetzung, wie dies die Scheidung ist; sie können sich an einer Handlung nur dann beteiligen, wenn diese entsprechend der Absicht des Klienten nicht auf den Bruch des Ehebundes ausgerichtet ist, sondern auf andere legitime Effekte, die nur mittels eines solchen gerichtlichen Weges in einer bestimmten Rechtsordnung zu erreichen sind“. Vgl. hierzu ausführlich John J. Coughlin, Divorce and the Catholic Lawyer, in: Jurist 61 (2001) S. 290 – 310. 92 Vgl. Papst Johannes Paul II., Ansprache v. 03. 11. 1990 an die Internationale Vereinigung katholischer Apotheker, in: AAS 83 (1991) S. 582 – 584, Nr. 4; Papst Benedikt XVI., Ansprache v. 29. 10. 2007 an die Teilnehmer des 25. Internationalen Kongresses der katholischen Apotheker, in: AAS 99 (2007) S. 931 – 933, hier S. 932. Im Fall zweier französischer Apotheker, die sich unter Berufung auf ihre Religionsfreiheit geweigert hatten, Frauen die „Pille“ zu verkaufen, hat der EGMR, Beschluss vom 2. Oktober 2001, Nr. 49853/99 (Pichon u. a. ./. Frankreich), in: KirchE 42 (2007) S. 548 – 551, hier S. 551, allerdings entschieden: „as long as the sale of contraceptives is legal and occurs on medical prescription nowhere other than in a pharmacy, the applicants cannot give precedence to their religious beliefs and impose them on others as justification for their refusal to sell such products, since they can manifest those beliefs in many ways outside the professional sphere“.

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ren“ (c. 915 CIC/1983) oder als „öffentlich Unwürdige“ gelten (c. 712 CCEO)93, dass sie liturgische Aufgaben und Dienste nicht mehr ausüben dürfen oder aus kirchlichen Beratungsgremien beziehungsweise Ämtern entlassen werden.94 Dieselben Rechtsfolgen drohen Gläubigen auch bei Nichtbeachtung lehramtlicher Vorgaben in der persönlichen Lebensführung etwa durch uneheliches Zusammenleben in einer homo- oder heterosexuellen Partnerschaft oder eine kirchenrechtlich ungültige Eheschließung z. B. nach zivilrechtlicher Scheidung beziehungsweise mit einem gleichgeschlechtlichen Partner, wo dies nach staatlichem Recht möglich ist. Hauptberuflich bei der Kirche beschäftigte Laien müssen bei allen genannten Verstößen zudem mit arbeitsrechtlichen und Kleriker mit den bereits genannten disziplinarischen Konsequenzen rechnen. Religionslehrer:innen und Theolog:innen können dabei als Multiplikator:innen auch sanktioniert werden, wenn sie an staatlichen Schulen oder Universitäten unterrichten. Religionslehrer:innen Jeder Diözesan- oder Eparchialbischof der katholischen Kirche ist kirchenrechtlich sogar verpflichtet Religionslehrer:innen abzuberufen oder vom Schulträger ihre Abberufung zu fordern, wenn sie in Lehre oder Lebenswandel gegen lehramtliche Vorgaben verstoßen (c. 805 CIC/1983; c. 636 § 2 CCEO). In Deutschland hat ein solcher Entzug der „Missio canonica“ aufgrund des Staatskirchenrechts zur Folge, dass ein:e Religionslehrer:in ab sofort auch an staatlichen Schulen nicht mehr im Religionsunterricht eingesetzt werden darf. Das Verfahren zum Entzug der Missio canonica sollte bereits nach den Rahmenrichtlinien der Deutschen Bischofskonferenz von 1973 dem der Verleihung entsprechen95; in den vergangenen Jahren haben zahlreiche deutsche (Erz-)Diözesen im Bemühen um einen besseren Rechtsschutz der betroffenen Lehrer:innen eigene und detailliertere Ordnungen erlassen.96 Geregelt werden darin allerdings im Wesentlichen nur Verfahrensfragen: Die inhaltlichen Kriterien des Gehorsams in Lehre und Lebensführung sind universalkirchenrechtlich ebenso vorgegeben wie die diesbezügliche Aufsichts- und etwaige Sanktionierungspflicht des zuständigen Bischofs. Theolog:innen Stärker noch als Schüler:innen im Religionsunterricht versucht die Kirche, Theologiestudierende vor Abweichungen von der kirchenamtlichen Lehre zu schützen. Wer Theologie studiert, wird später schließlich meist selbst zum/zur Multiplikator:in und könnte dann zur Verbreitung von irrigen Ansichten beitragen. Deshalb darf nie93

Vgl. entsprechend z. B. Burke, Canon 915 (Anm. 88). Vgl. hierzu schon oben unter II.3.a). 95 Vgl. DBK-Rahmenrichtlinien 1973 (Anm. 30), Nr. 9 sowie zur Umsetzung in den deutschen (Erz-)Diözesen Thomas Meckel, Neuere Entwicklungen im Bereich der rechtlichen Regelung der Missio canonica für Religionslehrer/innen und der kirchlichen Studienbegleitung in den deutschen Diözesen, in: AfkKR 180 (2011) S. 64 – 91, hier S. 70 – 75. 96 Vgl. ebd., S. 75 – 84. 94

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mand ohne kirchliches Mandat Theologie lehren und entscheidet durch das „Nihil obstat“ der Apostolische Stuhl über jede Festanstellung von Dozent:innen mit, wobei regelmäßig auch die persönliche Lebensführung mit geprüft wird, weil aus kirchlicher Sicht bei Theolog:innen wissenschaftliches Forschen und Glaubensleben immer zusammenkommen müssen.97 Dass die anschließende Vermittlung katholischer Theologie stets lehramtstreu zu erfolgen hat, ist nicht nur kirchenrechtlich gefordert98, sondern ergibt sich aus dem allen Theolog:innen amtlich verordneten Selbstverständnis: „Da er nie vergessen wird“, so die Kongregation für die Glaubenslehre 1990 in der Instruktion „Donum veritatis“, „daß auch er ein Glied des Volkes Gottes ist, muß der Theologe dieses achten und sich bemühen, ihm eine Lehre vorzutragen, die in keiner Weise der Glaubenslehre Schaden zufügt.“99 Wo Lehrende die nötigen Voraussetzungen insbesondere hinsichtlich ihrer Rechtgläubigkeit und untadeligen Lebensführung nicht mehr erfüllen, hat die zuständige kirchliche Autorität an allen kirchlichen Hochschuleinrichtungen dafür zu sorgen, dass sie aus ihrem Amt entfernt werden (c. 810; vgl. c. 818 CIC/1983; c. 644 CCEO). Theolog:innen kann zu diesem Zweck das Mandat beziehungsweise „Nihil obstat“ entzogen werden, was dann auch an staatlichen Universitäten zur Folge hat, dass sie nicht mehr Mitglied einer Katholisch-Theologischen Fakultät sein und in Studiengängen mit Katholischer Theologie weder lehren noch prüfen dürfen.100 Anders als bei klaren Verstößen gegen die kirchliche Lehre in der Lebensführung, die zum Entzug von Mandat oder „Nihil obstat“ führen können, wie etwa der Abschluss einer kirchenrechtlich ungültigen Ehe oder das öffentliche Bekenntnis eines Priesters zu einer homo- oder heterosexuellen Lebenspartnerschaft, muss ein Dissens in der Lehre und die dementsprechende Verletzung der Gehorsamspflicht 97

Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion „Donum veritatis“ (Anm. 12), Nr. 8: „Da das Objekt der Theologie die Wahrheit, nämlich der lebendige Gott und sein in Jesus Christus geoffenbarter Heilsplan ist, muß der Theologe sein Glaubensleben vertiefen sowie wissenschaftliches Forschen und Gebet immer vereinen.“ 98 Vgl. Papst Franziskus, „Veritatis Gaudium“ (Anm. 33), Art. 73. 99 Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion „Donum veritatis“ (Anm. 12), Nr. 11. 100 Vgl. für die staatlichen Fakultäten in Deutschland: Kongregation für das Katholische Bildungswesen, De Facultatibus Theologicis Catholicis in studiorum universitatibus civilibus in ambitu conferentiae episcoporum Germaniae sitis, quo praescripta Constitutionis Apostolicae „Sapientia Christiana“ atque adnexarum eisdem „Ordinationum“ rite accommodantur et applicantur, 01. 01. 1983, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Katholische Theologie (Anm. 33), S. 370 – 384, Nr. 5 Satz 2 sowie dazu Heribert Schmitz/Ulrich Rhode, Einführung, in: Ebd., S. 19 – 186, hier S. 138 mit Anm. 245 und Georg Bier, Die Stellung Katholisch-Theologischer Fakultäten nach kanonischem Recht und deutschem Staatskirchenrecht, in: Helmut Hoping (Hrsg.), Universität ohne Gott? Theologie im Haus der Wissenschaften, Freiburg i. Br. 2007, S. 130 – 170, hier S. 150, der zutreffend anmerkt, dies sei „für die staatlichen Behörden unbefriedigend, weil ihnen damit aus einer Beanstandung durch den Diözesanbischof zusätzliche Personalkosten in erheblicher Höhe erwachsen, und dies mitunter über einen langen Zeitraum hinweg.“ – Vgl. zum Entzug von Mandat beziehungsweise Nihil obstat auch den Überblick bei Schmitz/Rhode, Einführung (Anm. 100), S. 132 – 141.

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(cc. 750 und 752 f. CIC/1983; cc. 598 f. CCEO) zunächst festgestellt werden. Das obliegt dem zuständigen Diözesanbischof. Zwar haben Bischofskonferenzen weltweit dafür oft sogenannte Glaubens- oder Lehrkommissionen eingerichtet101 und wurde in Deutschland 1981 eine eigene Ordnung für Lehrbeanstandungsverfahren bei der Deutschen Bischofskonferenz beschlossen.102 Zumindest in Deutschland muss ein Diözesanbischof allerdings weder ein entsprechendes Verfahren abwarten noch ist er an dessen Ausgang rechtlich gebunden.103 Schließlich sind Diözesan- und Eparchialbischöfe von Rechts wegen persönlich verpflichtet und berechtigt, die kirchliche Glaubens- und Sittenlehre mit allen Mitteln zu schützen, die ihnen geeignet erscheinen (c. 386 § 2 CIC/1983; vgl. c. 196 § 2 CCEO). Unbeschadet des teilkirchlichen Wächteramtes der Bischöfe ist das Dikasterium (früher: Kongregation) für die Glaubenslehre beauftragt und befugt, die Glaubens- und Sittenlehre in der ganzen katholischen Kirche zu fördern und zu schützen.104 Daher kann bei dissentierenden Theolog:innen jederzeit auch der Apostolische Stuhl intervenieren und ein Lehrbeanstandungsverfahren nach der „Ordnung für die Lehrüberprüfung“ von 1997105 beginnen. 101 Vgl. für einen Überblick über Maßnahmen solcher Kommissionen weltweit Bradford E. Hinze, A Decade of Disciplining Theologians, in: Richard R. Gaillardetz (Hrsg.), When the Magisterium Intervenes. The Magisterium and Theologians in Today’s Church, Collegeville, Minn. 2012, S. 3 – 39, hier S. 21 – 23. Vgl. zudem das ausführliche Dossier zur Beanstandung von Schwester Elizabeth A. Johnson durch das Committee on Doctrine der US-amerikanischen Bischofskonferenz in: Ebd., S. 177 – 275. 102 Vgl. Deutsche Bischofskonferenz, Lehrbeanstandungsverfahren bei der Deutschen Bischofskonferenz, 04. 05. 1981, in: ABl. Erzbistum Köln 121 (1981) S. 161 – 163 sowie dazu Heribert Heinemann, Lehrbeanstandung in der katholischen Kirche. Analyse und Kritik einer Verfahrensordnung, Trier 1981 oder Reinhard Wenner, Das Lehrbeanstandungsverfahren bei der Deutschen Bischofskonferenz. Gesetzgeber und Gesetzgebungsverfahren, in: AfkKR 160 (1991) S. 102 – 109. 103 Das Lehrbeanstandungsverfahren bei der Deutschen Bischofskonferenz soll dem zuständigen Diözesanbischof lediglich eine „Entscheidungshilfe […] über zu treffende Maßnahmen“ geben, so Deutsche Bischofskonferenz, Lehrbeanstandungsverfahren (Anm. 102), § 1b. Vgl. bereits Lüdecke, Kommunikationskontrolle (Anm. 26), S. 84 und Ulrich Rhode, Die Lehrprüfungs- bzw. Lehrbeanstandungsverfahren, in: Ludger Müller (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kirche, Wien u. a. 2011, S. 39 – 57, hier S. 45. Das Lehrbeanstandungsverfahren wurde seit 1981 noch nicht in Anspruch genommen; nur vier deutsche Bistümer haben die Verfahrensordnung überhaupt verbindlich in Kraft gesetzt (vgl. ebd.). 104 Bis Pfingsten 2022 galt mit Papst Johannes Paul II., „Pastor bonus“ (Anm. 69), Art. 48: „Die besondere Aufgabe der Kongregation für die Glaubenslehre ist es, die Lehre über Glaube und Sitten auf dem ganzen katholischen Erdkreis zu fördern und zu schützen; ferner kommt ihr alles zu, was diese Materie in irgendeiner Weise berührt.“ Nach der jüngsten Kurienreform heißt die frühere Kongregation nun „Dikasterium für die Glaubenslehre“ und hat die Aufgabe, Papst und Bischöfe bei der Verkündigung des Evangeliums in der ganzen Welt zu unterstützen und die Integrität der katholischen Glaubens- und Sittenlehre zu fördern und zu schützen, vgl. Papst Franziskus, „Praedicate Evangelium“ (Anm. 69), Art. 69. 105 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Agendi ratio in doctrinarum examine, 29. 06. 1997, in: AAS 89 (1997) S. 830 – 835 sowie dazu Jose A. Fuentes, Nuevo regolamento de la Congregación para la doctrina de la fe sobre el examen de las doctrinas, in: IusCan 38 (1998) S. 301 – 341; Werner Böckenförde, Die Verfahrensordnung zur Überprüfung von Lehrfragen

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Von der Einleitung eines solchen Verfahrens erfahren betroffene Theolog:innen überhaupt erst, wenn die interne Phase des ordentlichen Verfahrens bereits abgeschlossen und das Dikasterium für die Glaubenslehre zu dem Vor-Urteil gekommen ist, dass eine Äußerung oder Schrift zu beanstanden sei.106 Zeitgleich werden dann auch alle zuständigen Dikasterien der Römischen Kurie und der jeweilige Ordinarius des/der Theologen/Theologin informiert107, was „Insidern zufolge […] den Autor, selbst wenn das weitere Verfahren für ihn günstig endet, bei den [kirchlichen] Behörden zur persona mortua“108 macht. Die konkret beanstandeten Äußerungen werden ihm:ihr zusammen mit anonymisierten Gutachten und Stellungnahmen aus dem bisherigen Verfahren109 über den zuständigen Ordinarius zugestellt, um dazu innerhalb von drei Monaten schriftlich Stellung zu nehmen.110 Befriedigt die Antwort des:der Autor:in das Dikasterium, wird das Lehrbeanstandungsverfahren ohne irgendeine Rehabilitierung stillschweigend eingestellt.111 Befriedigt sie nicht, kann das Dikasterium z. B. das „Nihil obstat“ entziehen, dem:der Beanstandeten eine öffentliche Selbstkorrektur auferlegen, die Verwendung beanstandeter Schriften im Theologiestudium verbieten oder auch Strafen bis hin zur Exkommunikation verhängen.112 Die durch die Kongregation für die Glaubenslehre von 1997, in: Norbert Lüdecke/Georg Bier (Hrsg.), Freiheit und Gerechtigkeit in der Kirche. Gedenkschrift für Werner Böckenförde (= FzK 37), Würzburg 2006, S. 132 – 142; Lüdecke, Kommunikationskontrolle (Anm. 26), S. 85 – 98. 106 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Agendi ratio (Anm. 105), Art. 17. 107 Vgl. ebd., Art. 16. 108 Lüdecke, Kommunikationskontrolle (Anm. 26), S. 93. 109 Alle Gutachter sowie der gemäß Art. 10 der Agendi ratio (Anm. 105) bestellte „Relator pro auctore“ arbeiten „somit im Schutz der Anonymität“ und „sind entlastet von dem Druck, ihre Objektivität von Fachkreisen überprüft zu sehen“, wie Böckenförde, Verfahrensordnung (Anm. 105), S. 139 zu Recht feststellt. Vgl. Lüdecke, Kommunikationskontrolle (Anm. 26), S. 94. 110 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Agendi ratio (Anm. 105), Art. 17. Ein Kolloquium mit Delegierten der Kongregation/des Dikasteriums kann ausnahmsweise gewährt werden (vgl. ebd., Art. 18). Das Dikasterium selbst spricht und korrespondiert nicht mit dem Autor. So wird nach Lüdecke, Kommunikationskontrolle (Anm. 26), S. 95 mit Verweis auf Fuentes, Regolamento (Anm. 105), S. 327 „dem Missverständnis vorgebeugt, es gehe um eine Disputation mit dem Autor, in der die Kraft der Argumente zählte“. 111 Vgl. dazu bereits kritisch Andreas Weiß, Lehre im Brennpunkt von Freiheit und Beanstandung. Bemerkungen zur Neuordnung des Lehrprüfungsverfahrens bei der Kongregation für die Glaubenslehre vom 29. Juni 1997, in: Karl-Theodor Geringer/Heribert Schmitz (Hrsg.), Communio in Ecclesiae mysterio. Festschrift für Winfried Aymans, St. Ottilien 2001, S. 669 – 697, hier S. 689 Anm. 112. Nach Lüdecke, Kommunikationskontrolle (Anm. 26), S. 95 ist aus Sicht der Kongregation das, „[w]as am Autor ,hängen bleibt‘, […] als Kollateralschaden des kapitalen Sicherheitsgewinns für die einfachen Gläubigen hinzunehmen.“ 112 Vgl. mit konkreten Beispielen und Belegen z. B. ebd., S. 95. Für einen Überblick über zuletzt von der Kongregation für die Glaubenslehre beanstandete Theolog:innen vgl. Hinze, Decade (Anm. 101), S. 12 – 20 und exemplarisch auch Hans Waldenfels, Theologen unter römischem Verdacht. Anthony de Mello SJ – Jacques Dupuis SJ – Roger Haight SJ – Jon Sobrino SJ, in: StdZ 226 (2008) S. 219 – 231 oder Ted Schoof (Hrsg.), The Schillebeeckx Case. Official exchange of letters and documents in the investigation of Fr. Edward Schille-

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Veröffentlichung einer Lehrbeanstandung erfolgt durch eine abschließende „Notificatio“ des Dikasteriums für die Glaubenslehre im L’Osservatore Romano und anschließend meist auch in den Acta Apostolicae Sedis, dem Amtsblatt des Apostolischen Stuhls, sowie inzwischen natürlich auch im Internet.113 Anders als der 1966 abgeschaffte Index der verbotenen Bücher114 verbieten aktuelle Notifikationen zwar nicht mehr die Lektüre von Werken beanstandeter Autor:innen, „machen aber das Gewissen wachsam“ und können „[g]erade in ihrer Unberechenbarkeit […] als exemplarisch gesetzte Warnsignale fungieren“, weil sie bei Theolog:innen „die Sanktionsgefahr, die nichtkonformes Verhalten zeitigen kann, im Bewusstsein fortwährend wach und präsent“115 halten.116 Spätestens seit der Instruktion „Donum veritatis“ muss Theolog:innen dabei klar sein, dass nicht erst ein qualifizierter, also organisierter und mit einer erkennbaren Oppositions- oder Proteststrategie verbundener Dissens als sanktionswürdig gilt, sondern jede öffentliche Abweichung von lehramtlichen Vorgaben.117

beeckx, O.P. by the Sacred Congregation for the Doctrine of the Faith. 1976 – 1980, Eugene, Or. 2011. 113 Vgl. dazu in der Sache Heribert Schmitz, Notificationes Congregationis pro Doctrina Fidei uti decisiones, in quibus exitus doctrinarum examinis secundum normas contentas in Ordine nuncupato „Agendi ratio in doctrinam examine“ pervulgentur. Kanonistische Anmerkungen zu den Notifikationen über den Abschluß eines Lehrprüfungsverfahren, in: AfkKR 171 (2002) S. 371 – 399 und Lüdecke, Kommunikationskontrolle (Anm. 26), S. 96 – 98 sowie für einen aktuellen Überblick die Liste der seit 1966 von der Kongregation für die Glaubenslehre veröffentlichten Dokumente, in der sich auch die seitdem publizierten Notifikationen nach Lehrbeanstandungsverfahren finden: https://www.vatican.va/roman_curia/congregati ons/cfaith/doc_doc_index_ge.htm [Zugriff: 22. 08. 2022]. 114 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Notificatio, 14. 06. 1966, in: AAS 58 (1966) S. 445 sowie in der Sache zum Index librorum prohibitorum etwa Herman H. Schwedt, Kommunikationskontrolle durch den römischen „Index der verbotenen Bücher“. Facetten eines vieldiskutierten Phänomens, in: Communicatio Socialis 20 (1987) S. 327 – 338. 115 Lüdecke, Kommunikationskontrolle (Anm. 26), S. 98. 116 Zur entsprechenden Durchsetzungsbereitschaft der lehramtlichen Autorität, die zu inzwischen mehr als 100 formalen Beanstandungen von Theolog:innen geführt hat, vgl. jüngst z. B. Lüdecke, Täuschung, (Anm. 21), S. 84 mit Anm. 36. 117 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion „Donum veritatis“ (Anm. 12), Nr. 32 – 41 sowie die diesbezügliche Analyse von Lüdecke, Grundnormen (Anm. 12), S. 482 – 486, der gegen anderslautende Auskünfte u. a. von Karl Lehmann, Dissensus. Überlegungen zu einem neueren dogmenhermeneutischen Grundbegriff, in: Eberhard Schockenhoff/Peter Walter (Hrsg.), Dogma und Glaube. Bausteine für eine theologische Erkenntnislehre. Festschrift für Bischof Walter Kasper, Mainz 1993, S. 69 – 87 und Max Seckler, Der Dialog zwischen dem Lehramt und den Theologen, in: Gerhard Ludwig Müller (Hrsg.), Die Instruktion „Donum veritatis“ über die kirchliche Berufung des Theologen. Dokumente und Studien der Kongregation für die Glaubenslehre (= Römische Texte und Studien 5), Würzburg 2011, S. 85 – 90, nachweist, dass die Instruktion den Begriff „Dissens“ nicht im Sinne relativierender Positionen der nachkonziliaren Theologie versteht, sondern schlicht als „öffentlichen Widerspruch“, womit lehramtlich jedwede öffentliche Nichtzustimmung zu kirchlichen Lehren unzulässig ist (vgl. Lüdecke, Grundnormen [Anm. 12], S. 485).

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III. Würdigung Die von der Rechtsordnung der römisch-katholischen Kirche vorgesehenen Regeln und Verfahren zum Umgang mit Konflikten und Dissens beziehungsweise zu ihrer vorbeugenden Vermeidung lassen erkennen, was dem kirchlichen Gesetzgeber wichtig ist: Schon 1983 hat Papst Johannes Paul II. das kanonische Lehrrecht zu einem eigenen Buch im neuen CIC aufgewertet und darin Zuständigkeit und Kompetenz des kirchlichen Lehramts gegen Anfragen aus der nachkonziliaren Theologie bekräftigt (c. 747 CIC/1983; vgl. c. 595 CCEO).118 Die allgemeine Gehorsamspflicht der Gläubigen (c. 212 § 1 CIC/1983) hat er dabei abhängig vom Verbindlichkeitsgrad einer amtlich vorgelegten Lehre zu differenzierten Rechtspflichten gemacht und auch für nicht-unfehlbare Lehren dabei einen Gehorsam gefordert, der als Maximalabweichung nur ein gehorsames Schweigen zulässt (c. 752 CIC/1983; vgl. c. 599 CCEO). Die im CIC zunächst fehlende, im Codex für die katholischen Ostkirchen von 1990 aber bereits enthaltene, Rechtspflicht zur festen Annahme und Bewahrung einer nicht selbst geoffenbarten unfehlbaren Lehre (c. 598 § 2 CCEO), hat der Papst 1998 ergänzt (c. 750 § 2 CIC/1983)119 und damit wohl darauf reagiert, dass die 1994 offenkundig gemachte Unfehlbarkeit der Unmöglichkeit einer Priesterweihe von Frauen anhaltend bestritten wurde. Zugleich hat die Kongregation für die Glaubenslehre seit den 1970/80er Jahren bei Theolog:innen oft schnell und konsequent auf die Dissensproblematik reagiert und abweichende Lehren verurteilt.120 Erst viel später hatte der verbreitet laxe Umgang mit sexueller Gewalt von Klerikern gegen Minderjährige verfahrensrechtliche Folgen: Dabei hätten die verantwortlichen Bischöfe nicht nur aus moralischen, sondern auch aus rechtlichen Gründen zumindest seit Inkrafttreten des CIC/1983 jedem Anfangsverdacht aktiv nachgehen müssen (c. 1717 CIC/1983). Tatsächlich haben sie das in der Regel nicht getan121 und oft sogar versucht, die Aufklärung von Taten zu be- oder zu verhindern: Aus Rücksicht auf das Ansehen der Kirche sollten Skandale vermieden werden.122 Erst 2001 hat Papst Jo118

Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 134 – 195. Vgl. Papst Johannes Paul II., Motu proprio „Ad tuendam fidem“ (Anm. 18). 120 Vgl. Paul Collins (Hrsg.), The modern Inquisition: Seven prominent Catholics and their struggles with the Vatican, Woodstock/New York 2002 sowie z. B. Peter Rath (Hrsg.), Die Bannbulle aus Münster oder Erhielte Jesus heute Lehrverbot? Eine Dokumentation zum Fall Hermann/Tenhumberg (= Pressedienst Demokratische Initiative – konkret 3), München/ Hamburg 1976; Eugen Drewermann, Worum es eigentlich geht. Protokoll einer Verurteilung, München 1992. 121 Vgl. z. B. Commission of Investigation, Report into the Catholic Archdiocese of Dublin [„Murphy-Report“], July 2009, in: http://www.justice.ie/en/JELR/Pages/PB09000504 [Zugriff: 22. 08. 2022], S. 57 f., Nr. 4.3: „In practice, it appears to the Commission that, that, for a significant part of the period covered by the Commission, canon law was used selectively when dealing with offending clergy, to the benefit of the cleric and the consequent disadvantage of his victims. The Commission has not encountered a case where canon law was invoked as a means of doing justice to victims.“ 122 Vgl. Norbert Lüdecke, Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester aus kirchenrechtlicher Sicht, in: MThZ 62 (2011) S. 33 – 60, hier S. 37, der mit Tho119

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hannes Paul II. auf dieses bischöfliche Versagen (und womöglich auf den sich abzeichnenden Skandal im US-amerikanischen Erzbistum Boston123) reagiert, den Diözesanbischöfen die Zuständigkeit für die Verfolgung u. a. von sexuellem Missbrauch entzogen und sie verpflichtet, künftig jeden wenigstens wahrscheinlichen Verdacht der Kongregation für die Glaubenslehre zu melden.124 Danach hat es noch einmal 20 Jahre gedauert, bis sexueller Missbrauch kirchenrechtlich zu einer Straftat gegen Leben, Würde und Freiheit des Menschen wurde (c. 1398 CIC/ 2021); trotz aller Kritik daran war Missbrauch bis dahin nur ein strafbarer Zölibatsverstoß, also ein klerikales Standesvergehen.125 Die Forderung nach einem verbesserten Rechtsschutz für Gläubige durch Einrichtung einer teilkirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit hat seit 1983 bei keinem Papst Gehör gefunden. Der zulässige Raum für Konflikt und Dissens ist in der römisch-katholischen Kirche extrem klein: Schon Streit zwischen Gläubigen soll möglichst vermieden oder schnell friedlich beigelegt werden. Ungehorsam gegenüber der kirchlichen Autorität ist gegebenenfalls strafbar und von lehramtlich verbindlichen Vorgaben können Katholik:innen niemals legal abweichen. Da Papst Franziskus mit der aktuellen Revision dem kirchlichen Strafrecht wieder mehr praktische Bedeutung verleihen will, könnten auch Lehrdissense demnächst konsequenter bestraft werden als dies bisher geschehen ist. Ein scharfes Schwert wird das Strafrecht allerdings auch dann nur für diejenigen sein, die in einem existenziellen Abhängigkeitsverhältnis von der Kirche stehen wie Kleriker, kirchliche Angestellte oder eben Theolog:innen, die ohne kirchmas P. Doyle, Canon Law and the Clergy Sex Abuse crisis. The Failure from Above, in: Thomas G. Plante (Hrsg.), Sin against the innocents. Sexual abuse by priests and the role of the Catholic Church (= Psychology, religion, and spirituality), Westport-London 2004, S. 25 – 37, hier S. 31 f. zudem darauf hinweist, dass Missbrauchsfälle insgesamt zu selten dokumentiert und vorhandene Akten „meist klagesicher im bischöflichen Geheimarchiv“ verschlossen wurden. Zudem hätten Bischöfe überlegt, einschlägiges Material durch Verbringung auf diplomatisch „immunes Nuntiaturterrain“ vor dem Zugriff staatlicher Ermittlungsbehörden zu schützen; Vgl. Elinor Burkett/Frank Bruni, Das Buch der Schande. Kinder, sexueller Mißbrauch und die katholische Kirche, Wien, München 1995, S. 215; Timothy D. Lytton, Holding bishops accountable. How lawsuits helped the Catholic Church confront clergy sexual abuse, Cambridge/Mass. 2008, S. 148. Vgl. für weitere konkrete Beispiele zur Rechtspraxis im Umgang mit Missbrauchstätern z. B. Kieran Tapsell, Potiphar’s wife. The Vatican’s secret and child sexual abuse, Adelaide 2014, S. 207 – 227. 123 Vgl. die mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Berichterstattung des Boston Globe: The Investigative Staff of „The Boston Globe“, Betrayal. The Crisis in the Catholic Church, Boston u. a. 2002 und Leon J. Podles, Sacrilege. Sexual Abuse in the Catholic Church, Baltimore/Md. 2008, S. 144 – 155 sowie schon Lüdecke, Missbrauch (Anm. 122), S. 36. 124 Vgl. Papst Johannes Paul II., Motu proprio „Sacramentorum sanctitatis tutela“, 30. 04. 2001, in: AAS 93 (2001) S. 737 – 739 sowie die damit promulgierten, allerdings nie amtlich publizierten „Normae de gravioribus delictis“, später allerdings abgedruckt z. B. in: AfkKR 171 (2002) S. 458 – 466. 125 Vgl. z. B. schon Lüdecke, Missbrauch (Anm. 122), 45; Sabine Demel, Recht leben in der Kirche – Anspruch und Wirklichkeit. Anfragen durch den sexuellen Missbrauch, in: Matthias Reményi/Thomas Schärtl (Hrsg.), Nicht ausweichen. Theologie angesichts der Missbrauchskrise, Regensburg 2019, S. 146 – 163, hier S. 147.

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liches Mandat nicht lehren dürfen, sowie für Gläubige, die ein kirchliches Ehrenamt nicht verlieren wollen oder sich aus rein religiösen Gründen von den geistlichen Strafen der Kirche treffen lassen. Auch wenn kirchliche (Straf-)Maßnahmen gegen Lehr- oder Leitungsungehorsam von Gläubigen ausbleiben, bedeutet das allerdings nicht, die Abweichung werde amtlich toleriert: Die kirchliche Autorität kann über Rechtsverletzungen oder andere Missstände auch hinwegsehen ohne sie zu dulden, wenn sie sie entweder ohnehin nicht verhindern kann oder bei einem Eingreifen ein noch größeres Übel befürchtet. Solche Dissimulation als aktives Wegsehen der kirchlichen Autorität setzt Abweichler:innen nicht ins Recht und schützt sie nicht vor einer späteren Intervention; allerdings untergräbt zu häufiges oder gar regelmäßiges Dissimulieren die kirchliche Rechtsordnung und erzeugt inner- wie außerhalb der Kirche „den kaum zu korrigierenden Eindruck von Doppelmoral und Unglaubwürdigkeit.“126 Wem es als Diözesan- oder Eparchialbischof schwer fällt, die ihm qua Amt zukommende Multiplikatorenrolle und Wächterfunktion hinsichtlich der kirchlichen Lehre auszufüllen, weil er eine oder mehrere konkrete Lehren für inhaltlich falsch hält, sollte sich dem Papst gegenüber offen und öffentlich für ihre eindeutige Änderung einsetzen und zugleich den Mut haben, etwaige kirchenrechtliche Konsequenzen dieses Ungehorsams zu tragen.127

126 Georg Bier, Dissimulieren? Notizen zu einem Prinzip der Rechtsanwendung, in: Rüdiger Althaus/Judith Hahn/Matthias Pulte (Hrsg.), Im Dienste der Gerechtigkeit und Einheit. Festschrift für Heinrich J. F. Reinhardt zur Vollendung seines 75. Lebensjahres (= MK CIC. Beihefte 75), Essen 2017, S. 179 – 196, hier S. 196. Vgl. Markus Graulich, Art. Dissimulation – Katholisch, in: Heribert Hallermann u. a. (Hrsg.), Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht. Bd. 1, Paderborn 2019, S. 653. 127 Zu einem solch „verantwortetem Ungehorsam“ vgl. Demel, Handbuch (Anm. 8), S. 234 f. sowie bereits oben unter II.3.b).

Die kirchliche Vollmacht über die Priesterweihe Sabine Demel „Die Zulassung von Frauen zu den kirchlichen [Weihe-]Ämtern (Diakonat, Priesteramt) würde die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche stärken“ – diese Aussage ist schon vor rund 10 Jahren von zwei Drittel aller Befragten (65 %) im Rahmen einer österreichischen Studie zu Leben und Glauben von Frauen bestätigt worden: „Frauen (69 %) [vertreten sie] noch klarer als Männer (61 %), moderne häufiger (71 %) als traditionsbewusste (61 %). Es gibt also in dieser Frage eine beeindruckende Meinungsmehrheit im Kirchenvolk.“1 Doch nach wie vor ist eine Öffnung des Weihesakraments für Frauen nicht in Sicht. Denn bei aller prinzipiellen Gleichstellung von Frau und Mann, die im kirchlichen Gesetzbuch von 1983 zum Ausdruck kommt, ist die Weihe von Frauen weiterhin rechtlich unmöglich. Damit bleiben die Frauen von allen Diensten und Ämtern ausgeschlossen, die den Empfang des Weihesakramentes voraussetzen. Anders gesagt: „Der Grundsatz der Gleichheit von Mann und Frau ist auf der Ebene der Gleichheit aller Gläubigen verwirklicht, nicht jedoch auf der Ebene der ekklesial-sakramentalen Aufgaben.“2 Trotzdem betont das kirchliche Lehramt immer wieder, dass sich daran nichts ändern wird, ja: nichts ändern kann. I. Kirchliche Lehraussagen über die Nichtzulassung von Frauen zur Priesterweihe Bereits 1976 hat die Kongregation für die Glaubenslehre in der Erklärung Inter insigniores3 verkündet, dass sich die Kirche „aus Treue zum Vorbild ihres Herrn nicht dazu berechtigt [hält], die Frauen zur Priesterweihe zuzulassen.“4 Diese Treue zum Vorbild des Herrn hat ihre Grundlage (1.) im Verhalten Jesu Christi, nur Männer in den Zwölferkreis berufen und damit als Apostel bestellt zu haben, (2.) in der Handlungsweise der Apostel, ebenso nur Männer als ihre Nachfolger aus-

1 Paul Michael Zulehner/Petra Steinmair-Pösel, Typisch Frau? Wie Frauen leben und glauben, Linz 2011, S. 127. Weitere Detailinformationen dazu sind zugänglich auf: www.weltder-frau.at sowie unter: www.zulehner.org. 2 Richard Puza, Art. Frau. VII. Kirchenrechtlich, in: LThK 4, Sp. 70 f., hier: Sp. 70. 3 Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung zur Frage der Zulassung der Frauen zum Priesteramt „Inter insigniores“, 15. Oktober 1976, in: VAS, Heft 117, S. 11 – 29. 4 Ebd., S. 13.

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gesucht zu haben, (3.) der dadurch grundgelegten Tradition und (4.) der bleibenden Bedeutung dieser Praxis.5 Weil durch dieses Schreiben die innerkirchlichen Diskussionen um die Priesterweihe der Frau nicht beendet waren, hat 1994 Papst Johannes Paul II. die gleiche Problemstellung nochmals aufgegriffen und in dem Apostolischen Schreiben Ordinatio sacerdotalis ohne Wenn und Aber erklärt, „dass die Kirche keinerlei Vollmacht hat, Frauen die Priesterweihe zu spenden.“6 Für die Begründung, Frauen nicht zur Priesterweihe zuzulassen, hat das Apostolische Schreiben des Papstes von 1994 keine neuen Gesichtspunkte eingebracht, sondern vielmehr die Ausführungen der Erklärung von 1976 in Erinnerung gerufen. In der Ausdrucksweise ist Papst Johannes Paul II. dagegen entschiedener: Ist in der Erklärung von 1976 noch die relativ offene Formulierung gewählt, dass sich die Kirche „nicht für berechtigt hält“, Frauen zur Priesterweihe zuzulassen, heißt es nun im Schreiben von 1994, dass die Kirche dazu „nicht die Vollmacht“ hat. Ist darüber hinaus in Inter insigniores nur die Feststellung über die Nichtzulassung der Frauen zur Priesterweihe getroffen worden, werden nun in Ordinatio sacerdotalis explizit alle Gläubigen in die Pflicht genommen, sich „endgültig an diese Entscheidung zu halten.“7 Und dennoch wird weiterhin die Frage der Priesterinnenweihe erörtert. Offensichtlich haben das Ausmaß wie auch die Richtung dieser Diskussionen eine dritte Stellungnahme aus Rom hervorgerufen; nur wenige Monate nach Ordinatio sacerdotalis hat nämlich die Kongregation für die Glaubenslehre in einem Responsum genannten Schreiben erklärt, dass die in Ordinatio sacerdotalis vorgelegte Lehre über die den Männern vorbehaltene Priesterweihe „unfehlbar vorgetragen worden ist“ und deshalb „eine endgültige Zustimmung“ erfordert.8 Die entscheidende Passage des Dokumentes lautet: 5

Vgl. ebd., S. 13 – 21. Papst Johannes Paul II., „Ordinatio sacerdotalis“ über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe, 22. Mai 1994, in: VAS, Heft 117, S. 6, Nr. 4. In formaler Hinsicht ist bemerkenswert, dass Papst Johannes Paul II. sein Apostolisches Schreiben nicht als eine Apostolische Konstitution, sondern als einen Apostolischen Brief verfasst hat. Denn die Briefform wird in der Regel für Inhalte aller Art, die sich an bestimmte Einzelpersonen oder Gruppen richten, verwendet, während die Apostolische Konstitution besonders wichtige Fragen der Lehre, der Gesetzgebung oder der Verwaltung mit bindender Gesetzeskraft enthält (vgl. dazu Sabine Demel, Lehramtliche Dokumente und Erlasse mit gesetzgebendem, ausführendem oder richterlichem Charakter, in: dies., Handbuch Kirchenrecht. Grundbegriffe für Studium und Praxis, Freiburg i. Br. 32022, S. 548 – 554, hier S. 550). 7 Papst Johannes Paul II., Ordinatio sacerdotalis (Anm. 6), S. 6, Nr. 4. 8 Norbert Lüdecke, Also doch ein Dogma? Fragen zum Verbindlichkeitsanspruch der Lehre über die Unmöglichkeit der Priesterweihe für Frauen aus kanonistischer Perspektive, in: TThZ 105 (1996), S. 161 – 211, hier S. 185, macht darauf aufmerksam, dass das Hauptthema des Responsum nicht die Frage ist, ob die Lehre von Ordinatio sacerdotalis endgültig ist oder nicht, sondern dass die Endgültigkeit des Dokuments vielmehr vorausgesetzt wird und „nur“ nach dem Grund bzw. nach dem Objekt der Endgültigkeit gefragt wird. „Wie der Kommentar zum Responsum einleitend bemerkt, wird gefragt: Aus welchem Grund ist die Lehre als definitiv verpflichtend zu betrachten? Auf Grund göttlicher Autorität oder (nur) auf Grund kirchlicher Autorität?“ 6

Die kirchliche Vollmacht über die Priesterweihe

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„Diese Lehre [sc. von Ordinatio sacerdotalis] fordert eine endgültige Zustimmung, weil sie, auf dem geschriebenen Wort Gottes gegründet und in der Überlieferung der Kirche von Anfang an beständig bewahrt und angewandt, vom ordentlichen und universalen Lehramt unfehlbar vorgetragen worden ist (vgl. II. Vatikanisches Konzil Dogmatische Konstitution Lumen gentium 25,2). Aus diesem Grund hat der Papst angesichts der gegenwärtigen Lage, in Ausübung seines eigentlichen Amtes, die Brüder zu stärken (vgl. Lk 22,32), die gleiche Lehre mit einer förmlichen Erklärung vorgelegt, in ausdrücklicher Darlegung dessen, was immer, überall und von allen Gläubigen festzuhalten ist, insofern es zum Glaubensgut gehört.“9

Das ist so absolut formuliert, dass auch noch knapp 20 Jahre später Papst Franziskus gleich zu Beginn seines Pontifikates 2013 auf diese Aussage Bezug nimmt und erklärt: „Jene Tür ist geschlossen.“ Papst Johannes Paul II. habe sie geschlossen.10 Und in seiner ersten Enzyklika hat er nachgelegt und erklärt: „Das den Männern vorbehaltene Priestertum als Zeichen Christi, des Bräutigams, der sich in der Eucharistie hingibt, ist eine Frage, die nicht zur Diskussion steht …“11 Doch damit nicht genug! Nachdem sich 2002 sieben Frauen öffentlichkeitswirksam zunächst zu „Priesterinnen“ und kurze Zeit darauf zu „Bischöfinnen“ weihen ließen, hat die Kongregation für die Glaubenslehre 2007 den neuen Straftatbestand der versuchten Weihe einer Frau ins kirchliche Strafrecht eingeführt und mit der dem Apostolischen Stuhl vorbehaltenen Tatstrafe der Exkommunikation belegt.12 Diese Die Antwort der Kongregation für die Glaubenslehre auf die gestellte Frage kritisiert JeanPierre Torell, Die Verbindlichkeit von „Ordinatio sacerdotalis“. Zur Hermeneutik lehramtlicher Dokumente, in: Gerhard Ludwig Müller (Hrsg.), Frauen in der Kirche. Eigensein und Mitverantwortung, Würzburg, 1999, S. 357 – 379, hier S. 376, völlig zu Recht wie folgt: „Der aufmerksame Leser wird bemerken, dass das Dokument der Kongregation sehr viel affirmativer und expliziter ist als das des Papstes. Es erklärt, dass die Lehre zum Glaubensgut gehöre, während das Dokument des Papstes dies nicht tut. Wenn das aber zuträfe, dann hätten wir diese Lehre zu ,glauben‘ im strengen Sinne des Wortes, während der Text nur von ,endgültiger Zustimmung‘ spricht. Von früheren Dokumenten her waren wir mehr Klarheit und Kohärenz gewohnt.“ Dementsprechend lautet das Fazit von Torell, ebd., 379: „Sicher sind die katholischen Theologen gehalten, dem Schreiben Ordinatio sacerdotalis respektvoll zu gehorchen und ihm in dem Maße und auf die Weise zuzustimmen, wie es gefordert ist – wobei es schwierig ist, dies genauer festzulegen. Dieser Gehorsam ist allerdings aufgrund des Apostolischen Schreibens selbst zu leisten, nicht aufgrund des Responsum der Kongregation, das uns die lehramtliche Tragweite des Schreibens Papst Johannes Paul II. ungebührlich auszuweiten scheint.“ 9 Kongregation für die Glaubenslehre, Antwort auf den Zweifel bezüglich der im Apostolischen Schreiben „Ordinatio sacerdotalis“ vorgelegten Lehre, in: ORdt vom 24. November 1995/Nr. 47, S. 4. 10 ORdt vom 31. Juli 2013, S. 6. 11 Evangelii Gaudium, Nr. 104, zugänglich auf: https://w2.vatican.va/content/francesco/de/ apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudium. html. 12 Allgemeines Dekret der Kongregation für die Glaubenslehre bezüglich der Straftat der versuchten heiligen Weihe einer Frau vom 19. Dezember 2007, in: AAS 100 (2008), S. 403; AkathKR 177 (2008), S. 200 f.; dt. zugänglich auf : https://www.vatican.va/roman_curia/con gregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20071219_attentata-ord-donna_ge.html.

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Strafbestimmung ist in die Neufassung des kirchlichen Strafrechts von 202113 übernommen und dabei um die Entlassung aus dem Klerikerstand als weitere Strafmöglichkeit speziell für einen Kleriker als Tatbeteiligten ergänzt worden: „Jeder, der einer Frau die heilige Weihe zu spenden versucht, wie auch die Frau, welche die heilige Weihe zu empfangen versucht, zieht sich die dem Apostolischen Stuhl vorbehaltene Exkommunikation als Tatstrafe zu; ein Kleriker kann darüber hinaus mit der Entlassung aus dem Klerikerstand bestraft werden“ (c. 1379 §3 CIC/1983 i. d. F. von 2021).

II. Auswirkungen der Lehraussagen über den Ausschluss der Frauen vom Empfang der Priesterweihe Die versuchte heilige Weihe einer Frau als Straftat mit der von selbst eintretenden Exkommunikation – was für ein schweres Geschütz! Mehr geht nicht mehr! Es ist die ultima ratio, es ist die schärfste Maßnahme, die es in der katholischen Kirche gibt: einen Tatbestand zur Straftat zu erklären und mit der kirchlichen Höchststrafe der Exkommunikation zu belegen, die auch noch als Tatstrafe angedroht ist. Wenn die kirchliche Autorität gehofft hat, mit dem strafrechtlichen Schwert nun endlich das Thema der Zulassung von Frauen zum Weihesakrament als Option für die Zukunft niedergerungen zu haben, so ist diese Hoffnung nicht in Erfüllung gegangen. Denn spätestens durch die Aktionen von Maria 2.0 seit 201814 ist die Diskussion über die Frauenordination wieder und in neuer Form in vieler Munde. So haben 2021 erstmals Frauen öffentlich von ihrer Berufung zur Diakonin und Priesterin und der damit verbundenen Enttäuschungen und Verletzungen in ihrem Leben erzählt, weil sie in ihrer Berufung nicht wahr- und/oder ernstgenommen werden.15 Und der Synodale Weg in Deutschland (2019 – 2023)16 hat auf seiner 4. Vollversammlung im September 2022 in seinem Grundlagentext zu Frauen in kirchlichen Diensten und Ämtern festgestellt: „Die Lehre von ,Ordinatio Sacerdotalis‘ wird vom Volk Gottes in weiten Teilen nicht angenommen und nicht verstanden. Darum ist die Frage an die höchste Autorität in der Kirche

Zur kirchenrechtlichen Bewertung der „Priesterinnen-“ und „Bischöfinnenweihe“ sowie zu dem 2007 neu eingeführten Straftatbestand vgl. Sabine Demel, Frauen und kirchliches Amt. Grundlagen – Grenzen – Möglichkeiten, Freiburg i. Br. 32022, S. 236 – 250. 13 Vgl. Papst Franziskus, Apostolischen Konstitution Pascite gregem Dei. Mit der das Buch VI des Codex des kanonischen Rechts erneuert wird, und Erneuerter Text 2021, lat.-dt. abgedruckt in: Markus Graulich/Heribert Hallermann, Das neue kirchliche Strafrecht. Einführung und Kommentar, Münster 2021, 53 – 59. 14 Vgl. Maria 2.0, zugänglich auf: https://www.mariazweipunktnull.de/; Impuls „Frauenweihe und die Gegenargumente“, zugänglich auf: http://www.mariazweipunktnull.de/wp-con tent/uploads/2019/04/Baustein_Impuls-Frauenweihe-und-die-Gegenargumente.pdf. 15 Philippa Rath (Hrsg.), Weil Gott es so will. Frauen erzählen von ihrer Berufung zur Diakonin und Priesterin, Freiburg i. Br. 2021. 16 Vgl. der Synodale Weg, zugänglich auf: https://www.synodalerweg.de/; Synodalforum 3 „Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche“, zugänglich auf: https://www.synodalerweg. de/struktur-und-organisation/synodalforen.

Die kirchliche Vollmacht über die Priesterweihe

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(Papst und Konzil) zu richten, ob die Lehre von ,Ordinatio Sacerdotalis‘ nicht geprüft werden muss.“17

Der nun schon jahrzehntelange Versuch der kirchlichen Autorität, die Diskussionen über die Zulassung der Frauen zum Weihesakrament zu beenden, hat nicht zum Erfolg geführt. Im Empfinden vieler Gläubigen und TheologInnen – seit einigen Jahren sogar auch von etlichen Bischöfen18 – agiert die kirchliche Autorität hier auf wenig überzeugende Weise. Denn sie wiederholt seit Jahrzehnten immer wieder das Gleiche: Die Kirche hat nicht die Vollmacht dazu. Bis heute kann man in kirchlichen Medien Meldungen wie diese lesen: „Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki lehnt Diskussionen über eine Priesterweihe für Frauen ab. Diese Frage liege nicht in der Verfügungsgewalt der katholischen Kirche, sagte er [sc. 2019] am Sonntagabend bei einem Gottesdienst in Köln. Papst Johannes Paul II. habe diese Frage ,mit aller Verbindlichkeit für die gesamte Kirche bereits 1994 entschieden.‘ Papst Franziskus habe diese Entscheidung wiederholt bekräftigt und betont, dass die Kirche ,keinerlei Vollmacht‘ habe, Frauen die Priesterweihe zu spenden.“19

Ebenso wird ein Jahr später gemeldet: „Mit Nachdruck wandte sich Woelki dagegen, beim Thema Frauen-Priesterweihe ,unerfüllbare Hoffnungen‘ zu wecken. Dies führe zu Frustration, denn diese Frage sei definitiv von Papst Johannes Paul II. entschieden worden. ,Ich kann es nicht so behandeln, als sei die Frage offen. Dann findet die Diskussion außerhalb der Lehre der Kirche statt‘, sagte der Kardinal.“20 17 SVIV.7: Synodalforum III – Grundtext – Zweite Lesung, 1 – 40, 2, zugänglich auf: https://www.synodalerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/Dokumente_Reden_Beitraege/SV-IV/ T5NEU_SV-IV_7_Synodalforum_III-Grundtext-2.Lesung.pdf. 18 Vgl. z. B.: Tradition als Gegenargument überzeuge nicht. Bischof Feige: Priesterweihe für Frauen wird kommen, vom 12. 2. 2019, zugänglich auf: https://www.katholisch.de/artikel/ 20651-bischof-feige-priesterweihe-fuer-frauen-wird-kommen; Mainzer Bischof über „Maria 2.0“: „Wir schauen in dieselbe Richtung“. Kohlgraf: Einwände gegen Frauenweihe überzeugen vielfach nicht, vom 5. 10. 2019, zugänglich auf: https://www.katholisch.de/artikel/23155kohlgraf-einwaende-gegen-frauenweihe-ueberzeugen-vielfach-nicht; Bischof hat nach eigener Aussage frühere Überzeugungen revidiert. Overbeck nachdenklich: Priesteramt an einem YChromosom festmachen? Vom 28. 10. 2019, zugänglich auf: https://www.katholisch.de/artikel/ 23403-overbeck-nachdenklich-priesteramt-an-einem-y-chromosom-festmachen; „Ich will Veränderung.“ Ein Gespräch mit dem DBK-Vorsitzenden Georg Bätzing, in: HK 75 (2021), S. 16 – 20, hier S. 18: „Damals wie heute liegt mir daran, die Argumente der Kirche, warum das sakramentale Amt nur Männern zukommen kann, redlich zu nennen. Aber ich muss ehrlich sagen: Ich nehme eben genauso wahr, dass diese Argumente immer weniger überzeugen und dass es in der Theologie gut herausgearbeitete Argumente gibt, die dafür sprechen, dass das sakramentale Amt auch für Frauen zu öffnen wäre.“ 19 Kardinal Woelki gegen Diskussion über Priesterweihe für Frauen, vom 9. 9. 2019, zugänglich auf: https://www.katholisch.de/artikel/22886-kardinal-woelki-gegen-diskussionueber-priesterweihe-fuer-frauen. 20 Kardinal: Können es uns nicht erlauben, uns theologisch durch Unbedarftheit zu blamieren. Woelki warnt vor Kirchenspaltung durch Synodalen Weg, vom 17. 9. 2020, zugänglich auf: https://www.kirche-und-leben.de/artikel/woelki-warnt-vor-kirchenspaltung-durch-synoda len-weg.

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In diesem Sinn hat auch Kardinal Walter Kasper 2020 erklärt, dass er „keine Perspektive [sieht], katholische Priesterinnen zu weihen. ,Ich sehe nicht, wie man nach katholischem Verständnis über die fast 2.000-jährige ununterbrochene Tradition hinweggehen kann‘, sagte Kasper.“21 III. Die kirchliche Aufgabe der Ausgestaltung der Sakramente Es ist schon verwunderlich, dass seit gut 25 Jahren im Zusammenhang mit der Frage der Priesterinnenweihe kaum mehr inhaltlich diskutiert, sondern nahezu ausschließlich auf die fehlende Vollmacht der Kirche zur Priesterinnenweihe hingewiesen wird. Doch gerade dieser Hinweis ist mehr als fragwürdig. Denn im kirchlichen Gesetzbuch ist das Gegenteil geregelt. In c. 841 CIC/1983 ist explizit festgelegt, dass die Kirche, vertreten durch die höchste kirchliche Autorität, die Gültigkeitskriterien jedes einzelnen Sakramentes festlegen kann und muss. Wörtlich heißt es hier: „Da die Sakramente für die ganze Kirche dieselben sind und zu dem von Gott anvertrauten Gut gehören, hat allein die höchste kirchliche Autorität zu beurteilen oder festzulegen, was zu ihrer Gültigkeit erforderlich ist …“ (c. 841 CIC/1983).

Die Ausgestaltung der Sakramente ist also von Seiten der Kirche festzulegen. Und das macht sie: Eindrucksvoll nimmt die oberste kirchliche Autorität ihre Rechtsvollmacht beispielsweise beim Sakrament der Ehe in Anspruch. Es gibt kein anderes Sakrament, bei dem die Kirche so viele Bestimmungen erlassen hat, wann es gültig zustande kommt und wann nicht. Deutliche Niederschläge dafür sind die zahlreichen Rechtsbestimmungen über die Ehehindernisse, die in insgesamt 22 Canones mit vielen Untergliederungen normiert sind (cc. 1073 – 1094 CIC/1983), über die Konsensmängel, die in 13 Canones geregelt sind (cc.1095 – 1107 CIC/1983) und über die einzuhaltenden Formalitäten, die in 10 Canones alles festlegen, damit der eheliche Konsensaustausch gültig zustande kommt (cc.1108 – 1117 CIC/1983). Damit nicht genug: Die Kirchenleitung hat auch bestimmt, dass sie beim Rechtsinstitut der sog. Heilung an der Wurzel (cc.1161 – 1165 CIC/1983) sogar einer ungültigen Ehe die Rechtswirkungen einer gültigen Ehe zusprechen kann. Diese Rechtswirkungen werden sogar rückwirkend verliehen, und zwar einzig und allein durch die Inanspruchnahme der Rechtsvollmacht der Kirchenleitung. Mehr Inanspruchnahme der Rechtsvollmacht geht meines Erachtens nicht mehr: einem ungültigen Sakrament die Rechtswirkungen eines gültigen Sakraments gewähren! Tatsächlich ist dieses Ausmaß der Inanspruchnahme der Rechtsvollmacht durch c. 841 CIC/1983 gedeckt.

21 Kritik am Synodalen Weg in Deutschland. Kardinal Kasper sieht keine Chance für Priesterinnenweihe, vom 24. 12. 2020, zugänglich auf: https://www.kirche-und-leben.de/arti kel/kardinal-kasper-sieht-keine-chance-fuer-priesterinnenweihe.

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IV. Die Substanz der Sakramente als Grenze der kirchlichen Gestaltungsvollmacht Die Kompetenz der Kirche, vertreten durch ihre höchste Autorität, die Gültigkeitskriterien der Sakramente festzulegen, geht sehr weit. Denn im lateinischen Originaltext des c. 841 CIC/1983 wird ihre Vollmacht dazu mit dem Verb definire umschrieben, also dem terminus technicus für lehramtliche Festlegungen. Dementsprechend ist die Vollmacht der Kirche über die Sakramente ziemlich umfassend: zu ihr gehört festzulegen bzw. zu definieren, „was deren Anzahl und die Zugehörigkeit einzelner Sakramente hierzu angeht, ferner festzulegen, was Materie und Form der Sakramente sowie deren Spender und Empfänger betrifft.“22 Wahrscheinlich ging dieses Ausmaß einigen Mitgliedern der CIC-Reformkommission zu weit. Jedenfalls wurde bei der Erarbeitung der Formulierung des c. 841CIC/1983 vorgeschlagen, das inhaltsstarke definire durch das inhaltsschwächere decernere zu ersetzen. Doch dieser Vorschlag konnte sich nicht durchsetzen.23 Insofern belegt auch die Textgeschichte des c. 841 CIC/1983, dass die Vollmacht der Kirche über die Sakramente auch die lehramtliche Definitionsmacht beinhaltet. Natürlich wird die Kirche von ihrem Selbstverständnis her ihre Vollmacht über die Sakramente immer so verstehen und auch ausüben, dass sie die Gültigkeitskriterien nicht beliebig definiert, sondern den unveränderlichen Kerngehalt des jeweiligen Sakraments bewahrt, also dabei stets dem „Wesen“ des Sakraments Rechnung trägt bzw. die „Substanz“ des Sakramentes nicht verändert.24 Doch wo fängt die Substanz eines Sakramentes an und wo hört sie auf bzw. geht sie in die Akzidenz über? Um mit dem Argument der unveränderlichen Substanz die in c. 841 CIC/1983 normierte Kompetenz nicht auszuhöhlen, bedarf es eines präzisen Nachweises aus Schrift und Tradition, was genau zur unveränderbaren Substanz des betreffenden Sakramentes gehört. Anders gesagt: Den Maßstab der unveränderlichen Substanz geltend zu machen, kann sich nicht nur in der bloßen Behauptung erschöpfen. V. Die Frage nach dem männlichen Geschlecht als Substanz des Weihesakraments Blickt man auf das Weihesakrament und analysiert die Schreiben der kirchlichen Autorität, so ist die Feststellung zu treffen: Das vom Lehramt eingeforderte männliche Geschlecht und die herangezogene Metapher von Christus als Bräutigam und der Kirche als Braut wird lediglich als unabänderbar und damit letztlich zur Substanz

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Rüdiger Althaus, c. 841, Rdn. 2, in: MK CIC (Stand: Februar 2006). Vgl. Communicationes 9 (1977) 277 f. 24 Vgl. Joseph Ratzinger, Grenzen kirchlicher Vollmacht. Das neue Dokument von Papst Johannes Paul II. zur Frage der Frauenordination, in: IkaZ 23 (1994), S. 337 – 345, hier: S. 338. 23

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des Weihesakraments gehörig festgestellt, aber nicht nachgewiesen.25 So hat z. B. 2018 der Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, Kardinal Luis F. Ladaria, einfach erklärt, aber nicht argumentativ aufgezeigt: „Was das Priestertum des Dienstes anbelangt, weiß die Kirche, dass die Unmöglichkeit der Frauenweihe zur ,Substanz‘ des Sakramentes gehört (vgl. DH 1728). Die Kirche hat nicht die Vollmacht, diese Substanz zu ändern, denn durch die von Christus eingesetzten Sakramente wird sie als Kirche auferbaut. Es geht hier nicht um eine Frage der Disziplin, sondern der Lehre …“26 Mit Formulierungen wie: „wird mit Beständigkeit gelehrt“, die Papst Johannes Paul II. 1994 in Ordinatio sacerdotalis, Nr. 4, verwendet hat, oder „unfehlbar vorgetragen“, wie es im Responsum der Kongregation für die Glaubenslehre von 1995 heißt, sowie „die Kirche weiß“, wie hier im eben zitierten Schreiben von Ladaria von 2018, wird zwar der Eindruck vermittelt, als wäre in Schrift und Tradition das männliche Geschlecht als unabänderliche Substanz belegt. Doch trügt dieser Eindruck. Mindestens drei Faktoren laufen dem Anspruch auf das männliche Geschlecht als unabänderliche Substanz des Weihesakraments entgegen. - Erstens setzt die (explizite) Lehrverkündigung über das männliche Geschlecht des Weiheamtsträgers als unabdingbar und der damit verbundenen Implikationen von Christus als Bräutigam erst 1976 mit dem Schreiben Inter insigniores ein und ist damit gerade einmal knapp 50 Jahre alt. Für den Anspruch einer beständigen Lehre scheint dieser kurze Zeitraum angesichts der 2000-jährigen Geschichte der Kirche nicht auszureichend zu sein.27 25 Vgl. auch Karlheinz Ruhstorfer, „Mitte des Glaubens“? Die Glaubenskongregation zur Priesterweihe der Frau, in: HK 72 (2018), S. 25 – 28, hier S. 27, der hier ebenfalls feststellt: „Doch wie schon in den beiden vorangegangenen Texten [sc. von Inter insigniores und Ordinatio sacerdotalis] bleibt die Argumentation [sc. von Ladaria in seinem Schreiben von 2018] thetisch: ,Der Priester handelt in der Person Christi, des Bräutigams der Kirche, und sein Mann-Sein ist ein unentbehrlicher Aspekt dieser sakramentalen Repräsentanz.‘“ 26 Ladaria, L.F., Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, Zu einigen Zweifeln über den definitiven Charakter der Lehre von Ordinatio sacerdotalis vom 29. 5. 2018, zugänglich auf: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/ladaria-ferrer/documents/rc_con_ cfaith_doc_20180529_caratteredefinitivo-ordinatiosacerdotalis_ge.html. Ruhstorfer, Mitte des Glaubens (Anm. 25), S. 25, problematisiert hier zu Recht die Bezugnahme auf DH 1728 des Konzils von Trient (1545 – 1563), mit der vermittelt wird, „dass die Unmöglichkeit der Priesterweihe der Frau zur ,Substanz des Sakraments‘ der Eucharistie gehöre. Tatsächlich heißt es im besagten Text lediglich, dass die Kirche die Vollmacht (potestas) habe, ,bei der Verwaltung der Sakramente – unbeschadet ihrer Substanz – das festzulegen oder zu verändern, was nach ihrem Urteil dem Nutzen derer, die sie empfangen, beziehungsweise der Verehrung der Sakramente selbst entsprechend der Verschiedenartigkeit von Umständen, Zeiten und Gegenden zuträglicher ist‘ (DH 1728). Im weiteren Zusammenhang des Konzilstextes ist allerdings nicht davon die Rede, dass das Verbot der Frauenordination zur ,Substanz des Sakraments‘ gehöre. Vielmehr geht es in gegenreformatorischer Absicht darum, die Praxis der Kirche, die Kommunion nicht in beiderlei Gestalt zu empfangen, zu rechtfertigen.“ 27 Ebd., 28, führt Ruhstorfer zur angeblichen Kontinuität der Lehre hinsichtlich des männlichen Geschlechts in der kirchlichen Tradition treffend aus: „Doch war der Ausschluss der Priesterweihe der Frau eher eine faktische Praxis der Kirche als eine ausdrückliche und für unsere Tage signifikante Lehre. … Der Gedanke, Frauen zu Priesterinnen zu weihen, war in

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- Zweitens folgt diese Lehrverkündigung seit 1976 gerade nicht den Erkenntnissen der Päpstlichen Bibelkommission, die mit einem Gutachten beauftragt worden war und im gleichen Jahr 1976 festgestellt hatte, dass auf der Grundlage des Neuen Testaments ein Zugang von Frauen zum Presbyterat nicht auszuschließen und damit möglich ist.28 Aus welchen Gründen die Kongregation für die Glaubenslehre diesen Erkenntnissen der Päpstlichen Bibelkommission in der Lehrverkündigung nicht Rechnung getragen hat, hat sie nicht bekannt gegeben.29 Allerdings kann die Tatsache, dass die Päpstliche Bibelkommission mit dieser Prüfung des neutestamentlichen Befunds in der Frage der Geschlechtlichkeit des Weiheamtsträgers beauftragt worden war, als Indiz gewertet werden, dass man sich – zumindest in den 1970er Jahren – der „beständigen Lehre“ nicht sicher war, also sie zumindest als noch nicht endgültig geklärt betrachtet hat. Andernfalls hätte man ja nicht den neutestamentlichen Befund prüfen lassen müssen.30 Daher stehen bis heute für den vom Lehramt als Hauptargument angeführten Stifterwillen Jesu hinsichtlich des männlichen Geschlechts beim Weihesakrament notwendige Klärungen aus. So ist insbesondere zu klären, „ob Jesus bereits unsere heutige Problemstellung im Blick hatte. Präziser gefragt: War das Amtspriestertum Teil des Stifterwillens Jesu? Wollte Jesus wirklich ein Amtspriestertum einsetzen, und hat er es auch tatsächlich getan?31 Und falls ja, können wir seinen Stifpatriarchalen Zeiten so fern wie die Einführung egalitär-demokratischer Strukturen in monarchisch-feudal-ständischem Kontext. So finden sich diesbezügliche Äußerungen des Lehramts erst in jüngerer Zeit. Ladaria verweist auch tatsächlich lediglich auf die ,Tradition‘ von Johannes Paul II. über Benedikt XVI. zu Franziskus.“ 28 Vgl. Walter Groß, Bericht der Päpstlichen Bibelkommission, 1976, in: ders. (Hrsg.), Frauenordination. Stand der Diskussion der katholischen Kirche, München 1996, S. 25 – 31, hier S. 26; 31. 29 Ebd., 25, erläutert Groß: „1976 waren die Ergebnisse der Päpstlichen Bibelkommission ihrer Auftraggeberin, der Glaubenskongregation, offenkundig nicht dienlich und wurden zu wirkungslosem Archivdasein verurteilt, weil die Bibelkommission nicht nur die Fragestellung als bibelfern charakterisierte, sondern entgegen der Intention der Glaubenskongregation ausdrücklich mehrheitlich erklärte, eine mögliche Zulassung von Frauen zum Priesteramt infolge von Umständen, die erst heute sich einstellen oder in das Bewusstsein dringen, sei auf Grund der Bibel nicht sicher und endgültig auszuschließen.“ Ferner weist Groß darauf hin, dass durch Indiskretionen folgende Abstimmungen der Bibelkommission zugeschrieben wurden: „(1) Einstimmiges Votum: Das Neue Testament entscheidet von sich aus nicht klar und ein für allemal, ob Frauen zu Priesterinnen geweiht werden können. (2) 12 zu 5-Votum: Aus der Schrift gewonnene Gründe allein genügen nicht, um die Möglichkeit, Frauen zu ordinieren, auszuschließen. (3) 12 zu 5-Votum. Die Kirche kann die Ämter der Eucharistie und der Buße Frauen anvertrauen, ohne gegen die Intention Jesu zu verstoßen“ (ebd., 26). 30 Vgl. Eva-Maria Faber, Tradition, Traditionskritik und Innovation. Auf dem Weg zu geschlechtergerechten Amtsstrukturen in der römisch-katholischen Kirche, in: Margit Eckholt/Ukrike Link-Wieczorek/Dorothea Sattler/Andrea Strübind (Hrsg.), Frauen in kirchlichen Ämtern. Reformbewegungen in der Ökumene, Freiburg i. Br. 2018, S. 39 – 54, hier S. 40. 31 Vgl. dazu die bereits in den 1970er Jahren geäußerten Bedenken in der theologischen Wissenschaft in: Demel, Frauen und kirchliches Amt (Anm. 12), S. 223.

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terwillen heute noch verlässlich aus den Quellen erheben? Stellt man in Rechnung, dass das Amtsverständnis und die Ämterstruktur in der Kirche in einem längeren Prozess entstanden sind, erscheint die lehramtliche ,Gleichsetzung von Zwölf = Apostel = Priester problematisch.‘ … Aus der Tatsache, dass Jesus den Auftrag der Zwölf keinen Frauen anvertraut hat, die Norm abzuleiten, dass Frauen für alle Zeit vom apostolischen Amt ausgeschlossen sein sollen, ist gewagt und durch die Quellenlage nicht zweifelsfrei gedeckt. Exegetisch besser begründet erscheint demgegenüber die Hypothese: ,Zum Zwölferkreis gehören nicht aus grundsätzlichen Erwägungen, sondern symbolbedingt nur Männer.‘“32 - Drittens wirft die 2016 durch Papst Franziskus erfolgte Erhebung des Gedenktages der Maria von Magdala als apostola apostolorum zu einem Festtag im gleichen Rang zu den Apostelfeiern33 die Frage auf, ob damit „dem apostolischen

32 Christoph J. Amor, Geschlecht als Weihehindernis? Streitfall Frauenordination, in: Jörg Ernesti/Martin M. Lintner/Markus Moling (Hrsg.), Frauen in der Kirche. Denkanstöße zur Geschlechterfrage, Brixen 2018, S. 21 – 40, hier S. 32 f., unter Berufung auf Sabine Demel, Frauendiakonat als Endstation – Weiterdenken verboten?, in: ThGl 102 (2012), S. 275 – 286, hier S. 282, und Helmut Merklein, Zur Stichhaltigkeit der exegetischen Begründungsverfahren in „Inter insigniores“ und „Ordinatio sacerdotalis“, in: Ernst Dassmann/Walter Fürst/Albert Gerhards/Helmut Merklein/Hans Waldenfels/Josef Wohlmuth (Hrsg.), Projekttag Frauenordination, Bonn 1997, S. 39 – 51, hier S. 43 f. Zum gleichen Ergebnis kommt auch Elmar Klinger, Christologie im Feminismus. Eine Herausforderung der Tradition, Regensburg 2001, S. 229, indem er zwischen der Tatsachenfrage und Rechtsfrage, zwischen der quaestio facti und quaestio iuris, unterscheidet: „Das Geschlecht Jesu und der Jünger ist eine Tatsache. Die Behauptung, der priesterliche Dienst sei auf Männer beschränkt, ist eine Qualifikation, die über die Tatsachenfeststellung hinausgeht und mit ihr nicht begründet werden kann. Aus dem, was jemand tut, folgt nicht, dass er es tun muss. Dass er etwas tun muss, lässt nicht darauf schließen, dass er es tatsächlich tut. Eine Aussage Jesu und der Jünger über das Geschlecht als Kriterium liegt aber nicht vor; sie haben sich zur quaestio iuris nicht geäußert.“ Und ebd., 237: „Die Tatsache [sc. dass die Mitglieder des Zwölfergremiums ausnahmslos Männer waren] selbst bedarf keines weiteren Kommentars, sie ist unbestritten. Aber wie steht es um ihre Qualität als feststehende Norm? Sie wird für das männliche Geschlecht in der Schrift selbst nirgendwo in Anspruch genommen Die zwölf Apostel waren Männer. Aber nirgendwo steht, ihr Geschlecht sei ein Kriterium der Zugehörigkeit zu diesem Kreis, was angesichts seines übernatürlichen Auftrags auch wirklich seltsam wäre. Daher wird seit langem in der Tradition bei der Frage des Geschlechts der Mitglieder des Zwölfergremiums zwischen einer ,quaestio facti‘ und einer ,quaestio iuris‘ unterschieden. Die eine ist unbezweifelbar, die andere bleibt offen.“ Ruhstorfer, Mitte des Glaubens (Anm. 25), S. 25 f., zeigt in diesem Zusammenhang durch einen Vergleich auf, zu welchen paradoxen Ergebnissen es führt, wenn aus einer historischen Tatsache einfach normative Schlussfolgerungen gezogen werden: „Wenn aber die Kommunion in beiderlei Gestalt nach der Lehre der Kirche nicht zur Substanz der Eucharistie gehört – gegen ein explizites Herrenwort –, inwiefern kann dann von der Tatsache, dass Jesus und die zwölf Tischgenossen Männer waren, auf den Willen Jesu geschlossen werden, Frauen nicht zu Priesterinnen zu weihen? Man könnte nun ebenfalls folgern: Jesus wollte nicht, dass Frauen überhaupt die Kommunion empfangen. Hier zeigt sich die Schwierigkeit, simpler Rückschlüsse vom Schrifttext auf den Willen Jesu und auf aktuelle Fragen der Gegenwart.“ 33 Vgl. dazu Demel, Frauen und kirchliches Amt (Anm. 12), S. 72 mit Anm. 117.

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Amt offiziell seine männliche Exklusivität genommen“ worden ist.34 Wie passt das zusammen: Einerseits eine Frau als Apostolin der Apostel zu feiern, „weil sie den Aposteln das verkündigt, was diese dann ihrerseits in der ganzen Welt verkünden werden,“35 und andererseits vom männlichen Geschlecht des Weiheamtsträgers als beständige und unfehlbar vorgetragene Lehre zu sprechen? Welchen Sprengsatz der Titel und Festtag der Apostolin der Apostel in sich bergen, ist offensichtlich noch nicht bedacht.36 Werden auch noch die exegetischen Erkenntnisse zu Maria von Magdala als erste Auferstehungszeugin und Erstverkünderin der Auferstehung hinzugenommen, wird die Widersprüchlichkeit noch gesteigert. Denn „wie Marias Sendung (Joh 20,17) und Erfüllung ihres Verkündigungsauftrages (V18) deutlich zeigen, ist ihre Christophanie nicht einfach als Privatoffenbarung ohne Relevanz für die entstehende nachösterliche Gemeinschaft zu bewerten. Doch während in der Rezeptionsgeschichte das gleiche ,Sehen des Herrn‘ bei Petrus und Paulus die Basis für ein universales und dauerhaftes Apostolat bildete, wurde die apostolische Funktion bei Maria von Magdala auf einen kurzfristigen Botendienst beschränkt.“37 Was für ein fataler Vorgang! Schließlich hat Maria von Magdala genau die Apostolatskriterien erfüllt, wie sie Paulus für sich in Anspruch genommen hat (vgl. 1 Kor 9,1 und 15,8 f.; Gal 1,10 – 17). Paulus hat seine Autorität als Apostel „mit derselben urchristlichen Kurzformel für die österliche Offenbarungs- und Berufungserfahrung [legitimiert], die sich in Joh 20,18 in ihrem [sc. Maria von Magdala] Mund findet.“38 Somit besteht Klärungsbedarf, warum die Sendung Marias von Magdala „amtlich weniger bedeuten soll als jene der Männer.“ 39 Aus dieser Tatsache, dass bisher weder lehramtlich noch theologisch nachgewiesen worden ist, dass das männliche Geschlecht bzw. die Bräutigam-Braut-Metapher zur unveränderlichen Substanz des Sakraments der Weihe gehört, kann die Schlussfolgerung gezogen werden: Mit der Feststellung, dass die Kirche nicht die Vollmacht hat, ist keineswegs die Frage beantwortet, ob sie nicht entgegen ihrer Einschätzung in Wahrheit doch die Vollmacht dazu hat.40 Andernfalls wäre c. 841 CIC/1983 hinfällig und der teils große geschichtliche Wandel, der bei den Gültigkeitskriterien etlicher 34 Saskia Wendel, Jesus war ein Mann … – na und? Ein funktionales und nicht-sexualisiertes Amtsverständnis in anthropologischer Hinsicht, in: Eckholt (Hrsg.), Frauen in kirchlichen Ämtern (Anm. 30), 330 – 341, 330, Anm. 2. 35 Arthur Roche, Erzbischof – Sekretär der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, „Apostolorum Apostola”, zugänglich auf: http://www.vatican.va/ro man_curia/congregations/ccdds/documents/articolo-roche-maddalena_ge.pdf, S. 2. 36 Vgl. Wendel, Jesus war ein Mann (Anm. 34), 330, Anm.2. 37 Andrea Taschl-Erber, Maria von Magdala – erste Apostolin?, in: Irmtraud Fischer/ Mercedes Navarro Puerto (Hrsg.), Evangelien. Erzählungen und Geschichte, hrsg. v. Fischer, I., Taschl-Erber, A., Stuttgart 2012, 362 – 382, hier S. 380. 38 Ebd. 39 Klinger, Christologie im Feminismus (Anm. 32), S. 238. 40 Vgl. ebd., S. 235.

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Sakramente wie z. B. der Buße, der Krankensalbung und der Ehe festzustellen ist, theologisch nicht erklärbar. Und selbstverständlich wäre auch die Neuformulierung der grundlegenden Rechtsbestimmungen zum Weihesakrament nicht möglich gewesen, die Papst Benedikt XVI. im Jahr 2009 vorgenommen hat, als er die cc. 1008 und 1009 CIC/1983 so umformuliert hat, dass der Diakonat klar vom Presbyterat und Episkopat abgehoben wird, indem sein Handeln nicht mehr wie bisher als „in der Person Christi, des Hauptes“ charakterisiert wird. Die vielen Fragen, die seitdem offen im Raum der Kirche stehen, machen deutlich, dass diese Veränderung des Weihesakraments alles andere als unerheblich ist.41 Papst Benedikt XVI. hatte hier offensichtlich keine Zweifel, dass ihm diese Vollmacht zur Veränderung des Weihesakraments zukommt. Damit stellt sich umso dringlicher die Frage: Warum soll dann aber die Kirche nicht die Vollmacht haben, Frauen zu Priesterinnen zu weihen? Diese Frage wird noch verschärft durch die Tatsache, dass das kirchliche Lehramt bisher keines der vielen Argumente aus der theologischen Wissenschaft, die für die Einführung des Frauenpriestertums sprechen,42 entkräftet hat. Die von Seiten der theologischen Wissenschaft vorgebrachten Anfragen und Bedenken an die mangelnde Stichhaltigkeit der lehramtlich dargelegten Begründung gegen die Einführung des Frauenpriestertums müssen hier nicht ausgeführt werden. Es reicht an dieser Stelle, das pointierte Resümee, das die Dominikanerin Benedikta Hintersberger 2007 gezogen hat und darin punktgenau die Widersprüchlichkeit der lehramtlichen Verkündigung über die Gleichheit von Mann und Frau einerseits und den Ausschluss der Frauen vom Empfang des Weihesakraments andererseits benennt. Hintersberger macht geltend: Wenn beide, Mann und Frau, „in der Bedeutung vor Gott gleich sind, dann müssen sie auch im Dienst vor Gott gleich sein. Wenn in der Eucharistie Tod und Auferstehung Jesu gefeiert werden, muss ich fragen: Wer war damals bei Tod und Auferstehung Jesu dabei? – die Frauen. Die Frauen waren es, die bis zum bitteren Ende des Todes Jesu unter dem Kreuz ausgeharrt haben, während die Jünger sich mit gebührendem Sicherheitsabstand in der Ferne von Kreuz und Tod aufgehalten haben. Und Frauen waren es, denen als erstes die Osterbotschaft am leeren Grab verkündet worden ist. Dann kann man sie auch am Altar nicht ausschalten!“43 Doch als ob es diese theologischen Anfragen, Bedenken und Argumente nicht gäbe, wird seit 1994 von Seiten der Kirchenleitung gebetsmühlenartig behauptet, dass die Kirche nicht die Vollmacht dazu habe, Frauen zur Priesterweihe zuzulassen. Ein – wie aufzuzeigen versucht wurde – äußerst fragwürdiges Argument, um nicht zu sagen: ein Argument, das theologisch und speziell kirchenrechtlich nicht zutreffend ist!44 41

Vgl. dazu Demel, Frauen und kirchliches Amt (Anm. 12), S. 180 – 182 und S. 196 – 199. Vgl. dazu ebd., S. 220 – 234. 43 KNA-Interview vom 5. 7. 2007. 44 Hier trifft auch zu, was Klinger, Christologie im Feminismus (Anm. 32), S. 240, Anm. 248, in anderem Zusammenhang (nämlich des endgültigen Zustimmungsgehorsams gemäß LG 25 und c. 750§2 CIC/1983) festgestellt hat: „Die Absurdität gegenwärtiger Auseinandersetzungen um die Tradition zeigt sich in dem Umstand, dass man die Frage nach 42

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VI. Der kirchliche Gestaltungsspielraum beim Weihesakrament Werden die Überlegungen zu c. 841 CIC/1983 im Zusammenspiel mit c. 1024 CIC/1983 zusammengefasst, so sind folgende Aspekte hervorzuheben: Erstens hat die höchste kirchliche Autorität gemäß c. 841 CIC/1983 das Recht und damit auch die Pflicht, die Gültigkeitsbedingungen des Weihesakraments (wie auch der anderen Sakramente) stets neu zu beurteilen und festzulegen. Zweitens wird vom obersten kirchlichen Lehramt ein Stifterwillen Jesu für das männliche Geschlecht des Priesteramtes und damit eine Grundlegung in der Heiligen Schrift seit 1976 geltend gemacht. Drittens wird in der theologischen Wissenschaft aber genau das kontinuierlich seit Jahrzehnten in Frage gestellt und mit guten Argumenten dargelegt, dass das männliche Geschlecht als Gültigkeitsbedingung für den Empfang des Weihesakraments theologisch nicht überzeugt. Viertens wird auch vom Glaubenssinn der Gläubigen ebenfalls seit Jahrzehnten immer wieder und immer lauter der Unmut darüber geäußert, dass Frauen nicht zu Diakoninnen und Priesterinnen geweiht werden können. Fünftens wird ebenso seit einigen Jahren zunehmend von bischöflicher Seite Verständnis für die Argumente der theologischen Wissenschaft und den Unmut der Gläubigen offen artikuliert.

Weil somit der Schriftnachweis für das männliche Geschlecht als unabdingbare Voraussetzung für den Empfang des Weihesakraments – vorsichtig formuliert – zweifelhaft ist, nach dem überwiegenden Konsens in der theologischen Wissenschaft gar nicht herleitbar ist, fehlt ein klares Zeugnis der Quellen ebenso wie die einmütige Zustimmung in der Kirche für den normierten Ausschluss von Frauen vom Empfang des Weihesakraments. Deshalb ist die 1994 getroffene Lehrentscheidung zumindest in ihrer Legitimität anzufragen, konsequent zu Ende gedacht sogar in ihrer Verbindlichkeit aufzuheben, weil ihr die Bedingungen gefehlt haben, so getroffen zu werden, wie sie getroffen worden ist. Denn Joseph Ratzinger hat bereits 1969 festgestellt: „Wir hatten vorhin gesagt, Einheit der Kirche verlange nach katholischem Verständnis Unterstellung unter die definitive Auslegung des Glaubens durch den Papst. … Umgekehrt wird Kritik an päpstlichen Äußerungen in dem Maß möglich und nötig sein, in dem ihnen die Deckung in Schrift und Credo bzw. im Glauben der Gesamtkirche fehlt. Wo weder Einmütigkeit der Gesamtkirche vorliegt noch ein klares Zeugnis der Quellen gegeben ist, da ist auch eine verbindliche Entscheidung nicht möglich; würde sie formal gefällt, so fehlten ihre Bedingungen, und damit müsste die Frage nach ihrer Legitimität erhoben werden.“45

Damit drängt sich mit großem Nachdruck die Frage auf: Was also ist es, das die Kirchenleitung hindert, unter Bezugnahme auf c. 841 CIC/1983 den seit Jahrzehnten umstrittenen c. 1024 CIC/1983 entsprechend den theologischen Erkenntnissen und Wahrheit oder Falschheit dessen, was in ihr festgehalten wurde, gar nicht stellt. Man will Endgültiges verkünden, ohne zu sagen, worin es besteht. Definitives ohne Definition.“ 45 Joseph Ratzinger, J., Primat und Episkopat, in: ders., Das neue Volk Gottes. Entwürfe zur Ekklesiologie, Düsseldorf 1969, S. 121 – 146, hier S. 143 f.

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den rechtlichen Erfordernissen so zu ändern, dass auch Frauen das Sakrament der Weihe in seinen drei Ausfaltungen empfangen können? Ganz konkret gefragt: Warum soll c. 1024 CIC/1983 nicht so verändert werden können, dass nicht mehr nur der getaufte Mann, sondern jede getaufte Person das Sakrament der Weihe empfangen kann? Denn wenn erstens der Kirche nicht nur die Sakramente an sich, sondern insbesondere auch deren rechtliche Ausgestaltung anvertraut sind, wenn zweitens die Kirche von dieser rechtlichen Vollmacht über die Gültigkeitsbedingungen der Sakramente bisher schon in vielfältiger Weise Gebrauch gemacht hat und wenn drittens das Heil der Seelen in der Kirche immer das oberste Gesetz sein muss, wie es pointiert in der letzten Bestimmung des kirchlichen Gesetzbuches heißt (c. 1752 CIC/1983), dann sind solche Reformen höchstes Gebot der Stunde, wenn sich die katholische Kirche nicht weiter ihrer Glaubwürdigkeit und Zukunftsfähigkeit berauben will.

Die musikalische Dimension des Kirchenrechts. Die musica sacra als Gegenstand des Rechts Sabine Konrad Erfreulicherweise gibt uns das Leben immer wieder schöne Gelegenheiten zum Feiern. Zum einen feiern wir unseren Glauben und ehren Gott im Gottesdienst, aber auch andere schöne Anlässe laden zum Feiern ein, und zwar am besten mit Musik. Veranschaulicht sei das an einem nicht ganz aus der Luft gegriffenen Beispiel: ein verdienter und sympathischer Universitätsprofessor für Kirchenrecht an einer österreichischen Hochschule feiert seinen 65. Geburtstag.1 Zu diesem Anlass wird auch ein feierlicher Dankgottesdienst stattfinden, für den eine besonders schöne Auswahl an Kirchenmusik angemessen ist. Beauftragt wird mit der Zusammenstellung der musikalischen Auswahl und der Aufführung die engagierte Kirchenmusikerin Cäcilia. I. Die Auswahl des Werkes Für den Auszug wählt Cäcilia ein festliches barockes Stück für Chor und Orchester eines Komponisten, dessen Werk zwar in der eigenen Diözese sehr bekannt ist, aber über die diözesanen Grenzen hinaus kaum Beachtung gefunden hat. Der Komponist lebte Ende des 17. Jahrhunderts, sodass Cäcilia sich über die Aufführungsrechte keine Sorgen machen muss. Denn sie weiß, dass gemäß § 60 UrhG2 das Urheberrecht an Werken der Tonkunst 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers endet. Urheber ist in diesem Fall der Komponist selbst, da er nachgewiesenermaßen das Werk allein geschaffen hat (§ 10 UrhG). Dass er damals im Auftrag des Bischofs komponierte, ändert nichts an seinem persönlichen Urheberrecht.3 Miturheber, die auch entsprechende Rechte besaßen (§ 11 UrhG), gab es keine, und wenn, dann wären auch 1 Dem Empfänger dieser Festschrift, Univ.-Prof. Dr. iur. Dr. iur. can Severin J. Lederhilger OPraem sei an dieser Stelle sehr herzlich gratuliert. 2 Bundesgesetz über das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Kunst und über verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz). StF: BGBl. Nr. 111/1936. 3 Vgl. Dietmar Dokalik/Adolf Zemann (Hrsg.), Österreichisches und Internationales Urheberrecht. Das Urheberrechtsgesetz und das Verwertungsgesellschaftengesetz mit Durchführungsbestimmungen, damit zusammenhängenden Rechtsvorschriften, den einschlägigen EU-Rechtsvorschriften und dem internationalen Urheberrecht. Mit Materialien, Erläuterungen, der österreichischen und EuGH-Judikatur in Leitsätzen und Literaturhinweisen, § 10,103.

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diese mittlerweile bereits über 70 Jahre lang tot. Einer Aufführung sollte also zumindest aus rechtlichen Gründen nichts entgegenstehen. Cäcilia beginnt schon in der nächsten Chor- und Orchesterprobe, das Werk mit ihren SängerInnen und InstrumentalistInnen einzustudieren. Dabei ergeben sich erhebliche Schwierigkeiten, vor allem im Sopran, der die höchsten Töne selbst nach langem Einsingen bei weitem nicht erreicht. Desweiteren stellt sich heraus, dass die Fuge für den Chor eindeutig zu anspruchsvoll ist. Auch beim Orchester ergeben sich unüberwindbare Schwierigkeiten, das Stück so zu spielen, wie es die Noten vorsehen. Immerhin handelt es sich nicht um BerufsmusikerInnen, sondern um begeisterte Gemeindemitglieder, die zwar schon viel Erfahrung mit Aufführungen haben, aber leider auch gelegentlich an die Grenzen der Machbarkeit stoßen. II. Die Bearbeitung des Werkes Cäcilia ist mit dieser Situation wohlvertraut und beschließt nach einer Woche, Überarbeitungen des Werkes vorzunehmen, damit es mit den vorhandenen musikalischen Ressourcen aufgeführt werden kann. Animiert ist sie bei der Überarbeitung von der Aufforderung des Zweiten Vatikanischen Konzils, Vertonungen zu schaffen, die nicht nur von größeren Sängerchören gesungen werden können, sondern auch an kleinere Chöre angepasst sind und dadurch die tätige Teilnahme der ganzen Gemeinde der Gläubigen fördern.4 Das Zweite Vatikanische Konzil hob die Wichtigkeit der Kirchenmusik für die Liturgie besonders hervor (SC 112 – 121) und erinnerte die Kirchenmusiker, dass es ihre Berufung sei, die Kirchenmusik zu pflegen und deren Schatz zu mehren (SC 121). Wie der Konzilstext deutlich macht, ist es Aufgabe der Kirchenmusiker, die Musik entsprechend an die lokale kirchenmusikalische Situation anzupassen. So ist es gewünscht und durchaus erlaubt, schwierige Stücke und Gesänge einfacher oder etwas anders zu gestalten, und entsprechend der vorhandenen Möglichkeiten und Ressourcen an MusikerInnen und SängerInnen anzupassen. Wenn ein Komponist diesem Auftrag folgt und entweder ein vollkommen neues musikalisches Werk schafft, oder ein bereits bestehendes Werk anpasst, hat er zunächst den Wunsch, dass Musiker sein Werk zum Klingen bringen. Als nächstes wird er zwei weitere Anliegen haben: den persönlichkeitsrechtlichen und den vermögensrechtlichen Schutz seines Werkes. Das geistige Eigentum ist die Befugnis des Menschen zur Herrschaft über von ihm geschaffene immaterielle, geistige Güter, und zwar sowohl persönlichkeitsrechtlich als auch vermögensrechtlich. Anpassungen und Bearbeitungen, wie Cäcilia sie vorhat, sind also von Seiten der Kirche durchaus erwünscht und sind für Cäcilia auch fast schon zum Alltag geworden, da sie sonst viele schöne Stücke überhaupt nicht aufführen könnte. 4 Sacrosanctum Concilium Vaticanum II., Constitutio de Sacra Liturgia Sacrosanctum Concilium (SC) (4. 12. 1963), n. 121.

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Cäcilia macht sich nun an die Arbeit, das ursprüngliche Werk anzupassen und entsprechend sing- und spielbar zu machen. Das Werk soll zwar noch erkennbar sein, aber die Noten werden in erheblichem Maße verändert. Einige sehr schwierige Stellen ersetzt Cäcilia durch eigene Kompositionen, die musikalisch gut hineinpassen, aber mit dem ursprünglichen Werk keinen Zusammenhang mehr aufweisen. In einer Art manisch-barocker Trance baut sie die Fuge so weit aus, dass sie zwar einfacher wird, aber nun völlig eigenständige Elemente aufweist. Bei Kerzenschein am Klavier tanzen die Noten und Töne in ihrem Kopf Pirouetten und fügen sich zu neuen zauberhaften Melodien zusammen. Im Morgengrauen macht Cäcilia den letzten Bleistiftstrich und bricht erschöpft zusammen. Das Ergebnis stellt sie zufrieden, denn erstens müsste es so machbar sein, und zweitens ist ein vollkommen neues Werk entstanden, das sowohl ihren eigenen Glauben zum Ausdruck bringt als auch ihre ganz eigene musikalische Begabung in hellem Licht erglänzen lässt. Vollkommen überwältigt gönnt sie sich eine Tasse Kaffee und freut sich. Denn durch den kreativen Prozess des Überarbeitens und selbst Komponierens hat sich ungewollt ihre Rolle verändert. Sie führt nun nicht mehr das Werk eines anderen auf, sondern ist selbst zur Urheberin eines Werkes der Tonkunst geworden. Tonkunst im besten Sinne des Wortes. III. Eine neue geistige Schöpfung auf dem Gebiet der Tonkunst Zu den Werken im Sinne des Urheberrechtsgesetzes zählen neben geistigen Schöpfungen auf den Gebieten der Literatur, der bildenden Künste und der Filmkunst auch eigentümliche geistige Schöpfungen der Tonkunst (§ 1 Abs. 1 UrhG). Den Begriff der Tonkunst setzt der Gesetzgeber als allgemein bekannt voraus und verzichtet auf eine Definition. Es handelt sich um geistige Schöpfungen, die durch Töne zum Ausdruck gebracht werden, gleichgültig ob durch Stimme oder durch Instrumente.5 Schutzgegenstand ist das individuelle Tongefüge als Ganzes, also der Aufbau der Tonfolge, der Rhythmus, die Instrumentalisierung sowie die Melodie. Sofern diese eine geschlossene und geordnete Einheit bildet, ist sie auch als Tonfolge schutzfähig. Denn auch einzelne Werkteile können urheberrechtlich geschützt sein (§ 1 Abs. 2 UrhG). Sobald der Tonkunst „eine gewisse individuelle, ästhetische Ausdruckskraft innewohnt“6, ist die Schutzvoraussetzung der schöpferischen Eigentümlichkeit zu bejahen. Dabei kommt es nicht auf die Höhe des individuellen ästhetischen Gehalts und den künstlerischen Wert der Komposition an. Auch die körperliche Festlegung in Form von Tonträgern oder durch Noten ist keine Schutzvoraussetzung.7 Wie Cäcilias neues Werk also in den Ohren anderer klingt, ist nicht relevant für den urheberrechtlichen Schutz ihres Werkes. Doch wie verhält es sich mit der Tat5 Vgl. Clemens Appl, Urheberrecht, in: Andreas Wiebe (Hrsg.), Wettbewerbs- und Immaterialgüterrecht, Wien (5., überarbeitete Auflage) 2022, 197 – 308, 213. 6 Appl (Anm. 5) 213. 7 Vgl. ebd.

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sache, dass sie ihrer Tonkunst ein anderes Werk zu Grunde legte? Denn unwesentliche Bearbeitungen gemeinfreier Stücke gelten nicht als schutzfähig.8 Beantworten lässt sich diese Frage mit einem Blick in § 5 UrhG, in dem es um die rechtliche Bewertung von Bearbeitungen geht. Grundsätzlich ist zwar das Recht der Bearbeitung dem Urheber vorbehalten (§ 14 Abs. 2 UrhG), aber im konkreten Fall besitzt niemand mehr Urheberrechte an diesem Werk. Wäre der Urheber noch am Leben und könnte die Urheberrechte wahrnehmen, müsste er vor einer Bearbeitung seine Zustimmung geben.9 Ansonsten wäre die Bearbeitung rechtswidrig. IV. Die urheberrechtliche Bewertung der Bearbeitung Eine Bearbeitung hat urheberrechtlich gesehen zwei Seiten.10 Einerseits ist sie selbst urheberrechtlich geschützt, und andererseits sind auch die Rechte des Urhebers des benutzten Originalwerkes zu beachten. Eine Bearbeitung besteht in der schöpferischen Umgestaltung äußerer Merkmale bei Beibehaltung der Identität des Werkes.11 Es handelt sich nur dann um eine selbstständige Neuschöpfung, wenn die Eigenart des neuen Werkes die Züge des benutzten Werkes in den Hintergrund treten lassen. Dann ist die Bearbeitung als eigenes Werk zu sehen und genießt denselben urheberrechtlichen Schutz wie Originalwerke (§ 5 Abs. 1 UrhG; Bearbeiterurheberrecht). Die Verwertung einer selbständigen Neuschöpfung bedarf dann auch nicht mehr der Zustimmung des ursprünglichen Urhebers, ein Gesichtspunkt, der im Falle von Cäcilias Bearbeitung allerdings nicht relevant ist.12 Es würde sich anderenfalls um ein abhängiges Urheberrecht handeln.13 Cäcilias Werk ist keine Umgestaltung, sondern so eigenständig, dass das Original nicht mehr erkennbar ist, und ist somit als eine eigentümliche geistige Neuschöpfung zu bewerten (§ 5 Abs. 2 UrhG). Cäcilias Neuschöpfung ist zwar zunächst als reine Bearbeitung gedacht gewesen, aber im Laufe des kreativen Prozesses ist ein völlig neues Werk entstanden. Dass das barocke Werk eines anderen Urhebers ihre Anregung und Inspirationsquelle war, spielt dabei keine Rolle. Im direkten Vergleich beider Werke finden sich keine Übereinstimmungen mehr.14 Dies bewirkt mit dem Akt der Schöpfung15 einen Urheberschutz, durch den Cäcilia in Zusammenhang mit ihrer 8

Vgl. Dokalik/Zemann (Anm. 3) 85; Appl (Anm. 5) 213. Vgl. Appl (Anm. 5) 238 f. 10 Es wird auch vom „doppelten Gesicht“ der Bearbeitung gesprochen. Vgl. Appl (Anm. 5) 222; Dokalik/Zemann (Anm. 3), 85. 11 Vgl. Dokalik/Zemann (Anm. 3), 85. 12 Vgl. Appl (Anm. 5) 221; Dokalik/Zemann (Anm. 3), 86. 13 Vgl. Dokalik/Zemann (Anm. 3), 86. 14 Vgl. ebd. 87 f. 15 „Der originäre Erwerb des Urheberrechts erfolgt nicht rechtsgeschäftlich, sondern durch den Realakt der Schöpfung“. Appl (Anm. 5) 226. Voraussetzung ist die Rechtsfähigkeit, die 9

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Schöpfung eine Einheit an Verwertungsrechten und Persönlichkeitsrechten genießt.16 V. Urheberpersönlichkeitsrechte Unter der Überschrift „Schutz geistiger Interessen“ regeln die §§ 19 – 22 und 25 UrhG die Urheberpersönlichkeitsrechte. Appl weist darauf hin, dass es sich dabei nicht um Persönlichkeitsrechte im eigentlichen Sinn handelt, weil sie sich nicht auf die Person des Urhebers allein beziehen, sondern auf dessen besondere Verbindung zu seinem Werk.17 „Geschützt sind daher die geistigen Interessen am Werk, worunter insb (sic!) die Erhaltung und Wiedergabe des Werkes in unversehrter Weise sowie die Wahrung und die Betonung der Verbundenheit des Schöpfers zu seinem Werk zu verstehen sind.“18 Das Urheberpersönlichkeitsrecht ist nicht übertragbar und erlischt nicht mit dem Tod, sondern geht auf die Erben des Urheber über (§§ 19, 23 UrhG). Eine treuhänderische Wahrnehmung der Rechte ist allerdings zulässig, insbesondere durch Verwertungsgesellschaften.19 Die Urheberpersönlichkeitsrechte schützen aber nicht nur die Urheberschaft, sondern auch die Urheberbezeichnung und das Werk selbst. Gemäß § 20 UrhG ist es dem Urheber freigestellt, ob er sein Werk unter seinem eigenen Namen, anonym oder unter einem Pseudonym veröffentlicht (Schutz der Urheberbezeichnung). Dies wäre auch dann der Fall, wenn es sich nicht um eine Neuschöpfung handeln würde, sondern um eine Bearbeitung. Auch der Bearbeiter kann die Bezeichnung frei wählen.20 Das Werk selbst ist dadurch geschützt, dass der Urheber das Recht hat, frei zu entscheiden, auf welche Art und Weise das Werk der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird (§ 21 UrhG). Ebenso kann der Urheber entscheiden, ob und welche Veränderungen am Werk vorgenommen werden dürfen. „Der Werkschutz entsteht als Persönlichkeitsrecht originär beim Schöpfer. Da das Werk seine Eigentümlichkeit aus der Persönlichkeit seines Schöpfers empfängt, bewirken Änderungen des Werks eine Verletzung der Schöpferpersönlichkeit und bedürfen daher der Einwilligung des Schöpfers“21.

jeder Mensch von Geburt an bis zu seinem Tod hat. Geschäftsfähigkeit ist keine Voraussetzung, um Urheberrechte zu erwerben. Vgl. ebd. 16 Vgl. Appl (Anm. 5) 226, 230. 17 Vgl. Appl (Anm. 5) 250. 18 Appl (Anm. 5) 250. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. ebd. 251. 21 Appl ebd.

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VI. Verwertungsrechte Zwar regelt das Kirchenrecht nicht ausdrücklich die Verwertungsrechte von Urhebern, aber ganz grundsätzlich räumt es Laien das Recht ein, eine ihrer jeweiligen Stellung entsprechende angemessene Vergütung zu erhalten, und zwar auch unter Beachtung des weltlichen Rechts (c. 231 § 2 CIC). Dieser dynamische Verweis auf die Regelungen des zivilen Rechts können auf den Fall einer Komponistin von Kirchenmusik angewandt werden, die durch ihre Werkschöpfung Urheberrechte erlangt hat. Entsprechend sind für die Verwertung des Werkes die in Österreich geltenden Normen des UrhG zu beachten. Für eine Aufführung des Werkes in der Öffentlichkeit22 ist § 18 UrhG einschlägig. Der Paragraph regelt das Vortrags-, Aufführungs- und Vorführungsrecht des Urhebers. Werke der Tonkunst unterliegen dem Aufführungsrecht.23 Dem Urheber ist das ausschließliche Recht der Aufführung in der Öffentlichkeit vorbehalten (§ 18 UrhG). Somit ist Cäcilia als Urheberin frei, ihr Werk der Öffentlichkeit zu präsentieren. Hinzu kommt, dass es sich bei Cäcilias Werk um ein kirchenmusikalisches Stück handelt, das im Rahmen einer kirchlichen Feierlichkeit (der Liturgie) aufgeführt werden soll. Dafür gelten besondere Regeln, die die Urheberrechte einschränken. Für sie ist die freie Werknutzung gemäß § 53 Abs. 2 UrhG vorgesehen, die unten genauer erläutert werden soll. Das bereits erwähnte kirchliche Grundrecht auf angemessene Vergütung regelt das zivile Urheberrecht in § 37b Abs. 2 UrhG. Demnach sollen Verwertungsverträge beinhalten, dass die Urheber eine angemessene und verhältnismäßige Vergütung erhalten. Auch eine Pauschalvergütung ist möglich. Zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses wird ermittelt, welche Vergütung angemessen ist.24 VII. Urheberrechte für Werke der Tonkunst im Kirchenrecht Zwar gab es im Hinblick auf den Staat der Vatikanstadt seit 1935 Bestrebungen zum Schutz des Urheberrechts, was aber nicht zur Schaffung einer kirchenrechtlichen Norm führte. Auch das Gesetzbuch für die lateinische Kirche, der Codex Iuris Canonici, regelt nicht den Umgang mit dem geistigen Eigentum. Weder der 22 Mit Öffentlichkeit ist der Bereich gemeint, der die rein private Sphäre verlässt. Appl fasst Kriterien für die Bestimmungen für Öffentlichkeit aus der Rechtsprechung des OGH und des EuGH zusammen: Das Fehlen wechselseitiger persönlicher Beziehungen; eine unbestimmte Zahl potenzieller Rezipienten; auch eine nur sukzessive Öffentlichkeit genügt, um Öffentlichkeit zu sein (wenn die Zahl der Personen, die nacheinander oder nebeneinander Zugang zu dem Werk haben, kumuliert), die Aufnahmebereitschaft der Rezipienten (nicht nur zufälliger Kontakt zum Werk); das Erreichen eines neuen Publikums; der Erwerbszweck des Zugänglichmachens. Vgl. Appl (Anm. 5) 231 f. Vgl. ebenso zum Begriff der Öffentlichkeit Dokalik/Zemann (Anm. 3), 115, 158. 23 Vorgeführt werden Werke der bildenden Künste, und vorgetragen werden Sprachwerke. Eine Aufführung ist eine sichtbare Darstellung, wie z. B. ein Theaterstück. Vgl. Appl (Anm. 5) 243. 24 Vgl. ebd. 269.

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CIC/1917 noch der CIC/1983 enthalten auf den ersten Blick Normen zu dessen Schutz. Eine kirchliche Norm zum Schutz des geistigen Eigentums enthält erstmals der Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium (1990) in c. 666. Mit der geistigen Schöpfung (opus intellectuale), die dort unter Schutz gestellt wird, ist unter anderem die Musik gemeint. Dieses Gesetz gilt allerdings unmittelbar nur für die katholischen Ostkirchen. Bei genauerer Betrachtung finden sich allerdings einige wenige Normen zur Berücksichtigung des Urheberschutzes.25 Mit Blick auf Werke der Tonkunst kann zunächst das Grundrecht auf angemessene Vergütung des c. 231 § 2 CIC genannt werden. Das betrifft selbstverständlich auch KirchenmusikerInnen im Hinblick auf die Vergütung für ihre Werke (Verwertungsrechte). Konkreter wird dann c. 1286 CIC, der den Vermögensverwalter verpflichtet, bei der Beschäftigung von Arbeitskräften auch das weltliche Arbeits- und Sozialrecht genauestens gemäß den von der Kirche überlieferten Grundsätzen zu beachten, sodass diejenigen, die aufgrund eines Vertrages Arbeit leisten, einen angemessenen und gerechten Lohn erhalten, der sie in die Lage versetzt, sich und ihre Angehörigen angemessen zu versorgen. Weiters ist auch c. 1290 CIC relevant, der auf das weltliche Recht im Hinblick auf Verträge im Allgemeinen und im Besonderen verweist. Nach Auffassung von Potz kann hier von einer Übernahme des staatlichen Urheberrechts ins Kirchenrecht ausgegangen werden.26 Dies kann sich dann sowohl auf die Verträge der Kirche mit den Verwertungsgesellschaften beziehen als auch auf die Beachtung des zivilen Urheberrechts für das jeweilige Territorium. In Österreich wurde der urheberrechtliche Schutz für konzertante Aufführungen in Kirchen partikularrechtlich geregelt. Die Österreichische Bischofskonferenz regelt in einer eigenen Verordnung27 den Umgang mit Kirchenkonzerten vor dem Hintergrund des staatlichen Urheberrechts, das freie Werknutzung für den kirchlichen Gebrauch vorsieht. VIII. Die freie Werknutzung für den kirchlichen Gebrauch Das österreichische Urhebergesetz sieht in bestimmten Bereichen Beschränkungen des urheberrechtlichen Schutzes von Werken vor. Zu diesen Bereichen zählt auch die Aufführung von Werken bei kirchlichen Feierlichkeiten, sofern die Zuhörer ohne 25 Potz zeigt die Normen des CIC/1983 auf, die Urheberrechtsschutz beinhalten oder auf zivilen Urheberrechtsschutz verweisen. Vgl. Richard Potz, Urheberrecht aus kirchenrechtlicher Sicht, in: Woher kommt das Urheberrecht und wohin geht es? Wurzeln, geschichtlicher Ursprung, geistesgeschichtlicher Hintergrund und Zukunft des Urheberrechts, hrsg. von Robert Dittrich, Wien 1988 (österreichische Schriftenreihe zum gewerblichen Rechtsschutz, Urheber- und Medienrecht (ÖSGRUM) 7), 43 – 54, 49 – 50. 26 Vgl. Potz (Anm. 25) 51. 27 Vgl. Österreichische Bischofskonferenz, Kirchenkonzerte, in: Amtsblatt der Österreichischen Bischofskonferenz Nr. 8 vom 2. 12. 1992 (1992) 2 – 3.

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Entgelt zugelassen werden (§ 52 Abs. 2 UrhG). Dies gilt sowohl für literarische Werke und Werke der bildenden Künste, als auch für Werke der Tonkunst. In einem entscheidenden Punkt lohnt sich ein Vergleich mit dem deutschen Urheberrechtsgesetz, das anders als das österreichische ausdrücklich eine Vergütungspflicht regelt. Zwar darf für die Zulässigkeit der öffentlichen Wiedergabe eines Werkes kein Erwerbszweck vorliegen, aber für die Wiedergabe ist eine angemessene Vergütung zu bezahlen (§ 52 Abs. 1 UrhG28, Deutschland). Der ursprüngliche Gesetzestext von 1965 sah keine generelle Vergütungspflicht vor, „nachdem die ursprünglich vorgesehene Vergütungspflicht für öffentliche Wiedergaben bei kirchlichen Veranstaltungen auf Betreiben vor allem der katholischen Kirche wieder entfallen war“29. Nur wenn die Veranstaltung den Erwerbszweck eines Dritten diente, fiel eine urheberrechtliche Vergütung an. Die Vergütungspflicht wurde durch eine Neuregelung im Jahr 1985 nach einer Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts30 aufgenommen.31 Unter Bezugnahme auf eine frühere Entscheidung32 führte das Bundesverfassungsgericht aus, dass der Gesetzgeber im Rahmen seines aus der Eigentumsgewährleistung folgenden Regelungsauftrags grundsätzlich verpflichtet sei, „das vermögenswerte Ergebnis der schöpferischen Leistung dem Urheber zuzuordnen und ihm die Freiheit einzuräumen, in eigener Verantwortung darüber verfügen zu können“33. Dabei obliege dem Gesetzgeber jedoch die Aufgabe, „bei der inhaltlichen Ausprägung des Urheberrechts sachgerechte Maßstäbe festzulegen, die eine der Natur und sozialen Bedeutung des Rechts entsprechende Nutzung und angemessene Verwertung sicherstellen“34. Mit der Veröffentlichung stehe das geschützte Musikwerk aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr nur dem Werkschöpfer zur Verfügung. Vielmehr trete es „bestimmungsgemäß in den gesellschaftlichen Raum“ und werde dadurch „zu einem eigenständigen, das kulturelle und geistige Bild der Zeit mitbestimmenden Faktor“35. Das legitime Interesse der Allgemeinheit, gerade auch am kirchenmusika28 Urheberrechtsgesetz vom 9. September 1965 (BGBl. I S. 1273), zuletzt geändert durch Art. 25 Gesetz vom 23. Juni 2021 (BGBl. I S. 1858). 29 Ferdinand Melichar/Malte Stieper, Kommentar zu § 52 UrhG, in: Urheberrecht. UrhG, KGU (Auszug), VGG. Kommentar, Ulrich Loewenheim/Matthias Leistner/Ansgar Ohly (Hrsg.), München (6. Auflage) 2020, 1162 – 1174, 1163. 30 BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 1978, 1 BvR 352/71, BVerfGE 49, 382 – Kirchenmusik. (Vgl. Malte Stieper, Vor §§ 44 ff., in: Urheberrecht. UrhG, KGU (Auszug), VGG. Kommentar, Ulrich Loewenheim/Matthias Leistner/Ansgar Ohly (Hrsg.), München (6. Auflage) 2020, 1042 – 1072, 1050 Rn. 17. 31 Vgl. Melichar/Stieper (Anm. 29) 1163. 32 BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 1971, 1 BvR 765/66, BVerfGE 31, 229. 33 BVerfGE 49, 382 (392). 34 BVerfGE 49, 382 (392). 35 BVerfGE 49, 382 (394).

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lischen Schaffen der Zeit teilzuhaben, wäre bei einem beliebigen Verbotsrecht des Urhebers in Frage gestellt.36 Das Bundesverfassungsgericht beanstandete jedoch, dass nach der damaligen Fassung des § 52 UrhG-Deutschland ein Vergütungsrecht faktisch ausgeschlossen war. Der Urheber habe einen „grundsätzlichen Anspruch auf Zuordnung des wirtschaftlichen Nutzens seiner geistig-schöpferischen Leistung. … Eine übermäßige, durch den sozialen Bezug des Urheberrechts nicht geforderte Einschränkung des Vergütungsrechts“ lasse sich nicht mehr mit der Sozialgebundenheit des Eigentums rechtfertigen.37 Dem Interesse der Allgemeinheit an einem ungehinderten Zugang zur zeitgenössischen Kirchenmusik sei schon durch den generellen Ausschluss des Zustimmungsrechts ausreichend Genüge getan; dies erfordere nicht auch noch eine vergütungsfreie öffentliche Wiedergabe des Werks.38 In keinem vergleichbaren Lebensbereich bestehe die gesetzliche Verpflichtung, „das Ergebnis eigener Leistung für kulturelle Zwecke der Allgemeinheit unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Auch kirchliche Veranstaltungen erforderten regelmäßig personelle und sachliche Aufwendungen der verschiedensten Art,“39 die ebenfalls entgolten würden. Zudem ließen sich kirchenmusikalische Aufführungen nicht mit sonstigen im Gesetz geregelten Fällen der Unentgeltlichkeit vergleichen, weil die Kosten kirchlicher Veranstaltungen auf andere Weise aufgebracht werden.40 In Österreich besteht durch das staatliche Gesetz diese Vergütungspflicht zwar nicht, aber die Österreichische Bischofskonferenz hat sich zur Vergütung der Urheber im Rahmen einer Vereinbarung mit einer Verwertungsgesellschaft entschlossen.41 Zunächst kann festgestellt werden, dass musikalische Werke in liturgischen Feiern frei genutzt werden können. Doch auch in Kirchenkonzerten ist es möglich, bestimmte Werke frei zu nutzen. Die Österreichische Bischofskonferenz zählt in ihrer Verordnung zu Kirchenkonzerten auch diese zu „Verkündigung und Gotteslob, wenn die dargebotene Musik geeignet ist, ,religiöses Empfinden zu wecken und zur Versenkung in das heilige Geheimnis zu führen‘ (Instr. ,Musicam sacram‘ Art. 46) und wenn die Qualität der Darbietung sowie die Art der Durchführung der Würde des Kirchenraumes entsprechen“42. Aufgeführt werden können für die Liturgie komponierte Vokal- und Instrumentalmusik, aber auch „Chor- und Sologesänge, die nicht für den Gottesdienst geschaffen wurden, deren Texte jedoch unseren Glauben zum Ausdruck bringen und deren Musik geistlicher Erbauung dienen (z. B. geistliche Oratorien, Kirchenopern, Kantaten) sowie Instrumentalwerke mit entsprechendem Cha-

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BVerfGE 49, 382 (395). BVerfGE 49, 382 (400). 38 BVerfGE 49, 382 (401). 39 BVerfGE 49, 382 (402). 40 BVerfGE 49, 382 (401 f.). 41 Siehe detailliertere Ausführungen unten. 42 I, Nr. 2 VO Kirchenkonzert ÖBK (Anm. 27). 37

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rakter“43. Sollte unklar sein, ob ein Werk für eine Aufführung im Rahmen eines Kirchenkonzertes geeignet ist, soll sich der zuständige Pfarrer, in dessen Kirche das Konzert stattfinden soll, an das bischöfliche Amt für Kirchenmusik wenden und um eine entsprechende Entscheidung bitten (II, Nr. 4, VO Kirchenkonzert ÖBK). Es muss gewährleistet sein, dass der Kirchenraum nicht zu kommerziellen Zwecken in Anspruch genommen wird. Es kann zwar eine Kostenbeitrag (Regiebeitrag) erhoben werden, allerdings nur wenn die kirchenmusikalische Veranstaltung mit höheren Kosten verbunden ist (III, Nr. 3 VO Kirchenkonzert ÖBK). Die Verordnung verweist in ihrem letzten Satz auf die Pflicht, „einschlägigen behördlichen Vorschriften und die Bestimmungen hinsichtlich der Aufführungen geschützter Werke (Urheberrecht)“44 zu beachten. IX. Vereinbarungen mit Verwertungsgesellschaften Die im Urheberrechtsgesetz vorgesehene freie Werknutzung für kirchliche Feierlichkeiten und auch für Kirchenkonzerte hatte zur Folge, dass die Urheber keine Garantie auf Vergütung hatten. Zur Würdigung der Bedeutung der Kirchenmusik durch die Anerkennung der Urheberrechte entschloss sich die Österreichische Bischofskonferenz zur Leistung eines Aufführungsentgeltes und schloss im Jahr 1971 eine Vereinbarung mit der AKM45, die ein pauschales Aufführungsentgelt vorsieht.46 Die Österreichische Bischofskonferenz zahlt die Pauschale, die im Laufe der Jahre mehrmals angepasst wurde, jährlich an die AKM und gewährleistet dadurch eine Vergütung der Urheber für Aufführungen bei kirchlichen Feierlichkeiten, zu der sie gesetzlich nicht verpflichtet ist – zumindest nicht durch staatliches Recht.47 Das kirchliche Recht sieht immerhin, wie bereits oben ausgeführt, in c. 231 § 2 CIC die angemessene Vergütung vor, so dass im Zusammenhang mit der die Vereinbarung mit der AKM durchaus davon gesprochen werden kann, dass eine gesetzliche Verpflichtung erfüllt wird. Cäcilia wird sich also neben der erfolgreichen Aufführung ihres Werkes auch über eine Vergütung durch die AKM freuen können. X. Zusammenfassung der rechtlichen Aspekte a) Die Kirchenmusik ist sowohl für die liturgischen Feiern als auch für Kirchenkonzerte von wesentlicher Bedeutung. Das Zweite Vatikanische Konzil forderte KirchenmusikerInnen auf, den Schatz der Kirchenmusik zu pflegen und deren Schatz zu mehren (SC 121). Dazu gehört es auch, neue Werke zu schaffen und bereits bestehende Werke an die musikalischen Ressourcen vor Ort anzupassen. Dadurch entsteht geistiges Eigentum, auf das die jeweiligen Schöpfer Urheberrechte erhalten. 43

II, Nr. 1, VO Kirchenkonzert ÖBK (Anm. 27). III, Nr. 4 VO Kirchenkonzert ÖBK (Anm. 27). 45 Staatlich genehmigte Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger, reg. GenmbH. 46 Vgl. Potz (Anm. 25) 52. 47 Vgl. Potz (Anm. 25) 52. 44

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b) Urheberrechte an Werken der Tonkunst bestehen, solange der Urheber am Leben ist, und bis 70 Jahre nach dessen Tod (§ 10 UrhG). Gleiches gilt für Miturheber, die an der Schöpfung des Werkes beteiligt waren. Verbunden sind mit dem Urheberrecht die Urheberpersönlichkeitsrechte und Verwertungsrechte. Ist das Werk das Ergebnis einer Auftragsarbeit, ändert sich an den Urheberrechten des Schöpfers des Werkes nichts. c) Ohne die Zustimmung des Urhebers darf keine Bearbeitung eines Werkes stattfinden. Bestehen keine Urheberrechte mehr auf das Werk, sind Bearbeitungen ohne Zustimmung möglich. Aus einer Bearbeitung ergibt sich ein Bearbeiterurheberrecht (§ 5 Abs. 3 UrhG). d) Der Unterschied zwischen Bearbeitung und Neuschöpfung liegt in der Nähe bzw. Ferne zum Originalwerk. Eine Umgestaltung äußerer Merkmale bei Beibehaltung der Identität des Werkes ist eine Bearbeitung. Treten die Züge des benutzten Werkes vollkommen in den Hintergrund, handelt es sich um eine selbständige Neuschöpfung. Dies ist im Einzelfall zu ermitteln, indem das Originalwerk und die Bearbeitung direkt verglichen werden. e) Urheberpersönlichkeitsrechte schützen die geistigen Interessen am Werk. Dies sind die Erhaltung und Wiedergabe des Werkes in unversehrter Weise und die Wahrung sowie die Betonung der Verbundenheit des Schöpfers zu seinem Werk. Diese Rechte sind weder übertragbar, noch können sie erlöschen. Nach dem Tod des Urhebers gehen sie auf die Erben über. Der Urheber hat das Recht, selbst zu entscheiden, unter welchem Namen er sein Werk veröffentlicht. Zudem kann er entscheiden, auf welche Art und Weise das Werk der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird (§§ 19 – 21 UrhG). f) Verwertungsrechte stehen dem Urheber zu und regeln das Aufführungsrecht unter anderem für die musikalischen Werke. Die angemessene Vergütung für die Aufführungen wird durch Verwertungsverträge geregelt. Sie wird sowohl vom zivilen Recht (§ 37 b Abs. 2 UrhG) als auch vom kirchlichen Recht (cc. 231, 1286 § 1 CIC) gefordert. Das Kirchenrecht verweist bei der konkreten Ausgestaltung auf das zivile Recht (c. 1286 § 1 CIC). g) Der urheberrechtliche Schutz wird in bestimmten Fällen beschränkt. Hierzu zählt auch die Aufführung von Werken bei kirchlichen Feierlichkeiten, sofern die Zuhörer ohne Entgelt zugelassen werden (§ 53 Abs. 2 UrhG). In Deutschland wurde im Jahr 1985 für diese Fälle eine generelle Vergütungspflicht eingeführt. Im Gegensatz dazu besteht in Österreich keine Vergütungspflicht. h) KirchenmusikerInnen und KomponistInnen von Kirchenmusik werden trotz fehlender Vergütungspflicht im staatlichen Recht für die Aufführung ihrer Werke vergütet. Dies geschieht durch die Verwertungsgesellschaft AKM, mit der die Österreichische Bischofskonferenz 1971 einen Vertrag geschlossen hat, der bereits mehrmals angepasst werden musste.

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XI. Conclusio Hinsichtlich des Schutzes des geistigen Eigentums mit seinen vermögensrechtlichen und persönlichkeitsrechtlichen Aspekten ist der Blick ins zivile Recht unerlässlich. Hier finden sich die einschlägigen Normen, die für KirchenmusikerInnen sowohl beim Schaffen eigener Werke, Neuschöpfungen oder Bearbeitungen, als auch bei der Aufführung der Werke relevant sind. Zudem existieren Verträge zwischen der katholischen Kirche und den Verwertungsgesellschaften, die in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle spielen. Die jeweilige Situation muss für jeden Staat gesondert betrachtet werden. Im Fall von Cäcilia ist eine Vergütung durch die AKM zu erwarten. In Deutschland wäre es die GEMA. Ob die Vergütung tatsächlich angemessen ist, ist schwer festzustellen. Im Bereich der Unterhaltungsmusik kann ein Urheber eine um ein Vielfaches höhere Vergütung bekommen. Freilich handelt es sich um eine andere Zielgruppe, und auch die regelmäßige Verbreitung über den Rundfunk und das Internet ist ein wesentlicher Aspekt, der bei der Kirchenmusik fehlt. Die Kirchenmusik bietet aber etwas, was die Unterhaltungsmusik nicht in diesem Maße kann: die Möglichkeit für jeden, der möchte, sich selbst musikalisch einzubringen. Die Pfarren bieten durch ihre vielfältigen musikalischen Aktivitäten (Kirchenchöre, Musikgruppen, Orgelunterricht …) Mitwirkungsmöglichkeiten an, die sonst nirgends in diesem Umfang und unentgeltlich geboten werden können. Zudem ist sie durch liturgische Feiern und Kirchenkonzerte ein wesentlicher und an vielen Orten einziger Kulturträger für Musik in der Gesellschaft. Durch die enge kirchliche Infrastruktur kommen die Gläubigen und andere an der Musik interessierten Personen auch in kleineren Orten in den Genuss von hochwertiger Musik. Selbst wenn das Kirchenrecht die Urheberrechte an Werken der Tonkunst nicht explizit regelt, so ist doch der Verweis auf die geltenden zivilen Gesetze und die Pflicht zur angemessenen Vergütung in c.1286 CIC ein klares Zeichen, dass der Schutz des geistigen Eigentums im kirchenmusikalischen Bereich dem Gesetzgeber ein wichtiges Anliegen ist. Das Urheberrecht hat für die Kirche eine herausragende Stellung, selbst wenn sie dessen Regelungen aus dem jeweiligen staatlichen Recht übernimmt. Das Beispiel von Cäcilia soll zeigen, dass das Urheberrecht mitten im Leben der Kirche angesiedelt ist. Als der Dankgottesdienst im Rahmen der Feierlichkeiten für den zu ehrenden Universitätsprofessor zu Ende ist, liegt Cäcilia höchst zufrieden ihren Taktstock nieder und bedankt sich bei ihrem SängerInnen und InstrumentalistInnen. Es ist alles wunderbar gelaufen, vor allem das Stück zum Auszug, und Cäcilia fühlt sich motiviert, weitere Werke zu schaffen, um im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils den Schatz der Kirchenmusik zu mehren.

„Leges ab omnibus intellegi debent.“ (CpJCiv., Cod. Justinianus 1.14,9): Nicht nur ein neuer Gratian, auch ein neuer Gasparri, Benedikt XV. und Johannes Paul II. wären nötig! Gedanken zum status iuris in der katholischen Kirche Ernst Pucher I. Der Befund M. Walser hat mit seinem Aufsatz „Discordantia concordantium canonum“ oder „warum die Gesetzgebungstechnik des Heiligen Stuhls zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen neuen Gratian bräuchte“1 eine schmerzende wunde Stelle am Leib der katholischen Kirche berührt. Die Diagnose erfordert Zustimmung. Papst Franciscus hat bis 29. 04. 1922 in 50 (!) Erlassen („Motu proprio“) das universale Recht des CIC 1983 geändert. Auch der Kanonist tut sich schwer: was gilt noch? Was gilt schon? Zudem wurden die Änderungen nicht im Amtsblatt des Heiligen Stuhles, den AAS, promulgiert, sondern anderswo, was zwar grundsätzlich möglich ist, aber keineswegs der Rechtssicherheit dient. Im Übrigen ist die letzte Ausgabe der AAS mit Datum 6. Dezember 2019 (!) im Oktober 2022 (!) erschienen. Eine nicht ganz einfache Situation! Ein neuer Gratian müsste also das verstreute Material (die Erlasse und Durchführungsbestimmungen, Instruktionen u. dgl. mehr) auffinden, sichten, auf den rechtsverbindlichen Charakter hin untersuchen, bewerten und der kirchlichen Öffentlichkeit bekanntmachen. Und damit wären wir beim Rechtszustand vor 1917, vor der Promulgation des 1. Codex. Wir hätten eine wohl respektable Rechtssammlung vorliegen – mit je verschiedenem Verbindlichkeitsgrad freilich, eine neue Art von „case law“. Kann das für die Universalkirche heute genügen, was in einigen Staaten (anglo-amerikanisches Rechtssystem z. B.) lange Tradition hat? Der Heilige Stuhl hat sich vor mehr als 100 Jahren für die Kodifikation des Kirchenrechts entschieden, wohl aus Gründen der Rechtssicherheit, sodass jeder wissen kann und soll, was Recht ist in der katholischen Kirche. Sollte das wieder anders werden? Ich bin überzeugt, das kodifizierte Recht ist im Vorteil, ohne nach einem Juridismus zu rufen in der irrigen Meinung, es ließe sich alles im Vorhinein durch Gesetze lösen. Aber das kodifizierte Recht gilt – es ist weniger der stets auch bis zu einem gewissen Grade immer subjektiven Interpretation und Anwendung unterworfen als das „case law“… 1

DPM 27/28 (2020/21) 311 – 329.

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Immerhin die Aufgabe Gratians ist unverzichtbar und ein großes Unterfangen nunmehr, kann aber nicht alles gewesen sein. Wenn: soll das, was jetzt gilt, auch in Zukunft so gelten? Auch die Kirche lernt, macht Erkenntnisfortschritte. Was ist also zu ändern, zu verbessern, um dem letzten Ziel der Kirche und darum auch des Kirchenrechts mehr zu entsprechen: dem Heil der Seelen!2 Das aber ist dann nicht mehr noch so verdienstvolle Sammeltätigkeit, sondern höchst verantwortungsvolle pastorale Entscheidung: die Hirten der Kirche, vor allem der universale Hirt der Kirche, der Papst, sind am Zug. Aus dem gesammelten Wissen um das Recht muss ein gesetzgeberischer, Recht schaffender Akt werden. Partikuläres „Gesetzesmaterial“ soll zum „größeren Ganzen“ zusammengefasst werden. Aus Bruchstücken soll und kann ein brillanter Edelstein geschliffen werden voll Eleganz. Hierbei können auch vorbildliche Legislationen im staatlichen Bereich Hilfe sein. So rühmte man erst unlängst die Eleganz des Bundes-Verfassungsgesetzes der Republik Österreich, etwas, das im Formalen gewiss zutrifft. Geschichtlich betrachtet war allerdings auch das kirchliche Recht und die kirchliche Gesetzgebung immer wieder Vorbild für so manches im staatlichen Bereich … „Ecclesia vivit lege Romana.“ Vom römischen Recht, der justinianischen Gesetzgebung hat die Kirche gelernt. Die sich im Mittelalter neu bildenden Staaten haben von ihr gelernt. Recht und Gesetz als Kulturgut! Frieden und Sicherheit als Wohltat: „Opus iustitiae pax“! – in Staat, Gesellschaft und Kirche. Durch das Recht werden Bedingungen geschaffen, welche das „Heil der Seelen“ leichter und besser erreichen lassen: Recht als Mittel, nicht als Ziel von Seelsorge. Recht muss interpretiert und angewandt werden, sonst bleibt es „totes Recht“. Daran wäre auch schon bei der Gesetzgebung zu denken und auf die möglichen Normanwender zu hören. Kriterium hat die Praktikabilität zu sein. Gerichte und Verwaltungsbehörden wissen davon zu berichten. Welchen Sinn hat ein allgemeines Gesetz, das kaum angewandt wird? Beispiel dafür kann der processus brevior in Ehenichtigkeitssachen vor dem Diözesanbischof sein. Dem berechtigten Anliegen – kürzere Prozessdauer – hätte man auch auf andere Weise genügen können, entsprechende Vorschläge gab es. Aber es musste offenbar alles sehr schnell gehen … Begutachtungsabläufe haben freilich ihren guten Sinn – durchaus auch als gepflegte Synodalität. Doch vor Ideologisierung des Rechts möge man sich hüten. II. Ein Projekt: ein neuer CIC? Große Gesetzesmaterien wurden neu geregelt: das Eheprozessrecht und das Strafrecht insgesamt, einzelne Bestimmungen in anderen Materien in größerer Zahl. Der Gesamtentwurf des CIC/1983 blieb aber – bisher – erhalten, anders als dies mit dem ersten Codex von 1917 der Fall war. So war der CIC/1983 wirklich ein „neuer“ Codex auf der Grundlage des II. Vatikanischen Konzils, ja gleichsam das letzte Dokument des II. Vaticanums: „… Codex habetur veluti complementum magisterii a Concilio

2

C. 1752 CIC/1983.

„Leges ab omnibus intellegi debent.“ (CpJCiv., Cod. Justinianus 1.14,9)

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Vaticano II propositi …“3 Das spricht aus derzeitiger Sicht gegen einen „neuen“ Codex – und dennoch bleibt, um einen legistisch befriedigenden Zustand zu erreichen, vieles zu tun … III. Ein anderes Projekt: Wiederverlautbarung des CIC/1983 Dafür spricht vieles: vor allem das große Desiderat Rechtssicherheit. Zudem wäre eine Wiederverlautbarung so etwas wie die amtliche Krönung all derer, welche die mühevolle Arbeit der Sammlung und Sichtung der mittlerweile recht verstreuten Gesetzestexte vorgenommen haben, der neuen „Gratiani“ also. Kein neuer Codex, wohl aber ein „Codex novellatus“ zum Wohle der Rechtsgemeinschaft, welche die gesamte Kirche ist. Was hier vom CIC gesagt ist, gilt selbstverständlich auf für den CCEO: somit ist wirklich die gesamte Catholica erfasst, die des Westens wie die des Ostens. Die besten Kanonisten könnten sich da in der Kunst der Legistik hervortun, eine Kunst, die bisher und derzeit schmerzlich vermisst wird. Die authentische Sprache beider Codices ist das Latein – wird es noch hinreichend beherrscht? Normative Texte werden immer öfter in Italienisch promulgiert, etwa in der Tageszeitung „L’Osservatore Romano“, die (vielleicht) dann in das Lateinische übersetzt werden – aber welcher Text gilt im Zweifelsfalle? Nun ist das Latein zurecht bekannt für seine Präzision, was dem Recht sehr zugute kommt. Lernen wir Kanonisten und Legistiker also (wieder) Latein, es lohnt sich! IV. In der Teilkirche Was für die Universalkirche gilt, das trifft in entsprechender Weise auch auf die Partikularkirche zu, verwirklicht sich doch in ihr – in der Diözese – in noch konkreterer Wahrnehmung das kirchliche Leben. Wenden wir unsere Gedanken der teilkirchlichen Ebene zu, trägt doch der mit der vorliegenden Festschrift zu ehrende Jubilar schon seit langen Jahren hohe Verantwortung in der Diözese Linz: als Professor für Kirchenrecht, zeitweiliger Rektor der kath. Privatuniversität und Fakultät päpstlichen Rechtes, als Offizial und dzt. Vizeoffizial und vor allem als Generalvikar. In der Diözese Linz ist zurzeit eine größere Umstrukturierung in eine entscheidende Phase getreten. Sie betrifft vor allem die Pfarrstruktur. In der Durchführung eines derartigen Prozesses ist vieles zu beachten: das allgemeine und das partikuläre Verfassungsrecht mit den vorgesehenen Räten und deren Beispruchsrechten, aber auch das Vermögensrecht der Kirche und die einschlägigen Bestimmungen des staatlichen Rechtes. Dass all dies eingehalten wird, entspricht hoher Rechtskultur, die sich von jeder Art von Rechtsbeugung auf das gewissenhafteste in Acht nimmt. So kann Kirche Vorbild sein – im Übrigen legen alle Bischöfe vor der Besitzergreifung einen Eid ab, der die Wahrung des Rechts einschließt.4 Gemäß c. 392 § 1 CIC/1983 3 4

Johannes Paul II., Apostolische Konstitution „Sacrae disciplinae leges“. C. 380 CIC/1983.

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ist der Diözesanbischof verpflichtet, die Befolgung aller kirchlichen Gesetze zu urgieren.5 Auch in etlichen anderen Diözesen gibt es größere Umstrukturierungen – so auch in der Erzdiözese Wien. Worauf dabei zu achten ist, habe ich in meinem Beitrag „Eine neue Pfarrstruktur – und was dabei nach kirchlichem Recht zu beachten ist“ ausgeführt.6 Letztlich geht es immer um die „salus animarum“, der jedes Recht zu dienen hat. Die Hirten der Kirche haben das „munus regendi“ ebenso auszuüben wie die „munera docendi et sanctificandi“. Dazu braucht es die „ars regendi“ als eine konkrete Form der Kardinalstugend der Klugheit wie der Gerechtigkeit: Wie kommt eine Strukturreform an? Wie wird sie vermittelt? Wie klar sind die Vorgaben der Diözese? Wie praktikabel sind die Umsetzungsbestimmungen? Welche Lasten werden wem auferlegt? Welche sind die erhofften Vereinfachungen und Erleichterungen? Fragen, die man nicht aus dem planenden Blick verlieren möge. Und die wahre Kunst besteht darin, die verschiedenen und immer wieder auch auseinanderstrebenden Vorstellungen und Tendenzen in eins zu bringen in einem klaren, geschliffenen Gesetzestext, welcher den Hirtenwillen des Gesetzgebers den Normadressaten gegenüber verständlich zum Ausdruck bringt und zur Befolgung ermutigt. „Opus iustitiae caritas“ auf allen Ebenen kirchlichen Lebens. Für die Veröffentlichung und Promulgation teilkirchlicher Gesetzestexte gibt es die diözesanen Amtsblätter bzw. das Amtsblatt der Bischofskonferenz, oft freilich nur mehr in digitaler Form. Nach meiner Kenntnis dürfte das auch – anders als bei den AAS (siehe oben!) – in Österreich in geordneter Art geschehen. Die Normadressaten können also wissen, was gilt. Ohne Sanktionen wird es aber auch in der Kirche nicht immer gehen, es bedarf eben einer „lex perfecta“, die nicht nur eine Mahnung an den guten Willen ist, sondern auch Folgen für die Nichtbeachtung vorsieht „cum aequitate canonica“. Für den Normanwender hilfreich und somit ein Desiderat kann eine Sammlung teilkirchlichen Rechtes – eine Art „Corpus iuris dioecesani“ – sein, am besten eine Loseblattausgabe auf dem jeweils aktuellen Stand – oder auch digital. So etwas herauszugeben wäre doch auch eine lohnende Aufgabe für junge Kanonisten (und Juristen) mit Unterstützung der Diözese und ihrer Dienststellen – und ein Beitrag zur Rechtssicherheit. Ob aus einem solchen „Corpus“ auch ein „Codex“ des diözesanen Rechtes werden soll, sei hiermit jedenfalls zur Diskussion gestellt. Das Interesse an der Kirche und ihrem Recht würde meines Erachtens dadurch gefördert werden. Ein Gratian (im Kleinen) und ein episcopus legislator erschienen mir als eine treffliche Kombination.

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Vgl. dazu auch G. Fischer, Dienst und Verantwortung. Administrative Rechte und Pflichten des Diözesanbischofs in: Quaestiones disputatae 219, Rechtskultur in der Diözese. Grundlagen und Perspektiven, I. Riedel-Spangenberger (Hrsg.), Freiburg/Breisgau 2006, 189 – 215, bes. 198 f. 6 E. Pucher, in: Recht, Religion Kultur. Festschrift für Richard Potz zum 70. Geburtstag, Wien 2014, 697 – 703.

„Leges ab omnibus intellegi debent.“ (CpJCiv., Cod. Justinianus 1.14,9)

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V. Resümee Die Kirche war und ist Kulturträgerin. Ihre Aufgabe ist und bleibt den Menschen mehr zum Menschen werden zu lassen im Sinne und nach dem Willen des Schöpfers und Erlösers. Das gilt allgemein. Das gilt darum auch für eine gute Kultur des Rechts und der Rechtwerdung und Rechtfindung und der Gesetzgebung. Eine gewisse Sorge darum kann man haben. Eine Kirche, in der das Recht gepflegt (kultiviert) wird, ist eben gerade nicht das Gegenteil einer Kirche der Liebe, sondern vielmehr deren Ermöglichung. Auf dem mitunter gewiss dürren Boden (der auch Grundlage ist) des Rechts kann Liebe und Erbarmen wachsen und erblühen: „iustitia sine misericordia crudelitas est, misericordia sine iustitia mater est dissolutionis.“7 Dazu ist es nötig, dass möglichst alle auch das Recht kennen können. Der legislator universalis und die legislatores particulares sind berufen, den Dienst der Gesetzgebung zu tun zum allgemeinen Wohl und zum Heil jeder einzelnen Seele. So wird die Kirche Vorbild sein und zur Humanisierung von Staat und Gesellschaft beitragen. Kein schlechter Dienst wäre das, würdig ihres Weltauftrages – bis an die Grenzen der Erde und das Ende der Zeiten. Dem zu ehrenden Jubilar sei für seine in jeder Hinsicht hohe Kultur von Herzen gedankt.

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Thomas von Aquin, Commentum in Matthaeum V2.

Kirchenrechtliche Konfliktkultur? Thomas Schüller I. Einleitung in Form eines aktuellen Blitzlichts auf die katholische Streit- und Konfliktkultur In den letzten Monaten ist in Deutschland, aber auch in den USA1 innerkirchlich zwischen den verschiedenen Gruppierungen der katholischen Kirche, grob gesagt zwischen Reformern:innen und Bewahrern:innen, ein erbitterter Streit über die Zukunft der katholischen Kirche entbrannt. Der weltweite Skandal des tausendfachen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen, aber auch von Erwachsenen, insbesondere was das breite und wissenschaftlich nur in Ansätzen ausgeleuchtete Feld des geistlichen Missbrauchs2 angeht, wirft existenzbedrohende und zugleich theologisch unabweisbar zu lösende Problemstellungen und Rückfragen auf. Dazu gehören die überkommene Sexualmoral3, die diskriminierende Stellung der Frauen in der römisch-katholischen Kirche4, die zum casus belli, wie mir scheint, werdende Diskussion um Gendergerechtigkeit5, im Kern um den verzweifelten Kampf der katholischen Kirche für ein naturrechtlich dominiertes binäres Geschlechterverständnis6 und eine Demokratisierung eines männerbündisch-klerikalen Machtsystems, das politikwissenschaftlich, aber auch kirchenrechtlich abgesichert, als absolutistische Wahlmonarchie mit dem Papst an der Spitze umschrieben werden kann, um den sich weithin weisungsabhängige Bischöfe als lokale Fürsten gruppieren, die wie 1

Vgl. Massimo Faggioli, Joe Biden and Catholicism in the United States, Bayard 2021. Vgl. Ute Leimgruber, Frauen als Missbrauchsbetroffene in der katholischen Kirche? Wie Missbrauch tabuisiert und legitimiert wird, in: Doris Reisinger (Hrsg.): Gefährliche Theologien. Wenn theologische Ansätze Machtmissbrauch legitimieren, Regensburg 2021, S. 145 – 162; Rüdiger Althaus, Geistlicher Missbrauch. Kirchenrechtliche Aspekte, in: Theologie und Glaube 112 (2022), S. 318 – 324. 3 Vgl. Christoph Breitsameter/Stephan Goertz, Vom Vorrang der Liebe. Zeitenwende für die katholische Sexualmoral, Freiburg i. Br., 2020; Eberhard Schockenhoff, Die Kunst zu lieben. Unterwegs zu einer neuen Sexualethik, Freiburg i. Br. 2021. 4 Vgl. Margit Eckolt/Ulrike Link-Wieczorek/Dorothea Sattler/Andrea Strübind (Hrsg.), Frauen in kirchlichen Ämtern. Reformbewegungen in der Ökumene, Freiburg i. Br. 2018. 5 Vgl. kritisch Manfred Spiecker, Gender-Mainstreaming in Deutschland: Konsequenzen für Staat, Gesellschaft und Kirchen, Paderborn 22016. 6 Vgl. Kongregation für das Katholische Bildungswesen, „Als Mann und Frau erschuf er sie.“ Für einen Weg des Dialogs zur Gender-Frage im Bildungswesen, Vatikan 2019, in: https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/ccatheduc/documents/rc_con_ccatheduc_ doc_20190202_maschio-e-femmina_ge.pdf [Zugriff: 05. 10. 2022]. 2

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der Papst alle drei Gewalten der Legislative, Judikative und Exekutive in ihrer jeweils einen Hand halten.7 Die katholische Kirche wirkt somit in demokratischen Rechtsstaaten mit in ihrem Kern kirchenrechtlich eingehegten Machtstrukturen wie aus der Zeit gefallen, weil sie nicht mal im Ansatz allgemein anerkannte menschenrechtliche Standards und Beteiligungsrechte aller Mitglieder ankennt und realisiert. Ganz zu schweigen von rechtlich abgesicherten und allen Gliedern zustehenden Möglichkeiten, Rechtsverletzungen einklagen zu können.8 Sie geriert sich sprichwörtlich wie eine Kontrastgesellschaft, für die allgemeine politische und religionssoziologische Entwicklungen scheinbar nicht gelten und irrelevant zu sein scheinen, weil sie bezogen auf ihre Quellen Schrift und Tradition ahistorisch, wie auf einer anderen Umlaufbahn um die Welt kreist. Exemplarisch für diese Misere und zugleich als exzellentes Anschauungsbeispiel kann man die Kölner Wirren rund um die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in diesem bedeutenden Erzbistum der Weltkirche kurz ansprechen.9 Als wäre es nicht schon genug, dass die Erzbischöfe von Köln wie auch ihre Mitbischöfe in dieser Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges systematisch die vielen Fälle von sexuellem Missbrauch durch ihre Kleriker mit ihren klerikalen Handlangern vertuschten, führte das Verhalten von Kardinal Woelki und seinem Generalvikar im Umgang mit den Mitgliedern des Kölner Betroffenenbeirates zu gravierenden seelischen Verletzungen bei den Betroffenen und zu großer Empörung bei vielen Katholiken:innen in diesem Erzbistum. Die Folgen dieses schändlichen Tuns sind bekannt: die Mehrzahl der Mitglieder des Betroffenenbeirates verließ dieses Gremium und beklagte den zweiten Missbrauch, der zu erheblichen Retraumatisierungen führte.10 Viele Katholiken:innen, vor allem in den diözesanen Räten, sprachen dem Erzbischof und seinem Generalvikar das Misstrauen aus und sistieren Gespräche wie zum Beispiel jene über die anstehende Pfarreienreform.11 Auch nach der Veröffentlichung eines dem Erzbi7 Vgl. Thomas Schüller, Der Papst – kirchenrechtlich ein absolutistischer Wahlmonarch, in: Julia Knop/Michael Seewald (Hrsg.), Das Erste Vatikanische Konzil. Eine Zwischenbilanz 150 Jahre danach, Darmstadt 2019, 172 – 195; vgl. Georg Bier, Die Rechtsstellung des Diözesanbischofs nach dem Codex Iuris Canonici (= Fzk 32), Würzburg 2001. 8 Vgl. Tine Stein, Mit Engelszungen und Liebe: der Synodale Weg als Chance katholischer Transformation, in: https://www.feinschwarz.net/mit-engelszungen-und-liebe-der-synodaleweg-als-chance-katholischer-transformation [Zugriff: 05. 10. 2022]; Thomas Schüller, Demokratie light?, in: HK 75 (2021), Nr. 10, S. 21 – 23. 9 Eine Übersicht der Ereignisse in chronologischer Abfolge bietet Michael Althaus, Zwei Gutachten und ihre Konsequenzen, in: https://www.domradio.de/themen/erzbistum-koeln/ 2021-09-24/zwei-gutachten-und-ihre-konsequenzen-chronik-der-missbrauchsaufarbeitung-imerzbistum-koeln [Zugriff: 05. 10. 2022]. 10 Vgl. o. A., Nach Eklat um Missbrauchsstudie im Erzbistum Köln: Sprecher des Betroffenenbeirates tritt zurück, in: https://presse.wdr.de/plounge/tv/das_erste/2020/11/20201112_ monitor.html [Zugriff: 05. 10. 2022]. 11 Vgl. Frank Piotrowski/Stefan Gerich, Kölner Erzbistum: Diözesanrat geht auf Distanz zu Woelki, in: https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/dioezesanrat-geht-auf-abstand-zuwoelki-100.html [Zugriff: 05. 10. 2022].

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schof genehmen sog. Gercke-Gutachtens12, das zwar wie im ersten Gutachten mit leichten Varianzen in der juristischen Beurteilung einzelner Fälle zu vergleichbaren Ergebnissen kam, aber darauf verzichtete auf der Folie des kirchlichen Selbstverständnisses Vorschläge für die Zukunft zur Verhinderung von sexuellem Missbrauch in der Kirche zu unterbreiten – und somit schon im Ansatz den Gutachterauftrag verfehlte13 – trat keine Beruhigung ein, weil zudem dem Kardinal in einzelnen Fällen durchaus pflichtwidrige Verhaltensweisen im Umgang mit einzelnen Fällen von sexuellem Missbrauch nachgewiesen werden konnten, die aus Sicht des Vatikans aber keine direkten Konsequenzen für ihn erbrachten. Angesichts der gewaltigen Vertrauenskrise im Erzbistum Köln, die sich auch in einer exorbitanten Steigerung der Zahl der Kirchenaustritte14 zeigt, verfügte Papst Franziskus, dass Kardinal Woelki eine halbjährige Auszeit nehmen musste, die bis zum März 2022 andauerte.15 In dieser Zeit wurde der Kölner Weihbischof Rolf Steinhäuser als sog. Apostolischer Administrator sede plena ad nutum sancta sedis eingesetzt, der seine Weisungen direkt von Rom bezog. Die Amtsgewalt des Erzbischofs wie seines Generalvikars ruhte, wobei Letzterer, als sei nichts geschehen, als sog. Delegat des Apostolischen Administrator als Verwaltungschef bestätigt wurde. Nach seiner Rückkehr aus dieser Auszeit nahmen die Spannungen in dieser Diözese noch zu. Allerdings kann sich Papst Franziskus nicht dazu durchringen, das von Kardinal Woelki eingereichte Rücktrittsgesuch zu bescheiden. Statt sich an die Frist zur Annahme oder Ablehnung der Rücktrittsbitte zu halten16, was ein Beitrag zur kirchlichen Rechtskultur wäre, kokettiert dieser Papst mit diesem Gesuch, indem er zum einen betont, in einer Drucksituation nicht entscheiden zu wollen17 bzw. zum anderen, jederzeit über diese Bitte entscheiden zu können, wenn er es wolle.18 Dieser Umgang mit einem Kardinal, also einem leiten12 Vgl. Björn Gercke/Kerstin Stirner/Corinna Reckmann, u. a., Pflichtverletzungen von Diözesanverantwortlichen des Erzbistums Köln im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs von Minderja¨ hrigen und Schutzbefohlenen durch Kleriker oder sonstige pastorale Mitarbeitende des Erzbistums Köln im Zeitraum von 1975 bis 2018, in: https://mam.erzbistum-koeln. de/web/4255a3192cdf2de3/gutachten-zur-unabh-ngigen-untersuchung/?mediaId=6CC89941D1E9-42B7-A537E652C91E5E6A [Zugriff: 05. 10. 2022]. 13 Vgl. Thomas Schüller, „Zu schön, um wahr zu sein“ in: KStA vom 20. 03. 2021; ders., Bistum im Nebel, in: https://www.feinschwarz.net/bistum-im-nebel/ [Zugriff: 05. 10. 2022]. 14 Vgl. o. A., Kirchenaustritte in Köln: 1500 Termine beim Amtsgericht nach halbem Tag ausgebucht, in: https://www.ksta.de/koeln/kirchenaustritte-in-koeln-1500-termine-beim-amtsge richt-nach-halbem-tag-ausgebucht-38122548 [Zugriff: 05. 10. 2022]. 15 Vgl. o. A., Vatikan/D: Steinhäuser zum Apostolischen Administrator in Köln ernannt, in: https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2021-10/vatikan-deutschland-koeln-ernennungenweihbischof-administrator.html [Zugriff: 05. 10. 2022]. 16 Vgl. c. 189 § 3 CIC/1983. 17 Vgl. o. A., Papst: Keinen Druck bei Woelki-Entscheidung, in: https://www.zeit.de/news/ 2022-07/24/papst-keinen-druck-bei-woelki-entscheidung?utm_referrer=https%3A%2F% 2Fwww.google.com%2F [Zugriff: 05. 10. 2022]. 18 Vgl. o. A., Franziskus über Lage im Erzbistum Köln: Abwarten und abwägen, in: https:// www.vaticannews.va/de/papst/news/2022-06/franziskus-kardinal-woelki-ruecktritt-abwartenpapstinterview.html [Zugriff: 05. 10. 2022].

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den Mitarbeiter des Papstes, ist menschlich unwürdig und rechtlich ignorant, aber durchaus der unkonditionierten Leitungsgewalt des Papstes geschuldet. Dieses kurz skizzierte Konfliktszenario in einer der reichsten und mächtigsten Diözesen der Weltkirche steht paradigmatisch für eine faktisch nicht existente Konfliktkultur in der katholischen Kirche: nur über den Einsatz der vierten Gewalt im Staat, die unabhängigen Medien, gelingt es Gläubigen wie in diesem Fall besonders den erneut geistlich durch den Kardinal und seinen Generalvikar missbrauchten Betroffenen sexualisierter Gewalt in der Kirche das Fehlverhalten der klerikalen Entscheidungsträger ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen und sich selbst Stimme zu geben. Nur durch Verweigerung von Sitzungen in diözesanen Räten ist es den engagierten Ehrenamtlichen überhaupt möglich, bei den Entscheidungsträgern vielleicht im Ansatz den Ernst der Lage, vor allem den vollständigen Vertrauensverlust zu vermitteln. Selbst auf den tausendfachen Kirchenaustritt bis dato mit ihrer Kirche verbundener Katholiken:innen reagiert die Bistumsleitung mit Achselzucken und Ignoranz.19 Am Ende steht dann ein Papst, der Auszeiten verfügt, in denen die betroffenen Akteure aber offensichtlich machen können, was sie wollen, ihr Comeback miteingeschlossen.20 In einem asymmetrisch männerbündisch-klerikalen Herrschaftssystem handeln am Ende Papst und betroffene Bischöfe unter sich aus, was dem Volk Gottes personell zugemutet werden kann. Der Schrei nach Gerechtigkeit der Betroffenen und der leidenden Katholiken:innen verhallt hinter dicken römischen Mauern. Es wäre unter dem Aspekt der Rechts- bzw. Streitkultur allerdings einseitig, nur auf die bischöflichen Entscheidungsträger zu schauen. Ein aktueller Fall aus dem Bistum Chur kann zeigen, dass auch viele Gläubige das kirchliche Recht, hier insbesondere das liturgische Recht, augenscheinlich missachten und sich verwundert zeigen, wenn ein Bischof darauf pflichtgemäß reagiert. Bei der Verabschiedung einer langjährigen pastoralen Mitarbeiterin im Bistum Chur in den Ruhestand, wurden von ihr in Orantenhaltung das Hochgebet und die zudem veränderten Einsetzungsworte mitgesprochen.21 Nach den von Papst Johannes Paul II. 200122 verfügten und von Papst Benedikt XVI. 2010 veröffentlichten Normen23 zu Delikten gegen den 19

Vgl. o. A., 111.235 Kirchenaustritte in sechs Monaten – NRW steuert auf Rekord zu. Justizministerium gibt aktuelle Zahlen bekannt, in: https://www.kirche-und-leben.de/artikel/ 111235-kirchenaustritte-in-sechs-monaten-nrw-steuert-auf-rekord [Zugriff: 05. 10. 2022]. 20 Vgl. Joachim Frank, Erzbistum Köln: Aufregung um Bilder von Schwaderlapp aus Kenia in Bischofsornat, in: https://www.ksta.de/koeln/erzbistum-koeln-aufregung-um-bildervon-schwaderlapp-aus-kenia-in-bischofsornat-39095234?dmcid=sm_fb&fbclid=IwAR1CyK9 KyuYjSl3Ctb8nG5AhVLlEzJ9ylS7vd72oUgpIyFS2naSOpY1LBRA [Zugriff: 05. 10. 2022]. 21 Vgl. https://www.kath.ch/newsd/so-konzelebriert-monika-schmid-bei-der-eucharistiefeier/ [Zugriff: 05. 10. 2022]. 22 Vgl. Johannes Paul II., Sacramentorum Sanctitatis Tutela, in: https://www.vatican.va/ content/john-paul-ii/de/motu_proprio/documents/hf_jp-ii_motu-proprio_20020110_sacramento rum-sanctitatis-tutela.html [Zugriff: 05. 10. 2022]. 23 Vgl. Benedikt XVI., Normae de delictis Congregationi pro Doctrina Fidei reservatis seu Normae de delictis contra fidem necnon de gravioribus delictis, 21. Mai 2010, in: AAS 102 (2010) S. 419 – 434, dort Art. 3.

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Glauben und sittliche Verfehlungen im Themenfeld sexueller Missbrauch sowie dem überarbeiteten Strafrecht, das Papst Franziskus am 08. 12. 2021 in Kraft gesetzt hat24, schreibt c. 1379 § n. 1 CIC/1983 fest, dass der Versuch, ohne Priesterweihe die Eucharistie zu feiern, eine Tatstrafe darstellt, die das Interdikt, bei Priestern die Suspension und je nach Schwere der Tat auch die Exkommunikation zur Folge haben kann. Liegt ein begründeter Anfangsverdacht vor, so ist der zuständige Diözesanbischof verpflichtet, eine kanonische Voruntersuchung nach c. 1717 CIC/1983 einzuleiten und das Ergebnis dieser Untersuchung mit einem eigenen Votum versehen an die Glaubenskongregation zu schicken, die dann über das weitere Procedere entscheidet. Von daher hatte der Churer Bischof Joseph Maria Bonnemain kirchenrechtlich gar keine andere Wahl, als die Ereignisse sogar mit einem Video auf kath.ch publik wurden, diese Voruntersuchung zu initiieren.25 In der kirchlichen Öffentlichkeit hagelte es an Protesten gegen diese kirchenrechtlich zwingend geforderte Maßnahme wie auch gegen die Begrifflichkeit des liturgischen Missbrauchs, den ein Liturgiewissenschaftler in der Sache zutreffend benutzte. Diese schwerwiegende Selbstermächtigung in einem zentralen liturgischen Vollzug der Kirche, der theologisch zwingend an die Priesterweihe gebunden ist, kommt denen, die das Verhalten der Seelsorgerin unterstützen, nicht als Rechtsverstoß in den Sinn. Von daher ist dem römischen Prälaten und Kirchenrechtler Markus Graulich uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er zu diesem Vorgang ausführt. „Es fehlt in der Kirche leider eine Rechtskultur.“26 Eine Rechtskultur, bei die Normunterworfenen getreulich die kirchenrechtlichen Normen beachten und respektieren. So entstehen in der Öffentlichkeit, befeuert durch interessierte kirchliche wie nichtkirchliche Medien, der begründete Eindruck von massiven Konflikten, die im Kern auch rechtlich kontaminiert sind. Dies lässt nun nachfragen, welche kirchenrechtlichen Verfahren überhaupt existieren, die Konflikte lösen helfen bzw. überhaupt erst zu einem amtlichen Vorgang werden lassen. Die Dringlichkeit dieser Verfahren dürfte angesichts der exemplarisch geschilderten Vorgänge in den Diözesen Köln und Chur evident sein. Die Zunahme an Konflikten weltkirchlich ist unübersehbar und dabei stehen sich gerade auch in den digitalen Weiten des weltweiten Netzes in den jeweiligen geschlossenen Blasen scheinbar unversöhnt militante Gruppierungen gegenüber, die sich nicht scheuen mit verbaler und angedrohter körperlicher Gewalt die ihnen nicht in ihr enges theologisches Denken passenden Positionen zu bekämpfen und deren Vertreter:innen einzuschüchtern. Von daher sollen im nächsten Schritt die rudimentären 24 Vgl. Franziskus, Pascite Gregem Dei, in: https://www.vatican.va/content/francesco/de/ apost_constitutions/documents/papa-francesco_costituzione-ap_20210523_pascite-gregem-dei. html [Zugriff: 05. 10. 2022]. 25 Vgl. o. A., Bischof Bonnemain eröffnet kanonische Voruntersuchung gegen Monika Schmid, in: https://www.kath.ch/newsd/bischof-bonnemain-eroeffnet-kanonische-voruntersu chung-gegen-monika-schmid/ [Zugriff: 05. 10. 2022]. 26 O. A., Monika Schmid war Thema beim Benedikt-Schülerkreis – Lob für Bischof Bonnemain, in: https://www.kath.ch/newsd/monika-schmid-war-thema-beim-benedikt-schueler kreis-lob-fuer-bischof-bonnemain/ [Zugriff: 05. 10. 2022].

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kirchenrechtlichen Verfahren zur Schlichtung, Klage und hierarchischem Rekurs kurz skizziert werden. Dabei wird deutlich werden, dass es um die kirchliche Rechtskultur27 schlecht bestellt ist, die ja gerade im Konfliktfall ihre Feuertaufe bestehen muss. In einem weiteren Schritt geht es dann um die auf dem sog. „Synodalen Weg“28 vom Forum „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag“29 vorgeschlagenen Verfahren zur Bewältigung von Konflikten, die zumindest im Ansatz rechtsstaatlichen Standards zu entsprechen scheinen. Dabei wird auch der Frage nachzugehen sein, ob die aktuell in Rom von der Deutschen Bischofskonferenz zur Genehmigung eingereichte Ordnung für eine zweizügige Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland auf Zukunft einen Beitrag zu einer verbesserten Rechts- und Konfliktkultur zu leisten imstande ist. Abschließende Überlegungen zur einer wenig ausgeprägten Konfliktkultur in einer Kirche, die asymmetrisch Macht allein geweihten Männern30 zuspricht, runden den Beitrag ab.

27 Vgl. Georg Bier, Kirchliche Rechtskultur. Vom Umgang mit dem Recht in der Kirche, in: Thomas Böhm (Hrsg.), Glaube und Kultur, Freiburg 2009, S. 203 – 228. 28 Vgl. Thomas Schüller, „Wo Synode drauf steht, sollte auch Synode drin sein.“ Zu kirchenrechtlichen Fragwürdigkeiten des Synodalen Weges, in: Herbert Haslinger (Hrsg.), Wege der Kirche in die Zukunft: 50 Jahre nach Beginn der „Würzburger Synode“ (= Kirche in Zeiten der Veränderung, Bd. 9), Freiburg i. Br. 2021, S. 49 – 68; Bernhard Anuth, Ein „Gemeinsamer Weg-Weg“!? Kirchenrechtliche Perspektiven eines synodalen Experiments, in: ders./Georg Bier/Karsten Kreutzer (Hrsg.), Der Synodale Weg. Eine Zwischenbilanz, Freiburg i. Br. 2021, S. 47 – 66; Norbert Lüdecke, Die Täuschung, Darmstadt 2021; Heribert Hallermann, Der Synodale Weg im Spiegel seiner Satzung: KuR 26 (2020), Heft 2, S. 238 – 254. 29 Vgl. o. A., Vorlage des Synodalforums I „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag“ zur Ersten Lesung auf der Zweiten Synodalversammlung (30.9. – 2. 10. 2021) für den Grundtext, in: https://www.synoda lerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/Dokumente_Reden_Beitraege/3.1_SV-II-Synodalforum-IGrundtext-Lesung1.pdf [Zugriff: 05. 10. 2022]; o. A., Vorlage des Synodalforums I „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag“ zur Ersten Lesung auf der Zweiten Synodalversammlung (30.9. – 2. 10. 2021) für den Handlungstext „Einbeziehung der Gläubigen in die Bestellung des Diözesanbischofs“, in: https:// www.synodalerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/Dokumente_Reden_Beitraege/3.2_SV-II-Syn odalforum-I-Handlungstext.BestellungDesDioezesanbischofs-Lesung1.pdf [Zugriff: 05. 10. 2022]; o. A., Vorlage des Synodalforums I „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag“ zur Ersten Lesung auf der Zweiten Synodalversammlung (30.9. – 2. 10. 2021) für den Handlungstext „Gemeinsam beraten und entscheiden“ in: https://www.synodalerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/Dokumente_ Reden_Beitraege/3.3_SV-II-Synodalforum-I-Handlungstext.GemeinsamBeratenUndEntschei den-Lesung1.pdf [Zugriff: 05. 10. 2022]. 30 Vgl. Thomas Schüller, Macht und Ohnmacht aus kirchenrechtlicher Sicht – ein Beitrag zur aktuellen Diskussion um Macht und Machtmissbrauch in der katholischen Kirche, in: Valentin Dessoy/Ursula Hohmann/Gundo Lames (Hrsg.), Macht und Kirche, Würzburg 2021, S. 161 – 166.

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II. Kirchenrechtliche Konfliktverfahren 1. Meinungsfreiheit31 und Schutz des guten Rufes32 Bevor man ein Lamento über die Unkultur in den verschiedenen katholischen Blasen, gerade wenn öffentlich Konflikte und Skandale medial verhandelt werden, anstimmt, gilt es kirchenrechtlich daran zu erinnern, dass c. 212 § 3 CIC/1983 sicher konditional formuliert die Meinungsfreiheit der Christgläubigen erstmalig als Grundrecht garantiert. Den Gläubigen wird das Recht eingeräumt, die bisweilen sogar zur Pflicht werden könne, entsprechend ihrem Wissen, ihrer Zuständigkeit und ihrer hervorragenden Stellung, den geistlichen Hirten ihre Meinung mitzuteilen. Dabei werden aber Bedingungen angeführt: die Meinungsäußerung müsse die Wahrung der Unversehrtheit des Glaubens und der Sitten, die Ehrfrucht gegenüber den Hirten und unter Beachtung des allgemeinen Nutzens und der Würde der Personen der übrigen Gläubigen vorgenommen werden. Was im Referenztext des II. Vatikanum33 eine Meinungsäußerung mit christlichem Freimut sein sollte, wird im kodikarischen Befund stark und wie es scheint eher ängstlich reglementierend eingehegt. Dennoch: den Gläubigen ist es unbenommen, ihre Meinung kundzutun. Bisweilen fordert der Gesetzgeber sogar die Autoritäten auf den unterschiedlichen Ebenen dazu auf, den Rat der Gläubigen einzuholen (vgl. cc. 127, 228, 387, 394 § 2, 519 CIC/1983). Der Hinweis auf die Würde der Personen verdeutlicht, dass es auch Grenzen der Meinungsfreiheit geben kann. Hier kommt nun der c. 220 CIC/1983 ins Spiel, der naturrechtlich konnotiert festlegt, dass niemand den guten Ruf, den jemand hat, rechtswidrig schädigen und auch nicht das Recht einer Person auf den Schutz der eigenen Intimsphäre verletzen darf. Natürlich bleibt auch diese Norm unterkomplex in ihrem Normgehalt, denn der Gesetzgeber versäumt es, präziser darzulegen, wann eine Rufschädigung rechtswidrig ist. Doch ein zahnloser Tiger ist diese wichtige Norm nicht, da im Strafrecht in c. 1390 § 2 CIC/198334 die Sanktion einer gerechten 31 Vgl. Helmut Schnizer, Überlegungen zum normativen Gehalt von c. 212/1983, in: Winfried Aymans (Hrsg.), Iuri canonico promovendo (= Festschrift für Heribert Schmitz zum 65. Geburtstag), Regensburg 1994, S. 75 – 95; Dominique Le Tourneau, La liberté d’opinion: un droit fondamental dans l’Église (c. 212 § 3), in: Annuarium iuris canonici, 1 (2014), S. 64 – 81; Sabine Demel, Das Recht auf freie Meinungsäußerung unter dem Anspruch des christlichen Gehorsams – eine Quadratur des Kreises?, in: MThZ 50 (1999), S. 259 – 273; Peter Krämer, Wie ist es um die Streitkultur in der Kirche bestellt? Zur Wahrnehmung grundlegender Pflichten und Rechte in der kirchlichen Communio, in: Trierer Theologische Zeitschrift 122 (2013), 124 – 145. 32 Vgl. Peter Krämer, Das Recht auf den Schutz der Intimsphäre: kirchenrechtliche Anmerkungen zu c. 220 CIC, in: Trierer Theologische Zeitschrift 121 (2012), S. 286 – 302. 33 Vgl. LG 37,1. 34 Papst Franziskus hat mit der Apostolischen Konstitution „Pascite Gregem Dei“ vom 23. 05. 2021 das Strafrecht reformiert, das zum 8. 12. 2021 in Kraft getreten ist. Vgl. Franziskus, Pascite Gregem Dei (Anm. 24) der c. 1390 § 2 CIC a. F. ist textgleich in c. 1390 § 2 CIC n. F. übernommen worden. Einführend: Markus Graulich/Heribert Hallermann, Das neue kirchliche Strafrecht. Einführung und Kommentar, Münster 2021; Thomas Schüller, Das „neue“ Strafrecht – eine Reform in kleinen Schritten, in: Klerusblatt 8/9 2021, S. 251 – 253;

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Strafe, eine Beugestrafe, also eine Zensur nicht ausgenommen, bei Nachweis dieser Straftat verhängt werden kann. Natürlich muss der Vorsatz zur Straftat vorliegen und es ist nicht ausgeschlossen, dass der, der die Strafe verhängt, dabei auch eine Wiedergutmachung des angerichteten Schadens verfügt bzw. bei Bitte um Straferlass diese zur Bedingung macht35, bevor eine Strafe reduziert bzw. erlassen wird.36 2. Prozessrechtliche Streiflichter Im kanonischen Prozessrecht37 werden an verschiedenen Stellen die Richter:innen, aber auch die Gläubigen aufgefordert, Streitigkeiten möglichst nicht gerichtlich auszutragen38, sondern friedlich-schiedliche Lösungen im Konsens zu suchen. So heißt es in c. 1446 § 1 CIC/1983: „Alle Christgläubigen, zuerst aber die Bischöfe, sollen eifrig bemüht sein, dass unbeschadet der Gerechtigkeit Streitigkeiten im Volke Gottes möglichst vermieden und so schnell wie möglich friedlich beigelegt werden.“39 In der Tat sind das Gerichtsverfahren und überhaupt das kirchliche Rechtssystem Hilfsmittel für den Fall, das in einen Streit involvierte Personen nicht in der Lage sind, ihn friedlich im gemeinsamen Austausch der streitenden Parteien/Gruppen/Einzelpersonen konsensual außergerichtlich beizulegen. Lüdicke weist zutreffend daraufhin, dass diese friedlichen Verständigungsprozesse aber dem Gebot der Gerechtigkeit entsprechen müssen. Gerade in einer hierarchisch verfassten, allein von geweihten Männern geleiteten Kirche drohe ansonsten die Gefahr, dass sich das „,Recht‘ des Stärkeren“ durchsetze „und der Schwächere seine Position geräumt hat, ohne daß dadurch Gerechtigkeit geschehen wäre“40. Niemals dürfe ein/ eine Richter:in schlechte Kompromisse statt eines gerechten Urteils in Kauf nehmen.41 Wenn es in einem Streit um das private Wohl der Parteien geht, schlägt c. 1446 § 3 CIC/1983 vor, dass die Richter:innen prüfen sollten, ob man einen Vergleich oder einen Schiedsspruch nach den cc. 1713 – 1716 CIC/1983 herbeiführen sollte. Diese Normen regeln das Schiedsverfahren. Der Vergleich ist dabei ein Vertrag der Prozessparteien, der der Beendigung eines Rechtstreites dient, der gerichtlich anhängig ist.42 Es geht also um eine gütliche Einigung, bei der, sofern es entspreChristoph Ohly, Barmherzigkeit und Strafe. Leitlinien und Koordinaten des neuen kirchlichen Strafrechts, in Theologische Revue 8/2022 (http://www.theologische-revue.de/ [Zugriff: 05. 10. 2022]). 35 Vgl. c. 1390 § 3 CIC/1983 und auch CIC/2021: „Der Verleumder kann auch gezwungen werden, eine angemessene Wiedergutmachung zu leisten.“ 36 Vgl. Klaus Lüdicke, c.1390, Rdnr. 10, in: MK CIC (Stand: November 1993). 37 Vgl. grundlegend Klaus Lüdicke, c.1400 – 1752, in: MK CIC (Stand: November 1993). 38 Vgl. als neutestamentliche Referenzgröße für diesen kirchenrechtlichen Vorgehensvorschlag 1 Kor 6, 1 – 11. 39 Die Übersetzung folgt dem MK CIC. 40 Klaus Lüdicke, c.1446, in: MK CIC (Stand: November 1993). 41 Vgl. ebd., MK CIC 1446,3. 42 Vgl. ebd., MK CIC 1713,3.

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chende Normen zum Schiedsverfahren der Bischofskonferenz gibt, diese zur Anwendung kommen (c. 1714 CIC/1983). Im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz liegen solche Normen noch nicht vor, so dass mit Verweis auf c. 1714 CIC/ 1983 die entsprechenden bürgerlichen, d. h. zivilrechtlichen Bestimmungen im Recht der Bundesrepublik Deutschland subsidiär zur Anwendung kommen sollen.43 Vergleiche und Schiedsabreden sind aber nur bei den Streitgegenständen möglich, bei denen die Parteien Rechte haben oder zumindest allein verfügungsberechtigt sind.44 Bei vermögensrechtlichen Sachverhalten sind die Formalitäten zu beachten, die veräußerungsrechtlich gelten (c. 1715 § 2 CIC/1983) Der neu in den Codex von 1983 eingeführte c.1716 CIC/1983 schreibt vor, dass, wenn nach dem jeweiligen zivilen Recht der Schiedsspruch nur dann Rechtskraft erzielt, wenn er richterlich bestätigt wird, dieser Weg zu gehen ist wie auch für den Fall, dass das jeweilige nationale Zivilrecht die gerichtliche Anfechtung eines Schiedsspruches eröffnet. Zwei abschließende Hinweise prozessrechtlicher Art sind wichtig: zum einen werden Richter:innen, die zuständig sind, sich aber weigern einen anhängigen Rechtsstreit zu verhandeln, mit einer gerechten Strafe bedroht, weil hier der Sachverhalt einer strafbaren Amtspflichtverletzung vorliegt (c. 1457 § 1 CIC/1983). Zum anderen hat Papst Franziskus bei dem bereits erwähnten überarbeiteten Strafrecht neue Straftatbestände eingeführt, die Versäumnisse der Bischöfe mit Gerichtsentscheidungen betreffen. So gilt ab dem 08. 12. 2021 nach c. 1371 § 5 CIC/2021: „Wer der Pflicht, ein rechtskräftiges Urteil oder ein rechtskräftiges Strafdekret auszuführen nicht nachkommt, soll mit einer gerechten Strafe, eine Beugestrafe nicht ausgenommen, belegt werden.“ Dahinter steht die bittere Erfahrung, dass einzelne Diözesanbischöfe trotz eines rechtskräftigen Urteils in einem kanonischen Strafprozess oder einem rechtskräftigen Strafdekret auf dem Verwaltungsweg im Kontext sexuellen Missbrauchs nicht bereit waren, diese umzusetzen, so dass entsprechende klerikale Straftäter weiter unbehelligt seelsorglich weiterarbeiten konnten. Zu einer Rechtskultur gehört unabdingbar die verbindliche Umsetzung von diesen Urteilen oder Dekreten, die der Gerechtigkeit dienen und auch einen Konflikt in der Rechtsgemeinschaft befrieden können. In gleicher Weise werden nach c. 1371 § 6 CIC/2021 Bischöfe bestraft, die es versäumen, eine Strafanzeige weiterzuleiten, zu der sie gesetzlich verpflichtet sind. Offensichtlich wird der bleibende Mangel in der Konfliktbewältigung in den von Papst Franziskus erlassenen Normen zum Umgang mit Bischöfen, die ein rechtlich sanktionierbares Fehlverhalten an den Tag legen. Sollte am Ende eines Verfahrens das Ergebnis stehen, dass ein Diözesanbischof abgesetzt werden muss, dann wird die Absetzung nicht einfachhin verfügt, sondern gemäß Art. 4 82 Come una

43 Vgl. § 794 Abs. 1 ZPO für den Vergleich und §§ 1025 – 1048 ZPO für das Schiedsverfahren. 44 Vgl. Klaus Lüdicke, c.1715, 2 in: MK CIC (Stand: November 1993).

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Madre amorevole45 wird dem betreffenden Bischof unterbreitet, innerhalb einer Frist von 15 Tagen seinen Rücktritt anzubieten. Folglich erfährt die Öffentlichkeit zwar, dass der Bischof seinen Rücktritt angeboten hat, jedoch nicht, dass dies seine letzte Möglichkeit war, einer Absetzung durch den Papst zu entgehen. Der Konflikt wird nicht bewältigt, weder wird das Ärgernis behoben noch die Gerechtigkeit wiederhergestellt. Die allgemeinen Sanktionsziele des Kirchenrechts werden durch solch ein Vorgehen verfehlt. Die Strafrechtsreform hat an diesem Vorgehen nichts geändert. Ebenso bleibt gemäß dem Vademecum der Glaubenskongregation jedem wegen sexualisierter Gewalt an Minderjährigen angeklagten Priester gemäß Art. 157 die Möglichkeit offen, von sich aus um die Dispens von den Pflichten des Klerikerstandes (Laisierung) zu bitten. Auch hier besteht die Option eine Art „Reinigungseid“ zu leisten, also der Strafe „Entlassung aus dem Klerikerstand“ durch vorherige Dispensbitte zu „entkommen“ Auch dies widerspricht den allgemeinen Strafzwecken. Diese prozessrechtlichen Hinweise konturieren schon Anwendungskorridore, in denen außergerichtliche Verfahren einen Konflikt einvernehmlich lösen können. Von daher ist in einem nächsten Schritt zu schauen, wo Elemente von Schiedsverfahren bereits heute teilkirchenrechtlich Wirklichkeit sind. 3. Schlichtungsverfahren Sowohl für individualarbeitsrechtliche Streitfälle als auch für kollektivarbeitsrechtliche Streitfälle in Deutschland sehen die entsprechenden kirchenrechtlichen Normen Schlichtungs- bzw. Einigungsstellen vor. Sie sind weder Gericht noch Behörde, dienen aber im Vorfeld einer drohenden gerichtlichen Auseinandersetzung in individual- und kollektivarbeitsrechtlichen Materien, im letzteren Fall, wenn es um Regelungsstreitigkeiten46, nicht aber um Rechtsstreitigkeiten geht, für die die eigens gebildeten kirchlichen Arbeitsgerichte in einem zweitinstanzlichen Verfahren inzwischen in Deutschland eingerichtet sind47, einen drohenden Rechtsstreit einvernehmlich zwischen den Parteien der Dienstgeber und Dienstnehmer:innen bzw. einem/ einer einzelnen Dienstnehmer:in und dem konkreten kirchlichen Dienstgeber zu lösen. Ich selbst habe in meiner Zeit als Kirchenrechtler im Bistum Limburg in den individualarbeitsrechtlichen Fällen den Vorsitz in der Schlichtung geführt und 45 Vgl. Franziskus, Come una madre amorevole, in: https://www.vatican.va/content/franc esco/it/motu_proprio/documents/papa-francesco-motu-proprio_20160604_come-una-madreamorevole.html [Zugriff: 02. 11. 2021]; vgl. Thomas Meckel, Das Motu Propio „Come una madre amorevole“ zur Amtsenthebung von Bischöfen, in: Christoph Ohly u. a. (Hrsg.) Rechtskultur und Rechtspflege in der Kirche (= Festschrift für Wilhem Rees) Berlin 2020, S. 263 – 273; Robert W. Oliver, Commento alla Lettera apostolica in forma di motu proprio „Come una madre amorevole“ del Papa Francesco, in: Monitor ecclesiasticus 131 (2016), S. 175 – 184. 46 Vgl. §§ 40 Abs. 1 und 45 Abs. 3 MAVO. 47 Die entsprechende Kirchliche Arbeitsgerichtsordnung (KAGO) trat zum 1. Juli 2010 in den deutschen Diözesen in Kraft.

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konnte erfahren, dass diese Schlichtungsverfahren durchaus zu gütlichen Lösungen im Einzelfall führen können. Neben diesen arbeitsrechtlichen Schlichtungs- bzw. Einigungsstellen existieren auch vereinzelt in den deutschsprachigen Diözesen48 pastorale Schiedsstellen49. Sie können thematisch auf Streitigkeiten bezogen auf kompetenzrechtliche Fragen der pfarrlichen und diözesanen Räte oder Baufragen eingegrenzt sein, aber auch breit alle pastoralen Konfliktsituationen in den Blick nehmen. Eine vergleichbare Institution gibt es auch im Ordensbereich.50 Ihre Akzeptanz lebt von der Qualität der unabhängigen Behandlung der diesen Stellen zur Beratung vorgelegten Fälle und deren Vorschlägen. Die Schlichtungsergebnisse leben somit von ihrer Annahme durch die beteiligten Konfliktparteien, bei denen nicht selten die Bischöflichen Verwaltungen selbst handelnder Akteur sind. Gerade im Bereich der kirchlichen Verwaltung wird hier das immer noch fehlende Element kirchlicher, unabhängiger Verwaltungsgerichte51 deutlich. Inzwischen hat die Deutsche Bischofskonferenz noch vor Beginn des sog. Synodalen Weges bei der in Rom zuständigen Apostolischen Signatur die Genehmigung nach c. 455 CIC/1983 erbeten, eine kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit mit zwei Instanzen vergleichbar mit den schon bestehenden kirchlichen Arbeits- und Datenschutzgerichten mit einer entsprechenden Gerichtsordnung in Kraft setzen zu dürfen.52 Der Prozess der römischen Prüfung dauert zum Leidwesen der deutschen Bischöfe immer noch an. Die Etablierung dieser Verwaltungsgerichte in Deutschland würde eine bereits seit der Würzburger Synode aufgestellte Forderung in die Tat umsetzen und ein Desiderat der kirchlichen Rechtsordnung beheben. Allerdings steht es den Bischofskonferenzen nach c. 1733 § 2 CIC/1983 frei, Schlichtungsstellen für Verwaltungsbeschwerden zu errichten, wie es zum Beispiel in den Niederlanden und Nigeria geschehen ist. Momentan besteht nur über den Weg eines hierarchischen Rekurses53 die Möglichkeit, gegen Verwaltungsakte vorzuge48

Vgl. beispielsweise die (Erz-)Bistümer Bamberg, Essen, Aachen, Speyer, Trier, Mainz. Vgl. Wilhelm Handschuh, Diözesane Schieds- und Schlichtungsstellen in der katholischen Kirche. Eine rechtssystematische Untersuchung im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, Stuttgart 2005. 50 Vgl. Dominicus Meier, Schlichten statt Richten. Ordnung für das Verfahren bei der Schlichtungsstelle der deutschen Ordensoberen-Vereinigungen, in: Wilhelm Rees (Hrsg.), Im Dienst von Kirche und Wissenschaft (Festschrift Alfred Hierold), Berlin 2007, S. 789 – 810. 51 Vgl. grundlegend Dominicus Meier, Verwaltungsgerichte für die Kirche in Deutschland?: von der gemeinsamen Synode 1975 zum Codex Iuris Canonici 1983, Essen 2001; Thomas Schüller, Vergessenes Recht – die sog. „Würzburger Kirchliche Verwaltungsgerichtsordnung“, in: Reinhard Feiter/Richard Hartmann/Joachim Schmiedl (Hrsg.), Die Würzburger Synode. Die Texte neu gelesen (= Europas Synoden nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1), Freiburg i. Br. 2013, S. 290 – 307. 52 Vgl. o. A., Schick hofft auf kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit in 2020, in: https:// www.kirche-und-leben.de/artikel/schick-hofft-auf-kirchliche-verwaltungsgerichtsbarkeit-in2020/ [Zugriff: 05. 10. 2022]. 53 Vgl. Johannes Fürnkranz, Effizienz der Verwaltung und Rechtsschutz im Verfahren: Can. 1739 CIC in der Dynamik der hierarchischen Beschwerde (= KStKR 19), Paderborn 2014. 49

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hen. Diese Form der Verwaltungsbeschwerde ist in den cc. 1732 – 1739 CIC/1983 geregelt und erweist sich im Alltag als mühsamer und bei Rekurs an die römischen Dikasterien und einem eventuellen späterem Gerichtsverfahren vor der Zweiten Sektion der Apostolischen Signatur auch zeitintensiver und langwieriger Weg, um tatsächlich eine sach- und rechtskonforme Entscheidung zu erhalten. Erschwerend tritt für die römischen Gerichtsverfahren hinzu, dass Anwaltszwang besteht und die Verfahren in lateinischer Sprache ablaufen. Im Ergebnis ist für diesen skizzierten Bereich festzustellen, dass es einige Versuche auf teilkirchenrechtlicher Ebene gibt, bestehende Konflikte, die auch rechtlich konnotiert sind, über Schiedsverfahren zu lösen. Weltweit sind in anderen Kulturkreisen und anderen Religionsgemeinschaften durchaus auch Phänomene von religiöser Schiedsgerichtsbarkeit zu beobachten.54 Hier wie auch in der katholischen Kirche ist immer genau hinzuschauen, welche rechtlich bindenden Konsequenzen solche Schiedssprüche bezogen auf die konkrete Religionsgemeinschaft, aber auch in der rechtlichen Außenwirkung in den säkularen Rechtskreis hinein generieren oder nicht. Eine eigene Betrachtung würde noch die rechtliche Analyse der Mediation als außergerichtliches Verfahren zur Beilegung von Rechtsstreitigkeiten verdienen, die aber hier nicht geleistet werden kann.55 III. Vorschläge auf dem sog. Synodalen Weg zur Stärkung der Rechtskultur in konfliktiven Situationen Das Synodalforum I „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag“ hat zu den Vollversammlungen im Herbst 2021 und 2022 in Frankfurt neben einem Grundtext verschiedene Handlungstexte formuliert56. Einer von ihnen handelt über die Rechtswegegarantie.57 In einem dreistufigen Verfahren sollen Beschwerden und angezeigte Konflikte der Gläubigen behandelt werden. Ziel ist es, „allen einzelnen Gläubigen eine transparente und einfach zugängliche Beschwerdemöglichkeit zu eröffnen. Eine solche Ordnung soll die Möglichkeiten zum Machtmissbrauch minimieren und die Rechtskultur fördern.“58 Zunächst soll hierfür eine unabhängige Beschwerdestelle angezeigte Beschwerden 54

Vgl. Franziska Hötte, Religiöse Schiedsgerichtsbarkeit. Angloamerikanische Rechtspraxis, Perspektive für Deutschland (= Ius Ecclesiasticum 103), Tübingen 2013. 55 Vgl. Stephan Breidenbach, Mediation. Struktur, Chancen und Risiken von Vermittlung im Konflikt, Köln 1995. 56 Vgl. Schüller, Demokratie (Anm. 8). 57 Vgl. o. A., Vorlage des Synodalforums I „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag“ zur Ersten Lesung auf der Zweiten Synodalversammlung (30.9.-2. 10. 2021) für den Handlungstext „Rechtswegegarantie“, in: https://www.synodalerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/Dokumente_Reden_Beitraege/ 3.8_SV-II-Synodalforum-I-Handlungstext.Rechtswegegarantie-Lesung1.pdf [Zugriff: 05. 10. 2022]. 58 Vgl. ebd.

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aufnehmen und mit allen Beteiligten nach einer einvernehmlichen Lösung suchen. Gelingt dies nicht, geht der Vorgang im zweiten Schritt an eine unabhängige Schiedsstelle, die versucht, über einen Schiedsspruch den Fall konsensual zu klären. Gelingt auch dieser Schritt nicht, steht es den Gläubigen offen, ein unabhängiges kirchliches Verwaltungsgericht anzurufen, das dann den Fall gerichtlich judiziert. Das Forum I stellt abschließend fest, dass die Mitglieder dieser drei Organe unabhängig und weisungsunabhängig arbeiten sollen und dass ihnen alle notwendigen Informationen bereit zu stellen sind. „Die Deutsche Bischofskonferenz und der Synodale Rat der deutschen Katholiken erstellen eine Rahmenordnung über die Zuständigkeiten der Beschwerde- und Schiedsstellen, die Verfahren zur Wahl der Schiedsrichter sowie die Verfahrensordnungen.“59 Damit greift das Forum I die bereits vorgestellten vereinzelten Initiativen in einigen deutschen Bistümern auf und empfiehlt in diesem dreistufigen Verfahren einen einheitlichen Standard im Sinne eine Rechtswegegarantie. Würden diese Empfehlungen in der letzten Lesung mit den entsprechend geforderten Mehrheiten angenommen, so könnte dies zu einer Verbesserung der Rechtskultur im Sinn einer rechtlich klar geregelten Konfliktbearbeitung beitragen. In dieses Themenfeld gehört auch ein inzwischen verabschiedeter Text „Gemeinsam beraten und entscheiden60 aus dem Forum I. zur verpflichtenden Selbstbindung der Diözesanbischöfe an den Beschluss synodaler Räte auf Diözesanebene. Ausgehend von den cc. 127 und 129 CIC/1983 erfolgt ein Beschluss im synodalen Rat. Nimmt der zuständige Diözesanbischof den Beschluss an, tritt er in Kraft. Spannend ist nun der Aspekt, was geschieht, wenn der Diözesanbischof dem Beschluss nicht zustimmen kann. In der Limburger Synodalordnung ist bis heute festgelegt, dass der Diözesanbischof für diesen Fall in der nächsten Sitzung des Diözesansynodalrates verpflichtet wird, die Gründe für die Nichtannahme eines Beschlusses anzugeben.61 Der angenommene Text auf dem Synodalen Weg geht hier im Konfliktszenario einen deutlichen Schritt weiter. Hier heißt es dann: „Kommt ein rechtswirksamer Beschluss nicht zustande, weil der Bischof ihm nicht zustimmt, findet eine erneute Beratung statt. Wird auch hier keine Einigung erzielt, kann der Rat mit einer Zweidrittelmehrheit dem Votum des Bischofs widersprechen. Kommt keine Einigung zustande, weil der Bischof auch dieser Entscheidung widerspricht, wird ein Schlichtungsverfahren eröffnet, dessen Bedingungen vorab festgelegt worden sind und an die alle Beteiligten sich zu halten verpflichten. An diesem Verfahren können Bischöfe und 59

Vgl. ebd. Vgl. o. A., Vorlage des Synodalforums I „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag“ zur Zweiten Lesung auf der Vierten Synodalversammlung (8.-10. 9. 2022) für den Handlungstext „Gemeinsam beraten und entscheiden“, in: https://www.synodalerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/Dokumente_Reden_ Beitraege/SV-IV/SV-IV_Synodalforum-I-Handlungstext.GemeinsamBeratenUndEntscheidenLesung2.pdf [Zugriff: 05. 10. 2022]. 61 Thomas Schüller, Synodalni rad biskupstvi Limburg (Der synodale Weg im Bistum Limburg – die synodalen Gremien im Bistum Limburg auf dem Hintergrund ihrer diözesangeschichtlichen und theologischen Wurzeln), in: Bischof von Brünn (Hrsg.), Farnost misto pro kazdeho?, Brünn 2005, 59 – 70. 60

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Synodale aus anderen Diözesen beteiligt werden.“62 Dieses gestufte Konfliktszenario wirkt auf den ersten Blick überzeugend. Fragen bleiben dennoch. Die von der Mehrheit der deutschen Bischöfe angenommene Selbstbindung an den Rat von Gläubigen gemäß cc. 127 und 129 CIC/1983 kommt dort an seine Grenzen, wo ein Diözesanbischof mit der Begründung, dass ein Beschluss gegen die Lehre und das geltende Recht der Kirche verstoße, einen Beschluss ablehnt. Dort helfen dann auch keine Konfliktbewältigungsszenarien, weil die Kompetenz-Kompetenz zur Beurteilung eines solchen Sachverhaltes ausschließlich und allein bei den Bischöfen liegt, sakramental befähigt durch die Bischofsweihe. Dieses offenkundige Dilemma kann man kirchenrechtlich faktisch auch nicht durch das Procedere im Beschluss des Synodalen Weges einfangen. Allerdings werden die Stimmen im konservativen Lager immer lauter, die in diesen, aber auch anderen Empfehlungen dieses Forums den Untergang der bischöflichen Alleinherrschaft sehen.63 Stattdessen wird angesichts der wahlweise „Gotteskrise“ – ein Dictum, das Walter Kardinal Kasper zunehmend bemüht64 – oder des nicht mehr über Gott sprechen wollen – ein Dictum, das Matthias Sellmann stark macht 65– geraten, den Impuls von Papst Franziskus aufzugreifen, zunächst die Evangelisation in den Mittelpunkt zu stellen und zu einem späteren Zeitpunkt, wenn überhaupt, institutionelle Reformen in Angriff zu nehmen. Diese in rechtskonservativen Kreisen gern gehörten Pappkameradenargumente arbeiten mit der unbewiesenen Hypothese, dass in Theologie und pastoralem Alltag, Gott nicht mehr zur Sprache komme, und arbeiten zudem mit der schnell zu durchschauenden und empirisch nicht validierten Annahme, wenn genügend evangelisiert werde, würden die Forderungen nach institutionellen Reformen, gerade, was den Umgang mit durch Machtmissbrauch der klerikalen Entscheidungsträger evozierten Konflikten im Volke Gottes verstummen lassen. Von daher sind diese Formen der Kritik am Forum I des sog. Synodalen Weges Einfallstore für ungezügelten Machtmissbrauch in der Kirche, auch und gerade im Feld des geistlichen und sexuellen Missbrauchs. IV. Ausblick Die kirchenrechtlichen Hinweise dürften verdeutlicht haben, dass es im katholischen Kirchenrecht um eine Konflikt- und damit auch eine Rechtskultur zurzeit noch sehr schlecht bestellt ist. Von daher wird verständlich, dass die in der Tat mutigen Handlungstexte des Forums I auf so entschiedenen Widerstand bei konservativen Bi62

Vgl. ebd. Vgl. Heiner Tück, Gottes leidige Sekretariate, in: FAZ vom 12. 11. 2021, S. 12. 64 Vgl. Walter Kasper, Theologen-Memorandum – Kommen wir zur Sache, in: http://www. kardinal-kasper-stiftung.de/de/aktuelles/news/aktuelles-beitraege/theologen-memorandum-kom men-wir-zur-sache/ [Zugriff: 05. 10. 2022]. 65 Vgl. Matthias Sellmann, Mehr über Gott sprechen, in: https://www.kirchenbote.de/zu kunft-katholische-kirche-pastoraltheologe-matthias-sellmann [Zugriff: 05. 10. 2022]. 63

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schöfen und Kardinälen stoßen.66 Sie treffen mitten ins Herz der bisher autarken und autokratisch herrschenden Diözesanbischöfe, deren Macht nur durch den Papst und gelegentlich auch seine dienstbaren römischen Dikasterien kritisch begleitet und in extremen Situationen sanktioniert wird. Solange in der Kirche diese asymmetrischen Herrschafts- und Machtverhältnisse herrschen, in denen Bischöfe, selbst wenn ihr Verhalten offenkundig rechtswidrig und menschenrechtsverletzend ist, kippt bei Dissens in der Sache am Ende der sachliche Streit auf die Seite derer, die die Macht haben, um. Diese nicht evangeliumsgemäßen Machtstrukturen in der Kirche werden von seinen Bewahrern durch Hinweise auf den Dienstcharakter des bischöflichen Amtes spiritualisierend verschleiert oder wie es Tück aktuell vorführt als ökumenisch anschlussfähig mit dem Bischofverständnis der getrennten Ostkirchen stilisiert, die man doch bitte schön nicht verprellen wolle.67 Diese Instrumentalisierung der Ostkirchen taucht als leicht durchschaubares Ablenkungsmanöver auch bei der Frage der Zulassung von Frauen zu allen Weiheämtern auf wie auch schon bei der bis heute umstrittenen Frage, ob die wiederverheiratet Geschiedenen zur Kommunion zugelassen werden können oder nicht. Faktisch werden in diesen Konfliktszenarien, wenn die eigenen theologischen Argumente ausgehen bzw. diese die Mehrzahl der noch mit ihrer Kirche verbundenen Gläubigen nicht mehr überzeugen, die Ostkirchen als letzte Phalanx gegen Reformanliegen in Anschlag gebracht und ökumenisch betrachtet verheerend verzweckt. Von daher legen die kontroversen Diskussionen rund um die Reformanliegen des sog. Synodalen Weges in Deutschland vielfältige Finger in die offenen Wunden des Machtmissbrauchs der klerikalen Amtsträger und bestätigen die Notwendigkeit, Konflikte in der Kirche auch kirchenrechtlich nach rechtsstaatlich überzeugenden Standards zu behandeln. Bis dahin ist allerdings offensichtlich noch ein langer Weg.

Literatur Althaus, Michael: Zwei Gutachten und ihre Konsequenzen, in: https://www.domradio.de/the men/erzbistum-koeln/2021-09-24/zwei-gutachten-und-ihre-konsequenzen-chronik-der-miss brauchsaufarbeitung-im-erzbistum-koeln [Zugriff: 05. 10. 2022]. Anuth, Bernhard: Ein „Gemeinsamer Weg-Weg“!? Kirchenrechtliche Perspektiven eines synodalen Experiments, in: ders./Georg Bier/Karsten Kreutzer (Hrsg.), Der Synodale Weg. Eine Zwischenbilanz, Freiburg i. Br. 2021, S. 47 – 66. 66

Exemplarisch dürfte hierfür die Intervention von Kurienkardinal Kurt Koch stehen, der in einem Interview mit der DT vom 29. 9. 2022 den Synodalen Weg mit seinem Eingehen auf die Zeichen der Zeit mit des NS-Zeit und den Deutschen Christen verglich und eine Bezeugnisinstanz neben Schrift und Tradition strikt ablehnte: Martin Lohmann, Die Wahrheit macht frei, nicht die Freiheit wahr! Ein Gespräch mit Kurt Kardinal Koch über den Zeitgeist, vermeintliche neue Quellen der Offenbarung und den christlichen Dienst an der Wahrheit, in: https://www.die-tagespost.de/kirche/aktuell/die-wahrheit-macht-frei-nicht-die-freiheit-wahrart-232532 [Zugriff: 05. 10. 2022]. 67 Vgl. ebd.

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II. Kirchliches Verfassungsrecht

Die „Fülle des Weihesakramentes“. Dogmatischer Anspruch und kirchenrechtliche Wirklichkeit des Bischofsamtes Rüdiger Althaus Es scheint heute völlig selbstverständlich: Im Zentrum des Sakraments der Weihe steht die Bischofsweihe, die Weihestufen des Priesters und des Diakons sind lediglich Teilhabe an dieser. Daran lässt auch die dogmatische Literatur der jüngeren Vergangenheit keinen Zweifel1, denn das Bischofsamt in der Nachfolge der Apostel gehört zu den im göttlichen Recht verankerten Organisationsformen der Kirche. Den Bischöfen obliegt die Leitung der Kirche insgesamt und ihrer jeweiligen Teilkirche. So führt das II. Vatikanische Konzil grundlegend aus: „Um solche Aufgaben zu erfüllen, sind die Apostel mit einer besonderen Ausgießung des herabkommenden Heiligen Geistes von Christus beschenkt worden […]. Sie hinwiederum übertrugen ihren Helfern durch die Auflegung der Hände die geistliche Gabe […], die in der Bischofsweihe bis auf uns gekommen ist. Die Heilige Synode lehrt aber, daß durch die Bischofsweihe die Fülle des Weihesakramentes übertragen wird. […] Die Bischofsweihe überträgt mit dem Amt der Heiligung auch die Ämter der Lehre und der Leitung, die jedoch ihrer Natur nach nur in der hierarchischen Gemeinschaft mit Haupt und Gliedern des Kollegiums ausgeübt werden können. Aufgrund der Überlieferung […] ist es klar, daß durch die Handauflegung und die Worte der Weihe die Gnade des Heiligen Geistes so übertragen und das Prägemal so verliehen wird, daß die Bischöfe in hervorragender und sichtbarer Weise die Aufgabe Christi selbst, des Lehrers, Hirten und Priesters, innehaben und in seiner Person handeln. Sache der Bischöfe ist es, durch das Weihesakrament neue Erwählte in die Körperschaft der Bischöfe aufzunehmen.“ (LG Art. 21 Abs. 2)2 1 Während das Konzil von Trient (sess. XXIII De sacramento ordinis, cap. 4: DenzH 1768) noch eher deskriptiv davon spricht, die Bischöfe als Nachfolger der Apostel gehörten mit Vorzug (praecipue) zur hierarchischen Ordnung und stünden höher als die Priester – „Si quis dixerit, episcopus non esse presbyteris superiores, vel non habere potestatem confirmandi et ordinandi, vel eam, quam habent, illis esse cum presbyteris communem …: a.[nathema] s.[it]“ (can. 7, in: DenzH 1777) –, geht Papst Pius XII. in der Apostolischen Konstitution Sacramentum Ordinis vom 30. November 1947 (in: AAS 40 [1948] 5 – 7; DenzH 3857 – 3861) von der Sakramentalität der Bischofsweihe aus. Aus der Literatur jüngerer Zeit: Benjamin Dahlke, Die Sakramentalität des Bischofsamtes, in: Rüdiger Althaus (Hrsg.), In verbo autem tuo, Domine – Auf Dein Wort hin, Herr. FS Erzbischof Hans-Josef Becker (Paderborner Theologische Studien 58), Paderborn 2018, 15 – 31; Manfred Hauke, Die Bedeutung des Bischofsamtes bei den Apostolischen Vätern, in: ebd. 77 – 96. 2 Im Konsekrationsgebet zur Weihe eines Bischofs heißt es: „Gieße jetzt aus über deinen Diener, den du erwählt hast, die Kraft, die von dir ausgeht, den Geist der Leitung. Ihn hast du deinem geliebten Sohn Jesus Christus gegeben, und er hat ihn den Aposteln verliehen. Sie

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Auch das geltende kirchliche Gesetzbuch beginnt seinen Artikel über die Bischöfe im Allgemeinen (cc. 375 – 380 CIC) mit einer programmatischen Aussage, die sich an die zitierte Passage anlehnt: Die Bischöfe treten kraft göttlicher Einsetzung durch den ihnen geschenkten Hl. Geist an die Stelle der Apostel und werden in der Kirche zu Hirten bestellt, um auch selbst Lehrer des Glaubens, Priester des Gottesdienstes und Diener in der Leitung zu sein (c. 375 § 1 CIC).3 Mit der auch hier im Kontext der Leitung einer Teilkirche angesprochenen Fundierung des Bischofsamtes im ius divinum – im Unterschied zu allen anderen kirchlichen Ämtern, sieht man von der primatialen Stellung des Papstes ab – erkennt der Gesetzgeber den Bischöfen eine herausragende Stellung zu. Welche Befugnisse, Pflichten und Rechte einem Diözesanbischof als solchem zukommen, lässt die ausführliche, aber nicht abschließende Auflistung der cc. 383 – 400 CIC erkennen4, die einleitend feststellt, dass er in der Ausübung seines Hirtenamtes in allem ordentliche, eigenberechtigte und unmittelbare Gewalt besitzt, sofern nicht etwas einer anderen Autorität vorbehalten ist (c. 381 § 1 CIC).5 Die Leitungsbzw. Jurisdiktionsgewalt des Bischofs mag man als integralen Bestandteil der empfangenen sakramentalen Bischofsweihe sehen.6 Allerdings können manche Zustänhaben die Kirche an den einzelnen Orten gegründet. […] Gib ihm [deinem Diener] die Gnade, dein heiliges Volk zu leiten und dir als Hoherpriester bei Tag und Nacht ohne Tadel zu dienen. […] Verleihe ihm durch die Kraft des Heiligen Geistes die hohepriesterliche Vollmacht, in deinem Namen Sünden zu vergeben. Er verteile die Ämter nach deinem Willen und löse, was gebunden ist, in der Vollmacht, die du den Aposteln gegeben hast.“ 3 C. 178 CCEO führt aus: „Der Eparchialbischof, dem eine Eparchie anvertraut ist, um sie im eigenen Namen zu weiden, leitet sie als Stellvertreter (vicarius) und Gesandter (legatus) Christi …“ 4 Detailliert handelt über die Aufgaben des Bischofs: Kongregation für die Bischöfe, Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe (VApSt 173), Bonn 2004. Vgl. hierzu: Heribert Hallermann, Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe. Übersetzung und Kommentar (Kirchen- und Staatskirchenrecht 7), Paderborn u. a. 2006. – Insofern es sich bei diesem Dokument formal um eine Instruktion handelt, enthält es keine weiteren Gesetze, sondern erklärt lediglich bestehende und beschreibt deren Ausführung (vgl. c. 34 § 1 CIC). 5 An dieser Stelle sei nur auf grundlegende kirchenrechtliche Literatur zum Bischofsamt verwiesen: Winfried Aymans/Klaus Mörsdorf, Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici, Bd. 2, Paderborn u. a. 1997, 328 – 356; Georg Bier, Die Rechtsstellung des Diözesanbischofs nach dem Codex Iuris Canonici von 1983 (Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft 32), Würzburg 2001; ders., in: Klaus Lüdicke (Hrsg.), Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici, Essen seit 1985 (Loseblattwerk, Stand: 61. Erg.-Lfg. Januar 2022), zu cc. 381 – 400; Sabine Demel/Klaus Lüdicke (Hrsg.), Zwischen Vollmacht und Ohnmacht. Die Hirtengewalt des Diözesanbischofs und ihre Grenzen, Freiburg i.Br. 2015; Heribert Hallermann, Art. Bischof – Katholisch, in: Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht, Bd. 1, Paderborn 2019, 410 – 411; ders., Art. Diözesanbischof – Katholisch, in: ebd. 633 – 634; Heribert Schmitz, Der Diözesanbischof, in: Stephan Haering u. a., Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 32015, 593 – 611. 6 Zur Diskussion über den Zusammenhang von Weihe- und Leitungsgewalt vgl. Thomas A. Amann, Laien als Träger von Leitungsgewalt? Eine Untersuchung aufgrund des Codex Iuris Canonici (Münchener Theologische Studien III.50), Sankt Ottilien 1996; Winfried Aymans, Die Leitungsgewalt des Bischofs im Hinblick auf die Teilkirche. Über die bischöfliche Gewalt

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digkeiten auch einem Priester (presbyter7) übertragen werden. So unterscheidet die Rechtssprache zwischen einem episcopus (consecratus) und einem episcopus dioecesanus, der einer Teilkirche vorsteht, dem andere Vorsteher einer Teilkirche rechtlich weitgehend gleichgestellt sind, selbst wenn sie nicht die Bischofsweihe empfangen haben (cc. 134 § 3, 381 § 2 CIC).8 Gibt es für den geweihten Bischof – sieht man von seiner Zugehörigkeit zum Bischofskollegium kraft sakramentaler Weihe und hierarchischer Gemeinschaft mit dessen Haupt und Gliedern ab (c. 336 CIC) – aus rechtlicher Sicht andere „Alleinstellungsmerkmale“, die aus dem Sakrament der Bischofsweihe resultieren? Ansonsten bedürfte es einer vertieften dogmatischen Reflexion der Lehre des Konzils. Nachfolgend sei auf die Aufgabenbereiche des Bischofs entsprechend den tria munera geschaut. I. Der Leitungsdienst in der Teilkirche Das II. Vatikanische Konzil umschreibt die Kirche als eine communio Ecclesiarum: In und aus den Teilkirchen „besteht die eine und einzige katholische Kirche“ (LG Art. 23).9 Wie das Konzil sieht auch das kanonische Recht dabei die Diözese als den Ideal- und Regelfall der Teilkirche (c. 369 CIC)10 und die Besetzung des Bi-

und ihre Ausübung aufgrund des Codex Iuris Canonici, in: AfkKR 153 (1984) 35 – 55; ders., Oberhirtliche Gewalt, in: AfkKR 157 (1988) 3 – 38; Jean Beyer, Die Vollmacht in der Kirche, in: Klaus Lüdicke/Hans Paarhammer/Dieter A. Binder (Hrsg.), Recht im Dienst des Menschen (FS Hugo Schwendenwein), Graz u. a. 1986, 287 – 298; Eugenio Corecco, Natur und Struktur der „sacra potestas“ in der kanonistischen Doktrin und im neuen CIC, in: AfkKR 153 (1984) 354 – 383; Anselmo Doglio, De capacitate laicorum ad potestatem ecclesiasticam praesertim iudicialem.Tractatus Historico-Iuridica, Rom 1962; Matthäus Kaiser, Potestas iurisdictionis?, in: Winfried Aymans/Anna Egler/Joseph Listl (Hrsg.), Fides et Ius (FS Georg May), Regensburg 1991, 81 – 107; Peter Krämer, Dienst und Vollmacht in der Kirche. Eine rechtstheologische Untersuchung zur Sacra-Postestas-Lehre des II. Vatikanischen Konzils (Trierer Theologische Studien 28), Trier 1973; Hubert Müller, Zur Frage nach der kirchlichen Vollmacht im CIC/1983, in: ÖAfKR 35 (1985) 83 – 106; Marcus Nelles, Die geistliche Vollmacht, in: HdbKathKR3 2015 (Anm. 5) 199 – 206; Peter Platen, Die Ausübung kirchlicher Leitungsgewalt durch Laien. Rechtssystematische Überlegungen aus der Perspektive des „Handelns durch andere“ (MKCIC Beiheft 47), Essen 2007; ders., Die rechtsgeschichtliche Entwicklung des „Handelns durch andere“ im kanonischen Recht. Grundlage einer Teilhabe von Laien an der potestas regiminis? (MKCIC Beiheft 48), Essen 2007. 7 Während der Begriff sacerdos den Priester unter Einschluss der Bischöfe meint, bezeichnet der Terminus presbyter allein den Priester (ohne Bischofsweihe). 8 Vgl. Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht Bd. 2 (Anm. 5) 340; Bier, in: Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu c. 381 Rdn. 12 – 15. 9 Die theologische Bedeutung dieser Aussage sei an dieser Stelle nicht weiter vertieft. Hingewiesen sei auf das Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre, Über einige Aspekte der Kirche als Communio vom 28. Mai 1992 (dt.: VApSt 107), v. a. Nrn. 7 – 10. 10 Zur Teilkirche vgl. (in Auswahl) Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht Bd. 2 (Anm. 5) 315 – 316, 319 – 323; Bier, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu cc. 368 – 369; Franz Kalde, Diözesane und quasidiözesane Teilkirchen, in: HdbKathR3 (Anm. 5) 585 – 592, v. a. 585 – 587.

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schöflichen Stuhles einer Diözese als Normalfall. Gleichwohl kennt das kanonische Recht Ausnahmen. 1. Der Vorsteher einer quasidiözesanen Teilkirche Bekanntlich gibt es eine Reihe von Vor- und Ersatzformen der Diözese. Neben der Apostolischen Präfektur und dem Apostolischen Vikariat in Gegenden, in denen sich die Kirche noch im Aufbau befindet, existieren aufgrund historischer Vorbedingungen Territorialprälaturen und -abteien sowie aufgrund besonderer (vor allem politischer) Umstände Apostolische Administraturen.11 Einer Territorialabtei und einer Apostolischen Präfektur steht in der Regel ein presbyter vor, der nicht die Bischofsweihe empfangen hat. Gleichwohl bestimmt c. 381 § 2 CIC, dass jedweder Vorsteher einer solchen Teilkirche dem Diözesanbischof rechtlich gleichgestellt ist, sofern sich nicht aus der Natur der Sache etwas anderes ergibt – dies könnte die Ausübung von Funktionen insbesondere des Heiligungsdienstes betreffen (hierzu Abschnitt 2) – bzw. eine Rechtsvorschrift etwas anderes normiert, was aber nur wenige marginale Vorschriften betrifft.12 Die Möglichkeit, dass ein presbyter ohne Bischofsweihe eine quasidiözesane Teilkirche im Namen des Papstes oder im eigenen Namen, d. h. aufgrund einer allgemeinen Zuweisung durch das Recht leiten kann, führt zu dem Befund, dass der Empfang der Bischofsweihe für die Leitung einer (quasidiözesanen) Teilkirche kirchenrechtlich im Ausnahmefall nicht notwendig ist. Vielmehr kann an die Stelle einer sakramentalen Befähigung auch eine rein jurisdiktionelle Beauftragung treten. Eine solche Regelung will das kirchliche Leben auch in den Gebieten sichern, in denen die normale diözesane Verfassung aufgrund besonderer Umstände (noch) nicht greifen kann. Letztlich geht es um das Heil der Seelen. 2. Der interimistische Vorsteher einer Teilkirche Ein weiterer Ausnahmefall betrifft die interimistische Leitung einer Diözese, auch einer anderen Teilkirche.13 Für den Diözesanadministrator14 ist (unter inhaltli11 Auf in jüngerer Zeit errichtete, personal umschriebene Teilkirchen sei an dieser Stelle nur hingewiesen; hierzu: Andreas Kowatsch, Personale teilkirchliche Gemeinschaften. „Ecclesia particularis“ als Rechtsbegriff und seine Bedeutung für die Anwendung personaler Kriterien in der Umschreibung von Teilkirchen (Münchener Theologische Studien III.77), Sankt Ottilien 2019. Zu den Vor- und Ersatzformen der Diözese vgl. Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht Bd. 2 (Anm. 5) 323 – 328; Bier, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu cc. 368 – 374, v. a. zu c. 368; Kalde, Diözesane und quasidiözesane Teilkirchen (Anm. 10) 588 – 590. 12 Solche leges speciales betreffen den ad-limina-Besuch (c. 400 § 3 CIC) sowie die Bestellung eines Missionsrates (statt Priesterrat und Konsultorenkollegium: cc. 495 § 2, 502 § 4 CIC). 13 Die Leitung der Diözese geht mit Eintritt der Vakanz auf den (dienstältesten) Auxiliarbischof der Diözese über (einen solchen gibt es aber oft nicht), hilfsweise auf das Konsulto-

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cher Beibehaltung des c. 434 § 1 CIC/1917 und trotz des in CD Art. 26 Abs. 3 ausgesprochenen Wunsches) nicht vorgeschrieben, dass er die Bischofsweihe empfangen hat. Zwar wäre dies weltweit für die weitaus meisten Diözesen insofern gegenstandslos, als diese keinen Weihbischof haben, doch formuliert das geltende Recht nicht einmal eine Präferenz (aus theologischen Gründen), bei Vorhandensein eines solchen diesen (möglichst) zum Diözesanadministrator zu wählen (vgl. c. 425 CIC). Die CIC-Reformkommission nahm nach eingehender, kontroverser Erörterung davon Abstand.15 Zwar fällt in der Praxis die Wahl des Diözesanadministrators durch das Konsultorenkollegium häufig auf den oder einen der Weihbischöfe, doch ist dies nicht zwingend, wie Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zeigen.16 Dabei kommen einem Diözesanadministrator grundsätzlich dieselben Pflichten und Rechte wie einem Diözesanbischof zu – wiederum mit der Ausnahme der Natur der Sache oder von Rechts wegen (c. 427 § 1 CIC) –, auch wenn dies unter dem Vorbehalt steht, während der Vakanz nichts zu verändern und nichts zu veranlassen, was zu einer Beeinträchtigung der Diözese oder der Rechte des Diözesanbischofs führen könnte (c. 428 §§ 1 und 2 CIC), was aber lediglich den Inhalt der Akte der Leitungsgewalt betrifft, nicht aber deren formale Kompetenz. Auch hier nehmen sich die gesetzlichen Vorbehalte eher bescheiden aus.17 Das kirchliche Leben in der Teilkirche soll also auch während einer Vakanz möglichst uneingeschränkt weitergehen – um des Heiles der Gläubigen willen. renkollegium (c. 419 CIC). Diese kurze Phase bis zur Wahl eines Diözesanadministrators sei an dieser Stelle vernachlässigt, weil dem ersten Leiter nur die Vollmachten eines Generalvikars zukommen (c. 426 CIC). 14 Zum Diözesanadministrator vgl. Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht Bd. 2 (Anm. 5) 361 – 364; Georg Bier, Art. Diözesanadministrator – Katholisch, in: Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht Bd. 1 (Anm. 5) 631 – 632; ders., Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu cc. 421 – 430; Schmitz, Diözesanbischof (Anm. 5) 610 – 611. Zu den interimistischen Vorstehern eines Apostolischen Vikariates und einer Apostolischen Präfektur (c. 420 CIC): Bier, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu c. 420. 15 Vgl. hierzu Bier, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu c. 409 Rdn. 1 sowie zu c. 425 Rdn. 2. Dabei wurde auch die Konstellation thematisiert, dass ein Weihbischof einem presbyter unterstellt sein könnte. 16 So wurde nach dem Amtsverzicht des Erzbischofs von Köln, Joachim Kardinal Meisner, 2014 dessen früherer Generalvikar Dr. Stefan Heße zum Diözesanadministrator gewählt (vgl. Amtsblatt des Erzbistums Köln 154 [2014] 78; ihm als „einfachem“ Priester unterstanden drei aktive Weihbischöfe), nach dem Amtsverzicht des Erzbischofs von Hamburg, Dr. Werner Thissen, 2014 dessen früherer Generalvikar Ansgar Thim (vgl. Erzbistum Hamburg. Kirchliches Amtsblatt 20 [2014] 67; bei zwei aktiven Weihbischöfen), nach dem Amtsverzicht des Bischofs von Augsburg, Dr. Konrad Zdarsa, 2019 Domdekan Dr. Bertram Meier (vgl. Amtsblatt für die Diözese Augsburg 129 [2019] 398; ebenfalls bei zwei aktiven Weihbischöfen) sowie nach dem Amtsverzicht des Erzbischofs von Paderborn, Hans-Josef Becker, 2022 Msgr. Dr. Michael Bredeck (vgl. Kirchliches Amtsblatt für die Erzdiözese Paderborn 165 [2022] 182; bei drei aktiven Weihbischöfen). 17 Diese betreffen die Einberufung einer Diözesansynode (c. 462 § 1 CIC), die Ernennung von Kanonikern eines Stifts- oder Kathedralkapitels (c. 509 § 1 CIC) sowie die Ernennung von Pfarrern, wenn die Vakanz noch nicht ein Jahr andauert (c. 525, 28 CIC).

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3. Allgemeine Aspekte Von den drei Gewalten, die im Amt des Diözesanbischofs zusammenkommen, können presbyteri ohne Bischofsweihe ohnehin zwei (ausgenommen die Gesetzgebung) innehaben (c. 391 § 2 CIC). Für den Bereich der Verwaltung betrifft dies die Ämter des General- und des Bischofsvikars18, denen (zwar nicht eigenberechtigte, so doch) ordentliche ausführende Gewalt zukommt. Unbeschadet der Präferenz eines Weihbischofs (c. 406 § 2 CIC) können beide Ämter einem presbyter übertragen werden (c. 478 § 1 CIC).19 Für den Diözesanökonomen20, der unter der Autorität des Diözesanbischofs (auf der Stufe des Bischofs- bzw. Generalvikars stehend) das diözesane Vermögen verwaltet, kommt es auf Sachverstand und Rechtschaffenheit an, nicht auf eine empfangene Weihe, weshalb ohne Weiteres ein Laie dieses Amt innehaben kann (c. 494 CIC). In der Rechtsprechung üben der Gerichtsvikar (ggf. stellvertretende Gerichtsvikare) sowie die Richter (oft in einem Kollegialgericht) richterliche Gewalt aus (c. 135 § 3 CIC). Erstere müssen Priester (c. 1420 § 4 CIC), letztere können Kleriker oder Laien sein (c. 1421 CIC).21 Neben der Einführung eines gerichtlichen Kurzverfahrens vor dem Diözesanbischof durch Papst Franziskus im Jahre 2015 (cc. 1683 –

18 Zu diesen Ämtern vgl. Rüdiger Althaus, Die Rezeption des Codex Iuris Canonici von 1983 in der Bundesrepublik Deutschland (Paderborner Theologische Studien 28), Paderborn 2000, 598 – 608; Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht Bd. 2 (Anm. 5) 374 – 384; Bier, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) 475 – 481; Severin J. Lederhilger, Art. BischofsvikarKatholisch, in: Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht (Anm. 5) Bd. 1, 433 – 434; ders., Art. Generalvikar – Katholisch, in: Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht, Bd. 2, Paderborn 2019, 220 – 222; Peter Platen, Die Diözesankurie, in: HdbKathKR3 (Anm. 5) 638 – 651, hier: 640 – 643. 19 Im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz bekleidet derzeit im Bistum Mainz ein Weihbischof das Amt des Generalvikars, im Erzbistum Paderborn und im Erzbistum Berlin bis 2022 das des Gerichtsvikars. Hinsichtlich der Bischofsvikare treffen immer noch die Ausführungen von Roland Scheulen (Das Amt des „Vicarius Episcopalis“. Ein kirchenrechtlicher Beitrag zur Ämterstruktur in der Partikularkirche [Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft 11], Würzburg 1991) zu, dass im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz die Bischofsvikare eher repräsentative statt jurisdiktionelle Aufgabenfelder haben. 20 Zu Amt und Aufgaben des Diözesanökonomen vgl. Althaus, Rezeption (Anm. 18) 608 – 611; ders., Die Vermögensverwaltung auf diözesaner Ebene in Deutschland – oder, Impressionen einer Nichtrezeption des CIC, in: Elmar Güthoff/Stephan Haering (Hrsg.), Ius quia iustum, FS Helmuth Pree (Kanonistische Studien und Texte 65), Berlin 2015, 699 – 718, hier: 700 – 706; Bier, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu c. 494; Helmuth Pree, Der Diözesanökonom, sein rechtliches Verhältnis zum Diözesanbischof und seine Rechtsstellung in der Bischöflichen Kurie, in: AfkKR 182 (2013) 24 – 43. 21 Zu Gerichtsvikar und Diözesanrichter vgl. Althaus, Rezeption (Anm. 18) 611 – 628; Klaus Lüdicke, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu cc. 1420, 1421; Stefan Rambacher, Art. Gerichtsvikar – Katholisch, in: Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht Bd. 2 (Anm. 18) 263 – 264; Myriam Wijlens, Art. Richter – Katholisch, in: Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht Bd. 3, Paderborn 2020, 933 – 935.

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1687 CIC/2015)22, eröffnet das von ihm reformierte Eheprozessrecht die Möglichkeit, dass ein Kollegialgericht aus einem Kleriker (ggf. ein ständiger Diakon) als Vorsitzendem und zwei Laien besteht (c. 1673 § 3 CIC/2015). Die Überzahl der Laien lässt erkennen, dass die Ausübung richterlicher Gewalt nicht mehr zwingend den Empfang des Weihesakramentes voraussetzt. Schaut man in die kirchliche Rechtsgeschichte, so ergibt sich (ohne dies hier näher zu vertiefen) der klare Befund, dass im Spätmittelalter die Diözesanbischöfe nur selten die Bischofs- oder die Priesterweihe empfangen hatten. Mit dem (nichtsakramentalen) Subdiakonat unwiderruflich in den Klerikerstand eingetreten, nahmen sie Jurisdiktion nicht nur (oft) als Landesherr, sondern auch völlig selbstverständlich als Vorsteher ihres Bistums wahr. Für Pontifikalhandlungen bedienten sie sich der Hilfe eines Weihbischofs (episcopus in partibus infidelium). Die Verwaltung kam zumeist den Archidiakonen zu, die in der Regel nur die Weihe zum Diakon empfangen hatten, die Rechtsprechung Laien oder niederen Klerikern.23 Die Leitung einer Teilkirche durch einen episcopus consecratus stellt aufgrund der „Fülle des Weihesakramentes“ zwar die bestmöglichste Verwirklichung „diözesanbischöflichen“ Handelns dar, doch bleiben andere Wege sowohl historisch als auch gegenwärtig nicht ausgeschlossen. II. Der Heiligungsdienst in der Teilkirche 1. Das Sakrament der Firmung Im Blick auf die Sakramente wird gerne darauf hingewiesen, dass die Spendung der Firmung und der Weihe einem Bischof vorbehalten sind.24 So bezeichnet c. 882 CIC diesen als minister ordinarius der Firmung. Der Gesetzgeber trägt im geltenden 22 Papst Franziskus: Motuproprio Mitis Iudex Dominus Iesus vom 15. August 2015, in: AAS 107 (2015) 958 – 970. Das Kurzverfahren vor dem Diözesanbischof gilt auch (mangels Restriktion) für den Vorsteher einer quasidiözesanen Teilkirche bzw. einen Diözesanadministrator. Unbeschadet der beabsichtigten Profilierung der Stellung des Diözesanbischofs als erstem Richter seines Bistums bleibt für die Praxis zu fragen, welcher Diözesanbischof über die notwendige Sachkenntnis (vgl. cc. 1420 § 4, 1421 § 3 CIC) und gerichtliche Erfahrung verfügt sowie über entsprechenden zeitlichen Freiraum. 23 Hingewiesen sei an dieser Stelle nur auf einschlägige Werke zur kirchlichen Rechtsgeschichte: Paul Hinschius, Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland, 5 Bde., Berlin 1869 – 1895 (Nachdruck Berlin Bd. 1 2015, Bd. 2 Norderstedt 2017); Willibald Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, 4 Bde., Wien 1955 – 1966; Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, Bd. 1 Die katholische Kirche, Weimar 21954. 24 So spricht auch das Tridentinum (sess. XXIII De sacramento ordinis, cap. 4 bzw. can. 7) vom Vorrecht der Bischöfe, die Firmung zu spenden (Anm. 1). – Zum Spender der Firmung vgl. Althaus, Rezeption (Anm. 18) 802 – 819; ders., Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu cc. 882 – 884; Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht (Anm. 5), Bd. 3, Paderborn 2007, 217 – 219; Manfred Hauke, Die Firmung. Geschichtliche Entfaltung und theologischer Sinn, Paderborn 1999, 380 – 400; Alfred E. Hierold, Taufe und Firmung, in: HdbKathKR3 (Anm. 5) 1152 – 1169, hier: 1166 – 1167.

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Recht aber der Tatsache Rechnung, dass nicht immer ein konsekrierter Bischof für die Spendung dieses Sakramentes zur Verfügung steht und eröffnet weitreichende Möglichkeiten für eine Firmspendung durch einen presbyter als (obgleich nicht ausdrücklich so genannt) minister extraordinarius. Dies betrifft zunächst alle, die von Rechts wegen einem Diözesanbischof gleichgestellt sind – obgleich die Befugnis bei einem presbyter auf die Grenzen seines Gebietes beschränkt bleibt25 –, dann aber (aufgrund der Zusammengehörigkeit der Initiationssakramente: c. 842 § 2 CIC) auch alle Priester, wenn sie einen Erwachsenen durch Taufe oder Konversion in die (volle) Gemeinschaft der Kirche aufnehmen, oder der Empfänger sich in Todesgefahr befindet (c. 883 CIC). Darüber hinaus können ein Diözesanbischof oder ein anderer Bischof Priestern (wozu auch Äbte zählen) Firmvollmacht übertragen, so dass diese sowohl von vornherein in die Planung der Firmspendung mit einbezogen als auch in einem konkreten Fall um Mithilfe gebeten werden können (c. 884 CIC). So kommt unter Leitung des episcopus dioecesanus zwar zunächst einem episcopus consecratus die Firmspendung zu, doch tritt dieses Erfordernis bei Notwendigkeit26 wegen der salus animarum zurück (c. 884 § 1 CIC). An dieser Stelle kann das Recht der katholischen Ostkirchen nicht unberücksichtigt bleiben, denn aufgrund deren Tradition – hier blieb bei der Ausweitung des Christentums auf das Land in der Antike die Einheit der Initiationssakramente erhalten – gilt der Priester als ordentlicher Spender der dort sog. Myronsalbung bzw. Chrismatio (c. 694 CCEO). Vor diesem Hintergrund spricht auch das II. Vatikanische Konzil vom Bischof als dem minister originarius der Firmung (LG Art. 26 Abs. 3). Das Firmsakrament gründet theologisch also im Amt des Priesters, auch wenn in der Kirche des Abendlandes ein presbyter hierzu (ähnlich wie bei der Beichte) eine jurisdiktionelle Befugnis von Rechts wegen oder durch Übertragung benötigt. 2. Das Sakrament der Weihe Hinsichtlich der Spendung des Weihesakramentes – hierzu zählen Episkopat, Presbyterat und Diakonat (c. 1009 § 1 CIC), die sog. niederen Weihen zu den Sakramentalien – scheint die Rechtslage eindeutig: Spender der heiligen Weihe ist der geweihte Bischof (c. 1012 CIC).27 Trifft jedoch der Umkehrschluss zu, dass jemand, der 25 Zum interimistischen Leiter einer Teilkirche (v. a. Diözesanadministrator) trifft der Gesetzgeber unmittelbar keine Aussage, doch kann aus dem allgemeinen Verweis des c. 427 § 1 CIC auf Firmvollmacht von Rechts wegen geschlossen werden. 26 Wenn die im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz erstellte Übersetzung necessitas mit „Notlage“ (statt: „Notwendigkeit“) wiedergibt, nimmt sie eine restriktive Interpretation vor. 27 Vgl. Althaus, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu c. 1012; Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht, Bd. 3 (Anm. 24) 234; Johann Hirnsperger, Die Ordination, in: HdbKathKR3 (Anm. 5) 1221 – 1238, hier: 1224; Gerhard Ludwig Müller, Katholische Dogmatik, Freiburg i. Br. 42001, 747; Hubert Müller, Zum Verhältnis zwischen Presbyterat und Episkopat im II. Vatikanischen Konzil. Eine rechtstheologische Untersuchung (Wiener Beiträge zur Theo-

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nicht selber die Bischofsweihe empfangen hat, eine dieser Weihestufen nicht spenden kann? Dem Kanonisten fällt bei formaler Betrachtung auf, dass hier keine lex inhabilitans vorliegt, die, die Unfähigkeit eines presbyter zur Weihespendung rezipierend, deren Ungültigkeit normiert, sollte der Spender nicht episcopus consecratus sein (vgl. c. 10 CIC). Man mag dies als redaktionelles Versehen werten, doch lehnte man während der Redaktionsarbeiten ab, vom Bischof als minister ordinarius zu sprechen oder ein unice einzufügen28, wohl weil das hinreichend in der Glaubenslehre verankert sei.29 Blickt man jedoch in die Rechtsgeschichte, begegnet ein aus heutiger Sicht befremdlicher Befund: Vor rund 600 Jahren erhielten mehrere Äbte, die nur die Priesterweihe und nicht die Bischofsweihe empfangen hatten, vom Papst die Bevollmächtigung zur Spendung der Priesterweihe. Genannt werden zwei Dokumente30 : - Papst Bonifatius IX. bevollmächtigte am 1. Februar 1400 den Augustinerabt von S. Ositha zu Essex, Diözese London (Bulle Sacrae religionis: DenzH 1145); das Privileg wurde nach Protest des Bischofs von London wegen Beschränkung seiner Rechte (als Diözesanbischof) am 6. Februar 1403 widerrufen, die bereits gespendeten Weihen wurden jedoch ausdrücklich als gültig anerkannt (Bulle Apostolicae Sedis: DenzH 1146); - Papst Martin V. bevollmächtigte am 16. November 1427 den Abt des Zisterzienserklosters Altzelle (Bistum Meißen) auf fünf Jahre (Bulle Gerentes ad vos: DenzH 1290).31

logie 35), Wien 1971, v. a. 316 – 323; ders., De differentia inter Episcopatum et Presbyteratum iuxta doctrinam Concilii Vaticani Secundi, in: Periodica de re morali canonica liturgica 59 (1970) 599 – 618, v. a. 610 – 614. 28 So tilgte man Anfang 1973 hinsichtlich des Spenders den Zusatz ordinarius, weil es keine Ausnahme vom Erfordernis der Bischofsweihe gebe (Communicationes 32 [2000] 86). Mit c. 192 Schema De Sacramentis lag der heutige Gesetzestext vor; die Reformkommission lehnte ab, den Bischof als episcopus ordinatus zu bezeichnen und das Adverb unice einzufügen (ebd. 10 [1978] 182). 29 Die Vorgängerbestimmung des c. 951 CIC/1917 enthielt noch einen zweiten Halbsatz, der als minister extraordinarius denjenigen bezeichnete, der, ohne selbst Bischof zu sein, von Rechts wegen oder vom Apostolischen Stuhl die Vollmacht hat, andere Weihen zu erteilen (c. 951 CIC/1917). Dem Kontext lässt sich zweifelsfrei entnehmen: Die Spendung der heiligen Weihen – im Sinne der Legaldefinition des c. 949 CIC/1917 sind dies Presbyterat, Diakonat und Subdiakonat – kommt nur dem geweihten Bischof zu, die der niederen Weihen ausnahmsweise einem presbyter. 30 Vgl. Klaus Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici, Bd. 2, Paderborn 121967, 96 Anm. 3; Karl August Fink, Zur Spendung der höheren Weihen durch den Priester, in: Zeitschrift Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 32 (1943) 506 – 508. Vgl. auch die in Anm. 25 genannten Autoren. 31 Zu nennen ist ferner die Bevollmächtigung des Generalabts der Zisterzienser in Cîteaux (Bistum Châlon-sur-Saône) und vier weiterer Äbte (La Ferté, Pontigny, Clairvaux, Morimond) für die Spendung der Diakonen- und Subdiakonenweihe durch Papst Innozenz VIII. am 9. April 1489 (Bulle Exposcit tuae devotionis: DenzH 1435).

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Im theologischen Verständnis der damaligen Zeit genügte also eine zur sakramentalen Befähigung aufgrund der Priesterweihe hinzukommende jurisdiktionelle Bevollmächtigung des Papstes für die gültige Spendung der Priesterweihe. Dabei ist zu bedenken, dass zur damaligen Zeit das Verständnis der Bischofsweihe als „Fülle des Weihesakramentes“ noch nicht ausgeprägt war – dies geschah erst auf dem II. Vatikanischen Konzil. Vielmehr bildete die Eucharistie den zentralen Bezugspunkt für die Theologie des Weihesakramentes32, näherhin die mit der Priesterweihe gegebene potestas consecrandi. Die Bischofsweihe wurde damals eher (ähnlich einer Abtsweihe) als eine sakramentliche Benediktion angesehen. Lediglich die Spendung der Bischofsweihe blieb einem – bzw. möglichst drei Bischöfen – vorbehalten (vgl. c. 954 CIC/1917).33 Man mag in diesem Kontext auf das Konzil von Trient verweisen, das Stellung und Vollmacht der Bischöfe lehramtlich definiert hat34, doch hat dieses zum einen verworfen, dass die Vollmacht zu firmen und zu ordinieren geleugnet oder als mit den Priestern in derselben Weise gemeinsam angesehen wird – ein Bischof benötigt keine zusätzliche (päpstliche) Jurisdiktion –, und hätte zum anderen sonst mehrere Päpste der (damals) jüngeren Kirchengeschichte verurteilt. Obgleich das II. Vatikanische Konzil die Stellung und Vollmacht der Bischöfe klar umschrieben hat – dafür spielte die Aufwertung des Bischofsamtes gegenüber dem auf dem I. Vatikanischen Konzil definierten Lehr- und Jurisdiktionsprimat des Papstes eine nicht unerhebliche Rolle – wirft dieser historische Befund Fragen auf, die letztlich gar implizieren, ob Nachfolger des hl. Petrus geirrt haben. 3. Weitere sakramentale und sakramentliche Aspekte Abgesehen von Firmung und Weihe wird auch bei anderen Sakramenten und Sakramentalien die Verbindung mit dem bzw. eine Vornahme durch den Bischof betont. Die Dogmatische Konstitution Lumen gentium erklärt, jede Eucharistiefeier stehe unter der Autorität des Diözesanbischofs (Art. 26 Abs. 3). Ein Zeichen hierfür bzw. der Legitimierung der Feier ist die Nennung seines Namens im Eucharistischen Hochgebet. Allerdings: Für die gültige Feier der Eucharistie ist allein die Priesterweihe erforderlich (c. 900 § 1 CIC).35 Zudem ist auch hier der Diözesanbischof nicht notwendig als episcopus consecratus zu verstehen, sondern als Vorsteher

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Zur theologiegeschichtlichen Entwicklung vgl. jüngst Dahlke, Sakramentalität (Anm. 1). 33 Für eine Spendung der Bischofsweihe in der Kirche von Alexandrien in der Antike durch presbyter liegen nur sehr (bzw. zu) schwache Zeugnisse vor. Vgl. Hans-Jürgen Feulner, Können Priester die Bischofsweihe spenden? Zu einem sakramentenrechtlichen Problemfall und seinen Auswirkungen, in: Andres Weiß/Stefan Ihli (Hrsg.), Flexibilitas iuris canonici. FS Richard Puza (AIC 28), Frankfurt 2003, 321 – 339. 34 Sess. XXIII Canones de sacramento ordinis, can. 7 (s. Anm. 1). 35 Vgl. Althaus, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu c. 900.

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einer Teilkirche. So wird auch der Name eines nichtbischöflichen Vorstehers im Hochgebet genannt.36 Auch wenn genau genommen zum Leitungsdienst gehörend, sei kurz die Beichtund die Trauvollmacht angesprochen. Zur gültigen Spendung des Bußsakramentes wird außer der Weihegewalt die Befugnis gefordert, den Gläubigen die Absolution zu erteilen (c. 966 § 1 CIC).37 Diese Beichtbefugnis besitzen der Papst und die Kardinäle überall, auch alle Bischöfe, doch kann ein Diözesanbischof letzteren im Einzelfall die Ausübung versagen, was aber nur die Erlaubtheit der Handlung betrifft (c. 967 § 1 CIC). Beichtbefugnis kommt aber auch vielen Priestern zu, sei es von Amts wegen (v. a. Pfarrer, Bußkanoniker, Obere eines klerikalen Ordensinstitutes päpstlichen Rechts bzw. einer solchen Gesellschaft des apostolischen Lebens: c. 968 CIC), sei es kraft Verleihung durch den Ordinarius (c. 969 CIC), die das Recht über die Grenzen ihres Amtsbereiches weltweit ausweitet, jedoch kann ein anderer Ortsordinarius oder höherer Oberer diese widerrufen (c. 974 CIC). Somit liegt die Beichtbefugnis nicht in der sakramentalen Weihegewalt des Bischofs begründet. Die Befugnis, einer Eheschließung gültig zu assistieren (in der Tradition der lateinischen Kirche eine primär notarielle Funktion) kommt dem Ortsordinarius (also auch dem Diözesanbischof) wie auch dem Pfarrer innerhalb ihres Amtsbereiches zu (c. 1109 CIC); außerhalb desselben muss ihnen zur gültigen Eheschließungsassistenz Trauvollmacht delegiert werden (c. 1111 CIC).38 Somit erweist sich diese nicht an die Bischofsweihe geknüpft.39 Die Spendung einiger Sakramentalien kommt ebenfalls regelmäßig dem Diözesanbischof zu: - Spender der Weihe (benedictio) eines Abtes oder einer Äbtissin ist der Diözesanbischof, doch kann mit dessen Genehmigung und aus hinreichendem Grund der Gewählte die Weihe auch von einem anderen Bischof oder einem Abt empfangen.40

36 Vgl. Kongregation für den Gottesdienst, Dekret Cum de nomine vom 9. Oktober 1972, in: AAS 64 (1972) 692 – 694, dt.: Heinrich Rennings (Hrsg.), Dokumente zur Erneuerung der Liturgie, Bd. 1, Kevelaer 1983, 1207 – 1209. Über den Diözesanadministrator (zumindest den ohne Bischofsweihe) wird keine Aussage getroffen. 37 Zur Beichtbefugnis vgl. Althaus, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu cc. 965 – 969 CIC; Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht, Bd. 2 (Anm. 5) 293 – 299; Christoph Ohly, Das Bußsakrament, in: HdbKathKR3 (Anm. 5) 1184 – 1205, hier: 1196 – 1198. 38 Eine sog. Eheassistenz durch Laien sei hier nur erwähnt (c. 1112 CIC); sie mag auch als Noteheschließung gesehen werden (c. 1116 CIC). 39 Zur Trauvollmacht vgl. Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht Bd. 3 (Anm. 24) 490 – 494; Lüdicke, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu cc. 1108 – 1111; Martin Rehak, Die Eheschließung, in: HdbKathKR3 (Anm. 5) 1337 – 1360, hier: 1341 – 1343. 40 Pontificale Romanum. Ordo benedicitionis Abbatis vel Abbatissae vom 9. November 1970, n. 2.

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- Vorsteher der Feier der Weihe (consecratio) einer Jungfrau ist der Diözesanbischof oder ein anderer Bischof.41 Aber auch ein presbyter kann als nichtbischöflicher Vorsteher einer Teilkirche oder speziell delegiert einer solchen Feier ausnahmsweise vorstehen.42 - Die Segnung (benedictio) der hl. Öle (Katechumenenöl, Krankenöl und Chrisam) erfolgt in der Regel in der missa chrismatis, deren originärer zeitlicher Ort der Vormittag des Gründonnerstags ist, durch den Bischof.43 Dies meint den episcopus dioecesanus, denn er steht dieser Feier als Leiter des Heiligungsamtes seiner Diözese vor44, weshalb ein Pfarrer die hl. Öle von seinem eigenen Bischof zu erbitten hat (c. 847 § 2 CIC), doch können Katechumenenöl und in casu necessitatis Krankenöl auch in der Feier, in der sie benötigt werden, von einem presbyter gesegnet werden.45 Die Weihe des Chrisam jedoch „steht allein dem Bischof zu“46 ; indes hat die Kongregation für den Gottesdienst in seltenen Fällen einen presbyter als Vorsteher einer Teilkirche hiermit beauftragt.47 - Die Weihung (dedicatio) eines heiligen Ortes (Kirche, Kapelle, Altar, Heiligtum, Friedhof) obliegt dem Diözesanbischof und jenem, der ihm rechtlich gleichgestellt ist, doch können diese innerhalb ihres Gebietes jeden Bischof und in Ausnahmefällen einen Priester damit betrauen (c. 1206 CIC). Die bloße Segnung (benedictio) von Kapelle, Altar, Heiligtum und Friedhof obliegt dem Ordinarius, die Segnung einer Kirche aber dem Diözesanbischof, doch können beide diese Aufgabe einem anderen Priester delegieren (c. 1207 CIC). 41 Pontificale Romanum. Ordo consecrationis virginum vom 31. Mai 1970, n. 6; vgl. Caeremoniale episcoporum vom 14. September 1984 (n. 720, dt.: Zeremoniale für die Bischöfe in den katholischen Bistümern des deutschen Sprachgebietes, Freiburg i. Br. 1998, Nr. 721). 42 Vgl.: Die Spendung der Jungfrauenweihe gemäß can. 604 CIC. Überarbeitete Empfehlung der Deutschen Bischofskonferenz vom 25. Januar 2016, in: Kirchliches Amtsblatt für die Erzdiözese Paderborn 159 (2016) 87 – 89, Nr. 2; diese Regelung findet sich auch in einer Erklärung der Gottesdienstkongregation vom 22. Februar 1986 (Prot. N. 286/86), abgedruckt in: Bernhard Sven Anuth, Gottgeweihte Jungfrauen nach Recht und Lehre der römisch-katholischen Kirche (MKCIC Beiheft 54), Essen 2009, 87 – 88; zur Diskussion vgl. ebd. 85 – 91. 43 Pontificale Romanum. Ordo benedicendi oleum vom 3. Oktober 1970, nn. 1, 9, 10. – Zu dieser Thematik vgl. Althaus, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu c. 847 Rdn. 4. 44 Der Ordo benedicendi oleum (Anm. 43) greift in n. 1 begründend SC Art. 41 auf. 45 Zum oleum catechumenorum vgl. Ordo benedicendi oleum (Anm. 43) n. 7, Rituale Romanum. Ordo initiationis christianae adultorum, 6. Januar 1972, n. 129, zum oleum infirmorum vgl. c. 999 CIC. 46 Ordo benedicendi oleum (Anm. 43) n. 6; vgl. c. 880 § 2 CIC. 47 Dies betrifft nicht nur außergewöhnliche Notsituationen [„Afghanistaniensis: Concessio ut, Episcopo absente et ad triennium, Missa chrismatis a Superiore Ecclesiastico Missionis celebretur, cum consecratione sancti chrismatis et benedictione aliorum oleorum (15 feb. 2016; Prot. 29/16)“], sondern auch das bloße Fehlen eines episcopus consecratus [„Sancti Mauritii Agaunensis, Helvetia: Concessio ut, Episcopo absente et pro hoc anno, Missa chrismatis ab ipso Abbate celebretur, cum consecratione sancti chrismatis et benedictione aliorum oleorum (15 feb. 2016; Prot. 656/15)“], in: Notitiae 52 (2016) 61, vgl. ebd. 57 (2021) 243.

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- Die Weihe (benedictio) von Glocken reserviert das deutsche Benediktionale zwar dem Diözesanbischof (Nr. 31), doch geht das römische Rituale De benedictionibus von einem Priester aus.48 - Der Segnung einer neuen Taufkapelle oder eines neuen Taufbrunnens soll zwar der Diözesanbischof vorstehen, doch kann er diese Aufgabe auch einem anderen Bischof oder einem Priester, v. a. dem Seelsorger vor Ort, übertragen.49 - Die Segnung (benedictio) von Kelch und Patene kann heute jeder Priester vornehmen.50 Auch gehen die Rubriken für die Segnung (benedictio) eines neuen Tabernakels von einem Priester aus.51 - Die Segnung (benedictio) einer neuen Kathedra als „herausragende[s] Zeichen des Lehramtes, das jedem Bischof in seiner Kirche zukommt“ obliegt nur dem Diözesanbischof, unter ganz außergewöhnlichen Umständen einem von ihm beauftragten Bischof.52 Die Segnung durch einen presbyter findet keine Erwähnung, was der Funktion einer Kathedra geschuldet ist. - Die Krönung eines Marienbildes soll der Ortsbischof vornehmen; sollte dies nicht möglich sein, kann er dies einem anderen Bischof oder einem Priester übertragen, der „als sein Helfer Seelsorger der Gläubigen ist.“53 - Der Bußritus nach der Schändung einer Kirche kommt dem Diözesanbischof zu, „um zu verdeutlichen, daß nicht nur die jeweilige Ortsgemeinde, sondern die ganze Ortskirche an dem Ritus teilhat und zur Umkehr und Buße bereit ist.“54 Die Zusammenschau der angesprochenen Weihungen und Segnungen lässt zwar einen Vorrang des Diözesanbischofs als Spender erkennen, doch kommt (ggf. mit Bevollmächtigung des Hl. Stuhles bei der Weihe des Chrisams) auch ein presbyter in Betracht, wobei der Bezug zur Teilkirche aus ekklesialen Gründen deutlich bleiben soll. Einen Ausfluss der „Fülle des Weihesakramentes“, der nicht auch auf jurisdiktionelle Weise übertragen werden kann, stellt indes keine dieser Handlungen dar; der Vorbehalt hinsichtlich der Kathedra ist in deren Funktion begründet, nicht aber unmittelbar im Sakrament der Bischofsweihe.

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Vgl. Benediktionale. Studienausgabe für die katholischen Bistümer des deutschen Sprachgebietes, Freiburg i. Br. 1978, 91994, Nr. 31; Rituale Romanum. De benedictionibus vom 31. Mai 1984, cap. XXX, n. 1036; vgl. Caeremoniale (Anm. 41) p. VI cap. XIII, n. 1024: „Vorsteher der Segnung ist gewöhnlich der Ortsbischof, der Pfarrer oder der Kirchenrektor.“ 49 Vgl. De benedictionibus (Anm. 48) cap. XXV, n. 839; vgl. Caeremoniale (Anm. 41) p. VI cap. XV, n. 996 (Zeremoniale [Anm. 41] Nr. 997). 50 Vgl. Caeremoniale (Anm. 41) p. VI cap. XIV, n. 986 (Zeremoniale [Anm. 41] Nr. 987). 51 Vgl. De benedictionibus (Anm. 48) cap. XXVI.III, n. 920. 52 Vgl. ebd. cap. XXVI.I, n. 880. 53 Caeremoniale (Anm. 41) p. VI cap. XVIII, n. 1036 (Zeremoniale [Anm. 41] Nr. 1051); vgl. Rituale Romanum. De coronatione imaginis B. Mariae V. 25. März 1973, nn. 3, 4. 54 Caeremoniale (Anm. 41) p. VI cap. XX, n. 1072 (Zeremoniale [Anm. 41] Nr. 1087).

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Die Verwendung der Pontifikalien steht den geweihten Bischöfen zu, eingeschränkt aber auch dem priesterlichen Vorsteher einer quasidiözesanen Teilkirche.55 Sie sind nicht Ausfluss, sondern äußeres Zeichen des Bischofsamtes. III. Der Verkündigungsdienst in der Teilkirche Hinsichtlich des Verkündigungsdienstes des Bischofs ist formal zu unterscheiden, ob er als Glied des Bischofskollegiums den Glauben zu schützen und zu verkünden hat oder ob er als Diözesanbischof in seiner Teilkirche für die Verkündigung Verantwortung trägt. 1. Der Bischof als Glied des Bischofskollegiums Die Glaubenslehre wurzelt in dem Glaubensgut (depositum fidei), das Christus seiner Kirche anvertraut hat, damit sie unter dem Beistand des Heiligen Geistes die geoffenbarte Wahrheit heilig bewahrt, tiefer erforscht und treu verkündigt und auslegt (c. 747 § 1 CIC).56 Gemeint ist Kirche als die Gemeinschaft der Gläubigen, in die die kirchliche Hierarchie eingewurzelt ist, die dieser aber nicht gegenübersteht. Dabei kommt dem Bischofskollegium eine zentrale Stellung und Verantwortung zu. Doch sind die Gläubigen nicht hiervon isolierte Empfänger eines „Glaubens in Sätzen“, die ein ihnen gegenüberstehendes kirchliches Lehramt zu glauben vorlegt. Vielmehr sind Hierarchie und Glaubende in je eigener Verantwortung aufeinander verwiesen, beide in die kirchliche Tradition eingebunden. Da die Kirche als Ganze Organ des Hl. Geistes und Träger der Offenbarung ist, kann das Bewahren, Erforschen, Verkündigen und Auslegen des Glaubens in der Kirche nicht als die passive Übernahme von etwas verstanden werden, was eine grundlegend unterschiedene Institution hervorgebracht hat. Vielmehr besteht in Erneuerung der Überzeugung der frühen Kirche die Aufgabe des Lehramtes darin, auf dem Fundament des Glaubens des Volkes Gottes, gegründet und gestärkt durch göttlichen Beistand, Ausformungen des Glaubens durch das Volk Gottes entgegenzunehmen, zu prüfen, sie ggf. zu autorisieren und wiederum zu glauben vorzulegen. Es handelt sich also um einen zutiefst dialogischen Prozess gegenseitiger Rezeption, wechselseitigen Gebens und Empfangens sowohl in Bezug auf die fides qua creditur als auch die fides quae creditur. Vor diesem Hintergrund zu sehen ist einerseits die Unfehlbarkeit von Papst und Bischofskollegium im Lehramt (c. 749 §§ 1 und 2 CIC) und andererseits die Pflicht der Gläubigen, diesem authentischen Lehramt zu folgen (c. 752 CIC). 55

Ein Presbyter kann keine Pontifikalhandlungen im eigentlichen Sinn, d. h. unter Verwendung der Pontifikalien vornehmen, doch steht deren Gebrauch den Vorstehern quasidiözesaner Teilkirchen mitunter zu: vgl. Papst Paul VI., Motuproprio Pontificalia insignia vom 21. Juni 1968, in: AAS 60 (1968) 374 – 377; dt.: Rennings, Dokumente (Anm. 36) 557 – 560. 56 Vgl. hierzu Althaus, Rezeption (Anm. 18) 42 – 48; Winfried Aymans, Begriff, Aufgabe und Träger des Lehramtes, in: HdbKathKR3 (Anm. 5) 911 – 921.

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Das Bischofskollegium übt seine Lehr- und Leitungstätigkeit insbesondere auf einem Ökumenischen Konzil aus (c. 337 CIC). Allerdings hat sich dessen Zusammensetzung gewandelt: Während heute episcopi consecrati, die in Gemeinschaft mit dem Haupt des Kollegiums stehen, an einem solchen teilnehmen (c. 336 CIC), waren es früher die Kardinäle und die Vorsteher der Teilkirchen, während Titularbischöfen nicht unbedingt Stimmrecht zukam (c. 223 §§ 1 und 2 CIC/1917).57 Zudem sind die in Gemeinschaft mit Haupt und Gliedern des Bischofskollegiums stehenden Bischöfe – auch wenn sie keine Unfehlbarkeit in der Lehre besitzen – als einzelne und als Versammlungen (Bischofskonferenzen und Partikularkonzilien) authentische Künder und Lehrer des Glaubens (c. 753 CIC). Hinsichtlich der Lehrautorität der Bischofskonferenz legt das Apostolische Schreiben Apostolos suos über die theologische und rechtliche Natur der Bischofskonferenzen vom 21. Mai 199858 dar, dass die dort versammelten Bischöfe ihr Lehramt gemeinsam ausüben, weshalb die Lehraussagen einer Beschlussfassung ab omnibus oder bei einer 2/3Mehrheit der recognitio durch den Hl. Stuhl bedürfen.59 Es bleibt anzumerken, dass einer Bischofskonferenz vereinzelt auch Nichtbischöfe angehören können, nämlich interimistische Vorsteher ohne Bischofsweihe oder Vorsteher quasidiözesaner Teilkirchen (c. 450 § 1 CIC), doch bedarf es des genannten Quorums der Bischöfe.60 2. Der Diözesanbischof als Hüter des Glaubens in seiner Teilkirche Zu den grundlegenden Aufgaben des Diözesanbischofs gehört die Darlegung der Glaubenswahrheiten, indem er selbst oft predigt. Er hat dafür zu sorgen, dass die kirchenrechtlichen Vorschriften über den Dienst am Wort, vor allem über die Homilie und die katechetische Unterweisung sorgfältig befolgt werden (c. 386 § 1 CIC). Zudem hat er mit geeigneten Mitteln die Unversehrtheit und Einheit der Glaubenslehre zu schützen, wobei er eine gerechte Freiheit für die weitere Erforschung der 57

Zu den Konzilsteilnehmern vgl. u. a. Mörsdorf, Lehrbuch (Anm. 30) Bd. 1, Paderborn 1964, 353 – 354. 58 Vgl. hierzu Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht, Bd. 3 (Anm. 24) 5 – 23; Heinrich Mussinghoff/Hermann Kahler, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu cc. 749, 752 CIC. 59 Vgl. Papst Johannes Paul II., Motuproprio Apostolos suos vom 21. Mai 1998, in: AAS 90 (1998) 641 – 658, Art. 1. – Zu diesem Dokument vgl. Ulrich Ruh, Bischofskonferenzen: Römische Grenzziehungen, in: Herder-Korrespondenz 52 (1998) 440 – 442. Die römische Bestätigung liegt darin begründet, dass der Bischofskonferenz an sich keine Lehrautorität zukommt. In Deutschland sah man zum Teil im Rekognitionserfordernis eine Beeinträchtigung der Bischofskonferenz, insofern „konservative“ Bischöfe einen Beschluss blockieren und damit einen römischen Entscheid herbeiführen könnten. Gleichwohl spiegelt sich in diesem Erfordernis zum einen das alte Quod omnes tangit debet ab omnibus approbari (Reg. iur. 29 in VI8; in: Friedberg II 1122), zum anderen ein primatialer Anspruch; im Übrigen bedürfen auch sog. Generaldekrete der Rekognition (c. 455 § 2 CIC). 60 So auch das Statut der Deutschen Bischofskonferenz vom 24. September 2002 in der Fassung vom 23. Februar 2021, Art. 13. 11

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Wahrheiten anerkennen soll (c. 386 § 2 CIC; vgl. c. 218 CIC).61 Hierbei handelt es sich zwar um die originäre Aufgabe eines episcopus consecratus, doch gilt dies auch für jedweden anderen Vorsteher einer Teilkirche, weil ein jeder durch eigene Verkündigung und durch Aufsicht das Volk Gottes im Glauben zu leiten hat. In einer ähnlichen Verantwortung steht auch ein Pfarrer (c. 528 § 1 CIC), der unter der Autorität des Diözesanbischofs die Seelsorge für die ihm anvertrauten Gläubigen wahrnimmt (c. 519 CIC): Er hat dafür zu sorgen, dass den Gläubigen in der Pfarrei das Wort Gottes unverfälscht verkündigt wird und die Laien in den Glaubenswahrheiten unterrichtet werden, besonders durch Homilie und katechetische Unterweisung (c. 528 § 1 CIC).62 Dem Diözesanbischof kommen als Leiter des Verkündigungsdienstes in der ihm anvertrauten Teilkirche verschiedene, im kirchlichen Gesetzbuch genannte Aufgaben zu. Dies betrifft insbesondere: – Die Bischöfe haben in ihrer Teilkirche das Evangelium zu verkünden (c. 756 § 2 CIC), wobei Priester und Diakone sie als ihre Mitarbeiter unterstützen (c. 757 CIC). Dabei haben Bischöfe das Recht (ius), überall das Wort Gottes zu predigen, wenn nicht der Ortsbischof in einem Einzelfall ausdrücklich widerspricht (c. 763 CIC), Priester und Diakone die Befugnis (facultas) hierzu mit wenigstens vermuteter Zustimmung des Rektors der Kirche, sofern nicht eine Beschränkung besteht (c. 764 CIC).63 – Die Ordnung der Katechese liegt unter Beachtung der Vorschriften des Apostolischen Stuhles bei den Diözesanbischöfen (c. 775 § 1). Die Ortsordinarien haben für die hinreichende Aus- und Fortbildung der Katechisten zu sorgen (c. 780 CIC).64 – Die einzelnen Bischöfe haben als Förderer der Gesamtkirche und aller Kirchen für die Missionsarbeit besondere Sorge zu tragen, vor allem durch Anregung, Pflege und Erhalt missionarischer Vorgaben in ihren Teilkirchen (c. 782 § 2 CIC).65 Während erstere Aussage auch in der Mitgliedschaft der Bischöfe im Bischofskollegi61

Vgl. hierzu Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht, Bd. 2 (Anm. 5) 346; Bier, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu c. 386; ders., Diözesanbischof (Anm. 5) 209 – 210. 62 Vgl. hierzu Reinhild Ahlers, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu c. 528; Heribert Hallermnan, Pfarrei und pfarrliche Seelsorge. Ein kirchenrechtliches Handbuch für Studium und Praxis (Kirchen- und Staatskirchenrecht 4), Paderborn 2004, 275 – 285. 63 Vgl. hierzu Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht, Bd. 3 (Anm. 24) 57 – 64; Mussinghoff/Kahler, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu cc. 756, 757, 763, 764; Christoph Ohly, Die Verkündigung in Predigt und Katechese, in: HdbKathKR3 (Anm. 5) 922 – 934, hier: 923 – 925. 64 Vgl. Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht, Bd. 3 (Anm. 24) 77 – 84; Mussinghoff/ Kahler, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu cc. 773 – 780; Ohly, Verkündigung (Anm. 63) 930 – 934. 65 Vgl. Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht, Bd. 3 (Anm. 24) 85 – 86; Mussinghoff/ Kahler, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu c. 782; Matthias Pulte, Missionarischer Auftrag, in: HdbKathkR3 (Anm. 5) 935 – 943.

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um sowie in der Struktur der Kirche als einer communio Ecclesiarum wurzelt, spricht letztere gerade auch die Verantwortung des Vorstehers einer Teilkirche an. – Der Diözesanbischof soll möglichst für die Gründung von Schulen sorgen, in denen der christliche Geist vermittelt wird (c. 802 § 1 CIC). Im Rahmen der Vorgaben der Bischofskonferenz hat er den katholischen Religionsunterricht und die katholische Erziehung zu regeln und zu überwachen (c. 804 § 1 CIC), der Ortsordinarius die Religionslehrer zu approbieren und ggf. abzuberufen (cc. 804 § 2, 805 CIC). Der Diözesanbischof führt die Aufsicht über die katholischen Schulen (c. 806 § 1 CIC).66 – Bischofskonferenz und Diözesanbischöfe haben für Errichtung und Bestehen kirchlicher Hochschuleinrichtungen (c. 809 CIC) und die Berufung geeigneter Dozenten zu sorgen (c. 810 CIC). Details regelt das kirchliche Hochschulrecht.67 – Hinsichtlich der sozialen Kommunikationsmittel haben die Hirten der Kirche die Pflicht, über die Wahrung der Glaubens- und Sittenlehre zu wachen (c. 823 CIC). Für die Herausgabe bestimmter Bücher (v. a. Ritualien, Bibeln, Katechismen) werden Genehmigungen der kirchlichen Autorität verlangt, um deren Authentizität zu sichern (cc. 825 – 828 CIC).68 Zusammenfassend ergibt die Betrachtung dieses Bereiches, dass die episcopi consecrati als Glieder des Bischofskollegiums besondere Verantwortung für die Bewahrung des depositum fidei tragen. Zudem haben nur sie das Recht, überall zu predigen. Ansonsten kommen ihnen in Ausübung ihres Leitungsamtes in ihrer Teilkirche (wie auch jedem nichtbischöflichen Vorsteher) Koordination und Vigilanz zu. IV. Fazit Das Bischofskollegium trägt in der Nachfolge des Apostelkollegiums eigene Verantwortung für die Sendung der Kirche (LG Art. 22). Die Bischofsweihe, die die Fülle des Weihesakramentes überträgt, und die hierarchische Gemeinschaft mit dem Haupt (dem Nachfolger des hl. Petrus) und den Gliedern des Bischofskollegiums begründen die Zugehörigkeit zu diesem. Zudem ist der Diözesanbischof als 66 Vgl. Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht, Bd. 3 (Anm. 24) 97 – 120; Mussinghoff/ Kahler, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu cc. 796 – 806; Norbert Lüdecke, Das Bildungswesen, in: HdbKathKR3 (Anm. 5) 989 – 1017, v. a. 999 – 1001; Wilhelm Rees, Der Religionsunterricht, in: HdbKathKR3 (Anm. 5) 1018 – 1048. 67 Zum kirchlichen Hochschulrecht vgl. Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht, Bd. 3 (Anm. 24) 135 – 162; Mussinghoff/Kahler, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu cc. 807 – 821; Ulrich Rhode, Die Hochschulen, in: HdbKathKR3 (Anm. 5) 1049 – 1085; Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Katholische Theologie und kirchliches Hochschulrecht. Einführung und Dokumentation der kirchlichen Rechtsnormen (Arbeitshilfen 100), Bonn 22011. 68 Vgl. Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht, Bd. 3 (Anm. 24) 162 – 169; Mussinghoff/ Kahler, Münsterischer Kommentar (Anm. 5) zu cc. 822 – 832; Dominicus M. Meier, Schutz der Glaubens- und Sittenlehre, in: HdbKathKR3 (Anm. 5) 974 – 988.

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episcopus consecratus Bindeglied zu der Gesamtkirche, d. h. sichtbares Prinzip und Fundament der Einheit in seiner Teilkirche, die nach dem Bild der Gesamtkirche gestaltet ist (LG Art. 23 Abs. 1). Unbeschadet dieser theologischen Neubesinnung auf das Bischofsamt durch das II. Vatikanische Konzil lässt sich aus der Sicht des Kirchenrechts feststellen, dass die mit dem Amt des episcopus dioecesanus verbundenen Vollmachten (sieht man von der schwierigen Frage der Bewertung der Spendung der Priesterweihe ab) und Befugnisse auch dem Vorsteher einer Teilkirche zukommen, der die oberste Stufe des Weihesakramentes nicht empfangen hat. Folglich liegen diese nicht unmittelbar in der Weihegewalt begründet, sind also als Jurisdiktionsgewalt zu verstehen. Diese kann, formal verstanden, aufgrund einer allgemeinen Rechtsvorschrift oder päpstlicher oder bischöflicher Jurisdiktion zunächst an einen Priester übertragen werden, im Bereich der Rechtsprechung und auch der Exekutive an Diakone sowie Laien. Die Ausnahmen, die das kirchliche Recht sicher in der Sorge um ein geordnetes Leben in einer (quasidözesanen) Teilkirche sowie um das Heil der Seelen bereithält, können als Teil eines Krisenmanagements in außergewöhnlichen Situationen verstanden werden. Dennoch ergibt sich, dass Spezifika der Wirkungen des Sakramentes der Bischofsweihe sich aus rechtlicher Sicht nicht so klar ausmachen lassen, wie es auf den ersten Blick scheint. Welche Schlüsse erlaubt dies bzw. legt dies nahe? Vielleicht mag dieser Befund Anlass sein, die angerissene Thematik nicht allein aus rechtlicher, sondern vor allem aus dogmatischer Sicht weiter zu vertiefen.

Der Notar – Ein Kirchenamt mit Defiziten Heribert Hallermann Schriftstücke, die von einem kirchlichen Notar oder einer kirchlichen Notarin ausgefertigt oder unterschrieben sind, genießen in der Kirche öffentlichen Glauben und erbringen für alles, was direkt und hauptsächlich in ihnen bekundet wird, vollen Beweis.1 Unbeschadet dessen kann aber mitunter festgestellt werden, dass solchermaßen ausgefertigte oder unterschriebene Schriftstücke defizitär sind, weil sie entweder nicht mit dem geltenden kirchlichen Recht übereinstimmen oder weil sie dieses in einer Art und Weise anwenden wollen, die zumindest Anlass zu Fragen gibt. Ausgehend von dieser Beobachtung soll in diesem Beitrag nach dem Profil und den Aufgaben dieses Amtes sowie nach den Voraussetzungen gefragt werden, die für die Übernahme des Kirchenamtes eines Notars oder einer Notarin gefordert sind. Zudem soll danach gefragt werden, ob und gegebenenfalls wie weit das Amt eines kirchlichen Notars mit dem Amt eines Notars nach staatlichem Recht vergleichbar ist. I. Das Kirchenamt des Notars In einem ersten Schritt soll nach ausgewählten Kriterien zunächst das Kirchenamt des Notars skizziert werden. 1. Das obligatorische Kirchenamt des Notars Die Normen über die Bestellung von Notaren finden sich in Artikel 2 des Kapitels 2 über die Diözesankurie, die im Titel 3 über die innere Ordnung der Teilkirchen innerhalb der Sektion 2 des Teils 2 des Buches 2 über das Volk Gottes behandelt wird. Gemäß c. 482 § 1 CIC/1983 muss in jeder Diözesankurie ein Kanzler bestellt werden, der nach c. 482 § 3 CIC/1983 ohne Weiteres Notar der Kurie ist; er ist für alle Akten der Kurie zuständig und verantwortlich. Insofern muss es von Rechts wegen in jeder Diözesankurie mindestens einen Notar geben. Daneben können gemäß c. 483 § 1 CIC/1983 weitere Notare bestellt werden. Diese können, je nachdem, entweder für Akten jeglicher Art oder lediglich für Gerichtsakten oder nur für die Akten eines

1 Vgl. c. 483 § 1 CIC/1983 sowie Michael Benz, Art. Notar – Katholisch, in: LKRR III, S. 360 – 361, hier: S. 360.

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bestimmten Prozesses oder für die Akten eines bestimmten Rechtsgeschäftes zuständig sein. Die cc. 482 und 483 CIC/1983 lassen verschiedene Typen von Notaren erkennen: Den obligatorischen Notar, der aufgrund seiner Ernennung zum Kanzler Notar ist, und die fakultativen Notare, die zusätzlich zum Kanzler bestellt werden. Zu diesen fakultativen Notaren zählt gegebenenfalls auch der Vizekanzler gemäß c. 482 §§ 2 und 3 CIC/1983. Notare können einen umfassenden Zuständigkeitsbereich haben und für alle Akten der Kurie einschließlich der Gerichtsakten zuständig sein. Kanzler und Vizekanzler haben in ihrer Eigenschaft als Notare stets einen solchen umfassenden Zuständigkeitsbereich. Lediglich für die Notare, die zusätzlich zum Kanzler und zum Vizekanzler ernannt werden,2 sieht c. 483 § 1 CIC/1983 die Möglichkeit eines eingeschränkten, näher umschriebenen Zuständigkeitsbereiches vor: Sie können entweder nur für Gerichtsakten zuständig sein, und zwar generell, oder nur für die Akten eines bestimmten Prozesses; sie können auch nur für die Akten eines einzelnen, bestimmten Rechtsgeschäfts zuständig sein oder auch für den gesamten oder einen Teil des außergerichtlichen Bereichs, was in der Norm nicht ausdrücklich erwähnt wird. Die Aufzählung der Zuständigkeitsbereiche in c. 483 § 1 CIC/1983 ist folglich nicht als taxativ, sondern lediglich als exemplarisch zu verstehen.3 Beim Notar – lateinisch „notarius“ – handelt es sich um ein Kirchenamt im Sinne des c. 145 § 1 CIC/1983, das aufgrund kirchlicher Anordnung, das heißt aufgrund universalkirchlicher Gesetzgebung, in der Kirche auf Dauer eingerichtet ist. Als auf Dauer eingerichtetes Amt besitzt es „eine vom Kommen und Gehen der Amtsträger unabhängige objektive Beständigkeit (stabilitas). Das Amt existiert als Institution, auch wenn es nicht ununterbrochen oder für unbestimmte Zeit besetzt ist.“4 Die mit dem betreffenden Kirchenamt verbundenen Rechte und Pflichten werden gemäß c. 145 § 2 CIC/1983 entweder durch die rechtliche Norm, mit der ein Kirchenamt eingerichtet wird, bestimmt, oder durch das Dekret der zuständigen Autorität, durch das ein Amt eingerichtet und übertragen wird. Im Fall des Kirchenamtes des Notars sind die entsprechenden Rechte und Pflichten im Wesentlichen in den cc. 483 und 484 CIC/983 festgelegt. Die konkreten Zuständigkeitsbereiche der einzelnen Notare, die exemplarisch in c. 483 § 1 CIC/1983 genannt werden, richten sich aber nach der jeweiligen Urkunde, mit der das Amt einer bestimmten Person übertragen wird; ihre Ernennung und die Zuordnung eines bestimmten Zuständigkeitsbereichs sind weder an das Vorliegen einer besonderen Situation noch an eine besondere Notwendigkeit gebunden.5 Aufgrund der generellen Verantwortung des Kanzlers für die Schriftguterstellung kommt diesem eine übergeordnete Stellung gegenüber den weiteren Notaren zu; er 2

Vgl. Georg Bier, MKCIC zu c. 483, Rn. 2 (32. Erg.-Lfg. Dezember 1999). Vgl. ebd., Rn. 3. 4 Hubert Socha, MKCIC zu c. 145, Rn. 3 b) (56. Erg.-Lfg. Oktober 2018). 5 Vgl. Bier, MKCIC zu c. 483 (Anm. 2), Rn. 3. 3

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übt die Fachaufsicht über die weiteren Notare der Kurie aus6 und kann ihnen innerhalb des durch die jeweiligen Ernennungsurkunden der Notare definierten Rahmens entsprechende Aufgaben zuweisen und die Tätigkeit der Notare koordinieren. 2. Die Ernennung und die Amtsdauer der Notare Weil die Notare ein Amt in der Diözesankurie bekleiden, steht deren Ernennung gemäß c. 470 CIC/1983 dem Diözesanbischof zu. Unter Berücksichtigung des c. 134 § 3 CIC/1983 liegt das Ernennungsrecht für die Notare folglich beim Diözesanbischof, bei den anderen Teilkirchenvorstehern, die dem Diözesanbischof gemäß c. 381 § 2 CIC/1983 gleichgestellt sind, sowie bei Generalvikaren und Bischofsvikaren, sofern diese mit einem entsprechenden Spezialmandat ausgestattet sind.7 Der Diözesanadministrator ist dazu nicht berechtigt; er muss das Veränderungsverbot des c. 428 § 1 CIC/1983 beachten. Die Ernennung der Notare folgt dem Grundsatz der freien Amtsübertragung im Sinne des c. 157 CIC/1983. Dabei kommt es dem Diözesanbischof nicht nur zu, die bestehenden Kirchenämter der Notare mit konkreten Personen zu besetzen; in seine Kompetenz fällt auch die Entscheidung darüber, ob er im Sinne des c. 483 § 1 CIC/1983 neben dem Kanzler und gegebenenfalls dem Vizekanzler weitere Notare bestellt und welche Zuständigkeitsbereiche er ihnen zuweist. Im Unterschied zu ihrer Ernennung ist die Amtsenthebung der Notare im Kontext der einschlägigen Normen mit c. 485 CIC/1983 ausdrücklich geregelt. Unter Berücksichtigung der allgemeinen Norm des c. 193 § 3 CIC/1983 über die Amtsenthebung8 ergibt sich, dass sowohl für die Übertragung eines Kirchenamtes als auch für die Enthebung von diesem Amt stets dieselbe kirchliche Autorität zuständig ist.9 Demzufolge können Notare gemäß c. 485 CIC/1983 ihres Amtes vom Diözesanbischof, von einem anderen Teilkirchenvorsteher oder von einem General- beziehungsweise Bischofsvikar mit entsprechendem Spezialmandat enthoben werden. Wenn ein Diözesanadministrator einen Notar seines Amtes entheben will, bedarf er dazu der Zustimmung des Konsultorenkollegiums; allerdings darf er während der Zeit der Sedisvakanz keine neuen Notare ernennen, auch nicht mit Zustimmung des Konsultorenkollegiums. Daher kommt eine Amtsenthebung eines Notars durch den Diözesanadministrator „wohl nur in Betracht, wenn schwerwiegende Gründe dies nahelegen.“10 Während c. 193 § 3 CIC/1983 für den generellen Fall der Amtsenthebung als notwendige Voraussetzung das Vorliegen eines nach dem Urteil der zuständigen Auto6 Vgl. Georg Bier, MKCIC zu c. 482, Rn. 2 (32. Erg.-Lfg. Dezember 1999) sowie Benz, Art. Notar (Anm. 1), S. 360. 7 Vgl. Aymans-Mörsdorf, KanR II, S. 372. 8 Vgl. Wilhelm Rees, Art. Amtsenthebung – Katholisch, in: LKRR I, S. 120 – 121. 9 Vgl. Georg Bier, MKCIC zu c. 485, Rn. 3 (32. Erg.-Lfg. Dezember 1999). 10 Ebd.

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rität vorliegenden gerechten Grundes verlangt, normiert c. 485 CIC/1983 das Recht des Diözesanbischofs, einen Notar frei seines Amtes zu entheben. Der „libera collatio“ des c. 157 CIC/1983 entspricht die „libera remotio“ des c. 485 CIC/1983, wobei das Adjektiv „liber“ stets nur verdeutlicht, dass die zuständige kirchliche Autorität bei ihrem Handeln rechtlich nicht an die Mitsprache anderer gebunden ist.11 Daher wird man nicht davon ausgehen können, dass der Diözesanbischof im Fall der Amtsenthebung eines Notars völlig willkürlich handeln kann. Einerseits entspricht die spezielle Norm des c. 485 CIC/1983 der allgemeinen Norm des c. 193 § 3 CIC/ 1983,12 die das Vorliegen eines gerechten Grundes fordert, andererseits ist bei jeder Amtsenthebung der Rechtsschutz der betroffenen Person sicherzustellen, so dass gegen eine entsprechende Entscheidung auf dem Verwaltungsweg gemäß cc. 1732 – 1739 CIC/1983 vorgegangen werden kann;13 sie muss folglich entsprechend begründet werden können. Drittens sollte vorausgesetzt werden, dass ein Diözesanbischof auch bei der Amtsenthebung von Notaren stets im Rahmen des pflichtgemäßen Amtsermessens handelt.14 Die Amtsdauer der Notare wird gemäß c. 485 CIC/1983 durch eine freie Amtsenthebung beendet. Damit wird implizit zum Ausdruck gebracht, dass die Amtszeit der Notare nicht mit dem Eintritt der Sedisvakanz endet, sondern auch während dieser Zeit bestehen bleibt. Zudem wird nicht normiert, dass die Notare für die Ausübung ihres Amtes der Bestätigung durch den neuen Diözesanbischof bedürfen.15 Sie bleiben also auch unter einem neuen Bischof ohne Weiteres in ihrem bisherigen Amt. Das Amt der Notare, die nur für einen bestimmten Prozess oder für ein bestimmtes Rechtsgeschäft ernannt worden sind, endet ohne Weiteres mit der Beendigung des Prozesses beziehungsweise mit der Erledigung des betreffenden Geschäftes. Das freie Ernennungsrecht des Diözesanbischofs umfasst sowohl die Möglichkeit, dass dieser die Notare auf unbestimmte Zeit ernennt, als auch die Möglichkeit, diese für eine bestimmte, genau bezeichnete Zeit zu ernennen, so dass das Amt nach c. 184 § 1 CIC/1983 mit Ablauf der festgesetzten Zeit verloren geht, wobei allerdings c. 186 CIC/1983 zu beachten ist. 3. Die Aufgaben und Zuständigkeiten der Notare Die generellen Aufgaben der kirchlichen Notare werden in c. 484 CIC/1983 in drei Ziffern summarisch zusammengefasst. Die Notare müssen demnach erstens Akten und Urkunden über alle Vorgänge anfertigen, die ihre Mitwirkung erfordern. Im Einzelnen werden beispielhaft Dekrete, Verfügungen und Ladungen genannt. Dazu gehören etwa Akten der Kurie im Sinne des c. 474 CIC/1983, die ihrer 11

Vgl. Hubert Socha, MKCIC zu c. 157, Rn. 1 (57. Erg.-Lfg. März 2019). Vgl. Bier, MKCIC zu c. 485 (Anm. 9), Rn. 2. 13 Vgl. Rees, Art. Amtsenthebung (Anm. 8), S. 121. 14 Vgl. Anna Krähe, Art. Ermessen – Katholisch, in: LKRR I, S. 859 – 862. 15 Vgl. Bier, MKCIC zu c. 485 (Anm. 8), Rn. 4. 12

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Natur nach rechtliche Wirkung haben wie etwa Ausfertigungen von Gesetzen, allgemeine Dekrete im Sinne des c. 29 CIC/1983, Instruktionen gemäß c. 34 § 1 CIC/ 1983, Dekrete für Einzelfälle im Sinne des c. 48 CIC/1983, Verwaltungsbefehle gemäß c. 49 CIC/1983 oder Reskripte gemäß c. 59 § 1 CIC/1983. Während bei diesen Akten der Kurie die Unterschrift des jeweiligen Ordinarius zu ihrer Gültigkeit gefordert ist, ist die Unterschrift des Notars, die mit c. 474 CIC/1983 ebenfalls gefordert wird, nicht zu ihrer Gültigkeit gefordert, sondern sie ist ein Ausweis der Authentizität des Schriftstückes, das durch die Unterschrift des Notars den Rang einer öffentlichen Urkunde im Sinne des c. 1540 § 1 CIC/1983 erhält.16 Zu den Vorgängen, welche die Mitwirkung eines Notars erfordern, gehören auch in Gerichtssachen anfallende Aktenstücke, denn nach c. 1437 § 1 CIC/1983 sind Prozessniederschriften nichtig, wenn sie nicht von einem Notar unterzeichnet sind; insofern ist die Mitwirkung eines Notars in jedem kirchlichen Prozess erforderlich. Zweitens müssen Notare Protokolle von rechtlich relevanten Handlungen anfertigen und diese unter Angabe von Ort, Tag, Monat und Jahr unterschreiben. Während die Unterschrift des Notars für eine öffentliche kirchliche Urkunde gemäß c. 483 § 1 CIC/1983 zwingend erforderlich ist, ist die Angabe von Datum und Ort für die Gültigkeit der Urkunde nicht gefordert.17 Drittens ist es Aufgabe der Notare, Akten oder Urkunden aus der Registratur oder dem Archiv unter Beachtung der einschlägigen Vorschriften vorzulegen, gegebenenfalls Abschriften anzufertigen und deren Übereinstimmung mit dem Original durch ihre Unterschrift zu beglaubigen, so dass die Abschrift selbst zur öffentlichen Urkunde wird. Weitere Aufgaben und Zuständigkeiten der Notare sind verstreut an anderen Stellen des CIC/1983 normiert, insbesondere aber im Prozessrecht. Ein Notar hat gemäß c. 55 CIC/1983 die Funktion eines qualifizierten Zeugen, wenn ein Dekret in der Form mitgeteilt wird, dass es dem, für den es bestimmt ist, vor einem Notar verlesen wird. Über diese Form der Mitteilung müssen Schriftstücke angefertigt werden, die von allen Anwesenden, also auch vom Notar, unterschrieben werden müssen. Ein kirchlicher Notar muss bei der Entlassung von Mitgliedern aus Instituten des geweihten Lebens in der Form mitwirken, dass er die relevanten Akten über die Anklagen und die Beweise gemäß c. 695 § 2 CIC/1983 gemeinsam mit dem höheren Oberen unterzeichnet.

16 Wenn Aymans-Mörsdorf, KanR II, S. 374 schreibt, hoheitliche Rechtsakte müssten „zu ihrer Gültigkeit von dem betreffenden Oberhirten unterschrieben sein; sie sind vom Kanzler oder einem Notar der Kurie gegenzuzeichnen.“, bleibt unbestimmt, was er mit „gegenzeichnen“ meint und welche Rechtswirkung er diesem Vorgang beimisst. 17 Vgl. Georg Bier, MKCIC zu c. 484, Rn. 4 (32. Erg.-Lfg. Dezember 1999).

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Notare gehören gemäß c. 1437 § 1 CIC/1983 zum ordentlichen Gerichtspersonal;18 von ihrer Unterschrift hängt die Gültigkeit von Prozessniederschriften ab. Dies gilt gemäß c. 1474 § 1 CIC/1983 auch für die Abschrift von Gerichtsakten, die im Fall der Berufung dem Obergericht übersandt werden. Abschriften von Gerichtsakten und Urkunden dürfen nach c. 1475 § 2 CIC/1983 von einem Notar nicht ohne Auftrag des Richters ausgehändigt werden. Bei einem mündlichen Klagevortrag muss der Notar diesen gemäß c. 1503 § 2 CIC/1983 schriftlich aufnehmen, dem Kläger vorlesen und von diesem bestätigen lassen, damit dieses Schriftstück dieselbe Rechtswirkung wie eine schriftlich abgefasste Klageschrift entfalten kann. Dasselbe gilt nach c. 1630 § 2 CIC/1983 für eine mündlich vorgetragene Berufungsklage. Die Vernehmung eines Zeugen erfolgt gemäß c. 1561 CIC/1983 stets unter Zuziehung eines Notars, der die Antworten des Zeugen gemäß c. 1567 § 1 CIC/1983 sofort schriftlich aufzunehmen hat. Ebenso muss der Notar alles Weitere, was bei der Zeugenvernehmung von Bedeutung ist, wie etwa die Eidesleistung oder die Anwesenheit der Parteien oder anderer Personen, gemäß c. 1568 CIC/1983 in den Akten festhalten. Nachdem die Niederschrift der Aussage verlesen und eventuell korrigiert worden ist, muss sie gemäß c. 1569 CIC/1983 vom Zeugen, vom Richter und vom Notar unterzeichnet werden. Bei einer mündlichen Sacherörterung muss gemäß c. 1605 CIC/1983 ein Notar anwesend sein, damit er gegebenenfalls eine Niederschrift anfertigen kann. Ein abschließendes Urteil muss gemäß c. 1612 § 4 CIC/1983 sowohl vom Richter beziehungsweise den Richtern als auch vom Notar unterzeichnet werden. In einem mündlichen Streitverfahren sind alle relevanten Äußerungen wie die Antworten der Parteien, der Zeugen und der Sachverständigen gemäß c. 1664 CIC/1983 vom Notar summarisch, nicht aber wortwörtlich zu Protokoll zu nehmen. 4. Die Notare als Urkundsbeamte Eine besondere Wirkung, die aus dem Handeln von kirchlichen Notaren erwächst, besteht darin, dass dadurch öffentliche Urkunden entstehen.19 Im Sinne des c. 1540 § 1 CIC/1983 sind „Öffentliche kirchliche Urkunden … jene, die eine Amtsperson in Ausübung ihres Amtes in der Kirche und unter Beachtung der rechtlich vorgeschriebenen Förmlichkeiten ausgestellt hat.“ Aus der Zusammenschau mit den cc. 483 § 1 und 484 n. 1 CIC/1983 ergibt sich: Aussteller, das heißt derjenige, der die Urkunde

18 Zu den Aufgaben und Zuständigkeiten des von ihm als „Notaio del tribunale“ bezeichneten Gerichtsnotars vgl. Estanislao Olivares d’Angelo, Art. Notaio del tribunale, in: Carlos Corral Salvador/Velasio de Paolis/Gianfranco Ghirlanda (Hrsg.), Nuovo dizionario di Diritto Canonico, Cinisello Balsamo 21996, S. 713 – 715. 19 Vgl. Elisabeth Kandler-Mayr, Art. Urkunde – Katholisch, in: LKRR IV, S. 528 – 529.

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anfertigt,20 ist eine Person, die das Kirchenamt eines Notars innehat. Die Ausfertigung der Urkunde erfolgt in Ausübung dieses Amtes, das heißt, dass der Aussteller, wie die cc. 483 § 1 und 484 n. 1 CIC/1983 belegen, aufgrund seines Amtes dazu berechtigt ist, Urkunden auszustellen.21 Als drittes kennzeichnendes Element für eine öffentliche kirchliche Urkunde tritt die Beachtung eventuell vorgeschriebener Formvorschriften hinzu.22 Im Fall der durch einen Notar zu erstellenden öffentlichen Urkunde ist gemäß c. 483 § 1 CIC/1983 entweder gefordert, dass diese vom Notar aufgeschrieben, niedergeschrieben oder verfasst wurde, oder aber, dass ein von anderen, etwa ein von einem Oberhirten verfasstes Schriftstück vom Notar unterschrieben wurde. Auch wenn c. 483 § 1 CIC/1983 mit der Formulierung „scriptura seu subscriptio“ sprachlich eine mögliche Alternative zwischen einer vom Notar verfassten und einer vom Notar unterschriebenen Urkunde eröffnet, wird man davon ausgehen dürfen, dass auch eine vom Notar verfasste Urkunde von diesem unterschrieben wird, weil die Unterschrift des Notars die Authentizität der Urkunde und die Verfasserschaft bezeugt. Im Unterschied zur Unterschrift des betreffenden Oberhirten ist gemäß c. 474 CIC/1983 die Unterschrift des Notars für Akten der Kurie, die ihrer Natur nach rechtliche Wirkung haben sollen, nicht zur Gültigkeit eines Rechtsaktes gefordert, wohl aber dafür, dass die betreffende Akte zur öffentlichen kirchlichen Urkunde im Sinne des c. 1540 § 1 CIC/1983 wird. Die Unterschrift des betreffenden Oberhirten hingegen macht ein Dokument noch nicht zur öffentlichen kirchlichen Urkunde. Die Unterschrift des Notars kann insofern nicht einfach als ein Gegenzeichnen oder Mitunterzeichnen charakterisiert werden,23 sondern besitzt einen ganz eigenen Charakter. Insofern erscheint es als angebracht, den Notar „als kirchlichen Urkundsbeamten [zu bezeichnen], dessen Unterschrift öffentlichen Glauben schafft.“24 Winfried Aymans wählt für die kirchlichen Notare die Bezeichnung „kirchliche Urkundsbevollmächtigte“.25 Von kirchlichen Notaren ausgestellte und unterschriebene Urkunden26 genießen öffentlichen Glauben und schaffen gemäß c. 1541 CIC/1983 volle Beweiskraft für alles, was in ihnen direkt und hauptsächlich bekundet wird, so dass das „Bewiesene keiner Stützung mehr bedarf.“27 Eine öffentliche Urkunde ist allerdings gemäß c. 1541 CIC/1983 „dadurch angreifbar, dass ihre Echtheit in Zweifel gezogen 20

Für das Anfertigen, Herstellen oder Ausstellen von Urkunden verwendet c. 1540 § 1 CIC/1983 das Verb „conficere“. 21 In c. 484 n. 1 CIC/1983 wird für die Anfertigung von Urkunden das Verb „conscribere“ im Sinne von aufschreiben, niederschreiben oder verfassen verwendet. 22 Vgl. Klaus Lüdicke, MKCIC zu c. 1540, Rn. 4 (12. Erg.-Lfg. April 1990). 23 Vgl. Anm. 16. 24 Vgl. Peter Platen, Die Diözesankurie, in: HdbKathKR3, S. 638 – 651, hier: S. 648. 25 Aymans-Mörsdorf, KanR II, S. 385. 26 Platen, Die Diözesankurie (Anm. 24), S. 648 hebt lediglich auf die Unterschrift des Notars ab. 27 Klaus Lüdicke, MKCIC zu c. 1541, Rn. 3 (12. Erg.-Lfg. April 1990).

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oder ein Irrtum des Ausstellers bei der Abfassung der Urkunde behauptet und unter Beweis gestellt wird. Der falsche Inhalt einer öffentlichen Urkunde muss durch offenkundige Gründe (…) dargetan werden.“28 Der universalkirchliche Gesetzgeber geht demzufolge von der Möglichkeit aus, dass öffentliche Urkunden Irrtümer oder einen falschen Inhalt enthalten. Weil dem kirchlichen Notar vom Gesetzgeber nicht die Aufgabe der Überprüfung und Kontrolle zugewiesen wird, schließt dessen Unterschrift mögliche Irrtümer nicht aus. Die Unterschrift des kirchlichen Notars hat nur die Wirkung, dass ein entsprechendes Schriftstück zur öffentlichen kirchlichen Urkunde wird, bestätigt aber nicht die Konformität des Dokuments mit dem geltenden kirchlichen Recht. 5. Die Voraussetzungen für die Übernahme des Amtes Im Hinblick auf alle Kirchenämter fordert c. 149 § 1 CIC/1983 als notwendige Voraussetzung, dass derjenige, der in ein Kirchenamt berufen werden soll, in der Gemeinschaft der Kirche stehen und geeignet sein muss. Hubert Socha vertritt begründet, dass hier das Stehen in der vollen Gemeinschaft mit der Kirche gemeint ist, weil Kirchenämter der Verwirklichung der Sendung der Kirche dienen und im Namen der Kirche ausgeübt werden.29 Das „Stehen in der vollen Gemeinschaft mit der Kirche ist keine Disziplinarnorm, von der … dispensiert werden kann (…); es bildet ein konstitutives Element für die Amtsinhaberschaft.“30 Zudem wird verlangt, dass die betreffende Person für die Übernahme des Amtes geeignet sein muss. Der Gesetzestext des c. 149 § 1 CIC/1983 erläutert die geforderte Eignung so: Die Person muss „jene Eigenschaften besitzen, die im allgemeinen oder partikularen Recht oder in den Stiftungsbestimmungen für dieses Amt gefordert werden.“ Das bedeutet, dass die Eignungsbestimmungen sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht in der Rechtsoder Stiftungsordnung festgelegt sein müssen. Die Prüfung und das Urteil darüber, ob die geforderte Eignung gegeben ist, steht der kirchlichen Autorität zu, welche das betreffende Amt verleiht.31 Die Frage der möglichen Ungültigkeit einer Amtsübertragung aufgrund fehlender Eignung wird mit c. 149 § 2 CIC/1983 normiert. Die kanonischen Eignungskriterien für die Übernahme des Kirchenamtes eines Notars werden erschöpfend in c. 483 § 2 CIC/1983 normiert. Demnach muss die betreffende Person unbescholten und über jeden Verdacht erhaben sein. Keines dieser sehr allgemein gehaltenen und objektiv kaum überprüfbaren Kriterien wird im Sinn des c. 149 § 2 CIC/1983 zur Gültigkeit der Amtsübertragung gefordert. Zu beachten ist ferner c. 471 n. 2 CIC/1983, der für alle, die in Kurienämtern tätig sind, die Wahrung des Amtsgeheimnisses verlangt.

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Ebd. Vgl. Hubert Socha, MKCIC zu c. 149, Rn. 3 – 4 (56. Erg.-Lfg. Oktober 2018). 30 Ebd., Rn. 4 a). 31 Vgl. ebd., Rn. 9. 29

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Als kanonisches Eignungskriterium für die kirchlichen Notare wird nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Gläubigen verlangt. Daraus ergibt sich, dass das Kirchenamt des Notars sowohl weiblichen und männlichen Laien als auch Diakonen wie auch Priestern übertragen werden kann. Nur in den Fällen, in denen der gute Ruf eines Priesters beeinträchtigt werden könnte, muss der Notar, der mit dieser Sache befasst ist oder der für diese Angelegenheit ernannt wird, Priester sein. Eine sinnvolle Begründung für diesen Vorbehalt ist in der Rechtsordnung nicht zu erkennen.32 Es fällt auf, dass bei den Eignungskriterien für das Kirchenamt des Notars sachlich naheliegende Bestimmungen fehlen, die deren fachliche Eignung etwa in Hinsicht auf die Kenntnis des kirchlichen Rechts sowie deren Unabhängigkeit sicherstellen, so wie sie etwa für das Amt des General- und Bischofsvikars mit c. 478§§ 1 und 2 CIC/1983 oder für das Amt des Ökonomen mit c. 492 §§ 1 und 3 CIC/1983 gegeben sind. II. Das Amt des Notars nach deutschem Zivilrecht In einem zweiten Schritt soll das Amt des Notars nach deutschem Zivilrecht skizziert werden. Dafür werden dieselben Kriterien gewählt wie beim Kirchenamt des Notars, um so die Voraussetzungen für einen Vergleich zwischen beiden Ämtern zu schaffen. 1. Das obligatorische Amt des Notars Im deutschen Zivilrechtssystem ist der Notar ein Organ der vorsorgenden Rechtspflege, die neben der streitigen Gerichtsbarkeit eine eigenständige zweite Säule bildet.33 Das deutsche Notariat findet seine gesetzliche Grundlage in der Bundesnotarordnung (BNotO) in der jeweils geltenden Fassung. In Hinblick auf die Aufgaben des Notars sind die Bestimmungen des Beurkundungsgesetzes (BeurkG) zu beachten.34 Der § 4 BNotO handelt vom Bedürfnis für die Bestellung eines Notars: „Es werden so viele Notare bestellt, wie es den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege entspricht. Dabei sind insbesondere das Bedürfnis nach einer angemessenen Versorgung der Rechtsuchenden mit notariellen Leistungen und die Wahrung einer geordneten Altersstruktur der Angehörigen des Berufs zu berücksichtigen.“ Weil die vor-

32 Insofern können die kritischen Einwände von Bier, MKCIC zu c. 483 (Anm. 2), Rn. 7 geteilt werden. 33 Vgl. Andreas Albrecht, Art. Notar, Version 08. 06. 2022, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Notar [Zugriff: 15. 08. 2022]. Vgl. auch § 1 BNotO. 34 Vgl. Lisa Kanzler, Art. Notar – Staatlich, in: LKRR III, S. 359 – 360, hier: S. 360.

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sorgende Rechtspflege als Teil der freiwilligen Gerichtsbarkeit35 unverzichtbarer Teil des deutschen Zivilrechtssystems ist, ist das Amt des Notars in Hinblick auf deren Erfordernisse als ein obligatorisches Amt zu verstehen. Auch in Hinblick auf Beurkundungen, die im Rechtsverkehr häufig erforderlich sind, auf die Entgegennahme von Willenserklärungen sowie auf die Aufbewahrung von Urkunden erweist sich das Amt des Notars als zwingend erforderlich und somit als obligatorisch.36 Ein Notar wird regelmäßig gemäß § 10 a Abs. 1 BNotO für einen bestimmten Amtsbereich ernannt, der dem Bezirk eines Amtsgerichts entspricht, und es wird ihm dort ein Amtssitz zugewiesen. Gemäß § 10 a Abs. 2 BNotO soll ein Notar seine Urkundstätigkeit nur innerhalb seines eigenen Amtsbereichs ausüben.37 Die Notare üben ihren Beruf gemäß § 3 Abs. 1 BNotO in der Regel ausschließlich und hauptberuflich aus. Sie dürfen gemäß § 8 Abs. 1 und 2 BNotO nicht zugleich Inhaber eines besoldeten Amtes sein und sie dürfen, mit Ausnahme der Anwaltsnotare, auch keinen weiteren Beruf ausüben. Im Ausnahmefall, der in § 3 Abs. 2 BNotO normiert ist, werden Anwälte als Notare bestellt, die als sogenannte Anwaltsnotare neben ihrer Anwaltstätigkeit auch die Notarstätigkeit ausüben.38 2. Die Ernennung und die Amtsdauer der Notare Ein Notar kann gemäß § 12 Abs. 1 BNotO nur durch die Landesjustizverwaltung nach Anhörung der Notarkammer bestellt werden. Dabei wird ihm ein Amtsbezirk und ein Amtssitz zugewiesen.39 In der Bestellungsurkunde muss auch die Dauer der Bestellung angegeben werden. Gemäß § 3 Abs. 1 BNotO werden hauptberufliche Notare auf Lebenszeit bestellt, Anwaltsnotare werden gemäß § 3 Abs. 2 BNotO für die Dauer ihrer Mitgliedschaft bei der für den Gerichtsbezirk zuständigen Rechtsanwaltskammer bestellt. Das Amt eines Notars erlischt gemäß § 47 BNotO durch Entlassung aus dem Amt, durch das Erreichen der Altersgrenze oder den Tod des Amtsinhabers, durch Amtsniederlegung, Wegfall der Mitgliedschaft in einer Rechtsanwaltskammer im Fall eines Anwaltsnotars, durch eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung, die einen Amtsverlust zur Folge hat, durch Amtsenthebung oder durch ein rechtskräftiges disziplinargerichtliches Urteil, in dem auf Entfernung aus dem Amt erkannt worden ist. Ein Notar kann gemäß § 48 BNotO jederzeit schriftlich bei der Landesjus35 Vgl. Art. Rechtspflege, in: Klaus Weber (Hrsg.), Creifelds Rechtswörterbuch, München 2004, S. 1071 sowie Art. Notar, ebd., S. 936 – 937, hier: S. 936. 36 Vgl. § 1 Abs. 1 BeurkG. Vgl. auch Art. Form(erfordernisse, – vorschriften), in: Klaus Weber (Hrsg.), Creifelds Rechtswörterbuch, München 182004, S. 482 – 485, hier: S. 484. 37 Vgl. Art. Notar, in: Klaus Weber (Hrsg.), Creifelds Rechtswörterbuch, München 182004, S. 936 – 937, hier: S. 936. 38 Vgl. Kanzler, Art. Notar (Anm. 34), S. 360. 39 Vgl. Albrecht, Art. Notar (Anm. 33) sowie Art. Notar (Anm. 37), S. 936.

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tizverwaltung seine Entlassung aus dem Amt beantragen. Die Altersgrenze für Notare ist mit § 48 a BNotO auf die Vollendung des siebzigsten Lebensjahres festgelegt. Die Amtsniederlegung zum Zweck der Betreuung oder Pflege ist in § 48 b BNotO normiert; sie kann nach § 48 c BNotO auch aus gesundheitlichen Gründen erfolgen. Nach § 49 BNotO führt eine strafgerichtliche Verurteilung bei einem Notar in gleicher Weise zum Amtsverlust wie bei einem Beamten. Die Amtsenthebung eines Notars ist in § 50 BNotO geregelt und kommt vor allem dann in Betracht, wenn der Notar schwerwiegend gegen bestimmte Verpflichtungen seines Berufs verstoßen hat; zuständig für die Amtsenthebung ist ausschließlich die Landesjustizverwaltung, die nach Anhörung der Notarkammer entscheidet. 3. Die Aufgaben und Zuständigkeiten der Notare Die Aufgaben und Zuständigkeiten der Notare sind in den §§ 20 – 24 BNotO über die Amtstätigkeit, in den §§ 25 – 34 BNotO über die sonstigen Pflichten des Notars sowie in den §§ 35 – 36 BNotO über die Führung der Akten und Verzeichnisse normiert. Nach § 20 BNotO sind die Notare dafür zuständig, Beurkundungen jeder Art vorzunehmen sowie Unterschriften zu beglaubigen. Insbesondere wird etwa die Beurkundung von Versammlungsbeschlüssen genannt, die Aufnahme von Vermögensverzeichnissen und Nachlassverzeichnissen, die Vermittlung von Nachlassauseinandersetzungen einschließlich der Erteilung von Zeugnissen nach der Grundbuchordnung. Nach § 21 BNotO liegt es in der Zuständigkeit der Notare, Bescheinigungen über eine Vertretungsberechtigung, über das Bestehen oder den Sitz einer juristischen Person oder Handelsgesellschaft sowie über eine durch Rechtsgeschäft begründete Vertretungsmacht auszustellen. Die Notare sind verpflichtet, sich vor Ausstellen solcher Bescheinigungen durch entsprechende Einsichtnahme Gewissheit zu verschaffen. Notare können je nachdem gemäß § 22 BNotO für die Abnahme von Eiden und die Aufnahme eidesstattlicher Versicherungen zuständig sein. Gemäß § 23 BNotO können Notare auch dafür zuständig sein, Geld, Wertpapiere und Wertgegenstände, die ihnen von den Beteiligten übergeben sind, zur Aufbewahrung oder zur Ablieferung an Dritte zu übernehmen. Zu dem Amt des Notars gehört gemäß § 24 BNotO auch die sonstige Betreuung der Beteiligten auf dem Gebiet der vorsorgenden Rechtspflege, insbesondere die Anfertigung von Urkundenentwürfen und die rechtliche Beratung der Beteiligten; sie können auch im Namen der Beteiligten beim Grundbuchamt oder bei den Registerbehörden Anträge stellen. Unter den sonstigen Pflichten des Notars sind insbesondere die Wahrung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit seiner Amtsführung im Sinne des § 28 BNotO zu erwähnen, das Werbeverbot gemäß § 29 BNotO, sowie die Verpflichtung zur Mitwirkung an der Ausbildung des beruflichen Nachwuchses im Sinne des § 30 BNotO. Die Notare sind gemäß § 35 BNotO dazu verpflichtet, Akten und Verzeichnisse so zu führen, dass deren Verfügbarkeit, Integrität, Transparenz und Vertraulichkeit stets gewährleistet sind.

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Wenn ein Notar vorsätzlich oder fahrlässig die ihm obliegende Amtspflicht verletzt, so hat er gemäß § 19 BNotO den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Bei allen Rechtsgeschäften, die ein Notar beurkundet, obliegt dem Notar allen Beteiligten gegenüber eine Prüfungs- und Belehrungspflicht hinsichtlich der Rechtslage. Dem entsprechend soll ein Notar gemäß § 4 BeurkG die Beurkundung ablehnen, wenn sie mit seinen Amtspflichten nicht vereinbar wäre, insbesondere wenn seine Mitwirkung bei Handlungen verlangt wird, mit denen erkennbar unerlaubte, unredliche oder gesetzeswidrige Zwecke verfolgt werden.40 4. Die Notare als Urkundsbeamte Eine von einem Notar errichtete Urkunde ist eine öffentliche Urkunde, die den vollen Beweis für den beurkundeten Vorgang erbringt,41 und insofern keiner weiteren, stützenden Beweise bedarf. Daher ist eine notarielle Urkunde in vielen Fällen Voraussetzung für die sichere Registrierung von Rechtsverhältnissen, etwa im Grundbuch oder im Handelsregister. Um die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Notars als Urkundsbeamter zu wahren, normiert § 3 BeurkG eine Reihe von Fällen, in denen dem Notar eine Mitwirkung verboten ist – insbesondere handelt es sich um Verwandtschaftsverhältnisse, um Verbindungen geschäftlicher Art sowie um sonstige mögliche Abhängigkeiten – und verpflichtet den Notar mit § 4 BeurkG, eine Beurkundung abzulehnen, wenn sie mit seinen Amtspflichten nicht vereinbar wäre. Diesbezüglich wird implizit eine entsprechende vorgängige Prüfungspflicht gesetzlich verankert. Mit § 8 BeurkG wird der Notar verpflichtet, bei der Beurkundung von Willenserklärungen eine Niederschrift über die Verhandlung aufzunehmen, und erlässt dazu in den §§ 9 – 16 BeurkG nähere Vorschriften. Im Sinne der vorsorgenden Rechtspflege wird der Notar mit § 17 BeurkG verpflichtet, den tatsächlichen Willen der Beteiligten zu erforschen, den Sachverhalt zu klären, die Beteiligten über die rechtliche Tragweite des Geschäfts zu belehren und ihre Erklärungen klar und unzweideutig in der Niederschrift wiederzugeben. Dabei soll er darauf achten, dass Irrtümer und Zweifel vermieden sowie unerfahrene Beteiligte nicht benachteiligt werden. Etwaige Zweifel und Bedenken des Notars sollen mit den Beteiligten erörtert werden. Die Tätigkeit eines Notars als Urkundsbeamter umfasst insofern eine umfassende Aufklärungs- und Beratungsverpflichtung der Beteiligten sowie die ausführliche Erörterung der tatsächlichen Rechtslage. 5. Die Voraussetzungen für die Übernahme des Amtes Die Voraussetzungen für die Übernahme des Amtes eines Notars sind in den §§ 4 – 7 BNotO normiert. Sie heben gemäß § 5 Abs. 1 BNotO sowohl auf die persön40 41

Vgl. Art. Notar (Anm. 37), S. 937. Vgl. Albrecht, Art. Notar (Anm. 33) sowie Art. Form (Anm. 36), S. 484.

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liche als auch auf die fachliche Eignung ab. Kriterien für eine fehlende persönliche Eignung lassen sich § 5 Abs. 2 BNotO entnehmen. Die fachliche Eignung setzt gemäß § 5 Abs. 5 BNotO zwingend voraus, dass die Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz erworben wurde.42 Notarstellen müssen gemäß § 4 a BNotO zur Bewerbung ausgeschrieben werden. Wer sich erfolgreich auf die Stelle eines hauptberuflichen Notars bewerben will, muss bei Ablauf der Bewerbungsfrist einen dreijährigen Anwärterdienst als Notarassessor geleistet haben und sich im Anwärterdienst des Landes befinden, in dem er sich um die Bestellung bewirbt. Der Anwärterdienst wird in § 7 BNotO näher geregelt. Für Anwaltsnotare gilt gemäß § 5 b BNotO, dass sie mindestens fünf Jahre in nicht unerheblichem Umfang für verschiedene Auftraggeber rechtsanwaltlich tätig gewesen sein müssen und dass sie ihre Tätigkeit seit mindestens drei Jahren ohne Unterbrechung in dem vorgesehenen Amtsbereich ausgeübt haben. Bewerber für ein Anwaltsnotariat müssen zudem die notarielle Fachprüfung im Sinne der §§ 7 a–c BNotO erfolgreich absolviert haben. Die Auswahl der Notare erfolgt gemäß § 6 BNotO nach dem Prinzip der Bestenauslese. Demnach richtet sich die Reihenfolge bei der Auswahl nach der persönlichen und fachlichen Eignung unter Berücksichtigung der die juristische Ausbildung abschließenden Staatsprüfung und der bei der Vorbereitung auf den Notarberuf erbrachten Leistungen. III. Der Vergleich zwischen den beiden Ämtern Das Amt des Notars ist sowohl in der kirchlichen Rechtsordnung als auch im deutschen Zivilrecht als obligatorisches Amt vorgesehen. Kirchliche Notare haben ein Kirchenamt inne, staatliche Notare sind Träger eines öffentlichen Amtes.43 Nach der kirchlichen Rechtsordnung können Notare sowohl im außergerichtlichen als auch im gerichtlichen Bereich tätig sein, wobei die gerichtliche Tätigkeit der Notare sogar einen gewissen Schwerpunkt bildet. Staatliche Notare hingegen sind der vorsorgenden Rechtspflege und nicht der streitigen Gerichtsbarkeit zugeordnet. Die vorsorgende Rechtspflege durch Notare wird in der kirchlichen Rechtsordnung nicht thematisiert. Kirchliche Notare können einen mehr oder weniger umfassenden Zuständigkeitsbereich haben und sogar nur für einzelne zu behandelnde Fälle bestellt werden. Staatliche Notare hingegen sind immer für alle Notarsaufgaben zuständig, die in ihrem Amtsbereich anfallen. Während kirchliche Notare ihren Dienst in der Regel neben anderen Diensten und Aufgaben verrichten, sind staatliche Notare ausschließlich und hauptberuflich als Notare tätig.

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Vgl. Art. Notar (Anm. 37), S. 936. Vgl. Thomas Holzner, Art. Amt – Staatlich, in: LKRR I, S. 106 – 108 sowie Thomas Meckel, Art. Amt – Katholisch, ebd., S. 108 – 111. 43

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Kirchliche Notare werden vom jeweiligen Diözesanbischof frei, also ohne Mitwirkungsrechte Dritter ernannt, staatliche Notare werden von der Landesjustizverwaltung nach Anhörung der Notarkammer bestellt; dem geht die Ausschreibung der entsprechenden Notarstelle zur Bewerbung voraus. Der Diözesanbischof ist frei, so viele Notare zu ernennen, wie er für nötig hält, während die Landesjustizverwaltung so viele und nur so viele Notare bestellt, wie es den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege entspricht. Die Zahl der Notare entspricht den Amtsgerichtsbezirken. Kirchliche Notare können auf bestimmte oder auf unbestimmte Zeit ernannt werden. Sie können jederzeit vom zuständigen Diözesanbischof ihres Amtes enthoben werden und genießen insofern hinsichtlich ihrer Amtszeit keinen Rechtsschutz. Staatliche hauptberufliche Notare werden auf Lebenszeit bestellt, Anwaltsnotare werden für die Dauer ihrer Mitgliedschaft bei der für den Gerichtsbezirk zuständigen Rechtsanwaltskammer bestellt. Das Amt eines staatlichen Notars erlischt durch Entlassung aus dem Amt, durch das Erreichen der Altersgrenze, durch den Tod des Amtsinhabers, durch Amtsniederlegung, Wegfall der Mitgliedschaft in einer Rechtsanwaltskammer im Fall eines Anwaltsnotars, oder durch eine rechtskräftige strafgerichtliche oder disziplinarrechtliche Verurteilung. Kirchliche Notare müssen vor allem Akten und Urkunden über alle Vorgänge anfertigen, die ihre Mitwirkung erfordern, sie müssen Protokolle und Niederschriften von rechtlich relevanten Handlungen anfertigen und diese unterschreiben, und sie müssen Akten oder Urkunden herausgeben, gegebenenfalls Abschriften anfertigen und deren Übereinstimmung mit dem Original durch ihre Unterschrift beglaubigen. Staatliche Notare sind dafür zuständig, Beurkundungen jeder Art vorzunehmen, Unterschriften zu beglaubigen und Bescheinigungen auszustellen, wobei sie sich vorher durch entsprechende Einsichtnahme Gewissheit verschaffen müssen. Ihre Aufgabe ist auch die sonstige rechtspflegerische Betreuung der Beteiligten, insbesondere die Anfertigung von Urkundenentwürfen und die rechtliche Beratung. Während staatliche Notare dazu verpflichtet sind, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Amtsführung zu wahren, fehlt eine entsprechende Verpflichtung für die kirchlichen Notare. Die Unterschrift eines kirchlichen Notars macht eine Akte zur öffentlichen kirchlichen Urkunde, die öffentlichen Glauben genießt und volle Beweiskraft für alles erbringt, was in ihr direkt und hauptsächlich bekundet wird. Eine von einem staatlichen Notar errichtete Urkunde ist ebenfalls eine öffentliche Urkunde, die den vollen Beweis für den beurkundeten Vorgang erbringt. Die Tätigkeit des staatlichen Notars als Urkundsbeamter beinhaltet allerdings eine vorgängige umfassende Aufklärungsund Beratungsverpflichtung der Beteiligten sowie die ausführliche Erörterung der tatsächlichen Rechtslage. Für den kirchlichen Notar wird lediglich eine persönliche Eignung verlangt; demnach muss die betreffende Person unbescholten und über jeden Verdacht erhaben sein. Für den staatlichen Notar wird neben der persönlichen Eignung insbesondere

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eine hohe fachliche Eignung verlangt, welche die Befähigung des Bewerbers zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz einschließt. Die Auswahl von Bewerbern um ein Notarsamt folgt dem Prinzip der Bestenauslese. Ergebnis Das Amt eines kirchlichen Notars ist nur sehr begrenzt mit dem Amt eines Notars nach staatlichem Recht vergleichbar. Beide Ämter haben als gemeinsames Kennzeichen, dass es sich jeweils um obligatorische Ämter handelt; Notare sind in beiden Rechtsordnungen für die Ausfertigung öffentlicher Urkunden unverzichtbar. Der größte Unterschied zwischen beiden Ämtern ist in den Voraussetzungen zu erkennen, die für die Übernahme des Amtes eines Notars gefordert werden. So wird für den kirchlichen Notar keinerlei kirchenrechtliche Qualifikation gefordert, weder im Sinne einer qualifizierten Ausbildung noch im Sinne einer wirklichen Erfahrung. Insofern verwundert es nicht, dass dem kirchlichen Notar keine rechtliche Informations-, Aufklärungs- und Beratungspflicht auferlegt ist. Auch die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit kirchlicher Notare und Notarinnen ist nicht von Rechts wegen gewährleistet: Sie üben ihre Notarstätigkeit in der Regel nicht ausschließlich und hauptberuflich aus, sondern neben anderen Tätigkeiten; oft handelt es sich um Sekretäre oder Sekretärinnen von Bischöfen oder Generalvikaren, oder um andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Diözesankurie, die in einem dienstlichen Abhängigkeitsverhältnis zu den Urhebern oder Initiatoren kirchlicher Urkunden stehen und ihren Weisungen unterstellt sind. Insofern ist es nur schwer vorstellbar, dass ein kirchlicher Notar seinen hierarchisch Vorgesetzten in rechtlicher Hinsicht korrigiert oder aufgrund rechtlicher Bedenken eine Beurkundung verweigert; zudem könnte der Obere mit der Beauftragung oder Ernennung eines anderen Notars solche Bedenken rasch überwinden. Auch hinsichtlich der Dauer ihrer Amtszeit unterliegen kirchliche Notare und Notarinnen keinerlei Schutz. Öffentliche, von einem kirchlichen Notar unterzeichnete Urkunden geben als solche noch keine Garantie für die sachliche Richtigkeit eines Rechtsaktes und für die Konformität mit dem geltenden Recht ab, weil der kirchliche Notar für eine entsprechende Prüfung weder zuständig ist noch nach Ausweis der kirchlichen Rechtsordnung dafür befähigt sein muss. Beim Kirchenamt des Notars beziehungsweise der Notarin handelt es sich um ein Amt mit klar erkennbaren Defiziten. Im Interesse der Förderung einer kirchlichen Rechtskultur44 und der vorsorgenden Rechtspflege ist insbesondere für eine sehr gute und umfassende kirchenrechtliche Qualifikation der kirchlichen Notare und Notarinnen zu plädieren sowie für einen wirksamen strukturellen und rechtlichen Schutz ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, denn: „Eine Kirche der Rechts-

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Vgl. Thomas Meckel, Art. Rechtskultur – Katholisch, in: LKRR III, S. 791 – 792.

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kultur drängt darauf, Willkür zu verhindern“ und „setzt selbstverständlich die Kenntnis des Kirchenrechts … voraus.“45

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Ebd., S. 792. – Die Abkürzungen im Zitat wurden aufgelöst.

Überblick über das Partikularrecht der Diözese Linz im Jahr 2022 Christoph Lauermann In diesem Artikel soll ein kurzer Überblick über die Regelungsmaterien geboten werden, wie sie im Partikularrecht der Diözese Linz seit der Diözesansynode 1970 – 1972 normiert wurden. Dabei folgt die Darstellung weitgehend der thematischen Gliederung des CIC 1983.1 Severin Lederhilger OPraem ist als ordentlicher Professor für Kirchenrecht an der KU Linz (ab 1993) und vor allem auch in seiner Tätigkeit als kirchlicher Verwaltungsjurist (Rechtsreferent im Bischöflichen Ordinariat ab 1991) und Generalvikar (ab 2005) seit vielen Jahren an der Gestaltung der Gesetze maßgeblich beteiligt. Die Darstellung folgt einer vorangegangenen systematischen Zusammenstellung des Partikularrechts der Diözese Linz durch den Autor dieses Artikels im Jahr 20132, aktualisiert diese und erläutert dazu manche Hintergründe. Auf diese Weise wird am Beispiel der Diözese Linz exemplarisch Einblick in den Normenbestand des Partikularrechts einer österreichischen Diözese im Jahr 2022 geboten. Nachdem es im Partikularrecht der Diözese Linz keine Ausführungsbestimmungen zu den Allgemeinen Normen im ersten Buch des CIC/1983 gibt, fängt diese Übersicht mit der Entsprechung zum zweiten Buch des CIC über das Volk Gottes an und bietet einen Einblick in die „Statutensammlung“ der Diözese Linz. I. „Statutensammlung“ der Diözese Linz Bei den statutarischen Bestimmungen kann zwischen den Regelungsebenen unterschieden werden, die sich vor allem in territorialer Hinsicht auf Diözese, Dekanate 1

Die zitierten Bestimmungen sind im Wesentlich im Amtsblatt der Diözese Linz, dem Linzer Diözesanblatt, veröffentlich. Sämtliche Ausgaben seit 1973 sind einsehbar unter www. dioezese-linz.at/dioezesanblatt [Zugriff: 04. 12. 2022]. Die Zitation folgt dem Aufbau: LDBl. [als Abkürzung für Linzer Diözesanblatt] [Jahrgang]/[Ausgabe], [Veröffentlichungsjahr], Art. [fortlaufende Artikelzählung im laufenden Jahrgang]. Die Normen der Österreichischen Bischofskonferenz sind im Amtsblatt der Österreichischen Bischofskonferenz veröffentlicht. Sämtliche Ausgaben sind einsehbar unter https://www.bischofskonferenz.at/publikationen/ amtsblatt [Zugriff: 04. 12. 2022]. Die Zitation folgt dem Aufbau: ABlÖBK [als Abkürzung für Amtsblatt der Österreichischen Bischofskonferenz] [Nummer der Ausgabe], [Veröffentlichungsjahr], S. [Seitenzahl der Ausgabe]. 2 Nur online veröffentlicht; derzeit nicht abrufbar.

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und Pfarren beziehen. Dabei wird auf jeder Ebene die rechtliche Organisation der Körperschaften durch die Zuständigkeiten von Gremien ergänzt. 1. Aufbauorganisation auf Ebene der Diözese Während sich wesentliche Bestimmungen zur „Verfassung“ der Diözesen aus den Bestimmungen des universalen Kirchenrechts ergeben, wobei hier insbesondere an Normen über die Diözesanbischöfe (cc. 381 ff. CIC/1983) und die innere Ordnung der Teilkirchen (cc. 460 ff. CIC/1983) zu denken ist, bietet das einschlägige Partikularrecht vor allem eine Klärung jener Aufgaben und Zuständigkeiten auf kurialer Ebene, die das Universalrecht so nicht kennt oder ausdrücklich zuordnet. In der Diözese Linz war im Beobachtungszeitraum die Strukturierung der Aufbauorganisation in fünf „Ämter“ (Caritas, Diözesanfinanzkammer, Ordinariatsamt, Pastoralamt, Schulamt) vorherrschend, welche sich – mit Ausnahme der Caritas der Diözese Linz – aus Referaten im Bischöflichen Ordinariat entwickelt haben. Jüngst wurde diese „Ämterstruktur“ durch die Dienststelle „Diözesanen Dienste“ abgelöst (vgl. das Dekret über die Errichtung der Dienststelle Diözesane Dienste; LDBl. 168/ 5, 2022, Art. 45).3 Das zitierte Errichtungsdekret enthält auch Bestimmungen zum Übergang der Struktur, welche mit 1. 1. 2023 abgeschlossen sein soll. Das unter der Bezeichnung „Seelsorgeamt“ im Jahr 1939 gegründete „Pastoralamt der Diözese Linz“ erfuhr im Beobachtungszeitraum mehrere Statutenänderungen, die aber nie im Linzer Diözesanblatt veröffentlicht wurden. Diese Tradition geht bis zur Errichtung des Seelsorgeamts zurück, deren Promulgation lediglich in Form einer dreizeiligen Errichtungsnotiz (LDBl. 85/11, 1939, Art. 138) erfolgte. Hintergrund dürften die pastoralen Ziele und Aufgaben der Einrichtung sein, für deren Erfüllung eine normierte und promulgierte Zuständigkeit im Großen und Ganzen rechtlich nicht erforderlich ist. Die Aufgaben und Zusammenarbeit der einzelnen Abteilungen sind in internen Dokumenten und Vereinbarungen gut beschrieben, die jedoch nicht im Amtsblatt veröffentlicht sind. Die Information der Gläubigen und der Menschen in Oberösterreich über Angebote und Zuständigkeiten erfolgt durch direkte Kommunikation der zuständigen Abteilungen mit ihrer jeweiligen Zielgruppe. Dem Pastoralamt angeschlossen sind auch rechtlich unselbständige Einrichtungen, die über eigene Statuten und einen selbständigen Außenauftritt verfügen, wie z. B. die Katholische Hochschulgemeinde, verschiedene Bildungshäuser oder die Kirchenzeitung der Diözese Linz.

3 Die neue Aufbauorganisation sieht vor, dass es neben dem Diözesanbischof und den im universalen Kirchenrecht geregelten Funktionen (Weihbischöfe [gibt es in der Diözese Linz derzeit nicht], Generalvikar, Bischofsvikare, Ökonom/in, Ordinariatskanzler/n) auch die Dienstelle Diözesane Dienste gibt, die aus sieben Bereichen besteht (Pfarre & Gemeinschaft, Seelsorge & Liturgie, Soziales & Caritas, Verkündigung & Kommunikation, Bildung & Kultur, Personal & Qualitätsmanagement, Finanzen & Verwaltung) und von einer Leitungskonferenz geleitet wird, deren Mitglieder auch Teil der Diözesankurie sind.

Überblick über das Partikularrecht der Diözese Linz im Jahr 2022

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Anders verhält es sich bei der im selben Jahr errichteten „Diözesan-Finanzkammer Linz (Donau)“ (LDBl. 85/17, 1939, Art. 208), die im Beobachtungszeitraum drei maßgebliche Statutenänderungen erfuhr (1988, 2004, 2015) und bis zum 31. 12. 2022 als „Finanzkammer der Diözese Linz“ firmiert (LDBl. 161/5, 2015, Art. 36). Da Zuständigkeitsfragen der einzelnen Abteilungen und Referate rechtliche Folgen implizieren können, werden auch immer die Geschäftsordnungen der Finanzkammer im Amtsblatt veröffentlicht. Zwischenzeitlich kam es immer wieder zu Regelungen strittiger rechtlicher Zuordnungsfragen (z. B.: Aufgabenabgrenzung zwischen Finanzdirektor, Ökonom, Controlling und Revision; LDBl. 145/4, 1999, Art. 30), die anschließend sinnvollerweise in Novellierungen des Statuts übernommen wurden. Im Jahr 1973 wurde das „Schulamt der Diözese Linz“ errichtet (LDBl. 119/9, 1973, Art. 86), das als „Bischöfliches Schulamt der der Diözese Linz“ im Jahr 2017 ein neues Statut (LDBl. 163/3, 2017, Art. 25) erhielt. Es wird mit Jänner 2023 zwar in die neue Organisationsstruktur der Diözesanen Dienste eingegliedert, besteht aber als inhaltlich ausschließlich dem Bischof gegenüber weisungsgebundene Einrichtung statutenkonform weiter. Das Schulamt vertritt zugleich die Diözese als Schulerhalter der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz (samt den ihr angeschlossenen „Übungsschulen“) und des Adalbert-Stifter-Gymnasiums in Linz (Oberstufenrealgymnasium der Diözese Linz), aber auch des Konservatoriums für Kirchenmusik. Eine besondere rechtliche Bewandtnis hat es mit der „Caritas der Diözese Linz“. Diese aus dem „Karitasverband für Oberösterreich“ hervorgegangene Organisation wurde im Jahr 1946 gegründet (LDBl. 92/1, 1946, Art. 7). Dabei wurde sie vom Diözesanbischof zwar mit eigener kanonischer Rechtspersönlichkeit errichtet (und durch die Hinterlegung der Errichtungsurkunde beim staatlichen Kultusamt zur Körperschaft Öffentlichen Rechts), aber zugleich als zuständige Stelle der Diözese konzipiert, welche für das „caritative Leben und Schaffen der Diözese“ verantwortlich ist (Art. I leg. cit). Seit der Statutenänderung 1986 wird sie explizit als „Teil der Bischöflichen Kurie“ bezeichnet (Art. I des Statuts der Caritas der Diözese Linz, LDBl. 132/ 7, 1986, Art. 78). Aus diesem Grund wurde die Caritas der Diözese Linz in den meisten Aufzählungen auch als „Amt“ im Sinne der in den vorigen Absätzen aufgezählten Einrichtungen dargestellt. Im Berichtszeitraum hat es vier große Statutenänderungen gegeben (1986, 1996, 2000, 2021/2022) wobei die Caritas aktuell aus fünf selbständigen kirchlichen Rechtspersonen besteht, denen im staatlichen Recht jeweils der Status einer Körperschaft Öffentlichen Rechts zukommt (Caritas der Diözese Linz, Caritas Oberösterreich, Caritas für Kinder und Jugendliche, Caritas für Menschen in Not, Caritas social business Oberösterreich; LDBl. 167/7, 2021, Art. 52 ff. i. V. m. LDBl. 168/1, 2022, Art. 8). Im Sinne der Kontinuität werden die Rechtspersonen der Caritas – unter Beibehaltung der rechtlichen Selbständigkeit – mit 1. 1. 2023 in die Diözesanen Dienste eingegliedert. Daneben gibt es eine Reihe von weiteren Dienststellen, die nie als eigenes Amt gegründet wurden, sondern immer dem Bischöflichen Ordinariat zugeordnet blie-

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ben; hier wäre z. B. das 1992 errichtete Institut Pastorale Fortbildung zu nennen, das als einzige dieser Dienststellen statutarisch geregelt war (LDBl. 137/10, 1991, Art. 92), aber z. B. auch das Kommunikationsbüro der Diözese oder verschiedene Stabstellen mit unterschiedlichem Auftrag. Aufgrund dieser und anderer Zuständigkeiten wurde auch das „Bischöfliche Ordinariat“ als „Amt“ bezeichnet, gleichwohl es als solches über kein Statut verfügte. Mit dem Dekret über die Errichtung der Dienststelle Diözesane Dienste; LDBl. 168/5, 2022, Art. 45, wird diese Struktur nun formal aufgehoben und geklärt, dass es sich beim „Bischöflichen Ordinariat“ um die Dienststellenbezeichnung der Diözesankurie insgesamt handelt. Zum Bischöflichen Ordinariat gehörte auch die „Personalstelle für Pastorale Dienste“, die 1996 errichtet wurde (LDBl. 142/9, 1996, Art. 76), und deren Statut zuletzt 2013 novelliert wurde (LDBl. 159/6, 2013, Art. 52). Die Personalstelle umfasste sowohl die Personalzuständigkeit für Priester als auch die für Laien in der Seelsorge. Da die Leitung dieser Einheit immer dem Generalvikar zukam, wurde sie allerdings nicht als eigenes Amt gegründet und wird nunmehr den Diözesanen Diensten eingegliedert. Die Katholische Aktion sowie ihrer Gliederungen sind wichtige Akteurinnen bei vielen pastoralen Aktivitäten. Da sie in der Diözese Linz über keine Rechtspersönlichkeit verfügen, sind sie rechtlich als Bestandteil anderer kirchlicher Strukturen (Diözese und Pfarren) zu sehen. Sie gelten dabei als Verwirklichung eines Organisationsprinzips, das die breite Beteiligung der Gläubigen auf Ebene der Diözese und der Pfarren ermöglicht und rechtlich diesen zugeordnet ist. Auf Statutenänderungen wurde immer wieder im Linzer Diözesanblatt hingewiesen (zuletzt: LDBl. 164/6 2018, Art. 50), Statutentexte selbst wurden im Berichtszeitraum aber nie veröffentlicht. Neben dem organisationalen Aufbau der Diözese sind auch die Kompetenzen und die Zusammensetzung der diözesanen Gremien von zentraler Bedeutung für die Diözese und werden daher regelmäßig partikularrechtlich geregelt und im Linzer Diözesanblatt promulgiert: Die Statuten für den gem. c. 495 CIC/1983 vorgesehenen Priesterrat wurden im Beobachtungszeitraum viermal novelliert (1976, 1985, 1998, 2008; derzeit geltende Fassung: LDBl. 154/3, 2008, Art. 32), die des gem. c. 512 CIC/1983 ebenfalls vorgesehenen (Diözesan-)Pastoralrats fünfmal (1973, 1978, 1999, 2003, derzeit geltende Fassung: LDBl. 158/6, 2012, Art. 47). Der gem. c. 492 CIC/1983 einzurichtende (Diözesan-)Vermögensverwaltungsrat wurde zuletzt 1998, unter der Bezeichnung „Diözesaner Wirtschaftsrat“, konstituiert (LDBl. 144/10, 1998, Art. 90). Bis dahin waren dessen laut CIC/1983 verpflichtenden Aufgaben und Befugnisse dem bereits vor 1984 bestehenden Diözesankirchenrat übertragen worden (LDBl. 130/2, 1984, Art. 27), der erstmals im Jahr 1944 errichtet wurde (LDBl. 90/5, 1944, Art. 46). Das Statut des Diözesanen Wirtschaftsrats wurde einmal novelliert (LDBl. 159/7, 2013, Art. 61) und zuletzt hinsichtlich der Zuständigkeit für Agenden der Rechtsträger der Caritas ergänzt (LDBl. 168/1, 2022, Art. 4). Wie in allen österreichischen Di-

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özesen sind die Aufgaben des Konsultorenkollegiums gem. c. 502 CIC/1983 dem Domkapitel übertragen (vgl. Dekret über Domkapitel – Konsultorenkollegium; ABlÖBK 1, 1984, S. 6), dessen Statut seit 1973 zweimal novelliert wurde (1985, derzeit geltende Fassung LDBl. 151/1, 2005, Art. 3). Neben den Sitzungen des Konsultorenkollegiums findet zehnmal im Jahr ein Erweitertes Bischöfliches Konsistorium statt, an dem neben den Mitgliedern des Domkapitels auf Einladung des Bischofs auch weitere Personen (Generalvikar, Bischofsvikare, Leitungen der Diözesanen Ämter, Vertreterinnen und Vertreter bestimmter Gremien und der Katholischen Aktion) teilnehmen, für das es aber weder Statut noch Geschäftsordnung gibt. Weitere Gremien – deren geschäftsführende Vorsitzende auch im Erweiterten Konsistorium vertreten sind – sind die Dechantenkonferenz, die Diözesane Frauenkommission sowie der Bischöfliche Rat für das Ständige Diakonat. Die Zusammensetzung und Aufgaben der Dechantenkonferenz sind im Abschnitt V des Statuts für Dechanten geregelt. Dieses Statut ist ebenso wie das Statut der Frauenkommission zwar früher im Linzer Diözesanblatt abgedruckt worden, neuere Fassungen wurden aber nicht mehr promulgiert. Das ist beim Bischöflichen Rat für das Ständige Diakonat anders, das jeweils in seiner geltenden Fassung im Linzer Diözesanblatt veröffentlicht wurde (zuletzt LDBl. 164/2, 2018, Art. 18). Die Gründe für diese Unterscheidung dürften weniger in rechtlichen Überlegungen, als in der jeweiligen Redaktionslinie des Amtsblatts zum Veröffentlichungszeitpunkt liegen. Neben diesen Gremien, bei denen vor allem der Gedanke der Partizipation und Synodalität im Vordergrund steht, gibt es eine Reihe von Gremien, die in erster Linie mit Expertinnen und Experten besetzt sind und zur Beratung und Unterstützung in Sachfragen eingesetzt sind, vor allem: das strategisch entscheidende Bautenkomitee (LDBl. 156/8, 2010, Art. 74) und der fachlich beratend und prüfende Bauausschuss (LDBl. 156/8, 2010, Art. 75), die Kirchenmusik-Kommission (zuletzt LDBl. 164/4, 2018, Art. 38), die Liturgiekommission (zuletzt LDBl. 151/4, 2005, Art. 52), die Ökumenische Kommission (zuletzt LDBl. 154/1, 2008, Art. 3), die Orgelkommission (zuletzt LDBl. 165/4, 2019, Art. 26) die Erhalterkonferenz der kirchlichen Kindertageseinrichtungen der Diözese Linz (LDBl. 161/3, 2015, Art. 24, § 8 ff.) sowie die Diözesane Kommission gegen Missbrauch und Gewalt, deren Zusammensetzung und Arbeitsweise österreichweit von der Bischofskonferenz geregelt ist (promulgiert und in Kraft gesetzt in LDBl. 168/2 2022, Art. 16). Weiters gibt es auch gremial konstituierte Beschwerde- und Appellationsinstanzen: Die Kirchliche Rechtsstelle in Kirchenbeitragsangelegenheiten wurde 1955 gegründet, ihr Statut seit Erlass der Rechtsstellen-Ordnung (LDBl. 101/14, 1955, 148) nicht verändert. Öfters verändert wurde das Statut der 1974 gegründeten Schlichtungs- und Schiedsstelle der Diözese Linz (1977, 2006, derzeit geltenden Fassung LDBl. 159/7, 2013, Art. 62) sowie der Diözesane Ombudsstelle gegen Missbrauch und Gewalt, deren Aufgabe und Zusammensetzung für die Katholische Kirche in Österreich normiert ist, die aber auf Diözesanebene promulgiert und in Kraft gesetzt ist (zuletzt LDBl. 168/2 2022, Art. 16).

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2. Aufbauorganisation auf Ebene des Dekanats und der Pfarre Derzeit ist in der Diözese Linz gerade eine Reform der Pfarrstruktur der Diözese Linz im Gange, an deren Ende die Reduktion der Anzahl an Pfarren von 486 auf 39 stehen soll. Dazu wurde von Bischof Scheuer am 4. Mai 2021 eine „Ordnung der Pfarren in der Diözese Linz“ (LDBl. 167/3, 2021, Art. 23) erlassen, welche – im Einklang mit den Bestimmungen cc. 515 ff. CIC/1983 – das Leitungsmodell dieser Pfarren neuen Typs normiert und auch Bestimmungen zum Übergang beinhaltet. Während das genannte Diözesangesetz den rechtlichen Bogen für die neuen Pfarren spannt, ist für die Fusion der Pfarren jeweils ein begründetes Einzeldekret pro bestehender Pfarre erforderlich (§1 leg. cit). Dies entspricht auch den Vorgaben der Instruktion der Kleruskongregation „Die pastorale Umkehr der Pfarrgemeinde im Dienst an der missionarischen Sendung der Kirche“ aus dem Jahr 2020. Die ersten 51 dieser Einzeldekrete wurden von Bischof Scheuer am 18. Oktober 2022 erlassen und in LDBl. 168/6, 2022, Art. 49 ff. veröffentlicht. Die Umsetzung der neuen Pfarrstrukturen in zunächst fünf neuen (fusionierten) Pfarren ist damit ab 1. Jänner 2023 rechtlich in Kraft gesetzt. Die Umstellung aller weiteren Pfarren soll insgesamt sechs Jahre dauern. Mit der vollständigen Umsetzung der Pfarrreform endet auch die gem. c. 374 §2 CIC/1982 fakultative Unterteilung der Diözese in Dekanate, die bis zu diesem Zeitpunkt für die Pfarren traditionellen Typs weiter bestehen bleiben. Die Zuständigkeit der Dekanate ergibt sich vor allem aus den Amtspflichten des jeweils zuständigen Dechants, die jeweils – in Ausführung zu c. 555 CIC/1983 – in einem Statut für Dechanten geregelt sind. Dieses gehört zu den im Beobachtungszeitraum am häufigsten novellierten Rechtstexten (1979, 1987, 1993, 1998, 2007, 2008, 2015, 2017, 2018, 2019), wobei der gesamte Text zuletzt in LDBl. 154/6, 2008, Art. 67 abgedruckt wurde und danach nur mehr Änderungen verlautbart wurden (LDBl. 161/6, 2015, Art. 47; LDBl. 163/6, 2017, Art. 48; LDBl. 164/6, 2018, Art. 48; LDBl. 165/2, 2019, Art. 5). Das ist aus Sicht der Rechtsanwendung insofern problematisch, als der aktuelle Gesamttext auf diese Weise nicht in einer authentischen Fassung veröffentlicht wurde und jeweils rekonstruiert werden muss. Im Statut für Dechanten sind auch die Bestimmungen zur Pastoralkonferenz (Nr. 24 leg. cit.), das ist das Treffen des Klerus und der hauptamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorger im Dekanat, sowie der Dechantenkonferenz (Nr. 50 ff. leg. cit.) als Treffen aller Dechanten, zu finden. Die Arbeit des 1978 erstmals errichtete Dekanatsrats ist aktuell im Statut LDBl. 163/2, 2017, Art. 19 geregelt. Im Unterschied zur Pastoralkonferenz treffen sich im Dekanatsrat vor allem auch Vertreterinnen und Vertreter der Gläubigen aus den Pfarren, um Initiativen auf Dekanatsebene zu vereinbaren. Das Amt der Dekanats- und Regionalkämmerer/innen wurde 1979 zur Unterstützung des Dechants bei der Aufsicht über die Vermögensverwaltung der Pfarren eingerichtet (vgl. zuletzt: Statut für Dekanats- und Regionalkämmerer, LDBl. 153/5, 2007, Art. 43), allerdings seit den 2010er Jahren nicht mehr besetzt, da die damit verbundenen Aufgaben, z. B. bei

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Nachschauen oder Temporalienübergaben, nunmehr von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Diözese wahrgenommen werden. Auf Ebene der Pfarre wurde aufgrund des Beschlusses der Zweiten (Diözesan-) Synodenvollversammlung vom 24.–26. Oktober 1970 von Bischof Zauner eine „Pfarrgemeinderatsordnung“ promulgiert (LDBl. 117/3, 1971, Art. 32), welche die flächendeckende Einführung eines Pfarrgemeinderats in allen Pfarren anordnet. Für dieses Gremium wurde dann mit 1. Dezember 1972 auch „Statut, Geschäfts- und Wahlordnung für den Pfarrgemeinderat“ erlassen (LDBl. 118/12, 1972, Art. 96). Nach einer Novelle 1976 (LDBl. 112/12, 1976, Art. 161) und der Verankerung solcher pfarrlichen Pastoralräte in c. 536 CIC/1983 fand dann 1987 eine Wiederverlautbarung dieser Statuten und Ordnungen mit „redaktionellen Änderungen“ statt, die teilweise jedoch auch inhaltliche Neuerungen brachten. Weitere Änderungen in den Jahren 1991, 1997 und 2001 erfolgten dann in Form von einfachen Hinweisen im Diözesanblatt, der gesamte Text des Statuts sowie der Geschäfts- und Wahlordnung wurde 2016 unter Berücksichtigung dieser und weiterer Änderungen wiederverlautbart (LDBl. 162/5, 2016, Art. 46 ff.). Dies ist heute für jene Pfarren, die (noch) nicht der Ordnung der Pfarren in der Diözese Linz unterliegen, das gültige Statut des Pfarrgemeinderates, während für die Pfarren „neuen Typs“ das Statut des Pfarrlichen Pastoralrats (LDBl. 167/3, 2021, Art. 24) einschlägig ist. Da diese neuen Pfarren aus mehreren Pfarrteilgemeinden (für die laut § 8 Ordnung der Pfarren die Bezeichnung „Pfarrgemeinden“ zulässig ist) bestehen, ist für diese räumlich untergeordnete Ebene ein Pfarrgemeinderat vorgesehen, für den auch ein Statut des Pfarrgemeinderats veröffentlicht ist (LDBl. 167/3, 2021, Art. 25). Dieses steht insbesondere hinsichtlich der Zusammensetzung des Gremiums in der Tradition des bisherigen Statuts des Pfarrgemeinderats, während der Pfarrliche Pastoralrat und sein Statut die Pfarre neuen Typs als größeren Handlungsraum pfarrlicher Seelsorge im Blick haben. Der Pfarrkirchenrat wurde in der Diözese Linz mit 1. Mai 1939 als pfarrliches Organ der Aufsicht und kirchlichen Vermögensverwaltung eingeführt (LDBl. 85/ 8, 1939, Art. 96). 1976 fand dann eine Synchronisation dieses Gremiums mit dem neu geschaffenen Pfarrgemeinderat statt, wie sie im Statut für den Pfarrkirchenrat – Fachausschuß für Finanzen des Pfarrgemeinderats [sic!] (LDBl. 124/1, 1978, Art. 4) ihren Niederschlag fand. Dabei wird betont, dass der Pfarrkirchenrat als „Fachausschuss besonderer Art“ vom Diözesanbischof mit der Verwaltung des pfarrlichen Vermögens im Sinn von c. 1519/CIC 1917 betraut ist. In der Novelle des Statuts 1996 wird dann schon die novellierte universalkirchliche Rechtsgrundlage Grundlage des c. 537 CIC/1983 rezipiert und die Natur des „Fachausschuß für Finanzen des Pfarrgemeinderats (Finanzausschuß, bisher Pfarrkirchenrat)“ als pfarrlicher Vermögensverwaltungsrat normiert (LBDl. 142/8, 1996, Art. 69). Nach mehreren kleinen Novellen in den Jahren 2001 und 2002 erfolgte 2007 eine größere Novelle, die auch zu einer Wiederverlautbarung des ganzen Statuts des Fachausschußes für Finanzen des Pfarrgemeinderats (Finanzausschuss) führte (LDBl. 153/2, 2007,

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Art. 13). Die Bezeichnung „Pfarrkirchenrat“ ist in diesem Dokument verschwunden, der Hinweis auf die „Besonderheit“ des Fachausschusses in §1 leg. cit. aber erhalten geblieben. Damit ist auch die Unterscheidung zwischen diesem Gremium als Vermögensverwaltungsrat im Sinn von c. 537 CIC/1983 und dem Pfarrgemeinderat als Pastoralrat im Sinn von c. 536 CIC/1983 gewahrt. Im Zuge der Reform der Pfarrstruktur der Diözese Linz werden die Aufgaben des pfarrlichen Vermögensverwaltungsrat auf den größeren Raum, das ist die „Pfarre neuen Typs“, angewendet und sind im Statut des Pfarrlichen Wirtschaftsrates (LDBl. 167/3, 2021, Art. 27) festgehalten. Das bedeutet, dass der pfarrliche Vermögensverwaltungsrat im Sinn von c. 536 CIC/1983 in den traditionellen Pfarren die Bezeichnung „Fachausschuss für Finanzen des Pfarrgemeinderats (Finanzausschuss)“ trägt, in den Pfarren neuen Typs aber die Bezeichnung „Pfarrlicher Wirtschaftsrat“. Das auch in Anlehnung an die Bezeichnung des Diözesanen Vermögensverwaltungsrates, der in der Diözese Linz als „Diözesaner Wirtschaftsrat“ firmiert. Besondere Erwähnung verdient auch die fakultative Etablierung von Seelsorgeteams, in denen Ehrenamtliche bei der Leitung der Pfarre im verstärkten Ausmaß beteiligt werden, wie es in der Rahmenordnung für die pfarrgemeindliche Leitung unter der Beteiligung eines ehrenamtlichen Seelsorgeteams (RO Seelsorgeteam) (LDBl. 162/4, 2016, Art. 38) geregelt ist. Die positiven Erfahrungen mit diesen Seelsorgeteams haben ihren Niederschlag in der neuen Ordnung der Pfarren in der Diözese Linz gefunden, in welcher Seelsorgeteams für alle Pfarren neuen Typs nun gem. §20 leg. cit. als „Regelfall“ vorgesehen sind. Auch genannt soll die erstmals 1994 promulgierte partikularrechtliche Umsetzung der Leitung einer Pfarre unter der Beteiligung von Laien gem. c. 517 §2 CIC/1983 werden, die aktuell in der Rahmenordnung für Pfarrmoderatoren und Pfarrassistent/inn/en (LDBl. 146/4, 2000, Art. 36) ihren Niederschlag findet. Im Unterschied zu den Seelsorgeteams handelt es sich bei den Pfarrassistentinnen und Pfarrassistenten um theologisch und pastoral ausgebildete hauptamtlich angestellte Seelsorgerinnen und Seelsorger. Da in der neuen Pfarrstruktur die Anzahl der Pfarren deutlich reduziert ist, wird in absehbarer Zukunft das Modell des c. 517 § 2 CIC/1983 allerdings nicht mehr zum Einsatz kommen. 3. Weitere selbständige kirchliche Einrichtungen in der Diözese Linz Neben selbständigen kirchlichen Rechtsträgern und Gemeinschaften auf Grundlage des universalen Kirchenrechts, hier ist vor allem an weltweit tätige Orden und Kongregationen zu denken, gibt es in der Diözese Linz auch eine ganze Reihe von diözesanrechtlich normierten Rechtsträgern, die hier kurz erwähnt werden sollen. Auffällig ist, dass die Statuten und Ordnungen der Institute Diözesanen Rechts im Sinn von c. 579 CIC/1983 zwar vom jeweiligen Diözesanbischof gegeben, aber nicht im Linzer Diözesanblatt veröffentlicht wurden. Es handelt sich dabei um die Schwestern der Hl. Elisabeth (Elisabethinen; gegründet 1745), die Marienschwestern vom

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Karmel (in dieser Form gegründet 1961), die Benediktinerinnen vom Unbefleckten Herzen Mariens (gegründet 1949) sowie die Kongregation der Franziskus-SeravicusSchwestern vom III. Orden des Hl. Franziskus (Franziskusschwestern; gegründet 1955). Der Grund dürfte darin liegen, dass die Ordnungen sehr detailliert auch das geistliche Selbstverständnis der Gemeinschaften darstellen und Gefahr besteht, dass sie vom Umfang her den Rahmen des Amtsblatts sprengen würden. Erwähnt werden soll auch das Kollegiatstift Mattighofen, das 2008 neu gegründet wurde (Hinweis in LDBl. 154/5, 2008, Art 51) Die Statuten der selbständigen frommen Stiftungen gem. c. 1303 §1 Nr. 1 CIC/ 1983, denen in Österreich als öffentliche kanonische Rechtspersonen qua Hinterlegung beim staatlichen Kultusamt der Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts zukommt, werden hingegen regelmäßig im Linzer Diözesanblatt veröffentlicht. Dies nicht zuletzt deshalb, damit auch allfälligen Geschäftspartnern die rechtlichen Vertretungsregelungen zugänglich sind. Es handelt sich dabei um die Bischof-RudigierStiftung zur Erhaltung des Mariä-Empfängnis Domes zu Linz (1985 gegründete, zuletzt geregelt in LDBl. 168/7, 2022, Art. 109), die Bischöfliche Arbeitslosenstiftung (1987 gegründet, zuletzt geregelt in LDBl. 133/8, 1987, Art. 62 i. d. F. LDBl. 157/3, 2011, Art. 30), die Diözesane Immobilien-Stiftung (1893 als Diöcesan-Hilfsfonds gegründet und zuletzt geregelt in LDBl. LDBl. 159/7, 2013, Art. 60), die Familienstiftung – Hilfsfonds der Katholischen Aktion Oberösterreich (2011 als selbständige juristische Person gegründet; zuletzt geregelt LDBl. 168/7, 2022, Art. 110) und die Frauenstiftung – Sozialfonds der Katholischen Frauenbewegung in Oberösterreich (2012 als selbständige juristische Person gegründet; vgl. LDBl. 159/1, 2013, Art. 3; nur Hinweis auf Statutenänderung). Dazu kommt – vom Stiftungszweck auf Ebene einer Pfarre angesiedelt – die St. Barbara Gottesacker-Stiftung, die den größten Friedhof in der Stadt Linz betreibt, deren Statut und Geschäftsordnung allerdings nicht im Linzer Diözesanblatt veröffentlicht wurden. Daneben gibt es eine ganze Reihe rechtlich unselbständiger frommer Stiftungen gem. c. 1303 §1 Nr. 2 CIC/1983, bei denen es sich nach kirchlichem und staatlichem Recht um keine juristischen Personen handelt und die daher anderen kirchlichen juristischen Personen rechtlich angeschlossen sind. Meist werden diese in der Diözese Linz als „Fonds“ bezeichnet (z. B. Fonds zur Förderung der Katholischen PrivatUniversität, Pensionsfonds der Diözese Linz, Bischöflicher Obdachlosenfonds, Osthilfefonds, Strukturfonds für Pfarren etc.). Ihre Statuten sind nur teilweise im Linzer Diözesanblatt veröffentlicht. Dazu kommen einige Messopferstiftungen aus der Zeit vor 1983, die heute meist von einer Pfarre oder der zentralen Pfründenverwaltung der Diözese mitverwaltet werden, um aus ihren Erträgen Messstipendien zu vergeben. Bei den kirchlichen Vereinen spielt die Unterscheidung in öffentliche Kirchliche Vereine gem. c. 312 ff. CIC/1983 und private Vereine von Gläubigen gem. c. 321 ff. CIC/1983 insofern eine Rolle, da nur Erstgenannte, qua Hinterlegung ihrer Statuten beim staatlichen Kultusamt, in Österreich als Körperschaft Öffentlichen Rechts anerkannt werden, während diese Anerkennung Letztgenannten als „privaten“ Einrich-

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tungen verwehrt ist. Sofern sie daher auch im staatlichen Bereich anerkannt sein wollen, sind sie auf eine zusätzliche Gründung als Verein nach dem staatlichen Vereinsgesetz angewiesen. Die Veröffentlichung der Statuten solcher unselbständiger kirchlicher Vereine diözesanen Rechts (dabei handelt es sich vor allem um Gebets- aber auch eine Vielzahl von Berufsgemeinschaften) ist im Linzer Diözesanblatt nur in Ausnahmefällen erfolgt. Veröffentlicht werden allerdings die Statuten öffentlicher Kirchlicher Vereine. Zu nennen sind hier der Öffentliche Kirchliche Verein Bildungshaus Greisinghof (zuletzt LDBl. 168/3, 2022, Art. 26), der Verein Bischöfliches Gymnasium Petrinum (zuletzt LDBl. 164/1, 2018, Art. 2), der Verein kirchlicher Kindertagesstätten in der Landeshauptstadt Linz (LDBl. 159/1, 2013, Art. 3; nur Hinweis auf Statutenänderung), der Verein für Linzer Diözesangeschichte (LDBl. 159/7, 2013, Art. 63; nur Hinweis auf das Statut) und das Welthaus der Diözese Linz (dessen Statut, zuletzt 2008 novelliert, nicht veröffentlicht wurde; ein Hinweis auf den rechtlichen Status findet sich in LDBl. 148/7, 2002, Art. 53). Neben diesen frommen Stiftungen und Vereinen gibt es noch drei weitere selbständige Rechtsträger im Einflussbereich der Diözese Linz. Einerseits ist das das Bischöfliche Priesterseminar, das kanonisch 1806 von Bischof Joseph Anton Gall errichtet wurde und dessen rechtliche Verfassung sich aus dem universalen Kirchenrecht, insbesondere c. 234 ff. CIC/1983, ergibt. Andererseits die Katholische Privat-Universität Linz, deren Wurzeln ins 17. Jahrhundert zurückreichen und die, nach Zwischenstufen als Theologische Hochschule und Theologische Fakultät, seit 2015 als kirchliche Universität im Sinn der c. 807 ff. CIC/1983 anerkannt ist (vgl. Hinweis in LDBl. 161/6, 2015, Art. 42). Für den staatlichen Bereich wurde die heutige KU Linz im Jahr 2000 unter dem damaligen Rektor Severin Lederhilger als erste derartige Institution in Österreich als Privatuniversität akkreditiert (vgl. Hinweis in LDBl. 146/10, 2000, Art. 85). Interessanterweise wurden die Statuten der KU Linz, wohl wegen ihres Umfangs, nie im Linzer Diözesanblatt publiziert, es finden sich dort aber regelmäßige Hinweise auf diese Einrichtung. Zu nennen ist jedenfalls auch das Bischöfliche Mensalgut, das in der Diözese Linz aus historischen Gründen die Bezeichnung Bistum Linz führt und dessen Statuten im Linzer Diözesanblatt veröffentlicht sind (LDBl. 165/4, 2019, Art. 25). 4. Dienstrecht Entsprechend dem Aufbau des CIC/1983, der die Bestimmungen zum Dienstrecht des Klerus ebenfalls in Buch II – Volk Gottes darstellt, soll auch noch ein kurzer Blick auf die ergänzenden Regelungen des Partikularrechts der Diözese Linz zu dieser Rechtsmaterie geworfen werden. Für Weltpriester gilt noch immer die im Jahr 2015 novellierte Dienstordnung für Weltpriester in der Pfarrseelsorge aus dem Jahr 1998 (LDBl. 144/4, 1998, Art. 40 i. d. F. LDBl. 161/3, 2015, Art. 25) sowie eine einschlägige Regelung für Priester aus anderen Ländern in der Diözese Linz (LDBl. 157/1, 2011, Art. 2), die deren Auf-

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enthalt bzw. ihre Mitarbeit in der Diözese ordnet. Ergänzt werden diese Regelungen durch Bestimmungen zu einzelnen Themen, welche – für Dienstnehmerinnen und Dienstnehmer der Diözese als Betriebsvereinbarungen in Kraft gesetzt – für die Priester der Diözese Linz als Instruktionen verlautbart wurden: eine Instruktion zum Umgang mit Konflikt und Mobbing (zuletzt LDBl. 161/5, 2015, Art. 37), eine Instruktion zum Datenschutz (LDBl. 162/4, 2016, Art. 39) sowie eine Instruktion gegen Missbrauch und Gewalt (LDBl. 163/5, 2017, Art. 414) und ein Verbot der Geschenkannahme für kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (LDBl. 166/2, 2020, Art. 17). Diözesane Vorgaben zum politischen Engagement von leitenden kirchlichen AmtsträgerInnen (zuletzt LDBl. 151/3, 2005, Art. 33) gelten für Priester wie Laien, sind aber weder als Betriebsvereinbarung noch formal als Instruktion in Kraft gesetzt worden. Ebenfalls für Priester sowie hauptamtliche Ständige Diakone und Laien gelten die Bestimmungen zur Einführung in den Seelsorgeberuf, das sogenannte Pastorale Einführungsjahr (zuletzt LDBl. 157/3, 2011, Art. 28). Die geltende Emeritierungsordnung für Pfarrer (LDBl. 159/2, 2013, Art. 22 i. V. m. LDBl. 154/3, 2008, Art. 33) regelt sowohl die Emeritierung als auch die Berechnung des angemessenen Lebensunterhalts (honesta sustentatio im Sinn von c. 384 CIC/1983) für emeritierte Priester. Letztgenannter Aspekt wird jedoch mit 1. Jänner 2023 durch eine neue Besoldungsordnung für Priester der Diözese Linz (LDBl. 168/7, 2022, Art. 107) derogiert, in welcher neben dieser sustentatio vor allem die Basisremuneration samt allen Zulagen und Vorrückungen bei der Priesterbesoldung geregelt sind, die sich bisher in einer Vielzahl von Einzelbestimmungen fanden. Auch die österreichweite Regelung für die diözesane Altersvorsorge für Priester, die in einer anderen Diözese inkardiniert sind und für Ordensleute mit Gestellung im Diözesanen Dienst (ABlÖBK 73, 2017, S.5 ff) wurde als Diözesanrecht in Kraft gesetzt (LDBl. 164/3, 2018, Art. 27). Weiterhin jährlich veröffentlicht werden die aktuellen Richtsätze über die Höhe der Klerusbesoldung (nunmehr Basisremuneration und Zulagen), die am Verordnungsweg festgesetzt werden (zuletzt: LDBl. 167/1, 2021, Art. 6). Im Rahmen der Remuneration der Tätigkeit von Priestern ist auch die finanzielle Unterstützung für die Anstellung einer Pfarrhaushälterin geregelt, welche nach der einschlägigen Regelung erfolgt (LDBl. 161/6, 2015, Art. 46). Da für die Dienstnehmerinnen und Dienstnehmer der Diözese seit 2001 ein eigener Kollektivvertrag gilt (vgl. Hinweis in LDBl 146/8, 2000, Art. 69), sind die meisten dienstrechtlichen Belange für Laien im kirchlichen Dienst dort bzw. in Betriebsvereinbarungen geregelt und nicht als Diözesanrecht normiert. Eine Ausnahme bilden die Regelungen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kinderbildungsund Betreuungseinrichtungen der (Pfarr-)Caritas, für die der Kollektivvertrag nicht gilt. Basis für deren Einzelverträge bildet die Dienst- und Besoldungsordnung 4 Vgl. dazu aber auch die in LDBl. 168/2, 2022, Art. 16 für den Bereich der Diözese Linz in Kraft gesetzte Rahmenordnung für die katholische Kirche in Österreich: Maßnahmen Regelungen und Orientierungshilfen gegen Missbrauch und Gewalt.

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für DienstnehmerInnen in kirchlichen Kindertageseinrichtungen der Diözese Linz (zuletzt LDBl. 165/1, 2019, Art. 1 i. d. g. F. LDBl. 166/1, 2020, Art. 5), deren Bestimmungen in den Einzelverträgen in Kraft gesetzt werden. Ebenfalls differenziert zu betrachten sind die Bestimmungen für die Ständigen Diakone. Unabhängig ob sie zur Diözese Linz in einem Dienstverhältnis stehen oder nicht, gelten für sie die oben genannten Instruktionen und das Verbot für die Übernahme von politischen Ämtern für Ständige Diakone (LDBl. 168/1, 2022, Art. 5). Die Regeln des Kollektivvertrags gelten für die bei der Diözese Linz hauptamtlich beschäftigten Diakone, während wiederum nur für die ehrenamtlichen Diakone die Regelung zur Kontinuierliche Fort- und Weiterbildung für ehrenamtlich tätige Ständige Diakone in der Diözese Linz (LDBl. 162/3, 2016, Art. 26) und die Emeritierungs-Regelung für ehrenamtlich tätige Ständige Diakone in der Diözese Linz (zuletzt geregelt in LDBl. 162/3, 2016, Art. 27) gelten. Der Grund dafür, dass es für ehrenamtliche Diakone scheinbar mehr Vorschriften gibt, als für bei der Diözese beruflich beschäftigte Diakone, dürfte sein, dass bei letztgenannten arbeitsrechtliche Vorschriften und dienstliches Weisungsrecht greifen, während für die Gruppe der Ehrenamtlichen manche Standards auf dem Weg der partikularrechtlichen kirchlichen Gesetzgebung normiert werden müssen.

II. Pastorale Bestimmungen – Verkündigungsdienst der Kirche So wie die Beschlüsse der Linzer Diözesansynode 1970 – 1972 als maßgebliche pastorale Texte konsequent im Linzer Diözesanblatt promulgiert wurden (LDBl. 117/3, 1971, Art. 32; LDBl 118/3, 1972, [ohne Artikelzählung]; LDBl. 119/6, 1973, Art. 60), war dies auch bei späteren programmatischen Texten der Fall, wie etwa im Jahr 2000 bei den Pastoralen Leitlinien (LDBl. 148/1, 2002, Art. 1) oder 2012 bei dem Text Kirche im Territorium. Nahe bei den Menschen und wirksam in der Gesellschaft (LDBl. 158/1, 2012, Art. 2). Der Text Neue Sichtweisen für neue Zeiten. Fortschreibung der Pastoralen Leilinien ist im Jahr 2019 ausschließlich als Sonderdruck sowie als Onlineveröffentlichung erschienen5, wobei sich im Linzer Diözesanblatt ein Hinweis auf den Text findet (LDBl. 166/1, 2020, Art. 7). Da einer Veröffentlichung des Textes im Amtsblatt wohl wenig entgegengestanden wäre, kann gemutmaßt werden, dass diese aus Versehen unterblieb. Relativ detaillierte Regelungen finden sich im Partikularrecht der Diözese Linz zu den kirchlichen Kinderbetreuungseinrichtungen, die es in Oberösterreich an vielen Orten gibt (Stand Jänner 2022: 236 Einrichtungen mit 862 Gruppen, in denen 17.393 Kinder von 2.742 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreut werden). Hier ist vor allem die Rahmenordnung für kirchliche Kinderbildungs- und Betreuungseinrichtungen in der Diözese Linz (LDBl. 161/3, 2015, Art. 24) zu nennen, aber auch die 5 G. Eder-Cakl/F. Gruber/M. Kraml/A. Kreutzer, Kirche weit denken. Neue Sichtweisen für neue Zeiten. Fortschreibung der Pastoralen Leitlinien, Linz 2019; abrufbar unter: https:// www.dioezese-linz.at/zukunftsweg/downloads [Zugriff: 30. 11. 2022].

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Bestimmungen zur Beendigung der Trägerschaft von Kinderbetreuungseinrichtungen (LDBl. 166/5, 2020, Art. 63). Während die Lehrpläne für den Religionsunterricht auf Ebene der Bischofskonferenz beschlossen werden, findet sich für die Diözese Linz eine Rahmenordnung für die Fachinspektion des katholischen Religionsunterrichts in der Diözese Linz (LDBl. 167/8, 2021, Art. 60). Einem pastoralen Interesse entspringt die Würdigung von verdienten Persönlichkeiten durch die Verleihung von kirchlichen Ehrenzeichen, wie sie im Statut für Ehrenzeichen und Ehrenurkunden der Diözese Linz (zuletzt LDBl. 165/5, 2019, Art. 37) und den damit zusammenhängenden Richtlinien für die Verleihung von diözesanen Ehrenzeichen und Ehrenurkunden (zuletzt LDBl. 165/5, 2019, Art. 38) geregelt ist. Im weiteren Sinn zu den pastoralen Bestimmungen zählt die – auch für die Pfarrarchive gültige – Ordnung für die kirchlichen Archive Österreichs (zuletzt geregelt in ABlÖBK 83, 2021, S. 10 ff., in Kraft gesetzt für die Diözese Linz zuletzt in LDBl. 167/5, 2021, Art. 41) sowie das Decretum Generale über den Datenschutz in der Katholischen Kirche in Österreich und ihren Einrichtungen (Kirchliche Datenschutzverordnung) (zuletzt geregelt in ABlÖBK 74, 2018, S. 9 ff., in Kraft gesetzt für die Diözese Linz in LDBl. 164/3, 2018, Art. 26). III. Liturgische Bestimmungen – Heiligungsdienst der Kirche Da das Sakramentenrecht auf Ebene des universalen Kirchenrechts sowohl in den kirchlichen Gesetzeswerken als auch in den pastoral-liturgischen Einleitungstexten der liturgischen Bücher, detailliert normiert ist, besteht ein geringer Bedarf an komplexen Regelwerken auf Ebene des Partikularrechts.6 So sind es eher Antworten auf Detailfragen, die in den Rechtstexten der Diözese Linz Eingang finden. 1. Sakrament der Taufe Bei der Taufe ist in den letzten Jahren vor allem die Frage nach dem Bedarf außerordentlichen Taufspenderinnen und Tauspendern diskutiert und zu unterschiedlichen Zeiten auch unterschiedlich beantwortet worden. Da damit die Erlaubtheit einer solchen Taufe im Sinn von c. 861 §2 CIC/1983 zusammenhängt, kommt dieser Frage rechtliche Bedeutung zu. Bischof Ludwig Schwarz stellte im Zusammenhang mit einer Erläuterung zur „Pastoralen Einführung“ zur Feier der Kindertaufe (LDBl. 154/3, 2008, Art. 31) im Jahr 2008 fest, dass zu diesem Zeitpunkt laut einem Schrei6

Etwas anders stelle sich die Situation offensichtlich in der Zeit nach dem II. Vatikanischen Konzil und vor der Promulgation des CIC/1983 dar, so dass z. B. 1972 im Zusammenhang mit dem erneuerten Ritus der Kindertaufe eine relativ detaillierte Taufordnung der Diözese Linz (LDBl. 118/10, 1972, Art. 79) erlassen wurde; ebenso eine Firmordnung für das Jahr 1973 (LDBl. 119/5, 1973, Art. 44).

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ben der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung die Voraussetzungen für eine Anwendung dieser Bestimmung in der Diözese Linz nicht vorliegen und revidierte damit eine vorangehende andere Praxis, die sich aus Einzelfallentscheidungen entwickelt hatte. 11 Jahre später kam sein Nachfolger Bischof Manfred Scheuer zur Einschätzung, dass die Voraussetzungen zwar nicht generell, aber in bestimmten Situationen mittlerweile durchaus gegeben sein können. Er erließ mit der Regelung Die Feier des Taufsakraments durch ordentliche Taufspender und außerordentliche Taufspender/innen (LDBl. 165/2, 2019, Art. 2) ein entsprechendes Diözesangesetz, in dem – in eine pastoraltheologische und liturgierechtliche Darstellung eingeflochten – die Voraussetzungen für eine außerordentliche Taufbeauftragung differenziert geregelt wurden. Ohne die grundsätzliche Zuständigkeit der Wohnpfarre für die Taufe in Frage zu stellen, wurde in der Regelung Die Feier der Taufe außerhalb der Wohnpfarre (LDBl. 167/2, 2021, Art. 18) die Zulässigkeit einer solchen, auch ohne vorangehende Erlaubnis des Wohnpfarrers, normiert bzw. die Tauferlaubnis (früher „Taufentlassung“) seitens des Bischöflichen Ordinariats generell erteilt. Für die Aufnahme Erwachsener in die Kirche sind neben den pastoralen Einführungen in die beiden liturgischen Bücher auch die von der Österreichischen Bischofskonferenz herausgegebene Publikation Katechumenat. Pastorale Orientierungen, Wien 2016 (Die Österreichischen Bischöfe 14)7 einschlägig, die im Linzer Diözesanblatt zusammengefasst und für die Anwendung in der Diözese adaptiert wurde (LDB. 164/2, 2018, Art. 19). Weitere im Diözesanrecht geregelte Fragen betreffen die Matrikulierung, wobei hier durch Bemühungen um eine österreichweit einheitlichen Praxis der Matrikulierung, die sich vor allem durch einen gemeinsamen Matrikenwegweiser und gemeinsame Formulare seit 1985 zeigt (in der aktuellen Fassung zuletzt für die Diözese Linz in Kraft gesetzt in LDBl. 168/4, 2022, Art. 36), viele diözesane Einzelbestimmungen mittlerweile obsolet wurden. Eine gewisse – österreichweit nicht geregelte – Besonderheit betrifft den nachträglichem Vermerk von „Ehrenpaten“ im Taufbuch, wie dies im Text Taufpatenschaft – Ehrenpatenschaft (LDBl. 150/6, 2004, Art. 96) normiert ist. Ebenfalls in Erinnerung gerufen wird immer wieder jene Vorschrift, wonach für die Taufe keine Stolgebühren verlangt werden dürfen (zuletzt LDBl. 166/5, 2020, Art. 63). Bezüglich des kirchlichen Umgangs mit dem „Kirchenaustritt“ vor den staatlichen Behörden gem. Art. 6 des Gesetzes vom 25. Mai 1868, wodurch die interkonfessionellen Verhältnisse der Staatsbürger in den darin angegebenen Beziehungen geregelt werden, RGBl. Nr. 49/1868, ist die Regelung der Österreichischen Bischofskonferenz zum Kirchenaustritt, veröffentlicht in der Publikation Zugehörigkeit zur

7 Online abrufbar unter https://www.bischofskonferenz.at/publikationen/schriftenreihe [Zugriff: 04. 12. 2022].

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Katholischen Kirche, Wien 2010 (Die Österreichischen Bischöfe 10)8 einschlägig. Für die Diözese Linz wird in diesem Zusammenhang seit 2010 ein zentrales Diözesanes Apostantenbuch geführt (LDBl. 156/7, 2010, Art. 63). Erwähnt werden soll auch die Regelung über die Generalvollmacht zur Wiederaufnahme von ausgetretenen Katholikinnen und Katholiken in die Katholische Kirche (Reversion) (LDBl. 154/4, 2008, Art. 50), die das Verfahren der Reversion stark vereinfacht. 2. Sakrament der Firmung Sehr wenige Bestimmungen finden sich im Diözesanrecht zum Sakrament der Firmung. Neben einem normativen Text über die Vorbereitung der Feier der Firmung (LDBl. 139/2, 1993, Art. 20) ist hier vor allem die zentrale Matrikulierung aller Firmungen in der Diözese im Diözesanen Firmbuch (LDBl. 153/7, 2007, Art. 62) zu nennen. 3. Sakrament der Eucharistie Bezüglich der Eucharistiefeier wurden viele ältere Bestimmungen (z. B. zur Konzelebration oder zur Feier im Freien, Binationsmessen etc.) mittlerweile durch universalkirchliche Bestimmungen geklärt. Auffällig ist, dass auch die letzte veröffentlichte Regelung zur Erstkommunion-Vorbereitung schon lange zurück liegt (LDBl. 121/12, 1975, Art. 181). Aktuell gültig sind jedenfalls die Kommunionhelfer*innen-Richtlinien aus dem Jahr 2022, die eine entsprechende Regelung aus 1984 ablösen (LDBl. 168/1, 2022, Art. 3). Die Richtlinien regeln die Voraussetzung und die Auswahl der Personen unter Einbindung des Pfarrgemeinderats (Nr. 3 leg. cit.) sowie die Ausbildung der Kommunionhelferinnen und Kommunionhelfer (Nr. 4 leg. cit.) und ihre Beauftragung durch den Bischof (Nr. 4. leg. cit.). Geregelt ist auch, dass Kommunionhelferinnen und Kommunionhelfer am Aschermittwoch auch erlaubt das Aschenkreuz erteilen (LDBl. 132/2, 1986, Art. 20). Ebenfalls im Zusammenhang mit der heiligen Messe steht die kirchenamtliche Klarstellung Predigt/Homilie in der Eucharistiefeier als vorrangige Aufgabe des Priesters (LDBl. 153/6, 2007, Art. 54), die neben einer theologischen Erläuterung der universalkirchlichen Normen auch Hinweise auf Ausnahmen im Einzelfall beinhaltet, „die es einem Pfarrer gelegentlich ermöglichen, qualifizierten Laien den Auftrag für eine Katechese zu geben“. Die Höhe der Messtipendien sind vom Konvent der Bischöfe der jeweiligen Kirchenprovinz zu regeln und wurden zuletzt in LDBl. 159/5, 2014, Art. 46 verlautbart. Dabei wurde auch ein von der Diözese festzusetzender Betrag für die musikalische 8 Online abrufbar unter https://www.bischofskonferenz.at/publikationen/schriftenreihe [Zugriff: 04. 12. 2022].

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Begleitung des Gottesdienstes (Orgel) verlautbart, der – bei entsprechender Gestaltung – zusätzlich zum Messtipendium eingehoben werden darf. 4. Sakrament der Ehe Bezüglich des Sakraments der Ehe ist an eigenen diözesanrechtlichen Regelungen die Delegation der Trauungserlaubnis bei bestehenden Verpflichtungen an den für die Aufnahme des Trauungsprotokolls zuständigen Pfarrer (LDBl. 156/7, 2010, Art. 64) zu nennen. Diese entspricht der Delegation der Erlaubnis bei den schlichten Trauungsverboten bei Konfessionsverschiedenheit und der Ehe mit aus der Katholischen Kirche ausgetretenen Personen, die – wenn es sich jeweils um die erste Ehe der Nupturienten handelt – ebenfalls durch den Pfarrer, der das Trauungsprotokoll aufnimmt, erfolgt. Die Ehevorbereitung ist nunmehr auf Ebene der Bischofskonferenz und zuletzt in der von der Österreichischen Bischofskonferenz herausgegebenen Publikation Kirchliche Begleitung zum Sakrament der Ehe, Wien 2022 (Die Österreichischen Bischöfe 15)9 geregelt. Eine gewisse Bedeutung haben auch noch (oder wieder) die Überlegungen zu Trauungen an Sonntag (LDBl. 130, 1984, Art. 75) sowie das Verbot von Hochzeiten an hohen Festtagen (LDBl. 123/6, 1977, Art. 85). Ausdrücklich verboten sind Ziviltrauungen in Kirchen (LDBl. 161/2, 2015, Art. 29) und die Nutzung von Kirchen durch (freie) RitualbegleiterInnen (LDBl. 166/1, 2020, Art. 14). 5. Sakramente der Krankensalbung, der Versöhnung und der Weihe Zu diesen Sakramenten gibt es derzeit keine Tatbestände, die auf Ebene des Diözesanrechts geregelt sind, allerdings finden sich immer wieder Hinweise auf die Möglichkeit des Erwerbs bestimmter Ablässe. 6. Weitere Liturgische Bestimmungen Seit 2010 gibt es auf Ebene der Österreichischen Bischofkonferenz eine Rahmenordnung für Sonntagsgottesdienste ohne Priester (ABlÖBK 51, 2010, S. 6 ff.). Diese Rahmenordnung verweist hinsichtlich Auswahl und Ausbildung (Nr. 11, 12 leg. cit.) sowie der Form der Beauftragung (Nr. 15 leg. cit.) der Leitenden der Wort-GottesFeiern auf diözesane Richtlinien. Deshalb sind auch manche Bestimmungen der älteren Diözesanen Rahmenordnung: Liturgische Sonntagsfeier ohne Priester (LDBl. 140/1, 1994, Art. 3) nach wie vor in Kraft. Insbesondere sind die Bestimmungen zu Mindestalter (23 Jahre), Auswahl (unter Beteiligung des Pfarrgemeinderats), Ausbildung und Beauftragung der Gottesdienstleitenden durch den Bischof (allesamt Nr. V 9 Online abrufbar unter https://www.bischofskonferenz.at/publikationen/schriftenreihe [Zugriff: 04. 12. 2022].

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leg. cit.) nach wie vor gültig. Bezüglich der Ausbildung ist daher auch nach wie vor die zur diözesanen Rahmenordnung ergangene Instruktion Der Dienst am Wort Gottes in der sonntäglichen Wort-Gottes-Feier (LDBl. 151/2, 2005, Art. 16) einschlägig, der die Ausbildungsvoraussetzungen für die Leitung von Wort-Gottes-Feiern näher normiert. Ebenfalls in diesem Kontext sind die Voraussetzungen für die Predigterlaubnis in Wort-Gottes-Feiern zu sehen, die sich im Text Predigtausbildung für Wort-Gottes-Feier-LeiterInnen (LDBl. 165/4, 2019, Art. 28) finden. Im Zusammenhang mit Begräbnissen ist insbesondere die im Diözesanrecht verankerte Möglichkeit der Beauftragung zur außerordentlichen Leitung von kirchlichen Begräbnisfeiern (LDBl. 140/3, 1994, Art. 26) von Laien gem. c. 1168 CIC/ 1983 zu nennen, welche aber an die Absolvierung eines Lehrgangs Begräbnisleitung geknüpft ist (Hinweis zuletzt in LDBl. 153/3, 2007, Art. 22). Diese Ausbildung ist – bei Vorliegen entsprechender Bildungsvoraussetzungen – sowohl für haupt- als auch für ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter offen, bedarf aber der Nominierung durch eine Pfarre oder eine kirchliche Dienststelle. Ergänzend kann auch auf die Veröffentlichung der Diözesanen Liturgiekommission Kremation. Urnenbeisetzung. Beisetzungsstätten. Orientierungen angesichts einer starken Zunahme von Kremationen10 aus dem Jahr 2016 hingewiesen werden (Hinweis in LDBl. 162/3, 2016, Art. 37) sowie auf das Verbot von Begräbnissen an hohen Festtagen (LDBl. 123/ 6, 1977, Art. 85). Geregelt sind im Diözesanrecht auch die Zulassung von Mädchen und Buben zum Dienst als Ministrantinnen und Ministranten (LDBl. 140/8+9, 1994, Art. 69), die Obergrenzen für Stolgebühren bei Begräbnissen und Hochzeiten (zuletzt LDBl. 165/2, 2019, Art. 4 i. V. m. LDBl. 165/3, 2019, Art. 21) und der Eigenkalender der Diözese Linz (zuletzt LDBl. 168/5, 2022, Art. 44). Die Richtlinien der Österreichischen Bischofskonferenz für Ökumenische Gottesdienste wurden ins Diözesanrecht übernommen (ABlÖBK 36, 2003, S. 7 ff. i. V. m. LDBl. 150/2, 2004, Art. 63). Ebenfalls durch die Österreichische Bischofskonferenz – in Abstimmung mit den staatlichen Behörden – geregelt und in das jeweilige Diözesanrecht übernommen, wurde die öfter adaptierte Rahmenordnung der Österreichischen Bischofskonferenz zur Feier öffentlicher Gottesdienste während der Covid-19 Pandemie 2020 – 2022, die teilweise, je nach Pandemiegeschehen, auch durch diözesane Erlässe ergänzt wurde. Eine entsprechende Dokumentation der Erlässe im Zusammenhang mit der Covid-19 Pandemie findet sich in so gut wie allen Ausgaben des Linzer Diözesanblatts zwischen LDBl. 166/3, 2020 bis LDBl. 168/4, 2022.

10 Veröffentlicht unter: https://www.dioezese-linz.at/dl/sttqJKJlmNLmJqx4KJK/Kremati on_Urnenbeisetzung_pdf [Zugriff: 02. 12. 2022].

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IV. Vermögensrecht – Kirchenvermögen 1. Vermögensrechtliche Regelungen für alle Alle Katholikinnen und Katholiken der Diözese Linz sind von der Kirchenbeitragsordnung (KBO) der Diözese Linz (LDBl. 151/2, 2005, Art. 18) betroffen. Die jährlich adaptierten Sätze bei bestimmten Berechnungswerten werden jeweils im ersten Diözesanblatt des Jahres veröffentlicht. Sämtliche kirchlichen Rechtsträger betrifft die Diözesane Bauordnung (LDBl. 156/8, 2010, Art. 73), in der einerseits Pflichten der Gebäudeeigentümer geregelt werden, andererseits aber auch das Verfahren zu Erlangung einer kirchenbehördlichen Baugenehmigung und der Gewährung von Bauzuschüssen aus Mitteln des Kirchenbeitrags. Ebenfalls für alle kirchlichen Rechtsträger in der Diözese bindend sind, die Richtlinien der Diözese Linz für den Betrieb von Mobilfunksendeanlagen (LDBl. 168/3, 2022, Art. 27), die Umweltleitlinien der Diözese Linz (LDBl. 163/6, 2017, Art. 52) sowie das Dekret über Veranlagungsgeschäfte kirchlicher Rechtsträger (LDBl. 157/3, 2011, Art. 29) und die Durchführungsrichtlinien zur Inventarisierung (LDBl. 146/1, 2000, Art. 7). 2. Vermögensrechtliche Regelungen für die Diözese und andere dem Diözesanbischof unterstellte Rechtsträger auf Diözesanebene Neben den allgemeinen vermögensrechtlichen Normen finden sich im Partikularrecht der Diözese Linz auch Bestimmungen, welche die Verwaltung des Vermögens der Diözese im engeren Sinn betreffen. Dazu zählen insbesondere Grundsätze der Rechnungslegung (zuletzt LDBl. 167/8, 2021, Art. 61), welche die „geordnete und nachvollziehbare Dokumentation sämtlicher Geschäftsfälle sowie die geordnete Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Diözese Linz“ sicherstellen sollen und die Revisionsordnung für die Diözese Linz (zuletzt LDBl. 165/3, 2019, Art. 17 i. V. m. LDBl. 165/4, 2019, Art. 31). Der Geltungsbereich dieser beiden Ordnungen erstreckt sich nicht nur auf den Rechtsträger „Diözese Linz“ sondern auf alle Rechtsträger, die auf Diözesanebene (in Abgrenzung zu den pfarrlichen Rechtsträger) dem Diözesanbischof unterstellt sind. Somit sind auch die öffentlichen kirchlichen Vereine, die öffentlichen kirchlichen Stiftungen und sonstigen selbständigen kirchlichen Rechtspersonen mit Ausnahme der Orden und Kongregationen betroffen, die auf Ebene der Diözese Linz errichtet sind. Auch die Gebühren für bestimmte Akte der kirchlichen Verwaltung sind in Diözesangesetzen geregelt, namentlich die Gebühren für die Erteilung der kirchenbehördlichen Genehmigung (zuletzt LDBl. 167(8, 2021, Art. 62), sowie die Sätze der Gebührenordnung des Diözesangerichts Linz (LDBl. 163/4, 2017, Art. 36). Es kommt auch zu einer Verrechnung von Leistungen des Orgel- und Glockenreferats (LDBl. 156/4, 2010, Art. 32).

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Die Ökosoziale Beschaffungsordnung der Diözese Linz (LDBl. 163/6, 2017, Art. 51) gilt in erster Linie auch auf Ebene der Diözesanen Rechtsträger, auch wenn Pfarren und Orden angehalten und eingeladen sind, sich ebenfalls bei ihrer Beschaffung daran zu orientieren. 3. Vermögensrechtliche Regelungen auf Ebene der Pfarre Zahlreiche Regeln zur pfarrlichen Vermögensverwaltung, insbesondere auch zur rechtsgeschäftlichen Vertretung der pfarrlichen juristischen Personen und der Definition der Akte der außerordentlichen Vermögensverwaltung finden sich im Statut des Fachausschuss für Finanzen (zuletzt LDBl. 153/2, 2007, Art. 13 i. V. m. LDBl. 165/4, 2019, Art. 30). Für die Pfarren neuen Typs werden diese Normen außerhalb der Statuten der pfarrlichen Gremien erlassen und finden sie nun in einem eigenen Dekret über die Verwaltung des pfarrlichen Vermögens (LDBl. 167/3, 2021, Art. 26). Da das Benefizialwesen des CIC/1917 in Österreich als Partikularrecht weiter in Kraft ist (ABlÖBK 1, 1984, S. 5), sind auch die Pfarrpfründe weiterhin als gesonderte juristische Personen eingerichtet. Die Verwaltung dieser Pfründe erfolgt in der Diözese Linz aber, insbesondere hinsichtlich forstlich und landwirtschaftlich genutzten Grundstücke, durch eine zentrale Pfründenverwaltung. Dieser zentralen Pfründenverwaltung wurde die Verwaltung der Grundstücke von den bisher Benefiziaten übertragen bzw. erhielten nach 1984 neu eingesetzte Pfarrer diese Grundstücke gemäß der Regelung über die Verleihung und Verwaltung von Benefizien (Pfründen) (LDBl. 130/4, 1984, Art. 56) gar nicht mehr als Pfründe übertragen. Die Besoldung erfolgt heute bei fast allen Priestern zur Gänze durch die Diözese, wobei dafür wesentlich Einnahmen aus dem Kirchenbeitrag verwendet werden. Erlöse aus der Veräußerung von Pfründengrundstücken kommen dem Pensionsfonds der Diözese Linz zugute, so dass auch auf diese Weise der Widmungszweck, nämlich die Besoldung des Pfarrklerus, erfüllt wird. Zu den Einnahmen der Pfarren zählen neben Spenden der Gläubigen am Ort vor allem auch die Kirchenbeitragsanteile für Pfarren (LDBl. 153/1, 2007, Art. 3 i. V. m. LDBl. 157/3, 2011, Art. 27, Pkt. 2 i. V. m. LDBl. 159/5, 2013, Art. 50) und Unterstützungsleistungen aus dem Strukturfonds für Pfarren (LDBl. 157/3, 2011, Art. 27) gemäß den aktuellen Richtlinien für Unterstützungsleistungen aus dem Strukturfonds für Pfarren der Diözese Linz (zuletzt LDBl. 164/3, 2018, Art. 25). Umfangreiche Bestimmungen zum Friedhofswesen finden sich auch in der diözesanen Friedhofsordnung (zuletzt LDBl. 156/3, 2010, Art. 26) mit Anhängen zum Natur- und Umweltschutz am Friedhof, sowie Friedhof- und Grabpflege aber auch Grabgestaltung. Die Höhe der Grabgebühren wird von den Pfarren jeweils in einem lokalen Anhang zur Friedhofsordnung geregelt. Weitere diözesane Regelungen für die Pfarren betreffen Spendensammlungen für Projekte im Ausland (LDBl. 163/6, 2017, Art. 59 i. V. m. LDBl. 165/4, 2019, Art. 27),

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pfarrliche Versicherungen (LDBl. 139/7, 1993, Art. 81) sowie einen verpflichtenden Anteil aus dem Pfarrbudget für Weltkirche (LDBl. 120/1, 1974, Art. 7). 4. Strafbestimmungen der Kirche und Verfahrensrecht Die umfangreiche Regelung der Materie im universalen Kirchenrecht führt dazu, dass sich im Partikularrecht der Diözese Linz nur eine Bestimmung zum Strafrecht findet, namentlich die Befugnis des Nachlasses (Erlass) der Exkommunikation wegen Abtreibung für Beichtväter (LDBl. 130/7, 1984, Art. 87) im Sinn der diesbezüglichen österreichweiten Regelung. Partikularrechtliche Bestimmungen zum Verfahrensrecht gibt es keine.

Kollegialität als Leitungsmodell? Kirchenrechtliche Perspektiven für Machtverteilung und Partizipation in der Pfarrei Thomas Neumann I. Ausgangslage Der Titel dieses Beitrags scheint im Widerspruch zu stehen mit der kurialen Auffassung in der Instruktion der Kongregation für den Klerus vom 20. Juli 2020 unter dem Titel „Die pastorale Umkehr der Pfarrgemeinde im Dienst an der missionarischen Sendung der Kirche“. In Nr. 66 der Instruktion wird unmissverständlich festgehalten: „Da der Hirte und die Gemeinde sich kennen und einander nahe sein müssen, kann das Amt des Pfarrers auch nicht einer juristischen Person anvertraut werden. […] Daher sind Bezeichnungen wie ,Leitungsteam‘, ,Leitungsequipe‘ oder ähnliche Benennungen, die eine kollegiale Leitung der Pfarrei zum Ausdruck bringen könnten zu vermeiden.“1

Severin Lederhilger, dem dieser Beitrag gewidmet sein soll, grenzt in einem jüngeren Beitrag das Modell der Diözese Linz2 als Reaktion auf die Instruktion von der „mala fama“ der kollegialen Leitung wie folgt ab: „Der Hirtendienst ist schließlich vom Pfarrer höchstpersönlich zu verantworten und kann nicht einfach einem ,Leitungsteam‘ – im Sinne eines stets gemeinschaftlichen und völlig gleichberechtigten Handelns mehrerer Personen – überantwortet werden, wodurch die Verantwortung für die Pfarre ,korporativ‘ wie bei kollegialen juristischen Personen wahrgenommen würde. Für den Bereich der Pfarre ist ein solches Leitungsteam von Rechts wegen ausgeschlossen.“3

In dieser Deutlichkeit distanzierten sich frühere diözesane Gesetzgebungsakte nicht von der kollegialen Leitung, so wird im Erzbistum Mailand explizit ein kollegiales Leitungsorgan mit nicht gleichberechtigtem Stimmrecht entworfen4, im Erz1

Kongregation für den Klerus, Instruktion die pastorale Umkehr der Pfarrgemeinde im Dienst an der missionarischen Sendung der Kirche (= VApSt 226), Nr. 66. 2 Severin Lederhilger/Christoph Laumann, Rechtstexte. Ordnung der Pfarren in der Diözese Linz, Linz 2021; Bischof von Linz, KABl 167/3 (2021), Art. 23. 3 Severin Lederhilger, Die Hirtensorge als gemeinsame Aufgabe. Die Instruktion zur Pfarrgemeinde und die Strukturreform in der Diözese Linz, in: AfkKR 188 (2021), S. 78 – 112, hier S. 101 f. 4 Vgl. Dionigi Tettamanzi, Prefazione: Arcidiocesi di Milano. Commissione Archivescovile per la pastorale di insieme e le nuove figure di ministerialità: La Communità Pastorale,

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bistum München-Freising wird an die Stelle des Pfarrers ein Leitungsteam gesetzt, welches kollegial handle5, und Vergleichbares kann auch in den Bistümern Trier6 und Speyer7 beobachtet werden. Auch das vom Osnabrücker Bischof Franz Josef Bode am 22. Juni 2018 in Kraft gesetzte Modell versucht kollegiale Elemente bzw. Aspekte der Mitbestimmung in die Verfassung der Pfarrei einzutragen, die auf der Unterscheidung der Begriffe der Handlungs- und Führungsvollmacht beruhen.8 Zwei Tendenzen lassen sich in der Zusammenschau der beispielhaft erwähnten diözesanen und kurialen Rechtstexte beobachten: Erstens erfolgt eine ausschließliche Konzentration auf das Amt des Pfarrers, indem Lösungsansätze entworfen werden, welche Alternativen es gibt, wenn aufgrund von Priester- bzw. Pfarrermangel das unipersonale Prinzip9 „ein Pfarrer eine Pfarrei“ (vgl. c. 526 § 1 S. 1 CIC/1983) nicht aufrechterhalten werden kann. Dies zeugt von einem letztendlich hierarchiefixierten Institutionendenken ohne großem Innovationspotential, die die genannten Gesetze als Variationen der „klassischen“ Antworten auf die Krise der Pfarrei seit spätestens den 1980er Jahren10 darstellen. In einer 2012 vom Erzbischof von Boston Kardinal O’Mally in Auftrag gegebenen Studie werden folgende drei klassische Antworten herausgearbeitet: 1. Die Mailand 2009. Ausführlich behandelt wird die Ordnung bei: Heribert Hallermann, Neue Formen der „Gemeindeleitung“? Kanonistische Reflexionen zu neueren Entwicklungen in einzelnen Diözesen, in: AfkKR 179 (2010), S. 37 – 69. 5 Vgl. Robert Lappy, Erprobung kollegialer Leitung im Erzbistum München und Freising in: https://www.euangel.de/ausgabe-2-2019/leitung/erzbistum-muenchen-und-freising-erpro bung-kollegialer-leitung-von-pfarrverbaenden [Zugriff: 18. 11. 2022]; eine Bewertung erfolgt bei: Christoph Ohly, Der Pfarrer als „Pastor proprius“. Erinnerungen an ein verfassungsrechtliches Prinzip, in: Rechtskultur und Rechtspflege in der Kirche. FS für Wilhelm Rees zur Vollendung des 65. Lebensjahres, Stephan Haering/Ludger Müller (Hrsg.), Berlin 2020, S. 275 – 288; hier S. 280. 6 Bischof Stephan Ackermann, Gesetz zur Umsetzung der Ergebnisse der Diözesansynode 2013 – 2016 vom 9. 10. 2019, in: KABl Trier 163 (2019), S. 214 – 263. 7 Bischof Karl Heinz Wiesemann, Dekret über die Ordnung von Seelsorge und Verwaltung in der Pfarrei und Kirchengemeinde Heilig Kreuz Homburg, KABl 8/2020, Art. 82, S. 181 – 184; dazu: Reinhild Ahlers, Macht und Gewaltenteilung in der Kirche. Leitung in Pfarreien, in: ThGl 111 (2021), S. 184 – 194. 8 Vgl. Bischof Franz Josef Bode, Statut für die Pfarrseelsorge nach can. 517 § 2 CIC im Bistum Osnabrück, in: KABl 7/2018, S. 157 – 159; Die Unterscheidung der Führungs- und Handlungsvollmacht beruht auf einem von Jean-Claude Périsset entworfenen Modell: Vgl. Jean-Claude Pérriset, La paroisse aujourd’hui – problématique canonique actuelle, en particulier en Europe centrale, in: Folia canonica 13/14 (2010), S. 197 – 213; aufgegriffen wird das Modell von Michael Böhnke, Geistgewirkte Vollmacht. Eine systematische Skizze zum Verhältnis von Weiheamt und Gemeindeleitung, in: Kirchenrecht aktuell: Anfragen von heute an eine Disziplin von „gestern“, Reinhild Ahlers (Hrsg.), (= MK CIC. Beihefte 40) Essen 2004, S. 45 – 54. 9 Zu diesem von Ohly geprägten Begriff vgl. Ohly, Pastor proprius (Anm. 5), S. 278. 10 Vgl. Nikolaus Schöch, Fulfilling Pastoral Needs – The Story of Restructuring, in: CLSA Proceedings of the Eightieth Annual Convention, Phoenix Arizona, October 8 – 11 2018, Washington 2019, S. 320 – 350; hier S. 320.

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Schließung und Fusion von Pfarreien, also eine Anpassung an die noch vorhandenen klerikalen personalen Ressourcen; 2. Modelle nach c. 526 § 1 S. 2 CIC/1983, die einem Pfarrer mehrere Pfarreien übertragen und als Variation hiervon 3. Wege Pfarreien miteinander zu vernetzten etwa durch Seelsorgeeinheiten oder Pastorale Räume.11 Zweitens wird der Grund für die Notwendigkeit der Reform der Pfarrstrukturen monokausal im Priestermangel festgemacht.12 Heribert Hallermann ist hier die Ausnahme, weil er diesen Begründungsweg aufbricht, indem er darauf hinweist, dass die Orientierung am Priestermangel sich nicht für zukunftsfähige Konzepte eigne, weil es der Definition der Pfarrei als bestimmte Gemeinschaft von Gläubigen (certa communitas christifidelium) nicht gerecht werde.13 Aus einer anderen Perspektive pflichtet das Dikasterium für den Klerus Hallermann in der oben genannten Instruktion bei, dass alleine der Mangel an Klerikern nicht die Aufhebung einer Pfarrei rechtfertige.14 Hierbei ignoriert das Dikasterium jedoch die seit Papst Alexander III. (1159 – 1181) gängigen rechtfertigenden Gründe für die Aufhebung bzw. Teilung von Pfarreien,15 die nicht einzeln, wohl aber zusammen Geltung haben, wie die finanzielle Ausstattung, die Zahl der Gläubigen, die Entfernung zur nächsten Kirche sowie die Anzahl 11

Vgl. Robert Oliver, Pastoral Teams and Parish Collaboratives: A Case Study of Diocesan Reorganization, in: Jurist 72 (2012), S. 334 – 376; hier S. 338; der Pastoralplan des Bistums Boston ist zu finden unter: URL https://parish.bostoncatholic.org/disciples-mission [Zugriff: 16. 11. 2022]. 12 Siehe z. B.: Ahlers, Macht (Anm. 7), S. 184; Stefan Korta, Cura pastoralis im Codex Iuris Canonici, in: Flexibilitas Iuris Canonici. Festschrift für Richard Puza zum 60. Geburtstag, Andreas Weiß/Stefan Ihli (Hrsg.), Frankfurt a. M./Berlin/Bern u. a. 2003 (= AIC 28), S. 203 – 222; hier S. 203; Joseph W. Pokusa, Dioceses, Parishes, Pastors and Pastoral Care, in: Jurist 67 (2007), S. 153 – 175; hier S. 153; Schöch, Pastoral Needs (Anm. 10), S. 342. 13 Vgl. Heribert Hallermann, Die Pfarrei weiter denken. Eine Einladung zum Sehen, Urteilen und Handeln, Münster 2020 (= Kirchen- und Religionsrecht 50), S. 14. 14 Vgl. Kongregation für den Klerus, Instruktion pastorale Umkehr (wie Anm. 1), Nr. 48: „Hingegen sind beispielsweise keine angemessenen Gründe der bloße Mangel an Klerikern in einer Diözese, deren allgemeine finanzielle Situation oder andere Bedingungen der Gemeinde, die voraussichtlich kurzfristig verändert werden können (z. B. die Zahl der Gläubigen, die fehlende finanzielle Unabhängigkeit, städtebauliche Veränderungen des Gebietes).“ 15 Papst Alexander III., Ad audientiam, X. 3,48,3: „Ad audientiam nostram noveris pervenisse, quod villa, quae dicitur H., tantum perhibetur ab ecclesia parochiali distare, ut in tempore hiemali, quum pluviae inundant, non possint parochiani sine magna difficultate ipsam adire, unde non valent congruo tempore ecclesiasticis officiis interesse. Quia igitur dicta ecclesia ita dicitur in reditibus abundare, quod praeter illius villae proventus minister illius convenienter valeat sustentationem habere, fraternitati tuae per apostolica scripta mandamus, quatenus si res ita se habet, ecclesiam ibi aedifices, et in ea sacerdotem, sublato appellationis obstaculo, ad praesentationem rectoris ecclesiae maioris cum canonico fundatoris assensu instituas, ad sustentationem suam eiusdem villae obventiones ecclesiasticas percepturum providens tamen, ut competens in ea honor pro facultate loci matrici ecclesiae servetur, quod quidem fieri posse videtur, quum eiusdem villae dominus viginti acras terrae frugiferae velit ad usus sacerdotis conferre. Si vero persona matricis ecclesiae virum idoneum praesentare distulerit, vel opus illud voluerit impedire, tu nihilominus facias idem opus ad perfectionem deduci, et virum bonum appellationis cessante diffugio instituere non omittas.“

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der vorhandenen Priester, welche das Dikasterium allesamt als nicht rechtfertigend anführt. Unabhängig von der Frage, welche Gründe konkret eine Veränderung der Pfarrstruktur rechtfertigen, dürfte deutlich geworden sein, dass alleine der Priestermangel keine hinreichende Begründung darstellt. Vielmehr muss der Blick auf die gesamte Struktur der Pfarrei gerichtet werden. So konstatiert Ohly: „Die Korrekturen pfarrlicher Konturen müssen demzufolge aus der missionarischen Verfasstheit des Glaubens entwickelt werden und dabei die ekklesiologische Struktur der kirchlichen Glaubensgemeinschaft als indispensable Vorgabe berücksichtigen.“16 Was ist nun aber die ekklesiologische Struktur der kirchlichen Glaubensgemeinschaft im Hinblick auf die Pfarrei? Die Frage nach dem ekklesialen Ort der Pfarrei ist so alt wie die Pfarrei selbst und wurde vor dem II. Vaticanum nicht eindeutig beantwortet.17 Metz postuliert resignierend das II. Vaticanum selbst habe keinen ausreichenden Beitrag zur Bestimmung der Pfarrei besteuern können, sondern im Gegenteil nichts gegen ihren Tod unternommen: „Bref, on constate de la part du concile une absence presque totale de prévision ou de prospective en ce qui concerne la paroisse […] le concile a risqué de condamner la paroisse à mourir de sa belle mort.“18 Die herrschende Meinung in der Kanonistik ist, dass der Gesetzgeber im CIC/1983 hinter den Aussagen des II. Vaticanums über die Pfarrei zurückgeblieben sei19 Wenn aber schon das II. Vaticanum in seinen Aussagen über die Pfarrei defizitär war, dann muss demzufolge das Gesetzbuch fast gar keine Aussagen über die Pfarrei enthalten. Aus dieser Perspektive erscheint dann die von Papst Johannes Paul II.20 und Papst Franziskus21 beschworene rechtliche Flexibilität und Formbarkeit der Pfarrei nicht als Möglichkeit, sondern als Eingeständnis fehlender, auch normativ aufgeladener, konkreter Vorstellungen über die Pfarrei. Diesem nahezu fatalistischen Szenario soll an dieser Stelle jedoch nicht nur resignierend zugestimmt, sondern der Versuch unternommen werden, sich an den kanonistischen Begriff der Pfarrei anzunähern und die hier aufgestellte These zu stützen, dass die kollegiale Leitung der Pfarrei entgegen der kurialen und breiten literarischen Auffassung der ekklesiologischen Struktur der Glaubensgemeinschaft entspricht. Hierzu werden zunächst die Definitionselemente der Pfarrei näher analysiert, dann der Begriff der Leitung in Hinblick auf die Pfarrei definiert, um dann aus rechts16

Ohly, Pastor proprius (Anm. 5), S. 276. Vgl. Ludwig Schick, Die Pfarrei. Beitrag zu einer theologisch-kanonistischen Ortsbestimmung (= Fuldaer Hochschulschriften 6), St. Ottilien 1988, S. 11. 18 René Metz, La Paroisse au IIe Concile du Vatican. Les promesses et la réaltie, in: Ex aequo et bono. Willibald M. Plöchl zum 70. Geburtstag, Peter Leisching/F. Pototsching (Hrsg.), Innsbruck 1977, S. 263 – 276, hier S. 275 f. 19 Vgl. Schick, Pfarrei (Anm. 17), S. 9 mit weiteren Belegen. 20 Vgl. Papst Johannes Paul II., Nachsynodales Schreiben Christifideles laici vom 30. Dezember 1988 (= VApSt 87), Nr. 27. 21 Vgl. Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium vom 24. November 2013 (= VApSt 194), Nr. 28. 17

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historischer Perspektive dem offenen Begriff der kollegialen Leitung im Hinblick auf seine Bedeutung, Herkunft und rechtshistorischen Kontext mehr Bestimmtheit zu verleihen. II. Was ist die Pfarrei? Lederhilger versucht für die Linzer Pfarrreform eine einerseits Negativ- und andererseits Positiv-Definition der Pfarrei, wenn er die Pfarrei nicht als Gebietskörperschaft öffentlichen Rechts verstehen will, sondern ekklesiologisch korrekt als bestimmte Gemeinschaft von Gläubigen, als Teil einer als Sendungsgemeinschaft konzipierten Kirche identifiziert.22 Die Negativdefinition leitet sich aus dem Kontrast zum pio-benediktinischen Codex ab. Dort normierte der Gesetzgeber in c. 216 § 1 i. V. m. § 3 S. 1: „§ 1 Territorium cuiuslibet dioecesis dividatur in distinctas partes territoriales; unicuique autem parti sua peculiaris ecclesia cum populo determinato est assignanda, suusque peculiaris rector, tanquam proprius eiusdem pastor, est praeficiendus pro necessaria animarum cura.; § 3 Partes dioecesis de quibus in § 1, sunt paroeciae.“

Die Pfarrei ist gemäß dem CIC/1917 also nichts Anderes als eine territoriale Untergliederung der Diözese, ein reiner Verwaltungsbezirk. Dies passt zu dem Verständnis der Pfarrei als Lehen, welches vom Diözesanbischof an Priester bzw. Pfarrer verliehen wird.23 Gemäß dieser posttridentinischen Definition waren die Gläubigen nur passive Objekte der pastoralen Aktivitäten des Pfarrers.24 So hatte auch die Pfarrei selbst keine Rechtspersönlichkeit, sondern nur das Kirchengebäude und das Benefizium gemäß c. 99 i. V. m. 1409 CIC/1917.25 Mit Schick lässt sich folgende Definition der Pfarrei im CIC/1917 aus den Normen ableiten: „Die Pfarrei wurde also verstanden als Instrument zur Versorgung aller Gläubigen mit den heilsnotwendigen Mitteln der Verkündigung in Predigt und Katechese, den Sakramenten, den Sakramentalien sowie den anderen Heiligungsmitteln unter Leitung des Pfarrers.“26 Vollkommen different zum altkodikarischen Pfarreibild wird in den Dekreten des II. Vaticanums die Pfarrei personal bestimmt.27 Die Pfarrei gilt gemäß der Liturgie-

22

Lederhilger, Hirtensorge (Anm. 3), S. 94. Vgl. Pokusa, Parishes (Anm. 12), S. 168. 24 Vgl. Antonio S. Sánchez-Gil, Circa la portata della qualifica del parroco quale pastore proprio della comunità parrocchiale, in: IusE 8 (1996), S. 217 – 230; hier S. 218. 25 Vgl. ebd., S. 221. 26 Schick, Pfarrei (Anm. 17), S. 13. 27 Vgl. Heribert Hallermann, Die rechtliche Vertretung der Pfarrei durch den Pfarrer. Kanonistische Erwägungen aufgrund gewandelter Verhältnisse, in: In mandatis meditarii. FS für Hans Paarhammer zum 65. Geburtstag, Stephan Haering/Johann Hirnsperger/Gerlinde Katzinger (Hrsg.), Berlin 2012 (KStT 58), S. 521 – 536; hier S. 523 f. 23

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konstitution als sichtbare Kirche (SC 4228) und als durch den heiligen Geist geeinte Familie Gottes gemäß der Kirchenkonstitution (LG 26; 2829).30 Folgerichtig kann die Pfarrei nicht nur eine administrative Einheit sein, deren Aufteilung am Reißbrett festgelegt wird.31 Die wenigen Äußerungen der Konzilsväter über die Pfarrei lassen sich weiterhin in zwei Kategorien einteilen: Einmal Aussagen im Kontext des Wesens der Kirche in SC 42, LG 26 und 28, PO 5 und 632 und CD 3033. Demgegenüber wird in AG 15 und 3734 sowie besonders in AA 10 die ekklesiale Funktion der Pfarrei thematisiert35 : „Innerhalb der Gemeinschaft der Kirche ist ihr Tun so notwendig, daß ohne dieses auch das Apostolat der Hirten meist nicht zu seiner vollen Wirkung kommen kann. […] Die Pfarrei bietet ein augenscheinliches Beispiel für das gemeinschaftliche Apostolat […] die Laien mögen sich daran gewöhnen, auf engste mit ihren Priestern vereint in der Pfarrei zu arbeiten; die eigenen Probleme und die der Welt, sowie die Fragen, die das Heil der Menschen angehen, in die Gemeinschaft der Kirche einzubringen, um sie dann in gemeinsamer Beratung zu prüfen und zu lösen.“36

Wenn also die Pfarrei primär personal bestimmt wird, müssen ihre Glieder die ekklesiale Funktion wahrnehmen, um signum et medium salutis zu sein.37 Teilweise greift der Gesetzgeber diese Impulse, vor allem das personale Element, in der Legaldefinition der Pfarrei gemäß c. 515 § 1 CIC/1983 auf: „Die Pfarrei ist eine bestimmte Gemeinschaft von Gläubigen, die in einer Teilkirche auf Dauer errichtet ist und deren Seelsorge unter der Autorität des Diözesanbischofs einem Pfarrer als ihrem eigenen Hirten anvertraut wird.“

Die Pfarrei ist wesentlich eine Gemeinschaft von christifideles im Sinne von c. 204 CIC/1983, also eigenberechtigten Sendungsträgern, die das Recht und die Pflicht haben ihr Taufapostolat auszuüben.38 Damit ist sie keine Sache mehr, sondern 28 Papst Paul VI., Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Consilium, in: AAS 56 (1964), S. 97 – 134; dt. HThK-VatII, Bd. 1, S. 3 – 56. 29 Papst Paul VI., Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, in: AAS 57 (1965), S. 5 – 75; dt. HThK-VatII, Bd. 1, S. 73 – 192. 30 Vgl. Hallermann, Die Pfarrei weiter denken (Anm. 13), S. 74 f.; Oliver, Pastoral Teams (Anm. 11), S. 340. 31 Vgl. Oliver, Pastoral Teams (Anm. 11), S. 341; Pokusa, Parishes (Anm. 12), S. 162. 32 Papst Paul VI., Dekret über den Dienst und das Leben der Priester Presbyterorum ordinis, in: AAS 58 (1966), S. 991 – 1024; dt. HThK-VatII, Bd. 1, S. 532 – 591. 33 Papst Paul VI., Dekret über das Hirtenamt der Bischöfe in der Kirche Christus Dominus, in: AAS 58 (1966), S. 673 – 696; dt. HThK-VatII, Bd. 1, S. 242 – 283. 34 Papst Paul VI., Dekret über die missionarische Tätigkeit der Kirche Ad gentes, in: AAS 58 (1966), S. 947 – 990; dt. HThK-VatII, Bd. 1, S. 459 – 531. 35 Vgl. Schick, Pfarrei (Anm. 17), S. 18. 36 Papst Paul VI., Dekret über das Apostolat der Laien Apostolicam Actuositatem, in: AAS 58 (1966), S. 837 – 864; dt. HThK-VatII, Bd. 1, S. 387 – 435. 37 Vgl. Schick, Pfarrei (Anm. 17), S. 18. 38 Vgl. Hallermann, Die Pfarrei weiter denken (Anm. 13), S. 244.

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eine bestimmte Gesellschaft bzw. Gemeinschaft, in und durch die die Kirche sichtbar wird.39 Insgesamt lassen sich vier bzw. fünf Merkmale der Pfarrei im Gesetzestext finden, 1) die certa communitas; 2) der pastor proprius; 3) stabiliter; 4) unter der Autorität des Bischofs40 und der Zweck der Pfarrei, die cura pastoralis bzw. animarum. Die wesentlichen personalen Elemente sind hierbei die certa communitas und der pastor proprius.41 Von diesen beiden ist die certa communitas: „l’elemento personale essenziale e basico della nozione di parrocchia.“42 Folgend werden der Zweck – die cura animarum – und die beiden personalen Elemente, die certa communitas und der pastor proprius einzeln kanonistisch näher bestimmt, um ihre Zuordnung untereinander klarer hervortreten zu lassen. 1. Der Zweck der Pfarrei – cura animarum Allgemein und weit gefasst kann der Zweck der Pfarrei mit dem obersten Zweck des Kanonischen Rechts, der salus animarum gemäß c. 1752 CIC/1983 identifiziert werden. Etwas präzisierend hält Johannes Neumann fest, dass auf dieser Grundlage die Glaubenslehren, die Institutionen und die religiösen „Machthaber“ den Gläubigen zu dienen haben.43 Konkret auf die Pfarrei bezogen hilft die konziliare, funktionale Bestimmung der Pfarrei in AG 15 weiter: „Als Mitarbeiter Gottes sollen die Missionare solche Gemeinden von Gläubigen erwecken, die würdig der Berufung, die sie empfangen haben, die Ämter, die Gott ihnen anvertraut hat, ausüben: das priesterliche, das prophetische und das königliche Amt. Auf diese Weise wird die christliche Gemeinschaft zum Zeichen der Gegenwart Gottes in der Welt. […] Von Anfang an soll die christliche Gemeinschaft so aufgebaut werden, daß sie, soweit möglich, für ihre eigenen Bedürfnisse aufkommen kann.“44

Diese funktionale Bestimmung der Pfarrei verdeutlicht erstens den Kontrast zur altkodikarischen Definition der Pfarrei als Versorgungseinheit für die Gläubigen45 und hat damit direkten Einfluss auf den Zweck der Pfarrei: Es geht gemäß AG 15

39 Olegario González de Cardedal beschreibt dies wie folgt: „This ability to be perceived, this character of being an event, is not reduced […] to the celebration of the Eucharist […]. In addition to communion there is society: It is a visible society; as really visible it must continually realize its historical, spacio-temporal tangibility through the actions of people.“ Development of a Theology of the Local Church from the Second Vatican Council, in: Jurist 52 (1992), S. 11 – 43; hier S. 38. 40 Vgl. Schöch, Pastoral Needs (Anm. 10), S. 321. 41 Vgl. Gianfranco Ghirlanda, Il parroco pastore proprio della comunità, in: PerRCan 103 (2014), S. 207 – 239; hier S. 216. 42 Sánchez-Gil, Circa la portata (Anm. 24), S. 219. 43 Vgl. Johannes Neumann, Grundriß des katholischen Kirchenrechts, Darmstadt 1981, S. 8 – 10. 44 Papst Paul VI., Ad gentes (Anm. 34). 45 Vgl. Schick, Pfarrei (Anm. 17), S. 13.

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um die Auferbauung einer „mündigen“ Gemeinde.46 Neben der Mündigkeit wird im letzten Satz der zitierten Passage die Eigenständigkeit betont, die nicht nur eine finanzielle, sondern der auch eine kulturelle und spirituelle Dimension inhärent ist.47 Folglich kann die in c. 515 § 1 CIC/1983 erwähnte cura pastoralis des pastor proprius nicht ausschließlich auf das Amt des Pfarrers als Versorger bezogen sein, sondern AG 15 gibt eine Anleitung, wie und mit welchem telos die cura pastoralis auszuüben ist. Der Begriff selbst ist neu im CIC/1983 und der Gesetzgeber bietet wie so häufig im Gesetzbuch keine Legaldefinition an,48 so dass der Rekurs auf AG 15 nahe liegt.49 Kodikarisch ist die cura pastoralis durch die cc. 528 – 530 – der sogenannte Pfarrerspiegel – näherhin bestimmt. Sie umfasst: „1) preaching, catechetical, educational, and sacramental preparation tasks, 2) celebrating the sacraments, leading und teaching prayer, and giving spiritual guidance, 3) detailed administrative responsibilities, and 4) the over-arching tasks of unifying, animating, and coordinating the parish community and the various ministries within it.“50 Sie ist weiterhin identisch mit dem Begriff der plena cura anmiarum gemäß c. 150 CIC/1983.51 Diese Interpretation wird durch cc. 288, 289 CCEO gestützt, da in c. 288 CCEO von der cura animarum des Pfarrers gesprochen wird – anstatt der cura pastoralis wie in c. 519 CIC/1983 –, die dann in c. 289 CCEO analog zu cc. 528, 529 CIC/1983 anhand der tria munera entfaltet wird. Die so gefasste cura pastoralis muss als ein partizipatives Unternehmen verstanden werden,52 bei der die Trägerschaft der cura animarum jedem einzelnen Gläubigen der Pfarrei zukommt, ihre Leitung als cura pastoralis aber dem Pfarrer vorbehalten ist.53 Denn bleibt auch die umfassende Seelsorge (plena cura animarum gem. c. 150 CIC/1983) den Empfängern der Priesterweihe vorbehalten, heißt dies jedoch zugleich auch, dass Teile der Seelsorge (cura animarum) duchaus von Laien ausgeübt werden können.

46 Vgl. Peter Hünermann, Theologischer Kommentar zum Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche Ad gentes, in: HThK-VatII, Bd. 4, S. 220 – 336; hier S. 281. 47 Vgl. ebd., S. 281 f. 48 Vgl. James Coriden, Parish Pastoral Leaders: Canonical Structures and Practical Questions, in: Jurist 67 (2007), S. 461 – 484; hier S. 468; der Begriff kommt dreizehnmal im CIC/ 1983 vor: cc. 371 § 2, 383 § 1, 414, 515 § 1, 517 § 1, 519, 520 § 1, 542, 543 § 1, 564, 566 § 1, 771 § 1, 1032 § 2. 49 Alternativ kann eine Definition über den Katechismus Romanus Nr. 10 erfolgen: „Curae pastoralis finis est cognitio Iesu Christi, eiusque mandata observare, quorum plenitudo caritas.“ Zitiert nach Sanchéz-Gil, Circa la portata (Anm. 24), S. 223. 50 Coriden, Parish Pastoral Leaders (Anm. 48), S. 468. 51 Vgl. Korta, Cura pastoralis (Anm. 12), S. 211. 52 Vgl. Coriden, Parish Pastoral Leaders (Anm. 48), S. 469. 53 Vgl. Hallermann, Die Pfarrei weiter denken (Anm. 13), S. 140.

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Damit erscheint die Pfarrei nicht primär als eine Regierungsstruktur, sondern als eine pastorale Struktur, die auf die cura animarum ausgerichtet ist unter der amtlichen cura pastoralis.54 2. Die Gläubigen – certa communitas christifidelium Die Bedeutung der neuen Definition der Pfarrei über die christifideles kann nicht hoch genug bewertet werden. Sowohl das Wesen als auch die Funktion der Pfarrei werden dadurch grundlegend anders als im alten Recht verstanden. Die wesenhaften Aussagen zur Pfarrei in SC 42, LG 28 und über die Teilkirche in CD 1155 legen den Grundstein für das personale Verständnis der Pfarrei in Analogie zur Diözese, die gemäß c. 369 CIC/1983 als portio populo Dei definiert ist. Die Textgeschichte zu c. 369 CIC/1983 weist Einmütigkeit in der Frage auf, die Pfarrei wie die Diözese in CD 11 personal zu definieren.56 Ohne Diskussion über diesen Punkt wird in der achten Sessio des Coetus De sacra hierarchia die Definition der Pfarrei als certa portio populo Dei übernommen.57 Die Definition auf der Grundlage von CD 30 als einfacher Teil der Diözese wird ohne Begründung abgelehnt.58 Erst nach der weltkirchlichen Konsultation wird 1980 wieder über die personale Definition diskutiert. Nun wird der Begriff certa portio populo Dei durch certa communitas christifidelium ersetzt. Dies hat mehrere Gründe: So würde der Begriff communitas besser den Aspekt der dynamischen Interaktion59 zwischen den Personen in einer Pfarrei hervorheben, das Verständnis der Pfarrei als kommunitäre Entität werde hervorgehoben und der Unterschied zur Diözese sei deutlicher, wodurch besser betont werde, dass das Territorium für die Pfarrei nicht von entscheidender Bedeutung sei.60 Zusammengefasst hat das territoriale Element der Pfarrei nur determinativen, aber keinen konstitutiven Charakter.61 Weiterhin sind die Gläubigen nicht mehr 54 Vgl. Sanchéz-Gil, Circa la portata (Anm. 24), S. 223: „La parrocchia non è una struttura di governo in senso stretto; ma piuttosto una struttura pastorale, ambito privilegiato della cura pastorale ordinaria.“ 55 Papst Paul VI., Christus Dominus (Anm. 33): „Die Diözese ist der Teil des Gottesvolkes, der dem Bischof in Zusammenarbeit mit dem Presbyterium zu weiden anvertraut wird. Indem sie ihrem Hirten anhängt und von ihm durch das Evangelium und die Eucharistie im Heiligen Geist zusammengeführt wird, bildet sie eine Teilkirche, in der die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche wahrhaft wirkt und gegenwärtig ist.“ 56 Vgl. Georg Bier, c. 369, Rn. 1, in: MK CIC (Stand: April 1996). 57 Vgl. Coetus Studii De sacra hierachia, Sessio VIII. v. 5.–10. Oktober 1970, in: Com 24 (1992), S. 109 f. 58 Vgl. ebd. 59 Ausführlich zur dynamischen Struktur vgl. Francesco Coccopalmerio, Il concetto di parrocchia, in: La Parrocchia e le sue Strutture, ders. (Hrsg.), A. Longhitano u. a., Bologna 1993, S. 29 – 82; hier bes. S. 68 – 72. 60 Vgl. Coetus Studii De Sacra hierarchia, series altera, Sessio VII v. 14.–19. April 1980, in Com 13 (1981), S. 147 f. 61 Vgl. Hallermann, Die Pfarrei weiter denken (Anm. 13), S. 75.

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vom Pfarrer versorgte passive Objekte der Pfarrei, sondern aktive Subjekte.62 Die Beteiligung der Laien ist jedoch nicht nur ein Ausdruck der Mitverantwortung und mithin sinnvoll und möglich und ein Zugeständnis der Hierarchie wie Ohly ausführt63 und damit einem klerikalen und überkommenen Denkansatz wie im alten Codex verhaftet bleibt, sondern konstitutiv für die Pfarrei.64 Die funktionale Definition der Pfarrei in AA 10 unterstützt diese Auffassung, wenn die Konzilsväter in Bezug auf die Laien lehren: „Innerhalb der Gemeinschaften der Kirche ist ihr Tun so notwendig, daß ohne dieses auch das Apostolat der Hirten meist nicht zu seiner vollen Wirkung kommen kann.“65 D. h. die Tätigkeit der Laien ist konstitutiv für die Pfarrei, ohne sie würde dem Apostolat der Hirten etwas fehlen, dass diese selbst nicht leisten können. Enge Zusammenarbeit wird als Normalfall angesehen, jegliche Einschränkung auf bestimmte Personen, die mit besonderen Charismen ausgestattet sind, wird abgelehnt.66 D. h. nicht nur Trägerinnen und Träger besonderer Charismen kommt eine Funktion in der Pfarrei zu, sondern aufgrund der Taufe allen christifideles. Ergänzend sind nicht nur die tria munera des Priesters für die Pfarrei entscheidend, sondern auch die tria munera der Laien.67 Das besondere und das allgemeine Priestertum (LG 10) sind zirkulär aufeinander bezogen und können ohne einander nicht existieren.68 Dies ist die dynamische Interaktion, die die Konsultoren während der Codexreform durch den Begriff der communitas hervorheben wollten, dies ist der konstitutive kommunitäre Aspekt der Pfarrei. Keinesfalls soll hierdurch das Tätigkeitsfeld des Pfarrers beschränkt werden, sondern das zweite personale Element der Pfarrei – die Gläubigen – sollen ermächtigt werden, in Ausübung ihres Apostolates aktive Träger der cura animarum zu sein.69 3. Der Pfarrer als pastor proprius Entgegen den Ausführungen über den kommunitären Charakter der Pfarrei wird der Pfarrer oft noch hierarchisch und patriarchal wahrgenommen. In einer Instruktion vom 4. August 2002 definiert die Kongregation für den Klerus den Pfarrer folgendermaßen:

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Vgl. ebd., S. 77; Ghirlanda, Il parroco (Anm. 41), S. 218 f.; Lederhilger, Hirtensorge (Anm. 3), S. 100. 63 Vgl. Ohly, Pastor proprius (Anm. 5), S. 279; 283. 64 Vgl. Ghirlanda, Il parroco (Anm. 41), S. 228. 65 Papst Paul VI., Apostolicam Actuositatem (Anm. 36). 66 Vgl. Ferdinand Klostermann, Einleitung und Kommentar zum Dekret über das Apostolat der Laien, in: LTHK-K, Bd. 2, S. 634 f. 67 Vgl. Ghirlanda, Il parroco (Anm. 41), S. 224. 68 Vgl. ebd. 69 Vgl. in ähnlicher Diktion: Coriden, Parish Pastoral leaders (Anm. 48), S. 266; Oliver, Pastoral Teams (Anm. 11), S. 336.

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„Der Reichtum der geistlichen Vaterschaft des Pfarrers als ein sakramentaler paterfamilias der Pfarrei mit den sich ergebenden Banden, die die pastorale Fruchtbarkeit hervorbringen, ist offensichtlich.“70

Dieses Bild entstammt dem 19. Jahrhundert und geriert den Pfarrer als Vormund der Gläubigen71 und widerspricht damit offensichtlich den Bemühungen des II. Vaticanums. Nicht weniger problematisch erscheint es, wenn dem Priester das Bild des Hirten nach Joh 10 allgemein reserviert wird,72 das den Pfarrer ebenfalls als Versorger und Haupt hervorhebt. Abgesehen von den immer noch negativ nachwirkenden Bildern ist der Dienst des Pfarrers erstens keine profane Leitung, sondern Teilhabe an der Vollmacht Christi,73 zweitens bezieht sich die Leitung auf die cura pastoralis und nicht die Entität Pfarrei74 und drittens kommt ihm die cura pastoralis nicht aufgrund der Weihe, sondern der Übertragung des Amtes durch den Diözesanbischof zu.75 Der Pfarrer hat jedoch nur eine partielle Partizipation an der Vollmacht Christi76 und nicht wie Ohly ausführt „Er ist auf pfarrlicher Ebene der sakramental bevollmächtigte Repräsentant des Hauptes der Kirche, Jesus Christus. In seiner Person handelt er sakramental – und das heißt sichtbar stellvertretend – als geistliches Haupt der Pfarrei, dessen Wesen Dienst und Hingabe an die ihm anvertrauten Gläubigen darstellt.“77 Im Gegensatz zu Ohlys Ausführungen partizipiert der Pfarrer nur unter der Autorität des Diözesanbischofs (sub auctoritate Episcopi dioecesani c. 515 § 1 CIC/1983) an der Vollmacht Christi. Zudem ist er nicht primär Haupt, sondern Teil der communitas der Pfarrei. Er ist reziprok zu den Gläubigen zu verstehen in Analogie zum Diözesanbischof, der gemäß Pastoris Gregis in gleicher Diktion zum Volk Gottes verstanden wird.78 Der Pfarrer ist nicht nur als Gegenüber zu den Gläubigen zu verstehen, sondern als Getaufter als einer inmitten unter ihnen.79 Das Spezifikum seines Dienstes zeigt sich in einer doppelten Repräsentation. So hat er durch sein Handeln Christus in der Gemeinde gegenwärtig zu setzen (repraesentatio Christi) und das Volk Gottes vor Gott in seiner personalen Verantwortung gegenwärtig zu setzen (repraesentatio Ecclesiae).80 Der Pfarrer ist aber nicht selbst das Haupt Christus, noch

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Kongregation für den Klerus, Instruktion Der Priester, Hirte und Leiter der Pfarrgemeinde vom 4. August 2002 (VApSt 157), Nr. 34. 71 Vgl. Hallermann, Die Pfarrei weiter denken (Anm. 13), S. 67. 72 Vgl. Ghirlanda, Il parroco (Anm. 41), S. 207. Weiterführend: David R. Wenger, Der Gute Hirte als Verfassungsbild. Eine Recht-Fertigungs-Tragödie mit Pierre Legendre, Michel Foucault und Carl Schmitt, in: RG 8 (2006), S. 111 – 128. 73 Vgl. Ahlers, Macht (Anm. 7), S. 187. 74 Vgl. Hallermann, Die Pfarrei weiter denken (Anm. 13), S. 227. 75 Vgl. ebd., S. 142. 76 Vgl. Ghirlanda, Il parroco (Anm. 41), S. 227. 77 Ohly, Pastor Proprius (Anm. 5), S. 283. 78 Vgl. Ghirlanda, Il parroco (Anm. 41) S. 220. 79 Vgl. ebd., S. 222. Grundgelegt ist dieses Verständnis in PO 13, 17 und 32. 80 Vgl. Korta, Cura pastoralis (Anm. 12), S. 218.

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beruht seine rechtliche Stellung auf einer exklusiven Christusrepräsentation in irgendeiner analogen Form zum Verhältnis Diözesanbischof und Diözese. Unter Bezugnahme auf den Terminus pastor proprius urteilt Ohly entgegengesetzt zur obigen Feststellung: „Der Begriff des Pastor proprius verbalisiert und normiert dabei ein theologisch durchdrungenes Bild, das die ekklesiologische Grundstruktur der Kirche erfasst. Jeder Gemeinschaft von Gläubigen (communio fidelium) ist aufgrund der hierarchischen, im Willen Christi selbst gründenden Struktur der Kirche (communio hierarchica) ein sakramental bevollmächtigtes Leitungsamt zugewiesen, das in seinem Dienstcharakter für die Gläubigen die Stellung und das Wirken Jesu Christi als Haupt der Kirche repräsentiert.“81

Dieses „unipersonale Leitungsprinzip“ würde die Pfarrei als unterste Ebene mit der Universalkirche und der Teilkirche gleichsetzen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass in dieser Definition der Gedanke mitschwebt, die Pfarrei als Institution göttlichen Rechts zu verstehen, als unterste hierarchische Ebene. Doch das ist weder die Pfarrei noch der Pfarrer im Verhältnis zur certa communitas christifidelium, wie das Lehramt der Kirche in Auseinandersetzung mit den Parochianisten deutlich festgehalten hat.82 Das proprius darf nicht parallel zur Bestimmung der Vollmacht des Diözesanbischofs gemäß c. 381 § 1 CIC/1983 verstanden werden.83 Auch ist die Interpretation abzulehnen, im proprius Eigenständigkeit, Eigenberechtigung und Eigenverantwortlichkeit des Amtes hineinzulesen.84 Es handelt sich nicht um den kanonistischen Ausdruck für eine Unabhängigkeit vom Bischof, die schon der Wortlaut von c. 515 § 1 CIC/1983 ausschließt, sondern meint vielmehr, dass der Pfarrer persönlich sein Amt ausübt, nicht eigenmächtig wie gemäß c. 1960 CIC/1917, sondern im Sinne von zuständig gemäß c. 778 CIC/1917.85 Das proprius zielt sodann auch nicht auf die Jurisdiktion im Sinne von c. 129 CIC/1983 ab.86 Im Kontrast zum Diözesanbischof als eigentlichem pastor propius ist der Pfarrer als „Hirte zweiter Ordnung“ zu verstehen, dem im weiten Sinn kein Amt in der Hierarchie der Jurisdiktion zukommt.87 Stattdessen ist das proprius als verhältnisanzeigendes Adjektiv auszulegen, dass dem Pfarrer die unmittelbare Seelsorge gegenüber der certa communitas christifidelium zuweist, seinem populus proprius.88 Zusammenfassend hält Sanchéz-Gil fest: „Come viene messo in risalto nei canoni 528 – 530, la missione del parroco è di ca81

Ohly, Pastor Proprius (Anm. 5), S. 277. Ausführlich zu den Parochianisten vgl. David Bouix, Tractatus de Parocho ibi et de vicariis parchoialibus, Paris 1855, S. 82 – 102. 83 Vgl. Ahlers, Macht (Anm. 7), S. 188. 84 So etwa Korta, Cura pastoralis (Anm. 12), S. 212. 85 Vgl. Ghirlanda, Il parroco (Anm. 41), S. 210. 86 Vgl. Sanchéz-Gil, Circa la portata (Anm. 24), S. 225. 87 Vgl. ebd., S. 228; Sanchéz-Gil verweist als Beleg auf die Sessio des Coetus de Clericis vom 3.–8. April 1967, in Com 17 (1985), S. 95, hin. 88 Vgl. Sanchéz-Gil, Circa la portata (Anm. 24), S. 226. 82

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rattere prevalentemente pastorale o di cura delle anime e non specificamente di governo o di giurisdizione.“89 Der ekklesiologische Standort des Pfarrers bestimmt sich demnach nicht über das Attribut proprius, sondern über seine Verhältnisbestimmung zu den Gliedern in der Pfarrei gemäß c. 519 CIC/1983. In Verbindung mit AA 10 ergibt sich aus dem letzten Satz des Canons „wobei nach Maßgabe des Rechts auch andere Priester oder Diakone mitwirken sowie Laien mithelfen“, dass der Pfarrer nicht Hierarch ist, sondern auf die Mithilfe der Gläubigen angewiesen ist. Sein Apostolat wäre – so AA 10 – unvollständig ohne die „Anderen“. Hallermann geht auf dieser Grundlage soweit die in c. 519 CIC/1983 normierte Zusammenarbeit als konstitutiv für das Amt des Pfarrers zu verstehen.90 Wenn ergänzend die cc. 528, 529 CIC/1983 hinzugezogen werden, ist ersichtlich, dass der Pfarrer das umfassende Aufgabenbündel der Hirtensorge nicht alleine verwirklichen kann und die Verbwahl im Pfarrerspiegel legt nahe, dass er dies auch nicht alleine tun darf.91 Er hat dafür zu sorgen, dass die Gläubigen ihre munera ausüben, seine Aufgabe ist es wie in AG 15 beschrieben die Gläubigen zur Mündigkeit zu bringen, damit sie selbst finanziell, spirituell und kulturell eigenständig werden. Das Ziel der cura pastoralis des pastor proprius ist somit die Ermächtigung der Gläubigen zur Evangelisierung und nicht ihre Versorgung. Diese missionarische Ausrichtung der Pfarrei kann der Pfarrer nur verwirklichen, wenn er als Teil der communitas92, als mitten in ihr und nicht ihr gegenüber stehend93 verstanden wird; wenn sein personaler Bezug zu den ihm eigenen Gläubigen (populus proprius) ernst genommen wird. 4. Synthese Auf ihren Zweck, die cura animarum, bezogen ist zusammenfassend die Pfarrei formal also nicht die geringste, sondern die wesentliche Einheit in der Kirche.94 Dies impliziert jedoch weder strukturell noch ekklesiologisch die Denkweise von der Pfarrei als Teilkirche in einer Diözese und verbietet somit jedwede Analogie zwischen Diözesanbischof und Pfarrer. Der Pfarrer ist „Hirte zweiter Ordnung“. Im Beschluss 1.3.2 der Würzburger Synode wird der Inhalt des Zwecks entsprechend den obigen Ausführungen treffend zusammengefasst:

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Ebd., S. 229. Vgl. Hallermann, Die Pfarrei weiter denken (Anm. 17), S. 143. 91 Vgl. ebd., S. 227. 92 Vgl. Christoph Ohly, Pfarrei und Pfarrer. Fragen im Kontext der Neuordnung diözesaner Pfarreistrukturen, in: Ecclesiae et scientiae fideliter inserviens. FS für Rudolf Henseler CSsR zur Vollendung des 70. Lebensjahres, Matthias Pulte/Rafael Rieger (Hrsg.) (= Mainzer Beiträge zum Kirchen- und Religionsrecht, 7), Würzburg 2019, S. 203 – 225; hier S. 211. 93 Vgl. Schick, Pfarrei (Anm. 17), S. 532. 94 Vgl. ebd., S. 30. 90

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„Aus einer Gemeinde, die sich pastoral versorgen lässt, muss eine Gemeinde werden, die ihr Leben im gemeinsamen Dienst aller und in unübertragbarer Eigenverantwortung jedes einzelnen gestaltet.“95

Aus der Verhältnisbestimmung der certa communitas und dem pastor proprius ergibt sich, dass der Pfarrer nicht exklusiv für die Verwirklichung der cura animarum zuständig ist, sondern die Pfarrei als personal bestimmtes einheitlich handelndes Rechtssubjekt konzipiert ist,96 ergo die Partizipation der certa communitas konstitutiv ist. Die Leitung der Pfarrei ist demgemäß eine kommunitäre97 und vor allem eine geistlich und ekklesiologisch bestimmte Aufgabe.98 An erster Stelle in der cura pastoralis des Pfarrers steht daraus folgend die Aufgabe, die Sendung aller Glieder der Pfarrei zu stärken, zu schützen und zur Geltung zu bringen.99 Die Communio-Ekklesiologie scheint unausgesprochen hinter dieser Verhältnisbestimmung der personalen Elemente der Pfarrei zu stehen. Sie erweist sich als der essentielle theologische Kontext für die kanonistisch-bestimmte Organisation der Pfarrei.100 Die in dieser Welt inkarnierte und auf diese Welt bezogene horizontale communio besteht im Dialog ihrer ineinander verwobenen Dimensionen communio fidelium, communio ecclesiarum und communio hierarchica.101 Die Beziehung von Pfarrer und Gläubigen innerhalb der communio fidelium wird ergänzt durch den Bezug auf den Bischof über die communio hierarchica und seiner Verbindung zum Bischofskollegium sowie durch die communio ecclesiarum der einzelnen Teilkirchen. Der Pfarrer als pastor proprius ist selbst jedoch nicht Ausdruck der communio hierarchica als Hierarch der communio fidelium in der certa communitas christifidelium. Gemäß dieser ekklesiologischen Verortung ergibt sich die Beteiligung aller Glieder der Pfarrei nicht aus einer säkularen demokratischen Vorstellung, sondern aus der Communio-Ekklesiologie.102 Entscheidend ist nicht die Herbeiführung von Mehrheiten durch Abstimmungen, sondern die Beteiligung aller um unanimitas herbeizuführen.103 95

Hallermann, Die Pfarrei weiter denken (Anm. 13), S. 79 f. Vgl. ebd., S. 161. 97 Vgl. Ghirlanda, Il parroco (Anm. 41), S. 220: „Possiamo dire, allora, che in un certo senso è tutta la parrocchia, come soggetto comunitario, che agisce attraverso il parroco.“ 98 Vgl. Lederhilger, Hirtensorge (Anm. 3), S. 98. 99 Vgl. Hallermann, Die rechtliche Vertretung der Pfarrei (Anm. 27), S. 535. 100 Vgl. Oliver, Pastoral Teams (Anm. 11), S. 366; Pokusa, Parishes (Anm. 12), S. 155. 101 Vgl. grundlegend Hubert Müller, Kirchliche Communio und Strukturen der Mitverantwortung in der Kirche. Vom Zweiten Vatikanischen Konzil zum Codex Iuris Canonici, in: AfkKR 159 (1990), S. 117 – 131; hier bes. S. 118 – 124. 102 Vgl. Ghirlanda, Il parroco, (Anm. 41), S. 232. 103 Vgl. ebd., S. 229: „Per questo, il fine, come in ogni azione sinodale ecclesiale, non è quello die conseguire la maggioranza dei pareri o eventualmente dei voti, in modo che una fazione imponga la sua volontà sull’altra, ma ricercare la verità e il bene della Chiesa, quindi arrivare ad un convergere, per azione dello Spitio, verso un’unità die pareri e di intentiu, che si esprime nella tendenza all’unanimità.“; zu Demokratie und Kirche vgl. Thomas Neumann/ 96

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Schicks Reformvorschlag aufgreifend, könnte de lege ferenda ein nach den bisherigen Ausführungen reformierter Einleitungscanon zum Parochialrecht folgendermaßen lauten: „Die Pfarrei ist eine bestimmte Gemeinschaft von Gläubigen, die die Kirche Christi sichtbar macht, indem sie auf ihre Weise das priesterliche, prophetische und königliche Amt Christi ausübt.“104

III. Was heißt Leitung in der Pfarrei? Da der Pfarrer jedoch ebenfalls konstitutiv für die Pfarrei ist, will Schick seinen neuen Einleitungscanon um eine angepasste Variante von c. 519 CIC/1983 ergänzen: „Der Pfarrer ist der eigene Hirte der ihm übertragenen Pfarrei; er nimmt die Seelsorge für die ihm anvertraute Gemeinschaft unter der Autorität des Diözesanbischofs wahr. Er übt in Stellvertretung Christi die Dienste des Lehrens, Heiligens und Leistens aus, damit die Pfarrei das prophetische, priesterliche und königliche Amt Christi auf ihre Weise verwirklichen kann. Dabei sollen andere Priester und Diakone mitwirken und Laien nach Maßgabe des Rechtes Hilfe leisten.“105

Sowohl diese Neukonzeption des Canons wie auch die cc. 515 § 1 und 519 CIC/ 1983 beinhalten nicht den Begriff „Leitung“. Es wird stattdessen von der Verantwortung als inhärentes Moment der cura pastoralis und dem munus regendi gesprochen. Die Konzepte im Bereich der DBK verwenden zwar den Begriff „Leitung“ in unterschiedlichsten Varianten, etwa Gemeindeleitung oder wie in Osnabrück als Führungs- und Handlungsvollmacht oder in Linz als „servant leadership“, eine ausführliche Reflektion über den Begriff erfolgt allerdings nicht.106 Auf einem Studientag der DBK im Jahr 2007 versuchen sich die Bischöfe an einer Definition: „Der Leitungsdienst des Pfarrers umfasst im allgemeinen Verständnis die Verantwortung für das Vermögen der Pfarrei und ihre Gebäude, für die Gremien und das Personal, für die Pfarrbücher und die Verwaltung.“107

Diese erfasst jedoch in keiner Weise die bisherigen Ergebnisse zur cura pastoralis noch die dynamische Interaktion zwischen den personalen Definitionselementen der Pfarrei. Gemeinhin wird Leitung durch diese DBK-Definition mit Verwaltung bzw. Regierung identifiziert. 2015 im Wort der Deutschen Bischöfe zur Erneuerung der

Thomas Schüller, Demokratie und Wahrheit. Entscheidungsprozesse in der Kirche aus kanonistischer Perspektive, in: ZevKR 60 (2015), S. 265 – 293. 104 Schick, Pfarrei (Anm. 17), S. 25. 105 Ebd., S. 25 f. 106 Vgl. Hallermann, Die Pfarrei weiter denken (Anm. 13), S. 63. 107 Ebd., S. 120.

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Pastoral „Gemeinsam Kirche Sein“ wenden sich die Bischöfe von der 2007er Definition explizit ab108 und lassen den Begriff offen: „Leitung ist ein offener und vieldeutiger Begriff, der mit mannigfachen Definitionen und Ansprüchen gefüllt werden kann. Auch in der Geschichte der Kirche werden viele Gestalten von Leitung deutlich. Sie zeigen sich in einer Fülle von theologischen und kirchenrechtlichen Begriffen, in biblischen Bildern, in geistlichen und gemeinschaftlichen Erfahrungen von Leitung. Dabei hat die Kirche Leitungsverständnisse der jeweiligen Zeit ausgewählt und aus dem Geist des Evangeliums und zur Erfüllung ihres Auftrages sich anverwandelt […].“109

Ein verdeckt formulierter Verzicht auf eine Definition hilft jedoch auch nicht weiter. Ein erster Anhaltspunkt für eine exaktere Bestimmung kann im Kontrast zum CIC/1917 gefunden werden110 : c. 948 CIC/1917: „Ordo ex Christi institutione clericos a laicis in Ecclesia distinguit ad fidelium regimen et cultus divini ministerium;“

wurde durch c. 1008 CIC/1983 ersetzt: „Durch das Sakrament der Weihe werden kraft göttlicher Weisung aus dem Kreis der Gläubigen einige mittels eines untilgbaren Prägemals, mit dem sie gezeichnet werden, zu geistlichen Amtsträgern bestellt; sie werden ja dazu geweiht und bestimmt, entsprechend ihrer jeweiligen Weihestufe unter einem neuen und besonderen Titel dem Volk Gottes zu dienen.“

Für Kleriker ist es nun kein wesentliches Element mehr, dass sie zur Regentschaft über die Laien geweiht werden. Im Gegenteil sind sie zum Dienst geweiht, was die dynamische Interaktion zwischen Klerikern und Laien ermöglicht. Folglich kann und darf der Begriff Leitung nicht mit dem Begriff der potestas regiminis im Sinne des CIC/1917 gleichgesetzt werden.111 Auf die Pfarrei bezogen wird dem Pfarrer auch an keiner Stelle potestas regiminis im Sinne von c. 129 CIC/1983 zugesprochen, sondern wie etwa in c. 519 CIC/1983 der munus regendi. Für Hallermann hat der Pfarrer überhaupt keine Leitungsvollmacht im Sinne von c. 129 CIC/1983.112 Diese radikal anmutende Position ergibt sich aus der korrekten Auffassung von munus regendi, denn dieser ist nicht synonym mit der potestas regiminis, sondern letztere ist ein Bestandteil des munus regendi, dieser erschöpft sich 108

Vgl. Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz, „Gemeinsam Kirche sein“ Wort der deutschen Bischöfe zu Erneuerung der Pastoral vom 1. August 2015 (= DDB 100), S. 41: „Nicht selten wird die Frage nach Leitung in der Kirche verkürzt auf die Frage: Was darf der andere, was ich nicht darf? Leitung und Macht werden gleichgesetzt; Leitung wird als Abgrenzung, Über- und Unterordnung verstanden. Nicht zuletzt wird Leitungsvollmacht an die Entscheidungskompetenz über Geld, lohnabhängiges Personal und Immobilien gebunden, ja manchmal allein aus dieser abgeleitet. In einem rein am säkularen Management orientierten Verständnis von Leitung verblasst das Grundverständnis der Kirche von sich selbst.“ 109 Ebd., S. 41 f. 110 Vgl. Hallermann, Die Pfarrei weiter denken (Anm. 13), S. 224. 111 Vgl. Hallermann, Rechtliche Vertretung (Anm. 27), S. 522. 112 Vgl. Hallermann, Die Pfarrei weiter denken (Anm. 13), S. 225.

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aber nicht in ihr.113 Munus regendi umfasst ein theologisches Konzept – das der dialogisch aufgebauten communio – und erschöpft sich nicht in der in c. 135 § 1 CIC/ 1983 näher definierten potestas regiminis.114 Deswegen sollte der Begriff „Leitung“ für die Pfarrei und vor allem das Amt des Pfarrers vermieden werden und stattdessen sollte der Begriff cura pastoralis in Verbindung mit munus regendi verwendet werden. Formal ist für diesen Dienst das Zusammenwirken mit den übrigen Gliedern der Pfarrei konstitutiv (vgl. AA 10), inhaltlich bezieht er sich auf alles was den Aufbau, die Bewahrung, die Stärkung und den Erhalt der pfarrlichen communio tangiert.115 Ausgehend von c. 150 CIC/1983 müssen also Teile der cura animarum allen Getauften offenstehen, solange es sich nicht um die umfassende Seelsorge respektive die cura pastoralis handelt.116 Mit den Worten Sanchéz-Gils: „Di conseguenza, è un’esigenza della salus animarum che tutti i fedeli abbiano un chiaro vincolo di governo ecclesiastico.“117 Allen Getauften kommt eine Teilhabe am munus regendi zu, hingegen ausschließlich dem Pfarrer von Amts wegen, der gemäß c. 521 § 1 CIC/1983 ein sacerdos sein muss, die cura pastoralis als persönliche Verantwortung für und Koordination der cura animarum in einer Pfarrei. IV. Kollegiale Leitung einer Pfarrei Der erarbeitete Begriff des pfarrlichen munus regendi in seiner kommunitären Ausrichtung mag noch einigermaßen konsensfähig sein, jedoch wohnt dem Attribut kollegial wohl einige Reizwirkung inne, wenn man zum Beispiel die Ausführungen Ohlys liest: „Die spezifische Würde des amtlichen Priestertums darf durch eine theologisch nicht begründbare ,Demokratisierung‘ der hierarchischen Verfassung der Kirche nicht untergraben werden.“118 Nun geht es aber bei der Ausübung des munus regendi auf pfarrlicher Ebene überhaupt nicht um die spezifische Würde des amtlichen bzw. besonderen Priestertums, sondern um die Art und Weise, wie das Amt des Pfarrers ausgeübt wird. Tatsächlich problematisch wäre es, wenn man versuchen würde, den Pfarrer als personales konstitutives Element der Pfarrei zu ersetzen und die certa communitas christifidelium 113

Vgl. Korta, Cura pastoralis (Anm. 12), S. 206; 208 f. Vgl. Sanchéz-Gil, Circa la portata (Anm. 24), S. 227. 115 Vgl. Hallermann, Die Pfarrei weiter denken (Anm. 13), S. 232. 116 Vgl. Ahlers, Macht (Anm. 7), S. 189. 117 Sanchéz-Gil, Circa la portata (Anm. 24), S. 220. 118 Ohly, Pastor proprius (Anm. 5), S. 287; Ausführlich auf S. 284: „Ein ,Leitungsteam‘ einer Pfarrei, das aus für die Pfarreileitung gleichberechtigten Personen besteht, kann es im Licht der kirchenrechtlichen Normen und ihrer ekklesiologischen Grundlegung nicht geben. Das gilt sowohl für das Leitungsteam, wie es im Umsetzungsgesetz für die Trierer Diözesansynode unter Beachtung einer gewissen Vorbehaltsstellung des Pfarrers angedacht wird, als auch für die Pilotprojekte des Erzbistums München und Freising, in denen Leitungsteams ohne die Beteiligung eines Pfarrers/Priesters installiert werden.“ 114

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autonom cura animarum betreiben würde, denn dann würde die dynamische Interaktion fehlen und die Gefahr bestehen, dass der communiale Dialog die anderen horizontalen Ebenen nicht miteinbeziehen würde. Die bisherigen Ergebnisse untermauern, dass eine partizipative Gestaltung der Organisation einer Pfarrei rechtlich zwingend ist. In diese Richtung geht auch das Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe, wenn dort in Nr. 215c explizit pastorale Teams als legitime Möglichkeit genannt werden.119 Allerdings bleibt unklar, wie sich die Begriffe partizipativ und kollegial zueinander verhalten. Auf der Grundlage des CIC/1983 wird argumentiert, dass die Pfarrei gemäß c. 515 § 1 i. V. m. c. 115 §§ 1 und 2 eine juristische Person als Gesamtheit von Personen ist. Sie sei aber nicht kollegial, da trotz Beratungspflicht der Pfarrer „am Ende“ entscheide120 bzw. dem Pfarrer gemäß c. 532 CIC/1983 die Repräsentation nach außen zukomme.121 In Verbindung mit c. 118 CIC/1983 ist klar, dass dem Pfarrer qua Amt die Vertretung bzw. Repräsentation der öffentlichen juristischen Person Pfarrei zukommt. Damit ist m. E. aber weder etwas über die innere Verfasstheit der Pfarrei noch über die Entscheidungsfindung in ihr ausgesagt. Eine darüber hinaus gehende Begründung, warum die Pfarrei eine nicht-kollegiale juristische Person sei, erfolgt nicht. Hallermann122 und Ohly123 verweisen auf Schick124, der keine Begründung anführt, Pokusa125 und Schöch126 verweisen auf den Kommentar von Renken127. Renken verweist auf eine authentische Interpretation des PCLT und eine Entscheidung der Apostolischen Signatur, dass Gruppen von Laien, die nicht die Rechtspersönlichkeit haben, keinen hierarchischen Rekurs einlegen können.128 Inwiefern dies ein Argument gegen die Pfarrei als kollegiale juristische Person ist, erschließt sich nicht gänzlich. Der maßgebliche Rechtstext ist c. 115 § 2 CIC/1983: „Eine Gesamtheit von Personen, die nur aus mindestens drei Personen errichtet werden kann, ist kollegial, wenn die Mitglieder deren Handeln bestimmen, indem sie nach Maßgabe des Rechtes und der Statuten bei der Entscheidungsfällung zusammenwirken, sei es gleichberechtigt oder nicht; anderenfalls ist sie nicht kollegial.“

119 Vgl. Kongregation für die Bischöfe, Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe „Apostolorum Sucessores“ vom 22. Februar 2004 (= VApSt 173), Nr. 215c. 120 Vgl. Ghirlanda, Il parroco (Anm. 41), S. 219 f. 121 Vgl. Sanchéz-Gil, Circa la portata (Anm. 24), S. 221. 122 Vgl. Hallermann, Rechtliche Vertretung (Anm. 27), S. 531. 123 Vgl. Ohly, Pfarrer und Pfarrei (Anm. 92), S. 210 f. 124 Vgl. Ludwig Schick, § 45 Die Pfarrei, in: HbdKathKR2, S. 484 – 496, hier S. 490. 125 Vgl. Pokusa, Parishes (Anm. 12), S. 156. 126 Vgl. Schöch, Pastoral Needs (Anm. 10), S. 322. 127 Vgl. John A. Renken, New Commentary on the Code of canon law, John P. Beal/James Coriden/Thomas J. Green (Hrsg.), New York 2000, S. 690. 128 Vgl. ebd, Anm. 39.

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Im Gesetzestext wird nun aber festgehalten, dass die Beteiligung an der Entscheidungsfällung, die das Charakteristikum für eine kollegiale juristische Person sei, nicht gleichberechtigt erfolgen muss. Wenn man sodann zwischen der Repräsentanz der juristischen Person nach außen (c. 118 i. V. m. c. 532 CIC/1983) und der inneren Verfassung der juristischen Person unterscheidet,129 verliert das Argument der alleinigen Vertretungsvollmacht des Pfarrers an Schlagkraft. Im Vergleich mit c. 101 § 1 81 CIC/1917 fällt auf, dass im pio-benediktinischen Gesetzeswerk keine Aussage über die Frage der Gleichberechtigung bei der Abstimmung getroffen wird, sondern lediglich, dass alle abstimmen müssen. Weiterhin ist auf eine ,Neuerung‘ im CIC/ 1983 hinzuweisen, die immense Auswirkungen auf den Begriff des Kollegiums hat: Klassisch wird zwischen juristischen Personen aus Personengesamtheiten als Kollegien respektive Korporationen130 und juristischen Personen aus Sachengesamtheiten als Nicht-Kollegien respektive Anstalten131 unterschieden. Eine nicht-kollegiale Personengesamtheit als juristische Person kommt nicht vor bzw. wird erst im CIC/1983 normiert. Ein Hinweis für diesen Wandel ist bei Aymans zu finden, der die These aufstellt, der eigentliche Unterschied zwischen Korporationen und Anstalten liege in der Tatsache, dass bei Kollegien der Wille autonom bestimmt wird, hingegen bei Anstalten heteronom.132 Hier scheint er eine These seines Lehrers Klaus Mörsdorf zu rezipieren, der während der Codexreform eine Debatte über den Kollegienbegriff mit anderen Konsultoren des Coetus de Personis führte, was noch näher darzustellen ist. 129 Diese Unterscheidung führt Hallermann ein, jedoch nicht mit dem Ziel kollegiale Leitung zu legitimieren; vgl. Hallermann, Rechtliche Vertretung (Anm. 27), S. 526 f. 130 Vgl. Gommarus Michiels, Principia Generalia de Personis in Ecclesia. Commentarius Libri II Codicis Juris Canonici Canones Praeliminares 87 – 106, Paris 1955, S. 356: „Persona moralis collegialis in Ecclesia […] est ens juridicum materialiter constans ex pluribus personis physicis ad determinandum finem communem religiosum vel caritativum communibus mediis permanenter prosequendum immediate vel mediate associatis in unum corpus seu collegium ad normam juris legitme constitutum, quod qua tale, idest qua corpus in se unum et per se stans, ab auctoritate publica ecclesiastica agnitum est ut subjectum quorundam jurium et officiorum in Ecclesia, quodque proinde qua tale gaudet propria capacitate juridica, ab ea qua corporis membra tum seorsim tum collective sumpta in Ecclesia gaudent specifice diversa, et qua tale, ideoque modo in propria voluntate juridice efficaci efformanda et in propria activitate juridica exercenda pluralitati hominum in se uni specifice proprio, collgialiter scilicet, seu omnibus collgeii membris efficaciter, saltem de jure et mediate, concurrentibus, capacitatem juridice agendi sibi competentem in actum deducit.“ 131 Vgl. Ebd., S. 357: „Persona moralis non collegialis (seu institutionalis) in Ecclesia, e contra, est ens juridicum materialiter constans ex quodam instituto aut ex quodam complexu rerum, sive spiritualium sive materialium, a persona publica aut privata ad determinatum findem riligiosum vel caritativum permanenter assequendum condito seu fundato, ordinato et legibus seu statutis munito, cui, ut personae per se stanti, ab auctoritate publica ecclesiastica agnita est quaedam capacitas juridica in Ecclesia, cum capacitate correlativa juridice agendi per alium, modo ab ipso fundatore in lege constitutionis seu fundationis definito.“ 132 Vgl. Winfried Aymans, Kollegium und Kollegialer Akt im Kanonischen Recht, München 1969, S. 29; hierfür verweist er allerdings auf das staatliche Stiftungsrecht, was nicht zwingend eine Begründung für nicht-kollegiale Personengesamtheiten sein kann.

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Im Kontext von c. 101 § 1 82 wird auf die Rechtsregel Quod autem omnes, uti singulos, tangit, ab omnibus probari debet verwiesen. Diese taucht in c. 119 83 CIC/ 1983 in leicht veränderter Form wieder auf, indem das probari durch approbari ersetzt wurde. Die XXIX. Regula iuris gemäß dem Liber Sextus Bonifaz VIII. lautet demgegenüber: „Quod omnes tangit, debet ab omnibus approbari.“133 Diese Varianzen und die fehlende Präzision in der Frage, was denn nun ein Kollegium ist, lassen den Rechtshistoriker aufhorchen und fordern zu einer detaillierteren Analyse in drei Schritten auf: a) gilt es den Begriff der Kollegialität in der Theologie näher zu betrachten; b) stellt sich die Frage, was ein Kollegium als Gesamtheit von Personen eigentlich ist und wie seine Ursprünge im Römischen Rechts aussehen; c) ist zu klären, welche Verbindung die regula iuris XXIX (folgend q. o. t.) mit Kollegien aufweist um dann informierter beurteilen zu können, ob eine kollegiale Leitung einer Pfarrei wirklich ihrer theologisch-ekklesiologischen Verortung widerspricht. 1. Kollegialität in der Theologie Die Konzilsväter haben Kollegialität nie definiert, sondern einen offenen Begriff hinterlassen.134 Mitunter sei es seit dem II. Vaticanum zu einem ,Modebegriff‘ geworden.135 Vorweg ist klarzustellen, dass Kollegium bzw. Kollegialität kein Synonym zur Synodalität ist.136 Der Ausgangspunkt für die theologische Bestimmung des Begriffs ist die Nota explicativa praevia 1: „Kollegium wird nicht im streng juridischen Sinne verstanden, das heißt nicht von einem Kreis von Gleichrangigen, die etwa ihre Gewalt auf ihren Vorsitzenden übertrügen, sondern als fester Kreis, dessen Struktur und Autorität der Offenbarung entnommen werden müssen.“137

Diese Definition ist zwar offen, es lässt sich jedoch erschließen, dass es neben dem juridischen Kollegium ein theologisch bestimmtes Kollegium gibt. Letzteres kann zwar Ähnlichkeiten mit dem juristisch definierten Kollegium haben, ist aber keinesfalls identisch mit ihm. Schmitz unterscheidet auf dieser Grundlage die kanonistischsakramententheologische Kollegialität des Bischofskollegiums von der kanonis133

VI, regulae Iuris XXIX. Vgl. Ladislaus Orsy, A notion of collegiality, in: Jurist 64 (2004), S. 35 – 38; hier S. 37. 135 Vgl. Aymans, Kollegien (Anm. 132), S. 1. 136 Vgl. Markus Graulich, Synodalität als Kennzeichen einer missionarischen Kirche. Postulate und Desiderate aus kirchenrechtlicher Perspektive, in: Ius semper reformandum. Reformvorschläge der Kirchenrechtswissenschaft, Thomas Meckel/Matthias Pulte (Hrsg.), Paderborn 2018 (= Kirchen- und Staatskirchenrecht; 28), S. 115 – 128; hier bes. S. 119 f.; zum Begriff der Synodalität siehe Thomas Neumann, Synodalität „Down Under“. Ein rechtlicher Vergleich der synodalen Prozesse in Australien und Deutschland, in: THQ 202 (4/2022), S. 470 – 488. 137 Vgl. Papst Paul VI., NEP (Anm. 29). 134

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tisch-juridischen Kollegialität.138 Erstere umschreibt Orsy als Bestandteil der Ekklesiologie: „[…] perceived collegiality as belonging to the very nature of the Church, a special manifestation of an organically structured social body where no member can exist and operate in a solitary way independently from the others. Understandably, they wanted to affirm collegiality – they even claimed that it would strengthen primacy.“139 Diese Kollegialität ist jedoch nicht gemeint, wenn von kollegialer Leitung der Pfarrei gesprochen wird, denn u. a. ist diese Kollegialität dem Bischofskollegium vorbehalten. Während der Codexreform scheint diese Unterscheidung nicht gänzlich so deutlich vorgenommen worden zu sein. In der dritten Sessio des Coetus de Personis wird eine Debatte über den Kollegienbegriff ausgehend von c. 101 CIC/1917 geführt: Mörsdorf wendet sich gegen den Vorschlag Kollegien als coetus aequalium zu charakterisieren, da es unter Verweis auf die NEP auch Kollegien gebe, die dieses Erfordernis nicht erfüllen.140 Onclin geht auf diese Bedenken ein, indem er das Bischofskollegium als kollegial handelnd definiert, wobei es im juristischen Sinn aber kein Kollegium sei.141 Letztendlich führt dies zu folgender Feststellung Mörsdorfs: „actus collegialis non necessario requirunt existentiam personae collegialis in sensu canonis.“142 So wird der juristische Kollegialitätsbegriff im Gesetzbuch durch den theologischen Begriff ersetzt. Anders kann diese Passage nicht verstanden werden, wenn kollegiales Handeln nicht mehr auf rechtliche Kollegien beschränkt wird. In seinem zur besprochenen Sitzung vorgelegten Votum bezeichnet Mörsdorf diese kollegial handelnden Entitäten, die keine Kollegien sind, als „collegia simplicia“143 In der achten Sessio bezeichnen De Lombardia und Mörsdorf das Bischofskollegium als das eigentliche (catexochen) Kollegium, um die Charakterisierung der juristischen Person Kollegium als gleich (aequale) zu streichen. Mörsdorf führt wei138 Vgl. Heribert Schmitz, Neue Normen für die Bischofskonferenzen. Kanonistische Anmerkungen zum Motu Proprio „Apostolos suos“ vom 21. Mai 1998 und zum Schreiben der Kongregation für die Bischöfe vom 13. Mai bzw. 21. Juni 1999, in: AfkKR 169 (2000), S. 20 – 34. 139 Orsy, Collegiality (Anm. 134), S. 36. 140 Coetus De Personis, Sessio III. vom 5. – 9. 11. 1968, in Com 21 (1989), S. 137 – 164; hier S. 414 f./Archiv PCLT, S. 10 f.; die folgenden Protokolle werden alle aus dem Archivbestand des PCLT zitiert, da hier die Klarnamen einsehbar sind, sowie Voten der einzelnen Konsultoren. Ein Verweis auf den Abdruck in den Communicationes erfolgt zusätzlich. 141 Vgl. ebd., S. 11. 142 Ebd. 143 Vgl. Coetus De Personis, Sessio II, beigelegtes Gutachten Klaus Mörsdorf in zwei Seiten; hier konkret S. 1 c. 5 § 1: „Alia subiecta iuridica, quae personis canonicis collegialibus partim aequiparantur, sunt collegia simplicia, quae ad negotia determinata collegialiter exercenda in iure praevia sunt.“; eine gewisse Koinzidenz ist nicht von der Hand zu weisen, wenn Aymans als Schüler Mörsdorfs in seiner Dissertation von 1969 Wahlkollegien, Synoden und Gremien für Beispruchsrechte als einfache Kollegien einstuft, ein Begriff der dem Kanonischen Recht zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt ist; vgl. Aymans, Kollegien (Anm. 132), S. 49 – 72.

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ter aus, dass es auch in Deutschland hierarchisch organisierte Kollegien gäbe, in denen die Mitglieder nicht gleich seien.144 Im CIC/1983 selbst wird also nicht zwischen dem theologischen und dem juridischen Begriff des Kollegiums unterschieden, vielmehr wird sogar der Begriff Kollegialität im Zusammenhang mit dem Bischofskollegium zum eigentlichen „kanonistischen“ Begriff. 2. Die Römischen collegia Aymans postuliert in seiner Dissertation ohne weitere Begründung: „Mit dem Begriff sind auch einige Grundsätze aus dem Bereich der „collegia“ [aus dem Römischen Recht; T. N.] übernommen worden.“145 Was allerdings die „Grundsätze“ der collegia im Römischen Recht tatsächlich sein sollen, ist äußerst umstritten. Dies liegt zum einen an der sehr dünnen Quellenlage, da nur eine Handvoll Statuten römischer collegia als Inschriften überliefert sind.146 Zum anderen haben sich die Juristen im Corpus Iuris Civilis fast überhaupt nicht mit den Vereinen beschäftigt. Als gesichert kann gelten, dass die Vereine gemeinsamen Besitz, eine Kasse und einen Rechtsvertreter hatten.147 Ebenso, dass sie multifunktional ausgerichtet waren, also zwar in ihrer Selbstbeschreibung einen Zweck hervorgehoben haben, aber mehrere verfolgten.148 Es gibt bei ihnen regelmäßige Treffen, teilweise kultische Vollzüge, teilweise Bestattungsfürsorge und ein gemeinsames Mahl.149 Da die Vereine in gewisser Weise die staatliche Organisation kopierten, gab es in ihnen eine klare Hierarchie über Ämterstufen, die je nach Rang soziales Prestige, Beitragsfreiheit oder höhere Anteile an Zuwendungen bedeuten konnten.150 Folglich 144 Vgl. Coetus De Personis, Sessio VIII vom 4.–8. Oktober 1971, in Com 22 (1990) S. 36 – 73; hier S. 51/Archiv PCLT S. 20; in diesem Zusammenhang wäre eine detaillierte Studie der unterschiedlichen Voten der Konsultoren (Peter Huizing, V. Fagioli, Klaus Mörsdorf, Petrus Lombardia, Enrique y Tarancon) zur III. Sessio interessant. Lombardia etwa versucht in seinem umfangreichen Gutachten auf der Grundlage von Grotius und Pufendorf den juristischen Begriff des Kollegiums zu definieren und lehnt zunächst eine Vermischung mit dem theologischen Begriff des Bischofskollegiums ab. 145 Aymans, Kollegien (Anm. 132), S. 3. 146 Vgl. Thomas Schmeller, Hierarchie und Egalität. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung paulinischer Gemeinden und griechisch-römischer Vereine (= Stuttgarter Bibel-Studien 162), Stuttgart 1995, S. 26. 147 Vgl. Benedikt Eckhardt, Romanisierung und Verbrüderung. Das Vereinswesen im römischen Reich (= KLIO 34), Berlin 2021, S. 26 f. unter Verweis auf D 3.4.1.1. 148 Vgl. ebd., S. 13. 149 Vgl. Thomas Schmeller, Gegenwelten. Zum Vergleich zwischen paulinischen Gemeinden und nichtchristlichen Gruppen, in: Kreuz und Kraft I. Untersuchungen zur Jesusüberlieferung und zu frühchristlichen Gemeinden (= SBAB 62), ders. (Hrsg.), Stuttgart 2016, S. 217 – 239; hier S. 225. 150 Vgl. Schmeller, Hierarchie und Egalität (Anm. 146), S. 42.

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war die Gleichheit aller Mitglieder nicht ein konstitutives Element der collegia. Trotzdem gab es wohl egalitäre Elemente wie eine Ämterrotation und die Begrenzung der Amtszeiten, vor allem aber die Versammlung, in der das Statut festgelegt, Amtsträger gewählt und die laufenden Angelegenheiten durch Dekrete entschieden wurden. In der Versammlung hatten alle Mitglieder Rede- und Stimmrecht sowie das Recht, Anträge zu stellen.151 Auf den Bereich der kanonistischen Kollegien angewendet heißt das, nicht die Form (gleich oder ungleich) der Beteiligung an der Willensbildung des Kollegiums, sondern die Beteiligung an der Willensbildung selbst ist das wesentliche kollegiale Charakteristikum. Ebenso charakteristisch ist, dass alle Mitglieder an den Zwecken – etwa dem Mahl oder der Bestattung – unabhängig von ihrer Stellung zum Beispiel als Sklave, Freigelassener oder römischer Bürger und ihrem Beitrag partizipieren. Die römischen collegia hatten also nicht den Anspruch das Ethos des Gesellschaftssystems revolutionär in Frage zu stellen, sondern „Vereine waren nicht einfach Orte, an denen die soziale Hierarchie außer Kraft gesetzt wurde. Erleichterung von sozialem Druck erreichten sie vielmehr dadurch, daß sie Hierarchie reproduzierten, aber mit einer gewissen Egalität kombinierten.“152 Radikale Gleichheit und ein Gegenentwurf zum gesellschaftlich-staatlichen Ethos vertraten hingegen die ersten Christen.153 3. regula iuris q. o. t. Kanonistisch steht die regula iuris q. o. t. in unmittelbaren Zusammenhang mit den Kollegien über die Verbindung von c. 115 und c. 119 § 1 CIC/1983.154 Der ursprüngliche Kontext dieser Formel im Römischen Recht ist jedoch das Vormundschaftsrecht in C.5.59.5.155 Erst im 12. Jahrhundert durch die päpstliche Autorität Papst Innocenz III. (1198 – 1216) wird diese Formel aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und für weitere Felder anwendbar gemacht. Der Papst wendet q. o. t. auf die Papstwahl und die Wahl eines Metropoliten an, aber auch im Hinblick auf die Ernennung eines Dekans, den nicht der Bischof alleine ernennen könne, sondern weil q. o. t. gelte, auch der Archidiakon mitstimmen müsse oder dass der Dompropst bei der Aufnahme von Krediten der Zustimmung der Kanoniker bedürfe.156 Es geht also nicht nur um Wahlkollegien, sondern um allgemeine Angelegenheiten. So führt Huguccio q. o. t. an, um die Teilnahme der Laien an einer Synode zu rechtfertigen.157 Bemerkenswert ist nun im Vergleich mit dem Original im römischen Recht nicht nur 151

Vgl. ebd., S. 43. Ebd., S. 53. 153 Vgl. Eckhardt, Romanisierung (Anm. 147), S. 283. 154 Vgl. Dolores García Hervás, Régimen juridico de la colegialidad en el Código de Derecho Canónico, Santiago de Compostela 1990, S. 53. 155 Vgl. Jasmin Hauck, Quod omnes tangit debet ab omnibus approbari – Eine Rechtsregel im Dialog der beiden Rechte, in: ZRG.K 99 (2013), S. 398 – 417; hier S. 399. 156 Vgl. ebd., S. 409; die entsprechende Dekretale findet sich unter X, 1.23.7. 157 Vgl. ebd., S. 408; im Original. 152

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der veränderte praktische Umgang, sondern auch die Umformulierung von q. o. t. durch Papst Innocenz III. Heißt es im römisch-rechtlichen Original „quod omnes similiter tangit, ab omnibus comprobetur;“ streicht der Papst das similiter, ersetzt das comprobetur durch approbatur und ergänzt debeat. Dabei ist davon auszugehen, dass der Papst diese Änderungen bewusst setzt, weil er explizit auf die Herkunft aus dem römischen Recht hinweist und damit die konkrete Formulierung gekannt haben muss.158 D. h. die Beteiligten müssen nicht zwingend in gleicher Weise tangiert sein, es wird eine Zustimmung statt einer Billigung gefordert und die Anwendung des Prinzips wird verpflichtend. Die Beteiligung an einem Vorgang ergibt sich dadurch, dass eine Person ein Recht an der Sache hat. Es ist also keine Vorstufe der Demokratie mit dem Gedanken der Volkssouveränität, da z. B. in Finanzsachen nicht alle Nutznießer, sondern konkret nur die Inhaber der Rechte mitbestimmen, aber es ist ein Prinzip verpflichtender Partizipation unabhängig von Kollegien. Die säkulare Rezeption jedoch führte zu Gedanken der Partizipation Mehrerer und Dokumenten wie der Magna Charta.159 Bedenkt man nun die Konsequenzen des normativen Transfers von q. o. t. in den Kontext der Kollegien, müssen alle Teile der Personengesamtheit der juristischen Person an den Entscheidungen die juristische Person betreffend zwingend beteiligt werden, da sie alle Rechte in ihr und an ihrem Zweck Anteil haben. Die nicht-kollegiale juristische Person respektive Korporation als Personengesamtheit erscheint damit als logisch und juristisch unmöglich.160 V. Fazit Ohne Frage konnte bestätigt werden, dass die Pfarrei eine juristische Person als Personengesamtheit (Korporation) ist. In ihrer Eigenbeschreibung durch den Gesetzgeber wird sie personal definiert. Die personalen Elemente certa communitas christifidelium und pastor proprius sind wesentlich und funktional dynamisch aufeinander bezogen. Der pastor proprius ist nicht ein Analogon zum Diözesanbischof, sondern ein ,Hirte zweiter Ordnung‘, der nicht gegenüber, sondern in der certa communitas christifidelium im Sinne der dialogischen horizontalen communio steht.

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Vgl. ebd., S. 411. Vgl. Orazio Condorelli, Quod omnes tangit, debet ab omnibus approbari. Note sull’origine e sull’utilizzazione del principio tra medioevo e prima età moderna, in: IusCan 53 (2013), S. 101 – 127; hier S. 112 – 114. 160 Als markantes Beispiel für eine nicht-kollegiale Personengesamtheit wird z. B. im MK CIC nur die Pfarrei, die Diözese und das Priesterseminar angeführt. Vgl. Helmut Pree, c. 115, Rn. 5, in: MK CIC (Stand Juni 2000). Ob das Priesterseminar allerdings als Korporation und nicht als Institution zu verstehen ist, dürfte zumindest nicht unumstritten sein. Somit scheinen ausschließlich kirchliche Strukturebenen nicht-kollegiale Personengesamtheiten zu sein. Die Vermutung man habe diese Form juristischer Personen nur geschaffen, um die „Hierarchie“ nicht zu gefährden, liegt nicht gänzlich fern. 159

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Die Pfarrei muss daher theologisch respektive ekklesiologisch als Kollegium im juristischen Sinn verstanden werden. Rechtshistorisch konnte nachgewiesen werden, dass für ein Kollegium nicht die absolute Gleichheit ihrer Mitglieder konstitutiv ist, sondern unter Rückbezug auf die römisch-rechtlichen collegia die Gleichheit als Nutznießer des Zwecks des Kollegiums sowie die zwingende Beteiligung an der Willensbildung. Der Zweck der Pfarrei ist die cura animarum, die cura pastoralis des Pfarrers ist darauf ausgerichtet die Gläubigen zu einer mündigen und eigenständigen communio zu machen, die selbst cura animarum ausübt, also evangelisierend wirkt. Kanonistisch formuliert sind alle Glieder der Pfarrei gleichberechtigte Nutznießer der cura animarum. Die kirchlich initiierte Verbindung der regula iuris q. o. t. mit den Kollegien impliziert weiterhin die zwingende Partizipation aller Pfarreimitglieder an wesentlichen Entscheidungen, da sie alle als Personengesamtheit ein Recht an ihr haben. Die von manchen Kanonisten angeführten Ausschlussgründe, etwa der Vertretungsanspruch des Pfarrers gemäß c. 532 i. V. m. c. 118 CIC/1983, für die kollegiale Natur der Pfarrei greifen nicht, da die Stellung des Pfarrers hierarchisch sein kann, weil Kollegien kein coetus aequalis sind. Unterschiedliche Ämter und hierarchische Strukturen sind in Kollegien möglich und vernichten nicht ihre kollegiale Natur. Nun könnte der Einwand erfolgen, die doppelte Repräsentation des Pfarrers könne nicht kollegial erfolgen. Dem ist zuzustimmen. Mit einem Ansatz von Hervas161 lässt sich jedoch die doppelte Repräsentation des Pfarrers und seine Partizipation an der Vollmacht Christi im Sinne des munus regendi voneinander trennen: Wenn zwischen der auctoritas des Pfarrers als geweihtem Haupt und seiner potestas bzw. korrekter seinem munus regendi unterschieden wird, kann diese Differenzierung für das Verständnis der Pfarrei als Kollegium weiterführen. Die auctoritas als Partizipation an der Vollmacht Christi und Repräsentation kann nicht delegiert werden, noch durch eine Gruppe ausgeübt werden, sie ist persönlich vom Pfarrer wahrzunehmen. Hingegen ist die potestas bzw. der munus regendi nicht an die auctoritas als geweihtes Haupt, sondern an das Amt des Pfarrers gebunden. Der Pfarrer vertritt auf letzterer Ebene aber wiederum nur die Rechte der Pfarrei, also der certa communitas christifidlium gemeinsam mit ihrem pastor proprius. Folglich wäre sie kollegial ausübbar. Wird die formulierte These nicht nur der Möglichkeit, sondern der Verpflichtung zur kollegialen Leitung der Pfarrei, weil sie gemäß c. 515 § 3 eine Personengesamtheit, die eine juristische Person ist, geteilt, hätte dies weitreichende Konsequenzen für die Strukturreformen des Pfarreisystems: 1. Muss zwingend auf den Pfarrer als konstitutives Element der Pfarrei bestanden werden, er kann nicht dauerhaft durch andere Personen oder Gruppen ersetzt werden. Er selbst hat die persönliche Verantwortung für die unteilbare cura pastoralis 2. Ist ein pfarrliches Gremium nicht als Gegenüber zum Pfarrer im Sinne eines Kassationskollegiums zu verstehen,

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Vgl. Hervas, Régimen juridico (Anm. 154), S. 63 f.

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sondern mit ihm zusammen als Leistungskollegium.162 3. Muss die Pfarrei als kollegiale juristische Person verstanden werden, eine Personengesamtheit, die nicht kollegial ist, ist rechtlich nicht denkbar. Diese Möglichkeit gemäß c. 115 § 2 CIC/1983 beruht offensichtlich auf den Bemühungen, den kanonistisch-sakramententheologischen Begriff des Kollegiums in rechtliche Form zu gießen. Die kollegiale Struktur hebt jedoch nicht die Rechtsvertretung nach außen durch eine Person (c. 532) auf, wenn zwischen dem Handeln der juristischen Person nach außen als unteilbarem Ganzen und dem Handeln im Inneren unterschieden wird. 4) Bedarf es für die Ausübung des munus regendi in der Pfarrei ein alle repräsentierendes Gremium zusammen mit dem Pfarrer, das an allen Entscheidungen beteiligt wird. Unterschiedliche Gremien, Interessenvertretungen ehemaliger Pfarreien oder Bedürfnisse kirchlicher Vereine als gesonderte Akteure gefährden den kollegialen Charakter und sogar den der communio. Solch ein Gremium könnte durch die in vielen Pfarreiratsstatuten vorgesehenen Pfarrversammlungen als regelmäßigen Zusammenkünften ergänzt werden.163 Bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren die Pfarreien nur noch das (Kirchen-) Dach für unterschiedliche Gemeinschaften und kirchliche Vereine und nicht mehr communio.164 Ekklesiologisch muss die Pfarrei aber in den Dialog der horizontalen communio eingebunden sein und kanonistisch ist sie eine kollegiale juristische Person. Nicht nur einige Wenige – etwa in der kritisch zu sehenden Redeweise vom Haupt- und Ehrenamt165 – sind mit dem munus regendi in ihr betraut, sondern alle, denn alle christifideles sind dazu aufgerufen ihr Apostolat zu verwirklichen und so dazu beizutragen, mündig und eigenständig im Rahmen der communio evangelisierend zu wirken. Quod omnes tangit, debet ab omnibus approbari!

162 Zu den Begriffen vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, § 15 Kollegialität und Gewaltenteilung (Max Weber Studienausgabe I/23), Tübingen 2014, S. 194 – 202. 163 Vgl. beispielhaft für viele Bischof von Münster, Satzung für die Pfarreiräte, in: KABl Münster 2/2017, Artikel 12 – 15, § 12 Pfarrkonvent und Pfarrversammlung. 164 Vgl. Daniela Müller, Die Entstehung der Pfarrei, in: Die Kirche von Morgen. Kirchlicher Strukturwandel aus kanonistischer Perspektive, Reinhild Ahlers/Beatrix LaukemperIsermann/Rosel Oehmen-Vieregge (Hrsg.), Essen 2003, S. 19 – 34; hier S. 32; Ob eine zeitliche Koinzidenz mit dem von Großbölting nachgewiesenen Mitgliederrückgang der katholischen Kirche seit 1910 besteht, wäre eine detaillierte Untersuchung wert; Vgl. Thomas Großbölting, Staatskirchenrecht als Chance? Die Entstehung der staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung und die zeitgenössische Perspektive der katholischen Kirche, in: Essener Gespräche 54 (2019), S. 34 – 52. 165 Kritisch zu den Begriffen Haupt- und Ehrenamt, die das „Taufamt“ aller Gläubigen nivellieren könnten: Hallermann, Neue Formen (Anm. 4), S. 41 f.

Old and new emphases in seminarian and religious education* Szabolcs Anzelm Szuromi OPraem I. Introduction “(…) sancta synodus statuit, ut singulae cathedrales, metropolitanae atque his maiores ecclesiae pro modo facultatum et dioecesis amplitudin certum puerorum ipsius ciuitatis et dioecesis, uel eius prouinciae, si ibi non reperiantur, numerum in collegio, ad hoc prope ipsas ecclesias uel alio in loco convenienti, ab episcopo eligendo, alere ac religiose educare et ecclesiasticis disciplinis instituere teneantur (…)” was underlined by Session XXIII of the Council of Trent (1545 – 1563) on July 15th 15631, ordering the diocesan bishops to establish diocesan seminaries, radically changing the system of priestly formation that had been traditionally provided alongside parishes and cathedrals2 (nevertheless CIC/1983 Can. 233 §1 still empowers the parish priest, etc., with responsibility for the care of vocations).3 There is also no doubt that the reform of diocesan priestly education in the 16th century also had an impact on the instruction in religious institutions, as it is shown by the statutes of that time.4 The seminary system, which flourished in the Baroque era, came under increasing criticism5 after World War II, especially because of the generation that grew up quickly

* This paper was written in the Collegio S. Norberto (Rome), at the Universidad de Las Palmas de Gran Canaria, Ciencias Jurídicas Básicas (Las Palmas), and supplemented in the San Pedro Community of St. Michael’s Abbey of the Norbertine Fathers (Los Angeles, CA), with generous support of the Fundación Derecho y Europa (Madrid/Coruña). 1 Conciliorum oecumenicorum decreta, Bologna 31973 (= COD), S. 750 – 753. 2 Szabolcs Anzelm Szuromi, Az egyházi intézményrendszer története (= Szent István Kézikönyvek 15), Budapest 2017, S. 245 – 246. 3 CIC/1983 Can. 233 – § 1. Universae communitati christianae officium incumbit fovendarum vocationum, ut necessitatibus ministerii sacri in tota Ecclesia sufficienter provideatur; speciatim hoc officio teneantur familiae christianae, educatores atque peculiari ratione sacerdores, praesertim parochi. Episcopi dioecesani, quorum maxime est de vocationibus provehendis curam habere, populum sibi commissum de momento ministerii sacri ad hoc institutis, suscitent ac sustentent. 4 Guerrino Pelliccia/Giancarlo Rocca (Hrsg.), Dizionario degli Istituti di Perfezione, Roma 1974 – 1997, 9. Bd. S. 1283 – 1298. 5 Cf. Erwin Gatz (Hrsg.), Priesterausbildungsstätten der deutschsprachigen Länder zw. Aufklärung und Zweitem Vatikanische Konzil, Roma 1994.

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during the war.6 For the 21st century, the modernity of the accustomed way of training has come under renewed attack.7 This problem is of course in relation to the significant decline in the number of vocations in Western Europe, and now also in Central Europe, as well as to the significant changes in the geographical balance of vocations. Here I will attempt to give a brief overview on those canonical prescriptions which, in the light of centuries of experience8, have been developed to regulate both seminary priestly and religious formation. It is well known that the formation of seminarians is regulated not only by the Second Vatican Council (1962 – 1965), Decree Optatam Totius, but also by the current Code of Canon Law (Cann. 235, 237 – 264). After the Ratio fundamentalis institutionis sacerdotalis of March 19th 19859 no new universal norm for the formation of seminarians was promulgated for a long time, despite the fact that the prescriptions of the Holy See on theological instruction and other papal exhortations, such as the Apostolic Exhortation Pastores Dabo Vobis by Pope John Paul II of March 25th 199210, have had a significant impact on the renewal of the formation of seminarians in the universal Church. We should take a look at the 56th decision of the Diocesan Synod of the Canary Islands (promulgated on May 1st 1992): “Our seminary is a community of education, through the exercise of our missionary work: a community, promoted by the Bishop, dedicated to those whom the Lord calls to pastoral ministry, in order to give them the opportunity to have the experience of the ministry which the Lord has given to the Twelve.”11 After a long process of preparation, and taking into account the numerous papal and congregational statements and further canonical documents, the new 210-paragraph Ratio Fundamentalis Institutionis Sacerdotalis, entitled “The Gift of the Priestly Profession”, was promulgated on December 8th 2016 by the Congregation 6 Francesco Ry´par, Il cammino postconciliare dei seminari, in: Seminarium 17 (1977), S. 308 – 437. 7 Bruno Esposito, Un nuovo tipo di seminario?, in: Quaderni di diritto ecclesiastico 12 (1999), S. 95 – 122; cf. Heribert Schmitz, Seminario mayor – Perspectiva general, in: Stephan Haering/Heribert Schmitz, (Hrsg.), Diccionario enciclopédico de derecho canónico (edición española: Ignacio Pérez de Heredia/José Luis Llaquet; traducción: Roberto Heraldo Bernet), Barcelona 2008, S. 772. 8 For sources on the ecclesiastical background of suitability for holy orders from the apostolic age to the current canonical prescriptions cf. Nicolás Álvarez de las Asturias/Guliano Brugnotto/Simona Paolini (Hrsg.), Discernimento vocazionale e idoneita al presbiterato nella tradizione canonica latina (= Pontificio Comitato di Scienze Storiche – Atti e Documenti 50), Città del Vaticano 2018; Szabolcs Anzelm Szuromi/Nicolás Álvarez de las Asturias (Hrsg.), Becoming a Priest. Canonical Discipline and Criteria on Suitability for Candidates (Aus Religion und Recht 22), Berlin 2019. 9 Javier Ochoa (Hrsg.), Leges Ecclesiae post Codicem iuris canonici, 6. Bd. Roma 1987, coll. 9070 – 9109. 10 Ioannes Paulus II, Adh. Ap. Pastores Dabo Vobis (25 mart. 1992), in: AAS 84 (1992), S. 657 – 804. 11 Sínodo Diocesano. Diócesis de Canarias: Constituciones sinodales, Gran Canaria 1992, S. 151.

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for the Clergy to regulate priestly formation on the universal level12 (its adaptation to Hungarian circumstances and the renewal of the National Rules of the Seminaries [1973] was approved by the Hungarian Catholic Bishops’ Conference on June 1st 2022). Prior to this, on January 16th 2013, Pope Benedict XVI transferred the field of priestly formation from the jurisdiction of the Congregation for Education to the Congregation for Clergy by his motu proprio Ministrorum institutio, which amended the Apostolic Constitution Pastor Bonus13 (this modification was included into Pope Francis’ Apostolic Constitution Praedicate Evangelium [March 19th 2022]) Art. 114. The general norms of the new Ratio Fundamentalis define the extent of the law (which, on the one hand, corresponds to the competence of the Congregation for the Clergy – now Dicastery –, but on the other requires the regulations by the Congregation of the Institutes of Consecrated Life and the Societies of Apostolic Life – now Dicastery – to be in harmony with it, in the area of the formation of seminarians and the theological studies). It is necessary to formulate, in connection with the universal norm, national regulations for the formation of priests, taking into consideration the local circumstances, especially in the field of education, for which the local Bishops’ Conference is competent.14 The document sets out the arrangements for the operation of national and international seminars15, as well as for the development of integrated education in the training programme of individual seminars.16 The legislator dedicates a separate section to the explanation of the priestly vocation (general principles, minor seminaries and other forms of preparation, mature vocations, indigenous vocations, vocations and immigrants).17 Part III is reserved to the foundations of priestly formation (the subject, the question of priestly identity, the process of “Christification”, the formation of the interior life and the communion, the real meaning of formation: the process of personal and collective acquirement, the unity of formation).18 Part IV describes the importance of the preparatory and then the ongoing training19, while V outlines the specific areas of training (human, spiritual, intellectual, pastoral)20, Part VI lists those who guide the formation, mentioning first of all the intervention of the Holy Trinity itself (then the ordinary, the clergy, the seminarians, the superiors of the seminary, the theological teachers, the various experts, the family, the parish and other ecclesial communities, and the influence of those who live a consecrated life).21 Part VII covers the order of 12

C. Cler., Ratio Fundamentalis Institutionis Sacerdotalis (8 dec. 2016), in: L’Osservatore Romano (8 dec. 2016). 13 AAS 105 (2013), S. 130 – 135; cf. AAS 105 (2013), S. 828 – 833. 14 Ratio Fundamentalis, artt. 3 – 8. 15 Ratio Fundamentalis, art. 9. 16 Ratio Fundamentalis, art. 10. 17 Ratio Fundamentalis, artt. 11 – 27. 18 Ratio Fundamentalis, artt. 28 – 53. 19 Ratio Fundamentalis, artt. 54 – 88. 20 Ratio Fundamentalis, artt. 89 – 124. 21 Ratio Fundamentalis, artt. 125 – 152.

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studies22, Part VIII sets out the order of admission and dismissal to the seminary and the qualities which must be examined.23 It is also clear from the text of the new Ratio fundamentalis that the formation of three main areas – or “dimensions”, following the wording of the document – is particularly emphasized: 1) the spiritual life; 2) the acquisition of the ecclesiastical sciences; 3) physical and personal education.24 The above listed three areas are integrally connected to each other (or more precisely, they should be)25 in the context of a well-functioning seminary or novitiate – juniorate. It is obvious from this that the seminary – as it was intended in 156326 (and the diocesan seminaries that were established in Hungary followed this form27) – is a complex, instructive and educative institution, aimed at the spiritual, intellectual and physical preparation of those who aspire to holy service for the priestly ministry28 (as the periods of novitiate and simple profession serve the purpose of full integration into the religious institutes, in accordance with the nature of the institute or society).29 Already at the begining it must be made clear that the vocation to a concrete sacred ministry can only be realized in the Church, through the selection which takes place in the name of the Church, and in the harmony of the individual’s personal vocation.30 Only in the light of these three pillars can we understand the canonically regulated form of the formation of the priesthood or of the religious life as a specific vocation. I do not intend to deal with the principal criteria for admission to seminaries and novitiates. Instead, I would point out that admission to both places must consider the persistent, even definitive, intention of the candidate for priesthood or religious life at the time of admission (i. e. Presbyterium Ordinis, 3). The Church – and the ordinary who represents her – freely selects the candidate for sacred ministry after hearing the competent authorities.

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Ratio Fundamentalis, artt. 153 – 187. Ratio Fundamentalis, artt. 188 – 210. 24 In detail cf. Szabolcs Anzelm Szuromi, Renovación de la formación sacerdotal y religiosa, de acuerdo con la Ratio Fundamentalis Institutionis Sacerdotalis (8 de diciembre de 2016), y a los desafíos sociales contemporáneos (problemas teológicos, espirituales, físicos, psíquicos, educación de la personalidad, obediencia y uso de herramientas digitales y mediáticas) [= Theology and Canon Law XVIII], Ciudad de México (March 6th 2021). 25 Cf. Ratio Fundamentalis, artt. 89 – 124. 26 Szabolcs Anzelm Szuromi, Az egyházi intézményrendszer története, S. 245 – 246. 27 Stephanus Sipos, Enchiridion iuris canonici, Romae 61954, Art. VI, n. 23; cf. Ákos Mihályfi, A papnevelés története, 1 – 2. Bd. Budapest 1896. 28 Cf. Péter Erdo˝ , Papi identitás és papnevelés a mai kor kihívásainak fényében, in: Magyar Sion. Új folyam XI/LIII (2017/2), 165 – 172. 29 John P. Beal/James A. Coriden/Thomas J. Green (Hrsg.), New Commentary on the Code of Canon Law, New York – Mahwah 2000, S. 309. 30 Szabolcs Anzelm Szuromi, Hans Urs von Balthasar ekkleziológiai koncepciója és a hitletétemény, in: Communio (Hungarian) 14 (2006/1 – 2), S. 92 – 99, hier S. 97. 23

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The venue of the priestly formation according to the CIC/1983 Can. 235 §1 is the major seminary, which is mandatory.31 This can be fulfilled by the competent diocesan bishop by assigning the candidate to a seminary in a territory of another diocese, since the canon does not speak of a compulsory foundation of a diocesan seminary. Furthermore, the CIC/1983 Can. 235 §2, in accordance with the practice known from the CIC/191732, provides for the possibility of formation outside the seminary, with appropriate pastoral guarantees.33 This possibility (which is generally reserved to specific cases, linked to specific conditions) was used, as is well known, by Cardinal Jean-Marie Lustiger (†2007) [Archbishop of Paris until February 11th 2005] for the formation of seminarians within the Archdiocese of Paris, in an organized way, in the form of placements in parishes. From Can. 235 §1 is also clear that the training of seminarians must be at least four years.34 For each ministry (including, in the case of the Institute of Consecrated Life, the different extent and degrees of professions) and for ordination to the diaconate and priesthood, as for admission to the seminary or to the status of novitiate, the competent ordinary, considering the matter in his conscience and on the basis of moral certainty, is free to make his decision, keeping in mind the common good of the diocese, the community, the faithful, in other words, the good of the entire Church.35 II. Spiritual life The focus of the formation of seminarians and religious members should be on the deepening of the spiritual life. It is essential that the vocation which is discerned should be properly instilled, since this is the area which, after the period of formation is completed and the daily sacred ministry is carried out, can only be cared for with a special attention. Obviously, the same must be even more important within the reli31 Ratio fundamentalis (1985): Suam de Seminariis experientiam, iam pluribus comprobatam saeculis, Ecclesia in Concilio Vaticano II ut validum retinendam decrevit, asserens Seminaria necessaria esse tamquam institutiones ad sacerdotes efformandos ordinatas et potioribus illis educationis elementis praeditas, quae coniunctum cum aliis ad integram futurorum presbyterorum formationem possunt efficiter conferre. Probatam vero hanc ad sacerdotium viam denuo confirmando, minime silentio praeterire voluit varias et multiplices necessitates, ex vetustate instrumentorum vel ex mutatis condicionibus decursu temporum exortas, admisitque, vel etiam praescriptis immutationes non paucas, quibus huius utilissimae institutionis vis et paedagogica efficia augerentur (…). Javier Ochoa (Hrsg.), Leges Ecclesiae, col. 9071; cf. Ratio fundamentalis (2016), art. 58. 32 CIC/1917 Can. 972 – § 2. 33 CIC/1983 Can. 235 – § 2. Qui extra seminarium legitime morantur, ab Episcopo dioecesano commendentur pio et idoneo sacerdoti, qui invigilet ut ad vitam spiritualem et ad disciplinam sedulo efformentur. 34 Péter Erdo˝ , Egyházjog (= Szent István Kézikönyvek 7), Budapest 52014, S. 236 – 242. 35 In detail cf. Jorge Carlos Patrón Wong, La formazione sacerdotale Fundamentalis institutionis sacerdotalis, in: Nicolás Álvarez de las Asturias/Guliano Brugnotto/Simona Paolini (Hrsg.), Discernimento vocazionale e idoneità al presbiterato, S. 177 – 185, hier S. 178, 181 – 183.

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gious – priestly community (i. e. Can. 663 and Can. 664: “The religious members should perseveringly strive to turn their souls towards God in conversion, daily examine their consciences and often receive the sacrament of penance”; see also Can. 24636). Progress in the spiritual life is called the first pillar of seminary formation in n. 59 of the decisions of the Ninth Diocesan Synod of the Canary Islands (1992), which states that it should be a fundamental experience of an encounter with the Lord and the Gospel, within the framework of priestly spirituality, through a gradual transformation of daily life into a lifestyle that is dedicated to the radical imitation of Jesus.37 It should become a habit for the pupils to pray daily the Liturgy of Hours. Not merely because the ordained deacon or professed religious is obliged to do so by status (i. e. Can. 276), but for the reason that the person who accepts his vocation should live constantly in the liturgical year and in personal prayerful contact with God.38 This is why the general rule issued for the Liturgia Horarum, in accordance with n. 88 of Sacrosanctum Concilium, speaks of the daily celebration of at least the cornerstones of the Liturgy of Hours39. There is also a fact that a prayerful observance of the seven daily hours of prayer, as complete as possible, enables the ordained ministers or those who follow a consecrated life to preserve their spiritual composure and serenity in the midst of external influences, which are destructive to their spiritual life. A distinctive reverence towards the Holy Eucharist, and its inculcation in the seminarians, is a key factor in spiritual formation40 (Can. 246 §1). This may be the basis 36 CIC/1983 Can. 246 – § 1. Celebratio Eucharistica centrum sit totius vitae seminarii, it ut cotidie alumni, ipsam Christi caritatem participantes, animi robur pro apostolico labore et pro vita sua spirituali praesertim ex hoc ditissimo fonte hauriant. 37 Sínodo Diocesano. Diócesis de Canarias: Constituciones sinodales, S. 152. 38 Cf. Pastores dabo vobis, 16: Sacerdos unam eamque necessariam habet relationem, scilicet cum Iesu Christo, Capite et Pastore: partem enim habet in eius “consecratione-communione” necnon “missione”, et quidem ratione specifica et gravi (…) At cum ea relatione ad Christum intime alia cohaeret, scilicet cum Ecclesia. Neque propterea simpliciter dicendae sunt relationes invicem cohaerentes, sed intime coniunctae per mutuam immanentiam. Relatio enim ad Ecclesiam inclusa est in unica relatione sacerdotis ad Christum, in quantum est Christi ipsius “rapraesentatio sacramentalis”, quae fundat atque sustinet sacerdotii relationem ad Ecclesiam (…). AAS 84 (1992), S. 681. 39 Institutio generalis de Liturgia Horarum (Liturgia Horarum iuxta ritum Romanum), I. Typ. Pol. Vat. 1974, S. 19 – 92; cf. Cum sanctificato diei sit finis officii, cursus horarum traditus ita instauretur ut horis veritas temporis, quantum fieri potest, reddatur, simulque ratio habeatur vitae hodiernae condicionum in quibus versantur praesertim ii qui operibus apostolicis incumbunt. COD 836. 40 Pastores dabo vobis, 65: Cum opus formandi sacerdotii candidatos ad Ecclesiae pastoralem vocationum actionem pertineat (…) Nam Ecclesia, suapte natura “memoria” est et “sacramentum” ipsius Christi praesentiae eiusque actionis inter nos et ad nos; atque salvificae eiusdem praesentiae vocatio ad sacerdotium debetur: immo non solum vocatio debetur, sed ipsa quoque sequendi ratio, ita ut qui vocatur et Domini gratiam agnoscere et libertate atque amore ei respondere valeat. Ipse deinde Iesu Spiritus lucem fert virtutemque donat in voca-

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for a worthy appreciation of the Holy Mass, to which the candidate must have attained by the time of ordination (i. e. the Letter Dominicae Cenae of St. John Paul II on the mystery and veneration of the Holy Eucharist).41 Here again we experience the doctrinal and disciplinary unity of the Church, which appears expressively in the liturgy.42 The candidate is preparing himself to offer the Holy Mass in personal union with Christ, while he must be aware of the unworthiness of all people for that, including himself.43 This spirit will determine the loyalty to the Magisterium of the Church and at the same time the attitude towards the hierarchical superior44, as well as the fraternal cooperation with the clergy (Can. 245 §2). Therefore, the regular expositions of the Holy Eucharist (traditionally on Thursdays and Saturdays; every day in the religious institutes) are essential to the development and strengthening of the seminarian’s vocation, and to the building of a solid foundation of Eucharistic spirituality. This was underlined by Charles Maung Bo, Archbishop of Yangon (Cardinal since 2015) in 2003 and 2005. The frequent receiving of the sacraments serves precisely to strengthen the afore-mentioned spirituality, which must be carefully taken into consideration by the diocesan bishop or religious superior, in the careful selection of the spiritual director (spiritual director of the seminary, religious novice master) and in the appointment of confessors, even external ones. The institutionalized organized life of the seminary (Conventual Mass, common work, common meals, common prayer, other community programs) is aimed at creating in the seminarians a long-term need for prayer, silence, regular spiritual reading and spiritual life, various forms of asceticism, and ongoing self-training (in Bible reading, literature, poetry, sacred and classical music, and in certain disciplines of theology);45 on the other hand, confront the candidate with the spiritual responsibility that comes with remaining in the vocation. Conversations with the spiritual director and personal spiritual leader are intended to adequately answer questions about this tione decernenda inque huius itinerario sequendo Conferri, igitur, nequit authenticum formandi opus ad sacerdotium, nisi Christi Spiritus influxu. (…). AAS 84 (1992), S. 771. 41 Ioannes Paulus II, Epist., Dominicae Cenae (24 feb. 1980), n. 5: (…) Doctrina Eucharistiae, quae est signum unitatis et vinculum caritatis, a Sancto Paulo tradita altius enucleata est in tot sanctorum scriptis qui viva nobis exempla cultus eucharistici praebent. Ante oculos hoc constitutum semper habere eodemque tempore eniti perpetuo efficere ut nostra etiam aetas ad miranda illa praeteritorum temporum exempla addat nova quaedam, haud minus vivida et significantia, quae cum condicionibus, in quibus hodie vivimus, congruunt. AAS 72 (1980), S. 123. 42 Péter Erdo˝ , Az egyházjog teológiája (= Egyház és jog 2), Budapest 1995, S. 114 – 119. 43 Albert Vanhoye, Sacerdotes antiguos, sacerdote nuevo segun el Nuevo Testamento (= Biblioteca de Estudios Biblicos 79), Salamanca 1992, S. 184 – 185. 44 Péter Erdo˝ , Az egyházjog teológiája, S. 154, 168 – 170. 45 “Trasformados en ofrenda permanente, los padeccimientos y la muerte de Jesús le obtuvieron a él mismo la entrada en santuario verdadero, en donde comparece ante el rostro de Dios, que lo corona de honor y de gloria. Pero este acontecimiento – como y hemos dicho – no puede reducirse a un éxito individual, pues en ese caso no sería sacerdotal; al contrario, extiende sus consecuencias decisivas a la existencia de todos los hombres.” Albert Vanhoye, Sacerdotes antiguos, sacerdotes nuevo, S. 223.

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development and keep them on the right path.46 The recollections are aimed to serve together the above-mentioned criteria, not merely dealing with the theoretical details of the theological sciences (i. e. Congregation for Education, Circular Letter of January 6th 1980). It is therefore a grave responsibility of the ordinary to appoint a suitable spiritual director (or novice or junior magister) who is personally competent47, carefully prepared and not occupied with other duties (i. e. 651 Can. §3).48 A specific area of spiritual formation in the seminaries of Latin rite, the preparation for celibacy.49 The theological and theoretical foundation of it is necessary for the seminarians (i. e. Lumen gentium 21 – 22, 28; Christus Dominius 28; Presbyterium Ordinis 2, 6, 12; Optatam Totius 8, or Sacrosanctum Concilium 7). This is especially emphasized in the exhortation of John Paul II, Pastores dabo vobis (March 25th 1992), in which he indicates that “It is particularly important that the priest understand the theological motivation which explains the ecclesiastical discipline of celibacy (…).”50 As a final reason, to learn the relation between celibacy and the holy order, which transforms the priest to be able to carry out his priestly ministry in Christ and with Christ, for the good of the Church.51 In this assertion is implied the absolute dedication by which the candidate in the ordination (solemn profession)52 commits himself to the Lord, giving up everything for Him. Obviously, besides a proper intellectual foundation, it is spiritual formation that can be the key to the acquisition and appreciation of a particular and privileged form of human love of God – i. e. celibacy – in daily life. If this is consciously realized, the relationship of the person who has been dedicated himself to sacred ministry, is fundamentally transformed in rela-

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Joseph Ratzinger, Zur Gemeinschaft gerufen, die Kirche heute verstehen, Freiburg 1991, S. 91 – 123. 47 Domenico Mogavero, La formazione allo stato clericale, in Lo stato giuridico dei ministri sacri nell Codice di Diritto Canonico (= Studi Giuridici 7), Città del Vaticano 1984, S. 53 – 54. 48 Cf. “Refiriéndose al maestro y cooperadores, y a todos aquellos que puedan desempenˇ ar otras responsabilidades en la tarea formativa de los novicios, el legislador dictamina que: a) deben tener una cuidad preparación; b) deben estar libres de otros compromisos y cargas que pudieran obstaculizar su función; d) deben dedicarse a su oficio con estabildad y eficacia (…).” Angel Marzoa/Jorge Miras/Rafael Rodríguez-Ocaña (Hrsg.), Comentario exegético al Código de Derecho Canónico, 2. Bd. Pamplona 1996, S. 1641 (Domingo Javier Andrés). 49 Ratio fundamentalis, 110; for earlier explanation cf. Paulus VI, Litt. Encycl. Sacerdotalis caelibatus (24 iun. 1967), in: AAS 59 (1967), S. 686 – 690, nn. 72 – 82. 50 Ioannes Paulus II, Adh. Ap., Pastores dabo vobis (25 mart. 1992), in: AAS 84 (1992), S. 657 – 804, n. 29. 51 Alfons Maria Stickler, The Case for Clerical Celibacy. Its Historical Development and Theological Foundations, San Fransisco CA. 1995, S. 83 – 90; Szabolcs Anzelm Szuromi, Suitability for Priesthood in the Early Canonical Discipline (An Overview based on the First Centuries), in: Szabolcs Anzelm Szuromi/Nicolás Álvarez de las Asturias (Hrsg.), Becoming a Priest, S. 15 – 38, hier S. 24 – 26. 52 Domingo Andrés, Le forme di vita consacrata. Commentario teologico – giuridico al Codice di Diritto Canonico, Roma 2005, S. 389 – 392.

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tion to other people, leading to a true harmony of human and transcendent values, as CIC/1983 Can. 247 states. III. Acquisition of the ecclesiastical sciences According to CIC/1983 Can. 248: “Theoretical instruction should aim at providing the seminarians with a profound knowledge in accordance with the needs of the relevant field and age (…) to acquire a solid knowledge of the sacred sciences, so that (…) they may preach the doctrine of the Gospel in an appropriate manner for the people of their time (…).” However, the acquisition of ‘sacred sciences’ does not only serve to promote the verbal mission. The ‘scientia sacra’ is ‘sacred’ not only because it seeks to illuminate the relationship of the human being to the Holy One from different points of view, in the light of revelation; but also because it brings the one who is exercising it and the one who is cultivating it closer to the Holy One and therefore to the goal of the Church, which is the salvation of souls. This means that the appropriate spiritual acquisition of the ecclesiastical sciences must also serve the sanctification of the person and thus, indirectly, of the entire community of faithful. This includes Christian philosophy, theology, i. e. Holy Scripture, dogmatic theology, moral theology, pastoral theology, canon law, liturgy and church history. I highlight here especially the study of the writings of the Church Fathers, which are essential spiritual works, not only to enrich the reading of the Breviary, or to be found among the religious community’s table readings, and help to prepare for homilies, but also to promote the witness, fidelity and spiritual strength necessary for the willing and balanced exercise of the sacred ministry (i. e. the instruction of the Congregation for Education, November 10th 1989).53 IV. Basic rules of the physical and personal education A balanced education of the personality is an integral part of the training of those who undertake the sacred ministry. The time in which they spend in the seminary should lead pupils to acquire the natural human virtues and to grow in their practice. A readiness, a respectful, courteous, prudent and self-restrained behavior, both within the seminary and within the religious community, develops that serene harmony which is an indispensable condition of both spiritual and intellectual formation.54 Nevertheless, these are the elementary human norms of behavior which express the ability to communicate serenely with others, and which are essential for the fulfilment of a vocation in the daily life of those who carry out sacred ministry. The Ninth Diocesan Synod of the Canary Islands (1992), in its 61st decision lists the basic skills, which must be developed during the seminary formation in order to enable the can53 Congregatio pro Institutione Catholica, Instr. Inspectis dierum (10 nov. 1989), in: AAS 82 (1990), S. 607 – 636. 54 Cf. Seminarian Rule of Life (St. Michael’s Abbey – Orange, CA), 2022, n. 3.

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didate to fulfil his clerical duties with dignity. These are: a) active integration into the community of the seminary; b) the formation of a person-specific religious life through the acquisition of life experience; c) the acquisition of the importance of careful human behavior; d) the conscious fixing of the regularity of community life; e) careful pastoral formation and integration into the pastoral life of the diocese; f) adequate theological preparation; g) active and responsible participation in the daily activities of the seminary.55 This can be supplemented by the third principle of 59th decision of the same Synod: “A pastoral formation must be one which enables the candidates to learn how to respond authentically to the challenges of the Church’s mission in our contemporary transforming world.”56 A new area in this field is the development of the healthy use of online social media, smartphones, tablets and downloadable apps, in preparation for ordained and consecrated life.57 Reflective behavior, which is constantly attentive to the other person, provides a particular character to the candidate for priesthood or religious life. This can certainly be supported by a harmonious spiritual life, with the ability to recognize when one has made a mistake and thereby to apologize to the other (a virtue that has unfortunately completely disappeared from the postmodern society and even from the sphere of those who are in ordained or consecrated ministry in the 21st century). However, in order to acquire all this, it is necessary, besides the study of ecclesiastical sciences, to practice manual labor, which teaches discipline and, in addition to facing one’s own human limitations, an appreciation of the value of physical work. However, we mention here the importance of cultivating physical skills, maintaining a healthy lifestyle, sufficient sleep, regular exercise appropriate to one’s abilities, and the proper hygiene.58 An Instruction was promulgated on November 4th 2005, which was prepared in several stages and after lengthy preparation, from the initiative of the Congregation for Education in 1996, incorporating new elements which emerged in 1998, 2002, 2003 and 2004, on the issue of homosexuality and the possibility of ordination. It is not widely known that already during the pontificate of St. John XXIII (1958 – 1963), on February 2nd 1961, an earlier instruction was already issued in order to settle the problem by refusing to accept for profession or ordination any person who manifested a homosexual or pedophilic orientation.59 The recent document of November 4th 2005, n. 2, explicitly states that “in accord with the Congregation for Divine Worship and the Discipline of the Sacraments, believes it necessary to state clearly that the Church, while profoundly respecting the persons in question, cannot 55

Sínodo Diocesano. Diócesis de Canarias: Constituciones sinodales, S. 153. Sínodo Diocesano. Diócesis de Canarias: Constituciones sinodales, S. 152. 57 In detail cf. Szabolcs Anzelm Szuromi, Szerzetesjogi áttekintés a megszentelt életintézményein és apostoli élet társaságain belüli kötelességekro˝ l és jogokról, in: Kánonjog 22 (2020), S. 47 – 58, hier S. 55 – 56. 58 Seminarian Rule of Life, n. 10. 59 Sacra Congregatio pro Religiosorum, Instr. Commemoratur Instructio “Quantum Religiones” (2 feb. 1961), in: Javier Ochoa (Hrsg.), Leges Ecclesiae, coll. 4144 – 4166, n. III. 56

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admit to the seminary or to holy orders those who practice homosexuality, present deep-seated homosexual tendencies or support the so-called ‘gay culture’.”60

V. Conclusion The listed principles illustrate well the particular emphasis of the Church – irrespective of historical periods, geographical location, cultural environment and social tendencies – on responding to the call of the ‘great missionary commandment’ (Mt 28:19). It happens through those persons who called for sacred ministry, by transmitting the teaching of Jesus Christ and by administering the sacraments, in order to fulfill the goal of the Church with worthy life to her founder. This is served by an integral form of individual and community education and by a complex formation – in harmony with one another – in the spiritual life, in the ecclesiastical sciences, as well as in physical and personal development.

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Congregatio de Seminariis atque Studiorum Institutis, Instr. I criteri di discernimento vocazionale riguardo alle persone con tendenze omosessuali in vista della loro ammissione al Seminario e agli Ordini sacri (4 nov. 2005): http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/ccatheduc/documents/rc_con_cca theduc_doc_20051104_istruzione_it.html [consultation: June 25th 2022].

Der liturgische Eigenkalender als Teil des Partikularrechtes der Diözese Linz und der Identität einer Ortskirche Ewald Volgger OT Die Identität einer Diözese drückt sich auf vielfältige Weise aus. Ein wichtiger Aspekt dabei ist das Calendarium proprium (Eigenkalender),1 das mit den Eigenfesten und -Gedenktagen (Sanktorale) das gewachsene Selbstverständnis der diözesanen Glaubensgemeinschaft zum Ausdruck bringt, stärkt und fördert.2 Dabei haben jene Heiligen und Seligen, die aus der eigenen Glaubensgemeinschaft hervorgegangen sind, eine besondere Bedeutung. Am 14. Juli 2022, Prot. Nr. 160/21 erteilte das römische Dikasterium für die Liturgie und die Sakramentenordnung durch seinen Präfekten Arthur Roche dem Diözesanbischof Manfred Scheuer die erbetene Approbation für die gegenwärtige Festlegung des diözesanen Eigenkalender mit seinen Heiligen- und Seligengedenktagen und -festen respektive der Feste der Weihetage der Kirchen, nachdem dieser überarbeitet worden war.3 Das liturgische Recht wird lediglich zu einem geringen Teil im Kirchlichen Rechtsbuch geregelt;4 der liturgische Eigenkalender gehört aber ausdrücklich zum Eigenrecht einer Diözese, nachdem der Bischof die liturgischen Eigenfeiern approbiert und der Apostolische Stuhl die Einschreibung in den Eigenkalender der Diözese auf Bitten desselben Bischofs hin vorgenommen hat (Konfirmierung).

1 Zur Kalenderfrage vgl. Philipp Harnoncourt, Gesamtkirchliche und teilkirchliche Liturgie. Studien zum liturgischen Heiligenkalender und zum Gesang im Gottesdienst unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Sprachgebietes (= Untersuchungen zur Praktischen Theologie 3), Freiburg 1974, S. 67 – 91; Philipp Harnoncourt, Der Kalender, in: Feiern im Rhythmus der Zeit II/1 (= Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft 6,1), Regensburg 1994, S. 9 – 63. 2 Zum geschichtlichen Werden und zur Bedeutung der Heiligenkalender siehe Hansjörg Auf der Maur, Feste und Gedenktage der Heiligen, in: Feiern im Rhythmus der Zeit II/1 (Anm. 1), S. 65 – 357; Helmut Merkel, Feste und Feiertage IV. Kirchengeschichtlich, in: TRE 11 [1983], S. 115 – 132. 3 Der Eigenkalender der Diözese Linz, in: LDBl 168/5 (2022), S. 70, Nr. 44. https://www.dio ezese-linz.at/institution/8000/kanzlei/linzerdioezesanblatt/article/199284.html [Zugriff:15. 12. 2022]. 4 Ludger Müller, Begriff, Träger und Ordnung der Liturgie, in: HdbKathKR3, S. 1086 – 1094, hier S. 1092.

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In diesem Beitrag5 frage ich zunächst nach der ursprünglichen Gestalt des Calendarium proprium Linciensis, nachdem die Diözese Linz 1783 – 85 durch die Abtrennung von Passau gegründet worden war, gehe in der gebotenen Kürze auf seine historische Entwicklung ein, um dann den reformierten Eigenkalender nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1991/92) dessen Aussagekraft und Bedeutung zu erkunden und die derzeit aktualisierten Normen und die gegenwärtige Gestalt (2022) darzulegen. Dabei soll auch auf die noch offenen Schritte in der Erstellung der zum Kalendarium gehörigen Eigenfeiern (Proprium) verwiesen werden.

I. Der erste Eigenkalender der Diözese Linz 1786 bis 1961 Für die im Zuge des Josephinismus 1783 – 85 neu gegründete Diözese Linz war Ernest Johann Nepomuk Graf Herberstein vom Kaiser zum ersten Bischof ernannt worden;6 zur Selbständigkeit einer Diözese zählt auch die Erstellung eines eigenen Kalendariums. Ohne jede Hinführung erscheint 1786 das Calendarium omnium festorum pro Dioecesi Linciensi mit dem dazugehörigen Proprium Sanctorum Ecclesiae et Dioeceseos Linciensis,7 das in Ried gedruckt wurde, da liturgische Bücher nicht mehr aus dem Ausland bezogen werden durften; die Hofkanzlei wachte über die genaue Einhaltung der Feste und Feiertage, und überwachte auch das Direktorium und das liturgische Leben der Kirche.8 Vorausgegangen waren die Verhandlungen der Staatskanzlei mit dem Päpstlichen Stuhl um die Verminderung der Feiertage. Mit dem Generale vom 26. August 1771 waren die Ergebnisse, festgehalten in der Bulle 5

Mit diesem Beitrag möchte ich mich bei meinem verehrten Kollegen und lieben Freund, Herrn Severin Lederhilger vom Stift Schlägl, Generalvikar der Diözese Linz seit 2005, herzlich bedanken, insbesondere für seine wertvollen Beratungen im Bereich des Ordensrechtes und der Entscheidungen, hilfreich für mich als Mitglied der Generalleitung meiner Ordensgemeinschaft. 6 Rudolf Zinnhobler, Das Bistum Linz, seine Bischöfe und Generalvikare (1783/85 – 2000), in: NAGDL 15 (2002), S. 11 – 12; Rudolf Zinnhobler, Kirche in Oberösterreich 4. Vom Josephinismus zur Gegenwart, Strasbourg 1995, hier S. 4 – 5; Rudolf Zinnhobler, 200 Jahre Bistum Linz, in: Kirche in Oberösterreich. Oberösterreichische Landesausstellung 1985, 26. April bis 27. Oktober 1985 im ehemaligen Benediktinerstift Garsten, S. 227 – 236. 7 Officia propria et novissima pro Dioecesi Linciensi ad normam Breviarii Romani diposita. Jussu et authoritate Reverendissimi ac Excellentissimi Domini Domini Ernesti Dei gratia episcopi Linciensis, e prosapia Sac. Rom. Imp. Comitum de Herberstein, Ecclesiarum Cathedralium Passaviensis et Frisingensis Canonici Capitualaris, Ecclesiae collegiatae ad S. Andream ibidem praepositi, nec non S. C. R. et Apost. Majest. Actualis consiliarii intimi, Ridae, typis Mathiae Leopoldi Kränzel, M. DCC. LXXXVI. 8 Zur Liturgie im 18./19. Jahrhundert siehe Hans Hollerweger, Die Reform des Gottesdienstes zur Zeit des Josephinismus in Österreich (= Studien zur Pastoalliturgie 1), Regensburg 1976; hier bes. S. 73 – 77; 524 – 526; Benedikt Kranemann, Katholische Liturgie der Aufklärungszeit (S. 51 – 82) und Katholische Liturgie von der Aufklärung bis zur Jahrhundertwende (S. 83 – 123), in: Geschichte der Liturgie in den Kirchen des Westens. Rituelle Entwicklungen, theologische Konzepte und kulturelle Kontexte, Jürgen Bärsch/Benedikt Kranemann (Hrsg.), in Verbindung mit Winfried Haunerland/Martin Klöckener, Band 2: Moderne und Gegenwart, Münster 2018.

Der liturgische Eigenkalender als Teil des Partikularrechtes der Diözese Linz

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Klemens’ XIV. vom 22. Juni 1771, kommuniziert worden, zugleich war angeordnet worden, den Hauptpatron des Landes, der als Feiertag begangen werden konnte, festzulegen. Anfang 1772 gestattete die Hofkanzlei den Diözesen, einen eigenen Diözesanpatron zu wählen, wenn dieser nicht mit dem Landespatron übereinstimmte, der allerdings in den Kalendern schwarz geführt werden müsse, also kein öffentlicher Feiertag mehr sein durfte.9 Das 1786 gedruckte Kalendarium für die Diözese Linz beinhaltet 76 liturgischkalendarische Einträge10, die entweder abweichende bzw. ergänzende Texte zum Calendarium universale im Breviarium Romanum von 1568 bzw. des Missale Romanum von 1570 aufweisen oder aber eigenes liturgisches Gut mit Bezug zum oberösterreichischen Gebiet darstellen. Das Fest des hl. Leopold wird nach Vorgabe der Staatskanzlei als Patroziniumsfest Österreichs duplex I. classis cum octavam gefeiert, aber 9

Ebd., S. 73 – 74. Officia propria (Anm. 7), S. 3 – 6: Festa Januarii 7. S. Valentini Ep. & Conf. dupl.; 8. S. Sverini Abb. duplex. Dominica II. post Epiph. Festum Sanctissimi Nominis Jesu dupl. 2 clas.; 23. Desponsatio B. V. Mariae cum Commem. S. Joseph. Sponsi B. V. dupl. maj.; 31. S. Vigilii Ep. & Mart. dupl.; Festa Februarii 3. S. Blasii Ep. & Mart. semid.; 6. S. Dorotheae Virg. & Mart. semid.; 9. S. Apolloniae Virg. & Mart. dupl.; 11. Ss. 7 Fundatorum Ord. Serv. B. V. Mariae dupl.; 12. S. Amandi Ep. & Conf. dupl.; 13. S. Fuscae Virg. & Mart. semid.; 17. S. Joannis Elemos. Ep. & Conf. dupl.; 23. S. Margaritae de Cortona semid.; Festa Martii 3. S. Chunegund. Virg. semid.; Fer. 6. post Ciner, Officium 5 Vulner. D. N. J. Christi dupl. maj.; Una ex fer. 6. Quadrag. non impedit. Officium de Corona spinea D. N. J. Christi dup. maj.; 9. Ss. Cyrilli & Methodii Episc. dupl.; 18. S. Gertrudis Virg. semid.; 26. S. Castuli Mart. dupl.; 27. S. Ruperti Ep. & Conf. dupl.; Festa Aprilis Fer. 6. post Dom. in Albis. Officium Lanceae & Clavorum Domini. dupl. maj.; 24. S. Georgii Mart. dupl.; 27. S. Peregrini Conf. dupl.; Dom. 3. post Pasch. Patroconium S. Joseph. Conf. dupl.; Festa Maji Fer. 2. post Fest. Ss. Trinit. Officium de pretiosissimo sanquine D. N. J. Chr. dupl. maj.; 1. S. Sigismundi Mart. semid.; 4. Ss. Floriani & Soc. Mart. dupl. maj.; 15. S. Fidelis a Sigmaringa Mart. dupl.; 16. S. Joannis Nep. Mart. dupl.; 21. S. Felicis a Cant. Conf. dupl.; 30. Inventio manus dexterae S. Stephani dupl.; Festa Junii 4. S. Quirini Ep. & Mart. dupl.; 12. S. Joannis a S. Facund. Conf. dupl.; 15. Ss. Viti & Modesti Mart. semid.; 16. S. Joannis Franc. Reg. Conf. dupl.; 19. S. Julianae de Falc. Virg. dupl.; 27. S. Ladislai Reg. Conf. dupl.; 29. Commem. omnium Ss. Apostolorum; Festa Julii 4. S. Udalrici Ep. & Conf. dupl.; 12. Ss. Hermagorae & Fortunati Mart. dupl.; 15. Divisio Sanct. Apostolorum dupl. maj.; 20. S. Margaritae Virg. & Mart. dupl.; 21. S. Hieronymi Aemil. Conf. dupl.; 27. S. Camilli de Lel. M.; Festa Augusti 9. Ss. Afrae & Soc. Mart. dupl.; 16. S. Rochi Conf. dup. 19. S. Ludovici Tolosan. Ep. & Conf. sem.; 21. S. Joannae Fremiot. de Chantal. Virg. dup.; 27. S. Joseph. Calas. Conf. dupl.; Dom. 4. August. Dedicatio Eccl. Cathedr. Linciensis dupl. I. cl.; Festa Septembris Dom. 3. Sept. Officium Dolorum. B. M. V. dupl.; 18. S. Joseph. a Cupert. Conf. dupl.; 19. S. Lantperti Ep. & Conf. semid.; 22. Ss. Mauritii & Soc. Mart. semid.; 24. S. Gerardi Ep. & Mart. dupl.; 25. S. Mariae de Cervel. Virg. dupl.; Festa Octobris 11. Ss. Gereonis & Soc. Mart. semid.; 12. S. Maximiliani Ep. & Mart. dupl. I. cl. cum oct.; 13. S. Colomanni Mart. dupl. maj.; 16. S. Galli Abb. semid.; 19. Octava S. Maximiliani Mart. dupl.; 20. S. Joannis Cantii Conf. dup.; 21. Ss. Ursulae & Soc. Mart. semid.; 25. Ss. Chrysanthi & Dariae Mart. dupl.; 26. S. Demetrii Mart. dupl.; 31. S. Wolfgangi Ep. & Conf. dupl.; Festa Novembris Dom. I. Nov. Patroc. B. M. V. dupl. maj.; 13. S. Stanislai Kost. Conf. dupl.; 15. S. Leopoldi Conf. dupl. I. cl. cum oct.; 16. S. Gertrudis Virg. dupl.; 22. Octava S. Leopoldi Conf. dupl.; 27. S. Virgilii Ep. & Conf. dupl.; 29. S. Saturnini Mart. semid.; Festa Decembris 4. S. Barbarae Virg. & Mart. dupl.; 18. Expectatio Partus B. V. M. dupl. maj.; 26. Commemor. omnium Sanct. Mart. 10

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nicht öffentlich, d. h. nicht als arbeitsfreier Tag.11 Am 8. Dezember 1871 veröffentlicht Bischof Franz Joseph Rudigier ein von Papst Pius IX. am 7. Juli 1870 approbiertes Proprium Officiorum für die Eigenfeiern für Brevier und Messe der Diözese Linz.12 Dieser Kalender unterscheidet sich nicht unerheblich vom vorausgehenden. Mit 93 kalendarischen Einträgen ist er umfangreicher als der bisherige.13 In diesem 11

Siehe Officia propria (Anm. 7), S. 386. Proprium Officiorum ad usum cleri et dioeceseos Linciensis a SS.mo D.no Pio P. P. IX. approbatum et eidem clero concessum. Anno salutis MDCCCLXX, die VII. Julii, Lincii ex academia typographia Huemer viduae & Danner, MDCCCLXXII. 13 Festorum Proprii Linciensis: Januarius. 23. Desponsationis B. M. V. cum Joseph. dupl. maj.; 31. S. Petri Nolasci C. dupl. com., S. Vigilii E. M.; Fer. III. post Dom. Septuages. Orationis D. N. J. Ch. in Monte Oliveti. dupl. maj.; Fer. III. post Dom. Sexages. Commem. Passionis D. N. J. Ch. dupl. maj.; Februarius. 3. S. Blasii E. M. sem.; 6. S. Dorothere V. M. sem. com., S. Amandi E. C.; 9. S. Apolloniae V. M. dupl.; 11. BB. Septem Fundatorum Ordinis Servorum B. Mariae V. dupl.; 12. S. Titi E. C. dupl. (d. f. ex 4. Jan.); 13. S. Valentini E. C. dupl. (d. f. ex 7. Jan.); 14. S. Severini Abb. dupl. (d. f. ex 8. Jan.); 23. S. Petri Damiani E. C. D. dupl.; 26. S. Margaritae Cortonens. Poenitent. sem.; Fer. VI. post Cineres: Sacrae Spineae Coronae D. N. J. Ch. dupl. maj.; Fer. VI. post Dom. I. Quadrages. Lanceae et Clavorum D. N. J. Ch. dupl. maj.; Fer. VI. post Dom. II. Quadrages. Sacratissimae Sindonis D. N. J. Ch. dupl. maj.; Martius. 3. S. Chunegundis V. sem.; 11. SS. Cyrilli et Methodii EE. CC. dupl.; 17. S. Patritii E. C. dupl. com., S. Gertrudis V.; 18. S. Gabrielis Archangeli dupl. maj.; 27. S. Ruperti E. C. dupl.; Fer. VI. post Dom. III. Quadrages. Sacrorum quinque Vulnerum D. N. J. Ch. dupl. maj.; Fer. VI. post Dom. IV. Quadrages. Pretiosissimi Sanguinis D. N. J. Ch. dupl. maj.; Aprilis. 23. S. Georgii M. dupl.; 24. S. Fidelis a Sigmaringa M. dupl.; 27. B. Petri Canisii C. dupl.; 28. S. Pauli a Cruce C. dupl.; Majus. 4. SS. Floriani Patroni Austriae superioris et Sociorum Mm. dupl. 1. cl. c. Oct.; 11. Octava SS. Floriani et Soc. Mm. dupl.; 16. S. Joannis Nepomuceni M. dupl.; 17. S. Paschalis Baylon C. dupl.; 24. B. Mariae V. sub Titulo Auxilium Christianorum dupl. maj.; 31. S. Angelae Mericiae V. dupl.; Fer. VI. post Oct. Corp. Ch. Sacratissimi Cordis Jesu. dupl. maj.; Junius. 4. S. Quirini E. M. dupl.; 5. S. Bonifacii E. M. dupl.; 7. S. Francisci Carracciolo C. dupl. (d. f. ex 4. huj.); 16. S. Joannis Francisci Regis C. dupl.; 25. S. Guilielmi Abb. dupl.; 29. Commem. Omnium SS. Apostolorum; Julius. Dom. 1. post Oct. Ss. Ap. Petri et Pauli Commem. OO. SS. S. R. E. Summorum Pontificum. dupl.; 13. S. Henrici Imp. C. dupl.; 15. Divisionis SS. Apostolorum dupl. maj.; 20. S. Hieronymi Aemiliani C. dupl.; 21. S. Anacleti P. M. sem. (d. f. ex 13. huj.); 31. S. Ignatii C. Titularis Eccl. Cathedr. Linc. dupl. 1. cl. c. Oct.; Augustus. 2. S. Alphonsi Mariae de Lignorio E. C. D. dupl.; 7. Octava S. Ignatii C. dupl.; 13. SS. Hippolyti et Cassiani Mm. dupl.; 15. Assumptionis B. M. V. Titularis et Patronae Eccl. Cathedr. et Dioeces. Linc. dupl. 1. cl. c. Oct.; 16. S. Rochi C. dupl.; 21. S. Joannae Franciscae Fremiot de Chantal Vid. dupl.; 27. S. Josephi Calasanctii C. dupl.; Dom. post Assumpt. B. M. V. Purissimi Cordis B. M. V. dupl. maj.; September. Dom. 1. SS. Angelorum Custodum dupl. 2. cl. c. Oct.; Dom II. Octava SS. Angelorum Custodum dupl.; 4. S. Rosaliae Panormitanae V. dupl.; Dom. inf. Oct. Nat. B. M. V. Sanctissimi Nominis B. M. V. dupl. maj.; 18. S. Josephi a Cupertino C. dupl.; 25. Beatae Mariae de Socos dictae de Cervellione V. dupl.; 27. S. Wenceslai Duc. M. dupl.; October. Dom. II. Maternitatis B. M. V. dupl. maj.; 12. S. Maximiliani E. Laureacensis M. et Patroni Dioeces. Linc. dupl. 1. cl. c. Oct.; 13. S. Colomani M. dupl. maj.; Dom. III. Anniversarium Dedicat. Eccl. Cathedr. et OO. Eccles. Dioeces. Linc. dupl. 1. cl. c. Oct.; Dom. IV. Octava Dedicat. Eccl. dupl.; 16. S. Galli Abb. sem.; 17. S. Hedwigis Vid. dupl.; 19. Octava S. Maximiliani E. M. dupl.; 20. S. Joannis Cantii C. dupl.; 21. SS. Ursulae et Soc. VV. Mm. sem.; 22. S. Petri Alcantara C. dupl. (d. f. ex 19. huj.); 24. S. Raphaelis Archangeli dupl. maj.; 29. SS. Reliquiarum seu Sanctorum, quorum Corpora vel Reliquiae asservantur in Eccl. Cathedr. et Dioeces. Linc. dupl.; Dom. V. vel 30. 12

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Kalender wird (zum ersten Mal) am 4. Mai mit Oktav das Fest des hl. Florian und seiner Gefährten als Patronatsfest für Oberösterreich ausgewiesen (Patroni Austriae superioris), am 31. Juli das Fest des hl. Ignatius als Titelfest der Kathedralkirche von Linz (Titularis Eccl. Cathedr. Linc.) mit Oktav,14 am 15. August das Fest Mariä Aufnahme in den Himmel als Titel- und Patronatsfest der Kathedralkirche und der Diözese von Linz (Titularis et Patronae Eccl. Cathedr. et Dioeces. Linc.) mit Oktav,15 am 12. Oktober das Fest des hl. Maximilian als Patronatsfest der Diözese (Laureacensis M. et Patroni Dioeces. Linc.) mit Oktav und am 15. November das Fest des hl. Landgrafen Leopold als Patron Österreichs (Marchionis Patroni Austriae) mit Oktav.16 Am 21. Juni 1883 hatte die römische Kongregation eine weitere Anzahl von Einträgen in den Eigenkalender der Diözese mit den dazugehörigen Offizien für Messe und Brevier approbiert;17 ein weiteres Dekret folgte am 30. August Puritatis B. M. V. dupl. maj.; 31. S. Wolfgangi E. C. dupl.; November. Dom. inf. Oct. OO. SS. Patrocinii B. M. V. dupl. maj.; 6. S. Leonardi Abb. dupl.; 13. S. Stanislai Kostkae C. dupl.; 15. S. Leopoldi C. Marchionis Patroni Austriae dupl. 1. cl. c. Oct.; 16. S. Gertrudis V. dupl.; 22. Octava S. Leopoldi C. dupl.; 26. S. Caeciliae V. M. dupl. (d. f. ex 22. huj.); 27. S. Virgilii E. C. dupl.; December. 4. S. Barbarae V. M. dupl.; 5. S. Petri Chrysologi E. C. D. dupl. (d. f. ex 4. huj.); 8. Immaculatae Conceptionis B. M. V. dupl. 1. cl. c. Oct.; 9. Die 2. inf. Oct. Imm. Concept. sem.; 10. Translatio almae Domus Lauretanae dupl. maj.; 12. Die 5. inf. Oct. Imm. Concept. sem.; 14. Die 7. inf. Oct. Imm. Concept. sem.; 15. Octava Imm. Concept. dupl.; 18. Expectat. Partus B. M. V. dupl. maj.; 26. Commem. Omnium Ss. Martyrum. 14 Für die neu gegründete Diözese Linz bot sich als erste Kathedralkirche die Jesuitenkirche, heute noch Alter Dom genannt, an. 1773 erfolgte die Aufhebung des Jesuitenordens auch in Linz, sodass die Kirche leer stand. Kaiser Joseph II. forderte im Zuge der Bistumsregulierung von der Diözese Passau die Pfarren in Oberösterreich (Land ob der Enns) und gründete die Diözese Linz, welche mit der päpstlichen Bulle vom 28. Januar 1785 durch Papst Pius VI. bestätigt wurde; der Passauer Weihbischof Ernest Johann Nepomuk Graf Herberstein war als erster Linzer Bischof vorgesehen, der die Jesuitenkirche zur Kathedralkirche bestimmte; vgl. Rudolf Zinnhobler, Das Bistum Linz, seine Bischöfe und Generalvikare (Anm. 6), S. 11 – 12. 15 Nachdem am 1. Mai 1862 durch Bischof Rudigier die Grundsteinlegung für den neuen Dom erfolgt war, wurde auch schon das Titelfest in Blick genommen, das zunächst noch das Fest Mariä Aufnahme in den Himmel sein sollte. Die Votivkapelle über der Krypta wurde am 29. September 1869 geweiht. Anton Bruckner hatte zu diesem Anlass die e-Moll-Messe komponiert. Das Motiv der Aufnahme Mariens in den Himmel prägt das Fenster über der Votivkapelle und konzentriert auch heute noch den Blick der Menschen, die den Dom vom Hauptportal her betreten. Zur Baugeschichte des Mariendomes vgl. u. a. Florian Oberchristl, Der Mariä-Empfängnis-Dom in Linz a.D. Zum sechzigjährigen Bau-Jubiläum. Mit über 250 Abbildungen, Linz 1923; zu Bedeutung und Deutung der Glasbilder im Hochchor vgl. Maximilian Strasser, Hineingenommen in sein Geheimnis. Die Glasgemälde im Hochchor des Mariä-Empfängnis-Domes in Linz, Linz 2012. 1909 wechselte der Bischof in den sogenannten Neuen Dom, den Mariendom, als seine Kathedralkirche. 16 Die Benennung von Landespatronen beginnt im 17. Jahrhundert. Der hl. Leopold wurde 1485 als Landespatron von Österreich ausgerufen und durch Innozenz VIII. bestätigt; dies gilt für Unter und Ober der Enns, gemäß einem Dekret Kaiser Leopolds I. von 1663. Entgegen dieser Festlegung wurde das Fest des hl. Leopold 1955 in allen Diözesen Österreichs vorgeschrieben; siehe Harnoncourt, Gesamtkirchliche und teilkirchliche Liturgie (Am. 1), S. 141. 17 Genannt werden die Rangerhöhungen der Feste des hl. Bonifatius, des hl. Wolfgang und der hl. Kunigunde. Zum Kalender hinzugefügt werden unter Punkt 3 des Dekretes: Demum ut insequentium Sanctorum Festa in Kalendario ac Proprio Dioecesano cum respectivis Officiis

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1883 für das Fest des Abtes Berthold; mit Dekret vom 15. September 1883 wurde die Einfügung am 1. Oktober der hl. Jungfrau Margarita Maria Alacoque, mit 6. Februar 1884 die beiden Feste am 8. August für den hl. Bischof und Bekenner Altmann und am 6. Oktober für den hl. Bischof und Bekenner Adalbero approbiert und damit die Kultanerkennung ausgesprochen.18 Alle diese Ergänzungen wurden im Supplementum Proprii Officiorum ad usum cleri et Dioeceseos Linciensis 1884 zusammengefasst und publiziert.19 Am 29. Oktober 1907 veröffentlicht Bischof Franz Maria Doppelbauer das Proprium Missarum in usum Dioeceseos Linciensis, das von der Ritenkongregation genehmigt worden war; es spiegelt den bis dahin gewachsenen Kalender wider.20 Die Menge der Daten, die im Laufe des Kirchenjahres den Kalender füllten, zeigt, dass der Sonntag und die Feier des Paschamysteriums zurückgedrängt wurden, weil das Sanktorale überhandgenommen hatte. Diese Entwicklung fand um 1900 zu einem vom Konzil von Trient so nicht vorgesehen Höhepunkt, wollte man doch bereits unter Pius V. das Temporale von Überwucherungen durch die Heiligenfeste, Votivmessen und Sonderoffizien befreien. Mit der Apostolischen Konstitution Divino afflatu vom 1. November 1911 stieß Papst Pius X. das reformierte Brevier an, deren Rubriken auch einen reformierten Kalender der Römischen Kirche und in Folge auch für die Eigenkalendarien be-

ac Missis jam rite approbatis pro aliquibus locis incribi valeant; nimirum, sub ritu Duplicis majoris, festum S. Godehardi Ep. Conf. diei 5. Maji affixum, cum Officio ac Missa Passaviensi Dioecesi concessis; et sub ritu Duplicis minoris festa Beatae Julianae Cornelionen. Virg. die 6. Aprilis – S. Benedicti Josephi Labre Conf. die 16. Aprilis – S. Boni Latronis Conf. die 18. Aprilis – S. Isidori Agricolae Conf. die 15. Maji – S. Felicis a Cantalicio Conf. die 21. Maji – S. Joannis Baptistae de Rossi Conf. die 23. Maji – S. Ferdinandi Regis Conf. die 30. Maji – SS. Viti et Soc. Mm. ie 15. Junii – S. Udalrici Episc. Augustani et Conf. die 4. Julii (cum Officio ac Missa Dioecesi Passaviensi indultis) – S. Laurentii a Brandusio Conf. die 7. Julii – SS. Nicolai et Soc. Mm. Gorcomiensium die 9. Julii – S. Margaritae Virg. Mart. die 20. Julii – S. Helenae Imperatricis Viduae die 18. Augusti – S. Aegidii Ab. die 1. Septembris et S. Joannis a Capistrano Conf. die 23. Octobris, cum Officio ac Missa de Communi Conf. non Pont., adhibitis tamen Orationibus ac Lectionibus historicis ex Proprio Ordinis Minorum S. Francisci Cappucinorum desumptis: ac denique sub ritu Semiduplicis festum SS. Martyrum Maritii et Sociorum diei 22. Sept. affixum. 18 Ebd., S. III – VII. 19 Supplementum Proprii Officiorum ad usum cleri et Dioeceseos Linciensis. Jussu et auctoritate Reverendissmi ac illustrissimi Domini Domini Francisci Josephi, Dei et apostolicae sedis gratia episcopi Linciensis, sanctitatis suae praelati domestici et solio pontificio assistentis, patricii romani, inclyti ordinis Leopoldi II. imperatoris commendatoris, Lincii, in Curia Episcopali, MDCCCLXXXIV. 20 Proprium Missarum in usum Dioeceseos Linciensis, in: Missale Romanum ex decreto Sacrosancti Concilii Tridentini restitutum S. Pii V. Pontificis Maximi jussu editum Clementis VIII., Urbani VIII. et Leonis XIII. auctoritate recognitum et a SS. D. N. Prio PP. X. reformatum. Editio vicesima secunda post alteram uti typicam a S. R. C. declaratam, Ratisbonae et Romae, MCMXIII.

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schrieben.21 Mit den darin enthaltenen Rubricae servandae ad normam Constitutionis Apostolicae „Divino afflatu“22 wurden Ergänzungen und Änderungen zu den alten Generalrubriken angeordnet, die mit dem Breviarium Romanum 1914 und dem Missale Romanum 1920 in Kraft treten sollten. Hauptanliegen war die Ferialisierung der Festliturgie.23 Viele Feste wurden in der Folge nur mehr als festa chori (im Chor = nicht öffentlich) und nicht mehr als festa fori (öffentliche Feiertage) gefeiert und es sollten keine Feste mehr auf einen Sonntag gelegt werden. In diesem Sinne sollte nicht nur der Generalkalender überarbeitet werden, sondern auch alle Diözesan- und Ordenskalender.24 Im Linzer Diözesanblatt kündigt Bischof Rudolf Hittmair 1912 die Überarbeitung des Kalendariums an.25 Wie die Consistorialakten im Diözesanarchiv Linz zeigen, war der Religionsprofessor und Kalendarista Msgr. Josef Kobler26 aus Salzburg mit der Gestaltung dieses Anliegens und der Kommunikation mit dem Apostolischen Stuhl betraut worden, der auch postwendend einen umfassenden Vorschlag zur Neugestaltung vorlegte.27 Der Bischof informierte die Kirchenöffentlichkeit über die näheren Anweisungen der Ritenkongregation vom 12. Dezember 1912 zur Reform des Diözesankalendarium. Für die Diözesen sind folgende Feste festzulegen: das Weihefest und das Titelfest der Kathedralkirche, der Hauptpatron der Diözese (der Provinz oder der Nation), der Hauptpatron der Stadt, in der der Bischof residiert; die Nebenpatrone; die Heiligen, die im Diözesangebiet geboren wurden, dort gelebt haben oder gestorben sind; Heilige, deren Leiber oder Reliquien aufbewahrt werden, und weitere Feste, die in einem besonderen Zusammenhang mit der Diözese stehen. Dazu wurde angemerkt, dass der „Bischof gedenkt die Angelegenheit der Reform des Diözesankalendariums im Sinne dieser vom Heiligen Stuhl gegebenen Normen mit den hochwürdigen Herren Dekanen auf einer Herbstkonferenz in diesem Jahr zu besprechen. Die Herren Dekane werden gebeten, mit ihrem Dekanatsklerus diesbezüglich Fühlung zu nehmen.“28 Nach den Beratungen und Eingaben der Dekanatskonferenzen und der Diözesanversammlung wurde in der Sitzung am 13. November 1913, bei der der Bischof, das Domkapitel und Msgr. Kobler anwesend waren, die nunmehr erstellte Eingabe an die Kongregation besprochen.29 Neu hinzugekommen ist der Weihetag der Domkirche am 29. April, für den Weihetag der einzelnen Kirchen der Diözese wurde der 16. Oktober in Blick genom21

Eine wertvolle und prägnante Übersicht der Kalenderfragen, deren Entwicklung, Kriterien und Prinzipien und jeweiligen Reformansätzen findet sich bei Harnoncourt, Gesamtkirchliche und teilkirchliche Liturgie (Anm. 1), S. 91 – 112. 22 AAS 1911, S. 639 – 650. 23 Vgl. Hansjörg Auf der Maur, Feste und Gedenktage der Heiligen (Anm. 2), S. 159 – 160. 24 Vgl. Helmut Merkel, Feste und Feiertage (Anm. 2), S. 128. 25 Vgl. LDBl 58/12 (1912), S. 167 – 168. 26 Diözesanarchiv Linz: CA/8, Sch. 5, Fasz. I/4. Auftrag und Bitte vonseiten des Diözesanbischofs ergingen am 28. Oktober 1912, Zl. 8052. 27 Diözesanarchiv Linz: CA/8, Sch. 5, Fasz. I/4. 28 Vgl. LDBl 59/6 (1913), S. 53 – 54. 29 Diözesanarchiv Linz: CA/8, Sch. 5, Fasz. I/4: 8077 I/4 1913.

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men, der damit auch am 3. Sonntag im Oktober gefeiert werden könne, das Fest Mariä Namen wird im Calendarium Romanum am 12. September fixiert, das Fest der Schutzengel sollte am ersten Sonntag im September bleiben30, das Fest Herz Mariä sollte am 26. August gefeiert werden.31 Auf die Wiedergabe der Diskussion um einzelne Vorschläge wird hier ausdrücklich verzichtet. Die rasche Vorgangsweise allerdings zeigt, wie einhellig die Reform abgeschlossen werden konnte. Am 17. Dezember erfolgte die Eingabe des Kalendariums an die Ritenkongregation durch Bischof Hittmair, am 29. Dezember 1913 approbierte diese das Kalendarium Perpetuum in usum Dioecesis Linciensis, das unmittelbar darauf vom Bischof mit Verweis auf das Motu proprio Abhinc duos annos verordnet wurde.32 Gemäß der eingeführten Praxis stellt dieses ein vollständiges liturgisches Römisches Kalendarium dar, in das die Eigenfeiern der Diözese Linz eingetragen sind. Das sind: 19. Jänner Hl. Severin (dupl. maj.) 15. März Sel. Clemens M. Hofbauer (Conf. dupl.) 27. März Hl. Rupert (Ep. et Conf. dupl.) 27. April Sel. Petrus Canisius (Conf. dupl.) 29. April Weihe der Kathedralkirche (dupl. I. clas. cum Octava) 4. Mai Hl. Florian, zweiter Patron Oberösterreichs (dupl. maj.) 6. Mai Oktav Weihetag der Domkirche 16. Mai Hl. Johannes Nepomuk (Mart. dupl.) Samstag nach der Oktav von Fronleichnam: Herz Mariä (dupl. majus) 27. Juli Sel. Berthold (Abb. duplex)33 8. August Hl. Altmann (Ep. et Conf. dupl. maj.) 13. September Sel. Notburga (Virg dupl.) 6. Oktober Hl. Adalbero (Ep. et Conf.) 12. Oktober Hl. Maximilian, Bisch (Ep. et Mart.) erster Patron der Diözese (dupl. I. clas. cum Octava) 16. Oktober Weihetag der Kirchen, die keinen eigenen Weihetag kennen (dupl. I. clas. cum Octava) 19. Oktober Oktav Hl. Maximilian 29. Oktober Hl. Valentin (Ep. et Conf. dupl.) 31. Oktober Hl. Wolfgang (Ep. et Conf. dupl. maj. Com.) 5. November Fest der Reliquien, die in der Diözese aufbewahrt werden (dupl.) 30 Dies wurde von der Kongregation nicht berücksichtigt. Das Fest blieb am 2. Oktober fixiert. 31 Diözesanarchiv Linz: CA/8, Sch. 5, Fasz. I/4: 8840 I/4 1913. 32 Kalendarium Perpetuum in usum Dioecesis Linciensis a Sacra Rituum Congregatione revisum et adprobatum die 29 Decembris 1913, in: LDBl 60/6 (1914), S. 27 – 35. Der Eingangsstempel des bischöflichen Ordinariates trägt das Datum 13. Jan. 1914, Zl. 254. 33 Entgegen der Feststellung von Rudolf Zinnhobler, Schutzpatrone und Heilige Oberösterreichs, in: Kirche in Oberösterreich. 200 Jahre Bistum Linz. Oberösterreichische Landesausstellung 1985, S. 45 – 49 muss hier festgehalten werden, dass die Anerkennung des Kultes des hl. Berthold nicht erst 1970 erfolgte, sondern bereits mit der Approbation dieses Kalendariums 1913 gegeben war. Die Heiligsprechung erfolgte durch den Passauer Bischof Rudigier von Radeck (1232 – 1250).

Der liturgische Eigenkalender als Teil des Partikularrechtes der Diözese Linz 6. November 15. November 22. November 27. November 28. November 8. Dezember 15. Dezember

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Hl. Leonhard (Conf. dupl.) Hl. Markgraf Leopold (Conf.) Hauptpatron Österreichs (dupl. I. clas. cum Octava) Oktavtag Hl. Leopold Hl. Virgilius (Ep. et Conf. semiduplex) Hl. Valentin (Ep. et Conf. dupl.) Hochfest Mariä Empfängnis, Titelfest der Kathedralkirche (duplex I classis cum Octava) Oktavtag Mariä Empfängnis

Im Jänner 1914 nachgereicht und approbiert wurden die Anfrage um den Gedenktag des hl. Valentin am 29. Oktober und das Herz Mariä am Samstag nach der Oktav von Fronleichnam; beide Tage sind in der Verordnung bereits berücksichtigt.34 Mit der Approbation durch die Ritenkongregation und der ausdrücklichen Zustimmung des Papstes erhielt das Kalendarium Perpetuum Dioecesis Linciensis Gesetzeskraft als Partikularrecht der Diözese. Bischof Rudolf Hittmair35 stellt mit Blick auf manche Veränderungen fest, dass „das subjektive Empfinden zurücktritt in der verständnisvollen Erkenntnis und Wertschätzung gründlicher Verbesserung.“36 Zur Gestalt des neuen Kalendariums meint er begründend: „Ich habe mit dem Domkapitel auch gesucht, möglichst Rechnung zu tragen der besonderen Andacht in Klerus und Volk zu manchen Heiligen. Ich erbat sie als besondere Patrone für einzelne Stände. So blieben der Diözese erhalten die officia des heiligen Johannes v. Nepomuk, des heiligen Clemens Maria von Hofbauer, des heiligen Leonhard, der heiligen Notburga, als der Patrone der Priester, besonders der in der sozialen Seelsorge tätigen Priester, des Bauernstandes, der weiblichen Dienstboten; andere Stände haben ihre Schutzheiligen, deren Offizium schon allein in der Kirche gefeiert wird.“37 Der Bischof weist auch darauf hin, dass andere Heilige durch das Kalendarium Romanum gefeiert werden, wiederum andere durchaus in der Volksfrömmigkeit ihre legitime Verehrung erfahren. Er bittet die Priester, in ihren Predigten die Veränderungen behutsam und verständnisvoll zu vermitteln, so etwa die Verlegung des Schutzengelfestes vom 1. Sonntag im September auf den 2. Oktober bzw. den darauffolgenden Sonntag, und schließt: „Es wird über uns und unsere Diözese der Schutz aller Heiligen Gottes bleiben, wenn wir treu bleiben im ehrerbietigen Gehorsam gegen die Kirche und ihre Leitung, wenn wir das recht beten, was die Kirche zu beten uns aufgibt, und wenn wir nur selbst im Gebete uns recht heiligen.“38 Im ersten Kalendarium der Diözese und damit bei deren Gründung erhob der erste Bischof Maximilian zum Bistumspatron, ausgewiesen aufgrund seines angeblichen 34 Diözesanarchiv Linz: CA/8, Sch. 5, Fasz. I/4. Schreiben der Kongregation vom 24. Jänner 1914. 35 Zu Hittmair vgl. Rudolf Zinnhobler, Rudolph Hittmair, in: NAGDL 15 (2002), S. 81 – 84. 36 LDBl 60/6 (1914), S. 33 – 34. 37 LDBl 60/6 (1914), S. 34. 38 LDBl 60/6 (1914), S. 35.

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Wirkens als Bischof in Lorch. Bischof Johannes Maria Gföllner besserte nach und veranlasste anlässlich des 150-Jahr-Jubiläums der Diözese im Jahre 1935, den hl. Severin als Patron zu ergänzen.39 Mit Dekret der Ritenkongregation vom 10. Juli 1935, Nr. L. 22 – 935 wird dies bestätigt und das Fest (festum dupl. I. classis sine octava) als compatronus principalis der Diözese am 8. Jänner in den Diözesankalender eingetragen.40 Für die Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil erinnert Philipp Harnoncourt an zwei Maßnahmen, die das Kirchenjahr gegenüber den Heiligenfesten stärken: die Aufhebung fast aller Oktaven 195541 und eine übersichtliche Regelung der Rangstufen durch den Rubrikenkodex42 von 1960. Die im Anschluss daran herausgegebene Instructio de calendariis particularibus 196143 enthält keine neuen Regelungen und beruft sich auf die Grundsätze unter Pius X.44 Ergebnis dieser Bestimmungen und Vorgänge war, dass sich die Liturgische Kommission für Österreich am 15. Dezember 1960 in einer Sondersitzung mit den Kalenderfragen beschäftigte, um die in Österreich gemeinsamen Feiern zu sichten, zu ordnen und neben den festa propria in den einzelnen Diözesen eine kleine Zahl an für alle gemeinsame Feste (festa totius Austriae propria) festzulegen. Daraus entstand das Calendarium Austriacum. Es sind dies die folgenden Feste: 8. Jänner 23. Jänner 4. Mai 16. Mai

S. Severini Abb. S. Clementis Mariae Hofbauer C. S. Floriani M. S. Joannis Nepomuceni M.

39 LDBl 81 (1935), S. 54: Im Hirtenbrief vom 5. Mai 1935 schreibt der Bischof: „Gleichsam als Weihegeschenk der Diözese für alle Gnaden und Segnungen in diesen 150 Jahren möchte ich allen frommen Christgläubigen vorschlagen, dem hl. Severin, dem ersten Apostel und Organisator des Christentums in unserem Lande, einen Severinusaltar im Dom zu errichten und zu weihen. […] Dieser neue Severinusaltar im Querschiff des Domes soll ein bleibendes Denkmal des Dankes sein, den die Diözese ihrem ersten Glaubensapostel schuldet. Diesem Heiligen zu Ehren soll auch eine neue Notkirche erstehen, und zwar im nordöstlichen Arbeiterviertel in Linz, in der sogenannten Katzenau; die Kirche wird Severinuskirche heißen und soll zusammen mit dem Severinusaltar im Dom seine Verehrung in der Diözese neu beleben.“ Ein Spendenaufruf des Bischofs für dieses Vorhaben, in dem er auch von einem Besuch am Grab des hl. Severin in Frattamaggiore (Nähe Neapel) berichtet, erfolgte im LDBl 81 (1935), S. 73. 40 LDBl 81 (1935), S. 95: „Centesimo et quinquagesimo recurrente anno ab erectione dioeceseos Linciensis, cuius, teste historia, S. Severinus Abbas (+ 482 p. Ch.) primus apostolus et propagator fidei christianae in Norico Ripensi ad Danubium fuit, […] ad ritum festi duplicis primae classis sine octava evehatur, die octava januarii celebrandum; et memoratus S. Severinus compatronus principalis dioeceseos Linciensis declarari valeat.“ 41 Decretum generale de rubricis ad simlipliciorem formam redigendis vom 23. März 1955, in: AAS 47 (1955), S. 218 – 224. 42 Codex Rubricarum Breviarii et Missalis Romani, in: AAS 52 (1960), S. 597 – 740. 43 Instructio de calendariis particularibus vom 14. Februar 1961, in: AAS 53 (1961), S. 168 – 180. 44 Harnoncourt, Der Kalender (Anm. 1), S. 89.

Der liturgische Eigenkalender als Teil des Partikularrechtes der Diözese Linz 27. Juni 12. September 24. September 16. Oktober 23. Oktober 15. November

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S. Hemmae Vid. Ssmi. Nominis Mariae (II. cl.) SS. Ruperti et Vigilii EE. CC. Dedicatio ecclesiae S. Joannis Capistrani C. S. Leopoldi Marchionis C.45

Da inzwischen das Zweite Vatikanische Konzil ausgerufen und mit den liturgischen Fragen seine Arbeit aufgenommen war, kam es nicht mehr zur flächendeckenden Umsetzung in den österreichischen Diözesen; die Diözese Innsbruck als Teil der alten Diözese Brixen hatte sich schon vorher von diesem Anliegen verabschiedet. II. Das Zweite Vatikanische Konzil und die nachfolgende Reform des Kalendariums Mit der durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 1965) eingeleiteten Reform der liturgischen Bücher mussten auch der Römische Generalkalender und die Partikularkalender überarbeitet werden. Diese Reform wurde durch die allgemeinen Hinweise zum Verständnis des liturgischen Jahres im 5. Kapitel der Konzilskonstitution Sacrosanctum Concilium, Nr. 102 – 111 geprägt. Im Mittelpunkt steht der österlich geprägte Sonntag und das Herrenjahr,46 woraus sich die Dezentralisierung der liturgischen Heiligenverehrung ergibt. „Die letzte Bestimmung des Art. 111 schlägt aber für die Reform des Heiligenkalenders einen völlig neuen Weg ein.“47 Nach dem Motu proprio Mysterii paschalis zur Approbation der Grundordnung des Kirchenjahres und des neuen Allgemeinen Römischen Kalenders (1969) sollte die Kompetenz zur Regelung der Heiligenfeste den Teilkirchen zufallen, darüber hinaus sollten nur jene Feste von der Universalkirche gefeiert werden, die auch für alle von unbezweifelbarer Bedeutung sind.48 Das von Papst Paul VI. für die Liturgiereform beauf45

Karl Amon, Proprium Austriacum, in: Heiliger Dienst 16 (1962), S. 56 – 59. Siehe dazu Reiner Kaczynski, Theologischer Kommentar zur Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Peter Hünermann/Bernd Jochen Hilberath (Hrsg.), Band 2, Freiburg u. a. 2004 (Sonderausgabe 2009), S. 181 – 188; Pasquale Bua, Sacrosanctum concilium. Storia – Commento – Recezione, Roma 2013 (Ristampa 2022), S. 136 – 141. 47 Harnoncourt, Gesamtkirchliche und teilkirchliche Liturgie (Anm.1), S. 116. 48 Lehramtlich entscheidend ist in Fortführung von SC das Apostolische Schreiben von Papst Paul VI. Mysterii Paschalis vom 14. Februar 1969. Motuproprio zur Approbation der Grundordnung des Kirchenjahres und des neuen Römischen Generalkalenders (Messbuch 1975, Kleinausgabe, S. 77* – 88*), in: Dokumente zur Erneuerung der Liturgie. Dokumente des Apostolischen Stuhls 1963 – 1973, Heinrich Rennings (Hrsg.) unter Mitarbeit von Martin Klöckener (= Dokumente zur Erneuerung der Liturgie I [DEL]), Kevelaer 1983, S. 606 – 609. Das Motu proprio findet sich auch in Notitiae 5 (1969), S. 163 – 176, hier bes. Kap. 2 Der Kalender. Vgl. auch Emil Josef Lengeling, Kommentar zur Liturgiekonstitution (= Reihe Lebendiger Gottesdienst 5/6), Münster 1964, S. 217. Lengeling verweist auf die vielen in der Vorbereitung des Konzils eingegangenen Wünsche der Bischöfe, den Heiligenkalender zu reduzieren. 46

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tragte Consilium ad exsequendam Constitutionem de sacra Liturgia (Liturgierat) instruierte und begleitete die Reformarbeit auf universalkirchlicher Ebene, aber auch auf der Ebene der Bischofskonferenzen und der Diözesen.49 Für das Kalendarium erschienen für diese erste Phase der nachkonzilaren Erstellung der Kalendarien drei normierende Vorgaben: 1969 das Dokument Calendarium Romanum50 für die Erstellung des Generalkalenders, am 24. Juni 1970 die Instruktion Calendaria particularia51 über die Neuordnung der Eigenkalender und der Eigentexte von Stundengebet und Messe für Diözesen und Orden und das Schreiben De Patronis constituendis52 vom 19. März 1973, das die Frage der Schutzpatrone und Patronate in Blick nahm.53 Nach Erstellung des Römischen Generalkalenders54 waren die einzelnen Bischofskonferenzen (Regionen) angehalten, ihre Kalendarien zu erarbeiten.55 Nachdem sich die deutschsprachigen Bischofskonferenzen und Diözesen zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammenschlossen, um eine einheitliche Liturgie im deutschen Sprachgebiet zu verfassen,56 ergab sich auch für die Heiligenfeste die Herausforderung eines gemeinsamen Kalendariums. Daraus erwuchs der Regionalkalender für das deutsche Sprachgebiet.57 Damit verzichtete man in Österreich auf den Abdruck eines Calendarium Austriacum. Zur Erstellung des Regionalkalenders des deutschen Sprachgebietes wurden nationale Subkommissionen eingerichtet, die sich in ihren regelmäßigen gemeinsamen Treffen einerseits auf die Interpretation der Konzilsaussagen beriefen und andererseits eigene Kriterien zur Erstellung der unterschiedlichen Ebenen der Kalendarien erarbeiteten. Beim Treffen im April 1970, der 4. Kontaktsitzung in Zürich, wurde 49 Zur Bearbeitung und zum Verständnis des Römischen Generalkalenders vgl. Annibale Bugnini, Die Liturgiereform 1948 – 1975. Zeugnis und Testament. Deutsche Ausgabe Johannes Wagner (Hrsg.) unter Mitarbeit von François Raas, Freiburg/Basel/Wien 1988, S. 329 – 358; Johannes Wagner, Mein Weg zur Liturgiereform 1936 – 1986. Erinnerungen, Freiburg/ Basel/Wien 1993, S. 107 – 112. 50 DEL I (Anm. 48), S. 616 – 635. 51 DEL I (Anm. 48), S. 921 – 937; auch Notitiae 6 (1970), S. 349 – 370. 52 DEL I (Anm. 48), S. 1259 – 1262; auch Notitiae 9 (1973), S. 263 – 266. 53 Zu Bedeutung und Inhalt dieser Dokumente siehe Harnoncourt, Gesamtkirchliche und teilkirchliche Liturgie (Anm. 1), S. 118 – 136. 54 Zum Vorgang der Erstellung vgl. José Antonio Goñi Beásoain de Paulorena, La riforma del Calendario Romano Generale: Aspetti storici: ok propri diocesani LA RIFORMA DEL CALENDARIO ROMANO GENERALE-GONI (chiesacattolica.it) [Zugriff: 13. 11. 2022]. 55 Mario Lessi Ariosto SJ, I Calendari Propri secondo l’Istruzione Calendaria Particularia e le successive disposizioni normative, in: Notizie 51 (2015), S. 542 – 601 = Ariosto_calenda ria_notitiae2015 - 2.pdf [Zugriff: 13. 11. 2022]; wertvoll sind die Beiträge im Themenheft in Rivista Liturgica 102/3 (2015): Santi e Beati nei Calendari particolari. 56 Vgl. Ewald Volgger, Zur Approbation der Liturgiebücher im deutschen Sprachgebiet durch den Bischof von Bozen-Brixen und die Anerkennung des Ladinischen als Liturgiesprache in der Diözese Bozen-Brixen, in: Brixner Theologisches Jahrbuch 10 (2019), Beiheft, S. 13 – 62; hier S. 27 – 31. 57 Zu Sinn und Aufgabe, dessen Entstehung und Gestaltung des Regionalkalenders siehe Harnoncourt, Gesamtkirchliche und teilkirchliche Liturgie (Anm. 1), S. 138 – 245.

Der liturgische Eigenkalender als Teil des Partikularrechtes der Diözese Linz

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neben maßgeblichen Kriterien auch beschlossen, den Generalkalender im deutschen Sprachgebiet einzuführen, wozu die Liturgische Kommission für Österreich am 10. Juni 1970 seine Zustimmung gab. Zugleich war auch ein Anhang mit den Eigenmessen aller österreichischen Diözesen ins Auge gefasst worden. Philipp Harnoncourt wurde zum Leiter der Arbeitsgruppe „Kalendarische Teile“ ernannt. In diese Vorgänge hinein erschien nun zur Erleichterung aller die Instruktion Calendaria particularia. Neben den allgemeinen Normen werden die konkreten Bestimmungen zur Gestaltung des Partikularkalenders einer Diözese vorgelegt: 7. In den Eigenkalendern werden die Eigenfeiern angegeben, die von Rechts wegen vorgesehen oder durch Indult gestattet sind. 8. Eigenfeiern einer Region, Nation oder eines größeren Gebietes sind: - das Fest des Hauptpatrons, das aus seelsorglichen Gründen auch als Hochfest gefeiert werden kann; - der Gedenktag des Nebenpatrons; - andere Feiern von Heiligen und Seligen, die im Martyrologium oder dessen Anhang rechtmäßig verzeichnet sind und der Region, Nation oder dem größeren Gebiet besonders nahestehen. 9. Eigenfeiern eines Bistums sind: - das Fest des Hauptpatrons, das aus seelsorglichen Gründen auch als Hochfest gefeiert werden kann; - das Fest des Jahrestages der Weihe der Bischofskirche; - der Gedenktag des Nebenpatrons; - die Feiern von Heiligen und Seligen, die im Martyrologium oder dessen Anhang rechtmäßig verzeichnet sind und die dem Bistum in besonderer Weise verbunden sind, sei es durch Herkunft, längeren Aufenthalt, Tod oder durch eine seit langer Zeit überlieferte und noch bestehende Verehrung. 10. Eigenfeiern eines Ortes oder einer Stadt sind: - das Hochfest des Hauptpatrons; - der Gedenktag des Nebenpatrons. 11. Eigenfeiern einer Kirche sind: - das Hochfest des Jahrestages ihrer Weihe, wenn sie konsekriert ist; - das Hochfest des Titels der Kirche; - der Gedenktag eines Heiligen oder Seligen, der im Martyrologium oder dessen Anhang verzeichnet und in der betreffenden Kirche beigesetzt ist.58

Aus diesen Grundsätzen und den konkretisierenden Überlegungen erstellte die Arbeitsgruppe die Grundregeln für die Revision der Diözesankalender,59 die an die Generalvikare weitergeleitet wurden mit der Bitte, möglichst vor dem Erscheinen 58

DEL I (Anm. 48), S. 924 – 925. Die ausführlichen Regeln finden sich bei Harnoncourt, Gesamtkirchliche und teilkirchliche Liturgie (Anm. 1), S. 176 – 177. 59

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des neuen Messbuches die Festlegung der Diözesankalendarien abzuschließen. Besonders bemerkenswert ist die Grundregel: „Als Rang für die liturgische Feier soll der nicht gebotene Gedenktag die Regel sein.“ In der Zeitschrift Gottesdienst 5. 1971, S. 17 – 24 erschien der inzwischen erarbeitete Entwurf des Regionalkalenders. Die in der Kirchenöffentlichkeit erbetenen Stellungnahmen waren erstaunlich übereinstimmend positiv, sodass dieser am 2. März 1971 von der Fuldaer Bischofskonferenz und am 30. März von der Österreichischen Bischofskonferenz in seiner vorläufigen Form verabschiedetet werden konnte. Zeitgleich trafen sich die Verantwortlichen für die Kalenderfragen in den einzelnen österreichischen Diözesen, um die Festlegung der Diözesankalendarien zu beraten. Dabei wurde geklärt, dass Mariä Namen in allen Diözesen Österreichs als Festum gefeiert werde, Leonhard in allen Kalendarien der Diözesen Österreichs stehe,60 und Albert der Große in allen österreichischen Diözesen auf den 16. November verlegt werden sollte, um die Okkurrenz mit Leopold zu vermeiden, wozu die ÖBK noch am selben Tag ihre Zustimmung gab. Am 24. April 1971 konnte die Endredaktion des Regionalkalenders61 abgeschlossen und die definitive Erstellung der Diözesankalendarien forciert werden. Die Einschreibung der entsprechenden Hochfeste, Feste und Gedenktage erbitten die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen, die Bischöfe der konferenzfreien Bistümer und der Bischof von Bozen-Brixen nach Approbation im eigenen Zuständigkeitsbereich von der römischen Kongregation; durch den gemeinsamen Druck entsteht das Kompositum des Regionalkalenders.62 III. Der Partikularkalender der Diözese Linz 1972 und 1992 Ein Treffen der Diözesanverantwortlichen vom 25. bis 27. Oktober 1971 in Salzburg stimmte anhand einer Synopse alle vorgelegten Diözesankalendarien formal und inhaltlich aufeinander ab und akkordierte die Eingabe nach Rom. Der „Diözesanheiligenkalender der Diözese Linz“, so teilt das Linzer Diözesanblatt mit, wurde „durch einen Kreis von Fachleuten erarbeitet und vom Liturgierat ordnungsgemäß beschlossen. Die Redaktion erfolgte auf der Grundlage von General- und Regionalkalender (RK) und im Einvernehmen mit allen Bistümern des deutschen Sprachgebietes. Der Hochwürdigste Herr Bischof Franziskus Salesius hat gemäß Nr. 4 der genannten Instructio den Eigenkalender der Diözese Linz approbiert und am 6. No60 Leonhard wurde noch im April durch den Vorgang der expensio modorum in den Regionalkalender aufgenommen und für die österreichischen Diözesankalendarien dadurch hinfällig. 61 Der Regionalkalender für das deutsche Sprachgebiet wird in allen liturgischen Büchern mit Kalendarium abgedruckt, z. B. Die Feier der Heiligen Messe. Messbuch. Für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch. Kleinausgabe. Das Messbuch deutsch für alle Tage des Jahres, Freiburg u. a. 1975 (21988; ND 2007), S. 89* – 101 *. 62 In Calendaria particularia, Nr. 13 – 15 ist „Region“ anders verstanden. Hier versteht man unter Region die der Nation untergeordnete Größe, z. B. Bayern als Region von Deutschland.

Der liturgische Eigenkalender als Teil des Partikularrechtes der Diözese Linz

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vember 1971 dem Hl. Stuhl zur Konfirmation vorgelegt. Die Kongregation für den Gottesdienst hat mit Datum vom 15. November 1972 unter Zahl 2069/71 die erbetene Konfirmation erteilt.“63 Dem Eigenkalender von 1972 wird hier jener von 1992 synoptisch beigestellt, um die nachfolgenden Veränderungen besser im Blick zu haben.64 Diözesankalendarium 1972 Datum Rang Bezeichnung

7.1.

g

8.1.

F

15.3.

G

29.4.

H/F

4.5.

H

27.7.

G

9.8. 12.9. 13.9.

G F g

24.9.

g

6.10.

G

12.10.

G

Samstag vor dem 3. Sonntag im Oktober 31.10.

G

15.11.

H

Diözesankalendarium 1992 Datum Rang Bezeichnung 5.1. g Johann Nepomuk Neumann, Bischof 7.1. g Valentin, Bischof von Rätien

Valentin, Bischof von Rhätien Severin, Mönch in Noricum, 8.1. 2. Diözesanpatron Clemens Maria Hofbauer, 15.3. Ordenspriester 19.4. Jahrestag der Weihe des 29.4. Domes zu Linz Florian und die Märtyrer von 4.5. Lorch, 2. Landespatron von Oberösterreich Berthold, Abt von Garsten 27.7. (OÖ.) Altmann, Bischof von Passau 9.8. Maria Namen 12.9. Notburga, Dienstmagd in 13.9. Eben/Tirol Rupert und Virgil, Bischöfe 24.9. von Salzburg, Glaubensboten im Südosten Adalbero, Bischof von 6.10. Würzburg Maximilian vom Pongau 12.10.

Jahrestag der Weihe der Kir- Samstag vor chen, die ihren Jahrestag dem 3. Sonnnicht feiern tag im Oktober Wolfgang, Bischof von Re- 31.10. gensburg Leopold, Markgraf von 15.11. Österreich, 1. Landespatron von Oberösterreich

F G g H/F H

G G F G

Severin, Mönch in Noricum, Zweiter Diözesanpatron Clemens Maria Hofbauer, Ordenspriester Sel. Marcel Callo, Märtyrer Jahrestag der Weihe des Domes zu Linz Florian und die Märtyrer von Lorch, 2. Landespatron von Oberösterreich Berthold, Abt

G

Altmann, Bischof Maria Namen Notburga, Dienstmagd in Eben/Tirol Rupert und Virgil, Bischöfe

G

Adalbero, Bischof

G

Maximilian vom Pongau, Glaubensbote Jahrestag der Weihe der Kirchen, die ihren Jahrestag nicht feiern

G

Wolfgang, Bischof

H

Leopold, Markgraf, Erster Landespatron von Oberösterreich

Mit Dekret vom 8. November 1992 gestattet die Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung (Prot, CD 1123/91), die Feiern des hl. Bischofs Johannes Nepomuk Neumann (5. Jänner) und des sel. Märtyrers Marcel Callo (19. April) in den Eigenkalender der Diözese Linz als nichtgebotene Gedenktage 63 64

LDBl 119 (1973), S. 30. LDBl 139 (1993), S. 4.

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aufzunehmen.65 Hier erscheinen Notburga (13. September) sowie Rupert und Virgil (24. September) im Rang erhöht. Mit demselben Dekret wurden auch die deutschsprachigen Texte des Propriums der Diözese für die Eucharistiefeier und das Stundengebet bestätigt. Die Proprium-Texte für die Eucharistiefeier werden für die österreichischen Diözesen gemeinsam neu aufgelegt, die deutschsprachigen Texte für die Feier des Stundengebetes werden diözesan herausgegeben.66 In der nachkonziliaren Arbeit erfolgten sowohl in der Kongregation als auch in den Diözesen Approbationen bzw. Konfirmationen, die nicht immer den grundsätzlichen Normen entsprechen. Daher hat es immer wieder auch Nachbesserungen bzw. Verdeutlichungen gegeben, wie die Notificatio vom 20. September 199767, vom 29. November 199868 und vom 10. Februar 199969, aber auch vom 25. Dezember 200670 zur Frage der Aufnahme von Heiligen in den Generalkalender. Seit der Approbation des Calendarium proprium 1992 haben sich auch in der Diözese Linz Veränderungen bzw. Ergänzungen des Eigenkalenders ergeben. Die Oberösterreichische Landesregierung beschloss am 17. März 2003: „Der Heilige Florian wird mit Wirkung vom 4. Mai 2004 neben dem Heiligen Leopold zum Landespatron erklärt.“71 Für die Aufnahme von Seligen in die Partikularkalendarien 65

Bischof Maximilian hatte mit Dekret vom 12. Oktober 1991, Zl. 1728/91 das diözesane Proprium für das Stundengebet und die Eigenmessen, Zl. 1727/91 approbiert, „das von der Liturgischen Kommission und anderen Fachleuten zusammengestellt wurde“. Im Schreiben an den Heiligen Vater (12. Oktober 1991, Zl. 1728/91) erbittet er die Aufnahme von Johannes Nepomuk Neumann und Marcel Callo, des seligen Konrad, Abt von Mondsee und der seligen Wilbirg von St. Florian, in den Eigenkalender der Diözese, wobei aufgrund der geltenden Normen die beiden ersteren zugestanden wurden. Dies wird im Schreiben der Kongregation vom 8. November 1992 begründet mit der Tatsache, dass die beiden letzteren nicht in das Verzeichnis der Heiligen oder Seligen durch einen entsprechenden Prozess aufgenommen sind (vgl. c. 1187 CIC/1983). 66 LDBl 139 (1993), S. 4. Approbiert von Bischof Maximilian Aichern am 12. Oktober 1991, Zl. 1728/91, konfirmiert von der Kongregation am 7 November 1992, Prot. CD. 1123/ 91. 67 Congregatio de Cultu Divino et Disciplina Sacramentorum, Notificazione su alcuni aspetti die Calendari e dei Testi liturgici propri, in: Notitiae 33 (1997), S. 284 – 297. 68 Congregatio de Cultu Divino et Disciplina Sacramentorum, Notificazione dedicatione aut benedictione Ecclesiae in honorem alicuius Beati, in: Notitiae 34 (1998), S. 664. 69 Congregatio de Cultu Divino et Disciplina Sacramentorum, De Titulo Ecclesiae, in: Notitiae 35 (1999), S. 158 – 159. 70 Congregatio de Cultu Divino et Disciplina Sacramentorum, Notificazione L’inserimento dei Santi nel Calendario Romano generale, in: Notitiae 42 (2006), S. 618 – 619. 71 Schreiben von Landeshauptmann Thomas Stelzer an Bischof Manfred Scheuer vom 7. Dezember 2020: „Nach der grundsatzgesetzlichen Bestimmung des Bundes § 2 Abs. 4 Z 2 Schulzeitgesetz 1985 ist in jedem Bundesland der Festtag des Landespatrons schulfrei. Für die Schulen in Oberösterreich normieren § 2 Abs. 4 lit. a und § 5 Abs. 4 lit. a Oö. Schulzeitgesetz 1976 den 4. Mai als schulfreien Tag des Unterrichtsjahres. Die Erläuterungen (Beilage 252/ 2004) zur Oö. Schulzeitgesetz-Novelle 2004 führen dazu aus, dass mit der Ernennung des Hl. Florian zum Landespatron der 4. Mai an Stelle des 15. November als schulfreier Tag in das Oö. Schulzeitgesetz aufgenommen werden soll. Diese Änderung des Oö. Schulzeitgesetz 1976 ist mit 1. September 2004 in Kraft getreten.“

Der liturgische Eigenkalender als Teil des Partikularrechtes der Diözese Linz

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greift die Notificatio De cultu beatorum der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung vom 21. Mai 1999.72 Am 26. Oktober 2007 fand im Mariendom in Linz die feierliche Seligsprechung des Märtyrers Franz Jägerstätter statt.73 Mit der öffentlichen Verkündigung der Littera Apostolica vom 23. Oktober 2007 legt Papst Benedikt sein Gedenken auf den 21. Mai fest.74 Die Einschreibung des nichtgebotenen Gedenktages in den Diözesankalender erfolgte per Dekret der Kongregation am 23. September 2008, Nr. 966/08/L. Mit Dekret der Kongregation für den Gottesdienst vom 31. März 2015 wurde die Verlegung des nichtgebotenen Gedenktages von Bischof Altmann auf den 7. August approbiert, da nunmehr im Europäischen Kontinentalkalender am bisherigen Datum, dem 9. August, das Fest der Heiligen Edith Stein als Patronin Europas eingetragen ist.75 Mit Dekret von Bischof Manfred Scheuer vom 2. März 2017 erfolgte die Approbation zur Aufnahme des seligen Priesters und Märtyrers Engelmar Unzeitig in das Calendarium proprium Linciense (2. März), konfirmiert durch die Kongregation mit Dekret vom 4. Mai 2017, Prot. Nr. 216/17, da dieser eine Zeit lang im Gebiet der Diözese Linz gelebt und gewirkt hatte. IV. Die Revision des Eigenkalenders nach den gegenwärtigen Normen Die Liturgiekommission für Österreich beschäftigte sich ausführlich in ihrer 113. Sitzung am 1. Oktober 2019 mit dem Projekt Stundenbuch. Eigenfeiern der Diözesen Österreichs und Bozen-Brixen / Gemeinsames Ergänzungsheft zum Stundenbuch. Eine Arbeitsgruppe mit je einem Fachmann/einer Fachfrau aus den Diözesen mit dem Mandat des Diözesanbischofs sollten die Arbeit in Angriff nehmen.76 Sowohl für die Diözese Linz als auch für die Diözese Bozen-Brixen wurde der Autor dieses Beitrages beauftragt.77 Beim ersten Treffen in Salzburg am 1. Juli 2020 im Österreichischen Liturgischen Institut war vereinbart worden, dass alle 72

Notitiae 35 (1999), S. 444 – 446. Zur Seligsprechung vgl. u. a. die offizielle Dokumentation in NAGDL 12. Beiheft 2008, S. 5 – 68. 74 LDBl 153 (2007), Nr. 7, S. 62. 75 Am 11. Oktober 1998 sprach Papst Johannes Paul II. Edith Stein heilig. 1999 wurde sie zusammen mit Birgitta von Schweden und Katharina von Siena zur Patronin Europas erhoben, damit wird für sie der Fest-Rang geltend. Im Römischen Generalkalender ist am 9. August Edith Stein als nichtgebotener Gedenktag eingetragen. 76 Das Protokoll hält u. a. fest: „Die Liturgiereferent*innen melden binnen zwei Wochen eine kompetente Person an das ÖLI, die die Texte der eigenen Diözese prüft/korrigiert. Das ÖLI schreibt jedem Bischof einen Brief mit der Bitte, die von den Liturgiereferent*innen benannte Person mit der Bearbeitung der diözesaneigenen Texte zu beauftragen. Als Arbeitsgruppe sollen die von den Bischöfen Beauftragten in einer Sitzung die gemeinsame Approbationsvorlage fertigstellen. Jeder Bischof wird für seine Diözese um Konfirmierung der entsprechenden Texte einreichen müssen.“ 77 Schreiben des Bischofs an das Österreichische Liturgische Institut vom 26. November 2019; der Bischof von Bozen-Brixen erstellte das Mandat am 21. November 2019. 73

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Mandatare der Diözesen das Diözesankalendarium sichten, die notwendigen Schritte zur Revision einleiten und die Ergebnisse der Approbation zuführen, damit auf dieser neuen verbindlichen Basis der revidierten kalendarischen Gegebenheiten in den Diözesen die Texte für die Eigenfeiern bearbeitet werden können. Im Auftrag der zuständigen Bischöfe erfolgte die Rücksprache mit der römischen Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, um die derzeit gültigen Normae und Notificationes deutlich genug vor Augen zu haben. Aus den Konsultationen ergaben sich die folgenden Grundsätze für die Revision eines Diözesankalendariums, die ich in 16 Punkten zusammenfasse:78 1.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat in konsequenter Fortführung der Anliegen des Konzils von Trient und den Revisionsbemühungen von Papst Pius X. dem Herrenjahr den Vorzug gegeben.

2.

Die Approbationen der Partikularkalendarien der 1970 bis 1990er Jahre werden den Normen von Calendaria particularia (1970) entsprechend überprüft und gegebenenfalls revidiert.

3.

Vorrang haben der Römische Generalkalender, der Europäische Kontinentalkalender und der Regionalkalender für das deutsche Sprachgebiet in der aktuellen Gestalt, in welche der Eigenkalender ergänzend integriert wird. Alles, was in übergeordneten Kalendarien bereits vorhanden ist und keine Veränderung erfährt (z. B. Rangerhöhung oder weitere Benennung) darf im Eigenkalender nicht nochmals eigens angeführt werden.

4.

Es wird eine den Normen von Calendaria particularia von 1970 entsprechende Reduktion der Rangordnung intendiert.

5.

Der gesunde Proporz der liturgischen Ränge soll berücksichtigt werden. Ausgangspunkt ist der nichtgebotene Gedenktag als Grundform des Heiligengedenkens.

6.

Mobile Daten sollen möglichst auf feststehende gelegt werden.79

7.

Hochfeste, Feste und Gedenktage, die in einem vorrangigen Kalender bereits vorhanden sind, dürfen nicht mehr im Partikularkalender abgebildet werden, es sei denn der Rang ist verschieden oder eine Bezeichnung (Patron, Titel o. ä.) wird hinzugefügt. Auch diese Unterschiede bzw. Veränderungen müssen nach den geltenden Normen konfirmiert werden.

78 Die Konsultationsgespräche führte der Autor dieses Beitrages im Auftrag der Bischöfe von Linz und Bozen-Brixen in der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung am 22. Oktober 2020. 79 Der Weihetag von Kirchen, die den eigenen Weihetag nicht kennen, könnte z. B. vom Samstag der dritten Oktoberwoche auf den 25. Oktober verlegt werden. Wenn das Hochfest aus pastoralen Gründen am Sonntag gefeiert wird, dann kann es – wie bisher – am dritten Sonntag im Oktober gefeiert werden.

Der liturgische Eigenkalender als Teil des Partikularrechtes der Diözese Linz

225

8.

Beim Zusammentreffen von Feiern gelten die Kriterien der Rangordnung der liturgischen Tage;80 gegebenenfalls muss ein neues Datum auf den ersten freien Tag festgelegt und approbiert werden oder man bittet um einen anderen mit dem Heiligen verbundenen sinnvollen Tag.

9.

Wenn ein nichtgebotener Gedenktag im Partikularkalender vorgesehen wird und in einem übergeordneten Kalender ebenfalls ein oder weitere nichtgebotene Gedenktage vorgesehen sind, müssen im Partikularkalender alle Heiligen bzw. Seligen des Tages angeführt werden.

10. Beim Zusammentreffen von Gedenktagen kann in bestimmten Fällen für den Eigenkalender auch die Herabstufung eines gebotenen Gedenktages (G) im Generalkalender auf einen nichtgebotenen Gedenktag (g) ermöglicht werden. Dies wertet einen liturgischen Gedenktag nicht ab, vielmehr wird die Feier ermöglicht. Sollte diese in größerer Feierlichkeit stattfinden, dann kann gemäß GORM 53 auch das Gloria gesungen werden.81 11. Für die Titel der Seligen und Heiligen sind die im Römischen Generalkalender und in den liturgischen Büchern vorgesehenen Titel zu verwenden, um im Umgang mit den Commune-Texten akkordiert zu sein.82 12. Wenn der Bischof um die Einschreibung eines Landes- bzw. Stadtpatrons in den Eigenkalender der Diözese bittet, bedarf es mit den entsprechenden Begründungen auch der ausdrücklichen Zustimmung der zivilen Autoritäten (De patronis constituendis, Nr. 8 a–c).83 13. Das Dikasterium unterstreicht, dass ein Kalendarium eine bereits konsolidierte und im Volk verankerte Verehrung von Heiligen und Seligen widerspiegeln soll; es dient nicht zur Förderung einer Verehrung, die in Gang gesetzt werden möchte. Auch wenn lediglich historische oder ideelle Bezüge aber keine wirkliche Verehrung gegeben sind, wird eine memoria nicht bestätigt. 14. Schließlich soll auch noch hingewiesen werden auf den Kalender jeder einzelnen Kirche (Pfarrkirche u. ä.), an der unter Beachtung der Normen ein eigenes Kalendarium greift. Ein solches festzulegen, ist Sache des Diözesanbischofs. 15. Sollte es in einer Diözese bzw. Ordensgemeinschaft eine Vielzahl an Heiligen und Seligen geben, soll eine gesonderte Feier nur für jene vorgesehen werden, 80 Verzeichnis der liturgischen Tage nach ihrer Rangordnung, vgl. DEL I (Anm. 48), S. 631 – 635. 81 Diese Formulierung ist neu in der Grundordnung des Römischen Messbuchs. Vorabpublikation zum Deutschen Messbuch (3. Auflage), Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), rekognisziert von der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Bonn 2007 ergänzt, in AEM 31 (1970/1975) war dies noch nicht ausdrücklich vorgesehen. 82 Hier revidiert das Dikasterium eine in Calendaria particularia Nr. 27 vorgesehene Praxis. 83 Vgl. DEL I (Anm. 48), S. 1260 – 1261.

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Ewald Volgger OT

die eine besondere Bedeutung haben; andere Heilige und Selige sollen nur dort gefeiert werden, wo sie beigesetzt sind oder wo es eine engere Beziehung gibt. So es angemessen ist, können in die Eigenkalender gemeinsame Feiern von Heiligen und Seligen oder bestimmter Gruppen (z. B. Märtyrer, Bischöfe usw.) eingefügt werden (Calendaria particularia, Nr. 17), die in einer liturgischen Feier sonst nicht berücksichtigt sind.84 16. Das Dikasterium erwartet in der Drucklegung die Wiedergabe der Kalendarien gemäß der Schriftform des Calendarium Romanum. Damit wird die Einheit des Römischen Ritus in allen volkssprachlichen Ausgaben des Missale Romanum gewahrt, wie dies in Traditiones custodes gewünscht wird. Nach den entsprechenden Vorarbeiten durch den Mandatar befasste sich die Liturgiekommission für die Diözese in Anwesenheit des Bischofs am 8. Oktober 2020 mit den anstehenden Veränderungen und weiteren Wünschen der Kommission. Zu diesen zählte insbesondere die Ergänzung „Landespatron von Oberösterreich“ zum Hochfest des Hauptpatrons der Diözese, dem hl. Florian und die anderen Märtyrer von Lorch am 4. Mai. Am 7. Dezember 2020 erklärt Landeshauptmann Dr. Thomas Stelzer gegenüber Bischof Manfred Scheuer, dass gemäß De patronis constituendis, Nr. 8 der Wunsch der zivilen Autorität abgeleitet werden kann, den Heiligen Florian als „Landespatron von Oberösterreich“ im Kalendarium der Diözese Linz auszuweisen.85 Die Aufnahme in das Kalendarium als Landespatron stellt einen eigenen kirchenamtlichen Akt dar und wurde daher auch gesondert vorgenommen.86 Mit Datum vom 3. März 2021, Zl. 229/2021 approbiert Bischof Manfred Scheuer das revidierte Kalendarium proprium und erbittet die Konfirmation der Kongregation, welche am 3. Mai 2021, Prot. N. 160/21 samt Anhang antwortet und den Bischof zu einigen Beobachtungen um Stellungnahme bittet. Die Kongregation schlägt nun vor, gemäß Calendaria particularia, Nr. 9 die Begriffe Hauptpatron und Nebenpatron zu verwenden. Für die Feiern am 15. März, 27. Juli, 7. August, 12. Oktober und 15. November erkennt die Kongregation gemäß Calendaria particularia, Nr. 20 „keine andauernde Begründung“, diese weiterhin als gebotene Gedenktage vorzusehen, mit den jeweiligen kalendarischen Konsequenzen als nichtgebotener Gedenktag. Nach Beratung mit dem Mandatar stimmt der Bischof den Vorschlägen der Kongregation, welche die oben aufgezeigten Grundsätze konsequent umsetzen, mit einer Ausnahme zu. Aufgrund der besonderen spirituellen und pastoralen Bedeutung des Nebenpatrons der Diözese, des hl. Severin, der als altkirchlicher Heiliger neben dem altkirchlichen Märtyrer Florian und den anderen Märtyrern von Lorch die Identität der Diözese prägt, spricht sich der Bischof in seiner ausführlichen Stellungnahme gegenüber der Kongregation ausdrücklich auch im Namen der Gläu84

Vgl. DEL I (Anm. 48), S. 927 – 928. Schreiben vom 7. Dezember 2020, Präs. 2020 – 680512/2-KW. 86 Mit Schreiben vom 3. März 2021, Zl. 229/2021 geht die Bitte von Bischof Manfred Scheuer an die Kongregation, der die Erklärung des Landeshauptmanns und der Landesregierung beigelegt ist. 85

Der liturgische Eigenkalender als Teil des Partikularrechtes der Diözese Linz

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bigen und der Priester für die Beibehaltung des Fest-Ranges aus. Die Kongregation hatte den Rang eines gebotenen Gedenktages vorgeschlagen. Der Bischof merkt an: „Die Diözese Linz hat sich das Vorbild dieses altkirchlichen Heiligen zum Vorbild gemacht und hält es lebendig. Mit dem hl. Florian von Lorch und dem hl. Severin kann die Diözese auf zwei in der Alten Kirche prägende Gestalten des Glaubens blicken. Ich erkenne darin einen besonderen Wert, weil damit auch die lange Tradition des christlichen Glaubens in unserer Heimat und das Bemühen um das Leben aus dem Geist Jesu Christi deutlich werden und vom Charisma der ersten Christen und Christinnen unserer Heimat bewegt wird.“87 Die Kongregation anerkannte nach Prüfung der Argumente dieses Anliegen und gewährt „die Ausnahme von der geltenden Bestimmung in der Instruktion Calendaria particularia, vom 24. Juni 1970, Nr. 9. Somit ist auch zukünftig die Feier zu Ehren des Nebenpatrons im Eigenkalender der Diözese im Rang eines Festes eingeschrieben.“88 Das Dikasterium weist weiter darauf hin, dass der nunmehr vorliegende und in Geltung gesetzte Eigenkalender dem Römischen Generalkalender angepasst worden ist und approbiert denselben unter Beifügung des entsprechenden Dekretes und des Kalendariums mit Datum vom 14. Juli 2022, Prot. N. 160/21. Das Linzer Diözesanblatt veröffentlicht den Eigenkalender der Diözese Linz im September,89 den das Direktorium für 2023 bereits berücksichtigt.90 EIGENKALENDER DER DIÖZESE LINZ Non VI

5 8

VI

2

XIII

19

III

29

87

Januar Hl. Johannes Nepomuk Neumann, Bischof91 Hl. Severin, Mçnch, Nebenpatron der Diçzese M-rz Sel. Engelmar Unzeitig, Priester und Märtyrer April Hl. Leo IX., Papst92 Sel. Marcel Callo, Märtyrer Jahrestag der Weihe der Kathedrale in der Kathedrale:

Fest

Fest Hochfest

Schreiben des Bischofs vom 15. November 2021, Zl. 160/2021. Schreiben des Präfekten des Dikasteriums für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Kardinal Arthur Roche, vom 14. Juli 2022, Prot. N. 160/21. 89 LDBl. 168/5, 2022, S. 70, Nr. 44. 90 Liturgischer Kalender 2023. Direktorium Diözese Linz, Bischöflichen Ordinariat Linz (Hrsg.), red. V. Florian Wegscheider, Linz 2022. 91 Wenn kein Rang angegeben ist, handelt es sich um einen nichtgebotenen Gedenktag. 92 Den neuen Richtlinien entsprechend müssen im Eigenkalender alle liturgischen Angaben angeführt werden, weil der nichtgebotene Gedenktag (g) beide (alle) Feiern ermöglicht. Selbiges gilt für den 1. Mai, 21. Mai, 7. August und 5. Oktober. 88

228 Prid.

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Hl. Katharina von Siena, Ordensfrau und Kirchenlehrerin Patronin Europas93 Mai Cal. 1 Hl. Josef der Arbeiter Hl. Pius V., Papst IV 4 HLL. FLORIAN UND DIE MÄRTYRER VON LORCH DIÖZESANPATRONE LANDESPATRONE VON OBERÖSTERREICH XII 21 Hl. Hermann Josef, Priester Hll. Christophorus Magallanes, Priester, und Gefährten, Märtyrer Sel. Franz Jägerstätter, Familienvater und Märtyrer Juli VI 27 Hl. Berthold, Abt August VII 7 Hll. Xystus II., Papst, und Gefährten, Märtyrer Hl. Kajetan, Priester Hl. Altmann, Bischof September III 11 Hl. Notburga, Jungfrau Prid. 12 Der allerheiligste Namen Mariens Oktober III 5 Hl. Bruno, Priester94 Hl. Faustina Kowalska, Jungfrau Prid. 6 Hl. Adalbero, Bischof IV 12 Hl. Maximilian von Pongau, Bischof und Märtyrer In jenen Kirchen, deren Weihetag nicht bekannt ist: VIII 25 JAHRESTAG DER KIRCHWEIHE

Fest

Hochfest

Fest

Gedenktag

Hochfest

Mit der Festlegung des Eigenkalenders sind die Voraussetzungen gegeben, das Proprium für die Messe und das Stundengebt gemäß den entsprechenden Normen zu revidieren.95 Ergänzungen von Heiligen bzw. von Seligen zum nunmehr festgelegten Eigenkalender erfolgen durch die formelle Beantragung durch den Diözesanbi-

93 Katharina scheint im Eigenkalender der Diözese auf, weil am 29. April der Weihetag der Kathedralkirche gefeiert und das Fest der Heiligen verlegt wird. Dies wird hier approbiert und konfirmiert. 94 Da am 6. Oktober der G des hl. Adalbero gefeiert wird, wird Bruno auf den 5. Oktober verlegt, an dem zugleich der g der hl. Faustina vorgesehen ist. 95 Die liturgische Ausgabe kann eine gemeinsame auf der Ebene der Österreichischen Bischofskonferenz sein. Dazu legen sich folgende Schritte nahe. Zunächst sollen die Verantwortlichen vereinbaren, welche Hochfeste, Feste und Gedenktage allen gemeinsam sind. Dann werden diese Daten in die Eigenkalender eingefügt und der eigene Kalender erstellt gemäß den Normen und der pastoralen Situation. Anschließend erfolgt die Approbation des Bischofs und die Konfirmation durch das Dikasterium. In Folge kann die gemeinsame Publikation erstellt werden; dies ist beispielshaft geschehen mit Ergänzungsheft zum Messbuch. Eine Handreichung, herausgegeben von den Liturgischen Instituten Deutschlands, Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz, Trier 2010.

Der liturgische Eigenkalender als Teil des Partikularrechtes der Diözese Linz

229

schof gemeinsam mit den liturgischen Texten, allerdings erst nach erfolgter Seligbzw. Heiligsprechung.96 V. Eigenkalender für Österreich Im Schreiben der Kongregation vom 3. Mai 2022 an den Bischof zur Festlegung des Eigenkalenders der Diözese wird vom Eigenkalender für Österreich (Nationalkalender)97 gesprochen. In diesen ist am 15. März der nichtgebotene Gedenktag des hl. Clemens Maria Hofbauer eingetragen, der nichtgebotene Gedenktag des hl. Leopold am 15. November ist im Regionalkalender eingetragen, sie werden daher nicht mehr im Diözesankalender von Linz geführt. Dadurch werden auch frühere Regelungen für die Feier des hl. Albert des Großen hinfällig, der als nichtgebotener Gedenktag am 15. November im Regionalkalender verzeichnet ist. In der Sitzung vom 11.–13. Juni 2018 beschloss die ÖBK, den gebotenen Gedenktag Mutter der Kirche im Römischen Generalkalender am Montag nach Pfingsten als nichtgebotenen Gedenktag festzulegen, da in Österreich der Pfingstmontag auch ein öffentlicher gesetzlicher Feiertag ist und der Pfingstcharakter hochgehalten wird. Mit der Rangminderung wird die Messe und das Offizium vom Pfingstmontag ermöglicht.98 Der nichtgebotene Gedenktag am 26. Juni für die Feier des hl. Josefmaria Escrivá de Belaguer, Priester, war zunächst in den Eigenkalender für Österreich aufgenommen worden; durch die Aufnahme in den Regionalkalender für das deutsche Sprachgebiet braucht er hier nicht mehr abgebildet zu werden. Da Priester und Gläubige sowohl an die Bischöfe als auch an die Bischofskonferenz immer wieder das Anliegen herantragen, die neuen Seligen im Bereich der österreichischen Diözesen mögen doch in die Calendaria propria aufgenommen werden, beschloss die Bischofskonferenz am 10. November 2011, dass die Gedenktage der Seligen Carl Lambert (13. November) und Hildegard Burjan (12. Juni) nunc pro tunc in die Direktorien der österreichischen Diözesen aufgenommen werden sollten.99

96

Sinn und Aufgabe dieser Texte mit deren Eigenheiten werden hier nicht besprochen. Neben dem Regionalkalender drängt die Kongregation schon seit geraumer Zeit auf die Festlegung eines eigenen Nationalkalenders für Österreich, der dem Bereich der Bischofskonferenz entspricht. 98 Eine Konfirmation vonseiten der Kongregation konnte der Verfasser dazu nicht finden. 99 Im Amtsblatt der österreichischen Bischofskonferenz wurde dieser Beschluss nicht veröffentlicht, wohl aber in einem Schreiben vom 23. Februar 2012 dem Leiter des Österreichischen Liturgischen Instituts in Salzburg mitgeteilt, der als Leiter der österreichischen Arbeitsgruppe der Direktoristen den Beschluss zur Kenntnis nehmen und ausführen sollte. Dieser AG gehört auch der Autor dieses Beitrages seit 1983 an. 97

230

Ewald Volgger OT

VI. Theologische und spirituelle Bedeutung eines diözesanen Eigenkalenders Abschließend kann nur noch kurz auf die theologisch-ekklesiale, spirituelle und identitätsbildende Bedeutung des Eigenkalenders eingegangen werden. Dies zu entfalten wäre Aufgabe weiterer Beiträge. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Bedeutung der Ortskirche als Konkretisierung und Verwirklichung der universalen Kirche unterstrichen. Ausgehend von der Konstitution über die heilige Liturgie unterstreicht die Konstitution Lumen gentium Nr. 39 – 42 und das Kapitel VII den Charakter der Kirche als Gemeinschaft der Geheiligten in Christus und als pilgernde Gemeinschaft auf dem Weg zur himmlischen Kirche. Jede Ortskirche formt ihre Seligen und Heiligen und wird zugleich von ihnen geprägt. Dies ergibt Aspekte einer diözesanen Spiritualität. Die einzelnen Biographien sind ein Vor- und Leitbild, wie Christus im Heiligen Geist Menschen führt und leitet. Wer das Geschenk der Gnade zum Martyrium oder zur überzeugenden Lebensweise (Bekenner:innen) mit, in und durch Christus erfährt, wird zum Geschenk für die Ortskirche und durch diese zugleich für die Universalkirche,100 für Politik und Gesellschaft,101 für alle Menschen guten Willens. Die Liturgie der Kirche feiert die Gemeinschaft mit den Heiligen und Seligen, erfleht ihr Gebet vor Gottes Angesicht und motiviert die Gläubigen, deren Zeugnis als Impuls für die eigene Lebensgestaltung in Christus zu verstehen. Die Analyse der liturgischen Formulare der Eigenfeiern (Proprium für Messe und Stundengebet) bringt die theologischen und spirituellen Akzente und Impulse auf den Punkt, wie dies beispielhaft durch den Autor am Messformular für den hl. Florian aufgezeigt wurde.102 Die historische Bedeutung der Heiligen im Diözesankalender von 1972 hat Rudolf Zinnhobler anlässlich des 200-Jahr-Jubiläums der Diözese und der Landesausstellung 1985 auf dem Hintergrund seines gegenwärtigen Forschungsstandes kurz und prägnant zusammengefasst.103 Inzwischen sind einige Selige hinzugekom100 In beeindruckender Weise ist dies zuletzt deutlich geworden, wenn Papst Franziskus in seiner Botschaft vom 6. Juli 2022 an die Teilnehmer der Europäischen Jugend-Konferenz in Prag einlädt, die „außergewöhnliche Persönlichkeit“, den „jungen Kriegsdienstverweigerer“ Franz Jägerstätter kennenzulernen, der so wie der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer von den Nationalsozialisten inhaftiert und getötet wurde. „Hätten alle zu den Waffen gerufenen jungen Männer so gehandelt wie er, hätte Hitler seine teuflischen Pläne nicht verwirklichen können“, meint der Papst. Botschaft von Papst Franziskus an die Teilnehmer der EUJugendkonferenz [Prag, 11.–13. Juli 2022] (6. Juli 2022) j Franziskus (vatican.va). 101 Wenn z. B. ein Bundespräsident zur gesellschaftlichen und politischen Bedeutung von Franz Jägerstätter Stellung nimmt, kann durchaus von der öffentlichen Wirksamkeit des Seligen gesprochen werden. 102 Ewald Volgger, Das Gedenken Florians und die Identität der Ortskirche. Ein Beitrag aus der Liturgie, in: ThPQ 153 (2005), S. 184 – 196. Der Beitrag geht zurück auf die Antrittsvorlesung des Autors an der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz. 103 Rudolf Zinnhobler, Schutzpatrone und Heilige Oberösterreichs (Anm. 33), S. 33 – 49 (weitere Publikationen zu den Diözesanheiligen vgl. Rudolf Zinnhobler/Peter Pfarl, Der heilige Wolfgang. Leben, Legende, Kult, Linz: Oberösterr. Landesverl., 1975; Rudolf Zinnhobler, Von Florian bis Jägerstätter: Glaubenszeugen in Oberösterreich. Mit zwei Beiträgen von

Der liturgische Eigenkalender als Teil des Partikularrechtes der Diözese Linz

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men, deren Wirkung sich derzeit entfaltet. Bischof Manfred hat (neben anderen) in vielen Beiträgen die Bedeutung von Franz Jägerstätter aufgezeigt und zugleich deutlich gemacht, was Nachfolge nach seinem Vorbild bedeutet.104 Die Bedeutung des hl. Severin als Nebenpatron der Diözese wurde unlängst in einer Schrift zusammengefasst.105 Der selige Engelmar Unzeitig wird als Märtyrer der Nächstenliebe vorgestellt.106 Was hier beispielhaft angesprochen ist, wird in vielen weiteren Beiträgen entfaltet.107 Insbesondere für die mittelalterlichen Heiligen bedarf es einer Vergegenwärtigung ihres Glaubenszeugnisses, damit ihr Leben und Wirken in Christus nicht nur historische Erinnerung, sondern auch wirklicher Impuls für das Leben der Ortskirche ist.

Monika Würthinger, Linz 2004; Der Heilige Florian. Tradition und Botschaft, herausgegeben von Johannes Ebner und Monika Würthinger, 2004 (= NAGDL 16.2003); Katalog zu den Ausstellungen Enns – Lorch – St. Florian, herausgegeben vom Land Oberösterreich, Linz 2004; Reinhardt Harreither/Karl Rehberger/Stefan Schlager, Florian. Christ und Märtyrer, herausgegeben vom Pastoralamt der Diözese Linz, Linz 2004). 104 Mit dem Buch, das zur Seligsprechung erschienen ist, zeigt der Bischof, wie die Kraft des Wortes Gottes den Seligen geprägt hat und durch ihn die Gläubigen formen kann: Manfred Scheuer, Selig die keine Gewalt anwenden. Das Zeugnis des Franz Jägerstätter. Mit Beiträgen von Jozéf Niewiadomski, Wolfgang Palaver und Roman A. Siebenrock, Innsbruck/Wien 2007. Für weitere seliggesprochene Märtyrer der NS-Zeit ist u. a. bedeutsam Manfred Scheuer, Kraft zum Widerstand. Glaubenszeugen im Nationalsozialismus, Innsbruck/Wien 2017. 105 Severin von Noricum. Christ und Helfer, Linz 2018 (Mit Beiträgen von Reinhard Harreither, Severin Lederhilger, Severin Renoldner, Stefan Schlager, Ines Weber). 106 Adalbert Ludwig Balling/Reinhard Abeln, Speichen im Rad der Zeit – Pater Engelmar Unzeitig und der Priesterblock im KZ Dachau. Herder, Freiburg 21985; Adalbert Ludwig Balling, Eine Spur der Liebe hinterlassen. Pater Engelmar (Hubert) Unzeitig, Mariannhiller Missionar „Märtyrer der Nächstenliebe“ im KZ Dachau, Würzburg 1984; Rudolf Zinnhobler, Wider den Strom der Zeit. P. Engelmar Unzeitig – ein Opfer des Nationalsozialismus, in: NAGDL 8 (1993/94), S. 204 – 207. 107 Die Fülle an Literatur insbesondere zu Franz Jägerstätter kann hier nicht angeführt werden. Ich verweise auf die einschlägige Literatur und auf das Internet.

III. Ordensrecht

Norbertine Identity1 Thomas Handgrätinger OPraem I. Captatio Seit vielen Jahren bin ich dem Jubilar DDr. Severin Lederhilger, dem Chorherrn des Stiftes Schlägl, eng verbunden. Als Generalabt habe ich gerne auf seine fachliche Kompetenz als Kirchenrechtler zurückgegriffen und in manchen, durchaus komplizierten ordensrechtlichen Fragen von ihm immens profitiert. Eine engere Zusammenarbeit ergab sich, als Herr Severin Lederhilger in das Definitorium, in den Generalabtsrat gewählt wurde. In diesen sechs Jahren (2000 – 2006) hat er die Leitung des Gesamtordens verantwortungsvoll und weitblickend mitgetragen und sich durch sein großes Fachwissen als „doctor iuris utriusque“ profiliert. Er hatte durch mehrere Reisen ausgezeichnete Verbindungen und Beziehungen zu Mitbrüdern in den USA, Indien, England und Irland, er war immer wieder bereit, auch Visitationen in verschiedenen Kanonien weltweit zu übernehmen. Seit Jahren leitet er die „Juridische Kommission“ des Ordens, die gerade in der Vorbereitung und Durchführung der Generalkapitel besonders gefragt und gefordert ist. Bei der Überarbeitung der Konstitutionen, die beim Generalkapitel 2018 in Rolduc, Südlimburg, NL, glücklich abgeschlossen werden konnte, war er federführend mitbeteiligt. Die inhaltlich stimmige Abgleichung der Texte in Latein, Englisch und Deutsch waren ihm dabei ein besonderes Anliegen. Seine Fachbeiträge zu ordensrechtlichen und -theologischen Fragen werden sicher an anderer Stelle kompetent gewürdigt. II. Annäherungen Der Orden der Prämonstratenser feierte im Jahr 2021 sein 900-jähriges Bestehen. Am Weihnachtstag 1121 hatte der hl. Norbert zusammen mit seinen Gefährten in Prémontré seine Professurkunde auf dem Altar unterzeichnet. Das gilt als die Geburtsstunde unseres Ordens. „Nativitas Domini – Nativitas Ordinis“2. Dieses Jubiläumsjahr bot trotz Pandemiebeschränkungen viele Gelegenheiten, über die Geschichte des 1 Unter diesem Titel „Norbertine Identity – Forward to 900 year Jubilee of the Norbertine Order“ wurden 2017 alle Artikel, die dazu von P. Thomas Handgrätinger in Communicator zwischen 2006 – 2017 in Englisch veröffentlicht worden waren, in einer Broschüre zusammengefasst. Vgl. auch Fr. Thomas Handgrätinger, OPraem. Norbertine Identity. in: Communicator, Vol. XXXVIII, Number 3, November 2022, Cum. Issue 76, S. 6 – 18. 2 „Nativitas Domini – Nativitas Ordinis 1120“ – Inschrift auf der Decke der Pfarr- und Klosterkirche St. Marien zu Windberg.

236

Thomas Handgrätinger OPraem

Ordens, seine Stellung in der Ordenslandschaft, seine Bedeutung und seinen Platz in der Kirche nachzudenken. Herausragende Ausstellungen in Magdeburg, Paderborn, Jerichow, Park, B, Teplá und Louka, CZ, Budapest und Csorna, H, mit aufwendigen Festschriften und Katalogen können das belegen. Was ist das Geheimnis des Prämonstratenser-Ordens, dieses größten Regular-Kanonikerordens, was ist seine Identität und sein Spezifikum? Es ist zudem bemerkenswert, dass die Frage nach der Identität sich in neuerer Zeit an vielen Stellen erhebt, innerhalb und außerhalb des Ordens. 1. Bei der Audienz der Teilnehmer des 164. Generalkapitels der Theatiner sprach Papst Franziskus von den drei Säulen ihrer Ordensspiritualität „Identität – Gemeinschaft – Mission“. Die „Identität“ machte er am Gründer fest, dem hl. Kajetan von Thiene (1480 – 1547), der seinen Beitrag zur Reform der Kirche leisten wollte und dabei bei sich selbst begann. „Bei sich selbst anfangen, das Evangelium tiefer und kohärenter zu leben. Sie sind die wahren Reformer der Kirche. Oder besser gesagt: Es ist der Heilige Geist, der die Kirche formt und reformiert, und das tut er durch das Wort Gottes und durch die Heiligen, die das Wort in ihrem Leben in die Praxis umsetzen. Immer bei sich selbst beginnen“3. Diese identitätsstiftende Zuschreibung könnte auch vom hl. Norbert gesagt sein. 2. Beim „Internationalen Treffen der Prämonstratenserinnen“ 2015 in der Abtei Windberg lautete das Thema „Gottgeweihtes Leben – Identität und Charisma“. Das Spezifikum der Regular-Kanonissen liege in ihrer starken Prägung durch das Gemeinschaftsmodell, wie es in der Augustinusregel begegnet, dann in der reformorientierten, pastoralen Ausrichtung im Geist des hl. Norbert. „Inspiriert vom hl. Norbert und geleitet durch die Regel des hl. Augustinus, hat sich ein faszinierendes Modell entwickelt, Kirche auch in unserer Zeit zu verwirklichen, mit dem Lebensstil von Gemeinschaft und gemeinsamen Zusammenleben, mit starkem Einsatz für pastorale Aufgaben auf verschiedenen Wegen und Ebenen, … in der Verbindung von feierlicher Liturgie und engagierter Pastoralarbeit, getragen und unterstützt von und aus der Gemeinschaft“, so der Versuch, in sieben Thesen Charisma und Identität der Prämonstratenserinnen zu beschreiben.4

3

Ansprache von Papst Franziskus am 15. Januar 2022: „Identität, Gemeinschaft, Mission. Audienz für die Teilnehmer am Generalkapitel der Theatiner“, in: L’Osservatore Romano (dt.), 28. Januar 2022, Nr. 4, S. 11. 4 Symposium „Vita consacrata – consecrated life. Norbertine Sisters July 2015 in Windberg. u. a. Thomas Handgrätinger, Identität und Charisma der Prämonstratenserinnen. in: Communicantes 29 (2016), S. 99 – 120, hier S. 117 – 118.

Norbertine Identity

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3. In seiner Predigt im Jubiläumsjahr „900 Jahre Prémontré“5, am 27. November 2021, sprach Prior John Zagarella OPRAEM von Daylesford Abbey, WI, USA, von der „unbroken religious observance, eventually made real in Abbeys around the globe here and now … our Norbertine Tradition“. Und er machte das fest in den vier Begriffen „communio, hospitality, reconciliation and the Apocalypse“, um am Ende die Spiritualität des Ordens unter den drei Säulen „communio – hospitality – peace and concord“ zu subsumieren.6 Das auf dem nachkonziliären Reformkapitel 1968/70 des Prämonstratenserordens in Wilten, Innsbruck, kreierte Leitmotto „Communio“ deutete er so: „Norbertine communio stood and stands to be today, transformative and would be characterized by calling nothing your own, holding all things in common, even one’s hearts and minds on the way to God.“ 4. Die „Forschungsstelle für vergleichende Ordensgeschichte“ (FOVOG) in Dresden möchte in einem wissenschaftlichen Forschungsprojekt „die institutionellen Kontinuitäten und Wandlungen analysieren, auf denen die heutige Gegenwart eines Klosters im Vergleich zu den mittelalterlichen Anfängen des betreffenden Ordens aufruht“, so formulierte Prof. em. Gerd Melville die Grundidee. Was ist von den Axiomen der Anfänge heute geblieben, was ist verschwunden und was ist vor allem neu hinzugekommen? Wie definiert man sich als Prämonstratenser heute, was ist prämonstratensische Identität heute und in welchen Symbolen, proposita, Funktionen und Selbst- wie Außendefinitionen zeigt sie sich? Geplant sind Interviews mit Mitbrüdern zu den drei Bereichen Identität – Struktur – Person. 5. Diesem Projekt geht eine Dissertation von Katrin Rösler7 voraus, die sich sehr intensiv mit den Anfängen des Prämonstratenserordens befasst hat. In ihrem Buch geht es darum, die Anfänge der Identitätsbildung des frühen Ordens in Prémontré und Magdeburg mit all den Komplikationen und Ansätzen zu untersuchen. „Beide Nachfolgegemeinschaften Norberts besaßen demnach ein starkes Interesse an der Ausbil5

Das Jubiläumsjahr „900 Jahre Prémontré“ dauerte vom 27. 11. 2020 – 9. 1. 2022. „A spirituality of peace and concord is one that is much like kingdom of God. It is a spirituality that we hope to make visible, but one that will continue to challenge us to grow into more deeply, as this is a spirituality that is inexhaustible but core to who we are as Norbertines … In short, core to anyone who identifies as part of the Norbertine tradition.“ in: Communicator, Special Pictorial Commemorative Issue of the Celebration of our 900th Jubilee Year November 2020 – February 2022. March 2022, S. 2 – 5. 7 Katrin Rösler, Einheit ohne Gleichheit. Aspekte der Konstruktion prämonstratensischer Identität im 12. und 13. Jahrhundert. Vita Regularis. Ordnungen und Deutungen religiösen Lebens im Mittelalter. Bd. 66. Berlin 2020. 6

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dung einer den regionalen und partikularen Interessen übergeordneten, kollektiven Identität, über deren spezifische Ausprägung indes vehement miteinander gestritten worden ist. Die im 13. Jahrhundert getroffenen Kompromissregelungen bezeugen jedoch eindrucksvoll das auch in dieser Zeit unverminderte beiderseitige Bestreben nach Einheit“.8 Dabei geht sie vom Konzept der „kollektiven Identität“ aus, „welches diese als bewusst gewordene und bei den Mitgliedern bewusst gehaltene Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft definiert“. Sie zitiert dabei Assman: „Eine kollektive Identität ist […] reflexiv gewordene gesellschaftliche Zugehörigkeit.“ „Unter einer kollektiven oder Wir-Identität verstehen wir das Bild, das eine Gemeinschaft von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. Es gibt sie nicht ,an sich‘, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen. Sie ist so stark oder so schwach, wie sie im Bewusstsein der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Denken und Handeln zu motivieren vermag.“9

Alles, was das Profil einer Gruppe oder Institution ausmacht, die Wesenselemente10, wie sie oft in Hochglanzprospekten oder Flyer zur Darstellung kommen, wie sich eine Institution selbst darstellt und definiert, was sie auf „ihre Fahne schreibt“ oder heute auf Instagram oder Tik-Tok postet, ist hier mitgemeint. „Wer sind wir? Was wollen wir? Was ist unser Auftrag, unsere Markenzeichen, oft auch unser Alleinstellungsmerkmal anderen gegenüber, in unserem Fall anderen Orden und Kongregationen gegenüber? Bei den Regularkanonikern beginnt das oft mit der Feststellung, was wir nicht sind: Wir sind keine Mönche. Wir sind keine Kongregation. Wir sind ein Chorherrnorden, gegründet vom hl. Norbert, der in der Zeit der „Gregorianischen Reform“ eine Reform des Klerus und eine Vertiefung des geistlichen Lebens anstrebte. Ziel war die Erneuerung der Kirche nach dem Vorbild der Urkirche, eine Rückkehr zur apostolischen Lebensweise („vita apostolica“), wie sie idealtypisch in der Apostelgeschichte zu finden ist11, eine Rückbesinnung auf das urkirchliche Ideal der geschwisterlichen Liebe. „Vor allem anderen, geliebte Brüder, soll Gott geliebt werden und von ihm her der Nächste.“12

8

Rösler, S. 282. Rösler, S. 281. Sie zitiert dabei Jan Assman, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2007, S. 132 und 134. 10 Das Päpstliche Jahrbuch, der Annuario Pontificio, spricht von „scopo“ (Ziel, Zweck, Aufgabe; lat. scopus, das Ziel) der jeweiligen Orden. Bei den „Canonici Regolari Premostratensi“ sind dies: liturgico solenne, apostolato liturgico; ministro parrocchiale; educazione delle gioventù; missioni. Ann. Pontif., Città del Vaticano. 2011, S. 1419. Vgl. u. a. Abdij Averbode. Leven in een traditie met een roeping in de sameleving. Averbode 2021. 106 S., Jubiläumsschrift „900 Jahre Prémontré“: Uitgave over hun leven, werken en spiritualiteit. 11 Vgl. Thomas Söding, Die Urgemeinde. Theologische Erinnerungen und historische Erwartungen. Neutestamentliche Vorlesungen an der kath. Fakultät der Ruhr-Universität Bochum (SS 2020). Manuskript. 12 Beginn der Regel des hl. Augustinus. Aus dem Ordo Monasterii, der Regel vorangestellt. 9

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III. Grundelemente Ein Nachdenken über die Identität des Prämonstratenserordens kommt an dem Diktum von Francisco Suárez, SJ (1548 – 1617), nicht vorbei, der in seinen „Opera Omnia“ über unseren Orden geschrieben hat: „In reliquis nihil habet speciale haec religio.“13 Der Orden habe keine eigene Prägung oder Identität; er kommt von den kontemplativen Orden her und benennt sich nach den Regularkanonikern. Im Übrigen passt er sich jeweils den Gegebenheiten der jeweiligen Region an, was er u. a. auch an der oft differierenden Habitfrage festmacht. Suárez betrachtet den Orden aus spanischer Warte, wo es schon früh zu Autonomiebestrebungen kam, die dann letztendlich zur Trennung vom Gesamtorden führten.14 Mit diesem provokativen Satz des Jesuiten Suarez war im Orden gleichwohl die „Suche nach der Identität des Ordens“ herausgefordert.15 Der Oberzeller Chorherr Friedrich Herlet beschreibt die beiden Hauptziele des Ordens so: - die reine, unbefleckte und andächtige Verehrung Gottes in den Kirchen bzw. im Chor; - die angemessene und pflichtbewusste Verwaltung von (ländlichen) Pfarreien und die Beförderung des Seelenheiles der bäuerlichen und ungebildeten Menschen.16 Dem könnte sicher ein inzwischen verstorbener Mitbruder zustimmen, dass wir Prämonstratenser doch nur ein „Verein frommer Weltpriester“ seien. Die beiden Elemente gemeinsames Chorgebet und intensive Pfarrseelsorge sind sicherlich zwei wichtige Pfeiler für eine Identitätsbeschreibung. Und bis in unsere Zeit wurden die „Quinque viae“ des Roggenburger Abtes Georg Lienhardt (1717 – 1783) wegweisend.17 Sie scheinen jedenfalls an die beiden oben genannten Ziele anzuknüpfen. Leinsle weist darauf hin, dass diese Zielformulierung

13 Franciscus Suarez, Omnia Opera, Paris 1877, Tractatus IX, Liber II, caput V,6. S. 516: „In reliquis nihil habet speciale haec religio; nam ex insti-tuto contemplativa est; nullam vero specialem austeritatem profitetur, sed constitutiones habere dicitur ordini Canonicorum regularium accommodatus, seu similis“. „Dieser Orden hat nichts Speziales; denn er entstammt dem kontemplativen Ordenszweig; er hat auch keine eigene strenge Wesensform aufzuweisen, aber nach den Konstitutionen hat er sich dem Orden der Regularkanoniker angeglichen oder ähnliches.“ 14 Norbert Backmund, Geschichte des Prämonstratenserordens. Grafenau 1986, S. 166 – 179. Ulriche Leinsle, Die Prämonstratenser. Stuttgart 2020. Die Spanische Kongregation, S. 117 – 118. Ulrich Leinsle, 900 Jahre Prämonstratenserorden, von außen und innen betrachtet. Vortrag 2021 in Windberg, Manuskript, S. 8 – 9. 15 Ulrich Leinsle, Die Prämonstratenser. Stuttgart 2020. Auf der Suche nach der Identität des Ordens, S. 140 – 142. 16 Ebd.: Leinsle, S. 142. 17 Z. B. bei Tadeás Rˇ ehák, vgl. dazu Pavla Marisková/Marek Mícˇ ek, Nejen vzpomínky. ˇ ehák OPraem. Prag 2022. „Mehr als Erinnerung“. Schiften von und ErinP. Tadeás Zdene˘ k R ˇ ehák von Strahov (1923 – 1997). nerungen an P. Tadeás Zdene˘ k R

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zeit- und personenbedingt, jedenfalls kaum historisch abgesichert sei. „Die fünf Ziele nach Lienhardt18 sind: 1. Das Lob Gottes im Chor, 2. Die Sorge um das Heil des Nächsten in eifriger Seelsorge, 3. Die lebenslange Buße, 4. Die Verehrung der Eucharistie und Verteidigung der Realpräsenz Christi, 5. Die Verehrung der unbefleckt empfangenen Gottesmutter als der Hauptpatronin des Ordens.

Unbestritten sind hier auch die eucharistische und die marianische Ausrichtung des Ordens. Von Anfang an sind wohl die meisten Klosterkirchen Maria geweiht, wobei die Fokussierung auf die Unbefleckte Empfängnis vor allem in Spanien propagiert und gepflegt wurde. Im 17. Jahrhundert im Zuge der Gegenreformation kam dann die starke eucharistische Frömmigkeit in den Blick, wobei man versuchte, eine besondere eucharistische Verehrung im Leben des hl. Norbert festzumachen. Dafür gibt es Anhaltspunkte und dazu diente auch die groß aufgemachte Auseinandersetzung mit der eucharistischen Irrlehre des Tanchelin von Antwerpen, als Norbert 1124 nach Antwerpen eilte, um die Anhänger des schon 1115 verstorbenen Tanchelin zum „wahren Glauben“ zurückzuführen. Hier war er besonders als Wanderprediger, als Volksprediger und Missionar gefragt. Unbestritten ist auch die pastorale Ausrichtung fast von Anfang des Ordens an. Das findet seine Begründung einmal in der extensiven Predigttätigkeit des wohl immer Wanderprediger gebliebenen hl. Norbert, eigentlich seit seiner Bekehrung 1115, und dann natürlich in seinem pastoralen Bemühen und seelsorglichen Auftrag als Erzbischof von Magdeburg (1126 – 1134). Einmal die Sorge für die eigenen Schwestern in den Annexklöstern, dann die Sorge für die Menschen, die zu den Klöstern strömten oder sich dann um diese neuen Klöster ansiedelten, war der Beginn einer pastoralen Ausrichtung, was sich dann zu einer ausgesprochenem Schwerpunkt der Pfarrseelsorge entwickelte. Damit kündigt sich schon die Spannung eines „Vitamixta“-Konzeptes an: Zusammenleben und -streben nach innen, pastorales Wirken nach außen. Diese Spannung findet sich bei den meisten Menschen in ihrem Leben zwischen Beruf- und Privatleben, in ihrem Arbeits- und Familienleben. Wichtig ist dabei, diese Spannung nicht aufzulösen, sondern auszuhalten und bewusst zu gestalten. Jede Auflösung oder Einseitigkeit sowohl persönlich als auch als Gemeinschaft gefährdet dieses labile Gebäude. Es gibt ein Leben in der Gemeinschaft mit „innerer Emigration“ und es gibt Mitbrüder, die draußen leben und doch sehr präsent und mittragend sind. Das ist Einstellungssache oder mit den Worten der Augustinusregel: „Liebe nämlich, von der geschrieben steht: ,Sie sucht nicht den eigenen Vorteil‘ (1 Kor 13,5), besagt: ,das Gemeinsame über das Eigene, nicht das Eigene über 18 Georg Lienhard, Exhortator domesticus, c. 1 ex 1 n. 2, S. 22 – 23. Ulrich Leinsle, Die Prämonstratenser, S.142.; Ulrich Leinsle, Die oberschwäbischen Prämonstratenser in Kirche und Gesellschaft des Alten Reiches. Vortrag 2021, Manuskript S. 6 – 7.

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das Gemeinsame stellen. Ihr seid also umso weiter vorangekommen, je mehr ihr um die gemeinsame Sache bemüht seid, statt um eure privaten Interessen‘.“19 Damit liegt der Hauptakzent auf den Belangen und Erfordernissen der Gemeinschaft vor allen persönlichen Intentionen oder privaten Interessen. Gleichwohl bleibt es eine Aufgabe des Oberen, aber auch jedes einzelnen, die Balance von Gemeinschaftsleben und Eigenleben, das Gleichgewicht von Gesamtziel und Gesamtwohl der Kommunität und der berechtigten Selbstentfaltung und Selbstvervollkommnung des Einzelnen zu halten und immer wieder zu suchen. In seinem Vortrag „Zur Spiritualität der Prämonstratenser“ beschreibt Horstkötter20 die Interpretation der vom hl. Norbert für seine Neugründung gewählten Augustinusregel folgendermaßen: „Wir Prämonstratenser fühlen uns getragen durch die Klostergemeinschaft [,communio‘]. Das heißt für uns konkret: Gemeinschaft stiften und leben, den Alltag miteinander teilen in Wohnen, Essen, Beten und Arbeiten, miteinander reden, suchen und fragen und um Lösungen ringen, miteinander teilen und feiern, einander helfen und freundschaftlich verbunden sein, gemeinsam Wege zu Gott und zu den Menschen suchen. Wir Prämonstratenser wollen ein geistliches Leben führen [,contemplatio‘]. Das heißt für uns konkret: Unser Leben am Wort Gottes (Bibel) ausrichten, in Psalmen und Liedern Gott loben durch das Chorgebet in unserer Klosterkirche, in der Feier der Eucharistie Jesus Christus als Mitte der Gemeinschaft suchen, im persönlichen Beten und Meditieren das eigene Leben immer wieder unter den Anspruch Gottes stellen, in den Tagen der Besinnung, der Exerzitien und der Weiterbildung den Weg zu Gott und zu den Menschen vertiefen. Wir Prämonstratenser wollen dienen und uns einsetzen [,actio‘]. Das heißt für uns konkret: als Seelsorger für die Menschen insbesondere für die Menschen aus unserer Umgebung da sein und die Welt mitgestalten, die eigenen vielfältigen (von Gott geschenkten) Fähigkeiten weiterentwickeln und einsetzen, bewusst am Leben unserer Mitmenschen teilnehmen, die gestellten Aufgaben in Pfarreien, in Jugend- und Erwachsenenbildung, aber auch im kulturellen Engagement kraftvoll fördern und voranbringen, versuchen, die Zeichen der Zeit zu verstehen und sachgerecht darauf zu reagieren. Wir Prämonstratenser wollen am Ort verantwortungsvoll leben [,stabilitas loci‘]. Das heißt für uns konkret: geistliches Ausstrahlungszentrum für die Umgebung, Kraftquelle christlichen Glaubens, Impulsgeber für Land und Leute sein, die Liebe zu einer Region und ihren Menschen entdecken, unsere Erfahrungen an die jüngeren Mitbrüder weitergeben, uns immer wieder herausfordern lassen von all dem, was die Menschen bei uns bewegt und was sie brauchen, weltweite Kontakte pflegen und dennoch an einem bestimmten Ort seine Heimat haben.“

In diesen vier Schlüsselworten Communio, Contemplatio, Actio und Stabilitas wurde das Wesen des Ordens immer wieder neu beschrieben, umschrieben und ver19

Augustinusregel V,2. Ludger Horstkötter, Spiritualität der Prämonstratenser“, in: Herkunft mit Zukunft. Einblicke in die historische Klosterlandschaft Arnsberg. Bd. 1. Pastoraler Raum Arnsberg – Pfarrei St. Petri Hüsten, Arnsberg (2019), S. 32 – 47; hier S. 36. Seine wohl letzte Veröffentlichung; er starb am 30. März 2022. 20

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anschaulicht. In der klassischen Form eines Dreiecks, bestehend aus „communio“ als Basis und den beiden weiteren Seiten „contemplatio“ und „actio“ oder der drei Grundpfeiler unserer Ordensspiritualität wurde versucht, das Spezifikum darzustellen und auszudrücken.21 Dabei fällt es nicht schwer, den Begriff „stabilitas in loco“ unter dem Begriff „communio“ einzuordnen, da ein Leben in Gemeinschaft schlechthin nicht anders denkbar ist als an einem bestimmten Ort verwurzelt und in der festen Struktur unserer Abteien und Stifte verankert zu sein. Jüngstes Beispiel dazu sind die Roll-ups-Texte zum Jubiläumsjahr „900 Jahre Prémontré“, auf 5 Schautafeln: „gemeinsam – mit Gott – bei den Menschen – lokal verwurzelt – global vernetzt“.22 IV. Norberts Inspiration Vor allem das II. Vatikanische Konzil hat die Ordensgemeinschaften aufgerufen, sich auf die Anfänge und Ursprünge zu besinnen und daraus neue Inspiration und Lebensfrische zu gewinnen. So gingen alle Orden und Kongregationen daran in folge Reformkapitel einzuberufen und sich diesem Auftrag zu stellen. Der Prämonstratenserorden hat sich auf den beiden Reformkapiteln 1968 und 1970 im Stift Wilten darangemacht, die Konstitutionen zu überarbeiten und das Proprium des Ordens zu schärfen. Zum Zauberwort oder Schlüsselwort avancierte der Begriff „communio“, was dann begeistert aufgegriffen wurde.23 Unter diesem Stichwort konnte vieles subsummiert werden, Gemeinschaft mit Gott, Gemeinschaft untereinander, Gemeinschaft mit den Menschen, zu denen man sich gesandt weiß. Theologisch gestützt wurde dieses Wort einmal von der biblischen Begründung durch die Augustinusregel: „Das Erste, warum ihr in der Gemeinschaft zusammenlebt, ist einmütig im Haus zu wohnen (Ps 68.7) und ein Herz und eine Seele zu sein auf Gott hin (Apg 4,32)“. Dieses Gemeinschaftsideal sah man vor allem auch trinitarisch begründet, ein Gedanke, der dann später ordenstheologisch breit von Papst Johannes Paul II. in „Vita Consecrata“ aufgegriffen und entfaltet wurde24. Da wir vom hl. Norbert keine schriftlichen Zeugnisse haben, sind wir bei der Interpretation seiner Lebensziele und Hauptintentionen angewiesen auf den Ablauf der Ereignisse, wie sie von 21

Hierzu: Thomas Handgrätinger, Prämonstratenser. Gemeinsam mit Gott bei den Menschen. 900 Jahre Prémontré – Lust auf Zukunft. Magdeburg 2018. Aktuell dazu: Thomas Handgrätinger, „Gemeinschaft des Gebetes und der Liebe“, in: Communicantes 34 (2021), S. 10 – 25. Thomas Handgrätinger, „A community of prayer and of love. Reflections on the ideal of Canons Regular, in: Communicator 72 (June 2021), S. 17 – 28. 22 Vgl. dazu: Communicantes „Gemeinsam. Mit Gott. Bei den Menschen.“ 900 Jahre Prämonstratenserorden. 34(2022). Darin u. a.: Hermann-Josef Kugler, Gemeinsam. Mit Gott. Bei den Menschen – Ansprachen und Impulse zur persönlichen Betrachtung. S. 53 – 75. 23 Vgl. als Titel für Haus- und Ordenszeitschriften: „Communio“ (Abtei Windberg), „Communicantes“ (dt.-spr. Zirkarie), „Communicator“ (engl. Zirkarie): Aber auch die Internationale Theologen-Zeitschrift „Communio“, gegründet 1972 u. a. durch Josef Ratzinger, Hans Urs von Balthasar, Karl Lehmann, liegt auf dieser Linie. 24 Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Vita Consecrata“. Hier besonders das Kapitel I „Confessio Trinitatis“. 25. März 1996.

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Norbert erlebt und gestaltet wurden, und dann von den Zeugnissen über ihn. Norbert, dem es um einen und vor allem um seinen Beitrag zur Reform der Kirche ging im Gesamt der Gregorianischen Reformbewegung, hatte drei Hauptimpulse, die sein ganzes Leben begleiten: Aufbau von Lebenszentren, Aufbau vor Reformzentren und Ausbau von Strahlungszentren. Darin stecken sicher die drei oben genannten Grundpfeiler: Aufbau von Gemeinschaftszentren – communio; Aufbau von Reformzentren – „in Deum“/contemplatio; Ausbau von Strahlungszentren – actio/Verkündigung/bei den Menschen. 1. Gemeinschaftszentren Es wird im Orden viel diskutiert, was Norbert eigentlich gewollt hatte. War Norbert ein Ordensgründer? War die Gründung von Prémontré 1121 ein geschickter Zug der Kirchenpolitik, Norbert „sesshaft“ zu machen und ihn in die Kirchenstrukturen einzubinden? Wir wissen es nicht. Jedenfalls hat Norbert Prémontré initiiert, ist dort an Weihnachten 1121 eingetreten, hat auf unzähligen Reisen Menschen für diese neue Lebensform rekrutiert und gewonnen. Aber dann hat er auch schon 1126 Prémontré verlassen, manche sagen im Stich gelassen, um auf einer neuen Ebene, jetzt als Reichsprälat und Erzbischof von Magdeburg, seine Ziele weiter zu verfolgen. Es kam zu einer großen Krise für die Neugründung, die dann glücklich durch Hugo de Fosses (1126 – 1164), dem ersten Abt von Prémontré, aufgefangen wurde. Norbert hatte längst andere Ziele, sehr prätentiös, so die Ausweitung des Ordens nach Osten, Missionierung – wobei Christianisierung damals mit Germanisierung einherging – des Ostraumes mit „seinem“ Orden, die kirchenpolitische Machtausdehnung seines Metropolitansitzes auf Polen und darüber hinaus. Sein früher Tod 1134 machte diesen Ambitionen schnell ein Ende. Geblieben aber ist die fast lawinenartige Verbreitung seiner Ordensidee schon zu Lebzeiten und dann im gesamten 12. Jahrhundert, parallel zu der Verbreitung des Zisterzienserordens: Schaffung von Zentren, Gemeinschaftszentren als Häuser des Zusammenlebens auf der Basis der Augustinusregel: ein Herz und eine Seele „in Deum“, auf dem Weg zu Gott. Gemeinschaft von Priestern und Laien, mit Verzicht auf Eigentum, Leben nach einer bewährten Regel, „gefasstes Leben“, ausgerichtet auf Armut, Gehorsam und Ehelosigkeit, um so „Geistliche Biotope“ aufzubauen, in denen Liturgie und Kultur, Bildung und wirtschaftliche Autarkie, Sorge für Kranke und Arme, innen und draußen, gepflegt und gefördert wurde. „Communio“ gedacht als conditio sine qua non für „innere Reform“, für „geistliche Erneuerung“, für einen „spirituellen Vervollkommnungsprozess“, um so Kirche neu zu gestalten und zu verlebendigen. Das Leben dieser ersten Gründung war entbehrungsreich, radikal und streng, von Härte, Verzicht und schwerer Arbeit gezeichnet. Aber es war zentriert, Christus nachzufolgen und einander zu dienen und so Gemeinschaft aufzubauen, orientiert an den urchristlichen Idealen von „ein Herz und eine Seele“, wie das Zitat in der Augustinusregel nach Apg 4,32 lautet. Papst Franziskus zitiert in seiner Ansprache an die Comboni-Missionare diese Stelle und fügt noch hinzu: „Wenn ihr einander liebt, werden alle erkennen, dass ihr meine

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Jünger seid“ (Joh 13,35). Dann spricht er aber auch von der Kehrseite: „Wie oft … sehen wir, dass manche Ordensgemeinschaften eine wahre Hölle sind, eine Hölle der Eifersucht, der Machtkämpfe … und wo bleibt die Liebe? Das ist seltsam, sie haben Regeln, haben einen Lebensstil …, aber es fehlt die Liebe. Es gibt viel Neid, Eifersucht, Machtkämpfe, und sie verlieren das Beste, das heißt das Zeugnis der Liebe, das, was die Menschen anzieht: die Liebe unter uns, dass wir uns nicht gegenseitig „erschießen“, sondern immer gemeinsam vorangehen“.25 Norbert ging es um den Aufbau von Gemeinschaftszentren, im Herrn zentriert, in Liebe verbunden, im gleichen Streben nach Vollkommenheit und Weltentsagung geeint. Er selber galt allen als unangefochtene Autorität, als lebendiges Vorbild und als Garant von Einheit und Zusammenhalt. Um Gemeinschaft aufzubauen, empfahl er öfters drei Dinge: „Am Altar und bei den heiligen Handlungen Reinlichkeit, im Kapitel und sonst überall Bekämpfung der Fehler und Nachlässigkeiten, schließlich Fürsorge und Gastlichkeit gegenüber den Armen“26 (Vita A, 12). 2. Reformzentren Die zweite Hauptintention des hl. Norbert lässt sich gerade an diesen drei Empfehlungen festmachen und praktisch umsetzen. Norbert ist von zwei Seiten angesprochen und geprägt, einmal durch sein persönliches Bekehrungserlebnis, dem Bekehrungserlebnis von Saulus vor Damaskus nachempfunden. Ab diesem Zeitpunkt sucht er nach Neuorientierung und Lebensvertiefung. Norbert lebt in einer sehr bewegten Zeit, die man die “Gregorianische Reformzeit“ bezeichnet, verbunden mit einer tiefen Sehnsucht nach Erneuerung und dem Gefühl einer bevorstehenden Endzeit. Diese Reformbewegung wurde in der Kirche von Oben gefördert und von unter ersehnt. Norbert fühlt sich herausgefordert und berufen, an dieser Kirchenreform mitzuarbeiten mit all seinen Kräften. Und er hat die Größe, damit bei sich zu beginnen. Auf ihn trifft zu, was Papst Johannes Paul II. einmal über Papst Paul VI. gesagt hat: „In der Kirche gibt es keine ,Umgestaltung‘, die nicht über den Weg unserer persönlichen Heiligkeit führt“. Kirchenreform beginnt mit der eigenen Umkehr und wo das gelingt, wo andere Menschen dazu angesteckt und begeistert werden, beginnt Neuaufbruch und Kirchenerneuerung. Alles, was wir von da ab vom hl. Norbert wissen, steht unter diesem Anspruch und Vorzeichen, neue Zentren der Gemeinschaft zu schaffen, neue Lebensräume, spirituelle Biotope, in denen Kirche exemplarisch gelebt, gebaut und aufgebaut wird. Die Vision von einer erneuerten Kirche nach dem Vorbild der Urkirche soll hier realisiert werden, indem Priester und Laien zusammenleben und zusammenstreben, indem Frauen und Männer „wie einer in Christus“ (Gal 3,28) leben, indem alle „wie ein Herz und eine Seele auf Gott hin“ leben. Die drei Empfehlungen Norberts konkretisieren das: 25

Papst Franziskus, Evangelisieren im Stil der Seligpreisungen. Audienz für die ComboniMissionare vom Herzen Jesu, in: L’Osservatore (dt.) 22.7.2022/Nr. 2, S. 10. 26 Hatto Kallfelz, Lebensbeschreibung einiger Bischöfe des 10.–12. Jh., Darmstadt 1973, S. 493 (Vita A).

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- die Reinheit, Sorgfalt und Ehrfurcht, wie Liturgie gefeiert, wie gemeinsam gebetet wird, ganz auf Gott ausgerichtet und zentriert; - die von der Gemeinschaft getragene gegenseitige Korrektur und das kollektive wie persönliche Streben nach Vervollkommnung: das Streben nach Heiligkeit als Gemeinschaftsauftrag und als persönliche Verpflichtung, so Kirche authentisch und glaubwürdig zu bauen; - die tätige Nächstenliebe nach außen als Prüfstein eines Zusammenlebens in Liebe und Zuvorkommenheit. „Mich durchschwebt die Vision von einem seelischen Kraftfeld, geschaffen von einem ständigen Jetzt von den vielen in Wort und Tat Betenden, im heiligen Willen Lebenden“. Dieser Satz von Dag Hammerskjöld aus seinem Tagebuch könnte aus einer ganz anderen Warte dieses Anliegen von Reform und „Kraftzentrum“ umschreiben. Der hl. Norbert hatte diese Vision von „in Wort und Tat Betenden“. 3. Strahlungszentren „Der Weg zur Heiligkeit geht in unserer Zeit notwendig über das Handeln!“, so nochmals Dag Hammerskjöld als einer modernen Stimme. Dieser christlichen Politiker war persönlich geprägt von einem tiefen mystischen Glauben, der ihn antrieb, seine ganze Person und all seine Talente in den Dienst anderer zu stellen. Dass er dabei tragisch bei einem Kongoeinsatz ums Leben kam, gibt diesem Leben noch mehr Tiefe und credibility. Norbert, hier ganz Chorherr, Priester und Seelsorger, und inspiriert vom hl. Augustinus, dieser großen afrikanischen Bischofsgestalt, wollte Lebenszentren schaffen, Gemeinschaftszentren, die nach außen ausstrahlen. Was in der Gemeinschaft gelebt wird, sollte sich auszeugen für die Menschen. „Nach der Lehre des hl. Augustinus soll die Gemeinschaft in unseren Kommunitäten überströmen in eine alle Menschen umfassende Liebe“.27 Jedes Kloster ist ein Strahlungszentrum, wo Kirche gebaut und gelebt wird und so ihrem Auftrag, am Heilswerk Gottes für die Menschen mitzuwirken, gerecht wird. Er selbst war als unermüdlicher Wanderprediger und charismatischer Verkündiger unterwegs zu den Menschen, um die „Gute Botschaft“ den Leuten nahezubringen, um Frieden und Versöhnung zu stiften; er war ein großer Prediger der Liebe Gottes und er verlangte von seinen Brüdern, das Zeugnis dieser Liebe nach innen zu leben und so durch Wort und Leben nach außen zu bezeugen, vor allem in Fürsorge und Gastlichkeit für die Armen. „Vergiss die Armen nicht!“, dieses Wort des Kardinals Hummes28 an den 2013 frischgewählten Papst Franziskus könnte auch ein Wort des hl. Norbert an seine Mitbrüder gewesen sein. 27 Konstitutionen des Regulierten Chorherrnordens der Prämonstratenser, Linz/Schlägl, 1997, Nr. 68. 28 Kardinal Cláudio Hummes, OFM, n 8. 8. 1934, + 4. 7. 2022, Erzbischof von Sao Paulo 1998, bis 2010 Kardinalpräfekt der Kongregation für den Klerus. s. hierzu: Heiko Haupt, Franziskus. Der Papst der Armen – eine exklusive Biographie. München 2013, S. 81.

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V. Zusammenfassung Die Frage nach der Identität des Prämonstratenserordens, der ja maßgebend vom hl. Norbert geprägt und vom hl. Augustinus inspiriert ist, unterscheidet ihn so von seinen nächsten Verwandten aus der Familie der Regulierten Kanonikern, den Augustiner Chorherrn, aber auch von den großen Mönchsorden, denen er gleichwohl viel zu verdanken hat. Norbert wollte eine Reform in der Kirche anstoßen und so entstand ein neuer Ordenstyp zwischen den klassischen Mönchsorden und den Säkularkanonikern, eben das Ordensinstitut der Regularkanoniker von „Prémontré“, in der Verbindung von kanonikalen und monastischen Lebensformen, ein „vita mixta“, eine Mischform, die Elemente aus der monastisch-kontemplativen Lebensform, wie sie Norbert bei den Benediktinern und Zisterziensern kennengelernt hatte, und den kanonikalen Reformideen, wobei er hier stark von Rolduc/Klosterath beeinflusst wurde, miteinander verbindet: also feierliche Liturgie und starke Betonung von Gemeinschaftsleben kombiniert mit Hinwendung zu den Menschen in großer Sorge um deren seelisches Heil und um deren leibliches Wohl. Das Jubiläumsjahr „900 Jahre Prémontré“ stand darum unter dem auch in Zukunft gültigen und herausfordernden Motto „gemeinsam – mit Gott – bei den Menschen“. Drei Kernsätze aus den Konstitutionen sollen das nochmals unterstreichen, wobei es an uns selber liegt, Ideal und Wirklichkeit immer wieder abzugleichen: - gemeinsam: „Wir brauchen einander, um ganz Mensch zu werden“ (Nr. 26). - mit Gott: „Rund um den Altar unserer Profess wird Eucharistie gefeiert und das feierliche Chorgebet Tag für Tag verrichtet, wo wir die Stimme des Herrn hören und ihm in Psalmen, Liedern und Hymnen antworten“ (Nr. 35). - bei den Menschen: „Die Sendung unseres Ordens besteht darin, die Welt mit dem Geist des Evangeliums zu durchdringen und die menschliche Gemeinschaft in Liebe aufzubauen“ (Nr. 51).

Präzisierungen zum Entlassungsprozess im kirchlichen Gesetzbuch: Die Änderung des c. 695 § 1 CIC durch das Motu proprio Recognitum librum VI Yves Kingata I. Hinführung Papst Franziskus erklärte im Rahmen der Promulgation des erneuerten Textes des Buches VI des CIC mit der Apostolischen Konstitution Pascite Gregem Dei die Notwendigkeit der Strafrechtsreform damit, dass die Strafgesetzgebung ein flexibleres, therapeutisches und korrigierendes Instrument sein sollte, das es zeitgerecht und mit pastoraler Liebe einzusetzen gilt, um größeren Übeln zuvorzukommen und die durch menschliche Schwäche geschlagenen Wunden zu heilen.1 Franziskus sieht die Reform „durchaus in Kontinuität mit der allgemeinen Ordnung, die einer Tradition der Kirche folgt, welche sich mit der Zeit gefestigt“2 hat, unterstreicht aber zugleich, dass der neue Text Veränderungen verschiedener Art gegenüber dem bisher geltenden Recht mit sich bringt und auch einige neue Straftatbestände mit Strafen belegt.3 „Viele der eingeführten Neuheiten, die im Text zu finden sind,“ – so Papst Franziskus – „antworten in besonderer Weise auf die innerhalb der Gemeinschaften immer mehr verbreitete Erfordernis, Gerechtigkeit und Ordnung wiederhergestellt zu sehen, die durch die Straftat verletzt wurden.“4 Es geht vor allem im Abschnitt über die einzelnen Delikte und die für sie zu verhängenden Strafen um eine umfassende Überarbeitung in systematischer Hinsicht, die von der Veränderung der einzelnen Titel sowie der Inhalte bis hin zur Umstellung der Ordnung der Kanones reicht. Angesichts des Anwachsens des Rechtsstoffes sowie der damit verbundenen möglichen Unübersichtlichkeit oder sogar aufgrund der grundlegenden Fortschreibung können die Fragen nach dem Stellenwert und dem Verbindlichkeitsanspruch des Rechts, die untrennbar zusammengehören, erheblichen Unsicherheiten unterliegen. Denn für die Rechtsnorm ist es unter anderem charakteristisch, dass sie für das verfügte Verbot oder Gebot sowie für eine angeordnete Ermächtigung oder Erlaubnis 1 Vgl. Franziskus, Apostolische Konstitution Pascite gregem Dei vom 23. Mai 2021, in: OR 161 (2021), n. 122, 1. 6. 2021, 2 – 4. 2 Ders., ebd., Abs. 10. 3 Vgl. ders., ebd. 4 Ders., ebd.

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hinreichend exakt formuliert ist. Dabei geht es nach Helmuth Pree5 um die Entschiedenheit und Sinnbestimmtheit, mit denen eine Rechtsnorm ausgestattet sein soll, um im Einzelfall mittels Subsumption voll angewendet zu werden. Davon scheint Papst Franziskus fest überzeugt gewesen zu sein, als er bei der Veröffentlichung des Motu proprio Recognitum librum VI vom 26. April 2022 auf das mit der Apostolischen Konstitution Pascite gregem Dei promulgierte neue Strafrecht der katholischen Kirche Bezug nahm, um eine Übereinstimmung mit den im inneren Zusammenhang (zueinander) stehenden Normen im Gesetzbuch zu verfügen. Zwangsläufig war in Anbetracht der verschiedenen neu eingeführten und charakterisierten Delikte sowie der geänderten Abfolge der Canones eine notwendige Kongruenz der Bestimmung von c. 695 § 1 CIC mit dem neu im Buch VI promulgierten Strafrecht herzustellen.6 Die vorliegende Untersuchung setzt sich mit den durch das Motu proprio Recognitum librum VI eingeführten Präzisierungen auseinander und behandelt nach einem kurzen geschichtlichen Überblick über die Hintergründe des neuen Gesetzes im ersten Schritt die Rechtslage vor der Promulgation des Motu proprio. Daran anschließend werden die durch das päpstliche Gesetz verfügten Änderungen dargestellt. Den Schluss bildet ein Fazit, das die gewonnenen Erkenntnisse zusammenfasst. II. Historische Hintergründe der Änderung Mit der Apostolischen Konstitution Pascite gregem Dei vom 23. Mai 2021 promulgierte Papst Franziskus nicht nur den erneuerten Text des Buchs VI des CIC, sondern er verfügte zugleich die nach Maßgabe des c. 8 CIC vorgeschriebene Gesetzesschwebe, „damit sich … alle leicht informieren und die Verordnungen, um die es sich handelt, gründlich kennenlernen können“7. Dabei entschied sich der Papst für eine längere Zeitspanne zwischen Promulgation und Inkrafttreten des neuen Strafrechts und legte den 8. Dezember 2021 als terminus ad quo fest, von dem an das seit dem 23. Mai 2021 existierende Gesetz seine verpflichtende Kraft entfalten sollte. Dass die Kongregation für die Glaubenslehre mit dem am 11. Oktober 2021 auf ihrer Website veröffentlichten Rescriptum ex Audientia SS.mi. das Inkrafttreten der Neufassung der Normae de gravioribus delictis ebenso auf den 8. Dezember 2021 festsetzte, liegt zweifellos darin begründet, dass eine Übereinstimmung zwischen dem erneuerten Text des Buchs VI des CIC und der Normae de gravioribus delictis für eine korrekte Anwendung der Strafdisziplin unabdingbar erschien. Das Motu proprio Recognitum librum VI erlies Papst Franziskus zwar vier Monate nach Inkrafttreten der Neufassung des Strafrechts, aber es zeugt von der Entschlossenheit des Gesetzgebers, Wortlaut und Sinn der in c. 695 § 1 CIC verankerten Norm 5 Vgl. Helmuth Pree, Generalia iuris principia im CIC/1983 und ihre Bedeutung für das kanonische Recht, in: AfkKR 172 (2003) 38 – 57, 43. 6 Vgl. Franziskus, MP Recognitum librum VI, in: OR 162 (2022), n. 94, 26. 4. 2022, 7. 7 Franziskus, AK Pascite gregem Dei, Abs. 14.

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zeitnah an das veränderte Strafrecht anzupassen, was im nächsten Abschnitt ausführlich dargelegt wird. III. Die Entlassung aus einem Lebensverband nach der alten Fassung des c. 695 CIC 1. Das obligatorische Entlassungsverfahren Bei der Entlassung aus einem kanonischen Lebensverband handelt es sich grundsätzlich um einen zwangsweisen und dauernden Ausschluss eines Mitglieds, der von der zuständigen Autorität aufgrund kanonischer Tatbestände vorgenommen wird.8 Als eine kanonische Strafmaßnahme kann die oben genannte Ausweisung Mitgliedern während der Dauer der durch zeitliche oder ewige Gelübde bzw. Bindungen anderer Art bewirkten Eingliederung in den Verband9 auferlegt werden. Der Gesetzgeber unterscheidet zwei wesentlich voneinander verschiedene Arten der Entlassung, „wobei beiden Verfahrenswegen qualifizierte Tatbestände zugeordnet sind, die zur Entlassung aus dem Institut führen“10. In c. 694 § 1 CIC verfügt er die automatische Ausweisung, die aufgrund der im Gesetz taxativ angeführten bestimmten Tatbestände zu erfolgen hat und auf die in der vorliegenden Untersuchung nicht eingegangen wird. In cc. 695 § 1 und 696 CIC wird hingegen eine weitere Art der Entlassung festgelegt, die wegen anderer Umstände (Sachverhältnisse) in Form eines Verfahrens vorzunehmen ist, und zwar teils als vorgeschriebenes (vgl. c. 695 § 1 CIC), teils als ein dem Ermessen des zuständigen Oberen anheimgestelltes Verfahren (vgl. c. 696 CIC), wobei der Schwerpunkt grundsätzlich nur auf die in c. 695 § 1 CIC verankerten Bestimmungen gelegt wird. Auf c. 695 § 2 CIC wird nur dort hingewiesen, wo es zwingend notwendig erscheint. In der alten Fassung von c. 695 § 1 CIC bezogen sich die Tatbestände auf vier Deliktsgruppen, die ausdrücklich genannt wurden, und von denen drei eine absolut zwingende Entlassung forderten, während die vierte dem Oberen einen Ermessensspielraum einräumte. Im Einzelnen handelte es sich um die in den cc. 1397, 1398, 1395 §§ 1 und 2 CIC angeführten Delikte, nämlich Mord, Menschenraub, Verstümmelung, schwere Körperverletzung (vgl. c. 1397 CIC) sowie erfolgreich durchge8

Vgl, Jesús Torres, Forme di separazione dei membri dall’Istituto, in: Commentarium pro religiosis et missionariis 98 (2017) 7 – 90, hier 52 – 54. 9 Eine ausführliche Präzisierung zur Eingliederung in die unterschiedlichen Lebensverbände und die Abgrenzungen voneinander sowohl in der Rechtsordnung der orientalischen Kirchen als auch im CIC findet sich bei Stephan Haering, Die Entlassung aus einem kanonischen Lebensverband, in: Ludger Müller (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kirche (2011) 107 – 126, hier 107 – 109. 10 Dominicus M. Meier, Im Bewusstsein der eigenen Verantwortung: Ordensobere im Spannungsfeld von Gehorsam und Ungehorsam, in: Ordenskorrespondenz 52 (2011) 424 – 436, 432.

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führte Abtreibung der Leibesfrucht (vgl. c. 1398 CIC). Ferner wurden ein eheähnliches Verhältnis (Konkubinat), andere ein äußeres Ärgernis erregende sexuelle Vergehen, z. B. Homosexualität (vgl. c. 1395 § 1 CIC), und weitere Sexualdelikte verfügt, die durch Gewaltanwendung, Drohung oder öffentlich an Minderjährigen unter 16 Jahren (vgl. c. 1395 § 2 CIC) begangen wurden, wobei die in c. 1395 § 2 CIC genannten Straftaten nur bedingt eine obligatorische Entlassung zur Folge hatten. Daher kann festgehalten werden: In den ersten drei Fällen war dem Oberen die Entlassung zwingend vorgeschrieben und dies selbst dann, wenn der Delinquent die Tat bereut und, soweit möglich, den Schaden wieder gutgemacht hat. Der Superior – Obere – hatte daher das Delikt und die Zurechenbarkeit, nicht aber die eventuelle Besserung des Delinquenten und die Schadenswiedergutmachung zu erheben. Lediglich bei der vierten Gruppe von Delikten wurde dem Oberen ein Ermessensspielraum11 dahingehend eingeräumt, dass er von der Entlassung absehen konnte, wenn er zu der Ansicht gelangt war, eine Entlassung sei nicht unbedingt nötig und für die Besserung des Mitglieds, für die Wiederherstellung der Gerechtigkeit und für die Wiedergutmachung des Ärgernisses könne anderweitig hinreichend gesorgt werden (vgl. c. 695 § 1 CIC). In der alten Fassung enthielt c. 695 § 1 CIC für das vorgeschriebene Entlassungsverfahren den Verweis auf die in vollem Umfang in den cc. 1395, 1397 und 1398 CIC festgehaltenen Bestimmungen, die im Grunde genommen speziell der sogenannten Sünde gegen das sechste Gebot (vgl. c. 1395 CIC) und gegen vorsätzliche Verletzungen der Unversehrtheit des Lebens (vgl. cc. 1397, 1398 CIC) zuzurechnen waren.12 Formal bestand nur c. 1395 CIC aus zwei Paragraphen, während die Regelungen von c. 1397 sowie c. 1398 CIC keine weiteren Bestandteile normierten. Auch wenn der Gesetzgeber nach Georg Bier den Straftaten im Kontext sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige oder Personen mit eingeschränktem Vernunftgebrauch (vgl. c. 1398 § 1 CIC) einen neuen rechtssystematischen Ort zugewiesen hat,13 geht es materiellrechtlich nach wie vor um jene „Straftaten gegen Leben, Würde und Freiheit des Menschen“ – wie die Überschrift im neuen Strafrecht des CIC heißt –, die einen zwangsweisen Ausschluss aus dem kanonischen Lebensverband nach sich ziehen. 2. Die Rolle des Superior Für die Durchführung des Verfahrens lag nach c. 695 § 1 CIC a. F. die Zuständigkeit beim Superior – „Superior censeat dimissionem non esse omnino necessarium …“ –, der die Beweise in Bezug auf die Tatbestände und die Zurechenbarkeit zu erheben hatte. Damit zeigt sich, dass dem Gesetzgeber daran gelegen war, dass die Normen des allgemeinen Strafrechts vor allem hinsichtlich der Anrechenbarkeit 11

Vgl. Meier, Im Bewusstsein der eigenen Verantwortung, 433; Jean Macaire Matafwadi Musengi, Le renvoi des religieux: cc. 694 – 704 CIC, in: Apollinaris 74 (2001) 307 – 353, 329. 12 Vgl. Jesús Torres, Forme di separazione dei membri, 52 – 54. 13 Vgl. Georg Bier, Das neue kirchliche Strafrecht. Mangelnde Sensibilität, in: Herder Korrespondenz 76 (2022) 39 – 42, 40.

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und der Schuldminderungsgründe beachtet wurden. „Darauf weist schon das Wort ,imputabilitas‘ in c. 695 § 2 hin“14, das allerdings anders als in c. 695 § 1 CIC ausdrücklich den Superior maior normierte, dem das Recht zukam, dem zu entlassenden Mitglied die Anklage und die Beweise zur Kenntnis zu bringen und ihm Gelegenheit zu geben, sich zu verteidigen. Dass der rechtlichen Figur des Superior eine zentrale Bedeutung bei der Entlassung aus einem kanonischen Lebensverband eingeräumt wurde, liegt auf der Hand. Daher stellt sich die Frage, inwiefern der in c. 695 § 1 CIC genannte Superior dem in c. 695 § 2 CIC normierten Superior maior entsprach. Sind sie beide gleichzusetzen oder gibt es einen Unterschied? Als ein Organ, das die Leitungsaufgaben wahrzunehmen hat, muss das Recht die Rechtsfigur des Superior15 bestimmen und legitimieren. Außerdem sind die Grenzen der dem Superior zukommenden Vollmacht abzustecken und die Aufgaben zu definieren. Grundsätzlich bietet der CIC keine Definition für den Begriff des Oberenamtes in den religiösen Instituten. Vielmehr setzt der Gesetzgeber in c. 617 CIC die abstrakte Existenz solcher Ämter stillschweigend voraus, indem er die betreffenden Personen hinsichtlich der Ausübung ihres Amtes an das allgemeine Kirchenrecht und an das Eigenrecht der Gemeinschaft bindet. Der CIC verwendet den Begriff Superior als allgemeinen Typus des Ordensoberen und ergänzt ihn an bestimmten Stellen mit Adjektiven, um den Oberen zu präzisieren. Der Gesetzgeber spricht daher vom Superior competens (vgl. cc. 638 § 3; 649 § 2; 656 n. 3; 657 § 2; 668 § 2 CIC), wenn es sich um den Verweis auf eine bestimmte Zuständigkeit handelt, oder Superior domus (vgl. c. 624 § 1 CIC), Superior legitimus (vgl. cc. 601; 656 n. 5; 671 CIC), Superior instituti (vgl. c. 681 § 2 CIC). Mit diesen Bezeichnungen ist aber noch kein spezieller, allgemein geltender Sonderstatus des betreffenden Oberen ausgedrückt. Der CIC stellt ausdrücklich fest, dass das Religiosenrecht für beide Geschlechter gleichermaßen gilt (vgl. c. 606 CIC/1983). Superior bezeichnet daher ebenso den Ordensoberen wie die -oberin einer Niederlassung, sofern nicht die Satzungen etwas Besonderes vorsehen. Es geht also um ein Kirchenamt, dass im Bereich der Ordensleitung zu verorten und nach Maßgabe des Rechts auszuüben ist. Darunter lassen sich sehr bedeutende und mächtige Ordenssuperioren ebenso wie die Leiter kleiner Niederlassungen einordnen als auch die „niederen Oberen“, ein Begriff, den der CIC allerdings nicht kennt. Wie Dominicus Meier klarstellt, unterscheidet der Codex ausdrücklich nur zwischen dem höheren Oberen (Superior maior) und dem Oberen (Superior), der zum Teil als Lokaloberer oder Hausoberer

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Rudolf Henseler, c. 695, in: MKCIC, Rd. 1 Lfg. Februar 2009. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass gemäß c. 734 CIC die Bestimmungen über die Oberen der Religioseninstitute auch für Gesellschaften des apostolischen Lebens gelten. Allerdings werden die mit Leitungsaufgaben betrauten Personen in Säkularinstituten im CIC nicht als Superiores, sondern als Moderatores (vgl. c. 717 CIC) bezeichnet. Vgl. Dominicus Meier, Ordensoberer, in: Heribert Hallermann/Thomas Meckel/Michael Droege/Heinrich de Wall (Hrsg.), Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht, Bd. 3, Paderborn u. a. 2020, 434 – 436, 434. 15

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(Superior localis) bezeichnet wird (vgl. cc. 636 § 1, 703 CIC).16 Von diesem allgemeinen Typus des Ordensoberen lassen sich durch bestimmte Merkmale besondere Formen abheben, was der Gesetzgeber zum Teil im CIC tut, wenn er sich in c. 613 CIC mit den Niederlassungen von Mönchen und Regularkanonikern befasst und ganz unvermittelt den Ausdruck Superior maior verwendet. Damit bezeichnet er den Oberen der Klöster, die in diese Rechtsstellung eingewiesen sind (vgl. c. 613 § 2 CIC), ohne den Begriff genau zu definieren. Erst im c. 620 CIC wendet sich das Gesetzbuch ganz den Superiores maiores – höheren Oberen – zu. Sie gelten als jene Mitglieder, die ein ganzes Institut oder eine Provinz oder einen ihr gleichgestellten Teil oder eine rechtlich selbstständige Niederlassung leiten. Ebenfalls werden ihre Stellvertreter nach c. 620 CIC/1983 als Superiores maiores bezeichnet. Stephan Haering weist darauf hin, „dass die Inhaber der Stellvertretungsämter (bzw. die als Stellvertreter dauerhaft designierten Personen) nur dann höhere Obere sind, wenn sie etwa bei länger andauernder Abwesenheit, schwerer Krankheit, sonstiger Amtsbehinderung oder Amtsverlust des betreffenden Oberen tatsächlich die Stellvertretung wahrnehmen“17. Dazu kommen der Abtprimas und der Obere einer monastischen Kongregation, die jedoch nicht die ganze Vollmacht haben, die das allgemeine Recht den höheren Oberen zuteilt (vgl. c. 620 CIC). Daraus kann geschlossen werden, dass das, was den Superior maior ausmacht, aus den Befugnissen und Aufgaben zu ersehen ist, die der Gesetzgeber ihm zuweist. Dies erstreckt sich von der Aufnahme neuer Mitglieder über die Professzulassung bis zur Entlassung von Ordensangehörigen. Insofern hat der Rechtsinstitut Superior in c. 695 § 1 a. F. CIC nicht zwingend die gleiche Rechtsstellung wie der Superior maior in c. 695 § 2 a. F. CIC. IV. Die Entlassung aus einem Lebensverband nach dem MP Recognitum librum VI und der neuen Fassung des c. 695 CIC 1. Das obligatorische Verfahren Das Motu proprio Recognitum librum VI beginnt nicht nur damit, die historischen Hintergründe darzulegen, sondern der kirchliche Gesetzgeber verweist zugleich ausdrücklich auf den ehemaligen Päpstlichen Rat für die Gesetzestexte sowie auf die vormalige Kongregation für die Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des Apostolischen Lebens, die vor der Promulgation der durch das Motu proprio Recognitum librum VI vorgenommenen Änderung angehört wurden (His praemissis, auditis). Dabei geht es um die Kongregation, die für die durch den Päpstlichen Rat für 16 Vgl. Dominicus M. Meier, Das geistliche und rechtliche Profil von Leitung in den Instituten des geweihten Lebens, in: Ordenskorrespondenz 54 (2013) 64 – 79, 67. 17 Stephan Haering, Die Stellvertretung der höheren Oberen in klerikalen Religioseninstituten päpstlichen Rechts. Kanonistische Bemerkungen insbesondere aus monastischer Perspektive, in: Ordenskorrespondenz 34 (1994) 309 – 326, 315.

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die Gesetzestexte gemäß der zu diesem Zeitpunkt geltenden Apostolischen Konstitution Pastor bonus (vgl. Art. 154 PB) zu prüfende Materie zuständig und anzuhören war. Der frühere Rat, der durch die Apostolische Konstitution Praedicate Evangelium18 mittlerweile zum sog. Dikasterium für die Gesetzestexte überführt wurde, steht nämlich allen römischen Dikasterien zur Verfügung, um ihnen dabei zu helfen, dass allgemeine Ausführungsdekrete und Instruktionen, die von diesen herausgegeben werden sollen, mit den geltenden Gesetzesvorschriften übereinstimmen und in der rechten juristischen Form abgefasst worden sind (vgl. Art. 179 PE). Es handelt sich hierbei um eine Kompetenz, die die dem Dikasterium (eingeschränkt) eingeräumte Funktion eines Normenkontrollorgans zum Ausdruck bringt. Art. 179 PE ist zu entnehmen, dass der kirchliche Gesetzgeber selbst nicht von der oben genannten Bestimmung getroffen ist und daher nicht unter die anderen Adressaten (vgl. Art. 179 – 181 PE) gefasst werden kann. Dass er sich aber bei einem im eigenen Antrieb erlassenen Gesetz der Expertise der zuständigen päpstlichen Organe bedient, stellt weniger eine Unterordnung unter den ehemaligen Päpstlichen Rat bzw. das jetzige Dikasterium für die Gesetzestexte dar. Vielmehr liegt die im Motu proprio Recognitum librum VI verankerte Anhörung darin begründet, eine Absicherung der Konformität der Normen zu gewährleisten. Formal fällt auf den ersten Blick auf, dass sich der Gesetzgeber für eine veränderte Reihenfolge der im Strafrecht verankerten Bestimmungen entschieden hat. Während die alte Fassung des c. 695 § 1 CIC die Reihung „cann. 1397, 1398 und 1395“ CIC aufwies – wobei bei c. 1395 CIC ausdrücklich auf c. 1395 § 2 CIC verwiesen wurde –, werden die im neuen Strafrecht genannten Normen im Motu proprio Recognitum librum VI in einer anderen Reihenfolge geregelt: „cann. 1395, 1397 und 1398“. Martin Rehak und Anna Krähe verwenden hierfür zurecht den Begriff „numerische Reihenfolge“.19 Außerdem werden die cc. 1395 und 1398 CIC anders als in der alten Fassung von c. 695 § 1 CIC zweimal genannt und präzisiert, weil c. 1395 CIC durch die neue Reform des Strafrechts (vgl. c. 1395 § 3 CIC) und vor allem c. 1398 (vgl. c. 1398 §§ 1 – 2 CIC) eine signifikante Erweiterung erfahren haben.20 Für eine 18

Franziskus, AK Praedicate Evangelium, in: OR 162 (2022), n. 74, 31. 3. 2022, I–XII. Vgl. Martin Rehak/Anna Krähe, c. 695 § 1 CIC n. F., in: https://www.theologie.uni-wuerz burg.de/fileadmin/01040030/2022/KdM_49__695_1__Verweis_Strafrecht.pdf [Zugriff: 20. 11. 2022]. 20 In ihrer Einführung und ihrem Kommentar zum „Neue(n) kirchliche(n) Strafrecht“ behandeln Heribert Hallermann und Markus Graulich die Bestimmungen von cc. 1395 und 1398 CIC unter der Überschrift „Der Missbrauch geistlicher Autorität“ für c. 1395 § 3 CIC und „Die Sexualdelikte als Straftaten gegen die Menschenwürde“ für c. 1395 §§ 1 – 2 CIC sowie c. 1398 §§ 1 – 2 CIC. Nach dem neu konzipierten c. 1395 § 3 CIC sollen die Täter mit obligatorischen, aber unbestimmten gerechten Strafen belegt werden. Zu c. 1398 CIC wird darauf hingewiesen, „dass es sich im Fall des neu konzipierten c. 1398 § 1 um ,delicta graviora‘ im Sinne von SST/ 2020 Pars I Art. 6 § 1 nn. 1 und 2 handelt, deren Strafverfolgung der Kongregation für die Glaubenslehre vorbehalten ist […]. Im Fall des neu konzipierten c. 1398 § 2 hingegen handelt es sich nicht um ,delicta graviora‘ im Sinne der angeführten Spezialnorm, sondern um Vergehen, deren Aufklärung und Strafverfolgung dem jeweiligen Ordinarius zukommen.“ Heri19

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zwangsweise Entlassung aus einem kanonischen Lebensverband beschränkt sich aber der Gesetzgeber bei c. 1398 CIC auf § 1, der umfangreicher geworden ist und drei Nummern bekommen hat. Ebenfalls wird das Verfahren bezüglich der in c. 1395 CIC verankerten Bestimmungen auf die in den §§ 2 – 3 normierten Straftaten begrenzt.21 Inhaltlich aber beziehen sich die Tatbestände für eine absolut zwingende Entlassung nach wie vor auf vier Deliktsgruppen im Zusammenhang mit Sexualdelikten gegen das sechste Gebot des Dekalogs (vgl. cc. 1395 § 2, 1398 § 1 CIC), Mord und Menschenraub, Verstümmelung und schwere Körperverletzung sowie erfolgreich durchgeführte Abtreibung der Leibesfrucht (vgl. c. 1397 §§ 1 – 3 CIC). Denn die cc. 1395 und 1398 CIC widmen sich speziell der sogenannten Sünde gegen das sechste Gebot, unter welche auch der sexuelle Missbrauch fällt. Waren nach dem bisherigen Strafrecht bei Sünden gegen das sechste Gebot nur Kleriker mit Strafen bedroht, gilt dies nun nach c. 1398 § 2 CIC auch für alle Gläubigen, welche in der Kirche eine Würde bekleiden oder ein Amt oder eine Funktion ausüben. Ferner sind die in c. 1395 §§ 2 – 3 und c. 1398 § 1 n. 1 CIC genannten Straftaten als nur bedingt obligatorisch für eine Entlassung aus dem Lebensverband geblieben. Denn ihre Schwere, die zur zwangsläufigen Entlassung führen kann, bleibt auch nach dem Motu proprio Recognitum librum VI dem Ermessensspielraum des Superior maior untergeordnet. Zudem kann noch auf eine erhebliche Änderung hingewiesen werden: In c. 1398 § 2 CIC n. F. steht, ein Mitglied „soll“ mit Strafen nach can. 1336 §§ 2 – 4 belegt werden. In c. 695 § 1 CIC n. F. steht jetzt, es „muss“ entlassen werden. Damit ist durch das Motu proprio Recognitum librum VI neben einer notwendigen Kongruenz der Bestimmung von c. 695 § 1 CIC mit dem neu im Buch VI promulgierten Strafrecht eine gravierende Änderung vorgenommen worden. 2. Die Rolle des Superior Nach dem Motu proprio Recognitum librum VI liegt die in c. 695 § 1 CIC festgelegte Durchführung des Verfahrens für die obligatorische Entlassung aus einem kanonischen Lebensverband beim Superior maior.22 Damit hebt sich diese Bestimmung zweifellos von der Regelung von c. 695 § 1 CIC a. F. ab, die nur den allgemeinen Begriff „Superior“ verwendete. Denn auf der Grundlage der kombinierten Bestimbert Hallermann/Markus Graulich, Das neue kirchliche Strafrecht. Einführung und Kommentar, Münster 2021, 46. 21 In einer Gegenüberstellung der alten und neuen Bestimmungen bieten Martin Rehak und Anna Krähe eine klare Fortschreibung der Normen und weisen vor allem auf die interessanten unterschiedlichen Strafmaße für Kleriker und Ordensleute hin. Vgl. Martin Rehak/Anna Krähe, c. 695 § 1 CIC n. F., in: https://www.theologie.uni-wuerzburg.de/fileadmin/01040030/ 2022/KdM_49__695_1__Verweis_Strafrecht.pdf [Zugriff: 20. 11. 2022]. 22 In der Auseinandersetzung von Martin Rehak und Anna Krähe mit c. 695 § 1 CIC n. F. fällt auf, dass sie den Ausdruck Superior maior einfach mit „Oberer“ übersetzt. Vgl. Martin Rehak/Anna Krähe, c. 695 § 1 CIC n. F., in: https://www.theologie.uni-wuerzburg.de/filead min/01040030/2022/KdM_49__695_1__Verweis_Strafrecht.pdf [Zugriff: 20. 11. 2022].

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mungen von c. 134 CIC und c. 620 CIC bietet der Ausdruck Superior maior zweifellos die erforderliche Rechtssicherheit der Leitungsgewalt23, die einer physischen Person24 als Leiter eines ganzen Institutes oder einer Provinz oder eines ihr gleichgestellten Teils desselben oder einer rechtlich selbstständigen Niederlassung eingeräumt wird. Ferner werden in c. 620 CIC der Abtprimas und der Obere einer monastischen Kongregation dazu gezählt, auch wenn letzteren nicht die ganze Vollmacht zusteht, die das allgemeine Recht den „höheren Oberen“ (Superioribus maioribus) zuteilt. Daraus kann geschlossen werden, dass das Motu proprio Recognitum libri VI eine entscheidende Präzisierung liefert. Denn bei den für die Durchführung des obligatorischen Entlassungsverfahrens genannten Superiores maiores können nur solche höhere Oberen zuständig sein, bei denen in Hinblick auf die Leitungsgewalt ein Mehr an Jurisdiktionsbefugnissen im Sinne von c. 129 CIC i. V. m. c. 620 CIC – und 134 § 1 CIC bei klerikalen Instituten – zutrifft. Folgerichtig ist Priamo Etzi zuzustimmen, wenn er bei seiner Unterscheidung zwischen „Superiores mayores“ und „Superiores menores“25 davon spricht, dass die Ersteren bei den wichtigen ihnen eingeräumten Rechten und Pflichten unter anderem für die Zulassung von Kandidatinnen und Kandidaten zum Noviziat und die Ablegung von Professen sowie für die Versetzung oder den Austritt und für den Ausschluss von Institutsmitgliedern zuständig sind (vgl. cc. 642, 644 § 2, 650 § 2, 689 § 3, 695 CIC).26 Diese im allgemeinen Recht den höheren Oberen eingeräumten Rechte kommen den Provinzoberen (und den ihnen Gleichgestellten) zu, sofern 23 Vgl. Andrea d’Auria, Il concetto di superiori del can. 127: Questioni problematiche aperte, in: Ius Ecclesiae 18 (2006) 601 – 627, 605. 24 Tomás Rincón unterstreicht vor allem den Rechtscharakter der physischen Person, bietet auf der Grundlage von cc. 620 – 622 CIC eine Aufzählung von Superiores maiores und grenzt sie von den Kapiteln im Rahmen der ordensrechtlichen Kirchenstruktur ab. Er hält nämlich fest: „Par Supérieur, l’on entend la personne physique qui exerce le pouvoir religieux ordinaire, propre ou vicaire, reçu de Dieu par le ministère de l’Église (c. 618), et qui appartient donc à la hiérarchie interne de l’Institut. Les chapitres ne sont par conséquent pas des supérieurs au sens strict, pas plus ceux qui appartiennent à la hiérarchie externe, ou ceux qui exercent un pouvoir délégué. Par contre, celui exerce un pouvoir ordinaire est un supérieur. Sont supérieurs majeurs le modérateur suprême …, le supérieur provincial qui exerce son pouvoir sur la partie de l’institut appelée province ou qui lui est équiparée, les supérieurs locaux d’une maison sui iuris ou autonome y compris les abbesses et les supérieures de monastères sui iuris ou autonomes, les vicaires de tous ceux qui précèdent. D’une certaine manière sont également supérieurs l’abbé primat d’une confédération monastique et le président d’une congrégation monastique … So supérieurs mineurs les supérieurs locaux d’une maison religieuse qui n’est pas sui iuris.“ Tomás Rincón, cc. 620 – 622, in: Ernest Caparros/ Thierry Sol/Juan Ignacio Arrieta (Hrsg.), Code de droit canonique. Bilingue et annoté, 4è éd., Québec 2018, 574 – 575. 25 Priamo Etzi spricht von „Superiores menores“ als eine logische Konsequenz und erklärt es wie folgt: „En los institutos religiosos hay superiores mayores y, en consecuencia, aunque de forma implicita, superiores menores.“ Priamo Etzi, Superior Mayor, in: Javier Otaduy/ Antonio Viana/Joaquín Sedano (Hrsg.), Diccionario General de derecho canónico, Vol. 7, Navarra 2012, 469 – 471, 469. 26 Vgl. ders., ebd., 470.

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das eigene Gesetz nichts anderes bestimmt. Damit sorgt das Motu proprio Recognitum librum VI für eine wichtige Präzisierung: Der Superior einer Niederlassung, die nicht als sui iuris gilt, ist für die Durchführung des in c. 695 § 1 CIC vorgeschriebenen zwangsweisen Ausschlusses aus einem kanonischen Lebensverband nicht zuständig. V. Fazit Bereits in der Einleitung des Motu proprio Recognitum librum VI zur Änderung und Präzisierung des c. 695 § 1 CIC zeigt Papst Franziskus, dass die Reformbemühungen von der Erkenntnis der Erfordernisse der Gegenwart und der veränderten inhaltlichen Ausrichtung der neuen Fassung des Strafrechts getragen waren. Es mag im Hinblick auf die Abfolge der Ereignisse und die geänderte Reihenfolge der Canones interessant sein zu beobachten, wie eine notwendige Kongruenz der Bestimmung von c. 695 § 1 CIC mit dem neu im Buch VI promulgierten Strafrecht für die tatsächliche Kenntnisnahme der Normen sowohl durch die Rechtsanwendungsorgane als auch durch die Normadressaten richtungsweisend geworden war. Alle Fragen, die mit dem obligatorischen Ausschluss aus einem kanonischen Lebensverband zusammenhängen, bedürfen in hervorragendem Maß einer rechtlichen Klärung und Absicherung, damit Verwirrung hinsichtlich der Kompetenzen sowie unklare Zuständigkeiten vermieden werden. Gerade in diesem Bereich würden Unsicherheiten besonders stark ein obligatorisches Entlassungsverfahren beeinträchtigen. Daher ist die Präzisierung des Ausdrucks Superior maior bei einem so bedeutsamen Thema wie einer zwangsweisen Trennung von Mitgliedern von einem kanonischen Lebensverband von größter Bedeutung für die Bewältigung der Aufgaben, die den einzelnen höheren Ordensoberen gestellt sind. Was bleibt, ist die Verpflichtung für alle, in treuer Besinnung auf die Beachtung und Respektierung der Strafdisziplin der Kirche in die Zukunft zu gehen. Die Verantwortung aber für die korrekte Anwendung des durch Papst Franziskus promulgierten Motu proprio Recognitum librum VI sowie des neuen Strafrechts ist in besonderer Weise den Hirten und den Oberen der einzelnen kanonischen Lebensverbände aufgetragen.

Ecclesia semper reformanda est Jüngste Entwicklungen im Ordensrecht Martin Krutzler OCist Papst Franziskus hat sich in seinem bisherigen Pontifikat als äußerst aktiver Gesetzgeber erwiesen. Offenbar betrachtet er das Kirchenrecht als wichtiges und effizientes Instrument, um auf gegenwärtige Herausforderungen und Ansprüche an und in der Kirche einzugehen. Nicht wenige Gesetzgebungsakte der jüngeren Zeit betreffen das „Ordensrecht“ (cc. 573 – 746 CIC/1983 bzw. cc. 410 – 572 CCEO). In diesem Beitrag sollen diese Änderungen im Bereich des Ordensrechts beleuchtet und diskutiert werden. Am 11. Februar 2022, dem Gedenktag „Unserer Lieben Frau in Lourdes“, veröffentlichte Papst Franziskus das Motu proprio „Competentias quasdam decernere“1, das bereits am 15. Februar 2022 in Kraft trat. Mit dem Motu proprio wurden einige Zuständigkeiten im Kirchenrecht – auch das Ordensrecht betreffend – neu geregelt. Da es sich thematisch anbietet, wird im Zusammenhang mit diesen Änderungen zugleich auch das „Rescritto del Santo Padre Francesco circa le associazioni pubbliche di fedeli in itinere“2 vom 15. Juni 2022 behandelt. Ein zweiter Teil dieses Beitrags beschäftigt sich mit einer Präzisierung, welche sich durch das – mit der Apostolische Konstitution „Pascite gregem Dei“3 (23. Mai 2021) geänderte – Sanktionsrecht der katholischen Kirche ergibt. Danach erhalten höhere Obere einen erweiterten Handlungsradius bei der Sanktionierung von Vergehen ihrer Mitglieder, die gemäß c. 695 § 1 CIC/1983 in der Regel die Einleitung eines Entlassungsverfahrens zur Folge haben. Die Gesetzesanpassung wurde am 26. April 2022 durch Motu proprio „Recognitum librum VI“4 vorgenommen.

1 Franziskus, Motu proprio Competentias quasdam decernere, 11. 02. 2022, in: OR 162 (2022), n. 37, 15. 02 2022, S. 8. 2 Rescriptum ex audientia SS.MI: Rescritto del Santo Padre Francesco circa le associazioni pubbliche di fedeli in itinere, 15. 06. 2022, in: OR 162 (2022), n. 136, 15. 06. 2022, S. 8. 3 Franziskus, Apostolische Konstitution Pascite gregem Dei, in: OR 161 (2021), n. 122, 1. 06. 2021, S. 2 – 4. 4 Franziskus, Motu proprio Recognitum Librum VI, in: OR 162 (2022), n. 94, 26. 04. 2022, S. 7.

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In einem dritten Teil wird schließlich ein Reskript des Papstes vom 18. Mai 20225 bezüglich c. 588 § 2 CIC/1983 behandelt, das offiziell die Möglichkeit eröffnet, in Einzelfällen Laien zu höheren Oberen in klerikalen Instituten päpstlichen Rechts zu bestellen. I. Ordensrechtliche Änderungen durch das Motu proprio „Competentias quasdam decernere“ und das Reskript von Papst Franziskus hinsichtlich öffentlicher Vereinigungen Als Zielrichtung des Motu proprio „Competentias quasdam decernere“ wird von Papst Franziskus im Vorwort die Ausrichtung auf die „Einheit der Disziplin der universalen Kirche“ und eine „heilsame Dezentralisierung“ angegeben. Durch die im Motu proprio vorgesehenen Anpassungen im CIC/1983 und CCEO soll die Dynamik der kirchlichen Gemeinschaft gefördert werden, „ohne dabei die hierarchische Dimension zu beeinträchtigen“6. Spezifisch für den Bereich des Ordensrechts möchte der Papst die „Verantwortlichkeit … der höheren Oberen … fördern und darüber hinaus die Grundsätze der Rationalität, der Wirksamkeit und der Effizienz … begünstigen“7. Beim Anliegen der Dezentralisierung geht es im Allgemeinen darum, dass Aufgaben, Kompetenzen oder Vollmachten aus der Zentralstelle einer Organisationsstruktur herausgelöst und Standorten außerhalb der Zentrale zugeordnet werden8. Im kirchlichen Rechtsbereich könnte im Umkreis des Begriffs „Dezentralisierung“ auch an das Prinzip der „Subsidiarität“ gedacht werden, welches wiederum ein altes und wichtiges Grundprinzip kirchlicher Rechtskultur ist. Das Subsidiaritätsprinzip besagt in Bezug auf die katholische Kirche, dass höhere hierarchische Institutionen nur dann, aber auch immer dann regulativ tätig werden sollen, wenn die Möglichkeiten bzw. Vollmachten der niedrigeren Hierarchie-Ebene allein nicht ausreichen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen9. Dezentralisierung und Subsidiarität sind in diesem Sinne zwar nicht als deckungsgleiche Begriffe anzusehen, sie sind aber sicherlich eng miteinander verwandt. Dass im Laufe der Kirchengeschichte das Pendel zwischen den beiden Polen des Zentralismus und des Dezentralismus hin und her geschwungen hat, braucht an dieser Stelle nicht weiter erläutert werden. Fest steht je5

Rescriptum ex audientia SS.MI: Rescritto del Santo Padre Francesco circa la deroga al can. 588 § 2 CIC, 18. 05. 2022, in: OR 162 (2022), n. 113, 18. 05. 2022, S. 6. 6 Franziskus, MP Competentias quasdam decernere (Anm. 1) 8; deutsche Übersetzung zitiert aus: https://www.vatican.va/content/francesco/de/motu_proprio/documents/20220211motu-proprio-assegnare-alcune-competenze.html [Zugriff: 22. 07. 2022]. 7 Ebd. 8 Vgl. Heinz M. Hiersig (Hrsg.), Lexikon Produktionstechnik Verfahrenstechnik, Band II (1995), S. 49. 9 Vgl. Heribert Schmitz, Codex Iuris Canonici, in: HdbKathKR3, S. 70 – 100, hier 80, 89; Hugo Schwendenwein, Der Papst, in: HdbKathKR3, S. 447 – 468, hier S. 451 – 453.

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denfalls, dass das, was mit Dezentralisierung bzw. Subsidiarität im Kern gemeint ist, ein zum Wesen der Kirche gehörendes Strukturprinzip ist, da die Kirche verfassungsrechtlich in und aus Teilkirchen aufgebaut ist. Die entscheidende Formel des II. Vatikanums in LG 23, 1 zum Verhältnis von Gesamtkirche und Teilkirche lautet im Lateinischen: „in quibus et ex quibus una et unica Ecclesia catholica exsistit“. Im CIC/ 1983 findet sich diese Fundamentalaussage zur kirchlichen Verfassungsstruktur nur eher beiläufig in c. 368 CIC/1983: „Ecclesiae particulares, in quibus et ex quibus una et unica Ecclesia catholica exsistit, sunt imprimis dioeceses, quibus, nisi aliud constet, assimilantur praelatura territorialis et abbatia territorialis, vicariatus apostolicus et praefectura apostolica necnon administratio apostolica stabiliter erecta.“ Die Formel „in quibus et ex quibus“ ist unter anderem deswegen von so großer Bedeutung, weil sich damit zwei – nach katholischer Auffassung – irrige Zerrbilder von Kirche zurückweisen lassen, nämlich eine monistische Vorstellung von Kirche, aber auch jene einer autokephalen. Freilich geht es hier um die Verhältnisbestimmung zwischen Gesamtkirche und Teilkirche; dennoch lassen sich daraus wichtige Erkenntnisse zum Thema Dezentralisierung in der Kirche gewinnen, denn die Kirche besteht demnach nicht aus einer „Zentrale“ und von ihr aus gegründeten „Außenstellen“, sondern ihr Wesen ist – im unauflösbaren und unaufgebbaren Zueinander von Gesamtkirche und Teilkirchen – ein „dezentrales“, um diesen Begriff des Motu proprio hier zu bemühen. Die Stärkung dezentraler Strukturen und Vollmachten ist insofern kein rein gnadenhaftes Zugeständnis kraft päpstlicher Vollmacht, sondern stellt vielmehr ein „heilsames“ Nachspüren und eine Evaluation gängiger Vollmachtszuschreibungen am theologischen Wesen der Kirche dar. Dieses Nachspüren betrifft nicht nur die verschiedenen Teilkirchen, sondern auch die im Charisma der Kirche gründenden kanonischen Lebensverbände mit ihrer je eigenen Autonomie. Das Anliegen von Papst Franziskus, eine „heilsame Dezentralisierung“ in der Kirche voranzutreiben, scheint übrigens schon im Apostolisches Schreiben „Evangelii gaudium“ in der Nr. 16 auf, wo es heißt: „Es ist nicht angebracht, dass der Papst die örtlichen Bischöfe in der Bewertung aller Problemkreise ersetzt, die in ihren Gebieten auftauchen. In diesem Sinn spüre ich die Notwendigkeit, in einer heilsamen ,Dezentralisierung‘ voranzuschreiten.“10 Nach diesen eher grundsätzlichen Vorbemerkungen zur Dezentralisierung soll nun in weiterer Folge konkret und im Einzelnen der Frage nachgegangen werden, ob die vorgenommenen Gesetzesänderungen, welchen den Bereich des Ordensrechts betreffen, tatsächliche jene Ziele erreichen können, die durch das Motu proprio angestrebt werden. Die Gesetzesänderungen in den cc. 237 § 2, 242 § 1, 265, 775 § 2, 1308, 1310 CIC/1983 sowie in den cc. 1052, 1054 CCEO, die mit diesem Motu proprio ebenso vorgenommen wurden, sind nicht Inhalt dieser Betrachtung.

10 Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 24. 11. 2013, in: AAS 105 (2013), S. 1019 – 1137, hier S. 1027 [Ziff. 16].

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1. C. 604 § 3 CIC/1983 Die erste ordensrechtliche Änderung durch das Motu proprio „Competentias quasdam decernere“ ist dem Stand der Jungfrauen im lateinischen Recht der Kirche gewidmet. Die systematische Einordnung des Jungfrauenstandes in den Bereich des Ordensrechts im engeren Sinn ist nicht ganz unumstritten, da hier nur die Verpflichtung auf einen der drei evangelischen Räte, nämlich die ehelose Keuschheit, eingegangen wird. Klar ist, dass der Jungfrauenstand zunächst als Individualform gottgeweihten Lebens konzipiert ist. Ein Zusammenschluss gottgeweihter Jungfrauen zu Vereinigungen ist aber möglich (c. 604 § 2 CIC/1983). Solche Vereinigungen sollen den kirchlichen Dienst der Jungfrauen fördern und beleben. Durch das Motu proprio wird c . 604 CIC/1983 nun ein dritter Paragraf hinzugefügt, der die Zuständigkeit bei der Anerkennung bzw. Errichtung solcher Vereinigungen regelt und zwar dergestalt, dass sie auf diözesaner Ebene dem Diözesanbischof und auf nationaler Ebene der Bischofskonferenz zugeordnet wird. Die Verortung der Zuständigkeit auf ortskirchlicher Ebene kann zweifelsohne als Ausdruck einer Dezentralisierung angesehen werden. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass diese dezentrale Zuweisung in gewisser Spannung mit zwei „Verschärfungen“ hin zu einem verstärkten „Zentralismus“ steht, die vor nicht allzu langer Zeit durch das Motu proprio „Authenticum charismatis“11 in c. 579 CIC/1983 bzw. durch das „Rescritto del Santo Padre Francesco circa le associazioni pubbliche di fedeli in itinere“12 bezüglich c. 312 § 1 83 CIC/1983 einführt wurden. Seither ist bei der Errichtung von Instituten des geweihten Lebens nicht nur mehr eine vorausgehende Konsultation mit dem Apostolischen Stuhl erforderlich, sondern seine vorausgehende schriftliche Genehmigung. Mit dem Reskript vom 15. Juni 2022 wurde zudem festgehalten, dass der Diözesanbischof bereits für die Errichtung einer öffentlichen kirchlichen Vereinigung, welche mit dem Ziel gegründet wird, später daraus ein Institut des geweihten Lebens oder eine Gesellschaft des apostolischen Lebens diözesanen Rechts erwachsen zu lassen, die vorhergehende schriftliche Genehmigung des Dikasteriums für Institute des geweihten Lebens und Gesellschaften des apostolischen Lebens einholen muss. Dieses Reskript, durch das der CIC/1983 zwar im Wortlaut nicht verändert wurde, steht in Spannung mit der grundlegenden Kompetenz des Diözesanbischofs für die Errichtung bzw. Anerkennung diözesaner öffentlicher kanonischer Vereine (vgl. c. 312 § 1 83 CIC/1983). Während der gesamtkirchliche Gesetzgeber den Bischöfen bzw. den Bischofskonferenzen also offenbar bei der Errichtung bzw. Anerkennung von Vereinigungen 11

Franziskus, Motu proprio Authenticum Charismatis, 01. 11. 2020, in: OR 160 (2020), n. 255, 04.11. 2020, S. 6; vgl. dazu auch Laurentius Eschlböck, Eine neuerliche Änderung im Ordensrecht. Das Motu proprio Authenticum Charismatis, in: Erbe und Auftrag 1/21, S. 104 – 107. 12 Vgl. Rescriptum ex audientia SS.MI: Rescritto del Santo Padre Francesco circa le associazioni pubbliche di fedeli in itinere (Anm. 2).

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gottgeweihter Jungfrauen ein eigenständiges und ausreichend reflektiertes Urteil zutraut, scheint dies bei der Errichtung eines Instituts des geweihten Lebens bzw. Gesellschaft des apostolischen Lebens, ja nicht einmal bei einer öffentlichen kirchlichen Vereinigung, welche mit der Perspektive gegründet wird, dass daraus einmal ein solches Institut entstehen könnte, nicht so zu sein. Zwar wird im Motu proprio „Authenticum Charismatis“ ausdrücklich festgehalten, dass das „Urteil über die Kirchlichkeit und die Vertrauenswürdigkeit der Charismen … der Autorität der Hirten der Teilkirchen“13 zusteht. Aber offensichtlich ist man auf Ebene der Gesamtkirche skeptisch, dass der zuständige Diözesanbischof tatsächlich „die Echtheit der inspirierenden Zielsetzung“ prüfen und „die übermäßige Vermehrung nahezu gleicher Institutionen“ vermeiden kann14. Letztlich wird auf gesamtkirchlicher Ebene damit argumentiert, dass bei der Errichtung eines solchen Instituts die damit verbundene kirchlichen Sendung und Stellenwert über den Rahmen einer Diözese15 hinausgeht, weshalb eine Beschränkung der Kompetenzen des Diözesanbischofs und Verankerung dieser Kompetenz auf gesamtkirchlicher Ebene angemessen sei. Die sachlichen Gründe für die unterschiedliche Bewertung und Behandlung der Errichtung bzw. Anerkennung von Vereinigungen gottgeweihter Jungfrauen und von Instituten des geweihten Lebens bzw. von Gesellschaften des apostolischen Lebens können vielleicht darin gefunden werden, dass im Fall letzterer einerseits ihre Ausbreitung oft nationale Grenzen überschreitet und es andererseits hierbei um die Prüfung eines bestimmten (neuen) Charismas geht, während es im Fall der gottgeweihten Jungfrauen nur um ihren Zusammenschluss geht. Sicherlich wird das Bestreben gottgeweihter Jungfrauen Vereinigungen zu bilden, ein eher überschaubares Phänomen bleiben, um es vorsichtig zu formulieren. Hingegen hat die Praxis hinsichtlich der Institute des geweihten Lebens gezeigt, dass so manchem zuständigen Bischof manchmal wohl der nüchterne und sachliche Blick fehlt, wenn es um die Überprüfung der notwendigen Voraussetzungen, des Nutzens für die Kirche und die Einordnung in bereits bestehende Strukturen gottgeweihten Lebens geht. Dennoch könnte die Frage gestellt werden, ob nicht auch hier konsequenterweise eine Dezentralisierung der Kompetenzen zugemutet werden müsste, vielleicht in dem Sinne, dass auf ortskirchlicher Ebene ein breiterer Evaluierungs- und Prüfungsprozess verankert wird.

13 Franziskus, Motu proprio „Authenticum Charismatis“ (Anm. 11); deutsche Übersetzung zitiert aus: https://www.vatican.va/content/francesco/de/motu_proprio/documents/papa-franc esco-motu-proprio-20201101_authenticum-charismatis.html [Zugriff: 24. 07. 2022]. 14 Vgl. Johannes Paul II., PostAAp Vita consecrata über das geweihte Leben und seine Sendung in Kirche und Welt, 25. 03. 1996, in: AAS 88 (1996), S. 377 – 486, dt. VApSt 125, hier Nr. 12. 15 Vgl. Franziskus, Motu proprio Authenticum Charismatis (Anm. 11).

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2. C. 686 § 1 CIC/1983 und c. 489 § 2 CCEO C. 686 § 1 CIC/1983 bzw. c. 489 § 2 CCEO handeln über die Gewährung eines Exklaustrationsindultes. Die Exklaustration bedeutet eine zeitweilige Aussonderung eines ewigen Professen aus dem kanonischen Lebensverband, die mit einer teilweisen Lockerung der Gelübde wie auch der Bindung an das Institut verbunden ist. D. h. durch die Exklaustration erfolgt keine endgültige Trennung oder Entlassung des Mitglieds und auch keine Dispens von den Gelübden (vgl. c. 687 CIC/1983/cc. 491, 548 § 2 CCEO). Die Gründe für die Beantragung16 einer Exklaustration können sehr vielfältig sein: Von der Auszeit für die Pflege eines schwerkranken Familienangehörigen, eine schwere Glaubenskrise oder die Prüfung eines Austritts. Jedenfalls bedarf es gemäß c. 686 § 1 CIC/1983 für die Bewilligung einer gewöhnlichen Exklaustration schwerwiegende Gründe. Durch das Motu proprio „Competentias quasdam decernere“ wird in c. 686 § 1 CIC/1983 bzw. c. 489 § 2 CCEO jene Zeitdauer geändert, für die die zuständige Instituts-interne Autorität aus schwerwiegenden Gründen eine Exklaustration gewähren kann: Waren es nach der bisherigen Regelung drei Jahre17, so sind es nach der Gesetzesänderung durch das Motu proprio nun fünf Jahre. Eine noch längere Zeitdauer der Exklaustration kann nur der Apostolische Stuhl bzw. im Fall diözesaner Institute der zuständige Diözesanbischof gewähren. Der CCEO schweigt hingegen über die Möglichkeit einer Verlängerung der Exklaustrationszeitdauer über fünf Jahre hinaus. Es stellt sich nun die Frage, was eine Verlängerung des möglichen Zeitrahmens für eine Exklaustration, den die Instituts-interne Autorität gewähren kann, mit dem Anliegen der Dezentralisierung zu tun hat. Zunächst könnte in den Sinn kommen, dass beim Apostolischen Stuhl bzw. beim Diözesanbischof oft um eine Verlängerung der Exklaustration angesucht werden musste, weil sich der Zeitraum von drei Jahren als zu kurz erwiesen hat, um den jeweiligen Gründen für die Exklaustration zu entsprechen. Mit der Ausweitung des Zeitrahmens könnte demzufolge dem Wunsch des Bittstellers einfacher und effizienter entsprochen werden. Hinzuweisen ist in diesem 16

Es gibt aber auch die (zwangsweise) auferlegte Exklaustration – vgl. c. 686 § 3 CIC/ 1983 bzw. cc. 490 und 548 CCEO. 17 Für Nonnen bestehen auch bezüglich der Möglichkeit einer Exklaustration Sonderregelungen: Bis vor kurzem stand die Gewährung des Exklaustrationsindultes für Nonnen allein dem Hl. Stuhl zu. In Abänderung von c. 686 § 2 CIC/1983 durch die Instruktion Cor orans gibt nun der Föderationsrat seine Zustimmung, wenn das Exklaustrationsindult einer Nonne mit feierlichem Gelübde nach dem einen Jahr, das die höhere Oberin des Klosters gewähren kann, bis zum Ablauf von drei Jahren verlängert werden soll (Cor orans Nrn. 130, 177, 178). Eine weitere Verlängerung darüber hinaus ist beim Apostolischen Stuhl zu beantragen. Für Mitglieder von Gesellschaften des apostolischen Lebens kann der supremus moderator ein Leben außerhalb der Gesellschaft für einen Zeitraum von drei Jahren gewähren (c. 745 CIC/1983). Dabei handelt es sich aber nicht um eine Exklaustration im rechtstechnischen Sinne. Dennoch wäre es vermutlich stringenter gewesen, auch diesen Zeitrahmen auf fünf Jahre auszudehnen.

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Zusammenhang auf das von der „Kongregation für die Institute des gottgeweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens“ veröffentlichte Dokument „Il dono della fedeltà: La gioia della perseveranza“18, das am 2. Februar 2020 in italienischer Sprache erschien. In den darin ausgeführten Leitlinien gestand die „Religiosenkongregation“ in der Nr. 71 dem obersten Leiter (supremus moderator) eines Instituts bereits die Möglichkeit zu, das Exklaustrationsindult für weitere drei Jahre verlängern zu können19. Es kann daher sein, dass durch die nunmehrige Änderung des c. 686 § 1 CIC/1983 bzw. c. 489 § 2 CCEO diese außergesetzliche Leitlinie ins allgemeine Recht einfließen sollte und man sich dabei auf eine Ausdehnung des Zeitrahmens auf fünf Jahre einigte. Aber der Fünfjahreszeitraum kann auch im Zusammenhang mit einem anderen, in der Praxis recht häufig vorkommenden, Sachverhalt gelesen werden: Eine nicht kodifizierte, aber als Verfahrensweg praktizierte Sonderform der Exklaustration für Kleriker kanonischer Lebensverbände ist die sogenannte „exclaustratio ad experimentum“. Hierbei erbittet der betreffende Kleriker in seinem Gesuch eigentlich nicht seine Exklaustration, sondern die Exkorporation bzw. Säkularisierung, um sich einem weltgeistlichen Inkardinationsverband eingliedern zu lassen. Die exclaustratio ad experimentum regelt die Rechtsstellung dieses säkularisierungswilligen Klerikers, dessen Inkardinationswechsel noch nicht endgültig vollzogen bzw. beendet ist, da der Exklaustrierte im Zuge des Verfahrens zur Umgliederung von einem episcopus benevolus zwar probeweise, aber eben noch nicht endgültig in seine Diözese aufgenommen wird: „Ist das Mitglied Kleriker, so wird das Indult [Dispens von den Gelübden – Anm. des Autors] nicht gewährt, bevor er einen Bischof gefunden hat, der ihn in seine Diözese inkardiniert oder zumindest probeweise aufnimmt. Bei probeweiser Aufnahme wird er nach Ablauf von fünf Jahren von Rechts wegen in die Diözese inkardiniert, sofern ihn der Bischof nicht zurückgewiesen hat“ (c. 693 CIC/1983; vgl. auch die cc. 494, 549 § 3 CCEO). Eine Zusammenschau mit diesen Canones lässt die Vermutung aufkommen, dass der Zeitraum von fünf Jahren nicht willkürlich gewählt wurde. Es handelt sich nämlich genau um jenen Zeitraum, der als Probezeit für einen Übertritt in eine Diözese längstens vorgesehen ist. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang aber, dass die Gewährung einer „exclaustratio ad experimentum“ eigentlich dem Apostolischen Stuhl vorbehalten und diese immer dann anzustreben ist, wenn der Grund der Exklaustration die Prüfung einer Umgliederung eines Ordensklerikers in einen weltgeistlichen Inkardinationsverband ist. Aber in der Praxis gibt es sicherlich auch immer wieder den Fall, dass ein Ordenskleriker zunächst eine gewöhnliche Exklaustration anstrebt und dabei einen Dienst in einer Diözese verrichtet. Entsteht erst im Zuge dieses Dienstes der Wunsch nach einer Umgliederung in den diözesanen Inkardinationsverband, dann würde sich in diesem Fall 18 Kongregation für die Institute des gottgeweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens, Il dono della fedeltà: La gioia della perseveranza (Vatikan 2020). 19 Ebd. (Anm. 18) 120: „Il Dicastero accorda al Moderatore Supremo la possibilità di concedere l’indulto per un nuovo triennio, quando siano passati almeno tre anni dalla scadenza precedente.“

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die fünfjährige Exklaustrationszeit mit der Maximalzeit einer probeweisen Aufnahme decken. Ob nun in Folge dieser Gesetzesänderung möglicherweise die bisherige Praxis der „exclaustratio ad experimentum“ umgangen wird, indem zunächst einfach um eine gewöhnliche Exklaustration für fünf Jahre angesucht wird und ein episcopus benevolus nach Ablauf der fünf Jahre den Ordenskleriker sofort in seine Diözese aufnimmt, bleibt abzuwarten. In diesem Fall müsste der Apostolische Stuhl bzw. der Diözesanbischof erst zu jenem Zeitpunkt angegangen werden, zu dem der Umgliederungswunsch und damit der Austritt des Klerikers aus dem Orden nach der fünfjährigen Zeit der Exklaustration feststeht und auch der episcopus benevolus bereit ist, jenen Kleriker endgültig in seine Diözese zu inkardinieren20. 3. C. 688 § 2 CIC/1983 und die cc. 496 §§ 1 – 2 und 546 § 2 CCEO In c. 688 § 2 CIC/1983 und in den cc. 496 §§ 1 – 2 und 546 § 2 CCEO, welche durch Art. 6 des Motu proprio „Competentias quasdam decernere“ modifiziert werden, geht es um den Austritt eines Professen mit zeitlichen Gelübden aus dem Institut. Austritt bezeichnet die Trennung vom Institut auf Initiative des betreffenden Mitglieds mit der Folge der Exkorporation und der Dispens von den Gelübden (c. 692 CIC/1983 bzw. cc. 493 und 549 CCEO). C. 688 § 2 CIC/1983 wurde nun so abgeändert, dass im Fall des Austritts eines zeitlichen Professen aus einem diözesanrechtlichen Institut zur Gültigkeit des Austrittsindults nicht mehr die Bestätigungspflicht durch den Diözesanbischof des Niederlassungsortes vorgesehen ist. Im Fall zeitlicher Professen rechtlich selbstständiger Klöster, die außer dem eigenen Oberen keinen weiteren Institutsoberen mehr über sich haben (vgl. c. 615 CIC/1983), bleibt hingegen die Bestätigungspflicht durch den Bischof des Niederlassungsortes zur Gültigkeit des Indults weiterhin aufrecht. Die Änderung des c. 688 § 2 CIC/1983 bewirkt demnach eine gewisse Verfahrenserleichterung und eine Stärkung der Kompetenzen des obersten Leiters (supremus moderator) eines diözesanrechtlichen Instituts. Die Aufrechterhaltung der Bestätigungspflicht des Indultes durch eine externe Instanz im Fall von Klöstern des c. 615 CIC/1983 macht aus Gründen der Sicherung des Rechtsschutzes zwar Sinn, ist aber angesichts der weiteren Änderungen, die durch das Motu proprio vorgenommen wurden, sachlich schwer nachzuvollziehbar. Im Fall des Austritts eines Mönches mit zeitlichen Gelübden war im katholischen Ostkirchenrecht bisher vorgesehen, dass dieser seine Bitte dem Oberen des Klosters 20 Das Dekret über die Inkardination ist nichtig, wenn es vor Gewährung des Austrittsindults ausgestellt wird – vgl. Kongregation für die Institute des gottgeweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens: Il dono della fedeltà (Anm. 18), Nr. 79. Erfolgt daher „nur“ eine probeweise Aufnahme in den weltgeistlichen Inkardinationsverband, dann wird in aller Regel vorerst ein Exklaustrationsindult gewährt, in dem unter anderem festgehalten wird, dass das Austrittsindult mit dem Inkardinationsdekret des aufnehmenden Bischofs Rechtskraft erlangt.

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eigenen Rechts vorzulegen hatte (c. 496 § 1 CCEO) und der Obere musste sodann diese Bitte gemeinsam mit seiner und seines Rates Stellungnahme an den Eparchialbischof weiterleiten, dem es – auch im Fall Klöster päpstlichen Rechts – zukam, das Austrittsindult zu gewähren, wenn nicht das Partikularrecht von Klöstern im Gebiet einer Patriarchalkirche dies dem Patriarchen vorbehalten würde (c. 496 § 2 CCEO). Durch das Motu proprio wurde c. 496 CCEO nun dergestalt verändert, dass § 2 gänzlich gestrichen wurde und der Obere eines Klosters eigenen Rechts mit der Zustimmung seines Rates das Indult selbst gewähren kann, außer das Partikularrecht von Klöstern, die innerhalb des Gebietes einer Patriarchalkirche liegen, würde dies wiederum dem Patriarchen vorbehalten. Im Bereich des ostkirchlichen Rechts sind Mönche meist in „Klöstern eigenen Rechts“ organisiert: „Kloster eigenen Rechts ist ein solches, das nicht von einem anderen Kloster abhängig ist und von einem eigenen, von der zuständigen Autorität genehmigten Typikon geregelt wird“21 (c. 433 § 2 CCEO). Diese Klöster sind nicht zu Verbänden bzw. Kongregationen zusammengeschlossen und deshalb gibt es für diese Klöster in der Regel keinen übergeordneten Ordens-internen Oberen, auf den in kirchenrechtlichen Verfahren zurückgegriffen werden könnte. Im Fall der Orden und Kongregationen22 hingegen, die im Ostkirchenrecht von den Mönchen unterschieden werden, stellt sich die Lage etwas anders dar, denn hier gibt es in der Regel sehr wohl Zusammenschlüsse mehrerer Klöster. Daher obliegt es in diesen Fällen dem Generaloberen (Superior generalis) zusammen mit seinem Rat, das Austrittsindult für einen zeitlichen Professen zu gewähren (c. 546 § 2 CCEO). Weggefallen ist hier durch die Änderungen des Motu proprio allerdings wieder die Bestimmung, dass im Fall von Mitgliedern von Kongregationen eparchialen Rechts das Austrittsindult, damit es gültig ist, vom Eparchialbischof der Hauptniederlassung bestätigt werden muss. Während nun die Neuregelung des c. 546 § 2 CCEO im Gesamt der Neuerungen durch das Motu proprio durchaus nachvollzogen werden kann, da es hier eine übergeordnete Instanz gibt, die in das Verfahren eingebunden wird, fällt dies mit Blick auf c. 496 CCEO insofern etwas schwerer, da hier jegliche externe bzw. übergeordnete Instanz im Dispensverfahren fehlt. Natürlich könnte argumentiert werden, dass es hier „bloß“ um die Trennung eines Mitgliedes mit zeitlichen Gelübden und auf seine eigene Initiative hin geht und insofern die Sicherstellung des Rechtsschutzbedürfnisses keine Priorität besitzt. Andererseits gibt es in der Praxis leider durchaus Fälle, in denen Ordensmitgliedern nicht immer aus lauteren Motiven ein Austritt „nahegelegt“ wird. Vor allem mit Blick auf solche Fälle wäre ein Verfahren – unter Ein21 Deutsche Übersetzung zitiert nach: Ludger Müller (Hrsg. und Übersetzer unter Mitarbeit von P. Martin Krutzler), Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium. Kodex der Kanones der Orientalischen Kirchen in lateinisch-deutscher Ausgabe (2020). 22 Die Unterscheidung zwischen Orden und Kongregationen wurde im CIC/1983 aufgegeben, dennoch werden auch in der Praxis des lateinischen Rechtsbereiches de facto nach wie vor Orden und Kongregation unterschieden, wie bspw. ein Blick in das Annuario Pontificio zeigt.

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bindung einer übergeordneten bzw. externen Instanz – wünschenswert gewesen. Das Anliegen einer Dezentralisierung und einer Stärkung der Kompetenz der jeweiligen Oberen wird durch die aufgezählten Gesetzesänderungen aber erreicht. Dennoch ist die unterschiedliche Behandlung von Klöstern, die im CIC/1983 unter c. 615 CIC/ 1983 zu subsumieren sind und den Klöstern eigenen Rechts des CCEO, die außer dem eigenen Oberen des Klosters ja ebenso keinen anderen Instituts-eigenen höheren Oberen über sich haben, nicht wirklich einsichtig. Vermutlich spielt bei dieser Ungleichbehandlung das Selbstverständnis und die Tradition des Mönchstandes im Ostkirchenrecht eine wichtige Rolle. 4. Cc. 699 § 2 und 700 CIC/1983 sowie cc. 499, 501 § 2 und 552 § 1 CCEO Nicht nur die Kompetenzen bei der Gewährung eines Austrittsindults für zeitliche Professen wurden durch das Motu proprio verändert, sondern auch diejenigen hinsichtlich der Entlassung eines Mitglieds. Entlassung bezeichnet die zwangsweise Trennung eines Mitglieds vom Institut, mit der Folge seiner Exkorporation und Aufhebung der Gelübdeverpflichtung. Betroffen von den Gesetzesänderungen sind die cc. 699 § 2 und 700 CIC/1983 sowie cc. 499, 501 § 2 und 552 § 1 CCEO. Gemäß dem neuen c. 699 § 2 CIC/1983 entscheidet im Fall rechtlich selbständiger Klöster im Sinne des c. 615 CIC/1983 nicht mehr der Diözesanbischof des Niederlassungsortes über die Entlassung eines Professen, sondern der höhere Obere des Klosters selbst mit Zustimmung seines Rates. In c. 700 CIC/1983 geht es um die Ausstellung des Entlassungsdekrets. Die Änderung des Canons durch das Motu proprio sieht nun vor, dass das ausgestellte Entlassungsdekret in allen Fällen – egal ob es sich um ein Institut päpstlichen oder diözesanen Rechts oder um ein Kloster gemäß c. 615 CIC/1983 handelt – bereits dann Rechtskraft erhält, sobald es dem Betroffenen rechtmäßig zur Kenntnis gebracht wird, unbeschadet der Möglichkeit einer Beschwerde gegen das Dekret, welcher aufschiebende Wirkung zukommt. Im Codex der katholischen Ostkirchen wurde c. 499 CCEO in der Weise abgeändert, dass im Fall einer Entlassung eines zeitlichen Professen aus einem Kloster eigenen Rechts der Eparchialbischof oder der Patriarch das Entlassungsdekret zu seiner Gültigkeit nicht mehr bestätigen muss, es sei denn, das Eigenrecht von Klöstern, die innerhalb des Territoriums einer Patriarchalkirche liegen, würde anderes vorsehen. Interessanterweise war die Entlassung von Mitgliedern mit ewigen Gelübden im CCEO auch bisher schon so geregelt, dass im Fall nichtkonföderierter Klöster eigenen Rechts der Obere gemeinsam mit seinem Rat, der zusammen mit dem Oberen als Vorsitzendem aus zumindest fünf Mitgliedern bestehen muss, über die Entlassung eines Mitglieds seines Klosters mit ewigen Gelübden in geheimer Abstimmung entscheidet. Im Fall föderierter Klöster eigenen Rechts entscheidet jedoch der Präses der monastischen Konföderation mit seinem Rat über die Entlassung eines Mitglieds mit ewigen Gelübden (vgl. c. 500 § 1 CCEO).

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Gegen das Entlassungsdekret kann das betreffende Mitglied innerhalb von fünfzehn Tagen mit aufschiebender Wirkung entweder Rekurs einlegen oder fordern, dass der Fall auf dem Rechtsweg behandelt wird (c. 501 § 2 CCEO). Eine Bestätigung des Entlassungsdekrets durch den Apostolischen Stuhl ist nun nicht mehr vorgesehen. C. 552 § 1 CCEO betrifft die Entlassung eines Mitglieds mit zeitlichen Gelübden aus einem Orden oder einer Kongregation des ostkirchlichen Rechts. Hier ist die Rede davon, dass der „Generalobere“ mit Zustimmung seines Rates ein Mitglied mit zeitlichen Gelübden entlassen kann. Weggefallen ist durch die Neuregelung des Motu proprio die Möglichkeit, die Entlassung eines zeitlichen Professen im Eigenrecht auch dem Eparchialbischof oder einer anderen Autorität vorzubehalten. Eigenrecht, welches dies bisher so vorsah, müsste daher der Neuregelung entsprechend angepasst werden. Wie sind diese Gesetzesänderungen im CIC/1983 bzw. CCEO bezüglich der Entlassung eines Mitglieds nun zu bewerten? Das Entlassungsdekret musste, damit es gültig war, bisher von einer externen Autorität bestätigt werden. Der Päpstliche Rat für die Gesetzestexte hatte in einer Responsio ad dubia23 zudem darauf hingewiesen, dass dem betroffenen Mitglied das Entlassungsdekret erst nach dieser Bestätigung mitgeteilt werden darf. Dieser Umstand konnte für das betroffene Mitglied eventuell zu einer längeren Zeit der Ungewissheit über den Ausgang des Verfahrens führen. Nicht unproblematisch war auch, dass im Fall der Institute päpstlichen Rechts das Dikasterium für die Institute geweihten Lebens und für die Gesellschaften apostolischen Lebens, das ja bereits bei der Bestätigung des Entlassungsdekrets involviert war, für die Behandlung des Rekurses gegen das Entlassungsdekret zuständig ist24. Ein gerichtliches Urteil durch die Apostolische Signatur konnte erst danach erwirkt werden, wodurch das Verfahren ebenso nochmal in die Länge gezogen werden konnte. Die neue Regelung durch das Motu proprio „Competentias quasdam decernere“ verzichtet im Fall der Entlassung eines Mitglieds nun auf die Bestätigung des Dekrets durch eine Instituts-externe Instanz. Einerseits bringt diese Neuregelung zwar eine Stärkung des jeweiligen Institutsoberen mit sich und insofern auch eine gewisse Dezentralisierung im Vergleich zu den Regelungen davor und ebenso wird eine Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens erreicht; andererseits ergeben sich dadurch für die jeweils Betroffenen auch erhebliche Nachteile, insbesondere aus Sicht ihres Rechtsschutzes25. Fragwürdig scheinen insbesondere jene Regelun23

PCI, Responsio ad dubia vom 21. 03. 1986, in: AAS 78 (1986), S. 1323. Ebd. 25 Laurentius Eschlböck schreibt in Erbe und Auftrag, dass bisher „über 60 % (!) der Entlassungsdekrete aufgrund von formalen Fehlern oder von inhaltlicher Ungerechtigkeit ungültig“ waren. „Daher stellt sich die Frage, ob diese Vereinfachung des Rechts durch Dezen24

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gen zu sein, in denen der eigene höhere Obere des Mitglieds gemeinsam mit seinem Rat über die Entlassung entscheidet und keine externe oder übergeordnete Instanz standardmäßig in den Entlassungsprozess eingebunden ist. Man könnte gegen diese Rechtsschutzbedenken einwenden, dass dem Betroffenen ja immer die Möglichkeit einer Beschwerde offensteht. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass bspw. nicht immer ein geeigneter Rechtsberater zur Verfügung steht, der den Betroffenen hierbei unterstützen könnte. Es kann in der Praxis durchaus vorkommen, dass eine Beschwerde aufgrund mangelndem Rechtsverständnisses oder Überforderung unterbleibt; und in nicht seltenen Fällen wird das Institut hier dem Betroffenen in rechtswidriger Weise jede Form der Unterstützung vorenthalten oder verweigern. Gerade bei der Entlassung, die ja gegen den Willen eines Mitglieds geschieht, wäre es zur Wahrung eines ausreichenden Rechtsschutzes ratsam und gut gewesen, die routinemäßige Überprüfung des Entlassungsdekrets durch eine externe bzw. übergeordnete Instanz beizubelassen und nicht erst im Zuge eines Beschwerdeverfahrens zu implementieren. Eine solche standardisierte Überprüfung des Dekrets könnte sicherlich auch dezentral organisiert werden. Mit Blick auf die gelebte Rechtspraxis darf jener Effekt nicht unterschätzt werden, der dadurch erzeugt wird, dass ein solch schwerwiegendes Dekret von einer dritten Instanz routinemäßig überprüft wird. Die bloße Möglichkeit der Beschwerde wirkt dagegen sicherlich nicht den gleichen Effekt. Die Gesetzesänderungen durch das Motu proprio erzeugen zudem eine weitere Schieflage. Dabei geht es um die unterschiedliche Behandlung von Klöstern im Sinne des c. 615 CIC/1983: Geht es um das vom zeitlichen Professen beantragte Austrittsindult, dann muss dieses zu seiner Gültigkeit weiterhin vom Diözesanbischof des Niederlassungsortes bestätigt werden, während c. 699 § 2 CIC/1983 so abgeändert wurde, dass bei der Entlassung eines Mitglieds keine Mitwirkung des Diözesanbischofs mehr vorgesehen ist. Diese unterschiedliche Handhabung erscheint umso seltsamer, als die Entlassung eines Mitglieds ja den weit delikateren Sachverhalt darstellt. Diese Schieflage verschärft sich noch, wenn die Regelungen im CIC/1983 mit denjenigen im CCEO für die Klöster eigenen Rechts verglichen werden. Hinsichtlich des CCEO war der Gesetzgeber – vorbehaltlich der oben genannten Bedenken hinsichtlich der Wahrung des Rechtsschutzes – wenigstens konsequent und hat den höheren Oberen von Klöstern eigenen Rechts diese Kompetenzen zugewiesen, unabhängig davon, ob es sich um föderierte oder nicht-föderierte Klöster handelt, mit der einzigen Ausnahme der Möglichkeit einer anderen Regelung im Eigenrecht von Klöstern eigenen Rechts in einer Patriarchalkirche. Insgesamt entsteht dadurch der Anschein, als ob im Fall des c. 688 § 2 die Streichung des „Sonderfalles“ der Klöster im Sinne des c. 615 CIC/1983 versehentlich unterblieben ist.

tralisierung auch zur notwendigen Rechtssicherheit beiträgt“ – Laurentius Eschlböck, Zwei neue Motu Proprien, in: EuA 98 (2022), S. 188 – 193, hier S. 191.

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II. Das Motu proprio „Recognitum librum VI“ Die Reform des Buches VI im CIC/1983 durch die Apostolische Konstitution „Pascite gregem Dei“26 vom 23. Mai 2021 hat kürzlich auch zu einer Anpassung im Bereich des Ordensrechts geführt, konkret des c. 695 § 1 CIC/1983. In diesem Canon geht es um die Entlassung eines Mitglieds aus einem Religioseninstitut. Für Mitglieder von Säkularinstituten und Gesellschaften des apostolischen Lebens ist c. 695 CIC/1983 durch die jeweilige Verweisnorm (cc. 729 bzw. 746 CIC/ 1983) ebenso relevant. Schon im „Schema recognitionis libri VI Codex Iuris Canonici“ (2011)27 war aufgrund der Neugestaltung des kirchlichen Sanktionsrechts eine Änderung des c. 695 § 1 CIC/1983 a. F. vorgesehen; diese Änderung ist zwar mit der Veröffentlichung der Sanktionsrechtsreform durch „Pascite gregem Dei“ unterblieben, wurde nun aber durch das Motu proprio „Recognitum librum VI“28 nachgeholt. Je nachdem, welche Gründe für die Entlassung des Mitglieds vorliegen, sind im CIC/1983 drei unterschiedliche Verfahrensweisen für die Entlassung eines Mitglieds vorgesehen. In c. 694 CIC/1983 werden taxativ all jene Tatbestände aufgezählt, bei deren Verwirklichung ein Mitglied ipso facto, also schon kraft zurechenbarer Vollendung des Tatbestands, aus dem kanonischen Lebensverband zu entlassen ist. In diesen Fällen braucht der zuständige höhere Obere die Tatsache der Entlassung nur noch festzustellen. In c. 695 CIC/1983 wird sodann auf jene Straftatbestände verwiesen, bei deren Vollendung durch ein Ordensmitglied in der Regel obligatorisch ein Entlassungsverfahren einzuleiten ist. Und schließlich werden in c. 696 CIC/ 1983 in exemplarischer Art und Weise schwerwiegende Gründe aufgelistet, welche die Einleitung eines Entlassungsverfahrens eines Ordensmitglieds durch den zuständigen höheren Oberen rechtfertigen können. Das Motu proprio „Recognitum librum VI“ bezieht sich demnach konkret auf jene Umstände, die obligatorisch die Einleitung eines Entlassungsverfahrens vorsehen. Die Straftatbestände, auf die hier verwiesen wird, betrafen in der alten Fassung des Buches VI die cc. 1397, 1398 und 1395 CIC/1983 (in dieser Reihenfolge in c. 695 § 1 CIC/1983 a. F. genannt). Diese Canones behandelten Delikte gegen das fünfte und sechste Gebot des Dekalogs, wie Mord, Entführung, Menschenraub, Verstümmelung, schwere Körperverletzung und weitere Tötungsdelikte. Schon in der alten Fassung des c. 695 § 1 CIC/1983 war vorgesehen, dass der höhere Obere in den Fällen der in c. 1395 § 2 CIC/1983 a. F. genannten Delikte nicht zwingend ein Entlassungsverfahren einleiten musste, nämlich dann, wenn er zur Ansicht gelangte, „dass für die Besserung des Mitglieds, für die Wiederherstellung der Gerechtigkeit und für die Wiedergutmachung des Ärgernisses anderweitig hinreichend gesorgt werden kann“ (c. 695 § 1 CIC/1983 a. F.). 26

Franziskus, Apostolische Konstitution Pascite gregem Dei (Anm. 3). PCLT, Schema Recognitionis Libri VI Codicis Iuris Canonici (reservatum), (Vatikan 2011); abgedruckt in: Matthias Pulte (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung (= KStKR 25), (Paderborn 2017), S. 209 – 233. 28 Franziskus, Motu proprio Recognitum Librum VI (Anm. 4). 27

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Der durch das Motu proprio „Recognitum librum VI“ modifizierte Text des c. 695 § 1 CIC/1983 n. F. nennt – nun aber in numerischer Reihenfolge – wiederum die cc. 1395, 1397 und 1398 CIC/2021, bei deren Vollendung obligatorisch die Einleitung eines Entlassungsverfahrens des Ordensmitglieds vorgesehen ist. Von dieser Verpflichtung kann der höhere Obere im Fall der cc. 1395 §§ 2 – 3 und 1398 § 1 CIC/2021 wiederum absehen, wenn er zur Ansicht gelangen sollte, dass anderweitig für die Erreichung der genannten Ziele ausreichend Sorge getragen werden kann. Ein grober Vergleich der cc. 1395 – 1398 CIC/1983 a. F. mit den cc. 1395 – 1398 CIC/ 2021 zeigt, dass der Normgehalt von c. 1398 CIC/1983 a. F. in c. 1397 § 2 CIC/ 2021 verschoben wurde und c. 1395 § 2 CIC/1983 a. F. in detaillierter Art und Weise neu ausformuliert wurde. Aber es finden sich in c. 1398 § 1 Nrn. 2 und 3 CIC/2021 auch Deliktstatbestände, welche in der alten Fassung des Buches VI. nicht enthalten und davor – zumindest teilweise – nur über außerkodikarische Sanktionsnormen erfasst waren (vgl. die Normen über die „delicta graviora“). Auf die inhaltlichen Neuerungen und Nuancen dieser Änderungen im Sanktionsrecht kann aber an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert mehr der Umstand, dass in den cc. 1395 §§ 2 – 3 und 1398 § 1 CIC/ 2021 nur Kleriker als Täter der Delikte genannt werden. Heißt dies nun, dass über die Verweisnorm des c. 695 § 1 CIC/1983 nur Ordenskleriker als Täter oder aber auch als „Begünstigte“ im Sinne des dem höheren Oberen zugemessenen Ermessensspielraums in Frage kommen? Aus sachlichen Gesichtspunkten gibt es hierfür keinerlei Anhaltspunkte, die eine solche Differenzierung rechtfertigen würden29. C. 695 § 1 CIC/1983 wendet sich ohne jede Differenzierung ganz allgemein an die Mitglieder („sodalis“); daraus wird ersichtlich, dass es dem Gesetzgeber offenbar um das jeweilige vollendete Delikt geht, unabhängig davon, ob es von einem klerikalen oder laikalen Verbandsmitglied verübt wurde. Schon in der Vergangenheit wurde bezüglich c. 695 § 1 CIC/1983 öfters Unverständnis darüber geäußert, dass im Fall der genannten Delikte dem jeweiligen Oberen ein Ermessenspielraum hinsichtlich der Einleitung eines Entlassungsverfahrens zugestanden wurde. Es erscheint auf den ersten Blick skandalös, wenn ein Verbandsmitglied zwar aufgrund eines eheähnlichen Verhältnisses gemäß c. 1395 § 1 CIC/ 2021 obligatorisch entlassen werden muss, während das bspw. bei Begehung eines sexuellen Missbrauchsdeliktes an einem Minderjährigen oder unter Anwendung von Gewalt nicht notwendigerweise der Fall sein muss. Ist das nicht Barmherzigkeit am völlig falschen Ort? Es ist in Erinnerung zu rufen, dass die Sanktionsrechtsreform des Buches VI insbesondere auch davon geprägt ist, dass unbestimmte Sanktionen in bestimmte bzw. fakultative Sanktionsmaßnahmen in obligatorische umgewandelt wurden, um ihre Anwendung besser sicherzustellen. Den zuständigen Hirten sollte damit vor allem die schwierige Last der Abwägung genommen werden, 29 Vgl. dazu auch das Motu proprio Vos estis lux mundi, das ebenso für alle Mitglieder der Institute des geweihten Lebens oder Gesellschaften des apostolischen Lebens gilt – Franziskus, Motu proprio Vos estis lux mundi, in: OR 159 (2019), n. 106, 10.05. 2019, S. 10 (= AAS 111 [2019], S. 823 – 832).

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die in der Praxis nicht selten zu einem gewissen Rechtfertigungsdruck führte. Zwar ist die obligatorische Entlassung, wie sie in c. 695 CIC/1983 vorgesehen ist, keine Sanktion im Sinne des Buches VI, sondern eine verwaltungsrechtliche Maßnahme, wie jüngst das Vademecum „Zu einigen Fragen in den Verfahren zur Behandlung von Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker“30 vom 5. Juni 2022 explizit festgehalten hat. Aber ein gewisser sanktionierender Charakter des Entlassungsverfahrens ist dennoch evident, insbesondere in Anbetracht jener Bedingungen, unter denen der Obere zur Ansicht gelangen kann, dass von der Einleitung des Entlassungsverfahrens abgesehen werden kann: die Besserung des Täters, die Wiederherstellung der Gerechtigkeit und die Wiedergutmachung des Ärgernisses; diese Bedingungen sind typische Sanktionsziele des kanonischen Sanktionsrechts. Es bleibt die Frage, warum an der Stelle des c. 695 § 1 CIC/1983 dem zuständigen höheren Oberen vom Gesetzgeber weiterhin ein Ermessensspielraum eingeräumt wird. Zunächst muss festgestellt werden, dass es beim Zugeständnis des Ermessensspielraums in c. 695 CIC/1983 nicht um einen Verzicht jeglicher Konsequenzen geht, sondern um alternative Wege, wie die genannten „Ziele“ erreicht werden könnten. Zweifelsohne ist die Entlassung des Mitglieds aus dem Institut bei Verwirklichung der genannten Tatbestände nach Vorgabe des Gesetzgebers zunächst als Regelfall anzusehen. Die Formulierung „satis alio modo consuli posse“ in c. 695 § 1 CIC/ 1983 scheint dennoch etwas missverständlich zu sein, da sie irgendwie suggeriert, dass mit der Entlassung des Mitglieds die genannten Ziele auf jeden Fall erreicht werden würden; dies kann jedoch bezweifelt werden. Der richtigere Zugang ist wohl, die drei genannten Zielsetzungen als Mindestvoraussetzungen dafür zu verstehen, dass der höhere Obere über eine Absehung von der Entlassung des Mitglieds nachdenken kann, weil hinreichend für die Besserung des Täters, die Wiederherstellung der Gerechtigkeit und die Wiedergutmachung des Ärgernisses gesorgt werden kann. Sicherlich ist der höhere Obere aber in der Pflicht, diese Ansicht ausreichend zu begründen und die Verwirklichung dieser Bedingungen sicherzustellen. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob sich der betroffene Mitbruder in einer etwaigen Beschwerde gegen das Entlassungsdekret darauf stützen könnte, dass der höhere Obere den vom Gesetzgeber zugestandenen Ermessensspielraum nur unzureichend erwogen und berücksichtigt hat. Hinter der Gewährung der Ermessensregelung des c. 695 § 1 CIC/1983 steht vermutlich die Erfahrung, dass es manchmal sinnvoller sein kann, wenn ein straffälliger Ordensangehöriger nicht auf die „Straße“ gesetzt wird, sondern in dem ihm bekannten sozialen Gefüge verbleiben kann; denn dort kann möglicherweise am besten dafür Vorsorge getroffen werden, dass der Täter nicht noch einmal straf- bzw. rück30 Dikasterium für die Glaubenslehre, Vademecum zu einigen Fragen in den Verfahren zur Behandlung von Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker, Ver. 2.0 vom 05.06. 2022, hier Nr. 8 a: „Diese Entlassung ist nicht eine Strafe, sondern ein Verwaltungsakt des Obersten Leiters.“ Dt. Fassung zitiert aus: https://www.vatican.va/roman_curia/congregati ons/cfaith/ddf/rc_ddf_doc_20220605_vademecum-casi-abuso-2.0_ge.html [Zugriff: 13. 08. 2022].

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fällig wird. Realistischerweise sollte aber die Belastung, die dadurch für die jeweilige Gemeinschaft entsteht, nicht unterschätzt werden. Zudem sollte bedacht werden, dass es zum Gelingen des „alternativen“ Weges im Umfeld des Täters effektive und gute Kontrollmechanismen geben muss, welche die Erreichung der genannten Zielsetzungen tatsächlich sicherstellen. Mit der Gewährung des Ermessensspielraums ist eine Stärkung der Kompetenz des jeweiligen höheren Oberen des Instituts verbunden, wenngleich es in den cc. 1395 §§ 2 – 3 und 1398 § 1 CIC/2021 hauptsächlich um Delikte geht, deren Behandlung ohnehin dem Dikasterium für die Glaubenslehre obliegt. Insofern können hier höhere Obere zwar unter der Einhaltung der Bedingungen des c. 695 § 1 CIC/ 1983 ihre Ansicht äußern, dass aus ihrer Sicht nicht zwingend eine Entlassung aus dem Institut notwendig wäre, diese aber in der Praxis wohl meist nur in Rücksprache mit dem Dikasterium für die Glaubenslehre tatsächlich in die Tat umsetzen. III. Das Reskript von Papst Franziskus über die Derogation von c. 588 § 2 CIC/1983 „Der Stand des geweihten Lebens ist seiner Natur nach weder klerikal noch laikal“, so stellt dies c. 588 § 1 CIC/1983 nüchtern fest. Dennoch sind alle bestehenden Institute entweder als „klerikal“ oder „laikal“ zu definieren. Diese Definitionspflicht wird von einigen Instituten kritisiert, da sie sich aufgrund ihres Gründungscharismas eher als „indifferente“ Institute verstehen, die weder den klerikalen noch den laikalen Aspekten ihres Auftrages einen Vorrang einräumen möchten. Ein klerikales Institut wird in c. 588 § 2 CIC/1983 dadurch definiert, dass es „aufgrund des von seinem Stifter gewollten Zieles oder Vorhabens oder kraft seiner rechtmäßigen Überlieferung unter der Leitung von Klerikern steht, die Ausübung der heiligen Weihe vorsieht und von der kirchlichen Autorität als solches anerkannt ist“. Diese Festlegung hat zur Folge, dass in klerikalen Instituten ein Kleriker in die Leitung des Instituts zu bestellen ist. Papst Franziskus hat in der Audienz vom 11. Februar 2022 dem Dikasterium für die Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens nun die Vollmacht erteilt, nach eigenem Ermessen und in Einzelfällen, sowie in Abweichung von c. 588 § 2 CIC/1983 und des jeweiligen Eigenrechts, klerikalen Ordensinstituten päpstlichen Rechts und klerikalen Gesellschaften des apostolischen Lebens päpstlichen Rechts der lateinischen Kirche die Möglichkeit zu gewähren, nichtklerikale Mitglieder in das Amt des höheren Oberen bestellen zu können, unbeschadet des c. 134 § 1 CIC/198331. Was die Zuständigkeiten für die Bestellung anbelangt, wird im Reskript zum einen unterschieden, ob es sich um einen Ortsoberen (superior localis) handelt, 31 Vgl. Rescriptum ex audientia SS.MI: Rescritto del Santo Padre Francesco circa la deroga al can. 588 § 2 (Anm. 5).

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um einen höheren Oberen (superior maioris) oder den höchsten Oberen (supremus moderator) eines Instituts. Ein laikales Mitglied eines Instituts des geweihten Lebens oder einer Gesellschaft des apostolischen Lebens päpstlichen Rechts kann durch den obersten Leiter des Instituts mit Zustimmung seines Rates zum Ortsoberen ernannt werden. Bei der Ernennung eines laikalen Mitglieds zum höheren Oberen ist ein Antrag des obersten Leiters mit Zustimmung seines Rates an das Dikasterium und von diesem eine schriftliche Genehmigung notwendig. Wird ein laikales Mitglied eines Instituts des geweihten Lebens oder einer Gesellschaft des klerikalen Apostolischen Lebens päpstlichen Rechts gemäß der im Eigenrecht vorgesehenen Modalitäten zum obersten Leiter oder zum höheren Oberen gewählt, ist eine Bestätigung der Wahl durch schriftliche Genehmigung des Dikasteriums für die Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens notwendig. In den beiden letztgenannten Fällen behält sich das Dikasterium das Recht vor, den Einzelfall und die vom obersten Leiter oder vom Generalkapitel angeführten Gründe zu überprüfen. In der Praxis wurde in besonderen Einzelfällen schon bisher vom Erfordernis der Weihe in Leitungsämtern eines klerikalen Instituts päpstlichen Rechts dispensiert. Dennoch galt dieser Umstand als eher inopportun und aus kirchenrechtlicher Sicht nicht ganz unumstritten. Nun hat der Papst die Bestellung eines laikalen Mitglieds zum Oberen in einem klerikalen Institut päpstlichen Rechts als Möglichkeit für den Einzelfall kommuniziert. Die Ausführungen des Reskripts zu den Modalitäten der Bestellung eines Laien zum Oberen in einem klerikalen Institut machen aber deutlich, dass die vom Papst gewährte Vollmacht wohl als Ausnahmeregelung zu verstehen ist. Das Reskript äußert sich nicht hinsichtlich klerikaler Institute diözesanen Rechts32. Das Reskript von Papst Franziskus ist wohl insgesamt als Teil seines Bemühens zu verstehen, verschiedene Leitungsämter in der Kirche für Laien zu öffnen. In Anbetracht von c. 129 § 1 CIC/1983, der festlegt, dass nur Kleriker als Träger der kirchlichen Leitungsgewalt in Frage kommen, während Laien bei ihrer Ausübung mitwirken können, wirft dieses Bestreben des Papstes, aber konkret auch die nun gewährte Ausnahmeregelung von c. 588 § 2 CIC/1983 bzw. des jeweiligen Eigenrechts, viele Fragen auf, die in der Kirchenrechtswissenschaft noch zu klären sein werden. Fest steht, dass der Papst durch dieses Vorgehen eine Neubewertung bzw. Neueinordnung der Leitungsgewalt herausfordert.

32 Der Diözesanbischof kann innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs mittels Dispens für ein diözesanes Institut in diesem Sinne tätig werden.

Vermögensaufsicht im Rahmen von Visitationen im Bereich des Ordensrechts Matthias Pulte Kanonische Visitationen gehören im Bereich des Ordensrechts, wie auch sonst im Kirchenrecht, zu den ganz normalen, sich turnusmäßig wiederholenden Vorgängen, die zumeist das gesamte Leben der Ordensgemeinschaft umfassen. Sie dienen der Überwachung von Klöstern und Provinzen in sachlicher und persönlicher Hinsicht, der Beseitigung etwaiger Missstände und schließlich der Aufrechterhaltung und Förderung der klösterlichen Disziplin.1 Reinhold Sebott betont unter Verweis auf die Schutzbestimmung des c. 2413 § 1 CIC/1917, dass Visitationen für die betroffene Gemeinschaft, aber sicherlich auch für den Visitator eine heikle Angelegenheit seien.2 Das gilt sowohl in persönlicher als auch in sachlicher, sowie wirtschaftlicher Hinsicht, insbesondere, wenn Aspekte betroffen sind, welche die iusta autonomia des Instituts gem. can. 586 CIC/1983 tangieren. Bisweilen wird die Ansicht vertreten, dass die Grenze der Aufsichtsmöglichkeiten und -rechte der Visitatoren das Beichtgeheimnis sei. Das wird für den Bereich der spiritualibus zweifellos zutreffen. Ob dies auch für den Bereich der temporalibus, näherhin auf jedwede wirtschaftlichen Aktivitäten von Ordensgemeinschaften gilt, soll an dieser Stelle näher in den Blick genommen werden. Sicherlich muss bei dieser Frage auch noch nach der Rechtsnatur des jeweiligen Instituts des Geweihten Lebens unterschieden werden und danach, wer hier die für die Visitation zuständige kirchliche Autorität darstellt. Wir unterscheiden im Folgenden die Vermögensaufsicht über Klöster in monastischen Verbänden, in zentralistisch organisierten Instituten päpstlichen Rechts und in Instituten bischöflichen Rechts. I. Grundlegende Bestimmungen des CIC/1983 Bevor auf die unterschiedlichen Spezialitäten der vermögensrechtlichen Visitation von monastischen Instituten päpstlichen Rechts und Instituten diözesanen Rechts eingegangen werden kann, sind die für beide gemeinsamen kodikarischen Grundbestimmungen in den Blick zu nehmen.

1 Bruno Primetshofer, Ordensrecht, Freiburg 1988, 102; Reinhold Sebott, Das neue Ordensrecht, Kevelaer 1988, 65. 2 Sebott, Ordensrecht (Anm. 1), 65.

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1. Die „gebührende Autonomie“ der Institute gem. c. 586 § 2 CIC Die in c. 586 § 2 formulierte iusta autonomia der Institute des geweihten Lebens ist in dieser Klarheit neu in den CIC/1983 aufgenommen worden. Damit hat der kirchliche Gesetzgeber ein klares Statement zugunsten der Eigenständigkeit der Institute des geweihten Lebens in ihren eigenen Angelegenheiten gesetzt, das freilich eingehegt ist in die universal- und teilkirchlichen Aufsichtsrechte, wie sie auch sonst im kanonischen Recht für alle kirchlichen Körperschaften bestehen. Um die verfassungsrechtliche und disziplinarrechtliche Bedeutung dieser Norm hervorzuheben, sprach Audomar Scheuermann sogar von einem ordensrechtlichen Grundrecht.3 Es hat vor allem in c. 615 CIC/1917 sein Vorbild, der die Exemtion der Regularen4 feststellt, die mit Einschränkungen auch für die Mitglieder diözesanrechtlicher Institute gegolten hat.5 Während diese Bestimmung dem Wortlaut gemäß, die einzelnen Ordensleute dieser Gruppe in den Blick nahm, erfolgt nun mit c. 586 ein Perspektivenwechsel, der die Autonomie des Instituts, unabhängig von seinem Status nach universalem oder diözesanem Recht und damit mittelbar die der Sodalen feststellt. Nicht nur, aber auch aus diesem Grund ist es nach 1983 erforderlich geworden, die eigenrechtlichen Bestimmungen der Institute des Geweihten Lebens an die neue Rechtslage anzupassen. Es handelt sich um eine autonomia in ecclesia, denn sie gilt sowohl gegenüber dem Hl. Stuhl als auch gegenüber den Ortsbischöfen.6 Sie hat ihren rechtsgeschichtlichen Hintergrund in der Anerkennung der internen sowie der wirtschaftlichen Autonomie (Art. 9 CC) der Institute durch die Apostolischen Konstitution Conditae a Christi für die Religioseninstitute mit einfachen Gelübden von Papst Leo XIII.7 Diese Regelung wurde von Papst Pius XII. für die Säkularinstitute in der Apostolischen Konstitution Provida Mater Ecclesiae übernommen (Art. IX PME).8 Im Anschluss an das Konzilsdekret Perfectae Caritatis (PC 3) über die angemessene Erneuerung des Ordenslebens, rezipiert das kirchliche Recht die Autonomie eines jeden Instituts des geweihten Lebens. Diese hat in einem angemessenen Verhältnis von Autonomie und Aufsicht durch die zuständige kirchliche Autorität zu stehen. Das wird an den Formulierungen der cc. 593 und 594 deutlich, 3 Audomar Scheuermann, Das Grundrecht der Autonomie im Ordensrecht, in: OK 25 (1984), 31 – 41. 4 Siehe die Legaldefinition in c. 488 n. 7 CIC/1917: Personen, die in einem Orden (zeitliche oder ewige) Gelübde abgelegt haben. 5 Vgl. Heribert Jone, Gesetzbuch der lateinischen Kirche, Bd. 1, Paderborn 1938, 543. 6 Vgl. Rudolf Henseler, in: MKCIC 586, 4. Weiterführend, Rudolf Henseler, Das Verhältnis des Diözesanbischofs zu den klösterlichen Verbänden unter besonderer Berücksichtigung des Exemtionsbegriffs und der Einordung des Apostolats in die Gesamtpastoral des Bistums, in: OK 25 (1984), 31 – 41. 7 Vgl. Leo XIII., Apostolischen Konstitution Conditae a Christo v. 8. 12. 1900, in: A. S. S., vol. XXXIII (1900 – 01), pp. 341 – 347, auch online: https://www.vatican.va/content/leo-xiii/la/ apost_constitutions/documents/hf_l-xiii_apc_19001208_conditae-a-christo.html [Zugriff: 26. 10. 2022]. 8 Pius XII., Apostolischen Konstitution Provida Mater Ecclesiae v. 2. 2. 1947, in: AAS 39 (1947), 114 – 124.

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die sowohl hinsichtlich der Aufsicht durch den Apostolischen Stuhl als auch durch den Diözesanbischof auf c. 586 § 1 zurückverweisen. Autonomie und Aufsicht stehen in einem Verhältnis der ausgewogenen Gegenseitigkeit zueinander. Näherhin geht es bei der iusta autonomia um die Bewahrung sowie den Schutz des Patrimoniums und der institutseigenen Disziplin (siehe: c. 578), die nach Maßgabe von c. 586 § 2 von den Ortsordinarien nicht nur zu achten, sondern auch zu schützen (servare ac tueri) ist. Wie weit das reicht, entfalten die interdikasteriellen Richtlinien Mutuae Relationes, wo es in Nr. 28 heißt: „Die Bischöfe sollen zusammen mit ihrem Klerus überzeugte Anwälte des geweihten Lebens sein, Verteidiger der Ordensgemeinschaften, Förderer von Berufungen, entschiedene Hüter des spezifischen Charakters jeder Ordensfamilie sowohl im geistlichen als auch im apostolischen Bereich.“9

Für den internen Bereich ist die Autonomie aufgrund von c. 587 § 1 rechtlich stärker ausgeprägt als für den äußeren Bereich. Das wird mit Blick auf die cc. 678 – 683 deutlich. Hier finden sich Leitlinien für die Zusammenarbeit der Ordensleute mit dem Ortsordinarius in der Seelsorge und im Apostolat. Weitere Bestimmungen des CIC/1983 sichern die in c. 586 zugesagte Autonomie. So regelt bereits c. 580, was bei der Angliederung eines Instituts des geweihten Lebens an ein anderes bezüglich der kanonischen Autonomie des angegliederten Institutes zu beachten ist. Eine vergleichbare Regelung enthält auch c. 614 für jene Nonnenklöster, die einem Institut des geweihten Lebens von Männern angeschlossen werden. Ausdrücklich weist der Gesetzgeber darauf hin, dass sie ihre eigene Lebensform behalten und nicht etwa die des Instituts annehmen müssen, dem sie sich anschließen. Das bedeutet, dass eine Angliederung keinesfalls die Aufgabe der eigenen Identität des angegliederten Institutes zugunsten des angliedernden Instituts beinhaltet. Selbst der Apostolische Stuhl hat in Ausübung seiner Autorität gem. c. 593 die Autonomie der Institute zu beachten. Ein ebensolcher Hinweis findet sich in der folgenden Norm für die Institute des diözesanen Rechts, die unter der Aufsicht des Diözesanbischofs stehen. Schließlich erstreckt die Verweisnorm des c. 732 mit seinen weitreichenden Absicherungen der ordnungsrechtlichen Autonomie auch auf die Gesellschaften des Apostolischen Lebens, deren Mitglieder nach der Definition des c. 731 § 1 ohne Gelübde, aufgrund einer eigenen Lebensordnung ihr geistliches Leben führen. Die Autonomie der Institute des geweihten Lebens, einerlei ob in Ordensinstituten, Säkularinstituten oder Gesellschafen des Apostolischen Lebens, hat man als eine gestufte Autonomie zu verstehen, die sich nach der Eigenart des Instituts richtet. Am weitesten reicht die Autonomie bei klerikalen Instituten päpstlichen Rechts. Den geringsten Umfang hat sie bei laikalen Instituten diözesanen Rechts.10 Davon unabhängig geht es aber immer darum, „innerhalb der rechtlich vorgesehenen Grenzen selbst9

Heilige Kongregation für die Religiosen und Säkularinstitute, Heilige Kongregation für die Bischöfe, Richtlinien für die gegenseitigen Beziehungen zwischen Bischöfen und Ordensleuten in der Kirche v. 14. 5. 1978, lat. Text in: AAS 70 (1978) 473 – 506. 10 Primetshofer, Ordensrecht (Anm. 1), 37.

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ständig über eigene Angelegenheiten zu entscheiden“.11 Dazu gehört an erster Stelle die Autonomie der eigenen Lebensordnung, des geistlichen Erbguts, der inneren Leitung des Instituts und der Wahrung der eigenen Disziplin. In jedem Fall untersteht der Aufsicht und auch Vollmacht des Ortsbischofs die Wahrnehmung der öffentlichen Seelsorge, das Abhalten öffentlicher Gottesdienste und die Koordinierung der Apostolatswerke.12 bezüglich der Aufsicht über die Vermögensverwaltung muss unterschieden werden, ob es sich um ein Institut päpstlichen oder diözesanen Rechts handelt. 2. Grundregeln der Visitation gem. c. 628 CIC Das Rechtsinstitut der Visitation gehört seit unvordenklicher Zeit zum Kernbestand der kirchlichen Rechtsordnung. In der Blütezeit der Kanonistik wurden ihr Umfang und ihre Grenzen näher umschrieben.13 Der CIC/1917 hat diese Normen in den cc. 344 § 2, 512, 615 – 619 rezipiert. Man kann davon ausgehen, dass die Visitation schon eine geübte Praxis mit der Etablierung des koinobitschen Ordenslebens geworden ist. Dabei war der Zweck der Visitation von Anfang an die Gemeinschaften in ihrer Entwicklung zu fördern und sie gegen Missbräuche zu schützen, seien sie von einzelnen Mitgliedern oder auch den Oberen verübt worden.14 Positiv gewendet, kann man die Visitation der Einrichtung von Instituten des Geweihten Lebens als ein Symbol der Gemeinschaft des Instituts mit der Kirche insgesamt verstehen, das darauf ausgerichtet ist, die Institute mit diesem speziellen Dienst zu unterstützen und dort, wo sich Fehlentwicklungen ereignet haben, diese zu korrigieren.15 Systematisch gilt es in mehrfacher Hinsicht zu unterscheiden. Von der Art und Weise der Visitation her gibt es die ordentliche und die außerordentliche Visitation. Die ordentliche Visitation erfolgt nach Maßgabe des Satzungsrechts in regelmäßigen Abständen. Sie erstreckt sich umfassend auf das innere und äußere Leben des Instituts und seiner Gliederungen. Eine außerordentliche Visitation ergibt sich im Regelfall aus einem besonderen Anlass. Sie richtet sich auf diesen Anlass aus und kann in ihrem Umfang auf den betreffenden Gegenstand beschränkt werden. Näheres sollte aus Gründen der Rechtssicherheit im Eigenrecht definiert sein.16 Can. 628 schreibt nicht vor in welchen Abständen Visitationen zu erfolgen haben. Dieser Regelungsgegenstand und die Bestimmung des weiteren Vorgehens zur Vor11 Rohde, Autonomie, in: Dominicus M. Meier/Elisabeth Kandler-Mayr/Josef Kandler (Hrsg.), 100 Begriffe aus dem Ordensrecht, St. Ottilien 2015, 81 – 85, 81. 12 Vgl. Henseler, in: MKCIC, 586, 3. 13 Reg. 68, 72 Reg. iur. in VIO. 14 Vgl. James A. Coriden/Thomas J. Green/Donald E. Heitschel (Hrsg.), The Code of Canon Law, Text and Commentary, New York, Mahwah 1985, 481. 15 John P. Beal/James A. Coriden, Thomas J. Green (Hrsg.), New Commentary on the Code of Canon Law, New York, Mawah, 2000, 790. 16 Vgl. Aymans-Mörsdorf, Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici, Bd. 2, Paderborn 131997, 650.

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bereitung und Durchführung bleiben dem Eigenrecht überlassen.17 Als für die Visitation zuständige Autoritäten werden in c. 628 § 1 in erster Linie die (wohl höheren) Oberen18 des Instituts und in c. 628 § 2 sodann die Diözesanbischöfe, aber nur in dem ihnen durch diese Norm und c. 683 zustehenden Umfang, benannt. Dabei ist klar, dass die visitierende Institution stets hierarchisch über der zu visitierenden Einrichtung oder den Personen zu stehen hat oder aber wenigstens von diesen unabhängig ist. Primetshofer bringt es auf den Punkt: Niemand kann Visitator der Einrichtung sein, der er selbst vorsteht.19 Für Institute päpstlichen Rechts bedeutet das, dass die turnusgemäße „verbandseigene Visitation“20 eines rechtlich selbständigen Klosters die Kongregation der jeweiligen Ordensfamilie oder aber durch das Dikasterium für die Institute des geweihten Lebens durchzuführen ist. Bei zentralistischen Verbänden päpstlichen Rechts erfolgt die Visitation nach Maßgabe des eigenen Rechts durch die jeweils höhere nächste Instanz oder das betreffende römische Dikasterium. Bei Instituten bischöflichen Rechts ist der Diözesanbischof die zuständige Autorität, die je nach dem Satzungsrecht auf vielerlei Weise auf das Leben des Instituts einwirken kann. Hier kann es zu einer Interessenkollision kommen, wenn der Diözesanbischof als höchster Oberer der Gemeinschaft diözesanen Rechts zugleich die Visitation des Instituts durchführt. Daher ist es geübte Praxis, mit der Wahrnehmung der Visitation eine kompetente Person seines Vertrauens zu beauftragen, meist den Ordensreferenten bzw. Bischöflichen Beauftragten. Gem. c. 396 § 1 hat es sich dabei um einen Priester zu handeln. Demgegenüber erscheint es zumindest im Falle außerordentlicher Visitationen, wegen der Sensibilität dieser Aufgabe sinnvoll, wenn der/die Visitator*in nicht in einem hierarchischen Verhältnis zum Diözesanbischof steht, sondern von außen kommt.21 Wegen c. 586 § 2 ist es aber insbesondere in diesem Fall angemessen, wenn zwischen dem Diözesanbischof und der Institutsleitung im Vorfeld einer Einigung über die geeignete Person gefunden werden kann, um das nötige Vertrauen für die Visitation zu schaffen, auch wenn das gesetzlich nicht gefordert ist. Schließlich geht es hier auch um eine Visitation, die sich auf den Innenbereich der jeweiligen Gemeinschaft erstreckt. Obwohl der Gesetzgeber auf die Autonomie der Institute Wert legt und sie rechtlich so deutlich im CIC verankert, wundert es, dass hier eine Rechtslücke besteht, die in Einzelfällen geeignet ist für Komplikationen zu sorgen.

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Vgl. Primetshofer, Ordensrecht (Anm. 1), 70. Vgl. zur Kritik an der gegenüber can. 511 CIC/1917 zu unspezifischer Bestimmung von c. 628 § 1: Aymans-Mörsdorf (Anm. 16), 649. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. zum Begriff: Aymans-Mörsdorf (Anm. 16), 649 f. 21 Vgl. z. B. den Fall der Barmherzigen Schwestern von der hl. Elisabeth zu Essen, berichtet von M. Diethilde Bövingloh, Herausforderungen, die eine zu Ende gehende Gemeinschaft zu bewältigen hat. Dargestellt am Beispiel der Barmherzigen Schwestern von der hl. Elisabeth zu Essen, OK 2015, 63 – 71, 65. 18

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Die kirchenrechtliche Beurteilung von Umfang und Grenzen der Visitation über das Vermögen von Instituten des geweihten Lebens richtet sich universalkirchenrechtlich nach den Bestimmungen des Ordensrechts und des kirchlichen Vermögensrechts des Codex Iuris Canonici von 1983 (CIC) und nach den entsprechenden Bestimmungen des Eigenrechts des betreffenden Instituts des Geweihten Lebens. Daneben sind auch die staatskirchenrechtlichen und zivilrechtlichen Bestimmungen zu beachten. Hier gilt es in Deutschland die einschlägigen Bestimmungen der betreffenden geltenden Länderkonkordate und des Reichskonkordates im Blick zu behalten. Wenn es um das (säkulare) Wirtschaftsrecht geht, ist auf der Grundlage der lex canonizata des c. 1290 CIC das betreffende Recht des BGB und des HGB anzuwenden,22 soweit deren Bestimmungen nicht dem göttlichen Recht oder entgegenstehenden kanonischen Bestimmungen widersprechen. 3. Zuständigkeiten des Dikasteriums für die Institute des geweihten Lebens (…) Mit der Apost. Konstitution Praedicate Evangelium (2022)23 sind die universalkirchlichen Bestimmungen der Apost. Konstitution Pastor Bonus (1989) über die Aufsicht der römischen Kurie, die das Ordensleben betreffen, abgelöst und teilweise neu gefasst worden. Von besonderer Bedeutung ist hier Art. 124 PE, der im Unterschied zu Art. 108 PastBon, die Zuständigkeiten des Dikasteriums detailliert und präzise fasst. Folgende Aufgaben werden dort in Art. 124 § 1 PE aufgeführt: 1. die Approbation der Konstitutionen und ihrer Änderungen; 2. die ordentliche Leitung und die Disziplin der Mitglieder; 3. die Inkorporation und Ausbildung der Mitglieder, auch durch entsprechende Normen und Weisungen; 4. die zeitlichen Güter und ihre Verwaltung; 5. das Apostolat; 6. außerordentliche Leitungsmaßnahmen.

Gem. c. 593 bedeutet dies für die Institute päpstlichen Rechts, dass sie hinsichtlich, der hier aufgeworfenen Frage über die Vermögensaufsicht direkt und unmittelbar der Aufsicht des Apostolischen Stuhls unterstehen, soweit nicht die (päpstlich genehmigten) Statuten eine institutsinterne Vermögensaufsicht vorschalten, die in den Bereich der Autonomie gem. c. 586 gehört. Auch für Institute diözesanen Rechts ist die Aufsicht durch das zuständige Dikasterium gem. cc. 590, 594 nicht auszublenden. Allerdings liegt eine erste Zuständigkeit über die Vermögensaufsicht hier beim Diözesanbischof, dem das Institut gem. cc. 637, 638, 1287 rechenschaftspflichtig 22 Vgl. Rüdiger Althaus, in: MKCIC, 1290, 4c; Matthias Pulte, Vermögensrecht der katholischen Kirche, MBKR 6, Würzburg 2019, 150 – 170. 23 Franziskus, Apostolische Konstitution Praedicate Evangelium v. 19. 3. 2022, online: https://www.vatican.va/content/francesco/de/apost_constitutions/documents/20220319-costitu zione-ap-praedicate-evangelium.html [Zugriff: 31. 10. 2022].

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ist.24 Das Aufsichtsrecht des Dikasteriums ist hier im Lichte von c. 381 § 1 subsidiär. Seine Aktivitäten i. S. d. Art. 124 PE werden erforderlich, wenn sich Konflikte zwischen dem Institut und dem Ortsbischof nicht einvernehmlich lösen lassen. Meist wird eine der Konfliktparteien dann das Dikasterium um seinen spezifischen Dienst ersuchen. II. Visitationsbezogene Vermögensaufsicht über Klöster in monastischen Verbänden päpstlichen Rechts Monastische Abteien und Verbände wie bei den Benediktinern und Chorherrenstifte bzw. Abteien wie bei den Prämonstratensern gehören gem. cc. 588 § 1, 589 zu den klerikalen Instituten päpstlichen Rechts. Das gilt unabhängig davon, ob es sich bei dem jeweiligen eigenberechtigten Kloster um ein Mönchs- oder Nonnenkloster handelt und ob die Leitung durch einen geweihten oder nicht geweihte*n Amtsträger*in erfolgt. Entscheidend ist die Zugehörigkeit zu dem betreffenden Verband und dessen Leitung durch einen Kleriker gem. c. 588 § 2. So vereint z. B. die Sublascenser25 und die Beuroner Benediktiner-Kongregation Mönchs- und Nonnenklöster,26 während die Bayerische Benediktinerkongregation ausschließlich aus Männerklöstern besteht.27 Die in c. 586 § 1 angesprochene Autonomie der Institute erstreckt sich auf den gesamten Innenbereich der Lebensordnung und Leitung des Instituts. Im Außenbereich, also der Seelsorge und der Apostolatswerke sind die Klöster gehalten, sich an die rechtmäßigen Vorgaben des Ortsoberhirten zu halten.28 Von dieser Aufsicht ist noch einmal die in den Satzungen oder Statuten der Kongregation geregelte interne Finanzaufsicht auf der Ebene der Kongregation bzw. Generalleitung zu unterscheiden. Bei diesen statuarischen Regelungen handelt es sich um solche, die in Wahrnehmung der Rechte aus den cc. 586 § 1, 587 § 1 eigenrechtlich beschlossen worden sind. Dabei handelt es sich der Sache nach um eine Form der Selbstbindung der selbständigen Klöster, die aber aufgrund der Zugehörigkeit zum Verband rechtlich verpflichtet. Wie weit die Selbstverpflichtung im Rahmen der Visitation reicht, muss im Sinne des c. 587 § 1 ebenfalls durch das statuarische Recht geregelt werden. Rechtslücken wären im Sinne der „gebührenden Autonomie“ des Instituts und im Lichte seiner Stiftung und Tradition zu bewerten und auszulegen.

24 Vgl. Dominicus M. Meier, Aufsichtsbefugnisse kirchlicher Stellen, in: 100 Begriffe aus dem Ordensrecht (Anm. 11), 65 – 72, 70. 25 https://www.benedettinisublacensicassinesi.org/the-congregation/the-monasteries/?lang=en. 26 Vgl. http://benediktiner.benediktiner.de//index.php/allianzen/316-kongregationen-foedera tionen/369-beuroner-benediktinerkongregation.html. 27 Vgl. Die Satzungen der Bayerischen Benediktinerkongregation (kurz: BBK-S) v. 15. 1. 1989, Metten 1989, Juridischer Teil Art. 144. 28 Vgl. Rhode, Autonomie, in: 100 Begriffe aus dem Ordensrecht (Anm. 11), 84.

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Zum Zweck der eigenrechtlichen Vermögensaufsicht wurde in einigen Kongregationen ein Aufsichtsrat für Wirtschaftsfragen eingerichtet. Dies sei an dieser Stelle am Beispiel der Bayerischen Benediktinerkongregation näher in den Blick genommen, deren Satzungen im Unterschied zu anderen veröffentlicht vorliegen.29 Das dortige Consilium Vigilantiae ist eine auf der Ebene der Kongregation angesiedelte, vom einzelnen Kloster unabhängige, Wirtschaftsprüfungsinstanz, bestehend aus zwei vom Generalkapitel gewählten und zwei vom Abtpräses ernannten Mönchen, die regelmäßig die ordnungsgemäße Jahresrechnung der einzelnen Klöster prüfen und dem Abtpräses berichten.30 Es geht um eine kontinuierliche Überwachung der ordnungsgemäßen Vermögensverwaltung durch die einzelnen, rechtlich selbständigen Klöster, die vor der Visitation noch einmal durch eine spezielle COVI-Prüfung zur Bestandsaufnahme der wirtschaftlichen Verhältnisse des betreffenden Klosters ergänzt wird. Dieser Prüfbericht ist den Visitatoren vorzulegen. Der Umfang dieser Prüfung ist zumindest in den Satzungen der bayerischen Benediktinerkongregation nicht näher beschrieben.31 Die Schaffung einer derartigen Kontrollinstanz auf der höchsten Institutsebene hat sich als notwendig erwiesen. So hatte zu Beginn des 21. Jahrhunderts in verschiedenen Ordensgemeinschaften finanzielles und wirtschaftliches Engagement in den ökonomischen Ruin geführt, so z. B. beim Deutschen Orden angesichts des Finanzskandals bei den Deutschordenswerken 200032 und dem wirtschaftlichen Niedergang des Benediktinerabtei Michaelsberg in Siegburg 2010.33 In beiden Fällen fragt man sich, wie es so weit kommen konnte, ob und wie die ordenseigene Vermögens- und Finanzaufsicht hier versagt hat. Diese Erfahrungen sprechen für die Einrichtung einer permanenten Finanzaufsicht auf der obersten Instituts- oder Kongregationsebene, deren Rechte und Pflicht durch das Eigenrecht so klar zu umschreiben sind, dass es nicht zu einer Kollision mit der dem Institut gebührenden Autonomie kommt. Das scheint rechtlich z. B. beim Consilium Vigliantiae der Bayerischen Benediktinerkongregation als permanente Finanzprüfungsinstanz gelungen zu sein, weil es von einem Aufsichtsrat im Sinne des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG zu unterscheiden ist, der Geschäftsführungsmaßnahmen von seiner Zustimmung abhängig machen kann und auch sonst in § 90 AktG vorgesehene Berichte von der Geschäftsführung verlangen kann. Eine Consilium Vigilantiae (COVI)-Prüfung ist auch nicht eine fortgesetzte, den Geschäftsbetrieb begleitende Aufsicht, sondern findet nach Maßgabe der Statuten auf der Grundlage eines Beschlusses des Generalkapitels der Kongregation zu einem definierten Zeitpunkt statt. Dabei geht es ausschließlich um eine Wirtschaftlichkeitsprüfung des betreffenden 29

Die Satzungen der Bayerischen Benediktiner Kongregation (Anm. 27), Metten 1989. Nach dem Wortlaut von Art. 177 BBK-S. 31 Vgl. Art. 188 BBK-S. 32 KNA vom 30. 11. 2000. 33 https://www.domradio.de/nachrichten/2010-11-08/die-siegburger-benediktinerabtei-mi chaelsberg-schliesst-ihre-pforten. 30

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Klosters. Sie dient im Sinne34 der gegenseitigen Hilfeleistung der rechtlich selbständigen Klöster mit Rat und Tat, d. h. auch der Vorbeugung und Abwendung von Notständen. Die COVI-Prüfung ist eine ausschließliche Finanzvisitation des Klosters, die an die vom Eigenrecht definierten Umfänge und Grenzen gebunden sind.35 Mit Blick auf den durch diese Festschrift in seinem Wirken zu würdigenden Ordenschristen und Kollegen Severin Lederhilger OPraem, darf eine Einsichtnahme in das Eigenrecht des Prämonstratenserordens nicht unterbleiben, insbesondere dann nicht, wenn er als Präses der juridischen Kommission seines Ordens die Übersetzung der geltenden Statuten im Jahr 2020 gefertigt hat.36 In diesem Beitrag geht es näherhin um die Regelungen über die ordenseigene Visitation (Abschnitt F. Art. 45 – 53). Die Statuten unterscheiden zwei Abschnitte der Visitation. Gem. Art. 50 SO.Praem erfasst die regelmäßige Visitation den „allgemeinen Zustand“ der zu visitierenden Einrichtung. Eine Definition, welche Bereiche davon erfasst werden sollen, geben die Statuten nicht vor und überlassen die nähere Bestimmung dem allgemeinen Recht, wenn nicht auf einem Generalkapitel eigenrechtliche Beschlüsse über diesen Gegenstand gefasst worden sind. Zweifelsfrei wird man die Visitation gem. c. 628 in einen inneren und einen äußeren Bereich unterteilen. Der innere Bereich umfasst alle Angelegenheiten und Gegenstände, die dem Kloster oder der Niederlassung zu eigen sind. Das schließt den Sektor des Vermögensrechts ein. Auf diesem Feld besteht das primäre Visitationsrecht des Ordens, soweit sich der Apostolische Stuhl nicht weitergehende Rechte gem. Art. 124 § 1 PE vorbehält. Im Unterschied zu den Artt. 105 – 111 PastBon zeigt sich die neue Gesetzgebung über die Römische Kurie in diesem Punkt deutlich detailfreudiger. Ausdrücklich wird in Art. 124 § 1 dargelegt, dass sich das Dikasterium mit allen rechtlich relevanten Tatbeständen, insbesondere auch der Vermögensverwaltung der Institute befasst.37 Der äußere Bereich betrifft die Werke des Apostolats und der Caritas, die von der Gemeinschaft in der Ortskirche 34

Vgl. Art. 189 BBK-S. Dominicus M. Meier, Klösterliche Finanzvisitation. Anforderungen an ein internes Kontrollsystem, in: Dieter A. Binder/Klaus Lüdicke/Hans Paarhammer (Hrsg.), Kirche in einer säkularisierten Gesellschaft, Innsbruck, Wien, Bozen, 2006, 405 – 420, 412 ff. 36 Satuta Ordinis Canonicorum Regularium Praemonstratensium a Capitulo Generali anni 2018 celebrato recognita, Deutsche Übersetzung erstellt 2020 von Univ.-Prof. DDr. Severin J. Lederhilger OPraem. Eigenverlag (Dem Autor freundlich zum Gebrauch überlassen von Prof. Dr. Clemens Dölken OPraem). 37 Art. 124 § 1 PE. In Übereinstimmung mit den kanonischen Normen befasst sich das Dikasterium mit den Angelegenheiten, die in die Zuständigkeit des Apostolischen Stuhls fallen und das Leben und die Tätigkeit der Institute des geweihten Lebens und der Gesellschaften des apostolischen Lebens betreffen, insbesondere in Bezug auf: 1. die Approbation der Konstitutionen und ihrer Änderungen; 2. die ordentliche Leitung und die Disziplin der Mitglieder; 3. die Inkorporation und Ausbildung der Mitglieder, auch durch entsprechende Normen und Weisungen; 4. die zeitlichen Güter und ihre Verwaltung; 5. das Apostolat; 6. außerordentliche Leitungsmaßnahmen. 35

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verwirklicht werden. Hier ist es nicht nur Sache des Ordens, sondern auch des Ortsbischofs, zu visitieren. Neben der allgemeinen Visitation führt Art. 52 SO.Praem als weiteren Abschnitt noch die Erstellung eines Finanzberichts auf der Grundlage des Visitationsberichts auf. Bemerkenswert erscheint an dieser Regelung, dass es im Unterscheid zu den Regelungen der Bayerischen Benediktiner nicht etwa eine gesonderte Finanzvisitation (COVI-Prüfung) gibt, die in Sonderheit die Finanzunterlagen der betreffenden Einrichtung untersucht, sondern lediglich eine ergänzende finanzwirtschaftliche Prüfung. Dabei lässt es Art. 52 offen, ob die dort benannten Finanzexperten aufgrund des Visitationsberichts prüfen oder eigene Erhebungen vornehmen. Sinnvoll erscheint allerdings letztere Variante, wenn der Visitationsbericht Fragen zur Wirtschaftlichkeit der visitierten Einrichtung offenlässt. Ebenso wird in den Statuten nicht explizit genannt, ob die Finanzprüfer Ordensmitglieder sind. Hier ist lediglich von rerum financiarium peritis die Rede, die vom Generalabt ernannt werden. Eine mit dem consilium vigilantiae vergleichbare Institution gibt es bei den Prämonstratensern nicht. Sie scheint auch aufgrund der zentralistischen Struktur des Ordens38 nicht erforderlich zu sein. Fraglich erscheint in diesem Zusammenhang, ob auch Vermögen eines Joint ventures eines klösterlichen Wirtschaftsbetriebs und einer Unternehmung der freien Wirtschaft in einer kanonischen Visitation zu dem zu überprüfenden Kirchenvermögen hinzuzurechnen ist und damit sowohl der speziellen finanzwirtschaftlichen Prüfung als auch der kanonischen Visitation unterliegt. Die vorliegende Frage betrifft eine Reihe von Klöstern unterschiedlicher Orden, die ihre Wirtschaftsbetriebe zum Teil in Gemeinschaftsunternehmen mit Wirtschaftsunternehmen, meist als GmbH führen. Diese Unternehmen sind auf freier vertraglicher Vereinbarung gegründet. Ein Erfordernis der Offenlegung der Verträge könnte trotz der geäußerten Vorbehalte begründet werden, wenn sich aus den nach Maßgabe des Rechts von einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft geprüften Bilanzen keine hinreichenden Ergebnisse über den zurückliegenden und Projektionen über den zu erwartenden Unternehmenserfolg ersehen lassen könnten. Das ist freilich nicht zu erwarten, da gem. § 316 HGB der Jahresabschluss auch einen Lagebericht enthält, der die Buchführung einbezieht. Im Einzelnen werden in diesem Zusammenhang die Bilanz, die Gewinnund Verlustrechnung und ggf. der erforderliche Anhang geprüft. Bei den Prüfungsschwerpunkten sind folgende Kriterien zu erfüllen: „1. Buchführung: Durchzuführen sind im Wesentlichen Abstimmungsprüfungen, Übertragungsprüfungen, rechnerische Prüfungen und Belegprüfungen. Die systematische Prüfung der Buchführung erfolgt meist in Stichproben (Stichprobenprüfung). Schwerpunkte sind die Prüfung der Konten des Zahlungsverkehrs, der Konten des Warenverkehrs und der Personenkonten. Ergebnisse werden in den Arbeitspapieren und im Prüfungsbericht festgehalten. 2. Bilanz: Erforderlich ist die Prüfung der Existenz und Vollständigkeit der Positionen und der Einhaltung der Bilanzierungs-, Bewertungs- und Gliederungsvorschriften. Detaillierte 38 Vgl. Ludger Horstkötter, Prämonstratenser, Prämonstratenserinnen, in: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Band 8, Freiburg im Breisgau 31999, 505 – 510.

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Erläuterungen zur Prüfung von Anlage- und Umlaufvermögen sowie Passiva gibt das WPHandbuch. 3. Gewinn- und Verlustrechnung (GuV): Zu prüfen ist, ob sämtliche Aufwendungen und Erträge vollständig und periodengerecht unter den richtigen Bezeichnungen ausgewiesen wurden. Die Prüfung dient meist der Ergänzung der Bilanzprüfung. Wegen des engen Bezugs zwischen Bilanzpositionen und Positionen der GuV ist hier eine intensive Prüfung kaum noch erforderlich. Bedeutungsvoll ist aber die Prüfung von sonstigen Aufwendungen und Erträgen, die mit der Bilanzprüfung nur unzureichend erfassbar sind. 4. Anhang: Zu prüfen ist, ob handelsrechtlich vorgeschriebene Erläuterungen zu Bilanz und GuV, z. B. zu den angewandten Bilanzierungs- und Bewertungsmethoden oder den Grundlagen der Währungsumrechnung, gemacht wurden. Zudem muss geprüft werden, ob den weiteren Angabepflichten des HGB und der ggf. einschlägigen Spezialgesetze, wie z. B. AktG und GmbHG, genügt wurde. 5. Lagebericht: Zu prüfen ist, ob der Lagebericht den Geschäftsverlauf und die Lage der Unternehmung einschließlich der Risikosituation so darstellt, dass ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild vermittelt wird, und ob er auf Vorgänge von bes. Bedeutung, die nach Geschäftsjahresschluss eingetreten sind, auf die voraussichtliche Entwicklung der Gesellschaft und auf den Bereich Forschung und Entwicklung sowie ggf. vorhandene Zweigniederlassungen eingeht.“39

Die voranstehende Auflistung des Prüfungsumfangs macht deutlich, dass im Rahmen einer kanonischen Visitation, insbesondere mit Blick auf die Wirtschaftlichkeit des Klosters, seiner Klosterbetriebe und Kooperationen mit weltlichen Unternehmen ausreichend Möglichkeiten bestehen, die Funktion der Aufsicht in temporalibus umfassend und effektiv wahrzunehmen. Damit ist den kanonischen Anforderungen Genüge getan. Es ist nicht ersichtlich, dass eine darüberhinausgehende Einsichtnahme in Kooperationsverträge zwischen einem Kloster sui iuris oder seiner Wirtschaftsbetriebe und Wirtschaftsunternehmen für den rechtlich definierten Prüfungsgegenstand erforderlich sind. Man wird das Vermögen des gemeinsamen Unternehmens schon deshalb nicht als Kirchenvermögen bezeichnen können, weil dieses Vermögen nicht ausschließlich den Zwecken aus c. 1254 dient. In gleicher Weise ist die Trennung zwischen dem, was in dem gemeinsamen Unternehmen der Vermögensanteil des Wirtschaftsunternehmens und der des Klosters ist, realiter kaum vorzunehmen. Schließlich handelt es sich bei einem solchen Gemeinschaftsunternehmen auch nicht um eines mit kirchlicher Rechtspersönlichkeit. Aus allen diesen Gründen scheidet die Zuordnung des Vermögens eines solchen Gemeinschaftsunternehmens zum Kirchenvermögen aus. Handelt es sich also nicht um Kirchenvermögen, unterliegt dies auch nicht der Beaufsichtigung durch eine ansonsten für das Kirchenvermögen zuständige kirchliche Autorität. Doch selbst wenn man dieser Ansicht nicht folgt, ergeben sich weitere visitationsrechtliche Fragen, die zu beantworten sind.

39 Vgl. Volker Beek, Jahresabschlussprüfung, in: Gabler, Wirtschaftslexikon, online: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/jahresabschlusspruefung-37870/version-261300.

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Mitunter werden die Verträge solcher Gemeinschaftsunternehmen aus wettbewerbsrechtlichen Gründen Verschwiegenheitsklauseln über Betriebsgeheimnisse enthalten. Strittig ist in diesen Fällen, soweit man überhaupt eine Visitation über dieses Vermögen bejahen möchte, ob im Rahmen einer Finanzvisitation, über die finanzwirtschaftlichen Zahlenwerke hinaus, die Verträge offenzulegen sind, die diese Betriebsgeheimnisse enthalten. Auf der einen Seite kann der Einblick der Visitatoren in solche Verträge für die Risikoabwägung des Geschäfts hilfreich sein. Auf der anderen Seite verstößt die Offenlegung von Betriebsgeheimnissen gegen die vertraglichen Vereinbarungen mit dem betreffenden Unternehmen, wenn eine solche Öffnungsklausel nicht ausdrücklich in den Verträgen enthalten ist. Etwa von den Klosterbetrieben in das Gemeinschaftsunternehmen eingebrachte Vermögen wird man abstrakt als Substanzvermögen dem Kirchenvermögen i. S. d. c. 1257 zurechnen können. Gleiches gilt wohl für die dem Kloster unmittelbar zufließenden Erträgnisse aus dem Gemeinschaftsunternehmen, sowie die den Klosterbetrieben und damit dem Kloster selbst zufließenden Erträgnisse (wie etwa Lizenzgebühren und Umsatz-/Gewinnbeteiligungen), aber auch Verluste wird man dem Kirchenvermögen zuzurechnen haben. Nur diese Anteile, die in das Vermögen des Klosters einfließen, unterliegen sowohl der speziellen Finanzprüfung als auch der kanonischen Visitation. Die vermögensrechtliche Aufsichtsfunktion, im Rahmen der regelmäßigen Finanzaufsicht durch die dafür satzungsrechtlich bestimmte Institution, ermöglicht jedoch auch eine Einsichtnahme in die Jahresbilanzen der Joint ventures über die Periode zwischen zwei kanonischen Visitationen. Diese unterliegen ohnehin zivilrechtlich der Veröffentlichungspflicht, wenn die gem. §§ 267 Abs. 1, 268 Abs. 3 HGB erreichten Größenklassen erreicht sind. Die Jahresabschlussbilanzen geben Auskunft über die wirtschaftlichen Erträgnisse und den Unternehmenserfolg in der betreffenden Periode und erlauben eine Prognose für die anstehende Periode bis zur nächsten kanonischen Visitation. Sie stehen den Visitatoren ohnehin zur Verfügung. Im Übrigen ist hinsichtlich der Betriebsgeheimnisse, die in den Verträgen enthalten sind, bei kanonischen Visitationen, die sich mittelbar auf Joint Ventures von Klosterbetrieben und weltlichen Unternehmen erstrecken, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu beachten, die das Betriebsgeheimnis umfassend unter den Schutz der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG stellt.40 III. Vermögensaufsicht in Instituten des Geweihten Lebens diözesanen Rechts Die Institute des geweihten Lebens diözesanen Rechts sind in Deutschland überwiegend im 19. Jahrhundert in einzelnen Diözesen gegründete Frauenordensgemein40 Vgl. BVerfG Beschluss vom 14. März 2006, 1 BvR 2087/03, online: https://www.bundes verfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2006/03/rs20060314_1bvr208703. html;jsessionid=6D9B1A1423709A6D235E90D459E4092F.2_cid394.

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schaften. Bei ihnen handelt es sich um laikale Institute im Sinne des c. 588 § 2, da sie gemäß ihrer Zielsetzung und Ihren Aufgaben die Ausübung der Heiligen Weihen nicht einschließen. Ihre Aufgaben liegen zumeist auf der Ebene des Apostolats im Bereich der Bildung und der Caritas. Sie sind zur Zeit ihrer Gründung gem. c. 589 vom Diözesanbischof errichtet worden, ohne dass ein Anerkennungsdekret des Apostolischen Stuhls ausgestellt worden ist. Aus c. 595 ergeben sich sodann die Rechte des Diözesanbischofs über diese Institute. Sie erstrecken sich unter Wahrung der iusta autonomia gem. § 1 zunächst auf die Approbation des institutseigenen Rechts und seiner Änderungen. Hinzu kommt die Vollmacht, wichtige Angelegenheiten, die das ganze Institut betreffen und die Kompetenzen der Institutsleitung überschreiten, an sich zu ziehen. Der Regelungszweck dieser Passage der Norm leuchtet prinzipiell ein. Für seine praktische Handhabung ist es allerdings außerordentlich misslich, dass nirgendwo aufgeführt ist, um welche Fälle sich dabei handelt, sodass im Einzelfall tatsächlich Konflikte hinsichtlich der Auslegung dieser Kompetenz aufkommen können. Leider ist in dieser Hinsicht auch die auslegende Literatur keine Hilfe, weil sie nur den Normtext wiederholt, ohne an Fallbeispielen die erforderliche Kompetenzabgrenzung deutlich zu machen.41 1. Allgemeine Vermögensverwaltungsaufsicht Gem. c. 636 § 1 hat der Ökonom des Instituts die Verwaltung des institutseigenen Vermögens unter der Leitung des Institutsoberen durchzuführen. Diese Leitung darf nicht als allgemeine Oberaufsicht missverstanden werden, die sich auf die Vorlage des Haushaltsplanes und der Jahresrechnung beschränkt. Sie ist vielmehr direktiver Natur und setzt daher eine wirksame Überwachung der mit der Vermögensverwaltung betrauten Person auch hinsichtlich der Einhaltung der einschlägigen rechtlichen Bestimmungen voraus.42 Der Gesetzgeber vertraut hier also zunächst auf die institutsinternen Strukturen von Leitung und Kontrolle. Demgegenüber steht dem Diözesanbischof bei diözesanrechtlichen Instituten wegen der Wahrung des c. 586 § 2 tatsächlich nur ein Einsichtsrecht gem. c. 637 zu, aus dem sich nur im Falle (nachgewiesener) Nachlässigkeit der institutseigenen Instanzen ein Eingriffsrecht gem. c. 1279 § 1 ergibt.43 Gleichsam als Generalklausel formuliert c. 594, dass die Institute diözesanen Rechts der besonderen Hirtensorge des Diözesanbischofs anvertraut sind. Was das genau bedeutet, wird weder vom Gesetzgeber beschrieben noch von der kommentierenden Literatur hinreichend ausgelegt. Stephan Haering formulierte dazu: „Die Ordensverbände diözesanen Rechts unterstehen ganz der Jurisdiktion des Diözesanbischofs und haben bezüglich der Vermögensverwaltung die diözesanrechtlichen Be41 Vgl. Sebott (Anm. 1), a. a. O., 25; Primetshofer (Anm. 1), a. a. O., 107 f.; Henseler, in: MKCIC, 595, 3. 42 Vgl. Sebott (Anm. 1), a. a. O., 76. 43 Vgl. Primetshofer (Anm. 1), a. a. O., 107.

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stimmungen zu beachten.“44 Aber was heißt das? Von Rudolf Henseler wird der Hinweis gegeben, dass diese Norm im Lichte des c. 586 über die iusta autonomia zu lesen ist und, dass die Formulierung von c. 594 gegenüber jener in der Vorläufernorm des c. 492 § 2 CIC/1917 deutlich abgeschwächt sei.45 Zur Interpretation des gesetzlichen Rahmens der bischöflichen Vermögensaufsicht ist also der rechtshistorische Kontext heranzuziehen. Dort war noch von einer völligen (in capsa) Unterstellung der Institute unter die Jurisdiktion des Bischofs die Rede, sodass nur gewisse institutsinternen Angelegenheiten der Regelungshoheit der eigenen Leitung überlassen blieben. Zwar haben Autoren jener Zeit die Ansicht vertreten, dass die potestas des Ortsordinarius „an sich (formell) keine innere, sondern äußere Gewalt“46 sei. Für alle anderen Angelegenheiten konnte der Bischof einen Direktor o. ä. bestellen, den er mit Vollmachten nach seinem Ermessen ausstatten konnte. Das schloss auch die Verantwortung für die Vermögensverwaltung nicht aus.47 Der Gesetzgeber wollte hinsichtlich der Eigenständigkeit der Institute mit der Formulierung von c. 586 und 594 offensichtlich eine deutliche Veränderung des nachtridentinischen Rechts. Das bedeutet eine Rückkehr zu der weitgehenden Eigenständigkeit der Institute, wie sie vor dem Konzil von Trient bestanden hatte.48 Das bischöfliche Direktionsrecht soll nicht mehr in die inneren Angelegenheiten der Institute reichen, auch nicht in jene, die der ordentlichen Vermögensverwaltung zuzurechnen sind. In diesem Sinne ist auch die Generalklausel des c. 634 § 1 aufzufassen. Dem entsprechen auch die Regelungen über die weitgehend eigenständige ordentliche Vermögensverwaltung, wie sie in den cc. 1279 § 1, 1276, 1280, 1281 zu finden sind. Davon unbeschadet besteht jedoch ein bischöfliches Aufsichts- und Prüfungsrecht fort, wie das schon in der vorkodikarischen Literatur als Einsicht in die Vermögensverwaltung der Institute bezeichnet worden ist.49 Wie jedoch die ordentliche Vermögensverwaltung in diesen Instituten bischöflichen Rechts stattfindet, hat den Bischof so lange nicht zu interessieren, als diese in Übereinstimmung mit dem Zweck des Instituts, seinem Patrimonium und seinen Zielsetzungen erfolgt. Dazu erscheint es hilfreich und notwendig, dass in den Instituten, insbesondere wenn sie sich wirtschaftlich betätigen, zwischen dem Stammvermögen und dem Gebrauchsvermögen unterschieden wird,50 auch wenn die Abgrenzung 44 Stephan Haering, Der Diözesanbischof und die Orden, in: Sabine Demel/Klaus Lüdicke (Hrsg.), Zwichen Vollmacht und Ohnmacht. Die Hirtengewalt des Diözesanbischofs und ihre Grenzen, Freiburg i. Br. 2015, 277 – 294, 288. 45 Vgl. Henseler, in: MKCIC, 594, 3. 46 Heribert Jone, Gesetzbuch des kanonischen Rechts (Anm. 5), Bd. 2, 398. 47 Vgl. Heribert Jone, Gesetzbuch des kanonischen Rechts (Anm. 5), Bd. 2, 398. So auch vorkodikarisch: Franz Heiner, Katholisches Kirchenrecht, Bd. 2. Die Regierung der Kirche, Paderborn 41905, 392. 48 Zu den diesbezüglichen tridentinischen Reformen vgl. Heiner, a. a. O., 383. Die einzelnen Bestimmungen: Concilium Tridentinum, Sessio XXV et Ultima, De regularibus et monialibus, lat./dt. in: Beschlüsse und Glaubensregeln des Hochheiligen und Allgemeinen Konzils zu Trient unter den Päpsten Paul III., Julius III., Regensburg 1869. 49 Heiner (Anm. 46), a. a. O., 392. 50 Vgl. Haering (Anm. 44), a. a. O., 288 f.

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nicht immer leichtfallen dürfte und heute im säkularen Wirtschaftsrecht weniger gebräuchlich ist.51 Bei der Veräußerung von Stammvermögen (siehe cann. 1285, 1291), als dem Vermögen, das die wirtschaftliche Mindestgrundlage der Existenz des Instituts darstellt,52 sind die Mitwirkungsrechte des Bischofs und der diözesanen Gremien zu beachten. Beim Gebrauchsvermögen wird man das nicht ohne weiteres annehmen dürfen. Hier gilt der Vorrang der Autonomie des Instituts. Es wäre nämlich unangemessen, wenn ein Institut, das eine oder mehrere große Einrichtungen betreibt, für ihre Geschäfte an vorherige diözesanrechtliche Genehmigungen gebunden wäre, z. B. wenn es um die Anschaffung medizinischer Großgeräte oder eine notwendige Gebäudesanierung geht, bei denen leicht die diözesane und die römische Verfügungsgrenze überschritten werden kann. Anders verhält es sich hinsichtlich der außerordentlichen Vermögensverwaltung. In diesem Fall bestimmt c. 638 § 1, dass das Eigenrecht des Instituts sowohl die Grenzen der ordentlichen Verwaltung des Vermögens als auch der Erfordernisse für die Erlaubtheit und Gültigkeit der außerordentlichen Vermögensverwaltung festzusetzen hat. Soweit das Eigenrecht des Instituts das nicht leistet, gelten nach der lex generalis des c. 1292 über c. 635 § 1 folgende Richtlinien: Liegt der Wert des Rechtsgeschäfts unter der unteren Grenze, entscheidet das Institut autonom. Liegt der Wert zwischen den beiden Grenzen entscheidet der Diözesanbischof gem. c. 1292 § 1 nach Zustimmung des Diözesanvermögensverwaltungsrates und des Konsultorenkollegiums. Liegt der Wert schließlich oberhalb der sog. Romgrenze, ist die Erlaubnis des Hl. Stuhls einzuholen.53 Daneben sind gem. c. 638 § 3 für Veräußerungsgeschäfte, die die sog. Romgrenze (in Deutschland 5 Mio. E, in Österreich 3 Mio E und in der Schweiz 5 Mio SFR) überschreiten, nicht nur bischöfliche sondern auch römische Genehmigungsvorbehalte zu beachten.54 Im Hinblick auf die in Deutschland immer mehr an Bedeutung gewinnende Frage der Veräußerung von Immobiliarvermögen ist die, von der Kongregation (CIVCSA) 2018 vorgelegte, Orientierungshilfe (Orientamenti)55 zu beachten, die, ohne tatsächlich neues Recht zu schaffen,56 die Einhaltung der Verfügungsgrenzen noch einmal deutlich hervorhebt (Ziff. 80 – 81). In Deutschland ist hier die Partikularnorm 19 der DBK zu beachten, die dahingehend auszulegen ist, dass alle Grundstücksverkäufe von Instituten diözesanen Rechts gem. c. 1292 § 1 nach vorgängiger Zustimmung von Diözesanvermögensverwaltungsrat und Konsultorenkollegium der Genehmigung des Diözesanbischofs bedürfen, auch wenn diese Institute in Partikularnorm 19 nicht eigens erwähnt werden. Hier ist zudem 51 Vgl. Sebastiano Paciolla, Das Stammvermögen, als Manuskript veröffentlicht, 2, online: https://www.ohsjd.org/Resource/DasStammvermgenPaciollated.pdf [Zugriff: 21. 11. 2022]. 52 Vgl. ebd. 4. 53 Vgl. Henseler/Meier, in: MKCIC 638, 6. 54 Vgl. Meier, in: MKCIC 638, 7. 55 Vgl. Kongregation für die Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des Apostolischen Lebens, Ökonomie im Dienst des Charismas und der Mission. Orientierungshilfen, dt. in: OK Sonderheft (59) 2018. 56 Vgl. Meier, in: MKCIC 638, 8.

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c. 1291 über die Veräußerung von Stammvermögen zu beachten, der von der licentia der zuständigen Autorität spricht. Die Nichtbeachtung der Einholung der erforderlichen licentia erfüllt gem. c. 1377 § 2 den Straftatbestand einer (durchaus schwerwiegenden) Pflichtverletzung, die sanktioniert werden soll. Auch darauf weist die Orientierungshilfe in Ziff. 83 ausdrücklich hin. Dazu wären allerdings gem. c. 1296 entweder ein ordentlicher Strafprozess oder ein Verwaltungsstrafverfahren vor der jeweils zuständigen kirchlichen Autorität erforderlich. Ob eines der beiden eingeleitet wird, stellt der CIC in c. 1296 in das Ermessen der zuständigen Autorität. Ein sinnvolles Abwägungskriterium könnte hier sicherlich der durch das nicht genehmigte Rechtsgeschäft angerichtete Schaden für das Institut bzw. die Kirche sein. Ob überhaupt ein Schaden vorliegt, muss im Einzelfall geprüft werden. Tatsächlich ist es ja nicht auszuschließen, dass auch ein nicht genehmigtes Rechtsgeschäft durchaus zum Vorteil des betreffenden Instituts gewesen ist. 2. Vermögensverwaltungsaufsicht im Rahmen von Visitationen Grundsätzlich gilt auch für die Institute des diözesanen Rechts das oben unter 1.b) zu den Grundregeln über die Visitation dargelegte Recht. Das Recht und die Pflicht die Institute diözesanen Rechts zu visitieren, ergibt sich aus cc. 396 § 1 628 § 2. Das schließt den Bereich der klösterlichen Disziplin ein. Bezüglich der Rechte zur Visitation durch den Diözesanbischof aus c. 397 § 1, ist im Lichte von c. 586 zwischen dem Außenbereich und dem Innenbereich des Instituts zu unterscheiden. Der Außenbereich bezieht sich auf jegliches Engagement des Instituts in den Bereichen der Seelsorge und des Apostolats. Demgegenüber beschreibt der Innenbereich alle Gegenstände, die das interne Leben des Instituts betreffen, also auch das Vermögen und seine Verwaltung. Das Recht und die Pflicht den Innenbereich der Institute zu visitieren, ergibt sich aus c. 628 § 2 n. 2 und § 3. Mit Blick auf die Vermögensaufsichten der Institute des geweihten Lebens diözesanen Rechts ist darauf zu achten, dass c. 628 § 2 dem Diözesanbischof lediglich ein beschränktes Recht der Visitation dieser Institute zuspricht. In erster Linie geht es darum, dass sich der Visitator einen persönlichen Eindruck von der Situation des Instituts und seiner etwaigen Probleme verschafft.57 Zu den wesentlichen Aufgaben gehört es im Rahmen der Visitation, etwaige Nachlässigkeiten in der Ordensdisziplin oder der Lebensführung zu erforschen und/oder das Institut und seine Mitglieder im Hinblick auf die Gestaltung ihres geistlichen Lebens nach Maßgabe des eigenen Patrimoniums zu unterstützen.58 Zwar sind diese Institute diözesanen Rechts, das bedeutet aber nicht, dass sie rechtlich und disziplinär ebenso zu behandeln wären, wie Einrichtungen die zum Bistum gehören. Problemlösungen sind daher und vor allem wegen c. 586 § 2 immer im Einvernehmen mit dem Institut zu erarbeiten. Dazu ist auch in diesen Instituten zunächst einmal das Ei57 58

Vgl. Rhode, Visitation (Anm. 11), a. a. O., 509. Beal/Coriden/Green (Anm. 15), New Commentrary, a. a. O., 791.

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genrecht zu beachten, das günstigerweise differenzierte Bestimmungen über die Durchführung der Visitation, vor allem im Bereich des Vermögens vorhält. Trifft das Eigenrecht keine eigene Vorsorge für diesen Rechtsbereich, gelten die Bestimmungen des universalen Kirchenrechts im Ordensrecht (cc. 634 – 640 für Ordensinstitute, c. 717 für Säkularinstitute, sowie c. 741 für Gesellschaften des apostolischen Lebens) und im Buch V. des CIC. Im Zuge der Visitation sind seitens des Instituts alle vermögensrechtlich relevanten Tatbestände offenzulegen, soweit sie nicht Betriebsgeheimnisse berühren, über die mit säkularen Geschäftspartnern Stillschweigen vereinbart wurde. Die zurückliegenden und aktuellen jährlichen Haushaltspläne und Rechnungslegungen werden zu diesem Anlass dem Diözesanbischof zur Prüfung vorgelegt. Von seitens des Visitators ist zu beachten, dass sich seine Aufsichtsrechte und -pflichten durch den Bereich der sachlichen Zuständigkeit ergeben und dadurch auch begrenzt werden. Eine entsprechende Abgrenzung erfolgt entweder bereits durch das Eigenrecht oder sie wird im Ernennungsdekret des Visitators beschrieben, soweit der Bischof diese Aufgabe wegen rechtmäßiger Verhinderung nicht selbst übernimmt. Dazu sieht c. 396 § 1 vor, dass als Visitator ein Bischofsvikar, Generalvikar oder anderer Priester eingesetzt werden kann. Diese Aufzählung entspricht ebenso wie das seinerseits zu erfüllende Kriterium der „rechtmäßigen Verhinderung“ der Bedeutung der Aufgabe. Ob aufgrund dieser Rechtslage und auf der Basis einer Dispens gem. c. 87 § 1 eine Person mit der Visitation beauftragt werden kann, die nicht die Priesterweihe empfangen hat, erscheint aufgrund der Stellungnahmen in der Literatur nicht eindeutig. Einige Autoren optieren dafür, die Listung in c. 396 § 1 eher als abschließend zu bewerten.59 Teilweise wird sogar die Möglichkeit, Laien mit der Visitation zu beauftragen zurückgewiesen.60 Andererseits erstreckt sich die Dispensgewalt des Diözesanbischofs gem. c. 87 § 1 auf alle Disziplinargesetze.61 Zu diesen wird man auch c. 396 § 1 zählen dürfen. Allerdings will die Literatur eine Dispensvollmacht in diesem Fall auch nur so weit reichen lassen, als dass anders für die Gläubigen eine Härte entstehen würde, die es zu mildern gelte.62 Das wäre ebenso schlüssig darzulegen, wie eigene rechtmäßige Verhinderung. Im Bereich der Frauenordensgemeinschaften ist es freilich nicht unüblich Ordensfrauen mit der Visitation zu beauftragen und in diesem Fall die angesprochene Disziplinarvollmacht anzuwenden. Einer strikten rechtlichen Auslegung der Normen hält diese Praxis nicht stand. Allerdings kann sie aus sachlichen Gründen gleichwohl geboten erscheinen, wenn die mit der Visitation delegierte Ordensfrau mit der dafür erforderlichen Kompetenz ausgewiesen ist und so dem zu visitierenden Institut eher gedient ist, als wenn es der Bischof selbst unternimmt. Diese Lösung scheint mit einem Seitenblick auf die Instruktion Cor orans (Art.111) vertretbar, wo neben dem Diözesanbischof die Föderationspräsidentin als Co-Visitatorin allerdings nur aufgrund einer 59 Vgl. Coriden/Green/Heintschel (Anm. 14), The Code od Canon Law, a. a. O., 333 f.; Bier, in: MKCIC 396, 4. 60 Vgl. Beal/Coriden/Green (Anm. 15), New Commentary, a. a. O., 532. 61 Vgl. Socha, in: MKCIC 87, 6. 62 Vgl. Socha, in: MKCIC 87, 10.

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päpstlich approbierten Exemtion installiert wird.63 Letztlich bleibt die Rechtslage diesbezüglich uneindeutig, auch wenn die Praxis, dass Diözesanbischöfe in Deutschland bisweilen Ordensfrauen als Visitatorinnen delegiert haben, bisher von der römischen Kurie nicht als rechtsfehlerhaft angemahnt worden ist. IV. Einige Schlussfolgerungen Wie schon eingangs erwähnt, bleiben Visitationen eine sensible Materie im Leben von Ordensgemeinschaften. Der prüfende und bisweilen korrigierende Blick von außen auf das Leben der Gemeinschaften ist dennoch sinnvoll und notwendig, weil sich ansonsten leicht Missbräuche und Fehlentwicklungen einschleichen können. Bei aller Wertschätzung für die gerechtfertigte Autonomie der Institute, gilt es darauf zu achten, dass diese in ihrem Leben dem eigenen Patrimonium treu bleiben. Das gilt insbesondere in Deutschland und in Ländern mit vergleichbaren Verhältnissen, da viele Gemeinschaften klein sind und immer kleiner werden. Besonders die Aufgaben der Institutsleitung werden damit nicht mehr wie früher auf viele, sondern immer nur auf wenige und oft Periode für Periode auf dieselben Schultern gelegt. Visitationen können hier zu Entlastungen führen, da der Blick von außen auf das innere und äußere Leben der Gemeinschaft davor bewahren kann, in Sackgassen zu führen. Und wenn es dann für Institute so weit kommt, dass ihre Lebenszeit zur Neige geht, bedarf es umso mehr der Hilfe von außen, damit auch dieser Weg, getreu der jeweiligen Berufung, geistlich und materiell gut und verlässlich beschritten werden kann. Dabei ist es gerade in vermögensrechtlicher Hinsicht wichtig, dass die Vermögensverhältnisse klar dargestellt werden können und eine Unterscheidung zwischen Stammvermögen und freiem Vermögen vorgenommen wird, die geeignet ist, die wirklichen wirtschaftlichen Verhältnisse des Instituts abzubilden. Eine simple Unterscheidung dergestalt, das zum Stammvermögen die Immobilien und zum freien Vermögen die Mobilien gerechnet werden, erscheint angesichts der Komplexität modernen Wirtschaftens nicht angemessen. Vielmehr kommt es darauf an, welche Vermögenswerte dem Grunderhalt des Instituts dienen und welche als Geschäftsvermögen zu bezeichnen sind. Angesichts der Komplexität der Aufgabe die Institute bei der Vermögensverwaltung wirksam zu unterstützen, haben sich der Verantwortlichen von außen, sei es der Apost. Stuhl oder der Diözesanbischof, darüber bewusst zu sein, dass sie ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips den Gemeinschaften Hilfe zur Selbsthilfe leisten und etwaige eigene Interessen in überschneidenden Wirkungsbereichen hinten anzustellen sind. So kann ganz im Sinne der kodikarischen Gesetzgebung ein guter Beitrag zur Bewahrung des Erbgutes und der iusta autonomia der Institute geleistet werden. 63 Vgl. Kongregation für die Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des Apostolischen Lebens, Instruktion Cor orans v. 1. 4. 2018, Art. 111, online: https://www.vati can.va/roman_curia/congregations/ccscrlife/documents/rc_con_ccscrlife_doc_20180401_cororans_en.html [Zugriff: 14. 11. 2022].

IV. Kirchliches Strafrecht und Prozessrecht

Il riferimento al c. 1348 come asserita base legale per la sospensione amministrativa non penale nella giurisprudenza della Segnatura Apostolica Frans Daneels OPraem Sono rimasto sorpreso che sia stato invocato il prescritto del c. 1348 come base legale per l’imposizione della sospensione amministrativa non penale in due cause recenti (prot. nn. 51677/16 CA e 53788/18 CA), in cui sono intervenuto come membro del Collegio dei Giudici del Supremo Tribunale della Segnatura Apostolica. Mi sembra pertanto opportuno dedicare una breve esposizione al riguardo in omaggio al mio caro Confratello Mag. DDr Severin Lederhilger OPraem. Il termine “sospensione amministrativa non penale” rimanda in queste pagine esclusivamente alla sospensione dall’esercizio del ministero sacerdotale imposta con un atto amministrativo, che la infligge senza che alcun processo penale penda, anzi non di rado senza che neppure sia in prospettiva o sia possibile1. Essa riguarda di fatto la totale o quasi totale proibizione di esercitare davanti al Popolo di Dio il ministero sacerdotale, incluse le facoltà ministeriali concesse dalla legge universale, e riguarda ancora più specificatamente l’imposizione di celebrare la SS.ma Eucaristia soltanto in un luogo determinato, per es. la casa privata del sacerdote, senza accesso di altri fedeli o comunque con accesso limitatissimo di pochissimi fedeli, per es. due adulti. Recita il can. 1348 CIC/1983: “Quando il reo viene assolto dall’accusa o non gli viene inflitta alcuna pena, l’Ordinario può provvedere al suo bene e al bene pubblico con opportune ammonizioni o per altre vie dettate dalla sollecitudine pastorale, o anche, se del caso, con rimedi penali”2. Rimando ai manuali di diritto penale canonico per l’elenco dei casi nei quali il reo viene assolto dall’accusa o non gli viene inflitta alcuna pena. Va notato, invece, che questo accade al termine di un processo penale, al quale l’accusato è stato sottoposto. Le misure allora eventualmente assunte dall’Ordinario (ammonizioni, altri strumenti pastorali, rimedi

1

Cf. G. Paolo Montini, Il principio di proporzionalità nei provvedimenti di sospensione dall’esercizio del ministero sacerdotale secondo la giurisprudenza della Segnatura Apostolica, in: PerRCan 109 (2020), pp. 313 – 364; ivi pp. 317 – 318. 2 Il c. 1348 CIC/1983 è rimasto invariato nel nuovo Libro VI CIC/2021.

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penali3) evidentemente non possono essere di fatto equivalenti a delle vere pene, anche se presentate come misure pastorali, tanto più che il c. 1348 come misura estrema prevede i rimedi penali, che non sono pene. Conviene pertanto vedere che cosa la Segnatura Apostolica dice in rapporto al riferimento al c. 1348 come base legale per l’imposizione della sospensione amministrativa non penale4. Alle cause sopra menzionate si premette la causa prot. n. 45485/11 CA5. La sentenza definitiva emanata in questa causa è infatti stata pubblicata6. Prot. n. 45485/11 CA Il caso. Il Signor X accusa il 30 agosto 1997 il Rev.do N. di numerosi abusi sessuali negli anni 1986 e 1989, quando era ancora minore, e si suicida qualche giorno dopo la denuncia. Mentre l‘autorità civile si astiene da ogni ulteriore intervento nel caso, il tribunale arcidiocesano il 10 agosto 2000 punisce il Rev.do N. con la dimissione dallo stato clericale. Perviene la causa in appello al Tribunale della Congregazione per la Dottrina della Fede, che, dopo un supplemento d’istruttoria, assolve l’11 arile 2005 l’imputato e quindi revoca la pena che gli era stata inflitta. La Congregazione avverte però l’Arcivescovo della sua facoltà di proteggere il bene della arcidiocesi per quanto concerne il futuro ministero del Rev.do N. Seguono diversi precetti, prima di astenersi da qualsiasi ministero pubblico nell’arcidiocesi, poi in tutta la rispettiva nazione, ed infine nella Chiesa intera, assieme con l’obbligo di ricevere un supporto pastorale e la revoca del sostentamento per asserita disobbedienza. La Congregazione per il Clero rigetta il 18 settembre 2010 il ricorso gerarchico ed il 2 aprile 2011 il nuovo esame della causa. Infine, il Supremo Tribunale della Segnatura Apostolica dichiara il 20 giugno 2013 la violazione della legge per quanto riguarda sia la procedura che la decisione stessa nell’impugnato decreto della Congregazione per il Clero ed impone secondo

3 Cf. la formula del c. 1341 CIC/1983 “né con la correzione fraterna né con la riprensione né per altre vie dettate dalla sollecitudine pastorale”, che diventa nel nuovo Libro VI “né per vie dettate dalla sollecitudine pastorale, soprattutto con la correzione fraterna, né con l’ammonizione né con la riprensione” (c. 1341 CIC/2021). Le misure di sollecitudine pastorale consistono soprattutto nella correzione fraterna! 4 Per l’indebita remissione al c. 223 § 2 come base legale per la sospensione amministrativa non penale, cf. Montini, Il principio (nota 1), pp. 333 – 335, e per l’indebita remissione ad una normativa canonica locale (per es. l’art. 9 delle Norme Essenziali della Conferenza dei Vescovi degli Stati Uniti d’America), cf. ivi, pp. 356 – 357. 5 Mi limito allo studio della questione nelle sole cause del contenzioso amministrativo di cui sono venuto a conoscenza e che la concernano. 6 In: ME 132 (2017), pp. 385 – 402, per il testo originale latino, e pp. 403 – 421, per la traduzione in inglese di William L. Daniel; anche in: William L. Daniel (ed.), Ministerium Iustitiae vol. II, Chambly 2021, pp. 144 – 178, per il testo latino con accanto la sua versione inglese.

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l’art. 90 della Legge propria all’Arcivescovo di provvedere all’onesto sostentamento del Rev.do N. Il riferimento al c. 1348. La sentenza definitiva del 20 giugno 2013, pubblicata il 14 ottobre 2013, premette al n. 7 che la Congregazione per il Clero nel decreto del 18 settembre 2010 ha considerato le misure restrittive imposte al Rev.do N. del tutto conformi con quanto dispone il c. 1348. Commenta il c. 1348 e conclude che l’Ordinario può applicare a norma del can. 1348 mezzi pastorali e rimedi penali al reo assolto dall’accusa per insufficiente prova del delitto, ogniqualvolta emergono dagli atti del processo penale gravi indizi, che spingono a provvedere al bene dello stesso reo ed al bene pubblico. Tali elementi, infatti, possono essere assunti insieme ad altre circostanze tra i motivi che giustificano l’intervento dell’Ordinario verso il reo assolto dall’accusa7. Osserva la sentenza (nn. 8 – 9) che nel caso il Rev.do N. è stato assolto per insufficienza di prove da parte della Congregazione per la Dottrina della Fede, che ha dato il consiglio all’Arcivescovo di proteggere il bene dell’arcidiocesi per quanto concerne il futuro ministero del Rev.do N. L’Arcivescovo ha di seguito imposto al Rev.do N. misure restrittive, che la Congregazione per il Clero ha ritenute conformi al dettato del c. 1348. La sentenza rigetta poi (nn. 10 – 11) l’obiezione della Patrona del Ricorrente che il c. 1348 non poteva essere applicato nel caso, perché la decisione assolutoria della Congregazione per la Dottrina della Fede era passata in giudicato. Poteva infatti l’Arcivescovo legittimamente a norma del c. 1348 prendere misure canoniche contro il Rev.do N. anche dopo la sentenza assolutoria passata in giudicato8. Risultano (nn. 12 – 14) però non indicati i motivi desunti dagli atti del processo giudiziale per imporre al Rev.do N. dette misure restrittive dell’esercizio del ministero sacerdotale. Conclude perciò la sentenza che nel caso c’è stata la violazione della legge per quanto concerne la procedura (n. 14). Costatata nel caso l’illegittimità concernente l’applicazione del c. 1348 per quanto riguarda la procedura, la sentenza dichiara poi la violazione della legge per quanto riguarda la decisione nell’impugnato decreto della Congregazione per il Clero sia per l’asserita disobbedienza del Rev.do N. che per la revoca del sostentamento. Questa sentenza definitiva difende la possibilità di applicare a norma del c. 1348 mezzi pastorali e rimedi penali al reo assolto per insufficienza di prova, qualora siano emersi dagli atti della causa penale degli elementi che lo giustifichino. Ciò vale anche dopo una decisione passata in giudicato. Deve però essere indicato per la 7

“… reo ab accusatione absoluto ob insufficientem delicti probationem media pastoralia et remedia poenalia ab Ordinario ad normam can. 1348 applicari possunt, quoties ex actis processus poenalis gravia emergant indicia, quae talem interventum urgent ad consulendum utilitati ipsius rei et bono publico. Haec enim elementa una cum aliis rerum adiunctis assumi possunt inter motiva, quae interventum Ordinarii erga reum ab accusatione absolutum legitimum reddant”. 8 “Restat igitur, ut Exc.mus Ordinarius … ad normam can. 1348 etiam post sententiam absolutoriam in rem iudicatam transactam provisiones canonicas quoad Rev.dum N. legitime capere potuerit”.

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legittimità dell’atto quali elementi pertinenti al caso siano emersi dagli atti. La sentenza, atteso il tenore del decreto impugnato della Congregazione per il Clero, sembra insinuare che anche la sospensione amministrativa non penale possa essere imposta al reo assolto o almeno non punito, qualora dagli atti risultino i dovuti motivi, pertinenti nel caso. Ma la sentenza non dice, almeno esplicitamente, che detta sospensione rientra tra le possibili misure, di cui al c. 1348. La Segnatura Apostolica chiarisce la questione nel caso seguente.

Prot. n. 51677/16 CA Il caso9. Il Rev.do N. viene accusato nel gennaio del 2009 della violazione del VI comandamento che avrebbe commesso nel 1976 con una ragazza di sedici anni. Va notato che allora non era un delitto canonico e neanche civile. Dopo qualche indagine previa ed il voto di una commissione diocesana, chiede l’Arcivescovo il 23 aprile 2009 al Rev.do N. di rinunciare all’ufficio di parroco. La rinunzia viene offerta e, ovviamente, accettata. Mette poi lo stesso Ordinario per iscritto altre richieste, già previamente rivolte, nella lettera indirizzata al Rev.do N. il 20 maggio 2009, cioè di risiedere in una determinata casa per gli esercizi spirituali e di celebrare la S. Eucaristia senza la presenza di alcun altro fedele. Il Rev.do N. esibisce il 13 agosto 2009 una lunga difesa e ricorre il 13 novembre 2009 alla Congregazione per il Clero contro il silenzio dell’Arcivescovo, il quale però, dopo l’intervento della Congregazione per la Dottrina della Fede, in data 23 marzo 2010 non soltanto conferma le misure imposte, ma le rende ancora più severe, ed emana ad istanza del Rev.do N. il 15 luglio 2010 l’apposito decreto formale, invocando il c. 1348 e l’art. 9 delle Norme Essenziali della Conferenza Episcopale per giustificare la sospensione amministrativa dall’esercizio del ministero sacerdotale. Il Rev.do N. ricorre nei termini alla Congregazione per il Clero, che trasmette il ricorso alla Congregazione per la Dottrina della Fede, la quale il 12 aprile 2013 fa sapere di non essere competente nel caso. Mentre la Congregazione per il Clero non concede la richiesta dimissione del Rev.do N. dallo stato clericale, emana il Vicario generale il 7 luglio 2015 un nuovo decreto con l’elenco dei divieti, con cui al Rev.do N. l’esercizio del ministero presbiterale viene vietato e imposto l’obbligo di cercare un lavoro secolare per liberare l’arcidiocesi dal suo sostentamento. Questo decreto ha valenza per cinque anni. L’Arcivescovo lo conferma il 13 agosto 2015. Ricorre il Rev.do N. alla Congregazione per il Clero, che il 31 marzo 2016 rigetta il ricorso. Arriva quindi la causa alla Segnatura Apostolica, che con sentenza definitiva dell’8 ottobre 2019 dichiara la violazione della legge nel caso per quanto riguarda sia la procedura che la decisione stessa. Il riferimento al c. 1348. L’Arcivescovo invoca nel suo decreto del 15 luglio 2010 il c. 1348 e l’art 9 delle Norme essenziali “come una guida”10. Il decreto della 9

Per un’esposizione più ampia del caso, cf. Montini, Il principio (nota 1), pp. 324 – 328. “… as a guide”.

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Congregazione per il Clero del 31 marzo 2016, prot. n.20160089, non menziona dette norme, almeno in modo esplicito. La sentenza definitiva della Segnatura dell’8 ottobre 2019 riferisce nella fattispecie che l’Arcivescovo le ha invocate e poi nella parte riguardante l’asserita legittimità dei divieti imposti al Rev.do N. esamina al n. 6 la loro invocazione. Premette la sentenza che i gravi divieti sono stati imposti al Rev.do N. in seguito all’asserita credibilità delle accuse contro di lui11, ma ritiene che i divieti imposti, che hanno come fondamento soltanto la credibilità dell’accusa, non si sostengono in alcun modo e che almeno le stesse norme invocate dall’Arcivescovo, cioè il c. 1348 e l’art. 9 delle Norme essenziali lo proibiscono12. Prosegue la sentenza che non è sufficiente il c. 1348, che viene citato integralmente13, perché, anche senza addurre altri argomenti, è sufficiente osservare quanto distino le proibizioni nel caso imposte dalle “ammonizioni ed altre vie dettate dalla sollecitudine pastorale” e dai “rimedi penali”, come insegna apertamente qualsiasi commentario al Codice14. In altre parole: la totale o quasi totale sospensione amministrativa dall’esercizio del ministero sacerdotale non rientra per niente tra le misure permesse dal c. 1348. Asserisce la sentenza che anche la giurisprudenza della Segnatura lo aveva già affermato in una sentenza precedente: “Avviene però talvolta che un Ordinario in tali circostanze invece di misure pastorali oppure di rimedi penali, cioè dell’ammonizione o della riprensione (cf. c. 1339, §§ 1 – 2), impone al sacerdote, al quale non è stata inflitta una pena, a modo di provvisione amministrativa gravi proibizioni o privazioni, equivalenti alle pene espiatorie, che lo colpiscono come un delinquente o per sempre o per un tempo definito o per un tempo indeterminato (cf. c. 1336 § 1)”15. Il testo citato della giurisprudenza della Segnatura è preso dalla sentenza definitiva del 26 gennaio 2019, prot. n. 52041/16 CA, n. 11, e si riferisce, atteso l’inciso “invece di misure pastorali oppure di rimedi penali”, senza dubbio al c. 1348, pur senza menzionarlo esplicitamente. Asserisce 11 La sentenza, al precedente n. 5, aveva rilevato la violazione della legge nella procedura, cioè per mancanza di motivazione, in quanto né l’Arcivescovo né la Congregazione avevano dato alcuna risposta ai gravi argomenti addotti dal Rev.do N. contro le accuse (e quindi contro la loro credibilità). 12 “Nullo pacto prohibitiones impositae super hoc fundamento, sola nempe accusationis credibilitate, sustineri possunt. Hoc saltem prohibent ipsissimae normae ab Exc.mo Archiepiscopo invocatae, praescripta scilicet can. 1348 et art. 9 Normarum Essentialium”. 13 “Non sufficit can. 1348, qui recitat …”. 14 “Vel ceteris praetermissis, sat est animadvertere quam longe distant prohibitiones in casu impositae a ‘monitis aliisque pastoralis sollicitudinis viis’ et ‘poenalibus remediis’, uti quodlibet Codicis commentarium aperte docet”. 15 “Quae omnia et H.S.T. iurisprudentia adnotavit: ‘Interdum tamen obvenit quod Ordinarius in hisce rerum adiunctis in locum medii pastoralis vel remedii poenalis, scilicet monitionis vel correptionis (cf. can. 1339, §§ 1 – 2), presbytero impune dimisso irrogat per viam provisionis administrativae graves prohibitiones vel privationes, poenis expiatoriis aequivalentes, quae eum ad instar delinquentis afficiunt aut in perpetuum aut in tempus praefinitum aut in tempus inderminatum (cf. can. 1336, § 1)’ (sententia definitiva, coram Stankiewicz, die 26 ianuarii 2019, prot. n. 52041/16 CA, n. 11)”. Va notato che l’Ecc.mo Stankiewicz era anche il ponente nella causa prot. n. 45485/11 CA.

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poi la sentenza brevemente che neanche l’art. 9 delle Norme Essenziali giustifica nel caso le misure imposte e conclude: “Siccome non è stata acquisita la certezza morale circa l’accusa, appare abbastanza chiaramente che le proibizioni imposte al Rev.do N. siano affette da violazione della legge per quanto riguarda la decisione e che, pertanto, non sia necessario soffermarci su altre ragioni di illegittimità, come, per es., la non osservata proporzione tra le proibizioni imposte e l’asserito fatto, che per niente costituisce un delitto in diritto canonico e nel diritto civile locale, mentre per circa trent’anni non è mai stato attribuito al Rev.do N. qualche fatto simile”16. L’illegittimità delle proibizioni imposte ossia della sospensione amministrativa non penale viene nel caso dichiarata perché l’asserito abuso di minore non risulta provato17. Ma la sentenza asserisce anche che detta sospensione amministrativa non penale non rientra tra le vie di sollecitudine pastorale ed i rimedi penali dell’ammonizione e della riprensione, di cui al c. 1348. In altre parole: il c. 1348 non può essere invocato come base legale per l’impugnata decisione. La sentenza non fa però alcuna menzione della mancanza del presupposto per l’uso del c. 1348, cioè l’assoluzione o almeno la non imposizione di una pena a conclusione di un processo penale, che infatti non è stato istituito nel caso. Non sembra da escludersi in un caso, nel quale un processo penale non è possibile, un’invocazione del c. 1348 per analogia, a condizione che ci siano i giusti motivi e che le misure imposte rimangano nell’ambito di quelle ivi previste. Prot. n. 53788/18 CA Il caso. Nel novembre 2012 c’è una denunzia di abuso sessuale di minore contro il Rev.do N., che nega il fatto. L’autorità civile rinuncia al processo penale e poi anche la Congregazione per la Dottrina della Fede ritiene che un processo penale non possa arrivare alla certezza morale. La ragazza denunziante è infatti psichicamente labile. Per mancanza di processo penale, e quindi per la mancanza di certezza morale sul delitto di abuso di minore, non è possibile imporre una pena canonica. Il Vescovo ritiene, però, credibile la denuncia e vuole evitare un’eventuale ricaduta per proteggere i minori. Segue poi nel maggio 2013 una denuncia di attività sessuale da parte del Rev.do N. con una donna adulta non vulnerabile. La donna non era consenziente, ma non vuole partecipare ad un processo. Nel corso di un colloquio con un perito, il Rev.do N. ammette l’attività sessuale non desiderata dalla donna e atti sessuali con altre donne consenzienti. Anche in questo caso non si può imporre una pena canonica. Ma il Vescovo vuole impedire il ripetersi di tali casi. Il Rev.do si 16 “Certitudine morali haud adepta de accusatione, satis patet prohibitiones Rev.do N. impositae violatione legis in decernendo affici, quin sit necessarium immorari aliis rationibus illegitimitatis, uti exempli gratia, haud servata proportione inter prohibitiones impositas et assertum factum, delictum iure canonico et lege civili terrritorii haud constituens, quin quidquam id genus per triginta annos Rev.do N. tributum sit”. 17 La sentenza rigetta poi ai nn. 7 – 10 l’asserita disobbedienza con scandalo come motivo legittimo della sospensione amministrativa non penale.

Il riferimento al c. 1348

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è astenuto dall’esercizio del suo sacerdozio davanti al popolo dall’inizio della investigazione. Ha poi su forte insistenza del Vescovo offerto la rinuncia (accettata) al suo officio di parroco. Il Vescovo ha imposto un precetto penale il 16 luglio 2016, seguito dalla sospensione il 18 settembre 2016, ma ha poi revocato detti decreti su consiglio della Congregazione per il Clero. Emana però il 27 luglio 2017 un nuovo decreto che restringe fortemente l’esercizio del sacerdozio del Rev.do N. La Congregazione col decreto del 5 giugno 2018 obroga il decreto del Vescovo, revocando la facoltà di predicare e di ascoltare le confessioni e stabilendo che il Rev.do N. può chiedere occasionalmente per iscritto qualche eccezione per poter celebrare davanti al popolo o per poter portare l’abito da sacerdote, e che le misure devono essere riviste dal Vescovo ogni due anni. La Congregazione rigetta il motivo addotto in diritto dal Vescovo, cioè il c. 223 § 2, ma lo sostituisce, riferendosi al c. 384 assieme con il c. 277 § 3 e al c. 1348. La revisione biennale viene imposta per evitare misure perpetue, e quindi penali, ossia illegittimamente imposte per l’assenza di un processo penale previo. Sembra però poco probabile, visto l’atteggiamento del Vescovo, che egli cambi le misure imposte in tale revisione biennale. La Segnatura Apostolica decreta con sentenza definitiva del 3 dicembre 2021, prot. n. 53788/18 CA, la violazione della legge per quanto riguarda la decisione stessa. Il riferimento al c. 1348. Come detto, la Congregazione per il Clero adduce nel suo decreto, prot. n. 2018 1846, come motivo in diritto anche il c. 1348. Cita nel n. 11 del decreto il testo del c. Poi spiega che l’Ordinario, pertanto, in assenza di un delitto punibile, non può soltanto imporre ammonizioni e rimedi penali come misure estreme, ma anche seguire altre vie dettate dalla sollecitudine pastorale per promuovere il bene dell’interessato oppure il bene pubblico, e che dette altre vie possono includere singolari decreti o precetti amministrativi non penali18. E poi nel n. 16 asserisce che il c. 1348 funziona come una specifica base legale per poter imporre restrizioni amministrative quando misure penali non sono possibili, come nel caso, per ragioni giuridiche, cioè l’incapacità di procedere da parte delle accusatrici19. E nella conclusione ribadisce la Congregazione che il c. 1348 permette ad un Vescovo diocesano di esercitare pastorale sollecitudine verso un chierico ed il bene comune, qualora non si possa imporre una pena20.

18 “This canon sets warnings and penal remedies as the utmost extreme in the absence of a punishable delict, but it also establishes that other methods of exercising pastoral solicitude may be applied to promote the good of the person himself or the public good. These other methods may also include administrative, non-penal singular decrees or precepts”. 19 “Canon 1348 also serves as a specific legal foundation for imposing administrative restrictions when penal measures are not possible, as in the Recurrent’s specific case, due to juridical reasons, namely the inability to proceed on the part of the accusers”. 20 “… canon 1348 permits the diocesan Bishop to exercise pastoral solicitude for the cleric and the common good whenever a penalty cannot be imposed”.

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La sentenza definitiva della Segnatura (n. 4) liquida il riferimento al c. 1348 con poche parole: “Il riferimento improprio nel decreto impugnato al c. 1348 non rende per nulla illegittimo l’atto della Congregazione”21. Non è infatti escluso che ci possano essere altri motivi per giustificare il provvedimento impugnato. La sentenza ivi non fa difficoltà per la revoca delle facoltà di ascoltare le confessioni e di predicare22, ma lo fa invece per la revoca delle facoltà sacerdotali concesse dalla legge universale, citando ampiamente la giurisprudenza della Segnatura sulla necessaria proporzionalità tra i fatti provati e le misure imposte in tal caso. Dichiara poi, la violazione della legge per quanto riguarda la decisione stessa, perché il divieto di qualsiasi celebrazione pubblica23 dell’Eucaristia senza permesso espresso del Vescovo non risulta proporzionale alla condizione odierna del Rev.do N., tanto più che il Vescovo invano avevo insistito per la dimissione dallo stato clericale del Rev.do N. e non sembra aver concesso mai il suddetto permesso e non sembra disposto a concederlo in futuro. La sentenza definitiva dichiara il riferimento al c. 1348 nel caso semplicemente improprio. Non spiega, però, il perché di questa dichiarazione. Comunque sia, la conclusione di questo breve studio può essere ugualmente brevissima: l’invocazione del c. 1348 come base legale per l’imposizione di una sospensione amministrativa non penale è secondo la giurisprudenza della Segnatura Apostolica del tutto impropria.

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“Relatio impropria in decreto impugnato ad can. 1348 actum Congregationis minime illegitimum reddit”. 22 “Episcopo ob gravem vel iustam causam facultates ab eo concessas revocare licet, etiam ob dubium positivum et probabile circa idoneitatem sacerdotis ad facultatem recipiendam confessionis excipiendi (cf. Sententia def. coram Cacciavillan diei 18 mar. 2006, prot. n. 32108/01 CA, n. 8). Facultas praedicandi ab ipso legislatore omnibus sacerdotibus conceditur, nisi Ordinarius eam ob iustam causam restrinxerit vel revocaverit (cf. can. 764)”. 23 La celebrazione pubblica viene opposta nel caso al fatto che secondo il decreto della Congregazione per il Clero il Rev.do N. poteva celebrare soltanto nella sua casa privata con l’assistenza massima di due adulti. Ma anche una tale celebrazione è un atto di culto pubblico.

Neuerung und Veränderungen im ersten Teil „Straftaten und Strafen im Allgemeinen“ des revidierten Buchs VI „Die Strafbestimmungen in der Kirche“ des Codex Iuris Canonici Wilhelm Rees Im Laufe seiner langjährigen und vielfältigen Tätigkeit war der Jubilar immer wieder auch mit dem kirchlichen Strafrecht befasst und für zahlreiche Strafverfahren im Kontext der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt verantwortlich, besonders gefordert wohl mit der strafrechtlichen Ahndung der am 29. Juni 2002 erfolgten Weihe von sieben Frauen auf einem Donauschiff im Bereich der Diözese Linz.1 Zudem war Severin J. Lederhilger als Mitglied der Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der von den österreichischen Bischöfen herausgegebenen Rahmenordnung für die katholische Kirche zu Maßnahmen, Regelungen und Orientierungen gegen Missbrauch und Gewalt an der Abfassung dieses Textes maßgeblich beteiligt.2 Papst Franziskus hat mit der Apostolischen Konstitution „Pascite gregem Dei“3 vom 23. Mai 2021 das 1 Vgl. Severin J. Lederhilger, Illegitime Weihen – Bruch der kirchlichen Communio. Bemerkungen zu unerlaubten oder ungültigen Weihehandlungen im Kontext der „Ordination“ von Frauen, in: Ludger Müller, Alfred E. Hierold, Sabine Demel, Libero Gerosa, Peter Krämer (Hrsg.), „Strafrecht“ in einer Kirche der Liebe. Notwendigkeit oder Widerspruch? (= KRB, Bd. 9), Münster 2006, S. 141 – 170. 2 Vgl. Österreichische Bischofskonferenz, Die Wahrheit wird euch freimachen (Joh 8,32). Rahmenordnung für die katholische Kirche in Österreich – Maßnahmen, Regelungen und Orientierungen gegen Missbrauch und Gewalt, 3., überarbeitete und ergänzte Ausgabe (2021), beschlossen in der Vollversammlung der Österreichischen Ordenskonferenz am 10. Mai 2021 und in der Sommervollversammlung der Österreichischen Bischofskonferenz vom 14.–16. Juni 2021, in: Amtsblatt der Österreichischen Bischofskonferenz, Nr. 85 vom 1. September 2021; ferner unter: Amtsblatt_No70_05_final.indd (bischofskonferenz.at) [Zugriff 10. 03. 2023]. Die österreichischen Diözesanbischöfe erteilten der Verfahrensordnung (Teil C) dieser Rahmenordnung einzeln ihre Zustimmung im Sinne von c. 455 § 4 CIC/1983. Die Rahmenordnung ist mit 1. September 2021 in Kraft getreten. S. auch die Fassungen von 2010 und 2016; dazu Wilhelm Rees, Sexualisierte Gewalt in Dienst- und Arbeitsverhältnissen der römisch-katholischen Kirche, in: Martina Egger, Andreas Raffeiner, Herwig van Staa (Hrsg.), Arbeitsrecht, Gesellschaftspolitik und Europa. Liber amicorum für Johann Egger zum 70. Geburtstag (= Schriftenreihe: Arbeitsrechtliche Forschungsergebnisse, Bd. 280), Hamburg 2022, S. 195 – 254, bes. S. 221 – 225. 3 Vgl. Franziskus, Constitutio Apostolica „Pascite gregem Dei“ qua liber VI Codicis Iuris Canonici reformatur vom 23. Mai 2021, in: L’Osservatore Romano, 1. 6. 2021, S. 2 f.; abgedr. in: Communicationes 53 (2021), S. 9 – 12; dt. unter: Pascite Gregem Dei (die XXIII mensis Maii, anno DominisMMXXI) j Francis (vatican.va) [Zugriff 10. 03. 2023].

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überarbeitete Buch VI des CIC zum kirchlichen Strafrecht veröffentlicht. Dieses nicht völlig neue, vielmehr überarbeitete und den gegenwärtigen Erfordernissen angepasste Strafrecht für die römisch-katholische Kirche4 (vgl. Buch VI CIC n. F.) ist am 8. Dezember 2021 in Kraft getreten.5 Mit der Inkraftsetzung wurde eine lange Überarbeitungsphase von über 12 Jahren abgeschlossen, die Papst Benedikt XVI. (2005 – 2013) bereits kurz nach Antritt seines Pontifikats in die Wege geleitet hatte.6 Der Papst hatte Schwächen des Liber VI „De sanctionibus poenalibus in Ecclesia“ des CIC/1983 erkannt und daher rasch und entschlossen gehandelt.7 Mit In4 Änderungen und Anpassungen hat es immer wieder gegeben. Vgl. Wilhelm Rees, Das kirchliche Strafrecht in seiner Entwicklung vom CIC/1917 bis heute, in: Barbara Krämer, Philipp Thull (Hrsg.), Der Codex Iuris Canonici im Wandel. Entwicklungslinien vom CIC/ 1917 bis heute, Würzburg 2021, S. 117 – 145; Wilhelm Rees, Evolution im Strafrecht der römisch-katholischen Kirche mit besonderem Blick auf die delicta graviora und die von Papst Benedikt XVI. in die Wege geleitete Strafrechtsreform, in: Martin Schulte (Hrsg.), Politik, Religion und Recht (= Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Bd. 88), Berlin 2017, S. 165 – 209. 5 Vgl. Liber VI De sanctionibus poenalibus in Ecclesia, in: L’Osservatore Romano, 1. 6. 2021, S. 2 – 4; abgedr. in: Communicationes 53 (2021), S. 17 – 40; ferner unter: cic_liberVI_la.pdf (vatican.va) [Zugriff 10. 03. 2023]; dt.: CIC/1983 deutsch online (codex-iuris-canonici. de) [Zugriff 10. 03. 2023]. 6 Vgl. Pontificium Consilium de Legum Textibus, Schema Recognitionis Libri VI Codicis Iuris Canonici (Reservatum), Typis Vaticanis 2011, Praenotanda, 1. Rationes quaedam recognitionem suadentes, S. 5 – 7; 2. Rationes de singulis canonibus, S. 7 – 16; Schema Recognitionis Libri VI Codicis Iuris Canonci, S. 17 – 39. Das Schema/2011 ist abgedruckt in: Matthias Pulte (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung (= KStKR 25), Paderborn 2017, S. 209 – 233; zum Strafrechtsentwurf s. Elmar Güthoff, Ein Überblick über die im ersten Teil des Strafrechts des CIC (cc. 1311 – 1363) geplanten Änderungen, in: AfkKR 181 (2012), S. 75 – 89; Elmar Güthoff, Ein Überblick über die im zweiten Teil des Strafrechts des CIC (cann. 1364 – 1399) geplanten Änderungen, in: Elmar Güthoff/Stefan Korta/Andreas Weiß (Hrsg.) Clarissimo Professori Doctori Carolo Giraldo Fürst. In memoriam Carl Gerold Fürst (= AIC, Bd. 50), Frankfurt am Main 2013, S. 157 – 165; s. auch Pontificium Consilium de Legum Textibus, Textus Schematis recognitionis Libri VI Codicis Iuris Canonici (Reservatum), Typis Vaticanis 2021; ferner auch Markus Graulich, Der lange Weg zum erneuerten Strafrecht, in: Markus Graulich/Heribert Hallermann, Das neue kirchliche Strafrecht. Einführung und Kommentar (= KRR 35), Münster 2021, S. 13 – 17; Heribert Hallermann, Kontinuität und Reform. Ein erster Einblick in den textus recognitus des Liber VI, in: Graulich/ Hallermann, Strafrecht (Anm. 6), S. 19 – 51; Wilhelm Rees, Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, in: HdbKathKR3, S. 1569 – 1590, hier S. 1588 – 1590. 7 Vgl. Juan Ignacio Arrieta, Il progetto di Revisione del Libro VI del Codice di diritto Canonico, in: AfkKR 181 (2012), S. 57 – 74, hier S. 61; s. auch Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer der vom Päpstlichen Rat für die Interpretation von Gesetzestexten veranstalteten Studientagung anlässlich des 25. Jahrestages der Promulgation des Codex des kanonischen Rechts am 25. Januar 2008: An die Teilnehmer einer Studientagung des Päpstlichen Rates für die Interpretation von Gesetzestexten (25. Januar 2008) j BENEDIKT XVI. (vatican.va) [Zugriff 10. 03. 2023]; Juan Ignacio Arrieta, Der Einfluss Kardinal Ratzingers bei der Revision der kirchlichen Strafrechtsordnung (La Civiltà Cattolica, 4. 12. 2010): http://www.va tican.va/resources/resources_arrieta-20101204_ge.html [Zugriff: 10. 03. 2023]; Juan Ignacio Arrieta, Kardinal Ratzinger und die Revision der kirchlichen Strafrechtsordnung. Eine entscheidende Rolle (L’Osservatore Romano, 2. 12. 2010): http://www.vatican.va/resources/resour ces_arrieta-20101202_ge.html [Zugriff 10. 03. 2023]; Wilhelm Rees, Koordiniertes Vorgehen

Veränderungen im ersten Teil „Straftaten und Strafen im Allgemeinen“

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krafttreten der neuen strafrechtlichen Bestimmungen wurden die bisherigen Normen des Liber VI des CIC/1983 gemäß c. 20 CIC/1983 abrogiert, d. h. gänzlich aufgehoben. Manche Normen blieben unverändert, andere wurden redaktionell und inhaltlich verändert, wieder andere neugefasst bzw. neu eingefügt.8 Die Veränderungen betreffen nicht nur Teil II: „Einzelne Straftaten und die für sie vorgesehenen Strafen“,9 sondern auch Teil I des überarbeiteten Buchs VI des CIC: „Straftaten und Strafen im Allgemeinen“. Neuerung und Veränderungen im diesem ersten Teil sollen im Folgenden in den Blick genommen werden. I. Betonung des Strafanspruchs der Kirche Der kirchliche Gesetzgeber hatte bereits im Codex Iuris Canonici 1983 (CIC/ 1983), der vor vierzig Jahren am 27. November 1983 in Kraft getreten ist, in Übereinstimmung mit c. 2214 des Codex Iuris Canonici von 1917 (CIC/1917) zu Beginn des Strafrechts für die römisch-katholische Kirche das angeborene und eigene Recht der Kirche hervorgehoben, „straffällig gewordene Gläubige durch Strafmittel zurechtzuweisen“ (c. 1311 CIC/1983). Allerdings sah die Praxis – abgesehen von einer stärkeren Ahndung sexuellen Missbrauchs minderjähriger Personen durch Kleriker aufgrund des entstandenen massiven Drucks in den vergangenen Jahren – jedoch anders aus. Kürzungen, Vereinfachungen und Verallgemeinerungen usw. hatten weithin zur Nichtanwendbarkeit des kirchlichen Strafrechts des CIC/1983 geführt, das im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil in einem langen Prozess erneuert worden war. Zudem war der damalige „Zeitgeist“ einer Anwendung der kirchlichen Strafnormen nicht gewogen. So hatte die Kongregation für die Glaubenslehre die mangelhafte Sanktionierung sexuellen Missbrauchs durch die Verantwortlichen der Kirche mit „verschiedenen Strömungen“ in der Zeit nach dem Zweiten Vatikagegen sexuellen Missbrauch. Die Normen der Kongregation für die Glaubenslehre über die delicta graviora vom 21. 05. 2010, in: Heribert Hallermann/Thomas Meckel/Sabrina Pfannkuche/Matthias Pulte (Hrsg.), Der Strafanspruch der Kirche in Fällen von sexuellem Missbrauch (= WTh, Bd. 9), Würzburg 2012, S. 67 – 135, bes. S. 124 – 126; s. auch Armin Schwibach, Kardinal Ratzinger und die Revision des Kirchenstrafrechts. Drei Briefe aus dem Jahr 1988 und ihre Geschichte werfen ein interessantes Licht auf die Beständigkeit und Entschlossenheit des künftigen Papstes zu einer Reform des Strafrechts der katholischen Kirche (02. 12. 2010): https://www.kath.net/detail.php?id=29203&print=yes [Zugriff 10. 03. 2023]. 8 Die folgenden Überlegungen entstammen zu einem großen Teil: Wilhelm Rees, Neue (Tarif-)Strafen – neue Wirksamkeit? Ein Blick auf die Neuordnung der Sühnestrafen und die damit sanktionierten Straftatbestände im Buch VI CIC/1983 n. F., in: Thomas Meckel/Matthias Pulte (Hrsg.), Das neue kirchliche Strafrecht zwischen Kontinuität und Diskontinuität (= KRR 36), Münster 2023 (im Erscheinen); grundlegend Wilhelm Rees, Die Strafgewalt der Kirche. Das geltende kirchliche Strafrecht – dargestellt auf der Grundlage seiner Entwicklungsgeschichte (= KST, Bd. 41), Berlin 1993. 9 Vgl. dazu Wilhelm Rees, „Einzelne Straftaten und die für sie vorgesehenen Strafen.“ Ergänzungen und Veränderungen in Teil II des revidierten Buchs VI des CIC, in: Thomas Neumann, Peter Platen, Thomas Schüller (Hrsg.), Festschrift für Klaus Lüdicke, Essen 2023 (im Erscheinen).

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nischen Konzil, „was die Zwecke des kirchlichen Strafrechtes und die Notwendigkeit einer dezentralisierten Herangehensweise an die Fälle betraf“, entschuldigt. Gegenüber unangemessenen Verhaltensweisen sei eine „pastorale Herangehensweise“ bevorzugt worden. „Man erwartete sich, dass der Bischof in der Lage wäre, mehr zu ,heilen‘ als zu ,strafen‘“.10 Erneut betont der kirchliche Gesetzgeber in der Neufassung des kirchlichen Strafrechts des CIC das angeborene und eigene Recht der Kirche, „straffällig gewordene Gläubige durch Strafmittel zurechtzuweisen“ (vgl. c. 1311 CIC n. F.). Bestraft werden können Gläubige der römisch-katholischen Kirche, die hinreichenden Vernunftgebrauch besitzen (vgl. c. 1322 CIC n. F.; vgl. c. 1322 CIC/1983), das sechzehnte Lebensjahr vollendet (vgl. c. 1323, 1 8 CIC n. F.; c. 1323, 18 CIC/1983) und eine „äußere Verletzung von Gesetz oder Strafgebot“ vorsätzlich oder fahrlässig begangen haben (vgl. c. 1321 § 2 CIC n. F.; c. 1321 § 1 CIC/1983). Minderjährige, die das sechzehnte Lebensjahr vollendet haben, erhalten eine Strafmilderung (vgl. c. 1324 § 1, 48 CIC n. F.; c. 1324 § 1, 48 CIC/1983). Der Strafanspruch der katholischen Kirche ist immer wieder hinterfragt11 und im Widerspruch zu einer „Kirche der Liebe“ gesehen worden.12 Zu Recht hatte bereits der Päpstliche Rat für die Gesetzestexte der Auffassung widersprochen, dass ein kirchliches Strafrecht mit der Nächstenliebe und dem pastoralen Handeln der Kirche nicht in Einklang gebracht werden könne.13 Gerade „das Unverständnis für den engen Zusammenhang, der in der Kirche zwischen der Ausübung der Liebe und der Umsetzung der Strafdisziplin besteht – immer wenn es die Umstände und die Gerechtigkeit erforderlich machen – “, hat für Papst Franziskus in der Vergangenheit „viel Schaden verursacht“.14 Ein falsches Verständnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit habe „ein Klima übermäßiger Laxheit genährt“.15 10 Kongregation für die Glaubenslehre, Intruduzione storica alle Norme del Motu Proprio Sacramentorum sanctitatis tutela (2001) vom 15. Juli 2010; dt.: Kongregation für die Glaubenslehre, Die Normen des Motu Proprio „Sacramentorum sanctitas tutela“ (2001). Geschichtliche Einführung: Die Normen des Motu Proprio Sacramentorum sanctitatis tutela (2001). Geschichtliche Einführung (vatican.va) [Zugriff 10. 03. 2023]. Dass die Kirche ihr Strafrecht ernst nimmt, zeigt die Aufnahme verschiedener Straftaten in die Kategorie der delicta graviora (schwerwiegendere Straftaten) in den Jahren 2001 und 2010 und die Übertragung der Beurteilung und Ahndung dieser Straftaten an die damalige Kongregation für die Glaubenslehre. Vgl. Wilhelm Rees, Delicta graviora im Recht der römisch-katholischen Kirche und der katholischen Ostkirchen, in: Güthoff/Korta/Weiß, Clarissimo (Anm. 6), S. 467 – 506; s. auch Rees, Evolution (Anm. 4), S. 197 – 206. 11 S. Reinhard Knittel, Besitzt die Kirche das Recht zu strafen? Der c. 1311 CIC/1983 und das Postulat einer theologischen Begründung des Strafanspruchs der Kirche, in: Christoph Ohly/Wilhelm Rees/Libero Gerosa (Hrsg.), Theologia Iuris Canonici. Festschrift für Ludger Müller zur Vollendung des 65. Lebensjahres (= KST, Bd. 67), Berlin 2017, S. 625 – 638; Müller/Hierold/Demel/Gerosa/Krämer, Strafrecht (Anm. 1). 12 Vgl. Peter Krämer, Strafen in einer Kirche der Liebe, in: Müller/Hierold/Demel/Gerosa/ Krämer, Strafrecht (Anm. 1), S. 9 – 22. 13 Vgl. Pontificium Consilium de Legum Textibus, Schema/2011, Praenotanda, Rationes 1 (Anm. 6), S. 5. 14 Franziskus, Pascite gregem Dei (Anm. 3).

Veränderungen im ersten Teil „Straftaten und Strafen im Allgemeinen“

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II. Verpflichtung zur tatsächlichen Anwendung des kirchlichen Strafrechts C. 1341 CIC/1983 sah die Verhängung einer Strafe als letzte Maßnahme und damit als letztes Mittel der Liebe vor, das jedoch selten praktiziert wurde. Dieser Kanon hatte die Beschreitung des Gerichts- oder Verwaltungswegs zur Verhängung oder Feststellung von Strafen nur dann für notwendig erachtet, wenn alle anderen Maßnahmen nicht zur Beseitigung eines Ärgernisses, zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit und zur Besserung des Täters geführt haben. Papst Franziskus mahnt in der Apostolischen Konstitution „Pascite gregem Dei“ zur Inkraftsetzung der erneuerten Strafbestimmungen des Buchs VI des CIC die Nachlässigkeit vieler Bischöfe in der Anwendung des kirchlichen Strafrechts an und stellt fest, dass dessen Anwendung „in untrennbarer Weise mit dem munus pastorale verbunden ist“. Strafen zu verhängen, sei ein „konkretes und unverzichtbares Erfordernis der Liebe gegenüber der Kirche, der christlichen Gemeinschaft und der eventuellen Opfer, aber auch gegenüber demjenigen, der eine Straftat begangen hat und der, zusammen mit der Barmherzigkeit, auch der Korrektur von Seiten der Kirche bedarf“.16 Klar stellt Papst Franziskus fest, dass die „Nachlässigkeit eines Hirten bei der Anwendung des Strafrechts“ deutlich mache, „dass er seine Aufgabe nicht recht und treu ausübt“.17 Bereits im CIC/1983 wird vom Diözesanbischof gefordert, „die ihm anvertraute Teilkirche nach Maßgabe des Rechts mit gesetzgebender, aus15 Erzbischof Filippo Iannone, Leiter des Rates für die Gesetzestexte, bei der Vorstellung des Textes des erneuerten Buchs VI des CIC im Vatikan, zitiert nach: katholisch.de, Neufassung des kirchlichen Gesetzbuches. Bier kritisiert Sicht auf nicht-katholische Taufe als Straftat. Nach zwölf Jahren Arbeit ist die Strafrechtsreform des kirchlichen Gesetzbuchs durch – doch ein Manko bleibt: Wenn Kinder aus einer konfessionsverbindenden Ehe nicht katholisch getauft werden, gilt das weiter als Straftat. Dafür gibt es Kritik (01. 06. 2021): Bier kritisiert Sicht auf nicht-katholische Taufe als Straftat – katholisch.de [Zugriff 10. 03. 2023]. 16 Franziskus, Pascite gregem Dei (Anm. 3). 17 Franziskus, Pascite gregem Dei (Anm. 3), unter Hinweis auf Franziskus, Lettera Apostolica in Forma di Motu Proprio „Come una madre amorevole“ vom 4. Juni 2016, in: L’Osservatore Romano, 5. 6. 2016, S. 8; abgedr. in: Communicationes 48 (2016), S. 34 – 36; ferner unter: Lettera Apostolica in forma di „Motu Proprio“ Come una madre amorevole (4 giugno 2016) j Francesco (vatican.va) [Zugriff 10. 03. 2023]; dazu Thomas Meckel, Das Motu Propio „Come una madre amorevole“ zur Amtsenthebung von Bischöfen, in: Christoph Ohly/Stephan Haering/Ludger Müller (Hrsg.), Rechtskultur und Rechtspflege in der Kirche. Festschrift für Wilhelm Rees zur Vollendung des 65. Lebensjahres (= KST, Bd. 71), Berlin 2020, S. 263 – 273; ferner auf Franziskus, Apostolisches Schreiben in Form eines Motu Proprio „Vos estis lux mundi“ vom 7. Mai 2019, in: L’Osservatore Romano, 10. 5. 2019, S. 10; abgedr. in Communicationes 51 (2019), S. 23 – 33; ferner unter: Apostolisches Schreiben in Form eines „Motu proprio“ von Papst Franziskus „Vos estis lux mundi“ (7. Mai 2019) j Franziskus (vatican.va) [Zugriff 10. 03. 2023]. Das Motu proprio war zunächst für drei Jahre ad experimentum in Kraft gesetzt worden. Am 25. März 2023 hat Papst Franziskus eine überarbeitete, zum Teil verschärfte Fassung erlassen, die am 30. April 2023 in Kraft getreten ist. Vgl. Franziskus, Lettera apostolica in forma di Motu proprio “Vos estis lux mundi“ vom 25. März 2023: https://www.va tican.va/content/francesco/it/motu_proprio/documents/20230325-motu-proprio-vos-estis-luxmundi-aggiornato.html [Zugriff: 31. 03. 2023]; s. auch Rees, Sexualisierte Gewalt (Anm. 2), S. 226 – 229.

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führender und richterlicher Gewalt zu leiten“ (c. 391 § 1 CIC/1983). Zudem erinnert das Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe vom 22. Februar 200418 den Diözesanbischof daran, dass er, wenn er „Kenntnis von Verhaltensweisen erhält, die dem Gemeinwohl schweren Schaden zufügen“, persönlich oder durch einen Beauftragten bezüglich der Sachverhalte Nachforschungen anstellen und die betreffende Person verwarnen oder ihr einen Verweis erteilen soll. „Wo dies aber nicht ausreichen sollte“, muss er „ein Verfahren zur Verhängung von Strafen eröffnen“ (Nr. 68 c). Aufgrund der mangelnden Anwendung des kirchlichen Strafrechts hat sich der kirchliche Gesetzgeber veranlasst gesehen, einen zweiten Paragraphen in c. 1311 CIC n. F. einzuführen, der dezidiert die Pflicht derjenigen Personen der römisch-katholischen Kirche zur Verhängung von Strafen herausstellt, die Leitungsverantwortung tragen.19 Die Einfügung, die bereits in c. 1311 § 2 Schema/201120 enthalten war, greift die Mahnung des Konzils von Trient mit Blick auf die rechte Anwendung des kirchlichen Strafrechts aus dem Jahr 1551 (vgl. sess. XIII, de ref., cap. 1)21 auf, die c. 2214 § 2 CIC/1917 ausdrücklich zitiert hatte. Sie verweist auf die Tendenz zur Milde und 18 Vgl. Kongregation für die Bischöfe, Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe „Apostolorum Successorum“ vom 22. Februar 2004; dt.: VApSt 173, Bonn 2006; ferner unter: Kongregation für die Bischöfe: Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 173, Bonn 2004) (dbk-shop.de) [Zugriff 10. 03. 2023]; s. dazu Heribert Hallermann, Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe. Übersetzung und Kommentar (= KStKR 7), Paderborn 2006, S. 96 f., hier S. 97. 19 C. 1311 § 2 CIC n. F.: „Wem in der Kirche die Leitung zukommt, der muss das Wohl der Gemeinschaft und der einzelnen Gläubigen durch die pastorale Liebe, das Beispiel des eigenen Lebens, durch Rat und Ermahnung und, wenn erforderlich, auch dadurch schützen und fördern, dass Strafen nach den Vorschriften des Gesetzes sowie stets unter Beachtung der kanonischen Billigkeit verhängt und festgestellt werden. Dabei sind die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, die Besserung des Täters und die Beseitigung des Ärgernisses vor Augen zu halten.“ 20 C. 1311 § 2 Schema/2011: „Weil in der Kirche das Wohl der Gemeinschaft und der einzelnen Gläubigen in ihr vorherrscht, ist es zu schützen und zu fördern, mit pastoraler Liebe durch das Beispiel des Lebens, mit einem Ratschlag oder einer Ermahnung und – wenn es erforderlich ist – auch mit der Verhängung von Strafen nach den Vorschriften des Rechts und immer im pastoralen Geist, wobei man die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, die Besserung des Täters und die Behebung des Ärgernisses vor Augen haben muss.“ S. Elmar Güthoff, Überblick I (Anm. 6), S. 78; dt. Übersetzung hier zitiert nach Güthoff, ebd.; s. auch Pontificium Consilium de Legum Textibus, Schema/2011, Praenotanda, Rationes 2 (Anm. 6) c. 1311 § 2, S. 7 und c. 1311 § 2 Schema/2011, ebd., S. 17. 21 Text lat./dt.: Josef Wohlmuth (Hrsg.), Dekrete der Ökumenischen Konzilien, Bd. 3: Konzilien der Neuzeit. Konzil von Trient (1545 – 1563). Erstes Vatikanisches Konzil (1869/ 70). Zweites Vatikanisches Konzil (1962 – 1965). Indices. Im Auftrag der Görres-Gesellschaft ins Deutsche übertragen und herausgegeben unter Mitarbeit von Gabriel Sunnus und Johannes Uphus, Paderborn, München, Wien, Zürich 2002, S. 657 – 799, hier S. 698: Die Synode möchte die Bischöfe „ermahnen, dessen eingedenk zu sein, daß sie Hirten sind und keine brutalen Unterdrücker“ der ihnen anvertrauten Gläubigen. S. auch Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici. Begründet von Eduard Eichmann, neu bearbeitet und herausgegeben von Klaus Mörsdorf (= Wissenschaftliche Handbibliothek. Eine Sammlung theologischer Lehrbücher), Bd. 3: Prozeß- und Strafrecht, Paderborn 101964, S. 335 f.; Rees, Strafgewalt (Anm. 8), S. 183.

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Barmherzigkeit, die von Papst Franziskus immer wieder herausgestellt wird, und damit auf eine durchaus pastorale Ausrichtung des kirchlichen Strafrechts, enthält jedoch ebenso auch die deutliche Aufforderung an die Hirten und Oberen zur konkreten Anwendung der strafrechtlichen Bestimmungen. Letztere ist, wie Heribert Hallermann zu Recht betont, „nicht als eine bloße Option zu verstehen, die frei und persönlich gewählt werden könnte, sondern als eine Verpflichtung, die aus dem Amt selbst erwächst“.22 So hatte gerade der mit der Ausarbeitung des neuen Strafrechts des CIC befasste Päpstliche Rat für die Gesetzestexte das Anliegen der Reform herausgestellt, das kirchliche Strafrecht (wieder) als Instrument der Leitung zu sehen.23 Die bislang in c. 1341 CIC/1983 enthaltene Einschränkung, dass der Gerichtsoder Verwaltungsweg zur Verhängung bzw. Feststellung des Eintritts einer Strafe nur dann beschritten werden sollte (tunc tantum promovendam curet), wenn praktisch andere Maßnahmen keinen Erfolg gebracht bzw. zum Ziel geführt haben, wurde in der erneuerten Fassung gestrichen. Der Ordinarius wird ausdrücklich verpflichtet (debet), die genannten Wege zu beschreiten.24 Deutlich wird, „dass die Norm nicht von der Anwendung der Strafdisziplin abraten will, sondern dass diese jedes Mal dann angewendet werden muss, wenn es nach der Erkenntnis des Ordinarius erforderlich ist“.25 Die seitens der Hirten geforderte Verantwortung kommt auch in den Motu Proprien von Papst Franziskus „Come una madre amorevole“ vom 4. Juni 201626 und „Vos estis lux mundi“ vom 7. Mai 201927 zum Tragen. Kirchliches 22 Hallermann, Kontinuität (Anm. 6), S. 35; s. auch Heribert Hallermann, Obligatio orta ex ipso ministerio. Das Strafrecht als ordentliches Instrument des Hirtendienstes, in: Matthias Pulte/Thomas A. Weitz (Hrsg.), Veritas vos liberabit. Festschrift zum 65. Geburtstag von Günter Assenmacher (= KStKR 27), Paderborn 2017, S. 449 – 469; ferner Güthoff, Überblick I (Anm. 6), S. 78: „Dieser Satz gibt eines der Kernanliegen der Strafrechtsreform wieder; man hätte sich seine Einbeziehung als neu geschaffenen § 3 von c. 1311 vorstellen können.“ 23 Vgl. Pontificium Consilium de Legum Textibus, Schema/2011, Praenotanda, Rationes 1 (Anm. 6), Nr. 1, S. 6; s. auch Markus Graulich, Ut Pastores haberent agile instrumentum salutare et ad corrigendum aptum“. Alcune modifiche nella definizione e delle sanzioni penali nella rinnovata disciplina penale canonica, in: QDE 35 (2022), S. 289 – 298, hier S. 289. 24 C. 1341 CIC n. F.: „Der Ordinarius hat den Gerichts- oder Verwaltungsweg zur Verhängung oder Feststellung von Strafen zu beschreiten, wenn er erkannt hat, dass weder auf den Wegen pastoralen Bemühens, besonders durch brüderliche Ermahnung, noch durch Verwarnung oder durch Verweis die Gerechtigkeit wiederhergestellt, der Täter gebessert und das Ärgernis behoben werden kann.“ 25 Heribert Hallermann, Kommentar zum erneuerten Strafrecht: cc. 1311 – 1353 CIC, in: Graulich/Hallermann, Strafrecht (Anm. 6), S. 107 – 169, hier S. 156; s. auch Pontificium Consilium de Legum Textibus, Schema 2011, Praenotanda, Rationes 2 (Anm. 6), c. 1341 § 1, S. 10. 26 Vgl. Franziskus, Come una madre amorevole (Anm. 17); s. dazu Meckel, Das Motu Proprio (Anm. 17), S. 266 – 273; ferner Wilhelm Rees, Was ist und was sein soll. Zur Ahndung sexuellen Missbrauchs minderjähriger Personen im Recht der römisch-katholischen Kirche, in: ThQ 199 (2019), S. 183 – 207, bes. S. 197.

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Strafrecht nimmt strafrechtlich relevante Verfehlungen der Mitglieder der Kirche in den Blick, seien es Kleriker oder Laien. Es will sich verfehlende Glieder auf ihr unrechtmäßiges Tun hinweisen und zugleich die kirchliche Gemeinschaft schützen. Es kann jedoch nicht als Ersatz für staatliches Recht dienen, sondern wird in Fällen, die sowohl staatlich als auch kirchlich sanktioniert werden können bzw. müssen, parallel bzw. zusätzlich angewendet. III. Einführung der Unschuldsvermutung und stärkere Betonung der Verteidigungsrechte Schuld gilt als Angelpunkt sowohl des weltlichen als auch des kirchlichen Strafrechts. So betont auch der kirchliche Gesetzgeber den Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“.28 Jedoch stellte der CIC/1917 die gesetzliche Vermutung auf, dass eine nach außen in Erscheinung getretene Straftat vorsätzlich begangen wurde (vgl. c. 2200 § 3 CIC/1917; cc. 1826 f. CIC/1917). Er übertrug damit die Beweislast für das Fehlen von Vorsatz der angeklagten bzw. beschuldigten Person. Eine Unschuldsvermutung, die als Grundprinzip eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens (vgl. für Österreich § 8 StPO) gilt und besagt, dass es Sache der Strafverfolgungsbehörde und nicht der strafverdächtigen oder beschuldigten Person ist, die Schuld zu beweisen, war der Kirche bisher fremd.29 Sie ist auch durch Art. 1 AEMR, Art. 14 Abs. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen und durch Art. 6 Abs. 2 EMRK garantiert. Bisher wurde im kirchlichen Recht mit der äußeren Verletzung eines Gesetzes oder Verwaltungsbefehls „die Zurechenbarkeit (imputabilitas) vermutet“, sofern nicht anderes „offenkundig“ ist (vgl. c. 1321 § 3 CIC/ 1983).30 Eine solche Regelung hatte bereits René Pahud de Mortanges als nicht haltbar moniert, „da durch sie der Betroffene schon zu Beginn des Verfahrens als Schuldiger bezeichnet wird“.31 Die angeklagte Person musste ihre Unschuld beweisen. Be27 Vgl. Franziskus, Vos estis lux mundi (Anm. 17); s. dazu Rees, Was ist (Anm. 26), S. 195 – 197. 28 Vgl. Karl Heinz Auer, Keine Strafe ohne Schuld. Schuld als Angelpunkt des Strafrechts. Ein rechtsanthropologischer Zugang, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 108 (2022/ 3), S. 444 – 463. 29 Vgl. Wilhelm Rees, Art. Unschuldsvermutung – Katholisch, in: LKRR, Bd. 4 (2021), S. 525 f.; ferner unter: Unschuldsvermutung – Brill (brillonline.com) [Zugriff 10. 03. 2023]; s. auch Heribert Hallermann, Art. Menschenrechte – Katholisch, in: LKRR, Bd. 3 (2020), S. 182 f.; ferner unter: Menschenrechte – Brill (brillonline.com) [Zugriff 10. 03. 2023]. 30 Vgl. Helmuth Pree, Imputabilitas – Erwägungen zum Schuldbegriff des kanonischen Strafrechts, in: ÖAKR 38 (1989), S. 226 – 243, hier S. 238 f. 31 René Pahud de Mortanges, Zwischen Vergebung und Vergeltung. Eine Analyse des kirchlichen Straf- und Disziplinarrechts (= Rechtsvergleichende Untersuchungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft 3/23), Baden-Baden 1992, S. 115; s. auch Wilhelm Rees, Katholische Kirche und Menschenrechte. Erwartungen an ein künftiges Strafrecht, in: Ohly/Rees/ Gerosa, Theologia (Anm. 11), S. 639 – 665, hier S. 653 f.; Wilhelm Rees, Human Rights and Sanctions in the Catholic Church. The Vision of a Human Rights-Oriented Ecclesiastical Criminal Law, in: Adrian Loretan/Felix Wilfred (Ed.), Revision of the Codes. An Indian-

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reits das Zweite Vatikanische Konzil hatte sich zu den Menschenrechten bekannt (vgl. Art. 41 Abs. 3 VatII GS). Mit der neuen Einfügung in das Strafrecht des CIC ist nun auch in der römisch-katholischen Kirche jeder Mensch „so lange als unschuldig anzusehen, bis das Gegenteil bewiesen ist“ (c. 1321 § 1 CIC n. F.). Zu Recht verweist Hallermann auf die Spannung, die durch die Aufnahme zum überarbeiteten c. 1321 § 4 CIC n. F. (vgl. c. 1321 § 3 CIC/1983) entsteht. So kommt aufgrund der aus dem bisherigen Recht übernommenen widerlegbaren Vermutung der Zurechenbarkeit nämlich nach wie vor der beschuldigten Person zu, „ihre Unschuld zu belegen, auch wenn Schuld-, Strafausschließungs- und Strafmilderungsgründe von Amts wegen zu prüfen sind“. Hingegen fordere das Prinzip der Unschuldsvermutung, „welches den Beweis der Schuld durch die zuständige Strafverfolgungsbehörde bedeutet“, ein „grundsätzlich anderes Vorgehen“.32 Stärker als bisher wird auch der Rechtsschutz betont.33 Als hilfreich kann sich evtl. der in c. 1342 § 1 CIC n. F. aufgenommene Hinweis erweisen, dass im Fall eines Strafdekretverfahrens c. 1720 CIC/1983 zu beachten ist, „vor allem im Hinblick auf das Verteidigungsrecht sowie auf die moralische Gewissheit dessen, der das Dekret nach der Norm des can. 1608 erlässt“. Auch Papst Franziskus verweist in der Apostolischen Konstitution „Pascite gregem Dei“ ausdrücklich auf die Verteidigungsrechte einer beschuldigten Person und sieht diese als grundlegenden Aspekt des Strafrechts.34

IV. Spruchstrafe und Tatstrafe Wie der CIC/1983 hält auch die überarbeitete Version an der Unterscheidung zwischen Tat- und Spruchstrafe, die ausdrücklich verhängt wird, fest, trotz Bedenken, die gegen die Tatstrafe immer wieder erhoben worden sind. Da weder das weltliche Strafrecht noch das Recht der katholischen Ostkirchen diese Art von Strafe kennen, bleiben Tatstrafen eine Besonderheit und Eigentümlichkeit des Strafrechts der römisch-katholischen Kirche. Im Unterschied zu c. 1314 CIC/1983 stellt jedoch der European Dialogue (= ReligionsRecht im Dialog/Law and Religion, Bd./Vol. 24), Wien 2018, S. 143 – 167, hier S. 157. 32 Hallermann, Kontinuität (Anm. 6), S. 50 f., unter Hinweis auf Rees, Unschuldsvermutung (Anm. 29), S. 526. 33 Zur Frage des Rechtsschutzes s. Wilhelm Rees, Faire Verfahren in der Kirche. Rechtsschutz in der römisch-katholischen Kirche, besonders in kirchlichen Strafverfahren, in: Martha Heizer/Peter Hurka (Hrsg.), Mitbestimmung und Menschenrechte. Plädoyer für eine demokratische Kirchenverfassung (= Topos Taschenbücher, Bd. 763), Kevelaer 2011, S. 255 – 295; Wilhelm Rees, Rechtsschutz im kirchlichen Strafrecht und in kirchlichen Strafverfahren, in: Ludger Müller (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kirche (= KRB, Bd. 15), Wien/Berlin 2010, S. 75 – 105; s. auch Rees, Sexualisierte Gewalt (Anm. 2), S. 247 – 250. 34 Vgl. Franziskus, Pascite gregem Dei (Anm. 3); s. auch die Einfügung der Unschuldsvermutung in c. 1321 § 1 CIC n. F.: „Jeder ist so lange als unschuldig anzusehen, bis das Gegenteil bewiesen ist.“ S. dazu Rees, Menschenrechte (Anm. 31), S. 653 f.; Rees, Human Rights (Anm. 31), S. 157.

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kirchliche Gesetzgeber im überarbeiteten c. 1314 CIC n. F. deutlich heraus, dass die Strafe „für gewöhnlich“ (ordinarie) und nicht mehr nur – wie bisher – meistens (plerumque) Spruchstrafe ist.35 V. Strafzwecke Das erneuerte Strafrecht des CIC enthält – ebenso wie Buch VI des CIC/1983 – weder eine Definition der Straftat noch der Strafe.36 Gemäß c. 1341 CIC/1983 sollte durch die Verhängung einer Strafe „ein Ärgernis hinreichend behoben, die Gerechtigkeit wiederhergestellt und der Täter gebessert werden“. Jedoch hatte bereits der Päpstliche Rat für die Gesetzestexte im Schema/2011, wie Elmar Güthoff anmerkt, „ohne Angabe von Gründen“ die Reihenfolge der Strafzwecke gegenüber dem Text von c. 1341 CIC/1983 geändert und „die Behebung des Ärgernisses vom ersten an den letzten Platz gestellt“.37 Diese Umstellung wurde in der überarbeiteten Fassung des Strafrechts beibehalten, sodass durch Strafmaßnahmen „die Gerechtigkeit wiederhergestellt, der Täter gebessert und das Ärgernis behoben“ werden sollen (c. 1341 CIC n. F.). Auch der neu eingefügte c. 1311 § 2 CIC n. F. nennt als Strafzwecke „die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, die Besserung des Täters und die Beseitigung des Ärgernisses“,38 ebenso c. 1343 CIC n. F., der dem Richter ermöglicht, eine Strafe zu verhängen bzw. von einer Strafverhängung abzusehen, wobei er entscheiden muss, was nötig ist, um „die Gerechtigkeit wiederherzustellen, den Täter zu bessern und das Ärgernis zu beheben“ (nicht c. 1343 CIC/1983). Die stärkere Betonung der Wiederherstellung der Gerechtigkeit zeigt sich auch in c. 1345 CIC n. F. (nicht c. 1345 CIC/1983), wonach der Richter im Fall des Fehlens des vollen Vernunftgebrauchs oder der Begehung einer Tat aus einer Notlage, aus schwerer Furcht, Trunkenheit usw. zwar von einer Bestrafung absehen kann, „wenn er der Überzeugung ist, dass auf andere Weise die Besserung des Täters eher gefördert werden könne“. Eine Bestrafung ist jedoch gefordert, „wenn anders die Gerechtigkeit nicht wiederhergestellt und das gegebenenfalls entstandene Ärgernis nicht beseitigt werden kann“. Auch können im Fall einer Beugestrafe zusätzlich jene Sühnestrafen verhängt werden, „welche als notwendig angesehen werden, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen oder das Ärgernis zu beheben“ (c. 1335 § 1 CIC n. F.; nicht c. 1335 CIC/ 35 Vgl. Wilhelm Rees, Art. Spruchstrafe – Katholisch, in: LKRR, Bd. 4 (2021), S. 219 – 221, hier S. 220; ferner unter: Spruchstrafe – Brill (brillonline.com) [Zugriff 10. 03. 2023]; zur Tatstrafe s. Anna Krähe, Art. Tatstrafe – Katholisch, in: LKRR, Bd. 4 (2021), S. 378 – 381; ferner unter: Tatstrafe – Brill (brillonline.com) [Zugriff 10. 03. 2023]. 36 S. dazu Wilhelm Rees, Strafe und Strafzwecke – Theorien, geltendes Recht und Reformen, in: Pulte, Tendenzen (Anm. 6), S. 23 – 60; ferner auch Rees, Grundfragen (Anm. 6), S. 1576 – 1578; Gerhard Hörting, „… doch ganz ungestraft kann ich dich nicht lassen“ (Jer 30,11). Über die Frage nach der Bedeutung von Strafrecht und Strafe in der Lateinischen Kirche, in: Ohly/Haering/Müller, Rechtskultur (Anm. 17), S. 571 – 590. 37 Güthoff, Überblick I (Anm. 6), Anm. 15, S. 78. 38 Ebenso nennt Papst Franziskus in der Apostolischen Konstitution „Pascite gregem Dei“ (Anm. 3) diese drei grundlegenden Ziele der Strafverhängung in dieser Reihenfolge.

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1983).39 Zudem dienen die ausdrückliche Sanktionierung einer Person, die „der Pflicht, ein rechtskräftiges Urteil oder ein rechtskräftiges Strafdekret auszuführen nicht nachkommt“ (c. 1371 § 5 CIC n. F.), und jener, die „die Weitergabe einer Strafanzeige“, zu der sie vom kirchlichen Recht verpflichtet ist, versäumt, der Wiederherstellung der Gerechtigkeit (vgl. c. 1371 § 6 CIC n. F.). Die starke Betonung der Wiederherstellung der Gerechtigkeit zielt verstärkt auf die Sühne einer Straftat ab. Die genannten Strafzwecke betreffen generell kirchliche Sanktionen, wobei nicht näher zwischen Beuge- und Sühnestrafen differenziert wird. VI. Unterscheidung von Beuge- und Sühnestrafen und erfolgte Neuerung Wie der CIC/1983 und der CIC/1917 unterscheidet auch das von Papst Franziskus in Kraft gesetzte überarbeitete Strafrecht des CIC in c. 1312 § 1 CIC n. F. zwischen den sogenannten Besserungs- oder Beugestrafen (poenae medicinales seu censurae; vgl. cc. 1331 – 1334 CIC n. F.; vgl. cc. 1331 – 1334 CIC/1983) und den Sühnestrafen (poenae expiatoriae; vgl. c. 1336 – 1338 CIC n. F.; vgl. c. 1336 – 1338 CIC/1983) sowie den Strafsicherungsmitteln und Bußen (vgl. c. 1312 § 3 CIC n. F.; s. auch cc. 1339 f. CIC n. F.; vgl. cc. 1312 § 3 und 1339 f. CIC/1983).40 Die Beugestrafe verfolgt neben dem Hauptzweck der Besserung, d. h. der Aufgabe der Widersetzlichkeit (vgl. c. 1358 § 1 n. F.; vgl. c. 1358 § 1 CIC/1983), weitere Strafzwecke, nämlich die Reue über die Straftat, die angemessene Behebung des Ärgernisses und die Wiedergutmachung des verursachten Schadens (vgl. c. 1347 § 2 CIC n. F.; vgl. c. 1347 § 2 CIC/1983). Die Sühnestrafe zielt, wie die Bezeichnung vorgibt, auf die Sühne einer Straftat als Ausgleich für Schuld oder Verfehlung, die eine rechtskräftig verurteilte Person leisten muss. Die Wiederherstellung der Gerechtigkeit und die Wiedergutmachung des entstandenen Ärgernisses bzw. Schadens treten aus Sicht der Kirche als weitere Strafzwecke hinzu. 1. Neuordnung der Beugestrafen Die Kirche kann keine Freiheitsstrafen verhängen. Sie verhängt jedoch Beugestrafen, die nach Reue und Umkehr des Täters nachgelassen werden müssen. Beugestrafen sind nach wie vor Exkommunikation, Interdikt und Suspension. Sie haben in der erneuerten Fassung des Buches VI des CIC nur geringfügige Veränderungen erfahren 39

Zu Recht werden in c. 1335 § 1 CIC n. F. nur die beiden Strafzwecke Wiederherstellung der Gerechtigkeit und Behebung des Ärgernisses genannt, da Sühnestrafen – im Unterschied zu Beugestrafen – nicht (vorrangig) auf Besserung und Umkehr zielen. 40 Der CCEO verzichtet auf die im CIC gebräuchliche Unterscheidung, da er keine reinen Sühnestrafen kennt, vielmehr alle Strafen in erster Linie medizinalen Charakter haben. Vgl. Wilhelm Rees, Unterschiedliche Strafen in der einen katholischen Kirche? Ein Vergleich zwischen CCEO und CIC, in: Hartmut Zapp/Andreas Weiß/Stefan Korta (Hrsg.), Ius Canonicum in Oriente et Occidente. Festschrift für Carl Gerold Fürst zum 70. Geburtstag (= AIC, Bd. 25), Frankfurt am Main 2003, S. 939 – 958, hier S. 945.

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(vgl. cc. 1331 – 1335 CIC n. F.).41 Zum Teil sind Straftaten, die bisher in Sondergesetzen mit Beugestrafen belegt waren, in das erneuerte Buch VI des CIC und damit in das kodikarische Recht aufgenommen worden, wie u. a. die Sanktionierung der verbotenen Weihe einer Frau (vgl. c. 1379 § 3 CIC n. F.), die bislang bereits zu den von Papst Benedikt XVI. neu geordneten delicta graviora zählte (vgl. Art. 5, 18 und 28 SST/2010; s. auch Art. 5, 18 und 28 Art. SST/2021).42 Wie bisher werden die Folgen der Exkommunikation im Fall des Selbsteintritts (vgl. c. 1331 § 1 CIC n. F.; vgl. c. 1331 § 1 CIC/1983) und im Fall der Verhängung als Spruchstrafe oder der Feststellung des Eintritts der Tatstrafe (vgl. c. 1331 § 2 CIC n. F.; vgl. c. 1331 § 2 CIC/1983) angeführt. Die Strafe des Interdikts umfasst die in c. 1331 § 1, 18 – 48 CIC n. F. enthaltenen Verbote (vgl. c. 1332 § 1 CIC n. F.; vgl. c. 1332 CIC/1983). Neu eingeführt wurde, dass Strafgesetz oder Strafbefehl das Interdikt auch in der Weise umschreiben können, „dass es nur einzelne Verbote des can. 1331 § 1, nn. 1 – 4 umfasst, oder dem Täter andere bestimmte Rechte entzogen werden können“ (c. 1332 § 2 CIC n. F.). Dies ist „insbesondere mit Rücksicht auf eventuelle Unsicherheiten bezüglich der Eheschließung“ erfolgt.43 Mögliche „Unsicherheiten bezüglich des Rechts der Gläubigen auf Ehe“ sollten „beseitigt“ werden.44 C. 1333 §§ 1 – 4 CIC n. F. nennt wie bisher Folgen der Suspension, wobei auf den 41

Vgl. Hallermann, Kommentar (Anm. 25), S. 133 – 142; Hallermann, Kontinuität (Anm. 6), S. 25 f. 42 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Normae de gravioribus delictis vom 21. Mai 2010, in: AAS 102 (2010), S. 419 – 430; ferner unter: Substantielle Normen (vatican.va) [Zugriff 10. 03. 2023]; s. auch Kongregation für die Glaubenslehre, Rescriptum ex Audientia Ss.mi, con cui approva le Norme sui delitti riservati della Congregazione per la Dottrina della Fede vom 11. Oktober 2021, in: L’Osservatore Romano, 7. 12. 2021, S. 6; abgedr. in: Communicationes 53 (2021), S. 427; ferner unter: Rescriptum ex Audientia SS.mi – L’Osservatore Romano [Zugriff 10. 03. 2023]. Die Neufassung trat am 8. Dezember 2021 in Kraft. Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Normae de delictis Congregationi pro Doctrina Fidei reservatis; abgedr. in: Communicationes 53 (2021), S. 428 – 436; ferner unter: Normae de de lictis Congregationi pro Doctrina Fidei reservatis (XI mensis Octobris anno Domini MMXI) (va tican.va) [Zugriff 10. 03. 2023]; s. auch kanzlei-kirchenrecht.com, Rechtsänderungen 11. Dezember 2021: Neufassung der Normae de gravioribus delictis – kanzlei-kirchenrecht.com [Zugriff 10. 03. 2023]. Einen Vergleich zwischen den Normen von 2001, 2010 und 2021 s. unter: Brian T. Austin, Sacramentorum Sanctitatis Tutela – Tabellae comparativae (rev. 4. April 2022): Microsoft Word – Austin 2021 – SST – Tabellae comparativae.docx (iuscangreg.it) [Zugriff 10. 03. 2023]. S. auch Kongregation für die Glaubenslehre, Vademecum zu einigen Fragen in den Verfahren zur Behandlung von Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker (Ver. 1.0 vom 16. Juli 2020): Vademecum zu einigen Fragen in den Verfahren zur Behandlung von Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker (16. Juli 2020) (vatican.va) [Zugriff 10. 03. 2023]; Version 2.0 vom 5. Juni 2022: Vademecum zu einigen Fra gen in den Verfahren zur Behandlung von Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker, Ver. 2.0 (5. Juni 2020) (vatican.va) [Zugriff 10. 03. 2023]. Einen Vergleich zwischen den Ausführungen 2020 und 2022 s. unter: Brian T. Austin, Vademecum, Tabellae comparativae (rev. 27. Juni 2022): Microsoft Word – DDF 2022 – Vademecum – Tabellae comparati vae.docx (iuscangreg.it) [Zugriff 10. 03. 2023]. 43 Hallermann, Kontinuität (Anm. 6), S. 26. 44 Hallermann, Kommentar (Anm. 25), S. 137.

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Einschub des c. 1333 § 1 CIC/1983 „die nur Kleriker treffen kann“ (quae clericos tantum afficere potest) verzichtet wurde (vgl. c. 1333 § 1 CIC n. F.). „Trotz der nun grundsätzlich auf alle Gruppen von Gläubigen bezogenen Strafwirkungen kann der revidierte c. 1333 § 1 n. 1 mit dem Verbot, alle oder einige Akte der Weihegewalt zu setzen, nur Kleriker betreffen, während c. 1333 § 1 nn. 2 – 3 mit den Verboten, alle oder einige Akte der Leitungsgewalt zu setzen und alle oder einige der mit dem Amt verbundenen Rechte oder Aufgaben auszuüben alle Gläubigen betrifft, die entsprechende Ämter innehaben.“45 Die Verhängung einer Beugestrafe setzt wie bisher eine Verwarnung (vgl. c. 1347 § 1 CIC n. F.; c. 1347 § 1 CIC/1983), der Erlass wie bisher die Aufgabe der Widersetzlichkeit und die Wiedergutmachung des verursachten Schadens voraus (vgl. c. 1358 § 1 CIC n. F. i. V. m. c. 1347 § 2 CIC n. F.; vgl. c. 1358 § 1 CIC/1983 i. V. m. c. 1347 § 2 CIC/1983). Neu aufgenommen wurde, dass die zuständige Autorität für den Fall, dass eine Beugestrafe in einem Strafprozess oder durch außergerichtliches Dekret verhängt oder festgestellt wird, auch jene Sühnestrafen verhängen kann, „welche als notwendig angesehen werden, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen oder das Ärgernis zu beheben (vgl. c. 1335 § 1 CIC n. F.). Mit Beugestrafen will die Kirche dem sich verfehlenden Kirchenglied „um des persönlichen Heils willen“ (salus animarum) das Unrecht seines Handelns verdeutlichen.46 2. Neuordnung der Sühnestrafen Neben den Beugestrafen kennt die Kirche Sühnestrafen (vgl. cc. 1336 – 1338 CIC n. F.; cc. 1336 – 1338 CIC/1983).47 C. 2286 CIC/1917 hatte noch von Vindikativstrafen gesprochen und deren „direkten Zweck“ in der Sühne der Straftat gesehen. Im Unterschied dazu spricht c. 1312 § 2 CIC n. F. (ebenso c. 1312 § 2 CIC/1983) lediglich davon, dass Sühnestrafen „einem Gläubigen ein geistliches oder zeitliches Gut entziehen und mit dem übernatürlichen Ziel der Kirche vereinbar“ sein müssen.48 Die Dauer einer Sühnestrafe hängt nicht vom Verhalten des Straftäters ab. Die Strafe kann entweder „auf Dauer oder für eine bestimmte oder unbestimmte Zeit“ verhängt werden (c. 1336 § 1 CIC n. F.; ebenso c. 1336 § 1 CIC/1983). Hallermann verweist zu Recht darauf, dass sich dadurch „sehr unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten“ ergeben und Sühnestrafen „grundsätzlich alle Gruppen von Gläubigen treffen“ können, ausgenommen jene, die nur über Kleriker verhängt werden können.49 Im Unterschied zu den Beugestrafen sind bei den Sühnestrafen, die dem Gesetzbuch für die katholischen Ostkirchen, d. h. dem Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium 45

Hallermann, Kontinuität (Anm. 6), S. 47. Rees, Grundfragen (Anm. 6), S. 1570. 47 S. Andrea Michl, Die Sühnestrafen des kanonischen Rechts (= Kanonistische Reihe, Bd. 032), St. Ottilien 2021. 48 Vgl. Anna Krähe, Art. Sühnestrafe – Katholisch, in: LKRR, Bd. 4 (2021), S. 326 – 329; ferner unter: Sühnestrafe – Brill (brillonline.com) [Zugriff 10. 03. 2023]. 49 Hallermann, Kommentar (Anm. 25), S. 144. 46

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(CCEO) fremd sind,50 grundlegende und umfangreiche Änderungen und Ergänzungen eingetreten,51 nicht zuletzt dadurch, dass diese gegenüber dem bisher geltenden Strafrecht des CIC/1983 deutlich vermehrt worden sind. Näher betont der kirchliche Gesetzgeber, dass als Sühnestrafen – außer anderen, etwa durch ein Gesetz festgelegten – diejenigen verhängt werden können, die in c. 1336 §§ 2 – 5 CIC n. F. „aufgelistet“ sind (c. 1336 § 1 CIC n. F.). Im Unterschied zum früheren Recht werden sie „in einer neuen und übersichtlicheren Systematik im revidierten c. 1336 §§ 2 – 5 dargeboten, die insbesondere darauf abzielt, demjenigen, der Strafen verhängen muss, eine reiche Auswahl von möglichen Strafen anzubieten“.52 Zudem wollte die Überarbeitung bzw. Ergänzung die Anwendung der kirchlichen Sühnestrafen erleichtern.53 Der neukonzipierte c. 1336 CIC n. F. nennt „nicht mehr nur Strafkategorien (Verbot, Gebot, Rechtsentzug), sondern ordnet den Kategorien einzelne Strafen zu“. Er bietet somit „Hilfe bei der Festsetzung angemessener Strafen“.54 Näher geht es um Gebote (praescriptiones), Verbote (prohibitiones) und Rechtsentzüge (privationes). a) Gebote Zum bisherigen Gebot, sich in einem bestimmten Ort oder Gebiet aufzuhalten (vgl. c. 1336 § 2, 18 CIC n. F.; c. 1336 § 1, 18 CIC/1983), das für die Kirche schwer durchsetzbar ist bzw. von der jeweiligen Person freiwillig übernommen werden muss, kommt neu das Gebot hinzu, „nach den von der Bischofskonferenz festzulegenden Ordnungen eine Geldstrafe oder eine Geldsumme für die Zwecke der Kirche zu zahlen“ (c. 1336 § 2, 28 CIC n. F.).55 Die Verhängung dieser Strafmaßnahme wird durch direkte bzw. hauptsächlich durch indirekte Androhung der Sühnestrafen des 50 Vgl. Carl Gerold Fürst, Katholisch ist nicht gleich lateinisch. Der gemeinsame Kirchenrechtskodex für die katholischen Ostkirchen, in: HK 45 (1991), S. 136 – 140, hier S. 140; zu den Strafen im CCEO, die den Sühnestrafen im CIC ähneln, s. Michl, Sühnestrafen (Anm. 47), S. 150 – 154. 51 Zu den Sühnestrafen im Schema/2011 s. Güthoff, Überblick I (Anm. 6), S. 79 – 82; ferner auch Michl, Sühnestrafen (Anm. 47), S. 158 – 164; s. hierzu und zum Folgenden Rees, (Tarif-)Strafen (Anm. 8). 52 Hallermann, Kontinuität (Anm. 6), S. 32 f., unter Hinweis auf Pontificium Consilium de Legum Textibus, Schema/2011, Praenotanda, Rationes 2 (Anm. 6), c. 1336, S. 9, die nicht nur eine bessere Unterscheidung der Sühnestrafen, sondern auch die Aufnahme von Sanktionen aus c. 2291 und c. 2298 CIC/1917 fordern. 53 Vgl. Pontificium Consilium de Legum Textibus, Schema/2011, Praenotanda, Rationes 1 (Anm. 6), Nr. 3, S. 6. 54 Georg Bier, Das neue kirchliche Strafrecht: Mangelnde Sensibilität. Im vergangenen Juni veröffentlichte der Apostolische Stuhl eine revidierte Fassung des kirchlichen Strafrechts, das Ende des Jahres in Kraft getreten ist. Die Berichterstattung überregionaler Medien hob vor allem die „Verschärfungen“ im Umgang mit sexualisierter Gewalt hervor. Welche Veränderungen bringt die Neufassung? Ein Überblick, in: HK 76 (2022/1), S. 39 – 42, hier S. 39. 55 S. dazu unten VI. 2. d).

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c. 1336 §§ 2 – 4 CIC n. F. ermöglicht. Geldstrafen konnten bereits bisher durch Partikularrecht verhängt werden.56 b) Verbote Unter den Verboten werden die Verbote, „alle oder einige Akte der Weihegewalt“ (c. 1336 § 3, 38 CIC n. F.) sowie „alle oder einige Akte der Leitungsgewalt“ zu setzen (c. 1336 § 3, 48 CIC n. F.), „bestimmte Rechte oder Privilegien auszuüben oder Insignien oder Titel zu gebrauchen“ (c. 1336 § 3, 58 CIC n. F.), „bei kanonischen Wahlen das aktive oder passive Stimmrecht auszuüben oder mit Stimmrecht in kirchlichen Räten oder Kollegien teilzunehmen“ (c. 1336 § 3, 68 CIC n. F.) sowie „kirchliche oder Ordenskleidung zu tragen“ (c. 1336 § 3, 78 CIC n. F.) neu eingefügt bzw. explizit genannt. Das Verbot des c. 1336 § 3, 68 CIC n. F. betrifft „wesentliche Mitgestaltungsmöglichkeiten des kirchlichen Lebens, die von Gläubigen sowohl im Bereich der Kirchenverfassung als auch, mit den Rechtsformen als privater oder als öffentlicher Verein, im vereinigungsrechtlichen Bereich ausgeübt werden können“.57 Vom neu eingeführten Verbot des Tragens kirchlicher Kleidung oder Ordenskleidung, „die zur Erkennbarkeit von kirchlichen Personen oder von Ordenspersonen beitragen“, sind „nur Kleriker und Ordensleute“ betroffen.58 Die in c. 1336 § 3 CIC n. F. genannten Verbote haben „niemals eine Nichtigkeit zur Folge“ (c. 1338 § 5 CIC n. F.; vgl. c. 1336 § 1, 38 CIC/1983). Ein Zuwiderhandeln ist jedoch unerlaubt und kann ggf. mit weiteren Strafmaßnahmen belegt werden.

56 Vgl. Andreas Kowatsch, Der Unterhaltsanspruch von Weltpriestern im Kontext des kirchlichen Strafverfahrens. Zur Unterscheidung von sustentatio und remuneratio im Blick auf einige partikularrechtliche Unterhaltsregelungen, in: Wilhelm Rees/Stephan Haering (Hrsg.), Iuris sacri pervestigatio. Festschrift für Johann Hirnsperger (= KST, Bd. 72), Berlin 2020, S. 191 – 232, hier Anm. 84, S. 213, unter Hinweis auf: katholisch.de, Es bliebe kaum mehr als der Sozialhilfesatz: Missbrauch: Bistum Osnabrück will Priestern Gehalt massiv kürzen. Gestern stellte das Bistum Osnabrück sein Konzept für den künftigen Umgang mit sexualisierter Gewalt vor. Heute wurde noch eine weitere Maßnahme im Falle von Missbrauch bekannt gegeben – und die könnte die Beschuldigten vor allem finanziell treffen (28. 02. 2019): Missbrauch: Bistum Osnabrück will Priestern Gehalt massiv kürzen – katholisch.de [Zugriff 10. 03. 2023]. 57 Hallermann, Kommentar (Anm. 25), S. 146; s. ebd.: „Im verfassungsrechtlichen Bereich werden etwa die Ratsgremien im Sinne des c. 228 § 2 CIC/1983, der Priesterrat im Sinne des c. 495 § 1 CIC/1983, das Konsultorenkollegium nach c. 502 § 1 CIC/1983, das Kanonikerkapitel gemäß c. 503 CIC/1983 sowie der diözesane und der pfarrliche Pastoralrat im Sinne der cc. 511 und 536 CIC/1983 von dieser Norm erfasst.“ 58 Hallermann, Kommentar (Anm. 25), S. 146; s. auch Hallermann, Kontinuität (Anm. 6), S. 47 f.; Stephan Haering, Art. Geistliche Kleidung – Katholisch, in: LKRR, Bd. 2 (2019), S. 142; ferner unter: Geistliche Kleidung – Brill (brillonline.com) [Zugriff 10. 03. 2023]; Stephan Haering, Art. Ordenskleidung – Katholisch, in: LKRR, Bd. 3 (2020), S. 428 f.; ferner unter: Ordenskleidung – Brill (brillonline.com) [Zugriff 10. 03. 2023].

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c) Rechtsentzüge In c.1336 § 4 CIC n. F. (vgl. c. 1336 § 1, 28 CIC/1983) werden neu der Entzug „der Vollmacht, Beichten entgegenzunehmen oder zu predigen“ (c. 1336 § 4, 28 CIC n. F.), der Entzug „der delegierten Leitungsgewalt“ (c. 1336 § 4, 38 CIC n. F.), der Entzug „der ganzen kirchlichen Vergütung oder eines Teiles davon, nach einer von der Bischofskonferenz festgelegten Ordnung, wobei aber die Vorschrift des can. 1350, § 1 zu beachten ist“ (c. 1336 § 4, 58 CIC n. F.), genannt.59 Wie bisher ist als schwerste Sühnestrafe für Kleriker die Entlassung aus dem Klerikerstand möglich (vgl. c. 1336 § 5 CIC n. F.; ebenso c. 1336 § 1, 58 CIC/1983).60 Die bislang mögliche Strafversetzung auf ein anderes Amt (vgl. c. 1336 § 1, 48 CIC/1983) findet keine Erwähnung mehr. Während der Entzug der „Vollmacht, Beichten entgegenzunehmen“ (c. 1336 § 4, 28 CIC n. F.), „nur Priester“ treffen kann, können vom Entzug der Predigtvollmacht außer Priestern und Diakonen (vgl. c. 764 CIC/1983) „auch Laien“ betroffen sein, da diese gemäß c. 766 CIC/1983 zur Predigt zugelassen werden können, vom Entzug einer delegierten Leitungsgewalt (vgl. c. 1336 § 4, 38 CIC n. F. i. V. m. c. 131 § 1 CIC/1983) jede delegierte Person, also Priester, Diakone und Laien.61 Die vorgenommene „Entklerikalisierung durch die Berücksichtigung nicht mehr allein von klerikalen Tätern“ macht, wie Felix Neuman feststellt, „den universalen Anspruch für das gesamte kirchliche Handeln deutlich“.62 d) Überlegungen zur Geldstrafe bzw. Leistung einer Geldsumme sowie zum Entzug der ganzen kirchlichen Vergütung oder eines Teiles davon Die neu eingeführte Geldstrafe bzw. die Verpflichtung zur Leistung einer Geldsumme sowie die Möglichkeit zum Entzug der ganzen kirchlichen Vergütung oder eines Teiles davon wirft Fragen auf und bedarf einer besonderen Regelung durch 59

Vgl. unten VI. 2. d). Zur Entlassung aus dem Klerikerstand und den damit belegten Straften s. Rüdiger Althaus, Kommentar, in: MKCIC, c. 290, Rdnr. 5 (Stand Oktober 2022). 61 Hallermann, Kommentar (Anm. 25), S. 147; zur Predigt s. auch Wilhelm Rees, Kirchenrechtliche Vorgaben zur (Laien-)Predigt im Lauf der Geschichte der römisch-katholischen Kirche und Regelungen der Deutschen, Österreichischen und Schweizer Bischofskonferenz, in: Christian Bauer/Wilhelm Rees (Hrsg.), Laienpredigt – Neue pastorale Chancen, Freiburg im Breisgau 2021, S. 299 – 340. 62 Felix Neumann, Kleine Verbesserungen und viel Hoffnung auf eine bessere Rechtskultur: Das neue Strafrecht der Kirche: (Etwas) mehr Rechtsstaatlichkeit wagen. Das neue kirchliche Strafrecht hat Verbesserungen gebracht, aber viele Probleme des Kirchenrechts werden bestenfalls gemildert. Immer noch ist vieles im Ungefähren. Doch wenn die Kirche dem Appell von Papst Franziskus folgt, hilft auch diese kleine Reform hin zu einer besseren Rechtskultur (01. 06. 2021): Das neue Strafrecht der Kirche: (Etwas) mehr Rechtsstaatlichkeit wagen – katholisch.de [Zugriff 10. 03. 2023]; s. auch Hallermann, Kontinuität (Anm. 6), S. 48; s. auch ebd., S. 49 f. 60

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die jeweilige Bischofskonferenz. Aus historischer Sicht waren Geldstrafen bzw. die Entziehung des Amtseinkommens eines Klerikers für die Kirche keineswegs unüblich; beide Strafformen sind jedoch gewohnheitsrechtlich außer Übung gekommen. Allerdings wurde die Möglichkeit der Geldstrafe wieder in den CIC/1917 aufgenommen.63 Der CIC/1983 kannte eine Geldstrafe im Sinne einer Disziplinarmaßnahme bei Verfehlungen von Gerichtspersonen, d. h. Prozessbevollmächtigten und Anwälten (vgl. c. 1488 §§ 1 und 2 CIC/1983 und c. 1489 CIC/1983),64 nicht jedoch als Sühnestrafe. Im überarbeiteten Strafrecht des CIC wird nun die Verhängung einer Geldstrafe bzw. die Zahlung einer Geldsumme für die Zwecke der Kirche (vgl. c. 1336 § 2, 28 CIC n. F.) sowie der Entzug der ganzen kirchlichen Vergütung oder eines Teiles davon (vgl. c. 1336 § 4, 58 CIC n. F.) als mögliche Sühnestrafe in den Blick genommen.65 Grundsätzlich ist die Verhängung dieser Strafmaßnahmen auch in denjenigen Fällen, in denen der kirchliche Gesetzgeber eine unbestimmte gerechte Strafe (iusta poena) vorsieht, möglich.66 Ausdrücklich wird eine Geldstrafe demjenigen angedroht, der „bei der Ausübung eines Amtes oder einer Aufgabe eine über das Festgelegte hinausgehende Summe oder eine weitere Geldleistung oder etwas zu seinem Nutzen fordert“ (c. 1377 § 2 CIC n. F.; keine Parallele CIC/1983). Die jeweilige Bischofskonferenz ist verpflichtet, durch ein allgemeines Dekret (vgl. c. 455 § 1 CIC/1983) für die Verhängung einer Geldstrafe und die Zahlung einer Geldsumme für die Zwecke der Kirche sowie für den Entzug der ganzen kirchlichen Vergütung oder eines Teiles davon entsprechende Bestimmungen zu erlas-

63

S. dazu Rees, Strafgewalt (Anm. 8), S. 222; ferner Rees, (Tarif-)Strafen (Anm. 8). S. dazu Rees, Strafgewalt (Anm. 8), S. 487 f., unter Hinweis auf Xaverius Ochoa, Index verborum ac Locutionum Codicis Iuris Canonici, Città del Vaticano 21984, S. 284 und S. 352; ferner auch Klaus Lüdicke, Kommentar, in: MKCIC, c. 1488 und c.1489 (Stand März 1988); Rees, Grundfragen (Anm. 6), S. 1580; Wilhelm Rees, Straftat und Strafe, in: HdbKathKR3, S. 1591 – 1614, hier S. 1603. 65 Vgl. c. 1364 § 1 CIC n. F.; c. 1365 CIC n. F.; c. 1371 § 1 CIC n. F.; c. 1371 § 2 CIC n. F.; c. 1371 § 4 CIC n. F.; c. 1371 § 6 CIC n. F.; c. 1372, 18 CIC n. F.; c. 1372, 28 CIC n. F.; c. 1376, § 1, 18 und 28 CIC n. F.; c. 1377 § 1 CIC n. F.; c. 1378 § 2 CIC n. F.; c. 1379 § 4 CIC n. F.; c. 1380 CIC n. F.; c. 1383 CIC n. F.; c. 1390 § 2 CIC n. F.; c. 1391, 1 – 38 CIC n. F.; c. 1392 CIC n. F.; c. 1393 § 1 CIC n. F.; c. 1393 § 2 CIC n. F.; c. 1397 § 1 CIC n. F.; c. 1398 § 2 CIC n. F.; s. auch Hallermann, Kontinuität (Anm. 6), S. 39; zu c. 1390 § 2 CIC n. F. s. Anna Krähe, Kanon des Monats: c. 1390 § 2 CIC n. F. (Juli ’22): „Qui aliam ecclesiastico Superiori calumniosam praebet delicti denuntiationem, vel aliter alterius bonam famam illegitime laedit, iusta poena puniatur ad normam can. 1336, §§ 2 – 4, cui praeterea censura addi potest.“/„Wer einem kirchlichen Oberen eine andere verleumderische Anzeige eines Delikts macht oder sonst den guten Ruf eines anderen unrechtmäßig verletzt, wird mit einer gerechten Strafe nach can. 1336 §§ 2 – 4 belegt, der darüber hinaus eine Beugestrafe hinzugefügt werden kann.“: Kanon des Monats – Lehrstuhl für Kirchenrecht (uni-wuerzburg.de) [Zugriff 10. 03. 2023]. 66 Vgl. c. 1328 § 2 CIC n. F.; c. 1367 CIC n. F.; c. 1368 CIC n. F.; c. 1369 CIC n. F.; c. 1370 § 3 CIC n. F.; c. 1371 §§ 3 und 5 CIC n. F.; c. 1373 CIC n. F.; c. 1374 CIC n. F.; c. 1375 §§ 1 und 2 CIC n. F.; c. 1376 § 2 CIC n. F.; c. 1379 § 5 CIC n. F.; c. 1381 CIC n. F.; c. 1386 §§ 1 und 2 CIC n. F.; c. 1389 CIC n. F.; c. 1395 §§ 2 und 3 CIC n. F.; c. 1396 CIC n. F. und c. 1399 CIC n. F.; s. auch Hallermann, Kontinuität (Anm. 6), S. 40. 64

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sen.67 Ein solches Dekret ist bisher weder von der Deutschen noch von der Österreichischen Bischofskonferenz erlassen worden, jedoch in Österreich in Erarbeitung. Sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die Republik Österreich kennen neben der Freiheitsstrafe die Möglichkeit der Verhängung einer Geldstrafe.68 Bei der geforderten Ordnung seitens der Bischofskonferenzen kann ein Blick auf das weltliche Recht hilfreich sein, so insbesondere auf die Einführung von Tagessätzen und die Bemessung der Strafhöhe danach.69 Verdienstmöglichkeiten bzw. Vermögensverhältnisse der betroffenen Person können so berücksichtigt werden. Jedoch ist bei über einen Kleriker zu verhängenden Strafen „immer darauf zu achten, dass er nicht dessen entbehrt, was zu seinem angemessenen Unterhalt notwendig ist, es sei denn, es handelt sich um die Entlassung aus dem Klerikerstand“ (c. 1350 § 1 CIC n. F.; ebenso c. 1350 § 1 CIC/1983).70 Da der Unterhaltsanspruch (sustentatio) im Inkardinationsverhältnis gründet und „kein Lohn im Sinn eines Entgelts für erbrachte Arbeitsleistung“ ist, weil er „unabhängig von einer erbrachten Gegenleistung“ besteht,71 bleibt dieser Anspruch gemäß c. 1350 § 1 CIC n. F. auch im Fall einer Strafmaßnahme gegen einen Kleriker aufrecht.72 Die Sanktionierung von Dienstnehmer:innen kirchlicher Einrichtungen richtet sich nach den jeweils einschlägigen diözesanen disziplinarrechtlichen Bestimmungen unter Beachtung der zivilen arbeitsrechtlichen Vorgaben. Seitens der Bischofskonferenz sind Ordnungen sowohl für Kleriker als auch für Laien zu erstellen. Dabei ist sowohl bei der Erstel67

Einzelne deutsche Diözesen kennen bereits entsprechende Maßnahmen. Vgl. u. a. Erzdiözese Freiburg, Disziplinarordnung für die Erzdiözese Freiburg (DiszO) vom 29. November 2019: disziplinarordnung (1).pdf [Zugriff 10. 03. 2023]: IV. Disziplinarmaßnahmen: § 23 Arten, § 26 Geldbuße, § 27 Kürzung der Bezüge, § 32 Kürzung des Ruhegehalts, § 33 Aberkennung des Ruhegehalts. 68 Auch in Österreich ist die Geldstrafe eine Sanktion, die wegen einer Straftat durch ein Strafgericht verhängt werden kann (vgl. § 19 StGB). Vgl. östrreich.gv.at, Geldstrafe: Geldstra fe (oesterreich.gv.at) [Zugriff 10. 03. 2023]; Anwalt, Geldstrafe in Österreich – Wann ist eine Geldstrafe fällig?: Geldstrafe in Österreich – Wann ist eine Geldstrafe fällig? j anwaltfinden.at [Zugriff 10. 03. 2023]. 69 In Österreich beträgt die Geldstrafe mindestens zwei Tagessätze (vgl. § 19 Abs. 1 StGB), wobei ein Tagessatz mindestens 4 Euro und höchstens 5.000 Euro beträgt (§ 19 Abs. 2 StGB). In Deutschland liegt die Zahl der Tagessätze „zwischen 5 und höchstens dreihundertsechzig“ vollen Tagessätzen (§ 40 Abs. 1 StGB), wobei der Tagessatz „auf mindestens einen und höchstens dreißigtausend Euro“ festgesetzt ist (§ 40 Abs. 1 StGB). 70 S. Rees, Sexualisierte Gewalt (Anm. 2), S. 240 – 245. 71 Kowatsch, Unterhaltsanspruch (Anm. 56), S. 205; s. auch Andreas Kowatsch, Art. Sustentation, in: Andreas Kowatsch/Florian Pichler/Daniel Tibi/Harald Tripp (Hrsg.), 111 Begriffe des österreichischen Religionsrechts, St. Ottilien 2022, S. 317 – 320. 72 Zum Unterhalt nach Austritt bzw. Entlassung aus einem Ordensinstitut s. c. 702 §§ 1 und 2 CIC/1983: „Wer rechtmäßig aus einem Ordensinstitut austritt oder aus ihm rechtmäßig entlassen wurde, kann für jegliche in ihm geleistete Arbeit von demselben nichts verlangen“ (c. 702 § 1 CIC/1983). „Das Institut jedoch soll Billigkeit und evangelische Liebe gegenüber dem ausgeschiedenen Mitglied walten lassen“ (c. 702 § 2 CIC/1983). S. dazu Stephan Haering, Art. Entlassung (Säkularisierung), in: Dominicus M. Meier/Elisabeth Kandler-Mayr/ Josef Kandler (Hrsg.), 100 Begriffe aus dem Ordensrecht, St. Ottilien 2015, S. 162 – 168.

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lung der Ordnungen durch die Bischofskonferenz als auch bei der Verhängung der Strafe im Einzelfall zu beachten, dass diese Entzugsmöglichkeit „nur für eine kirchliche Vergütung“, „nicht aber für eine Vergütung, die aufgrund eines zivilrechtlichen Arbeitsvertrages geschuldet ist“, eingeräumt wird.73 Zu Recht verweist Hallermann zudem darauf, dass die Bischofskonferenz auch entscheiden müsse, „ob und wenn ja in welcher Form die Möglichkeit einer strafweisen Gehaltskürzung im kirchlichen Arbeitsrecht verankert werden muss“.74 In Übereinstimmung mit c. 2297 CIC/1917 dürfen eine Geldstrafe bzw. die Leistung einer Geldsumme (vgl. c. 1336 § 2, 28 CIC n. F.) nur für die Zwecke der Kirche verwendet werden, sofern sich der Zusatz „für die Zwecke der Kirche“ in der Strafnorm auf beide Möglichkeiten bezieht.75 Als solche Zwecke sind vor allem die im Vermögensrecht des CIC/1983 genannten zu verstehen, wie „die geordnete Durchführung des Gottesdienstes, die Sicherstellung des angemessenen Unterhalts des Klerus und anderer Kirchenbediensteter, die Ausübung der Werke des Apostolats und der Caritas, vor allem gegenüber den Armen“ (c. 1254 § 2 CIC/1983). Da Geldstrafen bzw. die Leistung einer Geldsumme für die Zwecke der Kirche durchaus schmerzlich sind bzw. sein können, verstärkt sich der Eindruck, dass Strafe wieder verstärkt als ein „Übel“ gesehen werden soll. So haben für Ludger Müller Sühnestrafen vor allem den Sinn, „den Täter und mögliche weitere Täter durch Androhung, Verhängung und Vollstreckung von Rechtsminderungen von weiteren Verstößen gegen die Rechtsordnung abzuhalten“.76 Ein Hinweis auf evtl. begleitende Maßnahmen neben der Strafe bzw. Hilfestellungen gegenüber dem Straftäter fehlt im kirchlichen Strafrecht des Buchs VI des CIC. Bei der Übernahme des Textes aus c. 1350 § 1 CIC/1983 wurde, wie Hallermann feststellt, „nicht realisiert“, dass auch der angemessene Lebensunterhalt von Laien, insbesondere von Laien im kirchlichen Dienst, durch eine Geldstrafe bzw. der Leistung einer Geldsumme für die Zwecke der Kirche tangiert sein kann. Dementsprechend müssen auch c. 195 CIC/198377 und c. 231 § 2 CIC/198378 beachtet werden, „so dass betroffene Laien trotz einer Be73

Hallermann, Kommentar (Anm. 25), S. 147. Hallermann, Kommentar (Anm. 25), S. 147. 75 Sofern sich der Zusatz „für die Zwecke der Kirche“ nur auf die Leistung einer Geldsumme bezieht, kann eine Geldstrafe auch anderweitig verwendet werden, wie im Falle von sexuellem Missbrauch für die Entschädigung von Opfern. 76 Ludger Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen?, in: Müller/Hierold/Demel/ Gerosa/Krämer, Strafrecht (Anm. 1), S. 183 – 202, hier S. 196. Wenngleich Müller, ebd., S. 196 f., den Zensuren einen Strafcharakter abspricht, so handelt es sich auch bei dieser Art von Strafe um einen zwangsweisen Entzug von Rechten durch die kirchliche Obrigkeit. Dieser ist in der Kirche und auch im Strafrecht CIC n. F. traditionell ein Kennzeichen von Strafe. 77 C. 195 CIC/1983: „Wird jemand nicht von Rechts wegen, sondern durch Dekret der zuständigen Autorität eines Amtes enthoben, durch das sein Unterhalt gesichert wird, so hat dieselbe Autorität Vorkehrungen dafür zu treffen, dass eine angemessene Zeit lang für seine Existenz gesorgt wird, wenn nicht auf andere Weise Vorsorge getroffen wurde.“ 78 Mit Blick auf Laien betont c. 231 § 2 CIC/1983: „Unbeschadet der Vorschrift des can. 230, § 1 haben sie das Recht auf eine angemessene Vergütung, die ihrer Stellung ent74

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strafung neben ihren eigenen Erfordernissen auch für die Erfordernisse ihrer Familie geziemend sorgen können und sowohl die eigene soziale Vorsorge und Gesundheitsvorsorge als auch die ihrer Familie sichergestellt sind“.79 Strafen mit finanziellen Einbußen können in der deutschen und österreichischen Kirche durchaus Wirkung entfalten, in einigen Teilen der Weltkirche jedoch nur schwer zu verhängen sein. Insgesamt gesehen tragen jedoch die zahlreichen Änderungen und Ergänzungen bei den Sühnestrafen nicht nur zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit, sondern auch zur Abschreckung sowie zur Prävention bei. VII. Strafsicherungsmittel und Bußen Strafsicherungsmittel und Bußen finden sich nach wie vor in der Neufassung des Strafrechts des CIC. Bei den Strafsicherungsmitteln wurde mit c. 1339 § 4 CIC n. F. ergänzt, dass im Fall vergeblicher Erteilung oder der Wirkungslosigkeit eines Verweises der Ordinarius einen Strafbefehl erlassen soll, „in dem er genau vorschreibt, was zu tun oder zu unterlassen ist“. Damit wurde die Bestimmung von c. 2310 CIC/ 1917 erneut in das kirchliche Strafrecht des CIC aufgenommen. Entsprechendes gilt für die Aufnahme der Überwachung (vigilantia) in Rückgriff auf c. 2311 §§ 1 und 2 CIC/1917, die bei schweren Fällen und der Gefahr der Wiederholung einer Straftat „über die durch Urteil oder Dekret verhängten oder erklärten Strafen hinaus“ durch ein Dekret ausgesprochen werden kann (c. 1339 § 5 CIC n. F.).80 Hier stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten und der Gestaltung der angedrohten Maßnahme in der Praxis. Die Bußen blieben unverändert.81 VIII. Wege der Strafverhängung Der kirchliche Gesetzgeber kennt zwei Wege zur Verhängung einer Strafe, den Gerichts- und den Verwaltungsweg. Beide Wege wurden beibehalten. Allerdings reichen für den Verwaltungsweg nach wie vor „gerechte Gründe“, die „der Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens entgegenstehen“ (c. 1342 § 1 CIC n. F.; ebenso c. 1342 § 1 CIC/1983). Hallermann beklagt zu Recht, dass der kirchliche Gesetzgeber auch in der neuen Fassung „nicht klar zu erkennen“ gibt, „dass er den Strafprozess als den normalen Weg zur Verhängung oder Feststellung von Strafen angesehen

spricht und mit der sie, auch unter Beachtung des weltlichen Rechts, für die eigenen Erfordernisse und für die ihrer Familie in geziemender Weise sorgen können; ebenso steht ihnen das Recht zu, dass für ihre soziale Vorsorge und Sicherheit sowie ihre Gesundheitsfürsorge, wie man sagt, gebührend vorgesehen wird.“ 79 Hallermann, Kommentar (Anm. 25), S. 166 f.; s. auch Rees, Sexualisierte Gewalt (Anm. 2), S. 204 – 208; bez. Kleriker s. ebd., S. 201 – 204. 80 Vgl. Hallermann, Kommentar (Anm. 25), S. 153 f. 81 Vgl. Stefan Ihli, Buße statt Strafe. Ein wenig beachtetes Rechtsinstitut als Handlungsalternative im Strafrecht, in: Ohly/Haering/Müller, Rechtskultur (Anm. 17), S. 591 – 607.

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haben will“.82 Doch hatte gerade der Päpstliche Rat für die Gesetzestexte die Erleichterung der Verhängung und Feststellung von Strafen auf dem Verwaltungsweg als eines der Ziele der Reform des kirchlichen Strafrechts herausgestellt.83 Durch die Stärkung des Verwaltungsweges kann, wie Elmar Güthoff bemerkt hat, das kirchliche Strafrecht „einfacher angewendet“ werden,84 wobei Verhängung und Feststellung von Strafen für immer kraft kodikarischem Recht auf dem Verwaltungsweg ausgeschlossen sind (vgl. c. 1342 § 2 CIC n. F.; ebenso c. 1342 § 2 CIC/1983). Eindeutig weichen davon Art. 19 und 20 SST/2021 (bereits Art. 21 § 2, 18 SST/2010) ab, da Strafen für die sogenannten delicta graviora auch auf dem Verwaltungsweg verhängt werden können.85 Durch die überarbeitete Fassung 2021 wird dem Strafdekretverfahren der gleiche Stellenwert wie dem Strafprozess eingeräumt (vgl. Art. 9 § 3 SST/ 2021). Ein solches Verfahren kann vom Dikasterium für die Glaubenslehre, vom Ordinarius oder Hierarchen oder von einer von ihnen delegierten Person durchgeführt werden (vgl. Art. 20 § 1 SST/2021). Wenngleich beteuert wird, dass auch in diesem Fall Rechte der beschuldigten Person geachtet werden, so bleiben doch Bedenken, ob die Verhängung und Feststellung von Strafen auf dem Verwaltungsweg in Einzelfällen nicht zu Lasten der Gerechtigkeit und des Rechtsschutzes des Straftäters gehen. Da schwere und auf Dauer verhängte Strafen tief in das Leben eines Mitglieds der Kirche eingreifen, ist für die Verhängung wohl dem Gerichtsweg der Vorzug zu geben. Im Unterschied zum CIC sieht c. 1402 §§ 1 und 2 CCEO eindeutig die Durchführung eines Strafprozesses als den normalen Weg und die Strafverhängung auf dem Verwaltungsweg nur aufgrund schwerwiegender Gründe im Ausnahmefall möglich. Neu wurde die Bestimmung aus c. 2224 § 1 CIC/1917 übernommen, dass für gewöhnlich „so viele Strafen verhängt“ werden, „wie Straftaten vorliegen“ (c. 1346 CIC n. F.).86

82

Hallermann, Kontinuität (Anm. 6), S. 26, unter Hinweis auf Klaus Lüdicke, Kommentar, in: MKCIC, c. 1342, Rdnr. 2 (Stand November 1993); s. dazu auch Christoph Ohly, Dekretverfahren versus Gerichtsweg. Sanktionsrechtliche Erwägungen zu einer kodikarischen Alternative, in: Pulte, Tendenzen (Anm. 6), S. 61 – 80; Rees, Straftat (Anm. 64), S. 1605 – 1607; Rees, Human Rights (Anm. 31), S. 159 – 161; Rees, Menschenrechte (Anm. 31), S. 656 – 658; s. auch Martin Rehak, Kanon des Monats: c. 1342 § 2 CIC/1983 (November 18): „Per decretum irrogari vel declarari non possunt poenae perpetuae, […].“/„Strafen für immer können nicht durch Dekret verhängt oder festgestellt werden […].“: Kanon_des_Monats_November_c._1342____2_KdM_7_c._1342_2.pdf (uni-wuerzburg.de) [Zugriff 10. 03. 2023]. 83 Vgl. Pontificium Consilium de Legum Textibus, Schema/2011, Praenotanda, Rationes 1 (Anm. 6), Nr. 2, S. 6. 84 Güthoff, Überblick I (Anm. 6), S. 77. 85 Vgl. Rees, Vorgehen (Anm. 7), S. 119 – 126; Rees, Sexualisierte Gewalt (Anm. 2), S. 247 – 250. 86 Vgl. Rees, Strafgewalt (Anm. 8), S. 192 f.

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IX. Kürzung des Ermessensspielraums des Richters bzw. Ordinarius bei der Verhängung von Strafen Das Strafecht des CIC/1983 war von einem großen Ermessensspielraum des Richters bzw. Ordinarius gekennzeichnet. Weil damit für den Bischof bzw. Richter eine „odiose Last“ verbunden war, meldete Winfried Aymans bereits kurz nach Inkrafttreten Bedenken dahingehend an, ob dem kirchlichen Strafrecht „eine praktikable Zukunft“ beschert sei.87 Papst Franziskus verweist in der Apostolischen Konstitution „Pascite gregem Dei“ darauf, dass bei der Überarbeitung des kirchlichen Strafrechts auch das Prinzip angewandt wurde, „die Fälle zu beschränken, in denen die Möglichkeit zur Verhängung einer Strafe dem Ermessen der zuständigen Autorität überlassen wird“, wodurch „die kirchliche Einheit bei der Verhängung von Strafen“ gefördert werden sollte, „besonders wenn es um Straftaten geht, die in der Gemeinschaft größeren Schaden anrichten und größeres Ärgernis verursachen“.88 So wurde bei verschiedenen Straftatbeständen eine freigestellte Bestrafung (puniri potest) durch eine verpflichtende Bestrafung (puniatur) ersetzt.89 Durch die erfolgten Änderungen steht es nicht mehr frei, ob Vergehen betraft werden oder nicht. Elmar Güthoff prognostizierte, dass diese Änderungen „zu einer Verschärfung des Strafrechts“ führen, dass durch diese Änderungen das Strafrecht „aber auch leichter anwendbar“ werde, was eines der vorrangigen Ziele der kirchlichen Strafrechtsreform gewesen sei.90 Die Androhung einer gerechten Strafe im Strafrecht des CIC/1983 ist immer wieder auf Kritik gestoßen. Näher wurden nun anstelle einer gerechten Strafe (iusta poena) konkret die Sühnestrafen des c. 1336 §§ 2 – 4 CIC n. F. für zahlreiche Straftatbestände angedroht und somit eine strengere Bestrafung angezielt. So ist im Fall des Vertretens einer verworfenen Lehre an die Stelle einer gerechten Strafe (iusta poena) neben der Verhängung einer Beugestrafe die Sühnestrafe des Amtsverlustes getreten, wobei andere Sühnestrafen gemäß c. 1336 §§ 2 – 4 CIC n. F. hinzugefügt werden können (c. 1365 CIC n. F.; vgl. c. 1371, 18 CIC/1983).91 Auch in c. 1371 87 Winfried Aymans, Einführung, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Einführung in das neue Gesetzbuch der lateinischen Kirche (= Arbeitshilfen 31), Bonn 1983, S. 7 – 28, hier S. 27; s. auch Winfried Aymans, Einführung in das neue Gesetzbuch der lateinischen Kirche, in: Theologisches Jahrbuch 1984, Leipzig 1984, S. 275 – 276, hier S. 275. 88 Franziskus, Pascite gregem Dei (Anm. 3); s. auch Hallermann, Kontinuität (Anm. 6), S. 36, unter Hinweis auf Pontificium Consilium de legum Textibus, Schema/2011, Praenotanda, Rationes 1 (Anm. 6), Nr. 3, S. 6. 89 Dies geschah in c. 1371 § 2 CIC n. F. (vgl. c. 1393 CIC/1983), c. 1372 CIC n. F. (vgl. c. 1375 CIC/1983), c. 1389 CIC n. F. (vgl. c. 1384 CIC/1983), c. 1390 § 2 CIC n. F. (vgl. c. 1390 § 2 CIC/1983), c. 1391 18–38CIC n. F. (vgl. c. 1391, 18–38CIC/1983) und c. 1394 § 1 CIC n. F. (vgl. c. 1394 CIC/1983). Vgl. Hallermann, Kontinuität (Anm. 6), S. 34 f. 90 Güthoff, Überblick II (Anm. 6), S. 159, unter Hinweis auf Pontificium Consilium de Legum Textibus, Schema/2011, Praenotanda, Rationes 1 (Anm. 6), Nr. 3, S. 6. 91 Andreas Kowatsch sieht die neue Strafbestimmung „im Zusammenhang mit der Debatte um die Weihezulassungsbedingungen des männlichen Geschlechts“. Vgl. Andreas Kowatsch, Auf dem Weg zu einem zeitgemäßen kirchlichen Strafrecht. „Weidet die Herde des Herrn (Pascite gregem Dei).“ Diesen Titel trägt das neue päpstliche Gesetz, mit dem Franziskus das

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§ 2 CIC n. F., der die Verletzung einer aus einer Strafe auferlegten Verpflichtung sanktioniert, tritt an die Stelle einer gerechten Strafe (iusta poena; vgl. c. 1393 CIC/1983) die Verhängung von Sühnestrafen gemäß c. 1336 §§ 2 – 4 CIC n. F.92 Gleichwohl wurde nicht in allen Fällen die Androhung einer gerechten Strafe durch die Benennung einer konkreten ersetzt, wie u. a. im Fall der Verfehlung eines Klerikers gegen das sechste Gebot des Dekalogs (vgl. c. 1395 § 2 CIC n. F.; c. 1395 § 2 CIC/1983),93 sodass die Androhung einer gerechten Strafe auch im erneuerten Buch VI des CIC nach wie vor zu finden ist. X. Verjährung einer Straftat Wie bisher stellt c. 1362 § 1 CIC n. F. fest, dass eine Strafklage in drei Jahren verjährt, außer bei „Straftaten, die der Glaubenskongregation vorbehalten sind und für welche eigene Normen gelten“ (c. 1362 § 1, 18 CIC n. F.; c. 1362 § 1, 18 CIC/1983). Die Verjährung bei den Straftatbeständen der cc. 1376, 1377, 1378, 1393 § 1, 1394, 1395, 1397 und 1398 § 2 CIC n. F. (bisher bei c. 1394, 1395, 1397, 1398 CIC/1983) wurde von fünf auf sieben Jahre erhöht. Ergänzt wurde, dass bei Straftaten nach c. 1398 § 1 CIC n. F., d. h. sexualisierter Gewalt, die Verjährungsfrist zwanzig Jahre beträgt (c. 1362 § 1, 28 CIC n. F.). Gemäß c. 1362 § 2 CIC n. F. beginnt die Verjährung – wenn das Gesetz nichts anderes festlegt – erst „mit dem Tag, an dem die Straftat begangen worden ist, oder, wenn es sich um eine fortdauernde oder gewohnheitsmäßige Straftat handelt, mit dem Tag, an dem sie aufgehört hat“, zu laufen. Näher sieht auch Art. 8 SST/2021 nach wie vor eine Verjährungsfrist von 20 Jahre bei den delicta graviora vor. Das Dikasterium für die Glaubenslehre hat sogar die Vollmacht, in schweren Fällen von der Verjährungsfrist zu derogieren. Raphael Rieger verweist auf die „kirchenspezifische Modifikation des Rechtsinstituts der Verjährung“ ohne Parallele im staatlichen Strafrecht.94 Neu wurde in Art. 8 § 3 SST/2021 kirchliche Strafrecht neu geordnet hat. Datiert ist es mit dem Pfingstfest 2021 (23. Mai). In Kraft treten werden die neuen Bestimmungen ab dem 8. Dezember 2021: 2021 - 06 - 01_AK_WeidetDieHerdeDesHerrn (3).pdf [Zugriff 10. 03. 2023], S. 6. 92 C. 1371 § 2 CIC n. F.: „Wer die ihm aus einer Strafe auferlegten Verpflichtungen verletzt, wird mit einer der Strafen des can. 1336, §§ 2 – 4 bestraft“. C. 1393 CIC/1983 sprach nur von einer aus einer Beugestrafe auferlegten Verpflichtung. Der Wechsel gilt auch für c. 1371 § 1 CIC n. F. (vgl. c. 1371, 28 CIC/1983), c. 1371 § 2 CIC n. F. (vgl. c. 1393 CIC/1983), c. 1372 CIC n. F. (vgl. c. 1375 CIC/1983), c. 1376 § 1, 18 und 28 CIC n. F. (vgl. c. 1377 CIC/1983), c. 1377 § 1 CIC n. F. (vgl. c. 1386 CIC/1983), c. 1378 § 2 CIC n. F. (vgl. c. 1389 § 2 CIC/ 1983), c. 1383 CIC n. F. (vgl. c. 1385 CIC/1983), c. 1390 § 2 CIC n. F. (vgl. c. 1390 § 2 CIC/ 1983) und c. 1391, 18 – 38 CIC n. F. (vgl. c. 1391, 18-38 CIC/1983). 93 C. 1395 § 2 CIC n. F.: „Ein Kleriker, der sich auf andere Weise gegen das sechste Gebot des Dekalogs verfehlt hat, soll, wenn die Straftat öffentlich begangen wurde, mit gerechten Strafen belegt werden, wenn erforderlich, die Entlassung aus dem Klerikerstand nicht ausgenommen.“ 94 Markus Graulich, Kommentar zum erneuerten Strafrecht: cc. 1354 – 1399 CIC, in: Graulich/Hallermann, Strafrecht (Anm. 6), S. 169 – 216, hier S. 179; ausführlich zur Verjäh-

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der Hinweis eingefügt, dass das Dikasterium für die Glaubenslehre auch dann von der Verjährung derogieren kann, wenn die Straftat bereits vor Inkrafttreten der Normen begangen wurde. Zu begrüßen ist die neu eingefügte Bestimmung: „Wird der Beschuldigte nach can. 1723 vorgeladen oder wird er nach can. 1507 § 3 über die Einreichung der Klageschrift nach can. 1721 § 1 informiert, wird die Verjährung der Strafklage für drei Jahre ausgesetzt. Nach Ablauf dieser Zeit oder wenn die Aussetzung durch die Beendigung des Strafprozesses unterbrochen wurde, läuft die Verjährungsfrist weiter und wird zu der Zeit hinzugezählt, die schon verstrichen ist. Die gleiche Aussetzung gilt auch, wenn eine Strafe nach can. 1720, n. 1 durch außergerichtliches Dekret verhängt oder festgestellt werden soll“ (c. 1362 § 3 CIC n. F.). XI. Verstärkte Verpflichtung zu Schadensersatz Neben der Verhängung einer Strafe kommt der Schadenersatz in der überarbeiteten Fassung des Strafrechts des Buchs VI des CIC verstärkt in den Blick.95 Dieser kann jedoch nicht als Strafe gesehen werden; vielmehr tritt er zur Strafe hinzu oder bildet bei Beugestrafen neben der Aufgabe der Widersetzlichkeit die Voraussetzung für den Straferlass. Näher kann eine Beugestrafe einem Täter nur erlassen werden, „der gemäß c. 1347, § 2 die Widersetzlichkeit aufgegeben hat“; er kann einem solchen „unter Beachtung der Vorschrift des c. 1361, § 4“ CIC n. F. nicht verweigert werden (c. 1358 § 1 CIC n. F.; vgl. c. 1358 § 1 CIC/1983). Aufgrund der neuen Verweisung auf c. 1361 § 4 CIC n. F. muss der Täter also nicht nur seine Widersetzlichkeit aufgegeben, sondern auch entstandenen Schaden wiedergutgemacht haben. Damit wurden die Voraussetzungen für den Erlass einer Beugestrafen angehoben und durch die Forderung nach Wiedergutmachung des verursachten Schadens zudem erschwert. Neu ist auch, dass ein Straftäter zur Wiedergutmachung des Schadens bzw. zur Rückgabe „durch eine der Strafen nach can. 1336, §§ 2 – 4 gedrängt werden“ kann, „was auch anzuwenden ist, wenn es um den Nachlass einer Beugestrafe nach can. 1358, § 1 geht“ (c. 1361 § 4 CIC n. F.). Durch die Betonung des Schadenersatzes nimmt der kirchliche Gesetzgeber Abschreckung und Prävention sowie die geschädigten Personen bzw. Opfer stärker in den Blick. Es geht nicht nur um Bestrafung, sondern auch darum, verursachten Schaden wiedergutzumachen und Schadenersatz zu leisten. So wird im Fall rechtswidriger Aneignung bzw. Veräußerung von Kirchengut (vgl. c. 1376 § 1, 18 und 28 CIC n. F.; c. 1377 CIC/1983), schwerer Schuld und grob fahrlässigem Handeln bei der Verwaltung von Kirchengütern (vgl. c. 1376 § 2, 18 und 28 CIC n. F.), der Annahme von Geschenken und Versprechungen (vgl. c. 1377 § 1 CIC n. F.; c. 1386 CIC/1983), der Forderung einer über das Festgerung Rafael Rieger, Verjährung im kanonischen Recht. Studien zum Telos eines Rechtsinstituts (= MthS.K 79), St. Ottilien 2021. 95 Vgl. c. 1344, 28 CIC n. F., c. 1347 § 2 CIC n. F., c. 1357 § 2 CIC n. F., c. 1361 § 4 CIC n. F., c. 1376 §§ 1 und 2 CIC n. F., c. 1377 § 1 und 2 CIC n. F., c. 1378 §§ 1 und 2 CIC n. F. und c. 1393 § 2 CIC n. F.

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legte hinausgehenden Summe oder weiterer Geldleistung (vgl. c. 1377 § 2 CIC n. F.), des Missbrauchs kirchlicher Gewalt oder eines kirchlichen Amtes (vgl. c. 1378 § 1 CIC n. F.; c. 1389 § 1 CIC/1983), des Setzens bzw. Unterlassens einer kirchlichen Handlung (vgl. c. 1378 § 2 CIC n. F.; c. 1389 § 2 CIC/1983) und der Straftat eines Klerikers oder Ordensangehörigen im wirtschaftlichen Bereich (vgl. c. 1393 § 2 CIC n. F.) der Täter im Unterschied zu den Strafandrohungen im CIC/1983 ausdrücklich auch zu Schadenersatz verpflichtet. Im Fall einer fälschlichen Anzeige eines Beichtvaters, einer verleumderischen Anzeige einer Straftat oder sonstigen Rufschädigung muss der Verleumder sogar „gezwungen werden, eine angemessene Wiedergutmachung zu leisten“ (c. 1390 § 3 CIC n. F.; vgl. c. 1390 § 3 CIC/1983: kann). Auch für den Fall, dass der Richter von einer Strafe absieht bzw. die Strafe mildert, wird gegenüber c. 1344, 28 CIC/1983 auf Schadenersatz hingewiesen (vgl. c. 1344, 28 CIC n. F.). XII. Ausblick Wie Papst Franziskus in der Apostolischen Konstitution „Pascite gregem Dei“ bemerkt, ist der Text des Buchs VI des CIC in technischer Hinsicht verbessert worden, was „eine bessere Umschreibung der Strafen“ betrifft. „Dies entspricht einem Erfordernis des Strafrechts und erlaubt, den Ordinarien und den Richtern objektive Kriterien anzubieten, wenn es darum geht, die angemessenste Strafe im konkreten Fall zu finden“96. Die Kirche muss sich immer fragen, ob ihr gegenwärtiges Recht tatsächlich das Recht ist, das der Gemeinschaft Kirche und dem Heil des einzelnen Christgläubigen dienlich ist, wenngleich die Spannung zwischen Stabilität und Reform bleibt. Jedenfalls soll die überarbeitete Fassung des kirchlichen Strafrechts des CIC nicht zuletzt in seinem ersten Teil den Hirten erlauben, dieses „als flexibleres therapeutisches und korrigierendes Instrument zu benutzen, das zeitgerecht mit pastoraler Liebe eingesetzt werden kann, um größerem Übel zuvorzukommen und die durch menschliche Schwäche geschlagenen Wunden zu heilen“.97 Um diese Ziele zu erreichen, muss das erneuerte Strafrecht des Buchs VI des CIC seitens der Hirten auch angewendet werden. Ein zum erneuerten Strafrecht des CIC angedachtes Vademecum könnte hierfür Hilfe bieten. Wie das Kirchenrecht insgesamt so widerspricht auch das kirchliche Strafrecht „nicht der Liebe, die in der Kirche erfahrbar sein muss, sondern steht im Dienst an dieser Liebe, die Gott selbst ist“.98

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Franziskus, Pascite gregem Dei (Anm. 3). Franziskus, Pascite gregem Dei (Anm. 3). 98 Ludger Müller, Recht und Kirchenrecht, in: HdbKathKR3, S. 12 – 31, hier S. 31. 97

„Qui sibi devincit minorem“ Erwägungen zum Grooming-Tatbestand in c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 Martin Rehak Der gemäß der Apostolischen Konstitution Pascite gregem Dei1 vom 23. Mai 2021 vollständig neu gefasste Kanon 1398 des Codex Iuris Canonici bestimmt in § 1 Nr. 2, dass mit näher bezeichneten Strafen ein Kleriker zu bestrafen ist, „qui sibi devincit aut inducit minorem aut personam quae habitualiter usum imperfectum rationis habet aut eam cui ius parem tutelam agnoscit, ut pornographice sese ostendat vel exhibitiones pornographicas sive veras sive simulatas, participet.“2

Dieser Tatbestand kann den unbedarften Ausleger vor verschiedene Herausforderungen stellen. So ist zu klären, welche Personen im Einzelnen der Gesetzgeber mit der Wendung „[persona] cui ius parem tutelam agnoscit“ im Blick hat.3 Im Einzelfall 1 Veröffentlicht u. a. in: Communicationes 53 (2021), S. 9 – 12 (lat.); S. 13 – 16 (ital.); die Neufassung des Liber VI De sanctionibus poenalibus in Ecclesia abgedruckt ebd., S. 17 – 65. 2 Auf der Homepage des Päpstlichen Rats für die Gesetzestexte (https://www.delegumtexti bus.va/ [Zugriff: 15. 11. 2022]) findet sich hierzu folgende deutsche Übersetzung: „der einen Minderjährigen […] dazu verführt oder verleitet an echten oder simulierten pornographischen Darstellungen teilzunehmen oder diese umzusetzen“; dagegen übersetzt die im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, der Österreichischen Bischofskonferenz, der Schweizer Bischofskonferenz sowie weiterer (Erz-)Bischöfe mit deutschsprachigen Diözesanen herausgegebene lateinisch-deutsche Ausgabe des Codex Iuris Canonici in ihrer 10. Auflage von 2021 abweichend so: „[…] dazu hinführt oder verleitet, sich pornographisch zu zeigen oder an echten oder simulierten pornographischen Darstellungen teilzunehmen“. 3 José Luis Sánchez-Girón Renedo, El „motu proprio“ „Vos estis lux mundi“. Contenidos y relación con otras normas del derecho canónico vigente, in: EE 94 (2019), S. 655 – 703, hier S. 663 mit Anm. 42, erinnert daran, dass bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des reformierten Strafrechts am 01. 06. 2021 auf Nachfrage erklärt wurde, dass mit der besagten Wendung die vulnerablen Personen im Blick seien; vgl. dazu auch Juan Ignacio Arrieta, A Presentation of the New Penal System of Canon Law, in: Jurist 77 (2021), S. 245 – 268, hier S. 264 f. Der Begriff der „vulnerablen Person“ wurde laut Markus Graulich/Heribert Hallermann, Das neue kirchliche Strafrecht. Einführung und Kommentar (= KRR 35), Münster 2021, S. 214, deshalb bewusst vermieden, um auch Personen erfassen zu können, die nur „im kirchlichen Kontext in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis stehen“. Auf diese Problematik hatte zuvor etwa Helen Costigane, Vos estis lux mundi: Too Far or Not Far Enough?, in: Ecclesiastical Law Journal 22 (2020), S. 300 – 313, hier S. 308 – 310, aufmerksam gemacht; vgl. zum Problemkreis ferner Klaus Kottmann, Erwachsene Pönitenten als Schutzbefohlene? Zur Frage der Anwendung der Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener in Fällen des c. 1387 CIC, in: Rüdiger Alt-

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könnte sodann die Abgrenzung schwierig sein, ob ein Sich-Zeigen Minderjähriger bloß aufreizend oder eben pornographisch ist.4 Rätselhaft könnte auch sein, was man sich unter einer „exhibitio pornographica simulata“ vorzustellen hat.5 Eine weitere Verständnisschwierigkeit wirft schließlich die Tathandlung auf, die in der lateinischen Fassung des Normtextes mit „devincere“ und „inducere“ umschrieben wird. Beide Verben haben im Lateinischen eine sehr ähnliche Bedeutung. So hat „devincere“, das wörtlich in etwa mit „fest umwinden, umbinden, verbinden, festbinden, fesseln“ zu übersetzen wäre, in einem übertragenen Sinn unter anderem die Bedeutung von „[mit Worten] fesseln, in Banden schlagen, sich ganz zu eigen machen, sich ergeben machen, verpflichten, verbindlich machen, nötigen“.6 Es geht hier also offenbar darum, sein Gegenüber zu „verstricken“. Dagegen hat das von „ducere (führen, ziehen)“ abgeleitete „inducere“ ein breites Bedeutungsspektrum, wobei im hiesigen Kontext, ausgehend von einem eher wörtlichen „hineinfüh-

haus/Judith Hahn/Matthias Pulte (Hrsg.), Im Dienste der Gerechtigkeit und Einheit. Festschrift für Heinrich J. F. Reinhardt zur Vollendung seines 75. Lebensjahres (= MK CIC. Beihefte 75), Essen 2017, S. 299 – 312. Nach mündlicher Mitteilung von Markus Graulich, Untersekretär des Dikasteriums für die Gesetzestexte, auf der Tagung „Das neue kirchliche Strafrecht zwischen Kontinuität und Diskontinuität“, die am 26.–28. 09. 2022 auf Schloss Hirschberg stattfand, soll die offen formulierte Bezugnahme auf „das Recht (ius)“ es zudem ermöglichen, einzelne Personenkreise bei Fehlen eines gesamtkirchlichen Gesetzes auch mittels partikularrechtlicher Regelungen zu schützen. 4 Siehe rechtsvergleichend die vergleichsweise weite Formulierung in § 184b § 1 Nr. 1 lit. b–c) StGB (Deutschland), wo auf „die Wiedergabe eines ganz oder teilweise unbekleideten Kindes in aufreizend geschlechtsbetonter Körperhaltung oder […] die sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes eines Kindes“ abgestellt wird. Enger dagegen § 207a Abs. 4 StGB (Österreich), das in vier Ziffern eine Legaldefinition des Begriffs der pornographischen Darstellung vorlegt und unter Nr. 4 lit. b) nur „wirklichkeitsnahe Abbildungen der Genitalien oder der Schamgegend Minderjähriger“ unter Strafe stellt. Zur Rechtslage in der Schweiz vgl. Art. 197 Schweizerisches StGB. Zur Sachfrage sei auf die sogenannte COPINE-Skala hingewiesen, vgl. dazu Bernd-Dieter Meier/Arnd Hüneke, Forschungsbericht: Herstellung und Verbreitung von Kinderpornographie über das Internet, Hannover 2011, S. 48 – 50; Irina Franke/Marc Graf, Kinderpornografie. Übersicht und aktuelle Entwicklungen, in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 10 (2016), S. 87 – 97, hier S. 89. 5 Siehe dazu rechtsvergleichend § 184b § 1 Nr. 2 StGB (Deutschland), wo die Wiedergabe eines „wirklichkeitsnahen Geschehens“ strafbar ist, und § 207a Abs. 4 Nr. 1 StGB (Österreich), das „wirklichkeitsnahe Abbildungen einer geschlechtlichen Handlung“ unter Strafe stellt. 6 Vgl. statt anderer Thomas Baier (Hrsg.), Der neue Georges. Ausführliches lateinischdeutsches Handwörterbuch, Darmstadt 2013, Bd. 1, Sp. 1635 f. (s. v. „devincio“). Bislang war das Verb ein Hapaxlegomenon des CIC; gemäß c. 245 § 2 CIC soll ein Ziel der Priesterausbildung darin bestehen, die Liebe (amor) der Alumnen zur Kirche in eine Liebe (caritas) zum Papst zu transformieren, so dass jene diesem „humili et filiali caritati devinciantur“.

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ren, hineinleiten, hineinbringen“ vor allem der Sinngehalt des „zu etwas bringen, bewegen, veranlassen, verleiten, verführen, verlocken“ von Interesse ist.7 Vor diesem Hintergrund nimmt der vorliegende Beitrag seinen Ausgang bei der Frage, welche unterschiedlichen Tathandlungen der Gesetzgeber bei der Verwendung der genannten Vokabeln im Blick hat. Denn man wird umgekehrt nicht davon ausgehen können, dass der Gesetzgeber aus bloßer Freude an Lyrik oder sonstigen stilistischen Gründen einen einzigen Typus von Tathandlungen mit der Paarformel „devincere aut inducere“ umschreiben wollte. Dazu werden in einem ersten Schritt zunächst die Rechtsgeschichte des c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 sowie die Übersetzungen des Normtextes in andere Sprachen in den Blick genommen. Ausgehend von dem Hinweis, den insbesondere die englische Übersetzung bietet, wird sodann das Phänomen des Grooming unter kriminologischem und, in rechtsvergleichender Perspektive, unter strafrechtlichem Aspekt beleuchtet. Dem schließen sich Erwägungen zum präzisen Verständnis sowie zum Telos der kirchenrechtlichen Norm an. Eine kurze Zusammenfassung der gefundenen Ergebnisse schließt die Untersuchung ab. I. Zur Rechtsgeschichte des c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 Die Regelung des c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 ist zwar neu und erstmals mit der Strafrechtsreform von 2021 in das kodikarische Recht aufgenommen worden. Zudem ist sie auch dem Schema von 2011 noch unbekannt.8 Dennoch kann sie inhaltlich auf eine, wenn auch kurze Rechtsgeschichte zurückblicken. Denn bereits mit dem Motu Proprio Vos estis lux mundi9 vom 7. Mai 2019 war klargestellt worden, dass Straftaten gegen das sechste Gebot gemäß Art. 1 § 1 lit. a Ziff. III VELM auch 7 Vgl. statt anderer Baier (Hrsg.), Der neue Georges (Anm. 6), Bd. 2, Sp. 2550 f. (s. v. „induco“). 8 Vgl. Schema recognitionis libri VI Codicis Iuris Canonici, veröffentlicht unter https:// www.iuscangreg.it/pdf/SchemaRecognitionisLibriVI.pdf [Zugriff: 15. 11. 2022], dort S. 38 (zu c. 1395 CIC/1983). 9 Veröffentlicht u. a. in: AAS 111 (2019), S. 823 – 832; Communicationes 51 (2019), S. 23 – 33; dt. Übersetzung in: AfkKR 187 (2020), S. 172 – 181. Hierzu ferner Damián Guillermo Astigueta, Lettura di Vos estis lux mundi, in: PerRCan 108 (2019), S. 517 – 550; John A. Renken, Vos estis lux mundi: The Evolution of the Church’s Response to Sexual Abuse and its Cover-up after the Vatican Summit, in: StCan 53 (2019), S. 627 – 658; Rafael RodríguezOcaña, El motu proprio „Vos estis lux mundi“, in: IusCan 59 (2019), S. 825 – 884; SánchezGirón Renedo, Contenidos (Anm. 3); Giuseppe Comotti, I delitti contra sextum e l’obbligo di segnalazione nel Motu proprio „Vos estis lux mundi“, in: IusE 32 (2020), S. 239 – 268; Costigane, Vos estis (Anm. 3); Peter Platen, Die Würdigung von Handlungen im Zusammenhang von pornographischen Darstellungen von Minderjährigen im geltenden kirchlichen Strafrecht, in: Christoph Ohly/Stephan Haering/Ludger Müller (Hrsg.), Rechtskultur und Rechtspflege in der Kirche. Festschrift für Wilhelm Rees zur Vollendung des 65. Lebensjahres (= KStT 71), Berlin 2020, S. 623 – 636, hier S. 630 – 633; Christoph Ohly, Das Motu Proprio Vos estis lux mundi. Perspektiven und Anmerkungen, in: DPM 27/28 (2020/21), S. 231 – 248;

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„nella produzione, nell’esibizione, nella detenzione o nella distribuzione, anche per via telematica, di materiale pedopornografico, nonché nel reclutamento o nell’induzione di un minore o di una persona vulnerabile a partecipare ad esibizioni pornografiche“10

bestehen. Nachdem insbesondere die Anwerbung und Verleitung von Minderjährigen und vulnerablen Personen zur Teilnahme an pornographischen Darstellungen bis dahin weder von c. 1395 § 2 CIC/1983 noch von Art. 6 § 1 Normae de gravioribus delictis11 ausdrücklich erfasst waren, mag es – auch wegen des im Übrigen dezidiert prozessrechtlichen Charakters von VELM – unter den Kanonisten eine gewisse Unsicherheit gegeben haben, ob mit dieser Klärung gleichsam eine materiellrechtliche Ausweitung des kanonischen Strafrechts verbunden war oder ob die jetzt ausdrücklich umschriebenen Tatbestände im Bereich der Kinderpornographie zwar meldepflichtig wurden, aber (noch) nicht strafbar waren.12 Im Zuge der Strafrechtsreform des Jahres 2021 wurde dann der letzte Halbsatz von Art. 1 § 1 lit. a Ziff. III VELM, dessen Tatbestand man (in Bezug auf Minderjährige und habituell im Vernunftgebrauch eingeschränkte Personen) wohl schon zuvor unter c. 1395 § 2 CIC/1983 bzw. Art. 6 § 1 Nr. 1 Normae de gravioribus delictis subsumieren konnte, in c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 als eigener Straftatbestand ausgestaltet.13 II. Die fremdsprachlichen Übersetzungen von Art. 1 § 1 lit. a Ziff. III VELM und c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 Die Klausel „nonché nel reclutamento o nell’induzione di un minore (dt.: sowie die Anwerbung oder Verleitung einer minderjährigen […] Person)“ aus Art. 1 § 1 lit. a Ziff. III VELM erhält in anderen Sprachen folgenden offiziösen Wortlaut:14 Laurentius Eschlböck, Zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs. Das Motu proprio Vos estis lux mundi, in: EuA 97 (2021), S. 73 – 83. 10 AAS 111 (2019), S. 824; Com 51 (2019), S. 24; dt. Übersetzung in AfkKR 187 (2020), S. 174: „[umfassen] die Herstellung, die Darbietung, der Besitz oder die Verbreitung von kinderpornographischem Material auch auf telematischem Weg sowie die Anwerbung oder Verleitung einer minderjährigen oder schutzbedürftigen Person, an pornographischen Darbietungen teilzunehmen.“ 11 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Normae de gravioribus delictis vom 21. 05. 2010, in: AAS 102 (2010), S. 419 – 430; dt. Übersetzung in: AfkKR 179 (2010), S. 169 – 179. 12 Vgl. dazu einerseits Astigueta, Lettura (Anm. 9), S. 549 Renken, Evolution (Anm. 9), S. 637 – 641 u. 657; Ohly, Perspektiven (Anm. 9), S. 236 – 238 u. 698 f.; Eschlböck, Bekämpfung (Anm. 9), S. 77; im Ergebnis auch Comotti, Delitti (Anm. 9), 253 – 259; Platen, Würdigung (wie Anm. 9), 631 – 633; andererseits Rodríguez-Ocaña, El motu proprio (Anm. 9), S. 834 – 838; Sánchez-Girón Renedo, Contenidos (Anm. 3), S. 676 – 687. 13 Vgl. Sánchez-Girón Renedo, Contenidos (Anm. 3), S. 663; Graulich/Hallermann, Strafrecht (Anm. 3), S. 215; Judith Hahn, Sex Offenses—Offensive Sex: Some Observations on the Recent Reform of Ecclesiastical Penal Law, in: Religions 13 (2022), Nr. 332, online veröffentlicht: https://www.mdpi.com/2077-1444/13/4/332 [Zugriff: 15. 11. 2022], S. 1 – 15, hier S. 3. 14 Siehe https://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2019/05/09/0390/ 00804.html [Zugriff: 15. 11. 2022].

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„así como recluir o inducir a un menor“ (spanisch); „ainsi que recruter ou inciter un mineur“ (französisch); „as well as by the recruitment of or inducement of a minor“ (englisch). Die Wendung „qui sibi devincit auf inducit minorem“ in c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC wird in den verschiedenen, auf den Webseiten des Apostolischen Stuhls bzw. des Dikasteriums für die Gesetzestexte veröffentlichten fremdsprachlichen Versionen des reformierten Buchs VI des Kodex des kanonischen Rechts so übersetzt:15 „che recluta o induce un minore“ (italienisch); „que recluta o induce a un menor“ (spanisch);16 „qui recrute ou conduit un mineur“; „[if he] grooms or induces a minor“ (englisch). Damit ist auffällig, dass in den drei romanischen Sprachen Italienisch, Spanisch und Französisch die Vokabel „devincere“ aus c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 jeweils mit dem fremdsprachlichen Äquivalent des deutschen Verbs „rekrutieren“ wiedergegeben wird, und zwar in erkennbarem Anschluss an die bereits in Art. 1 § 1 lit. a Ziff. III VELM vorfindliche Ausdrucksweise. Lediglich bei der englischen Übersetzung beider Normtexte findet eine Weiterentwicklung statt, indem das „recruitment“ aus VELM durch „to groom“ ersetzt wird. Diese Änderung ist gleichermaßen auffällig und lehrreich. Sie weist – meines Erachtens – den Weg zu einem präzisen Verständnis der kanonischen Strafnorm und der damit allem Anschein nach vom Gesetzgeber verfolgten Absicht. III. „(Cyber-)Grooming“ als kriminologischer Fachbegriff Der Begriff „Grooming (dt.: Lausen)“ entstammt ursprünglich der Zoologie und bezeichnet dort die ritualisierte wechselseitige Körperpflege zwecks Definition und Festigung sozialer Beziehungen.17 Beginnend in den 1980er Jahren18 dient er darüber hinaus als kriminologischer Fachbegriff und Sammelbezeichnung für jene Vorgehensweisen, mit denen über einen längeren Zeitraum hinweg eine sexuelle Viktimi15

Siehe https://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2021/06/01/0348/ 00750.html [15. 11. 2022]; https://www.delegumtextibus.va/content/testilegislativi/it/testi-nor mativi/cic/nuovo-libro-vi-cic.html [Zugriff: 15. 11. 2022]. 16 José Luis Sánchez-Girón Renedo, El nuevo derecho penal de la Iglesia, in: EE 96 (2021), S. 647 – 685, hier S. 663 mit Anm. 46, möchte das ihm unpassend erscheinende Verb „reclutar (anwerben)“ durch „implicar (verwickeln)“ ersetzen. 17 Vgl. Rolf Gattermann, Wörterbuch zur Verhaltensbiologie der Tiere und des Menschen, München 22006, S. 107 (Art. Fremdputzen). 18 Vgl. anekdotisch Kenneth Lanning, The Evolution of Grooming: Concept and Term, in: Journal of Interpersonal Violence 33 (2018), S. 5 – 16. Nach Recherchen von Park Dietz, Grooming and Seduction, in: ebd., S. 28 – 36, hier S. 29 f., hat zuerst Jon R. Conte, The Justice System and Sexual Abuse of Children, in: Social Service Review 58 (1984), S. 556 – 568, darauf hingewiesen, dass in fast allen Fällen, in denen sich Täter und Opfer vor der Tat kannten, „the perpetrator involves children in sexual abuse through a grooming process in which a combination of kindness, attention, material enticement, special privilege, and coercion are expertly applied“ (ebd., S. 558).

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sierung von Kindern vorbereitet wird.19 Dabei zielt das Täterverhalten oftmals nicht allein auf die Verführung des späteren Opfers ab, sondern auch darauf, dessen bisherige Bezugspersonen in Sicherheit zu wiegen und sich für den Fall, dass später Aussage gegen Aussage steht, einen Vorsprung an eigener Glaubwürdigkeit zu erarbeiten. Von Cyber-Grooming spricht man dann, wenn der Täter zunächst ohne physische Präsenz mittels elektronischer Telekommunikation (z. B. Chats in den sozialen Medien) eine Beziehung aufbaut und sich Vertrauen erschleicht.20 Das Phänomen des Grooming wird mittlerweile vor allem aus psychologischer und soziologischer Perspektive intensiv beforscht.21 Dabei ist festzustellen, dass Grooming auch in kirchlichen Kontexten begegnet.22 19 Vgl. Ruud Bullens, Der Grooming Prozeß – oder das Planen des Mißbrauchs, in: Brunhilde Marquardt-Mau (Hrsg.), Schulische Prävention gegen sexuelle Kindesmisshandlung. Grundlagen, Rahmenbedingungen, Bausteine und Modelle, Weinheim/München 1995, S. 55 – 67, hier S. 55 – 61; Saskia Heyden/Kerstin Jarosch, Missbrauchstäter. Phänomenologie – Psychodynamik – Therapie, Stuttgart/New York 2010, S. 126 f.; Suzanne Ost, Child Pornography and Sexual Grooming. Legal and Societal Responses (= Cambridge Studies in Law and Society), Cambridge 2009, 32 – 39; Laura F. Kuhle/Dorit Grundmann/Klaus M. Beier, Sexueller Missbrauch von Kindern: Ursachen und Verursacher, in: Jörg M. Fegert/Ulrike Hoffmann/Elisa König/Johanna Niehues/Hubert Liebhardt (Hrsg.), Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Ein Handbuch zur Prävention und Intervention für Fachkräfte im medizinischen, psychotherapeutischen und pädagogischen Bereich, Berlin/Heidelberg 2015, S. 109 – 129, hier S. 118 – 120; Eleni Alexiou, Cyber-Grooming. Eine kriminologische und strafrechtsdogmatische Betrachtung (= Europäische Hochschulschriften, Rechtswissenschaft 6019), Berlin 2018, hier S. 35 – 48 u. 58 – 72; sehr anschaulich Nathalie Sabas, Geheimhaltung – Sexueller Missbrauch. Wie Eltern und Fachkräfte die Strategien des Täters durchbrechen können, Wiesbaden 2022, S. 54 – 66; umfassend Georgia M. Winters/Elizabeth L. Jeglic, Sexual Grooming. Integrating Research, Practice, Prevention, and Policy, Cham (Schweiz) 2022. 20 Vgl. Alexiou, Cyber-Grooming (Anm. 19), S. 48 – 50 u. 72 – 91; Jennifer Vogel, CyberGrooming. Präventionskonzepte zum Schutz von Grundschüler*innen, in: Ludwigsburger Beiträge zur Medienpädagogik (2019, Nr. 19), online veröffentlicht: https://www.medienpaedludwigsburg.de/article/view/361/356 [Zugriff: 15. 11. 2022], hier S. 2 – 4; Christopher Stoiber, „Cyber-Grooming“ aus empirischer und strafrechtlicher Sicht. Eine Analyse von § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB (= Schriften zur Kriminologie 20), Baden-Baden 2020, S. 21 – 24; Sophie Tschorr, Der Kampf gegen Computerkriminalität in Europa. Normen, Institutionen und Kooperationen (= Oldenburger Forum der Rechtswissenschaften 8), Baden-Baden 2020, S. 57 – 59. 21 Vgl. beispielsweise Libby Ashurst/Anne-Marie McAlinden, Young people, peer-to-peer grooming and sexual offending: Understanding and responding to harmful sexual behaviour within a social media society, in: Probation Journal. The Journal of Community and Criminal Justice 62 (2015), S. 374 – 388; Marie Christine Bergmann/Dirk Baier, Erfahrungen von Jugendlichen mit Cybergrooming: Schülerbefragung – Jugenddelinquenz, in: Rechtspsychologie. Zeitschrift für Familienrecht, Strafrecht, Kriminologie und Soziale Arbeit 2 (2016), S. 172 – 189; Anja Schulz/Emilia Bergen/Petya Schuhmann/Jürgen Hoyer/Pekka Santtila, Online Sexual Solicitation of Minors: How Often and between Whom Does it Occur?, in: Journal of Research in Crime and Delinquency 53 (2016), S. 165 – 188; Sebastian Wachs, Gewalt im Netz. Studien über Risikofaktoren von Cyberbullying, Cybergrooming und PolyCyberviktimisierung unter Jugendlichen aus vier Ländern (= Studien zur Kindheits- und Ju-

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IV. Die Grooming-Tatbestände im weltlichen Strafrecht Deutschlands, Österreichs und der Schweiz Bereits im Jahr 2003 hatte der deutsche Gesetzgeber mit dem neu eingeführten § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB a. F. das Einwirken auf ein Kind mittels Schriften (im weitesten Sinne) zwecks Vornahme sexueller Handlungen unter Strafe gestellt.23 Zu einer Weiterentwicklung dieses Straftatbestands trugen in der Folgezeit das vom Europarat initiierte, auch unter der Bezeichnung „Lanzarote-Konvention“ bekannte „Übereinkommen zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch“24 aus dem Jahr 2007 sowie die europarechtliche Kinderpornografie-Bekämpfungs-Richtlinie25 aus dem Jahr 2011 bei. Zur Umsetzung dieser europäischen Vorgaben in nationales Recht wurde § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB a. F. im Jahr 2015 gegendforschung 68), Hamburg 2017, S. 48 – 72, 149 – 202, 266 – 277, 291 – 300 u. passim; Molly R. Wolf/Doyle K. Pruitt/Tracy Leet, Lessons Learned: Creation and Testing of a New Instrument (Sex Offenders Grooming Assessment) for Measuring Sex Offenders’ Perceptions of Their Grooming Behaviors, in: Journal of child sexual abuse 30 (2021), S. 785 – 805; Georgia M. Winters/Elizabeth L. Jeglic, The Sexual Grooming Scale – Victim Version: The Development and Pilot Testing of a Measure to Assess the Nature and Extent of Child Sexual Grooming, in: Victims & Offenders 17 (2022), S. 919 – 940. 22 Vgl. allgemein Winters/Jeglic, Sexual Grooming (wie Anm. 19), S. 118 – 121; exemplarisch ferner Nhlanhla Landa/Sindiso Zhou/Baba Tshotsho, Interrogating the Role of Language in Clergy Sexual Abuse of Women and Girls in Zimbabwe, in: Journal for the Study of Religion 32 (2019), Nr. 2, S. 1 – 20; Hye Hyun Han, The body as the space in which power operates. Sexual violence of clergymen in the Korean church, in: Review & Expositor. An International Baptist Journal 117 (2020), S. 222 – 234. 23 Vgl. dazu Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften vom 27. 12. 2003, in: Bundesgesetzblatt Teil I (2003), 3007 – 3012; ferner Jörg Eisele, Tatort Internet: Cyber-Grooming und der Europäische Rechtsrahmen, in: Eric Hilgendorf/Rudolf Rengier (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Heinz zum 70. Geburtstag, Baden-Baden 2012, S. 697 – 713, hier S. 698 – 707; weitreichende Kritik am Gesetz und am Gesetzgebungsprozess übt Niklas Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung im Lichte der positiven Generalprävention. Eine Untersuchung am Beispiel des „Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften“ vom 27. Dezember 2003 (= Strafrechtliche Abhandlungen N. F. 188), Berlin 2007, hier besonders S. 94 – 193. 24 Siehe (deutsches) Bundesgesetzblatt Teil II (2015), Nr. 2 vom 27. 01. 2015, S. 27 – 53; Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich Teil III (2011), Nr. 96 vom 09. 06. 2011, S. 1 – 4 nebst Anlage; vgl. ferner Eisele, Tatort Internet (Anm. 23), S. 707 f. u. 712; Tschorr, Computerkriminalität (Anm. 20), S. 104 – 108. Gemäß Art. 23 Lanzarote-Konvention haben sich die Signatarstaaten dazu verpflichtet, die Kontaktanbahnung mit Kindern zu sexuellen Zwecken jedenfalls dann unter Strafe zu stellen, wenn der Täter dem Kind ein persönliches Treffen vorschlägt und hierzu eine konkrete Vorbereitungshandlung unternimmt. 25 Richtlinie 2011/93/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates, elektronisch publiziert: https://eur-lex.europa.eu/eli/dir/2011/93/oj?locale=de [Zugriff: 15. 11. 2022]. Vgl. dazu Eisele, Tatort Internet (Anm. 23), S. 708 – 712; Tschorr, Computerkriminalität (Anm. 20), S. 154 – 160.

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ringfügig geändert, indem die Einwirkung mittels Schriften um jene „mittels Informations- oder Kommunikationstechnologie“ ergänzt wurde.26 Um Täter auch dann belangen zu können, wenn sie anstatt mit Kindern tatsächlich Online-Kontakt mit deren Eltern oder mit kriminalpolizeilichen Lockvögeln haben, wurde – gegen heftigen Widerspruch im Schrifttum –27 gemäß § 176 Abs. 6 S. 2 StGB a. F. der Versuch des Cybergroomings unter Strafe gestellt.28 Mit dem Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder29 vom 16. 06. 2021 wurde der klassische Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern in mehrere Tatbestände ausdifferenziert, so dass nunmehr § 176 b StGB die Vorbereitung des sexuellen Missbrauchs von Kindern unter Strafe stellt. Der Tatbestand wird erfüllt durch ein Einwirken auf das Kind mit dem Ziel, dieses zur Beteiligung an sexuellen Handlungen vor oder mit dem Täter oder Dritten zu bewegen oder kinderpornografische Inhalte herzustellen. In Österreich wurde Grooming mit der Strafgesetznovelle 2011 gemäß dem neu eingefügten § 208a StGB strafbar,30 wobei sich die Ausgestaltung des Tatbestands strikt an den Mindestvorgaben der Lanzarote-Konvention orientierte. Voraussetzung der Strafbarkeit ist es mithin, dass ein persönliches Treffen vorgeschlagen und konkret vorbereitet wird. Die Vorschrift wurde im Jahr 2013 um einen neuen Absatz 1 a erweitert, um die Kontaktaufnahme zu unmündigen Kindern in der Absicht, sich kinderpornographische Darstellungen zu verschaffen, ebenfalls unter Strafe zu stellen.31 Zur Umsetzung der Lanzarote-Konvention wurde 2013 in der Schweiz Art. 197 Schweizerisches Strafgesetzbuch neu gefasst, der in Absatz 3 die Anwerbung 26 Siehe Neunundvierzigstes Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht vom 21. 01. 2015, in: Bundesgesetzblatt Teil I (2015), Nr. 2 vom 26. 01. 2015, S. 10 – 15, hier S. 12; dazu auch BT-Drs. 18/20601 (Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen); ferner Alexiou, Cyber-Grooming (Anm. 19), S. 213; Stoiber, „Cyber-Grooming“ (Anm. 20), S. 85 f. 27 Vgl. statt anderer Thomas Fischer, Cybergrooming. Der Versuch des Versuchs des Kindesmissbrauchs, in: Spiegel-Online vom 10. 10. 2019, elektronisch publiziert: https://www. spiegel.de/panorama/justiz/cybergrooming-gesetzentwurf-fuer-strafbarkeit-des-versuches-a1290846.html [Zugriff: 15. 11. 2022]; reserviert auch Axel Dessecker, Zur Diskussion über eine Erweiterung der Strafbarkeit von Cybergrooming, in: Kriminalpolitische Zeitschrift [KriPoZ] 4 (2019), S. 282 – 286; Anne Schneider, Versuchsstrafbarkeit von Cybergrooming?, in: KriPoZ 5 (2020), S. 137 – 143; Sabine Reschke, Strafbarkeit des Cyber-Grooming, in: KriPoZ/Sammelband „Digitalisierung im Straf- und Strafprozessrecht“ (2021), S. 90 – 107. 28 Siehe Siebenundfünfzigstes Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Versuchsstrafbarkeit des Cybergroomings vom 03. 03. 2020, in: Bundesgesetzblatt Teil I (2020), Nr. 11 vom 12. 03. 2020, S. 431 f.; dazu auch BT-Drs. 19/13836 (Gesetzentwurf der Bundesregierung); ferner Stoiber, „Cyber-Grooming“ (Anm. 20), S. 87 f. 29 Bundesgesetzblatt Teil I (2021), Nr. 33 vom 22. 06. 2021, S. 1810 – 1818; dazu auch BTDrs. 19/23707 (Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen). 30 Siehe Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, Teil I (2011), Nr. 130 vom 27. 12. 2011; dazu ferner Christian Bergauer, Das materielle Computerstrafrecht, Wien 2016, S 55 f., 515 – 522 u. 592 f. 31 Siehe Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, Teil I (2013), Nr. 116 vom 11. 07. 2013. Vgl. ferner Bergauer, Computerstrafrecht (Anm. 30), S. 58, 522 – 530 u. 593 f.

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zwecks Mitwirkung an einer pornografischen Vorführung unter Strafe stellt.32 Zugleich wurde allerdings ausdrücklich darauf verzichtet, sexuell motivierte Kontaktanbahnungen zu Kindern im Internet in einem eigenen Tatbestand unter Strafe zu stellen, da diese Tathandlung als bereits nach geltendem Recht strafbarer Versuch, sexuelle Handlungen mit Kindern zu begehen, angesehen wurde.33 V. Die Strafbarkeit von Grooming in der rechtspolitischen Diskussion Die beschriebenen Grooming-Tatbestände insbesondere des deutschen und österreichischen Strafrechts begründen eine eigenständige Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen. Es handelt sich also um ein (abstraktes34) Gefährdungsdelikt.35 32 Siehe Bundesbeschluss über die Genehmigung und Umsetzung des Übereinkommens des Europarats zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (Lanzarote-Konvention) vom 27. 09. 2013 (BBl 2013 7395; AS 2014 1159), elektronisch publiziert: https://www.fedlex.admin.ch/eli/oc/2014/248/de [Zugriff: 15. 11. 2022]. 33 Siehe dazu Botschaft zur Genehmigung des Übereinkommens des Europarats zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (Lanzarote-Konvention) sowie zu seiner Umsetzung (Änderung des Strafgesetzbuchs) vom 04. 07. 2012 (BBl 2012 7571), elektronisch publiziert: https://www.fedlex.admin.ch/eli/fga/2012/1181/de [Zugriff: 15. 11. 2022], hier S. 7625 – 7628. Zur Kritik an der bisherigen Rechtslage in der Schweiz vgl. Karin Fontanive/Monika Simmler, Gefahr im Netz: Die unzeitgemässe Erfassung des Cybergroomings und des Cyberharassments im schweizerischen Sexualstrafrecht. Zur Notwendigkeit der Modernisierung von Art. 198 StGB, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 135 (2016), S. 485 – 515, hier S. 492 – 502 u. 506 – 513. 34 Strittig; vereinzelt wird Grooming auch als ein konkretes Gefährdungsdelikt angesehen. Wie hier beispielsweise Monika Frommel, § 176, in: Urs Kindhäuser/Ulfrid Neumann/HansUllrich Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Bd. 2: Baden-Baden 22005, S. 3234 – 3246, hier S. 3242 (Rz. 10); Tatjana Hörnle, § 176, in: Heinrich Wilhelm Laufhütte/Ruth Rissing-van Saan/Klaus Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, Bd. 6: §§ 146 – 210, Berlin 122010, S. 846 – 884, hier. S. 854 (Rz. 7); Joachim Renzikowski, § 176, in: Klaus Miebach (Red.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 3: §§ 80 – 184j, München 3 2017, S. 1386 – 1414, hier S. 1389 (Rz. 6); Jörg Eisele, § 176 in: Adolf Schönke/Horst Schröder, Strafgesetzbuch. Kommentar, München 302019, S. 1775 – 1786, hier S. 1777 (Rn. 1a). Von einem konkreten Gefährdungsdelikt wird üblicherweise dann gesprochen, wenn der Täter eine Situation schafft, in der Eintritt oder Ausbleiben des Taterfolgs bzw. der Rechtsgutverletzung letztlich vom Zufall abhängen, vgl. dazu Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1, München 42006, S. 338 (§ 10 Rz. 123); Eric Hilgendorf/Brian Valerius, Strafrecht. Allgemeiner Teil, München 32022, S. 17 f. (§ 1 Rz. 58); Urs Kindhäuser/Till Zimmermann, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Baden-Baden 102022, S. 76 (§ 8 Rz. 23); Johannes Wessels/ Werner Beulke/Helmut Satzger, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Heidelberg 522022, S. 12 (Rz. 43). 35 Zur rechtspolitischen Problematik von abstrakten Gefährdungsdelikten im Strafrecht vgl. Eva Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht (= Strafrechtliche Abhandlungen N. F. 69), Berlin 1989, die für derartige Pönalisierungen auch ohne tatsächliche Rechtsgutverletzung den Handlungsunwert genügen lässt, wie er unter anderem bei Delikten mit überschießender Innentendenz gegeben sei (vgl. ebd., S. 355); Frank Zieschang, Die Gefährdungsdelikte (= Kölner kriminalwissenschaftliche Schriften 27), Berlin

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Bloße Vorbereitungshandlungen jedoch führen ebenso wie eine nur gedankliche Beschäftigung mit einer Straftat oder dem Herbeiwünschen eines strafrechtlich missbilligten Erfolgs (noch) nicht zu einer Rechtsgutverletzung36 und erreichen auch nicht die Schwelle der Versuchsstrafbarkeit, also den Moment des unmittelbaren Ansetzens zu einer Rechtsgutverletzung. Wenn Strafrecht von seiner Grundkonzeption her Tatstrafrecht ist und kein „Gesinnungsstrafrecht“37; wenn also mit anderen Worten nur eine dem Täter zurechen1998, der derartige Pönalisierungen mit der Erwägung ablehnt, dass dann das Strafrecht auch bei Ungefährlichkeit im Einzelfall anzuwenden wäre (vgl. ebd., S. 380); anderer Ansicht Fengzhuang Liang, Abstrakte Gefährdungsdelikte und ihre Anwendung in der gegenwärtigen Risikogesellschaft (= Das Strafrecht vor neuen Herausforderungen 42), Berlin 2019; einschlägig ferner Urs Kindhäuser, Gefährdung als Straftat. Rechtstheoretische Untersuchungen zur Dogmatik der abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikte (= Juristische Abhandlungen 20), Frankfurt a. M. 1989; Wolfgang Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik „moderner“ Gefährdungsdelikte (= Strafrechtliche Abhandlungen N. F. 126), Berlin 2000, S. 281 – 318; Uta Baroke, Grenzenlose Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes durch Gefährdungsdelikte, in: Arndt Sinn/Walter Gropp/Ferenc Nagy (Hrsg.), Grenzen der Vorverlagerung in einem Tatstrafrecht. Eine rechtsvergleichende Analyse am Beispiel des deutschen und ungarischen Strafrechts (= Schriften des Zentrums für Europäische und Internationale Strafrechtsstudien 1), Osnabrück/Göttingen 2011, S. 247 – 276. 36 Zum Rechtsgüterschutz als Leitidee des Strafrechts vgl. Wohlers, Deliktstypen (Anm. 35), S. 213 – 237; Winfried Hassemer, Darf es Straftaten geben, die ein strafrechtlich geschütztes Rechtsgut nicht in Mitleidenschaft ziehen?, in: Roland Hefendehl/Andrew von Hirsch/Wolfgang Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie. Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel?, Baden-Baden 2003, S. 57 – 64; Bernd Schünemann, Das Rechtsgüterschutzprinzip als Fluchtpunkt der verfassungsrechtlichen Grenzen der Straftatbestände und ihrer Interpretation, in: ebd., S. 133 – 154; Knut Amelung, Der Begriff des Rechtsguts in der Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz, in: ebd., S. 155 – 182; Wolfgang Frisch, Rechtsgut, Recht, Deliktsstruktur und Zurechnung im Rahmen der Legitimation staatlichen Strafens, in: ebd., S. 215 – 238, der die berechtigte und notwendige Frage aufwirft, welches dem Strafrecht vorausgehende Normen- und Wertesystem darüber aufzuklären vermag, was (strafrechtlich schützenswerte) Rechtsgüter sind (ebd., S. 219 – 222) und dabei einen Rekurs auf (in pluralen Gesellschaften kaum greifbare) Moralvorstellungen ablehnt (ebd., S. 224 f.); Manfred Heinrich, Strafrecht als Rechtsgüterschutz – ein Auslaufmodell? Zur Unverbrüchlichkeit des Rechtsgutsdogmas, in: ders./Christian Jäger/Hans Achenbach (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis. Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, Bd. 1, Berlin 2011, S. 131 – 154, hier S. 131 – 134 u. 146 – 154; Günther Jakobs, Rechtsgüterschutz? Zur Legitimation des Strafrechts (= Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste. Geisteswissenschaften. Vorträge 440), Paderborn/München 2012, erneut in: Michael Pawlik (Hrsg.)/Günther Jakobs, Strafrechtswissenschaftliche Beiträge zu den Grundlagen des Strafrechts und zur Zurechnungslehre, Tübingen 2017, S. 65 – 102. Zum Konzept des Rechtsgüterschutzes im kanonischen Sexualstrafrecht vgl. Marcelo Gidi, Lo statuto penale del minore nel can. 1395 §2: analisi critica alla luce di presupposti dottrinali della teoria penale del bene giuridico, in: PerRCan 108 (2019), S. 1 – 34. 37 Zur teils sich an einzelnen Gerichtsurteilen abarbeitenden, teils ins Grundsätzliche gehenden Diskussion im Schrifttum um die Unzulässigkeit von Gesinnungsstrafrecht vgl. Jürgen Rath, Gesinnungsstrafrecht. Zur Kritik der Dekonstruktion des Kriminalunrechts in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (= Strafrecht in Forschung und Praxis 18), Hamburg 2002; Peter Rackow, Neutrale Handlungen als Problem des Strafrechts (= Schriften zum

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bare und vorwerfbare unrechte Tat und nicht auch moralisch zu missbilligende innere Vorstellungen und Absichten des Täters den Einsatz repressiver Strafen – mit denen im Bereich des weltlichen Strafrechts der Staat jedenfalls bei Freiheitsstrafen massiv in die private Lebensführung des Einzelnen eingreift – rechtfertigen, dann ist damit die rechtspolitische Frage aufgeworfen, mit welcher Begründungslogik bloße Vorbereitungshandlungen unter Strafe gestellt werden.38 Strafrecht und Strafprozeßrecht 100), Frankfurt a. M. 2007, hier S. 114 – 124 u. 372 – 376; Bernd Hecker, Strafbarkeit eines provozierten Auffahrunfalls durch äußerlich verkehrsgerechtes Verhalten gem. § 315 b Abs. 1 Nr. 2 StGB – zulässige Gesetzesauslegung oder rechtsstaatswidriges Gesinnungsstrafrecht?, in: Patrick Gödicke/Horst Hammen/Wolfgang Schur/Wolf-Dietrich Walker (Hrsg.), Festschrift für Jan Schapp zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2010, S. 257 – 266; Frauke Timm, Gesinnung und Straftat. Besinnung auf ein rechtsstaatliches Strafrecht (= Strafrechtliche Abhandlungen N. F. 237), Berlin 2012; Alexiou, Cyber-Grooming (Anm. 19), S. 324 – 338; Kai Ambos/Peter Rackow, Was ist Gesinnungsstrafrecht? Überlegungen unter Berücksichtigung des § 89a Abs. 2a StG, in: Eric Hilgendorf/ Marcelo D. Lerman/Fernando J. Córdoba (Hrsg.), Brücken bauen. Festschrift für Marcelo Sancinetti zum 70. Geburtstag (= Schriften zum Strafrechtsvergleich 12), Berlin 2020, 19 – 36. Zum Charakter des kanonischen Strafrechts als Tatstrafrecht erscheinen besonders die Straftaten gegen den Glauben gemäß cc. 1364, 1365 CIC instruktiv: Klaus Lüdicke, c. 1364, Rdnrn. 3 f., in: MK CIC (Stand: November 2001), ist beizupflichten, dass es sich hier um Kundgabedelikte handelt. Wer lediglich einen inneren, nicht öffentlich geäußerten Glaubenszweifel hegt, macht sich nicht strafbar. 38 Zur Legitimität der Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen vgl. einführend Arndt Sinn, Vorverlagerung der Strafbarkeit – Begriff, Ursachen und Regelungstechniken, in: ders./ Gropp/Nagy (Hrsg.), Grenzen der Vorverlagerung (Anm. 35), S. 13 – 40; Walter Gropp, Tatstrafrecht und Verbrechenssystem und die Vorverlagerung der Strafbarkeit, in: ebd., S. 99 – 119; im Generellen ferner Wohlers, Deliktstypen (Anm. 35), S. 328 – 337, der nach ausführlicher Problemerörterung erklärt, dass zwar die schlichte Möglichkeit krimineller Anknüpfungstaten für sich alleine die Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen nicht rechtfertige, diese jedoch dann strafbar würden, „wenn und soweit sich eine sozialschädliche Verhaltensweise darüber hinaus auch noch als Anmaßung einer mit dem allgemeinen Rechtsgleichheitsverhältnis unvereinbaren Rechtsposition darstellt“ (ebd., S. 336), beispielsweise indem sich der Täter über nicht strafrechtliche Normen hinwegsetzt, die der Minimierung von Risiken dienen; Günther Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 97 (1985), S. 751 – 785, erneut in: Pawlik (Hrsg.), Strafrechtswissenschaftliche Beiträge (Anm. 36), S. 103 – 132; Jens Puschke, Legitimation, Grenzen und Dogmatik von Vorbereitungstatbeständen (= Jus Poenale 12), Tübingen 2017; Uriel Möller, Definition und Grenzen der Vorverlagerung von Strafbarkeit. Diskussionsstand, Rechtsgeschichte und kausalitätstheoretische Bezüge (= Schriften des Zentrums für Europäische und Internationale Strafrechtsstudien 9), Osnabrück/Göttingen 2018, S. 56 – 197; mit grundsätzlichen Erwägungen zur Verfassungsmäßigkeit von Präventivstrafrecht zur Gefahrenabwehr auch Philipp Konstantin Kauffmann, Das Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten. Strafrechtsdogmatische und verfassungsrechtliche Grenzen der §§ 89a, 89b und 91 StGB (= Strafrecht in Forschung und Praxis 216), Hamburg 2011, S. 179 – 243. Hinsichtlich der Sexualdelikte im Speziellen vgl. Stefanie Bock/Stefan Harrendorf, Kursorische Überlegungen zur Strafbarkeit und Strafwürdigkeit tatvorbereitender computervermittelter Kommunikation, in: Martin Asholt/Milan Kuhli/Sascha Ziemann/Denis Basak/Marc Reiß/Susanne Beck/Nina Nestler (Hrsg.), Grundlagen und Grenzen des Strafens, BadenBaden 2015, S. 139 – 156, hier S. 146 f. u. 149 – 156; besonders zur Vorverlagerung der

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Im Falle des (Cyber-)Grooming resultiert die Strafwürdigkeit hauptsächlich aus der Bedeutung des bedrohten Rechtsguts, nämlich der ungestörten (sexuellen) Entwicklung des Kindes.39 Daneben wird das kriminalpolitische Argument vorgebracht, dass die Strafbarkeit von Grooming ein effektives Instrument sei, um mittels agents provocateurs potenzielle pädokriminelle Täter zu ermitteln, aus dem Verkehr zu ziehen, und dabei eventuell auch noch schwerwiegenderen Straftaten auf die Spur zu kommen. Dabei gilt die Vorverlagerung der Strafbarkeit auch deshalb als alternativlos, weil es in der Praxis nicht möglich ist, Täter so präzise zu überwachen, dass sie ohne Gefährdung des potenziellen Opfers genau in dem Moment gestellt werden könnten, in dem sie zur Begehung der mit dem Grooming vorbereiteten weiteren Sexualdelikte unmittelbar ansetzen. Somit streiten insbesondere generalpräventive Erwägungen für die Strafbarkeit von Grooming. Diese Konzeption leuchtet unmittelbar ein, wenn – wie insbesondere in typischen Fällen von Cyber-Grooming – die Kontaktanbahnung von Anfang an offensichtlich sexuell konnotiert ist. Allerdings wird im Grunde auch jedes dem äußeren Anschein nach harmlose Verhalten strafbar, wenn und weil es aus Sicht des Täters mit sexuellen Hintergedanken erfolgt. Für die Abgrenzung zwischen strafbarem und sozial adäquatem40 Verhalten ist dies äußerst problematisch. Denn zwischenmenschliche

Strafbarkeit durch § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB a. F. vgl. Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung (Anm. 23), S. 144 – 146; ausführlich Alexiou, Cyber-Grooming (Anm. 19), S. 288 – 338. 39 Vgl. dazu Frommel, § 176 (Anm. 34), S. 3242 (Rz. 10); Tatjana Hörnle, Sexueller Missbrauch von Kindern: Reges Interesse in der Politik und den Sozialwissenschaften, unzureichende Schutzzweckdiskussion in der Strafrechtswissenschaft, in: Henning Ernst Müller/ Günther M. Sander/Helena Válková (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag, München 2009, S. 321 – 336, hier S. 326 – 336; dies., § 176 (Anm. 34), S. 852 f. (Rz. 1 – 4); Hannah Lenz, Die Jugendschutztatbestände im Sexualstrafrecht. Das sexuelle Selbstbestimmungsrecht Jugendlicher und paternalistische Intentionen (= Studien zum Strafrecht 81), Baden-Baden 2017, S. 26 – 44 u. passim; Eisele, § 176 (Anm. 34), S. 1777 (Rz. 1a); Stoiber, „Cyber-Grooming“ (Anm. 20), S. 114 – 123. Ob es sachgerecht ist, bei vorpubertären Kindern von einem Rechtsgut der „sexuellen Selbstbestimmung“ zu sprechen – befürwortend Renzikowski, § 176 (Anm. 34), S. 1388 f. (Rz. 1 – 3); Alexiou, Cyber-Grooming (Anm. 19), S. 218 – 222; nach eingehender Diskussion beipflichtend Stoiber, „Cyber-Grooming“ (Anm. 20), S. 123 – 150 –, mögen die Humanwissenschaften beurteilen. Mit Hörnle, Sexueller Missbrauch, S. 333 – 335; Lenz, Jugendschutztatbestände, S. 243 – 261; Alexiou, Cyber-Grooming (Anm. 19), S. 222 – 226, wäre dann jedenfalls der Gedanke hervorzuheben, dass Kindern von Rechts wegen die Fähigkeit zur Einwilligung in „einvernehmliche“ sexuelle Handlungen mit Erwachsenen im Sinne einer modernen Verhandlungsmoral abzusprechen ist. 40 Zu sozialethisch nicht zu beanstandendem Verhalten als Problem des Strafrechts vgl. orientierend Roxin, Strafrecht (Anm. 34), S. 295 – 300 (§ 10 Rz. 33 – 42); Kindhäuser/Zimmermann, Strafrecht (Anm. 34), S. 100 (§ 11 Rz. 11); weiterführend Claus Roxin, Bemerkungen zur sozialen Adäquanz im Strafrecht, in: Günter Kohlmann (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Klug zum 70. Geburtstag, Bd. 2: Strafrecht, Prozeßrecht, Kriminologie, Strafvollzugsrecht, Köln 1983, S. 303 – 313; Christian Altermann, Sozialadäquanz und Strafrecht – eine Bestandsaufnahme, in: Müller/Sander/Válková (Hrsg.), Festschrift Eisenberg (Anm. 39),

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Interaktionen – insbesondere in den Bereichen von Bildung und Seelsorge – sind kaum denkbar, ohne dass Beziehungen aufgebaut werden und Vertrauen eingefordert wird.41 In gewisser Weise kehrt damit das heutige Strafrecht zurück zu seinen ideengeschichtlichen Wurzeln, nämlich den von mittelalterlichen Philosophen, Theologen, Juristen und Kanonisten geführten Diskursen um die Quellen der Moralität und die Frage nach Vorwerfbarkeit und Schuld. Hier war es zuerst Peter Abaelard, der mit dem Slogan „intentio sola separat“42 der Ansicht war, dass es für die sittliche Qualität einer Handlung nicht allein darauf ankommen könne, ob damit etwas Gutes (bonum) oder etwas Schlechtes (malum) bewirkt wird, sondern entscheidend sei, ob man gut (bene) oder schlecht (male), d. h. mit guter oder schlechter Absicht handelt.43

S. 233 – 244; Felix Ruppert, Die Sozialadäquanz im Strafrecht. Rechtsfigur oder Mythos? (= Strafrechtliche Abhandlungen N. F. 291), Berlin 2020. Zu den Abgrenzungsschwierigkeiten im Kontext des Cybergrooming-Tatbestands des deutschen Strafrechts Eisele, § 176 in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch (Anm. 34), S. 1781 (Rz. 14e): „Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers muss der Täter an den sexuellen Handlungen ferner ein Interesse haben […]. Nicht erfasst werden sollen demnach Fälle, in denen Kinder unterstützt werden sollen, ein positives Gefühl zu ihrem Körper und zu ihrer Sexualität zu entwickeln […]. Wie der Gesetzgeber damit eine praktikable Ausklammerung sozialadäquater Verhaltensweisen aus dem Tatbestand erreichen wollte, bleibt völlig unklar“. Ähnlich Stoiber, „Cyber-Grooming“ (Anm. 20), S. 278: „Kann ein objektiver Dritter, der die Absichten des Täter nicht kennt, rein aus dem Inhalt der ausgetauschten Nachrichten nicht erkennen, ob vom Täter eine Gefahr für das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung des Kindes ausgeht, kann ein solches Verhalten aus rechtsstaatlichen Gründen nicht als strafwürdig angesehen werden.“ 41 Das Problem ist erkannt, harrt jedoch einer Lösung; vgl. etwa Bullens, Grooming Prozeß (wie Anm. 19), S. 6; Lanning, Evolution (Anm. 18), S. 13: „For many youth-serving organizations, most problematic is the difficulty in distinguishing grooming from mentoring“; aus der Perspektive der Aufarbeitung missbrauchten Vertrauens ferner Sabine Andresen/Andrea Pohling/Nina Schaumann, Pädagogik als Gefahrenzone. Vertrauen, Verletzbarkeit und Verantwortung als Erkenntniskategorien für Aufarbeitung sexueller Gewalt in pädagogischen Kontexten, in: Birgit Aschmann (Hrsg.), Katholische Dunkelräume. Die Kirche und der sexuelle Missbrauch, Paderborn 2022, S. 96 – 115, hier S. 98 – 102 u. 107 – 110. 42 Petrus Abaelardus, Scito te ipsum I,17,1 = Rainer M. Ilgner (Hrsg.), Petri Abaelardi opera theologica. IV. Scito te ipsum, Turnhout 2001, 18. 43 Vgl. dazu eingehend Stephan Ernst, Bloß intentionalistische oder theonome Ethik? Autonome und teleologische Elemente in der Begründung sittlichen Handelns bei Peter Abaelard, in: Philosophisches Jahrbuch 112 (2005), S. 8 – 30, hier S. 13 – 20; prägnant zusammenfassend Elisabeth Hasch, Intentio sola separat. Konzept und Bedeutungsspektrum der Intention in den ethischen Schriften Peter Abaelards (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Neue Folge 90), Münster 2022, S. 162. Zur Rezeption Abaelards bei der Klärung strafrechtlicher Grundbegriffe wie Verbrechen, Vorsatz und Schuld in der Anfangszeit der Kirchenrechtswissenschaft vgl. Stephan Kuttner, Kanonistische Schuldlehre von Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX. Systematisch auf Grund der handschriftlichen Quellen dargestellt (= Studi e testi 64), Vatikanstadt 1935, S. 4 – 62.

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VI. Konsequenzen für das Verständnis von c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 1. Gesetzgeberische Absicht oder Fehlinterpretation? Mit Blick auf den vorliegend untersuchten c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 führt dies zu der Frage, ob das hier entfaltete Verständnis von „sibi devincere“ im Sinne der Grooming-Straftatbestände des staatlichen Rechts sachgerecht ist,44 oder ob es sich um eine Überinterpretation der englischen Übersetzung (sowie des Verfassers dieses Beitrags) handelt.45 Auch wenn diese Frage am ehesten der Gesetzgeber selbst oder sein authentischer Interpret beantworten kann, ist folgendes in Rechnung zu stellen: Die Revision des sechsten Buchs des Kodex wurde jahrelang gewissenhaft vorbereitet. Das Dikasterium für die Gesetzestexte hat die oben referierten Übersetzungen des lateinischen Normtextes in die modernen Fremdsprachen veröffentlicht und hat dabei im Fall der englischen Übersetzung gerade nicht die weniger spezielle Formulierung „recruitment, to recrute“ aus VELM übernommen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass angesichts einer so intensiven Befassung mit der Materie dabei die Implikationen des Terminus „grooming, to groom“ unbemerkt geblieben sind. Jenseits dieser Überlegungen wird man zu erwägen haben, dass c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 bezüglich der Tatbestandsalternative des „sibi devincere“ zumindest in der englischsprachigen Kanonistik auf Anhieb eine doktrinelle Interpretation im Sinne einer eigenständigen Grooming-Strafbarkeit erfahren hat.46 Eine dem nachfolgende usuelle Interpretation (vgl. dazu c. 27 CIC) dürfte nur eine Frage der Zeit sein.

44 Art. 1 § 1 lit. a Ziff. III VELM und c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 haben, soweit ersichtlich, weder von der Rechtssprache noch vom genauen Regelungsinhalt her eine unmittelbare Vorlage in einer weltlichen Strafrechtsordnung. Für Deutschland, Österreich und die Schweiz vgl. dazu oben 2.; auch das italienische Strafrecht, wo der 2012 eingefügte Art. 609 undecies des Codice Penale einschlägig ist, hat dem kirchlichen Gesetzgeber angesichts der dortigen Formulierung („Chiunque […] adesca un minore […]“) erkennbar nicht als Muster gedient. Wäre dies anders, so wäre es wohl als erwiesen anzusehen, dass der kirchliche Gesetzgeber mit voller Absicht einen Grooming-Tatbestand geschaffen und dabei Anschluss an den europäischen Rechtsrahmen gesucht hat. 45 Eine vollständig andere Interpretation hat Brian T. Austin, The Revised Book VI, Part II. Selected Norms and Commentary, in: Jurist 78 (2022), S. 27 – 74, hier S. 68, vorgelegt. Er ist der Ansicht, die Vokabel „devincit“ zeige an, „that the victim is unwilling but unable to resist“, während die Vokabel „inducit“ Fälle vor Augen hat, in denen „an initially unwilling victim is ultimately persuaded to ,consent‘“. Demnach würde die Verwendung zweier Verben zur Kennzeichnung der Tathandlung also der Klarstellung dienen, dass es auf gar keinen Fall auf die innere Einstellung der minderjährigen bzw. vulnerablen Person bezüglich ihrer pornografischen Darstellung ankommt, so dass ein diesbezügliches (vermeintliches) Einverständnis des Opfers rechtlich unbeachtlich ist und nichts an der Strafbarkeit des Täters ändert. 46 Vgl. J. D. [James Daniel] Flynn, The Church’s New Penal Canon Law: The Good, the Bad, and the Ugly, in: The Pillar vom 01. 06. 2021, online veröffentlicht: https://www.pillarca tholic.com/the-churchs-new-penal-canon-law-the/ [Zugriff: 15. 11. 2022]; zustimmend Hahn, Sex Offenses (Anm. 13), S. 3.

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Dies alles spricht dafür, dass das „devincere“ in c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 auf eine eigenständige Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen im Sinne von Grooming abzielt, während mit der Tatbestandsalternative „inducere“ auf die tatsächliche, aktuelle Verführung einer minderjährigen Person zur Beteiligung an Kinderpornografie abgestellt wird, so dass also nach der vorbereitenden Grooming-Phase die Schwelle zum „Jetzt-geht’s-Los“ der Rechtsgutverletzung zum Nachteil der minderjährigen Person (endgültig) überschritten wird.47 2. Kanonisches Gesinnungsstrafrecht? Damit ist die eigenständige Strafbarkeit einer Vorbereitungshandlung gemäß c. 1398 § 1 Nr. 2 Alt. 1 CIC/2021 im kanonischen Strafrecht singulär. Sie führt dazu, dass auch dem äußeren Anschein nach harmlose, sozial adäquate Handlungen ohne sexuellen Bezug eine Strafbarkeit begründen können, wenn sie in der bösen Absicht vorgenommen werden, dadurch eine minderjährige (bzw. schutzbedürftige) Person für ihre spätere sexuelle Ausbeutung zu präparieren. Eine derartige Strafbarkeit ohne tatsächliche Rechtsgutverletzung ist zunächst einmal bemerkenswert. Denn sie steht vordergründig in Spannung zu dem in c. 1317 CIC formulierten Grundsatz, dass das Instrument der Strafe sparsam einzusetzen ist. Das kirchliche Strafrecht kommt daher grundsätzlich nur und erst dann zum Zug, wenn es zur Aufrechterhaltung der kirchlichen Ordnung geeignet und erforderlich ist. Dabei wird man allerdings dem Gesetzgeber einen gewissen Beurteilungsspielraum zugestehen dürfen. Von daher ist zu sehen, dass das kanonische Strafrecht des CIC schon bisher einzelne Tatbestände kannte, bei denen ebenfalls der Beginn der Strafbarkeit auf einen Zeitpunkt vor der eigentlichen Rechtsgutverletzung vorverlagert wurde oder das subjektive Element der Absichten des Täters entscheidend für seine Strafbarkeit waren. Insoweit kann zum einen auf c. 1387 CIC/1983 = c. 1385 CIC/2021 verwiesen werden, gemäß welcher Strafnorm die Verführungsbemühungen des Beichtvaters unabhängig davon, ob es tatsächlich zu einer gemeinsam mit dem Beichtkind begangenen 47 Im Ergebnis ähnlich Bruno Fabio Pighin, Il nuovo sistema penale della chiesa (= Facoltà di diritto canonico San Pio X. Manuali 15), Venedig 2021, S. 514, mit der Feststellung: „Si tratta di due attività delittuose che mirano allo stesso scopo. La prima, messa in atto in qualsiasi modo e con qualunque mezzo da un chierico, tende a ,invischiare‘ un minore perché si mostri in pose di tipo pornografico oppure partecipi a esibizioni del genere. […] Il verbo ,reclutare‘ non include automaticamente il risultato effettivo dell’operazione esecrabile né comprende l’attivazione del chierico per realizzare il turpe comportamento al quale il minore è sollecitato. Perciò, il delitto risulta consumato anche di fronte al semplice reclutamento, a prescindere dalla risposta talvolta negativa del reclutato, purché sia chiara la natura indecente della proposta a lui formulata. […] Il secondo verbo utilizzato per la stessa fattispecie è ,indurre‘. In questo caso, a differenza del primo, l’induttore ottiene effettivamente il risultato dell’adescamento a cui mira, essendosi adoperato a dar sì che il soggetto passivo – minore o suo equiparato – sia ,invischiato‘ per ostentare il proprio corpo in riproduzioni pornografiche […].“

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Sünde contra sextum Decalogi kommt, zu bestrafen sind.48 Zum anderen kennt das kodikarische Strafrecht beispielsweise mit c. 1367 CIC/1983 = c. 1382 § 1 CIC/ 2021 bezüglich der Tathandlungen der Entwendung oder Zurückbehaltung der eucharistischen Gestalten seit jeher eine Strafnorm mit sogenannter überschießender Innentendenz49, bei der sich also der Strafvorwurf auf eine bestimmte Absicht des Täters stützt (hier: ein Sakrileg zu begehen), die sich nicht notwendigerweise realisiert haben muss, um ihn zu bestrafen.50 Ähnlich sind c. 1386 CIC/1983 = c. 1377 § 1 CIC/2021, c. 1382 § 2 CIC/2021 und c. 1392 CIC/2021 konzipiert.51 Außerdem ist zu berücksichtigen, dass c. 1328 CIC/1983 = 2021 grundsätzlich auch eine Strafbarkeit des Versuchs statuiert.52 Dabei sieht c. 1328 § 1 CIC vor, dass unvollendete Delikte nur dann wie vollendete Delikte zu bestrafen sind, wenn dies ausdrücklich so angeordnet ist. Bleibt jedoch beim Versuch das strafrechtlich geschützte Rechtsgut zwar unverletzt, ist aber anderweitig Ärgernis, schwerer Schaden oder Gefahr (!) entstanden, dann steht es gemäß c. 1328 § 2 S. 2 CIC im Ermessen des Richters, ob er den Versuchstäter mit einer gerechten Strafe belegt; eine solche Bestrafung wäre sogar im Falle eines freiwilligen Rücktritts von der weiteren Tatvollendung statthaft. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Frage stellen, ob Grooming (mit kinderpornografischen Hintergedanken) bei entsprechend weiter Auslegung der einschlägigen Bestimmungen in c. 1395 § 2 CIC/1983 bzw. Art. 6 § 1 Nr. 1 Normae de gravioribus delictis bereits vor der Strafrechtsreform von 2021 strafbar war bzw. im geltenden Recht auch dann strafbar wäre, wenn in c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 die Worte „sibi devincit aut“ fehlten. Hier wird eine Interpretation des Verhältnisses der beiden Paragraphen des c. 1328 CIC bedeutsam, die Klaus Lüdicke im Anschluss an Francesco Coccopalmerio vorgeschlagen hat: Demnach würde sich c. 1328 § 1 CIC mit bloß intentional, also gemäß dem subjektiven Gesamtplan des Täters, begonnenen 48 Vgl. Wilhelm Rees, Die Strafgewalt der Kirche. Das geltende kirchliche Strafrecht – dargestellt auf der Grundlage seiner Entwicklungsgeschichte (= KStT 41), Berlin 1993, S. 462 f.; Klaus Lüdicke, can. 1387, Rdnrn. 2 – 3, in: MK CIC (Stand November 2001); Graulich/Hallermann, Strafrecht (Anm. 3), S. 200; Pighin, Sistema (Anm. 47), S. 408. 49 Zu Begriff und Konzept der überschießenden Innentendenz (im deutschen Strafrecht) vgl. Roxin, Strafrecht (Anm. 34), S. 318 (§ 10 Rz. 84); Kindhäuser/Zimmermann, Strafrecht (Anm. 34), S. 134 (§ 13 Rz. 14); Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht (Anm. 34), S. 61 (Rz. 203) u. 100 (Rz. 321). 50 Vgl. Klaus Lüdicke, can. 1367, Rdnrn. 2 u. 5, in: MK CIC (Stand November 2001); Pighin, Sistema (Anm. 47), S. 397. 51 Denn es kommt nicht darauf an, ob der bestochene Amtsträger gemäß dem Willen des Bestechenden handelt oder die konsekrierten eucharistischen Gestalten für sakrilegisches Tun benutzt werden. Kommt es zu einer Bestrafung nach c. 1392, ist evident, dass die Absicht, sich der kirchlichen Autorität zu entziehen, nicht oder jedenfalls nicht dauerhaft verwirklicht werden konnte. 52 Vgl. im Einzelnen Klaus Lüdicke, can. 1328, in: MK CIC (Stand November 1992); ferner Rees, Strafgewalt (Anm. 48), S. 384; Graulich/Hallermann, Strafrecht (Anm. 3), S. 130 f.

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Angriffen befassen, die objektiv noch kein Ärgernis erregen, keinen Schaden anrichten und keine konkrete Gefahrenlage schaffen; während in Fällen des c. 1328 § 2 CIC der Versuch weiter vorangeschritten ist und der innere Zusammenhang zwischen dem Handeln des Täters und dem dadurch bereits gefährdeten Rechtsgut auch für den objektiven Betrachter erkennbar und nachvollziehbar wird.53 Nach meinem Verständnis hieße das mit anderen Worten, dass c. 1328 § 1 CIC auch auf mittelbare Vorbereitungshandlungen („aliquid“) anwendbar ist, während c. 1328 § 2 CIC das unmittelbare Ansetzen zur Straftatbegehung, das „natura sua“ zur Tatvollendung führt, in den Blick nimmt. Auf die kanonische Strafbarkeit von Grooming (etwa nach c. 1395 § 2 CIC/1983 i. V. m. c. 1328 CIC/1983) angewandt würde dies bedeuten, dass das Handeln des Täters dann – und zwar erst dann und auch nur fakultativ – bestraft werden könnte, wenn die sexuellen Hintergedanken, die das Grooming-Verhalten des Täters motivieren, zutage treten.54 Als Zwischenergebnis lässt sich so zum einen festhalten, dass die hier diskutierte strafrechtliche Regelung als eine organische Weiterentwicklung der bisherigen Rechtslage interpretiert werden kann, wobei es der Gesetzgeber als notwendig angesehen hat, von der seit jeher in c. 1328 § 1 CIC vorgesehenen Möglichkeit, per Gesetz oder Strafgebot eigenständige Versuchsstrafbarkeiten zu begründen, Gebrauch zu machen. Seit jeher genügt es dabei gemäß c. 1328 § 2 CIC für eine Bestrafung, dass eine bloße Gefahr für das geschützte, noch unverletzte Rechtsgut eingetreten ist. Es reicht dann aus, dass objektiv erkennbar ist, dass die Vorbereitungshandlung in Beziehung zu einem geschützten Rechtsgut steht und letzteres durch erstere gefährdet ist. Der Vorwurf eines bloßen Gesinnungsstrafrechts bei der hier diskutierten Norm des c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 wäre von daher gänzlich verfehlt. 3. Kanonische Strafzwecklehre und Normzweck? Wie fügt sich nach alldem eine Grooming-Strafbarkeit nach kanonischem Recht in die Strafzwecklehre des Kodex ein?55 Gemäß c. 1311 § 2 CIC/2021 am Ende, sekundiert von c. 1341 CIC/1983 = 2021 und c. 1343 CIC/2021, bezweckt das kanonische Strafrecht die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, die Besserung des Täters und die Beseitigung des Ärgernisses. Dabei wird mit der Besserung des Täters die 53

Vgl. Klaus Lüdicke, can. 1328, Rdnr. 8, in: MK CIC (Stand November 1992). Beispielsweise, wenn nach Cybergrooming ein Treffen in der realen Welt vorgeschlagen wird oder die Beziehung zwischen Täter und potenziellem Opfer eine sexuelle Färbung bekommt. Denn damit realisieren sich Ärgernis und Gefahr im Sinne des c. 1328 § 2 CIC. Vgl. dazu auch Pighin, Sistema (Anm. 47), S. 515, dem zufolge eine fehlgeschlagene Anwerbung (nur) dann zu bestrafen ist, „purché sia chiara la natura indecente della proposta a lui formulata“. 55 Vgl. hierzu Heribert Hallermann, Kontinuität und Reform. Ein erster Blick in den textus recognitus des Liber VI, in: Graulich/Hallermann, Strafrecht (Anm. 3), S. 19 – 51, hier S. 37 – 39; John Poland, The Aspects and Aims of Penal Law in the Revised Book VI, in: Canon Law Society newsletter 200 (2021), S. 64 – 80, hier S. 65 – 72. 54

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klassische Straftheorie der Spezialprävention angesprochen.56 Die Sprechweise von einer Wiederherstellung der Gerechtigkeit impliziert, dass es zu einer Rechtsgutverletzung gekommen und eine als gerecht empfundene Ordnung gestört wurde. Die Beseitigung des Ärgernisses scheint eine Situation vor Augen zu haben, in der das normwidrige Verhalten nicht nur dem unmittelbaren Opfer zum Schaden gereicht, sondern auch von Dritten wahrgenommen wird. Es hat sich in den bisherigen Ausführungen bereits angedeutet, dass es bei Grooming problematisch ist, Gerechtigkeit mit den Mitteln des Strafrechts wiederherzustellen, wenn und weil es noch gar nicht zur hauptsächlichen Straftat (hier: Kinderpornographie) gekommen und das geschützte Rechtsgut (hier: ungestörte sexuelle Entwicklung von Minderjährigen) noch unverletzt ist. Allerdings ist ohne weiteres denkbar, dass zumindest im Einzelfall die Grooming-Aktivitäten bereits Ärgernis erregt haben.57 Vorrangig scheint der Grooming-Tatbestand des c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 jedoch über die in c. 1311 § 2 CIC/2021 genannten Strafzwecke hinausweisend einen generalpräventiven Charakter zu besitzen und richtet sich also an die Allgemeinheit, die zum einen durch die Strafandrohung von der Begehung zukünftiger Taten abgehalten werden soll (negative Generalprävention).58 Zugleich kommt dem Straftatbestand die Aufgabe zu, (indirekt) ein Leitbild idealen Verhaltens zu formulieren und Grenzen aufzuzeigen, deren Überschreitung strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht. Das Strafrecht hat mit anderen Worten im Bereich der Prävention künftigen sexuellen Missbrauchs nicht zuletzt die Aufgabe, konsequent klare Signale zu setzen und so zur Bewusstseinsbildung der Allgemeinheit sowie zur

56 Vgl. grundlegend Roxin, Strafrecht (Anm. 34), S. 73 – 78 (§ 3 Rz. 11 – 20); Kindhäuser/ Zimmermann, Strafrecht (Anm. 34), S. 41 (§ 2 Rz. 12); Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht (Anm. 34), S. 7 f. (Rz. 23 f. u. 26); vertiefend zur Konvergenz verschiedener Theorien Claus Roxin, Prävention, Tadel und Verantwortung. Zur neuesten Strafzweckdiskussion, in: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 162 (2015), S. 185 – 202; mit Plädoyer für die Einbeziehung neuer Aspekte in komplexe Modelle Tatjana Hörnle, Gegenwärtige Strafbegründungstheorien: Die herkömmliche deutsche Diskussion, in: Andreas von Hirsch/Ulfrid Neumann/Kurt Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum? Gegenwärtige Strafbegründungen im Lichte von Hegels Straftheorie (= Studien zur Strafrechtstheorie und Strafrechtsethik 2), Baden-Baden 2011, S. 11 – 30. Im kanonischen Strafrecht gelten die Beuge- oder Medizinalstrafen als das vortreffliche Instrument zur Besserung des Täters, vgl. dazu Wilhelm Rees, Art. Beugestrafe – Katholisch, in: LKRR I, S. 389 f., hier S. 389; Anna Krähe, Art. Sühnestrafe – Katholisch, in: LKRR IV, S. 326 – 329, hier S. 327; kritisch dagegen Klaus Lüdicke, can. 1312, Rdnr. 12 f., in: MK CIC (Stand Juli 1992). 57 Zu denken ist etwa an Cybergrooming mit sexualbezogenen Chatinhalten, die von Dritten eingesehen werden. 58 Vgl. einführend zur Straftheorie der Generalprävention Roxin, Strafrecht (Anm. 34), S. 78 – 88 (§ 3 Rz. 21 – 43); Kindhäuser/Zimmermann, Strafrecht (Anm. 34), S. 41 – 43 (Rz. 13 – 18); Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht (Anm. 34), S. 7 f. (Rz. 23 u. 26); vertiefend Roxin, Strafzweckdiskussion (Anm. 56); ferner Rees, Strafgewalt (Anm. 48), S. 62 – 64.

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Schärfung des Gewissens insbesondere bei potenziellen Tätern beizutragen (positive Generalprävention).59 Vor diesem Hintergrund ist die beispielsweise von Judith Hahn geäußerte Kritik berechtigt, wonach es unverständlich sei, dass Grooming vom kirchlichen Gesetzgeber nicht generell als Vorfelddelikt des sexuellen Missbrauchs unter Strafe gestellt wurde, sondern lediglich speziell bei damit intendierter Kinderpornografie.60 Vielleicht hängt die hier getroffene gesetzgeberische Entscheidung damit zusammen, dass hinsichtlich Letzterem ein gesteigertes Bedürfnis zu bejahen ist, Strafbarkeiten vorzuverlagern. Denn im Fall von Kinderpornografie ist der Schritt von der Vorbereitung zur Tatvollendung besonders klein, wenn man die heutigen technischen Möglichkeiten bedenkt (Stichwort: Sexting61), die eine Tatbestandsverwirklichung ohne persönlichen Kontakt zwischen Täter und Opfer in der realen Welt gestatten.62 4. Praktische Anwendbarkeit? Es war bereits davon die Rede, dass es sich bei c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 um eine Strafnorm mit überschießender Innentendenz handelt, durch die im Ansatz auch scheinbar harmloses, augenscheinlich sozial adäquates Handeln mit Rücksicht auf die weitergehenden Absichten des Täters strafbar wird. Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass Cybergrooming ein wichtiger Ansatzpunkt für die Kriminalpolizei ist, wenn es darum geht, pädosexuelle Kriminalität aufzudecken und zu vereiteln. Dies mag zu der Frage führen, ob unsere Strafnorm jenseits der eben genannten generalpräventiven Zwecke einer Klärung der Rechtslage und einer Bildung von Unrechtsbewusstsein überhaupt praktisch anwendbar ist, oder ob es sich bei kritischer Betrachtung um eine reine Symbolpolitik63 des Gesetzgebers handelt? Denn zum einen ist zu bedenken, dass sich – jedenfalls so lange wie seine Grooming-Aktivitäten keinen erkennbaren sexuellen Bezug haben – ein mutmaßlicher Täter wohl mit nicht geringer Erfolgsaussicht auf die Unschuldsvermutung wird berufen können. Zum anderen ist es faktisch so, dass die Kirche nicht ansatzweise über die technischen und

59 Ausführlich (und mit Blick auf die damit verfolgten, jenseits des Strafrechts liegenden Ziele eher ablehnend) zur positiven Generalprävention Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung (Anm. 23), S. 73 – 93. 60 Vgl. Hahn, Sex Offenses (Anm. 13), S. 3, im Anschluss an Flynn, New Penal Canon Law (Anm. 46). 61 Vgl. dazu statt anderer Verena Vogelsang, Sexuelle Viktimisierung, Pornografie und Sexting im Jugendalter. Ausdifferenzierung einer sexualbezogenen Medienkompetenz, Wiesbaden 2017, S. 35 – 37, 110 – 127 u. passim. 62 So ist es beispielsweise einer minderjährigen Person leicht möglich, mittels Smartphone sich selbst bei der Vornahme sexueller Handlungen zu filmen und dieses Video dann der vermeintlich vertrauenswürdigen Bezugsperson zukommen zu lassen. 63 Vgl. dazu die Problemanzeige von Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung (Anm. 23); ebenso Alexiou, Cyber-Grooming (Anm. 19), S. 310 – 317.

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personellen Ressourcen verfügt, die dem Staat in Sachen (Cyber-)Grooming zur Kriminalitätsbekämpfung und Aufklärung von Straftaten zu Gebote stehen. Steht c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 also auf geduldigem Papier und ist gleichsam ein zahnloser Tiger? Dies zu glauben, wäre ein schwerer Irrtum. Denn es entspricht gängiger Praxis, dass die Kirche in kanonischen Strafverfahren eine vorherige strafrechtliche Ahndung einschlägiger Straftaten des weltlichen Strafrechts durch den Staat aufgreift und ergänzend auch Strafen des kanonischen Rechts gegen den Täter verhängt.64 Damit versetzt c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/2021 die Kirche in die Lage, weltliche Bestrafungen von Grooming im eigenen Rechtskreis nachzuvollziehen und der staatlichen Verurteilung auch innerkirchliche strafrechtliche Konsequenzen folgen zu lassen.65 In dieser Perspektive wäre es umgekehrt für das Image der Kirche fatal, wenn sie sich gänzlich von den im weltlichen Strafrecht zum Teil international geltenden Standards66 aus den Diskursen um strafwürdiges Verhalten auf dem Gebiet des sexuellen Missbrauchs und der sexualisierten Gewalt zum Nachteil minderjähriger und schutzbedürftiger Personen abkoppeln würde. 64 Infolge des Öffentlichkeitsgrundsatzes der weltlichen Strafjustiz ist es praktisch unvermeidlich, dass die kirchlichen Autoritäten von Strafverfahren gegen Kleriker Kenntnis erlangen. In der Bundesrepublik Deutschland wird zudem gemäß der Verwaltungsvorschrift über Mitteilungen in Strafsachen (veröffentlicht in: Bundesanzeiger. Amtlicher Teil, vom 20. 07. 2022), dort Nr. 22, die jeweilige „Oberbehörde“ benachrichtigt, wenn gegen einen Geistlichen bzw. Kirchenbeamten, der einer als Körperschaft des öffentlichen Rechts verfassten Kirche oder Religionsgemeinschaft angehört, ein Haftbefehl erlassen oder öffentliche Strafklage erhoben oder ein Urteil gesprochen bzw. nach Haftbefehl oder Strafklage das Verfahren auf andere Weise als durch Urteil beendet worden ist. 65 Ungeachtet einer grundsätzlichen Autonomie der Kirche in der Gestaltung ihres Strafrechts ist dies im Übrigen auch ein Argument dafür, eine gewisse Parallelität zwischen innerkirchlicher und staatlicher Grooming-Strafbarkeit zu gewährleisten und dazu die Engführung auf Grooming allein für kinderpornografische Zwecke aufzugeben, vgl. dazu auch oben bei Anm. 60. Die Frage nach einem etwaigen Strafklageverbrauch bzw. einer Verletzung des Rechtsprinzips „ne bis in idem“ durch eine doppelte Bestrafung für ein und denselben Lebenssachverhalt nach kirchlichem und staatlichem Recht kann hier nicht vertieft werden. Heribert Hallermann, Ne bis in idem. Kanonistische Überlegungen zu einem alten Rechtssprichwort angesichts problematischer Aspekte der Anwendung des kirchlichen Sanktionsrechts, in: Christoph Ohly/Wilhelm Rees/Libero Gerosa (Hrsg.), Theologia Iuris Canonici. Festschrift für Ludger Müller zur Vollendung des 65. Lebensjahres (= KStT 67), Berlin 2017, S. 533 – 559, hat hierzu die Auffassung vertreten, dass angesichts unterschiedlicher Tatbestände, Rechtsgüter und Strafzwecke im weltlichen Recht einerseits und im kirchlichen Recht andererseits eine Verletzung des „ne bis in idem“-Grundsatzes ausgeschlossen werden könne. Abgesehen davon, dass dieses Argument mit zunehmender Angleichung beider Rechtsordnungen (insbesondere im Sexualstrafrecht) brüchig wird, wäre zu hinterfragen, ob es zentral ist. Nach meinem einstweiligen Dafürhalten gilt der Grundsatz „ne bis in idem“ jeweils nur innerhalb einer gegebenen Rechtsordnung, so dass bei einem Straftäter, der mehreren Rechtsordnungen unterworfen ist, ein Strafklageverbrauch innerhalb der einen Rechtsordnung nicht zu einer strafrechtlichen Immunität in der anderen führt. 66 Vgl. dazu oben S. 335 die Hinweise zur Lanzarote-Konvention sowie zur Richtlinie 2011/93/EU.

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5. Auswirkungen auf die Missbrauchsprävention? Nachdem der kanonische Grooming-Tatbestand gemäß c. 1398 § 1 Nr. 2 CIC/ 2021 die selbständige Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen begründet, liegt es auf der Hand, dass in diesem Bereich eine enge Verzahnung von Prävention und Strafverfolgung wichtig ist. Im Sinne einer konsistenten Rechtsordnung muss jedenfalls sichergestellt sein, dass nicht in partikularrechtlichen Präventionsordnungen ein Verhalten als nicht strafbar hingestellt wird, das tatsächlich seit der Strafrechtsreform von 2021 strafbar ist. Insoweit ist festzustellen, dass die von den Bischofskonferenzen Deutschlands und Österreichs erarbeiteten (Muster-)Präventionsordnungen keinen Grund zu Sorge bieten. In der „Rahmenordnung Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen und schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen“67, die am 18. November 2019 vom Ständigen Rat der Deutschen Bischofskonferenz beschlossen wurde und die Grundlage partikularrechtlicher Präventionsordnungen in den deutschen Bistümern darstellt, wird zunächst erläutert, dass der Begriff der sexualisierten Gewalt neben Sexualstraftaten auch sexualbezogene Übergriffe und sonstige sexuelle Übergriffe umfasst; sodann heißt wörtlich: „Dies umfasst auch alle Handlungen zur Vorbereitung, Durchführung und Geheimhaltung sexualisierter Gewalt“68. Die Österreichische Bischofskonferenz hat 2021 ihre Rahmenordnung „Maßnahmen, Regelungen und Orientierungshilfen gegen Missbrauch und Gewalt“ überarbeitet und in dritter Auflage zum 1. September 2021 in Kraft gesetzt. Dort wird Grooming ausdrücklich thematisiert und auf die Strafbarkeit dieses Verhaltens nach weltlichem österreichischen Strafrecht hingewiesen.69 VII. Zusammenfassung Mit der Tatbestandsalternative des „sibi devincere“ hat der gesamtkirchliche Gesetzgeber bei der Reform des kanonischen Strafrechts im Jahr 2021 das sogenannte Grooming, sofern es gemäß dem Gesamtplan des Täters der Vorbereitung von Kinderpornografie dient, unter Strafe gestellt und damit erstmals eine eigenständige Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen im Vorfeld der eigentlichen Rechtsgutverletzung eingeführt. Damit nähert sich das kanonische Strafrecht internationalen strafrechtlichen Standards an, gemäß denen Grooming bereits seit Längerem strafbar ist. Die neue kirchenrechtliche Strafnorm wurde durch das Motu Proprio Vos estis lux mundi aus dem Jahr 2019 inhaltlich vorbereitet und erweist sich in rechtsdogmatischer Betrachtung als anschlussfähig an die bisherige Struktur und Konzeption des kirchlichen Strafrechts, namentlich in Sachen Versuchsstrafbarkeit. Der prakti67

Beispielsweise in: Amtsblatt Limburg (2020), S. 169 – 174. Amtsblatt Limburg (2020), S. 170 (Ziff. 1.3 am Ende). 69 Vgl. Österreichische Bischofskonferenz (Hrsg.), Die Wahrheit wird euch frei machen (Joh 8,32). Rahmenordnung für die katholische Kirche in Österreich – Maßnahmen, Regelungen und Orientierungshilfen gegen Missbrauch und Gewalt, Wien 32021, S. 14. 68

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sche Nutzen der Norm besteht zum einen darin, generalpräventiv aufzuzeigen, welches Verhalten so inakzeptabel ist, dass der Einsatz des kanonischen Strafrechts geboten ist. Zum anderen wird die Kirche dadurch in die Lage versetzt, bei straffälligen Klerikern, Ordensleuten und weiteren Gläubigen, die Würden, Ämter und Funktionen in der Kirche innehaben (vgl. c. 1398 § 2 CIC/2021), einschlägige Verurteilungen von staatlicher Seite auch im binnenkirchlichen Raum mit spezifisch kirchlichen Sanktionen nachzuvollziehen.

Das Seepferdchen im kirchlichen Ehenichtigkeitsprozess Karl-Heinz Selge Der mit dieser Festschrift geehrte Jubilar hat bereits im Jahr 2005 dankenswerterweise öffentlich darauf hingewiesen, dass sich die Theologie „den Herausforderungen der Natur- und Humanwissenschaften offensiv stellen und mit kreativen Antworten Position beziehen“1 muss. Insbesondere die in diesem Zusammenhang aufgegebene Auseinandersetzung mit „unserem bisher konsensfähigen Menschenbild freier Persönlichkeiten“2 kann von den Erkenntnissen der Hirnforschung nicht mehr absehen. So haben die Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Disziplin nicht nur „einen starken Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen“3, sondern auch Auswirkungen auf das kirchengerichtliche Arbeiten, das grundsätzlich offen „für die Rezeption humanwissenschaftlicher Erkenntnisse“4 zu sein hat, um den Menschen, die sich an die kirchlichen Gerichte wenden, gerecht zu werden. Hierbei handelt es sich um ein Tätigkeitsfeld, in das Severin Lederhilger langjährig als Offizial und bis heute als Vizeoffizial eingebunden ist5. Dieser Dienst hat ihn zu praxisnahen wissenschaftlichen Publikationen inspiriert, in denen er die psychologischen Bezüge kirchengerichtlichen Arbeitens in den Blick nimmt.6 1 Severin J. Lederhilger, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Seele, wo bist du? Hirnforschung und Menschenbild. 5. Ökumenische Sommerakademie Kremsmünster 2003 (= LPTB 10), Frankfurt/M. 2004, S. 7 – 12, hier S. 10. 2 Ebd. 3 Gerald Hüther, Die soziale Dimension der Hirnforschung, in: Lederhilger, Seele (Anm. 1), S. 130 – 142, hier S. 135. 4 Nikolaus Schöch, Die kirchenrechtliche Interpretation der Grundprinzipien der christlichen Anthropologie als Voraussetzung für die eheprozessrechtliche Beurteilung der psychischen Ehekonsensunfähigkeit. Eine kanonistische Studie unter besonderer Berücksichtigung der päpstlichen Allokutionen und der Judikatur der Römischen Rota (= AIC 15), Frankfurt/M. 1999, S. 41 – 44. 5 Severin Lederhilger ist seit 1990 Richter am Diözesangericht Linz, er war von 1991 bis 2013 Offizial des Diözesangerichtes Linz. Im Jahre 2014 erfolgte seine Ernennung zum Vizeoffizial des Diözesangerichtes Linz (Lebenslauf Univ.-Prof. Mag. theol. Dr. iur. Dr. iur. can. Severin Johann Lederhilger OPraem: https://ku-linz.at/theologie/institute/kirchenrecht/perso nen/?tx_persons_personlist%5Bperson%5D=29&tx_persons_personlist%5Baction%5D=show [Zugriff: 17. 11. 2022]. 6 Beispielhaft seien genannt: Severin J. Lederhilger, Nahrungsverweigerung als Aktionssprache. Mangelnde Ehefähigkeit bei Anorexie und Bulimie, in: Ulrich Kaiser/Ronny Raith/ Peter Stockmann (Hrsg.), Salus animarum suprema lex. Festschrift für Offizial Max Hopfner zum 70. Geburtstag (= AIC 38), Frankfurt/M. 2006, S. 267 – 289; ders., Die unauffällige Eheunfähigkeit. Nichtigkeit der Ehe auf Grund einer passiv-aggressiven Persönlichkeitsstö-

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Doch was hat all dies mit dem im Titel dieses Beitrags erwähnten „Seepferdchen“ zu tun? Möglicherweise wird man mit diesem Begriff das gleichnamige Frühschwimmerabzeichen7 assoziieren. Die meisten werden an den allseits bekannten Meeresbewohner denken. Damit nähern wir uns dem an, worum es bei den nachfolgenden Überlegungen gehen soll. So inspirierte die grobe Ähnlichkeit eines bestimmten Gehirnareals mit dem Aussehen eines Seepferdchens (lat. Hippocampus) die Benennung dieser Struktur nach diesem Meerestier (Gattung Hippocampus). Der Hippocampus ist Teil des limbischen Systems. Er spielt u. a. beim Erwerb von Erinnerungen eine wichtige Rolle8. Aktuelle Forschungen haben detaillierte Erkenntnisse hinsichtlich der Funktionsweise des Hippocampus zu Tage gefördert. Diese erweisen sich u. a. bei der angemessenen Einordnung der Parteiaussagen in Ehenichtigkeitsverfahren als hilfreich. Eine solche Einordnung meint zweierlei: Zunächst geht es um die Verwertbarkeit von Aussagen in vorprozessualer Beratung und prozessualer Anhörung, also um einen Aspekt des Beweisrechts. Darüber hinaus ist der an das Gerichtspersonal gerichtete Anspruch in den Blick zu nehmen, so mit den ihm anvertrauten Menschen zu interagieren, dass sowohl eine fruchtbare und den betreffenden Personen gerecht werdende Beweisaufnahme ermöglicht als auch das salutogenetische Ziel des Ehenichtigkeitsverfahrens9 zumindest initiativ mitberücksichtigt wird. Dabei liegt der Fokus auf denjenigen Ehenichtigkeitsverfahren, deren Entscheidungen die Prozessfrage einer etwaigen psychisch bedingten Eheschließungs- oder Eheführungsunfähigkeit zu beantworten haben. I. Der Funktionsumfang des Hippocampus Der Hippocampus gehört zu den am besten untersuchten Strukturen im Gehirn.10 Er ist die für den Erwerb von Gedächtnisinhalten11 wesentlich zuständige Region des

rung, in: Stephan Haering/Johann Hirnsperger/Gerlinde Katzinger/Wilhelm Rees (Hrsg.), In mandatis meditari. Festschrift für Hans Paarhammer zum 65. Geburtstag (= KStT 58), Berlin 2012, S. 719 – 738. 7 Vgl. https://www.dlrg.de/informieren/ausbildung/schwimmabzeichen/ [Zugriff: 17. 11. 2022]. 8 Vgl. hierzu die Übersichtsarbeit von Szu-Han Wang/Richard G. M. Morris, Hippocampalneocortical interactions in memory formation, consolidation, and reconsolidation, in: Annual Review of Psychology 61 (2019), S. 49 – 79; Richard J. Gerrig, Psychologie, Hallbergmoos 21 2018, S. 294. 9 Vgl. Rudolf Sanders, Damit das Ehenichtigkeitsverfahren ein Ort der Heilung werden kann. Gedanken aus Sicht eines Eheberaters, in: DPM 24 (2017), S. 131 – 164, hier S. 146 – 163; Eckhard Schiffer, Wie Gesundheit entsteht. Salutogenese. Schatzsuche statt Fehlerfahndung, Weinheim/Basel 2001. 10 Vgl. James J. Knierim, The hippocampus, in: Current Biology 25 (2015), R1116-R1121. doi.org/10.1016/j.cub.2015.10.049 [Zugriff: 17. 11. 2022]. 11 Vgl. Michael Hüll/Hans Förstl, Organische (und symptomatische) psychische Störungen, in: Mathias Berger (Hrsg.) unter Mitarbeit von Heide Hecht, Psychische Erkrankungen.

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Gehirns.12 Er ist an der Bildung, Speicherung und Verarbeitung von persönlichen autobiographischen Erinnerungen13 maßgeblich beteiligt. Im Hippocampus wird das lebensgeschichtlich Erfahrene zeitlich eingeordnet14, d. h., in ihm wird die Reihenfolge von Ereignissen verarbeitet.15 Der Hippocampus ist „weitgehend verantwortlich für das deklarative Gedächtnis von Fakten, Daten und Namen“16. Dieses „deklarative Langzeitgedächtnis (synonym: explizites Gedächtnis) umfasst Inhalte, die uns bewusst zugänglich sind und beinhaltet sowohl allgemein-abstrakte als auch erlebte Fakten. Es geht hier um Wissen, das wir mitteilen können (sog. ,Wissen, dass‘)“17. Darüber hinaus fasst der Hippocampus komplexe Zusammenhänge, Relationen, Episoden18 und verschiedene Modalitäten zusammen. Der Hippocampus bietet also dem Gehirn einen raumzeitlichen Rahmen, in dem die verschiedenen sensorischen, emotionalen und kognitiven Komponenten einer Erfahrung miteinander verbunden sind. Dieser Rahmen ermöglicht es, die Erfahrung so zu speichern, dass sie später als bewusste Erinnerung abgerufen werden kann.19 Darüber hinaus wird ihm „eine zentrale Rolle bei der Gedächtniskonsolidierung zugesprochen“20. So hat sich die Erkenntnis Klinik und Therapie. In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Cochrane-Zentrum, München 4 2012, S. 225 – 289, hier S. 233. 12 Vgl. Gerrig, Psychologie (Anm. 8), 294. 13 Vgl. Michael Nehls, Alzheimer ist heilbar. Rechtzeitig zurück in ein gesundes Leben, München 32015, S. 27. 14 Vgl. Sarah Payton, Selbstresonanz. Im Einklang mit sich und seinem Leben. Erkenntnisse aus Neurobiologie, gewaltfreier Kommunikation und Traumaforschung, Paderborn 2019, S. 187 unter Verweis auf: Daniel M. Salz/Zoran Tiganj/Srijesa Khasnabish/Annalyse Kohley/Daniel Sheehan/Marc W. Howard/Howard Eichenbaum, Time cells in hippocampal area CA3, in: The Journal of Neuroscience 36 (2016), S. 7476 – 7484. https://doi.org/10.1523/ JNEUROSCI.0087-16.2016 [Zugriff: 17. 11. 2022]. 15 Vgl. Iva K. Brunec, Unified and Separable Hippocampal Representations of Time and Space, in: The Journal of Neuroscience 36 (2016), S. 12293 – 12295, hier S. 12294. https://doi. org/10.1523/JNEUROSCI.2860-16.2016 [Zugriff: 17. 11. 2022]. 16 Gerrig, Psychologie (Anm. 8), S. 293. 17 Franz J. Schermer/Arno Drinkmann, Grundlagen der Psychologie, Stuttgart 42018, S. 62 f. 18 Vgl. Laura L. Eldridge/Barbara J. Knowlton/Christopher S. Furmanski/Susan Y. Bookheimer/Stephen A. Engel, Remembering episodes: a selective role for the hippocampus during retrieval, in: Nature Neuroscience 3 (2000), S. 1149 – 1152. https://doi.org/10.1038/80671 [Zugriff: 17. 11. 2022]; Michael A. Yassa/Craig E. L. Stark, Pattern separation in the hippocampus, in: Trends in Neurosciences 34 (2011), S. 515 – 525. doi:10.1016/j.tins.2011.06.006. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3183227/ (Stand 17. 11. 2022). 19 Vgl. Knierim, The hippocampus (Anm. 10); Bertram Opitz, Memory function and the hippocampus, in: Frontiers of neurology and neuroscience 34 (2014), S. 51 – 59. https://doi. org/10.1159/000356422 [Zugriff: 17. 11. 2022]; Joel L. Voss/Donna J. Bridge/Neal J. Cohen/ John A. Walker, A Closer Look at the Hippocampus and Memory, in: Trends in cognitive sciences 21 (2017), S. 577 – 588, S. 577 f. doi: 10.1016/j.tics.2017.05.008 [Zugriff: 17. 11. 2022]. 20 Christian Becker-Carus, Hippocampus, in: Markus Antonius Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie, Bern 192020, S. 767.

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herausgebildet, „dass der Hippocampus eine Kernstruktur in der Erinnerungsbildung ist und die permanente Konsolidierung von Erinnerungen unterstützt“21. Diese Funktionsumschreibung wird durch eine Vielzahl klinischer Belege gestützt. Wegweisend in diesem Zusammenhang war die Studie mit dem Patienten Henry Gustav Molaison (1926 – 2008).22 Diesem wurden operativ beide Hippocampi vollumfänglich entfernt, wodurch er seine individuellen Erinnerungen verlor. Sämtliche frühere Episoden aus seinem Leben waren gelöscht. Daher werden die beiden Hippocampi als episodischer Gedächtnisspeicher bezeichnet. Dieser beinhaltet „Erinnerungen an persönliche Ereignisse“23, er spinnt durch langfristiges Speichern wichtiger Gedanken, Interaktionen und Ereignisse gleichsam einen roten Faden durch das menschliche Dasein und vermittelt dem Selbst das Gefühl von Kontinuität. Daher ist „ohne funktionierende Hippocampi […] kein Erinnern an persönliche Erfahrungen möglich“24. Alle anderen Erinnerungsformen, etwa erlerntes Faktenwissen oder motorische Fähigkeiten blieben beim Patienten intakt, ebenso das im Frontalhirn befindliche Arbeitsgedächtnis. Das Hippocampus-Netzwerk selbst ist allerdings nicht der Ort, an dem Erinnerungen abgespeichert werden. Wohl aber spielt es eine entscheidende Rolle bei der Reaktivierung von Erinnerungen. Der Hippocampus hat offensichtlich nur eine begrenzte Kapazität. Er erfasst Informationen schnell und automatisch, ohne sie lange zu speichern. Vielmehr werden mit der Zeit die ursprünglich verfügbaren Informationen nicht im Hippocampus selbst, sondern in anderen Gehirnstrukturen, genauer im Neocortex, dauerhaft gespeichert, da dieser, anders als der Hippocampus, eine enorme Speicherkapazität besitzt.25 „Das Einzige, was im Hippocampus zurückbleibt, sind die ,Postadressen‘, also die Information, mit deren Hilfe die Erinnerungen später wiederzufinden sind. Diese ,postalischen‘ Informationen sind die Ort- und Zeitkoordinaten der Erinnerung. […] Das Gedächtnis für Raum und Zeit bleibt nämlich lebenslang im Hippocampus, während die Erlebnisinhalte nur noch im Neocortex zu finden sind“26. Der entscheidende Mechanismus der Erinnerung ist die Reak21

Thomas Höhne, Untersuchung struktureller Veränderungen des Hippocampus über den Zeitraum von einem Jahr bei Patienten mit Depression im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen mittels struktureller MRT Bildgebung. Dissertation zum Erwerb des Doktorgrades der Medizin an der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität zu München, 2017, S. 22. 22 Vgl. hierzu u. a. den Bericht bei Gerrig, Psychologie (Anm. 8), S. 112 f., Höhne, Hippocampus (Anm. 21), S. 22; Michael Nehls, Das erschöpfte Gehirn. Der Ursprung unserer mentalen Energie – und warum sie schwindet, München 2022, S. 45 – 48. 23 Hans Markowitsch/Sabine Borsutzky, Gedächtnis und Hippocampus des Menschen, in: Neurologie & Rehabilitation 9 (2003), S. 1 – 14, hier S. 3. 24 Nehls, Gehirn (Anm. 22), S. 48. 25 Vgl. Luise Reddemann/Cornelia Dehner-Rau, Trauma heilen. Ein Übungsbuch für Körper und Seele, Stuttgart, 42013, S. 28. 26 Nehls, Gehirn (Anm. 22), S. 62. Die funktionelle Differenzierung des Hippocampus und seine Konnektivität mit dem Neokortex wird differenziert beschrieben von Melanie J. Sekeres/ Gordon Winocur/Morris Moscovitch, The hippocampus and related neocortical structures in

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tivierung, gleichsam die Wiedergabe dieser Übertragung. Der Hippocampus und die mit ihm verbundenen medialen temporalen Strukturen sind also entscheidend für die Erfassung eines Ereignisses als Ganzes, da sie Erinnerungsspuren organisiert verteilten. Der Hippocampus ist gleichsam eine „Bibliothek“, in der „Reize und Informationen vom Kurz- in den Langzeitspeicher sortiert und zeitlich und geografisch geordnet“27 werden. Auch kann er mit einem Betriebssystem verglichen werden, das Informationen speichern, organisieren, verarbeiten und wiederherstellen kann. Bei der Erinnerung handelt es sich also um eine vom Hippocampus gesteuerte Reaktivierung, um einen Abruf von zuvor durch ihn kortikal gespeicherten Informationen.28 Insofern ist Vergessen das „Misslingen des Abrufs von Inhalten aus dem (kortikalen) Speicher“29. Vom Hippocampus wird insofern die sog. explizite Erinnerung, d. h. die dem Menschen bewusste Erinnerung30, maßgeblich gesteuert. Ohne zuverlässiges Funktionieren des Hippocampus sind episodische Gedächtnisleistungen nicht möglich. „Diese Erinnerungen werden […] mit einem Zeitstempel versehen und geordnet, sodass Vergangenes eindeutig der Vergangenheit zugerechnet wird“31. Dabei ist er „in wichtige Bahnsysteme eingebunden“32. Ihm kommt eine „entscheidende Bedeutung bei der Langzeitspeicherung von Gedächtnisinhalten“33 zu. memory transformation, in: Neuroscience letters 680 (2018), S. 39 – 53. https://doi.org/10. 1016/j.neulet.2018.05.006 [Zugriff: 17. 11. 2022]. 27 Maraike Mayer, Traumasensibles Arbeiten mit Kindern. Ein Leitfaden für Fachkräfte der Kindertagesbetreuung und Frühen Bildung, Berlin 2021, S. 11. 28 Vgl. zu diesem Vorgang der Up- und Downloads hippocampaler Speicherinhalte: Marco Cascella/Yasir Al Khalili, Short Term Memory Impairment [Updated 2022 Jul 21], in: StatPearls [Internet]. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; 2022 Jan-. Online-Ressource: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK545136/ [Zugriff: 17. 11. 2022] unter Verweis auf die Studienergebnisse von Jahangir Alam/Takashi Kitamura/Yoshito Saitoh/Noriaki Ohkawa/Takashi Kondo/Kaoru Inokuchi, Adult Neurogenesis Conserves Hippocampal Memory Capacity, in: The Journal of Neuroscience 38 (2018), S. 6854 – 6863. Vgl. Becker-Carus, Hippocampus (Anm. 20), S. 767. 29 Hans Georg Ruhe, Praxishandbuch Biografiearbeit. Methoden, Themen und Felder, Weinheim/Basel 2014, S. 16. 30 Hiervon ist die implizite, d. h. die dem Menschen unbewusste Erinnerung, zu unterscheiden. Für diese Form der Erinnerung ist die Amygdala zuständig. Diese filtert alles, „was einströmt. Die Amygdala sortiert automatisch unsere aktuellen Erfahrungen, um Ähnlichkeiten mit schwierigen oder gefährlichen Situationen aus der Vergangenheit zu erkennen und die Alarmglocken zu läuten, wenn sie Übereinstimmungen findet“ (Payton, Selbstresonanz [Anm. 14], S. 313). Diese Hirnstruktur steuert nicht bewusst, nonverbal, implizit, prozedural die Welt der Subjekte und Affekte. Vgl. hierzu Rudolf Sanders, Explizites Bewusstsein. Wie viel Fühlen, Denken, Wollen und Handeln wird durch das explizite Bewusstsein gesteuert?, in: DPM 25/26 (2018/19), S. 229 – 252, hier S. 246; ders., Die Partnerschule. Paartherapie im Integrativen Verfahren, Paderborn 2022, S. 46 f. 31 Payton, Selbstresonanz (Anm. 14), S. 297. 32 Anne Kristin Klein, Hippocampus und Gedächtniskonsolidierung: Eine Untersuchung der unmittelbaren Effekte von Hippocampusresektionen auf retrograde Gedächtnisleistungen.

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II. Folgen einer eingeschränkten Leistungsfähigkeit des Hippocampus Eine aktuelle Meldung im Focus online legt die Vermutung nahe, dass es bis heute eine beträchtliche Zahl an Menschen gibt, die sich ernsthaft die Frage stellen, ob es einem Säugling schaden könnte, wenn er sich in den Schlaf weinen muss.34 Über dieses Thema informiert Sachbuchautorin Nicola Schmidt35, indem sie zunächst die physiologischen Vorgänge erklärt, wenn sich ein Baby in den Schlaf schreit. Danach beginnt das Herz des Babys, auf dessen Schreien niemand reagiert und wenn es keinen Körperkontakt bekommt, schneller zu schlagen, bei langem Schreien bis hin zur Tachykardie. Auf hormoneller Ebene steigt beim weinenden Säugling der Cortisolspiegel in dessen Speichel an. Stresshormone in großen Mengen und über lange Zeiträume sind allerdings nur für Gefahrensituationen, ja für „absolute Ausnahmezustände gedacht, in denen es ums reine Überleben geht. […] Diese Hormone pumpen maximal viel Zucker in den Blutkreislauf, damit die Muskeln des Babys alles tun, was nur irgendwie das Überleben sichern könnte: weinen, schreien, strampeln, um nur ja wahrgenommen, beschützt und versorgt zu werden. Denn allein zurückgelassen zu werden, war zu der Zeit, als die Evolution unser Nervensystem prägte, für ein Baby absolut tödlich“36. Nach einiger Zeit weinen die Säuglinge nicht mehr, da sie gelernt haben, dass dies keine Wirkung zeigt. Allerdings leiden sie weiterhin unter massivem Stress, der mit einer beständigen Cortisolausschüttung und dessen negativen Effekten einhergeht, denn sie besitzen noch nicht die Fähigkeit zur Selbstberuhigung.37 Dies führt häufig dazu, dass die Mutter bzw. der Vater irrigerweise meinen, das Kind wäre beruhigt. So lassen sie es nun weiterhin alleine, zumal das Schreien des Säuglings bei den Eltern das einst selbst erlebte Trauma triggert. So werden Eltern u. U. durch das Weinen des Kindes an das eigene Weinen und damit an den eigenen Schmerz erinnert, wodurch ein dissoziatives, oder auch traumaspezifisches, das Kind ängstigendes Elternverhalten ausgelöst werden kann.38

Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Hohen Medizinischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 2008, S. 11. 33 Ebd., S. 12. 34 Vgl. FOCUS online: Cortisolspiegel und Herzfrequenz. Schreien lassen? Was im Körper eines Babys passiert, das sich in den Schlaf weint (Fundort: https://www.focus.de/familie/corti solspiegel-und-herzfrequenz-schreien-lassen-was-im-koerper-eines-babys-passiert-das-sich-inden-schlaf-weint_id_167403925.html [Zugriff: 17. 11. 2022]. 35 Vgl. Nicola Schmidt, Artgerecht durch den Familienalltag. … weil das echte Leben auch echte Lösungen braucht! Antworten auf die häufigsten Elternfragen, München 2022. 36 Cortisolspiegel und Herzfrequenz (Anm. 34). 37 Vgl. Maria Hein, Eine sichere Bindung als Grundlage einer kindgerechten Entwicklung. Bachelorthesis zur Erlangung des akademischen Grades Bachelor of Arts (B. A.). Hochschule Neubrandenburg. University of Applied Sciences. Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung Studiengang Soziale Arbeit, 2018, S. 15. 38 Vgl. Karl Heinz Brisch, Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie, Stuttgart 112015, S. 95. Vgl. ders., Die Bedeutung von Bindung in Sozialer Arbeit, Pädagogik und Beratung, in: Alexander Trost (Hrsg.), Bindungsorientierung in der Sozialen Arbeit:

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Bei einem solchen, meist implizit und damit nicht bewusst oder auch oft guten Glaubens ablaufenden elterlichen Verhalten handelt es sich um nicht weniger als um eine Form psychischer Gewalt. Um psychische oder emotionale Gewalt zu beschreiben, findet häufig auch der Begriff „emotionaler Missbrauch“ Verwendung, der von seinem Bedeutungsspektrum sowohl den emotionalen Missbrauch selbst als auch die emotionale Vernachlässigung umfasst.39 Die in der Kindheit40 erfahrene psychische Gewalt41 hat Einfluss auf die Gehirnentwicklung. Stressreaktionen, die sich dauerhaft neuronal manifestieren können und zu Veränderungen im Gehirn und damit auch im Verhalten führen, sind eine mögliche neurobiologische Folge von psychischer Gewalt. Dabei sind die Reaktionsabläufe emotionaler Schmerzen, wie etwa sozialer Isolation, fast identisch mit denjenigen bei der Verarbeitung körperlicher Schmerzen im Gehirn, d. h. körperliche und psychische Schmerzen sind oft untrennbar miteinander verknüpft.42 Aus der Sicht der Neurobiologie gibt es keinen qualitativen Unterschied zwischen körperlichem und psychischem Schmerz. So wird emotionale Gewalt, z. B. in belasteten, oft mit Ablehnung, emotionaler Vernachlässigung, Zurückweisung, Kränkung, emotionaler Kälte, Desinteresse, Ausgrenzung, Grundlagen – Forschungsergebnisse – Anwendungsbereiche, Dortmund 2014, S. 15 – 36, hier S. 29 f. 39 Vgl. Shelley A. Riggs, Der Zyklus des emotionalen Missbrauchs im Bindungsnetzwerk, in: Karl Heinz Brisch (Hrsg.), Bindung und emotionale Gewalt, Stuttgart 2017, S. 59 – 97, hier S. 61: „Anstelle des Begriffs ,emotionaler Missbrauch‘ tauchen von jeher auch Begriffe wie ,emotionale Gewalt‘, ,psychischer Missbrauch‘, ,psychische Gewalt‘, ,seelische Misshandlung‘ und manchmal auch ,verbaler Missbrauch‘ oder ,verbale Aggression‘ auf. Manche Autoren unterscheiden zwischen den englischsprachigen Begriffen ,emotional abuse‘ (= emotionaler Missbrauch) und ,emotional neglect‘ (= emotionale Vernachlässigung) […]; andere fassen diese Begriffe in einem einzigen Konstrukt zusammen […]; wieder andere klassifizieren die beiden Erscheinungsformen von Misshandlung als zwei Unterarten des ,psychological abuse‘, also des ,psychischen Missbrauchs‘ […]. Ich werde mich hier an diese letztgenannte Auffassung halten, also den ,psychischen Missbrauch‘ als übergreifendes Konstrukt dann verwenden, wenn beide Unterarten – der emotionale Missbrauch und die emotionale Vernachlässigung – gemeint sind“. 40 Kinder sind weltweit gesehen diejenige Gruppe, die am stärksten unter Gewalt leidet. Vgl. Günther Gugel, Gewalt und Gewaltprävention. Grundfragen, Grundlagen, Ansätze und Handlungsfelder von Gewaltprävention und ihre Bedeutung für Entwicklungszusammenarbeit. Unter Mitarbeit von Ana Mijic, Tübingen 2006, S. 56 f. 41 „Diese traumatisierenden Beziehungsmuster, denen das Kind über viele Jahre ausgesetzt ist, sind am Verhalten der Eltern festzumachen. Kindliche Belange werden entweder übersehen, ignoriert, absichtlich unbeantwortet oder gewaltvoll ausgetrieben“ (Katharina Klees, Traumasensible Paartherapie: Mit dem Traum(a)-Haus-Konzept aus der Beziehungskrise, Paderborn 2018, S. 36). 42 Die enge Verknüpfung von emotionaler und körperlicher Gewalt im Gehirn wurde von der Sozialpsychologin Naomi Eisenberger entdeckt. So deuten Einsenbergers Studienergebnisse darauf hin, dass soziale Schmerzerfahrungen – die schmerzhaften Gefühle, die mit sozialer Isolation verbunden sind – auf einigen der gleichen neurobiologischen Substrate beruhen, die auch körperlichen Schmerzerfahrungen zugrunde liegen. S. Naomi I. Eisenberger, The pain of social disconnection: examining the shared neural underpinnings of physical and social pain, in: Nature Reviews Neuroscience 13 (2012), S. 421 – 434. https://doi.org/10.1038/ nrn3231 [Zugriff: 17. 11. 2022].

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sinnlosen Verboten, Liebesentzug, Ablehnung, beharrlichem Schweigen oder Demütigungen einhergehenden Eltern-Kind-Beziehungen43, ähnlich schmerzhaft erlebt wie persönlich erlittene physische Gewalt oder sexueller Missbrauch44 und hat häufig genauso „langfristig gravierende Auswirkungen auf den psychischen, körperlichen und den sozialen Bereich“45. Solche Konsequenzen sind zwar zunächst kaum erkennbar, aber dennoch nicht weniger ernst zu nehmen, denn jede erlittene Gewalt, etwa Vernachlässigung etc., generiert reale Verletzungen, die im Gehirngewebe nachweisbar sind. Besonders schlimm sind diese Erfahrungen im Kindesalter. Anhaltende frühe Stresserfahrungen übersteigen das, was ein Kind ertragen kann.46 So hinterlässt besonders in der frühen Kindheit erlittene emotionale Gewalt lebenslange tiefe Spuren in der körperlichen, psychischen und sozialen Entwicklung von Menschen bis hin ins Erwachsenenalter und führt bei den Betroffenen zu einem Leben in Alarmbereitschaft. In der Kindheit erlittener emotionaler Missbrauch führt zu Bindungsunsicherheit.47 Denn wenn ein Kind mit allem, was es macht, abgewertet oder emotional vernachlässigt wird, keine Anerkennung erfährt bzw. keine liebevolle, zugewandte Beziehung erlebt, dann wird es in hohem Maße irritiert. Es kann nicht verstehen, was mit ihm geschieht, sein Wille wird gebrochen und es weiß nicht, wie es sich in der Welt verorten soll. Damit geht das Vertrauen in die eigenen Gefühle verloren, was

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Vgl. Klees, Paartherapie (Anm. 41), S. 110 – 119. Vgl. Karl Heinz Brisch, Die Bedeutung und Möglichkeiten der Prävention „SAFE® – Sichere Ausbildung für Eltern“ und „B.A.S.E.® – Babywatching“, in: Ders., Bindung und emotionale Gewalt (Anm. 39), S. 16 – 19, hier S. 16: „Wenn Eltern oder auch andere Bindungspersonen, wie etwa Lehrerinnen und Lehrer, Kinder emotional bedrohen, sie ignorieren, herabwürdigen, ja ihnen gar mit dem Tode drohen, wird dies zwar meist als nicht sehr gelungener Erziehungsstil eingeschätzt, dass es sich hierbei aber um eine Form von emotionaler Gewalt handelt, die im Extremfall genauso verheerende Auswirkungen auf die Entwicklung hat wie körperliche und sexuelle Gewalt, ist nicht ausreichend bekannt, ja, emotionale Gewalt wird allgemein nicht einmal als Form von Gewalt erkannt“. 45 Karl Heinz Brisch, Vorwort, in: ders., Bindung und emotionale Gewalt (Anm. 39), S. 9 – 11, hier S. 9. 46 Vgl. Hildegard Niestroj, Traumatisierungen von Kindern infolge häuslicher Gewalt. 28. 06. 2012 (Fundort: https://www.moses-online.de/fachartikel-traumatisierungen-kindern-in folge-h%C3%A4uslicher-gewalt [Zugriff: 17. 11. 2022]: „Dreh- und Angelpunkt beim psychischen Trauma ist die traumatische Situation: In der traumatischen Situation versagen die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten des Kindes.“ „Das gilt auch für die Ignoranz von Eltern, die das Kind in einer kaum zu ertragenden Art und Weise überfordert. Doch selbst diese korrekte ,Wahrnehmung‘ wird dem Kind oftmals ausgeredet oder ausgetrieben, durch Bestrafung, Liebesentzug, ritualisierte Prügel oder emotionale Beschämung“ (Klees, Paartherapie [Anm. 41], 37). 47 Zum Begriff der Bindungsunsicherheit vgl. Lisa Gabb, Psychische Gewalt in der ElternKind-Beziehung. Erkennungsproblematik und Erkennungschancen in der Sozialen Arbeit. Bachelorarbeit an der Hochschule Mittweida. University of Applied Sciences. Fakultät Soziale Arbeit, Roßwein 2014, S. 7 – 11. Zur unsicher-ambivalenten Bindung vgl. Brisch, Bindungsstörungen (Anm. 38), S. 52, 74 f., 110 f., 113, 216, 257, 289; zum unsicher-desorganisierten/desorientierten Bindungsmuster vgl. ebd., S. 41, 52 – 56, 59 f., 78, 95, 111. Zur Typologie von Bindungsstörungen vgl. ebd., S. 102 – 111. 44

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fehlerhafte Bewältigungsstrategien und später gestörte Paarbeziehungen zur Folge hat.48 Bei solchen Erfahrungen von Gewalt49 handelt es sich zweifelsfrei um traumatisches Erleben50, denn mit einem psychischen Trauma hat man es dann zu tun, wenn die betroffene Person Ereignisse beobachtet oder selbst erlebt, die sie als lebensbedrohlich51 erfährt und auf die sie mit intensiven Gefühlen der Furcht, Hilflosigkeit, Entsetzen oder Todesangst reagiert.52 Ein solches psychisches Trauma ist „eine seelische Wunde, die durch eine oder mehrere Verletzungen des Körpers, der Integrität und der Würde entsteht. Trauma ist nicht nur ein Gewaltgeschehen (…), sondern entsteht als Prozess im Gesamtumfeld, meistens im sozialen Nahraum. Traumatisierung ist das Ergebnis von Gewalt, körperlich oder psychisch erlebt, subtil oder grob, einmalig oder mehrmalig“53. Dabei können Kinder durch Erfahrungen traumatisiert werden, „die Erwachsene nicht für traumatisch halten“54. So gehen Traumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen oft mit einem Mangel oder einem Fehlen menschlicher Zuwendung seitens der Bezugspersonen55 einher. Sie können ausgelöst werden durch Erleben von Katastrophen innerhalb der Herkunftsfamilie. Zu nennen wären „Erleben schwerer Gewalttätigkeit zwischen den Eltern“ oder „emotionaler, körperlicher und sexueller Missbrauch, massive Vernachlässigung, Trennung von den Eltern“56. Die Traumafolgen lassen sich neurobiologisch mit dem System der menschlichen Stressaktivierung als Basis der Anpassungsfähigkeit bei auftretendem Stress erklären. Hierbei handelt es sich um die sog. Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse), auch Stressachse genannt. Ein Kleinkind erlebt z. B. Vernachlässigung oder lautes Sprechen als emotionale Bedrohung. Dies führt zu in48 Vgl. Klees, Paartherapie (Anm. 41), S. 107 – 151; Sanders, Partnerschule (Anm. 30), S. 25, 28 f. 49 Einigkeit besteht heute darin, „dass Vernachlässigung, sexualisierte Gewalt und Gewalt traumatisch sind“ (Reddemann/Dehner-Rau, Trauma [Anm. 25], S. 12 f.). 50 Vgl. Sanders, Partnerschule (Anm. 30), S. 144. 51 Gemäß der Definition der WHO in der ICD-10 „sind Kennzeichen traumatischer Ereignisse eine außergewöhnliche Bedrohung oder ein Geschehen mit katastrophalem Ausmaß“ (Michael Simons/Beate Herpertz-Dahlmann, Belastungen und Traumen in der Kindheit, in: Fritz Hohagen/Thomas Nesseler (Hrsg.), Wenn Geist und Seele streiken. Handbuch psychische Gesundheit, München 2006, S. 37 – 48, hier S. 39 f.). 52 Vgl. ebd., S. 40; Regina Thierbach/Willi Butollo, Trauma – Leben nach einer extremen Erfahrung. Schicksalsschläge bewältigen, innere und äußere Kräfte aktivieren und neue Wege finden, Stuttgart 2005, S. 20; Reddemann/Dehner-Rau, Trauma (Anm. 25), S. 13. 53 Dileta Sequeira, Trauma, in: ARIC-NRW e.V. (Hrsg.), Erkennen Lernen: Rassismus, Diskriminierung, Traumata und die eigenen Vorurteile in der pädagogischen Arbeit mit Geflüchteten, Duisburg 2019, S. 37 – 45, hier S. 40. Internetpräsenz: https://www.aric-nrw.de/ files/aricnrw/docs/pdf/Handreiche_DaZ.pdf [Zugriff: 17. 11. 2022]“. 54 Reddemann/Dehner-Rau, Trauma (Anm. 25), S. 13 mit Beispielen. 55 Vgl. Riggs, Zyklus (Anm. 39), S. 61. 56 Simons/Herpertz-Dahlmann, Belastungen (Anm. 51), S. 39.

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nerlicher Anspannung. Damit springt das Angstzentrum im Gehirn an. Daraufhin wird vom Gehirn unverzüglich zu den Nebennierenrinden ein Alarmsignal geschickt, woraufhin eine Kaskade von Stresshormonen, insbesondere Cortisol und Adrenalin, für die ggf. lebensrettende Kampf- und Fluchtreaktion ausgeschüttet wird. Dies sind normale Reaktionen, auf die das menschliche Gehirn vorbereitet ist. Allerdings ist das Gehirn nicht an eine Dauersituation dieser Art angepasst. Wenn Kinder also über längere Zeit solchen Stresssituationen ausgesetzt sind, dann kann sich das Gehirn irgendwann nicht mehr selbst herunterregulieren. Normalerweise bremst sich das Gehirn nach einem Stresserlebnis selbst wieder aus. Wenn aber eine Dauerstresssituation besteht, wird das System überfordert. Wenn dies bei Säuglingen und Kleinkindern geschieht, stellt sich das Gehirn auf eine größere Sensibilität ein, sodass später kleine Stressoren große Reaktionen auslösen. Auch werden im Gehirn, insbesondere im limbischen System, hier insbesondere im Bereich der Amygdala, wo das menschliche Angstzentrum verortet ist57, bestimmte Strukturen so verfestigt, dass Menschen dann sehr angstvoll in Beziehungen reagieren, sodass frühe Muster plötzlich alle Beziehungen betreffen, etwa gegenüber Vorgesetzten, dem Partner und den eigenen Kindern. Bei einer auf diese Weise initiierten Dauerstresssituation und einer etwa durch Leistungsdruck und Ausgrenzungserfahrungen verfestigten Stressachse, übernimmt im Denksystem die Amygdala und damit das schnelle Kampf- und Flucht-Denken, das unbewusst, also implizit, abläuft und dem durch den Hippocampus gesteuerten expliziten Denken und Erinnern keine Chance lässt.58 Akkurates episodisches Erinnern ist in solchen Situationen angesichts der beschriebenen Blockade des Hippocampus nicht möglich, d. h. der Hippocampus hat keinen zuverlässigen Zugriff auf die kortikal gespeicherten Informationen. Selbstverständlich sind Menschen durch ihre früheren Erfahrungen individuell geprägt, sodass sie jeweils unterschiedlich schnell auf Stressoren anspringen. Menschen, die häufig frühe emotionale Bedrohung erlebt haben, ziehen sich entweder in 57 Vgl. Judith Daniels, Sekundäre Traumatisierung – kritische Prüfung eines Konstruktes. Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Naturwissenschaften an der Universität Bielefeld, Bielefeld 2006, S. 272. 58 Vgl. Elisabeth Wagner, Psychische Störungen verstehen. Orientierungshilfe für Angehörige, Berlin 2021, S. 145; Reddemann/Dehner-Rau, Trauma (Anm. 25), S. 29 f.; Daniels, Traumatisierung (Anm. 57), S. 272; Payton, Selbstresonanz (Anm. 14), S. 251: „Ohne beständige und von Wärme geprägte Spiegelung können Menschen kein Gefühl für ihr Selbst zusammenfügen. Und es überrascht vermutlich nicht, dass Menschen, die ständig verängstigenden oder verängstigten Bezugspersonen preisgegeben sind, fragmentieren. Das heißt, es werden unverbundene neuronale Netzwerke gebildet. Diese verlaufen durch die Amygdala (implizite Erinnerungen) und haben wenig Kontakt mit dem Hippocampus, der sowohl eine Chronologie als auch eine klare Autobiografie speichert (unsere expliziten Erinnerungen an das Selbst)“. Vgl. hierzu auch Daniela B. Fenker/Björn H. Schott/Alan Richardson-Klavehn/ Hans-Jochen Heinze/Emrah Düzel, Recapitulating emotional context: activity of amygdala, hippocampus and fusiform cortex during recollection and familiarity, in: European Journal of Neuroscience 21 (2005), S. 1993 – 1999. https://doi.org/10.1111/j.1460-9568.2005.04033.x [Zugriff: 17. 11. 2022].

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sich selbst zurück, sind unauffällig oder reagieren aggressiv, wobei dies nicht an der Stelle geschehen muss, an der der Stress entsteht, sondern die Aggression kann z. B. gegen die eigenen Kinder oder andere Personen gerichtet sein, jedenfalls immer Menschen gegenüber, die schwächer sind und dann mit den aufgestauten Aggressionen konfrontiert werden. Ist die Stressachse durch erlittene psychische Gewalt auf Dauer überaktiv, steigen die Cortisol- und Adrenalinwerte. Dies führt dazu, dass sich Gehirnstrukturen verändern können, was besonders das limbische System betrifft, also Amygdala und Hippocampus, die maßgeblich an der Regulation von Stresshormonen beteiligt sind. Insofern verringert psychisches Gewalterleben in der Kindheit die Fähigkeit zu episodischer Erinnerung, denn frühkindlicher Stress beeinflusst direkt die Entwicklung des Hippocampus.59 So verändert die durch psychischen Schmerz initiierte Cortisol-Ausschüttung die Zellen des Hippocampus, der Schaltstelle der menschlichen Erinnerungen. Es kommt zu einer Verkleinerung, d. h. zu einer Schwächung des Hippocampus und damit seiner Fähigkeit, lebensgeschichtliche Erinnerung aus dem Neocortex abzurufen. Durch einen erhöhten Cortisol-Wert kann der Hippocampus dauerhaft geschädigt60 und als Gedächtnisorganisator in seiner Funktion beeinträchtigt werden.61 „Je mehr Cortisol fließt, umso weniger aktiv ist der Hippocampus. Der Hippocampus arbeitet mit all den Regionen zusammen, die für die Erinnerung und das Lernen zuständig sind, und koordiniert sie“62. So verändern erlittene Traumata die Struktur und Funktion des Gehirns auf zahlreiche Arten, wobei drei wichtige Bereiche signifikant betroffen sind: die Amygdala, der mediale präfrontale Kortex und der Hippocampus.63 So wiesen Opfer von Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit als Erwachsene im Vergleich zu nicht missbrauchten Kontrollprobanden „strukturelle Veränderungen mit Volumenverminderungen im Hippocampus“64 auf65, denn das in Stresssituationen freigesetzte Cor59 Vgl. Elisabetta del Re/Evie Coxon/Victor Zeng/Sarah Keedy/Elena Ivleva/Paulo Lizano/ Scott Hill/David Parker/Jennifer E. McDowell/Elliot Gershon/Godfrey Pearlson/John A. Sweeney/Brett A. Clementz/Carol Tamminga/Matcheri S. Keshavan, Effects of Childhood Trauma and Cannabis on the Anterior-Posterior Axis of the Hippocampus in a Transdiagnostic Psychosis Sample, in: European Neuropsychopharmacology 51 (2021), S. 123 – 124. https:// doi.org/10.1016/j.euroneuro.2021.08.056 [Zugriff: 17. 11. 2022]. 60 Vgl. Sabine Wery von Limont/Jarka Kubsova, Das geheime Leben der Seele. Alles über ein unsichtbares Organ, München 2018, S. 197, 326; Hein, Bindung (Anm. 37), S. 28, 44. 61 Vgl. Alexander Jatzko, Traumafolgestörungen in der Bildgebung, in: Leidfaden. Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer 3 (2014), Heft 1, S. 12 – 15, hier S. 14. 62 Payton, Selbstresonanz (Anm. 14), S. 266 unter Verweis auf: Jared Edward Reser, Chronic stress, cortical plasticity and neuroecology, in: Behavioural Processes 129 (2016), S. 105 – 115. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/27334119/; doi:10.1016/j.beproc.2016.06.010 [Zugriff: 17. 11. 2022]. 63 Vgl. Hein, Bindung (Anm. 37), S. 28, 44. 64 Brisch, Bedeutung von Bindung (Anm. 38), S. 33. 65 Vgl. Martin H. Teicher/Susan L. Andersen/Ann Polcarib/Carl M. Anderson/Carryl P. Navalta/Dennis M. Kim, The neurobiological consequences of early stress and childhood

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tisol führt bei längerfristiger Ausschüttung „zur Zerstörung hippocampaler Neurone“66. Dabei geht eine Schädigung des Hippocampus mit Leistungsdefiziten im Bereich des deklarativen Wissens einher.67 Außerdem sind die verbale Rekognitionsfähigkeit bei Leistungsabfall des Hippocampus sowie die „Fähigkeit zur Verknüpfung von Erlebnissen“68 signifikant eingeschränkt69. Bei alldem ist das „episodisch-autobiographische Gedächtnis am anfälligsten für Schäden im Bereich der Hippocampusformation“70. Die Entwicklung des Hippocampus beeinflusst auch die Art und Weise des Denkens und Entscheidens, d. h. vom Zustand des Hippocampus hängt es ab, ob die betreffende Person vornehmlich ihr implizites oder ihr explizites Selbst lebt, also ob sie ihre Erlebnisse mit Abstand betrachten kann und offen für Neues ist, oder ob sie gefangen ist in „stereotypen Denk- und Verhaltensmustern“71. Letzteres ist bei einer gestörten Nervenzellneubildung und bei einem schrumpfenden Hippocampus ebenfalls der Fall. Schließlich ist der gesellschaftliche Rahmen, in dem auch kirchengerichtliches Arbeiten verortet ist, in den Blick zu nehmen. Die Gesellschaft ist offensichtlich nicht der Ort, an dem heilend-entstressende Erfahrungen möglich sind, sondern sie wird eher als verstärkender Faktor für die destruktive Erfahrung psychischer Gewalt erkennbar72. So „wird es auch weiterhin eine große Herausforderung sein, die Gesellschaft für das Thema ,emotionale Gewalt‘, die Folgestörungen und Erkrankungen, die sich daraus ergeben […] weiter zu sensibilisieren“73. So ist bis heute „psychische Gewalt […] eine weit verbreitete, gesellschaftlich geduldete und legitimierte Form der Gewalt, die eigentlich in allen Lebensbereichen […] in nicht geringem Maß auftritt. […] Was also als gesellschaftliche Norm immer noch toleriert wird und zu wenig Anstoß findet, wird erst recht im individualisierten Beziehungskontext nicht wahrgenommen, geschweige denn sanktioniert“74. Auch gegenwärtig ist das

maltreatment, in: Neuroscience and Biobehavioral Reviews 27 (2003), S. 33 – 44, hier S. 34; Payton, Selbstresonanz (Anm. 14), S. 252: „Sexueller Missbrauch, darunter die Schrecken der Vergewaltigung, der Belästigung, der oralen, vaginalen oder analen Berührung oder Penetration in der Kindheit sowie andere gewaltsame oder erzwungene visuelle, verbale oder mit Berührung verbundene Erfahrungen hinterlassen ebenfalls eine Prägung im menschlichen Gehirn. Sie sorgen für einen kleineren linken Hippocampus (in dem die Tatsachenerinnerung lebt), was Probleme mit dem verbalen Gedächtnis sowie dissoziative Symptome verursacht, die bis ins Erwachsenenalter hinein andauern.“ 66 Becker-Carus, Hippocampus (Anm. 20), S. 767. 67 Vgl. Gerrig, Psychologie (Anm. 8), S. 294. 68 Hein, Bindung (Anm. 37), S. 28. 69 Vgl. Klein, Hippocampus (Anm. 32), S. 55. 70 Markowitsch/Borsutzky, Gedächtnis und Hippocampus (Anm. 23), S. 1. 71 Nehls, Gehirn (Anm. 22), S. 152. 72 Vgl. Sequeira, Trauma (Anm. 53), 40. 73 Brisch, Prävention (Anm. 44), S. 19. 74 Andrea Brem, Motivation für diese Studie, in: dies., Psychische Gewalt gegen Frauen. Eine empirische Untersuchung, Wien 2014, S. 9 – 12, hier S. 9.

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Ausmaß der gegen Kinder gerichteten psychischen Gewalt beträchtlich.75 Die Gesellschaft nimmt psychische Gewalt und die damit einhergehenden Traumatisierungen offensichtlich nicht richtig ernst76, ja sie ist gleichsam traumablind77, da sie auf „Verdrängung ausgerichtet ist“78. Dies hat damit zu tun, dass viele Menschen wegen der von ihnen in ihrer frühen Kindheit, meist in ihrem engen sozialen Umfeld79, er-

75 Vgl. Gabriele Buchner/Brigitte Cizek, Ein kurzer historischer Abriss über Gewalt gegen Kinder, in: Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen, Gewalt in der Familie. Gewaltbericht 2001. Von der Enttabuisierung zur Professionalisierung, Wien 2001, S. 91 – 96, hier S. 95. Online-Ressource: https://www.gewaltinfo.at/uploads/pdf/bmwfj_gewaltbe richt_2001_gesamt.pdf [Zugriff: 17. 11. 2022]. 76 Vgl. hierzu das Gewaltgutachten der deutschen Bundesregierung, in dem der Gewaltbegriff inhaltlich auf „Formen physischen Zwanges als nötigender Gewalt sowie Gewalttätigkeiten gegen Personen und/oder Sachen unabhängig von Nötigungssituationen“ eingeengt wird. (Hans-Dieter Schwind/Jürgen Baumann/Ursula Schneider/Manfred Winter, Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland. Endgutachten der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), Bochum 1989, in: Hans-Dieter Schwind/Jürgen Baumann/Friedrich Lösel/Helmut Remschmidt/Roland Eckert/ Hans-Jürgen Kerner/Alfred Stümper/Rudolf Wassermann/Harro Otto/Walter Rudolf/Friedhelm Berckhauer/Monica Steinhilper/Edwin Kube/Wiebke Steffen (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), Bd. I–IV, Berlin1990, Bd. I, S. 1 – 286, hier S. 38). „Ausgeklammert wurden bewusst die psychisch vermittelte und die strukturelle Gewalt“, so Prof. Dr. Gunter A. Pilz anlässlich des von ihm gehaltenen Vortrags zur Gewaltakzeptanz- und Bereitschaft von Jugendlichen: Gunter A. Pilz, Gewalt: „Gesunde Reaktion auf eine krankmachende Gesellschaft?!“ Es geht uns alle an: Gewalt und Gewalterfahrungen junger Menschen, Hannover 2003. Online-Ressource: https:// www.sportwiss.uni-hannover.de/fileadmin/sportwiss/Projekte__Forschung_und_Online_/pilz/ pil_gew_ges.pdf [Zugriff: 17. 11. 2022], S. 2. Ein weiter gefasster Gewaltbegriff, der auch die psychische Gewaltanwendung umfasst, findet Berücksichtigung bei Franziska Pfadt, Sabine Mandl, Kinderschutz in Österreich. Bestandsaufnahme Gewalt gegen Kinder und Zugang zur Unterstützung, Wien 2018, S. 6. Dort wird auf die Definition von Gewalt seitens der WHO rekurriert. Weltgesundheitsorganisation (Hrsg.), Weltbericht Gewalt und Gesundheit. Zusammenfassung. Originaltitel World report on violence and health: Summary 2002, OnlineRessource: https://www.gewaltinfo.at/uploads/pdf/WHO_summary_ge.pdf [Zugriff: 17. 11. 2022]. 77 Vgl. Franz Ruppert, Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft? Wie Täter-OpferDynamiken unser Leben bestimmen und wie wir uns daraus befreien, Stuttgart 52021, S. 95, 167. 78 Betül Koç, Psychische Gewalt an Kindern. 21. 05. 2021. Online-Ressource der Tageszeitung Düsseldorfer Allgemeine: https://dusseldorfer-allgemeine.de/familie-gesellschaft/psy chische-gewalt-an-kindern/ [Zugriff: 17. 11. 2022]. Betül Koç nimmt Bezug auf eine entsprechende Stellungnahme von Prof. Dr. Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, die dieser in der auf 3sat am 27. 09. 2018 ausgestrahlten Sendung „Scobel, Psychische Gewalt“ vortrug. https://www.3sat.de/wis sen/scobel/psychische-gewalt-100.html [Zugriff: 17. 11. 2022]. 79 Vgl. Sequeira, Trauma (Anm. 53), S. 40.

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littenen psychischen Gewalt und der damit verbundenen Scham, psychische Gewalt in der Gesellschaft als gegeben hinnehmen.80 Dass solche gesellschaftliche Tabuisierungen auch in kanonistischem Denken bisweilen in Form von Bagatellisierungen81 begegnen, macht das Desiderat deutlich, die Auswirkungen einiger, durch traumatisches Erleben generierter, hippocampaler Leistungseinbußen in den Blick zu nehmen. III. Verfahrensrechtliche Konsequenzen Für die kirchengerichtliche Arbeit ist als erstes das Faktum bedeutsam, dass psychische Traumata nicht nur das Wachstum des Hippocampus blockieren, sondern ihn sogar schrumpfen lassen82, wodurch seine Kraft nachlässt83, zumal es sich beim Hippocampus um eine besonders empfindliche Gehirnstruktur handelt.84 Dies hat zur Folge, dass die Fähigkeit der betreffenden Person, sich an persönliche Erfahrungen zu erinnern, gestört ist.85 Daraus ergeben sich Folgerungen für den einordnenden Umgang mit den Aussagen derjenigen Parteien, die über etwaige eigene lebensgeschichtlich verortete Einschränkungen ihrer psychischen Befähigung zur Eheschließung berichten; sei es in Beratungsgesprächen, sei es anlässlich der prozessualen Anhörungen. So ergeben sich aus dem Gesprächsverlauf häufig Hinweise auf die oben beschriebenen hippocampalen Gedächtnisstörungen. Beim Gedächtnis handelt es sich um einen komplexen Prozess, dessen Teilkomponenten – zu nennen wären u. a. Informationsentschlüsselung und Abruf von Gedächtnisinhalten – gestört sein können. Bei Gedächtnisstörungen unterscheidet man, je nach Erscheinungsbild: Die Zeitgitterstörung wird definiert als „Störung des zeitlichen Rasters, [als] Unfähigkeit, biographische Gedächtnisinhalte in die richtige Reihenfolge zu bringen“86. Auch kann es bei Störungen innerhalb des hippocampalen Systems zur Konfabulation kommen, d. h. Erinnerungslücken werden von der berichtenden Person „mit frei erfundenen Fakten 80

So die Stellungnahme von Prof. Dr. Karl Heinz Brisch, Univ.-Prof. an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität (PMU) in Salzburg, Dr. med. habil., während der auf 3sat am 27. 09. 2018 ausgestrahlten Sendung „Scobel, Psychische Gewalt“. https://www.3sat.de/wis sen/scobel/psychische-gewalt-100.html [Zugriff: 17. 11. 2022]. 81 Dies geschieht etwa dann, wenn pauschal behauptet wird: „Erfahrungen, die tendenziell in vielen Biographien zu finden sind, werden zu traumatischen Erlebnissen umgedeutet und zu Vorboten späterer Beziehungsprobleme stilisiert“. (Georg Bier, Das kirchliche Eheverfahren zwischen prozessrechtlichen Vorgaben und pastoralem Anspruch. Ein Dilemma, in: Lebendige Seelsorge 69 [2018], S. 209 – 213, hier S. 211). 82 Vgl. Nehls, Gehirn (Anm. 22), S. 153. 83 Vgl. Wery von Limont/Kubsova, Seele (Anm. 60), S. 197. 84 Vgl. Nehls, Gehirn (Anm. 22), S. 88. 85 Vgl. ebd., S. 89. 86 Rolf-Dieter Stieglitz/Harald J. Freyberger, Psychiatrische Untersuchung und Befunderhebung, in: Berger, Psychische Erkrankungen (Anm. 11), S. 19 – 39, hier S. 29.

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oder Ereignissen gefüllt, die er tatsächlich für Erinnerungen, d. h. für Realität hält“87. Wenn solche Phänomene in Beratung, Anhörung oder im Zuge des weiteren Prozesslaufs feststellbar sind, so ist dies bereits ein gesicherter Hinweis auf psychische Einschränkungen, die oft in traumatischen Erfahrungen gründen, denn „prinzipiell kommen […] bei fast allen psychischen Störungen Gedächtnisstörungen vor“88. Die Richter:innen dürfen daher nicht der Versuchung erliegen, (zeit-)logisch widersprüchliche oder sogar dokumentarisch eindeutig widerlegbare Aussagen von Parteien automatisch als unbrauchbar oder gar unglaubwürdig zu bewerten, z. B. dann, wenn sie beweiskräftigen Dokumenten inhaltlich widersprechen.89 Es handelt sich hierbei nicht um die in c. 1678 § 1 CIC/MIDI genannten Elemente, durch die die Glaubhaftigkeit der Parteierklärung ggf. abgeschwächt wird, im Gegenteil: Die oben beschriebenen, oft durch psychische und/oder physische Gewalt in Kindertagen initiierten und lebensgeschichtlich durch ähnliche Erlebnisse, z. B. durch gegen Frauen90 und Männer91 gerichtete häusliche Gewalt, verstärkten hippocampalen Einschränkungen weisen eher auf psychische Defizite hin, die bereits zur Zeit der Eheschließung im impliziten Denken und damit für die betreffende Person nicht bewusst steuerbar wirksam waren. So wirken sich „traumatische Erfahrungen in der Kindheit auch Jahrzehnte später noch schädigend auf die Gestaltung der eigenen Partnerschaft“92 aus. Auch sind besonders schlimme Kindheitserlebnisse den Betroffenen oft gar nicht mehr erinnerlich. Solche fehlenden Erinnerungen „sind eher kein Zeichen dafür, dass alles gut war“93. Dies hat damit zu tun, dass „unverarbeitete traumatische Erfahrungen im impliziten Gedächtnis gespeichert sind“94. Sie sind „weitgehend nur senso87

Ebd.; vgl. Schermer/Drinkmann, Psychologie (Anm. 17), S. 73 f. Stieglitz/Freyberger, Untersuchung (Anm. 86), S. 29. 89 Vgl. z. B. den Bericht von Benjamin Großhauser über eine im Zuge der Beweiswürdigung eines deutschen Gerichts aus diesem Grunde in ihrer Glaubhaftigkeit verworfene Aussage einer Klägerin: Benjamin Großhauser, Chancen und Tücken bei der Verwendung von Urkunden in kirchlichen Ehenichtigkeitsverfahren anhand ausgewählter Beispiele, in: DPM 27/28 (2020/21), S. 21 – 43, hier S. 38 – 41. 90 Vgl. die repräsentative Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) aus dem Jahre 2014: FRA, Gewalt gegen Frauen: Eine EU-weite Erhebung. OnlineRessource: https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra-2014-vaw-survey-factsheet_de.pdf [Zugriff: 17. 11. 2022]. 91 Vgl. Georg Fiedeler, Partnerschaftsgewalt gegen Männer, in: Beratung Aktuell 22 (2021), Heft 2, S. 3 – 14. 92 Christiane Kröger/Rudolf Sanders, Paare unterstützen – psychische Störungen verhindern?! Das Potential paarorientierter Interventionen zur Prävention psychischer Störungen, in: Beratung Aktuell 20 (2019), Heft 2, S. 26 – 52, hier S. 32; Eileen L. Zurbriggen/Ella Ben Hagai, Die Folgen frühen emotionalen Missbrauchs für das Leben und die Beziehungen der erwachsenen Person, in: Brisch, Bindung und emotionale Gewalt (Anm. 39), S. 226 – 242, hier S. 226 f. 93 Katharina Klees, Arbeitsbuch für Paare zur traumasensiblen Paartherapie, Paderborn 2020, S. 67. 94 Sanders, Partnerschule (Anm. 30), S. 85. 88

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motorisch codiert und können deshalb nicht mitgeteilt werden“95. Auch neigen krisengeschüttelte Menschen zur Schonung der eigenen Eltern, egal wie furchtbar ihr Verhalten in der Kindheit des nunmehr Erwachsenen gewesen sein mag. Niemand hätte auf Anhieb den Eindruck, dass hinter den offensichtlich nicht geklärten Paarkonflikten mit anschließender Scheidung „eine traumatisierte Kindheit stehen könnte“96. Wenn also im Zuge einer Beratungs- oder Anhörungssituation auf den ersten Blick alles gleichsam in Ordnung gewesen zu sein scheint, so hat sich der Richter/die Richterin darüber im Klaren zu sein, dass Gedächtnisstörungen sich nicht immer direkt im Gespräch beobachten lassen.97 Auch wurden die traumatischen Erlebnisse, z. B. das existenzbedrohende Gefühl als Säugling, verlassen zu ein (s. o.), in einer Zeit erlebt, in der die sprachlichen Fähigkeiten noch nicht entwickelt waren und daher über den auditiven Weg hippocampaler Erinnerung einfach kein Zugang zum Erlebten möglich ist, da die bewusste, zeitlich-räumliche Erinnerung sprachverbunden ist.98 Als hilfreich für den Umgang mit solchen Phänomenen haben sich neben „Selbsteinschätzungsfragebögen […] auch das Erwachsenenbindungsinterview (Adult Attachment Interview, AAI) […] zur Erfassung der Reflexionsfähigkeit“99 erwiesen. Selbsteinschätzungsfragebögen können z. B. im Rahmen des von Jeffrey Young100 entwickelten schemabasierten Ansatzes zur Psychotherapie (Schematherapie) zum Einsatz kommen. Die Rolle des Hippocampus besteht in diesem Zusammenhang darin, dass er Erlebnisse zu Schemata zusammenbindet und langfristige Gedächtnisinhalte im Cortex formt.101 „Young prägte den Begriff der frühen maladaptiven Schemata zur Bezeichnung schädigender Kerngedanken oder Muster, die in der Kindheit etabliert und von den betroffenen Menschen ihr Leben lang wiederholt werden. Jeder Mensch hat solche Schemata. Die maladaptiven oder fehlangepassten Schemata allerdings entwickeln sich, wenn bestimmte emotionale Grundbedürfnisse in den Jahren der Kindheit nicht befriedigt werden“102.

95

Ebd. Klees, Paartherapie (Anm. 41), S. 36. 97 Vgl. Stieglitz/Freyberger, Untersuchung (Anm. 86), S. 29. 98 Vgl. Eckhard Roediger, Was ist Schematherapie? Eine Einführung in Grundlagen, Modell und Anwendung, Paderborn 2009, S. 71; Reddemann/Dehner-Rau, Trauma (Anm. 25), S. 30; Alexander J. Billig/Meher Lad/William Sedley/Timothy D. Griffiths, The hearing hippocampus, in: Progress in Neurobiology 218 (2022), 102326, S. 1 – 36. https://doi.org/10.1016/ j.pneurobio.2022.102326 [Zugriff: 17. 11. 2022]. 99 Katharina Trost/Swinde Landers, Entwicklung einer gesunden Eltern-Kind-Beziehung. Konzept und Erkenntnisse aus der SAFE®-Evaluationsstudie, in: Brisch, Bindung und emotionale Gewalt (Anm. 39), S. 19 – 24, hier S. 22. 100 Vgl. Jeffrey E. Young/Janet S. Klosko/Marjorie E. Weishaar, Schematherapie. Ein praxisorientiertes Handbuch, Paderborn 22008. 101 Vgl. Sanders, Explizites Bewusstsein (Anm. 30), S. 247. 102 Zurbriggen/Ben Hagai, Folgen (Anm. 92), S. 235. 96

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Beim Modell der Schematherapie handelt es sich um eine evidenzbasierte, zeitlich begrenzte Therapieform. Die Schematherapie ist ein integrativer Ansatz, der Elemente aus der kognitiven Therapie, der kognitiven Verhaltenstherapie im Allgemeinen, der Bindungs- und Objektbeziehungstheorie zusammenführt. Ein Ziel der Schematherapie besteht darin, dem Klienten zu helfen, die eigenen zentralen emotionalen Bedürfnisse zu erkennen, zu verstehen und Wege zu lernen, seine Bedürfnisse in einer adaptiven Weise zu erfüllen, was die Veränderung von seit langem etablierten kognitiven, emotionalen, relationalen und verhaltensbezogenen Mustern erfordert.103 Insofern ist das Modell der Schematherapie sehr hilfreich, um retrospektiv verlässlich Auskunft zu geben über das Vorhandensein bestimmter maladaptiver Schemata. Solche Schemata sind definiert als alles beeinflussende Lebensthemen und stets dysfunktionale Muster, bestehend aus Kognitionen, Emotionen, Erinnerungen und Wahrnehmungen, die typischerweise auf schwierigen oder traumatischen Kindheitserlebnissen basieren, in denen zentrale kindliche Bedürfnisse nicht erfüllt wurden.104 Die in früher Kindheit entwickelten Schemata „lassen Menschen im Sinne früherer Beziehungserfahrungen handeln“105. Angesichts dieser Gegebenheiten hat die Verwendung eines Schemafragebogens106 den Vorteil, dass er sich nicht notwendig retrospektiv auf den Zeitpunkt der Eheschließung oder die voreheliche Zeit beziehen muss, sondern dass er die gegenwärtigen persönlichen Empfindungen thematisiert. Dies ist möglich, weil maladaptive Schemata sich bereits in der frühen Lebensphase eines Menschen entwickeln107 und zeitlebens wirksam bleiben. Es sei daran erinnert, dass die neurobiologische Forschung gezeigt hat, „dass das Beziehungsverhalten von Menschen wesentlich durch frühe Erfahrungen und weitgehend unbewusst gesteuert wird“108. Daher ist vom Ist-Zustand ein verlässlich-retrospektiver Blick auf die Zeit der Ehebegründung 103 Vgl. Eshkol Rafaeli/David P. Bernstein/Jeffrey E. Young, Schematherapie, Paderborn 2013, S. 9. 104 Vgl. ebd., S. 17 – 23. 105 Sanders, Explizites Bewusstsein (Anm. 30), S. 236. Vgl. ders., Rezension zu Walter Schmidt, Woran Ehen scheitern können. Psychologische Studie basierend auf Erfahrungen aus Ehenichtigkeitsverfahren (= Psychologie 51), Münster 2017, in: DPM 24 (2017), S. 235 – 246, hier S. 243: „Schemata haben die Eigenschaft, die Wahrnehmung, die Konstruktion der Wirklichkeit, einschließlich der dazugehörigen Gefühle und körperlichen Reaktionen zu bestimmen bzw. zu versklaven“. Vgl. hierzu auch Hüther, Hirnforschung (Anm. 3), S. 137: „Die Erfahrungen, die ein Mensch im Lauf seines Lebens gemacht hat, sind fest in seinem Gehirn verankert, sie bestimmen seine Erwartungen, sie lenken seine Aufmerksamkeit in eine ganz bestimmte Richtung, sie legen fest, wie er das, was er erlebt, bewertet und wie er auf das, was ihn umgibt und auf ihn einstürmt, reagiert“. 106 Zu denken wäre z. B. an den von Jeffrey Young im Jahre 1990 entwickelten Schemafragebogen YSQ-S1. Eine deutsche Version aus dem Jahr 2002 ist abrufbar: https://www.ro bert-weiss.de/fileadmin/user_upload/Dateien/Young-Schema-Fragebogen.pdf [Zugriff: 17. 11. 2022]. 107 Vgl. Sanders, Partnerschule (Anm. 30), S. 38 – 41; ders., Ort der Heilung (Anm. 9), S. 150. 108 Roediger, Was ist Schematherapie (Anm. 98), S. 12.

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möglich. Selbstverständlich bedarf es hierfür sowohl fachpsychologischer Einordnungen als auch gerichtlicher Erhebungen, die Bezug nehmen auf die jeweiligen erkennbaren Schemata und dabei nicht unmittelbar die Prozessfragen in den Blick nehmen müssen. Außerdem werden bei diesem Vorgehen etwaige Retraumatisierungen, wie sie bei einer Traumakonfrontation auftreten können109, vermieden. Ein ergänzendes Hilfsmittel ist das von Main und Goldwyn entwickelte Erwachsenenbindungsinterview (Adult Attachment Interview, AAI110), ein Instrument zur Bewertung der Bindung von Erwachsenen, mit dessen Hilfe etwa auf unsichere Bindungserfahrungen in der Kindheit geschlossen werden kann.111 „Dabei handelt es sich um ein halb standardisiertes Interview zur retrospektiven Erfassung von Bindungserfahrungen und zu aktuellen Einstellungen zur Bindung“112. Es vermag manche Einzelheiten zu offenbaren, die den betreffenden Personen bisweilen selbst nicht bewusst sind, weil sie bislang im impliziten Denksystem verblieben sind. Es werden bindungsrelevante Ereignisse erhoben, die Rückschlüsse auf die bereits in der Kindheit erworbene Bindungsqualität erlauben, die auch für die Bindungsmuster des Erwachsenen prägend sind.113 Es werden im Erwachsenenalter folgende Bindungsrepräsentationen unterschieden114 : Personen, die über ein autonomes, sicheres Bindungsmodell verfügen, besitzen lebhafte Erinnerungen an Kindheitserfahrungen, die offen, differenziert und emotional schwingungsfähig kommuniziert werden. Erwachsene, die einen unsicher-distanzierten Bindungsstil zeigen, besitzen nur wenige oder vage Erinnerungen an ihre Kindheit. Sie sprechen in der Regel gehemmt, emotional zurückhaltend, verkürzt oder normalisierend (etwa: „Meine Kindheit war ganz normal“) über ihre Kindheitserlebnisse. Personen mit einem unsicher-verstrickten Bindungsstil offenbaren diesen im Interview dadurch, dass sie eine „langatmige, oft inkohärente Geschichte und Beschreibung ihrer vielfältigen Beziehungen“115 vortragen. Sie erzählen ihre Lebensgeschichte „durch Idealisierung oder durch Abwertung“116. Diese Bindungsmodelle haben sich als vorhersagbares Bindungsverhalten bereits innerhalb des ersten Lebensjahres entwickelt. Solchem Bindungsverhalten liegt „eine neurobiologische Repräsentation oder ein neuronales Muster zu Grunde 109

Vgl. Reddemann/Dehner-Rau, Trauma (Anm. 25), S. 83 f. S. Mary Main/Ruth Goldwyn, Adult Attachment Scoring and classification systems. Unpublished manuscript. Berkeley, C. A.: University of California 1969; Iris Reiner/Elisabeth Fremmer-Bombik/Manfred Beutel/Miriam Steele/Howard Steele, The Adult Attachment Interview – Fundamentals, use, and applications in clinical work, in: Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 59 (2013), S. 231 – 246; Carol George/Nancy Kaplan/ Mary Main, Adult Attachment Interview, in: Gabriele Gloger-Tippelt (Hrsg.), Bindungen im Erwachsenenalter. Ein Handbuch für Forschung und Praxis, Bern 32016, S. 419 – 440. 111 Vgl. Gabriele Gloger-Tippelt, Unsicher-distanzierende mentale Bindungsmodelle, in: dies., Bindungen (Anm. 110), S. 173 – 200, hier S. 180 f. 112 Sanders, Partnerschule (Anm. 30), S. 54 f. 113 Vgl. Brisch, Bedeutung von Bindung (Anm. 38), S. 18. 114 Vgl. hierzu den Überblick bei Sanders, Partnerschule (Anm. 30), S. 145. 115 Brisch, Bedeutung von Bindung (Anm. 38), S. 19. 116 Sanders, Partnerschule (Anm. 30), S. 145. 110

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[…], das auch als ein ,Inneres Arbeitsmodell von Bindung‘ bezeichnet wird“117. Somit lässt die Verwendung des AAI erkennen, dass bei frühkindlich erworbenen und „eine schwere frühe Psychopathologie“118 darstellenden Bindungsstörungen mit den oben aufgewiesenen leistungsverringernden Auswirkungen auf den Hippocampus insbesondere bei unsicher gebundenen Menschen Erinnerungsdefizite zu Tage treten. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass bei Depressionen regelmäßig geringere Hippocampusvolumina feststellbar sind und dass eine Depression mit einem verminderten Erinnerungsvermögen, d. h. einem beeinträchtigten deklaratorischen Gedächtnis, anderen oben beschriebenen Erinnerungsstörungen sowie mit gedrückter Stimmung und Antriebslosigkeit einhergeht.119 Die oben beschriebenen Formen unsicherer Bindung sind „Grundlagen für depressives Erleben und Verhalten“120, wodurch sich eine „erlernte Hilflosigkeit“121 herausbildet. Dies erfordert einen stress- und traumasensiblen Umgang mit den Menschen, die um den Dienst des kirchlichen Gerichts bitten, denn der bei diesen häufig erlittene „Verlust der Lebensperspektive führt sehr oft zu einer psychischen Destabilisierung“122. Traumasensibilität bedeutet zunächst, Achtsamkeit für die Existenz von Traumata und Traumafolgen aufzubringen. Insofern sollten sich kirchliche Richter:innen dessen bewusst sein, dass sie in ihrem unmittelbaren Kontakt mit Parteien für diese auf deren bio-psycho-sozialen Weg durch ihre sichernde und richtungsgebende Rolle wichtige Bindungspersonen sind. Auf diese Weise wird „der ganze Mensch in seiner Biographie, seinem Gewordensein und seiner Entwicklung, seinem Bedürfnis nach Heilwerden und Gesundheit … in den Blick genommen“123. So erweist sich die „Beziehungsgestaltung als Grundlage eines gelingenden Ehenichtigkeitsprozesses“124. Traumasensibles Arbeiten ist nur möglich, wenn eine kirchengerichtliche Gesprächsführung von Resonanz geprägt ist, die über empathisches Zuhören hinausreicht. Empathie meint, dass man sich in eine andere Person hineinverset117

Brisch, Bedeutung von Bindung (Anm. 38), S. 18. Ebd., S. 20. 119 Vgl. Höhne, Hippocampus (Anm. 21), S. 24 f., 48 f., 55, 59 f. 120 Sanders, Explizites Bewusstsein (Anm. 30), S. 243. 121 Vgl. Steven F. Maier/Martin E. P. Seligmann, Learned helplessness. Theory and evidence, in: Journal of Experimental Psychology: general 105 (1976), S. 3 – 46. Dieser stehen die anzustrebenden, förderlichen „Erfahrungen der Selbstwirksamkeit, des Selbstwerts und der Selbstermächtigung“ (Sanders, Partnerschule [Anm. 30], S. 85) gegenüber. 122 Judith Gastner/Ludwig Schindler/Nicolas Metz/Alina Zuber, Internetgestützte Prävention und Behandlung von Paarproblemen am Beispiel von PaarBalance, in: Bernd Röhrle/ David Ebert/Hanna Christiansen (Hrsg.), Prävention und Gesundheitsförderung. Bd. VI. Entwicklungen und Perspektiven, Tübingen 2018, S. 1 – 23, hier S. 3. 123 Katharina Klees, Kann Paartherapie schaden? Brauchen wir einen Schutz für Familien in Not?, in: Beratung als Profession. Die Online-Zeitung der DAJEB für Beraterinnen und Berater – Nr. 7 (2021), S. 7 – 9, hier S. 8. https://www.dajeb.de/fileadmin/dokumente/04-publi kationen/beratung-als-profession/beratung-als-profession-2021-7.pdf [Zugriff: 17. 11. 2022]. 124 Sanders, Ort der Heilung (Anm. 9), S. 147. Vgl. ders., Partnerschule (Anm. 30), S. 58. 118

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zen, ihre Erfahrungen verstehen, ihre Emotionen deuten und evtl. nachempfinden kann. Empathie setzt aber nicht voraus, dass Geber und Empfänger ein Wir, also Teil einer Resonanz sind. In Resonanz zu sein, bedeutet für die sich öffnende Person die Erfahrung: „Mein Gegenüber ist ganz bei mir und versteht mich“. „Resonanz ist eine Erfahrung, die eine Beziehung voraussetzt“125. Papst Benedikt XVI. nennt diese Haltung „die liebevolle persönliche Zuwendung“126. Solches identifikatorisches Mitfühlen ist z. B. bei Beratung und richterlicher Vernehmung erforderlich, um mitmenschliche Begegnung zwischen Gerichtspersonal und Parteien127 überhaupt erst zu ermöglichen und im Rahmen einer förderlichen, von vorbehaltloser Annahme bestimmten impliziten Beziehungsgestaltung128 einen Erfahrungsraum zu schaffen, in dem die eigenen lebensgeschichtlich verorteten Verstrickungen sowie die damit verbundenen unwillkürlichen Denk- und Entscheidungsmuster bewusst werden können. Eine so gestaltete Willkommenskultur129 wird gleichsam zum Türöffner für gelingende Gespräche.

125

Sanders, Partnerschule (Anm. 30), S. 170. Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est von Papst Benedikt XVI. an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die gottgeweihten Personen und an alle Christgläubigen über die christliche Liebe. 25. Dezember 2005 (VApSt 171), Bonn 2006, S. 39, Nr. 28b. Vgl. ebd., S. 50, Nr. 34: „Das persönliche, innere Teilnehmen an der Not und am Leid des anderen wird so Teilgabe meiner selbst für ihn: Ich muss dem anderen, damit die Gabe ihn nicht erniedrigt, nicht nur etwas von mir, sondern mich selbst geben, als Person darin anwesend sein“. Der Papst weiter, ebd., S. 50, Nr. 35: „Dieses rechte Dienen macht den Helfer demütig. Er setzt sich nicht in eine höhere Position dem andern gegenüber, wie armselig dessen Situation im Augenblick auch sein mag. … Wer in der Lage ist zu helfen, erkennt, dass gerade so auch ihm selber geholfen wird und dass es nicht sein Verdienst und seine Größe ist, helfen zu können“. 127 Vgl. aber auch Wunibald Müller, Lieben hat Grenzen. Nähe und Distanz in der Seelsorge, Mainz 1998. So haben sich Berater:innen und insbesondere Richter:innen bei aller Resonanz mit den ihnen begegnenden Menschen und damit zusammenhängend bei allem auf dialogischer Wahrheitserkenntnis ausgerichtetem Ein- und Mitfühlen, dessen bewusst zu sein, dass sie die Balance von Nähe und Distanz zu wahren haben. Das bedeutet auch, selbstreflektierend wachsam zu sein, um etwaige Übertragungsfallen zu erkennen und zu vermeiden. 128 Vgl. Sanders, Explizites Bewusstsein (Anm. 30), S. 247 – 249; Ders., Ort der Heilung (Anm. 9), S.147 – 163. 129 Im allgemeinen Sprachgebrauch ist der Begriff „Willkommenskultur“ meist migrationspolitisch besetzt. Vgl. Samia Dinkelaker/Nikolai Huke/Olaf Tietje (Hrsg.), Nach der „Willkommenskultur“. Geflüchtete zwischen umkämpfter Teilhabe und zivilgesellschaftlicher Solidarität, Bielefeld 2021; Friedrich Heckmann, Willkommenskultur – Was ist das, und wie kann sie entstehen und entwickelt werden? Europäisches Forum für Migrationsstudien, Bamberg 2012. http://www.efms.uni-bamberg.de/pdf/efms%20paper%202012_7.pdf [Zugriff: 17. 11. 2022], mit Darstellung der verschiedenen Begriffsebenen; vgl. ebd., S. 2 – 3. Dennoch ist es sinnvoll, mit Sanders, Partnerschule (Anm. 30), S. 77 – 80, diesen Begriff zu benutzen. Vgl. hierzu im Einzelnen Rudolf Sanders, Willkommenskultur – Der Türöffner für gelungene Beratungsprozesse, in: Beratung als Profession. Die Online-Zeitung der DAJEB für Beraterinnen und Berater – Nr. 4 (2021), S. 2 – 5, hier S. 4. https://www.dajeb.de/fileadmin/dokumente/04-publika tionen/beratung-als-profession/beratung-als-profession-2020-4.pdf [Zugriff: 17. 11. 2022]. 126

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Dabei macht derjenige, der die Hilfe des kirchlichen Gerichts in Anspruch nimmt, dem Richter/der Richterin während eines Beratungsgesprächs oder während einer Anhörung gleichsam ein „Bindungsangebot. Selbst wenn dieser Kontakt zeitlich nur sehr begrenzt ist, entscheidet sich in den ersten Minuten auf einer impliziten unbewussten Ebene dieser intersubjektiven Begegnung der weitere Verlauf“130. Hier wird die besondere Verantwortung der Richter:innen für die konkrete Gesprächsgestaltung offensichtlich.131 Zunächst ist von den Richter:innen nicht nur kanonistische Fachkenntnis gefordert, sondern auch Wissen und die Sensibilität für das Thema Trauma und den sensiblen Umgang mit Menschen, die ein Trauma erlitten haben. Damit ein konstruktives Gespräch gelingen kann, haben sich die Richter:innen zunächst darum zu bemühen, dass sich ihre Gesprächspartner gut aufgehoben wissen, d. h. die Erfahrung einer sicheren Beziehung machen können.132 Dafür sollten die Richter:innen ihnen Wohlwollen und Sicherheit zur Verfügung stellen, um auf diese Weise Hoffnung bzw. gute Emotionen zu induzieren133, denn durch traumatische Erfahrungen geschädigte Menschen haben Schwierigkeiten damit, „sich eine Beziehung vorzustellen, die wirklich fürsorglich, frei gewählt und beiden Beteiligten gegenüber fair“134 ist. Daher ist es wichtig, dass derjenige, der sich auf ein Nichtigkeitsverfahren einlässt, implizit neue Bindungserfahrungen macht.135 Die anzustrebende sichere Bindung wird durch feinfühliges Interaktionsverhalten der Berater:innen oder der Untersuchungsrichter:innen gefördert. Gleiches gilt für eine dialogische Sprache, mit der die Affektzustände des Gegenübers angesprochen werden.136 Allerdings sollte man auch darauf achten, nicht zu viel des Guten zu tun, denn Personen mit bindungsvermeidendem Muster empfinden u. U. zu viel emotionale Nähe als Bedrohung, worauf sie ggf. mit einer distanzierenden Blockadehaltung reagieren.137

130

S. 2 f.

Sanders, Ort der Heilung (Anm. 9), S. 147; vgl. ders., Willkommenskultur (Anm. 129),

131 Vgl. hierzu die differenzierte Darstellung bei Sanders, Ort der Heilung (Anm. 9), S. 156 – 160. 132 Vgl. Luise Reddemann, Was ist gute Therapie für komplex traumatisierte Patientinnen und Patienten?, in: Christian Firus/Christian Schleier/Werner Geigges/Luise Reddemann (Hrsg.), Traumatherapie in der Gruppe. Grundlagen, Gruppenarbeitsbuch und Therapie bei Komplextrauma, Stuttgart 2012, S. 161 – 185, hier S. 164 – 170; Karin Griese/Alena Mehlau, Ein solidarischer, stress- und traumasensibler Ansatz zur multisektoriellen Unterstützung von Gewaltüberlebenden, in: Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 14 (2016), Heft 1, S. 4 – 16, hier S. 7. 133 Vgl. Klaus Grawe, Psychologische Therapie. Göttingen 1998, S. 21 f. Dabei sollten die kirchlichen Richter:innen nicht erwarten, dass die Parteien „ihnen vertrauen, sondern sollten mit ,Tests‘ rechnen“ (Reddemann, Therapie [Anm. 132], S. 169). 134 Reddemann, Therapie (Anm. 132), S. 167. 135 Vgl. Sanders, Ort der Heilung (Anm. 9), S. 159 f. 136 Vgl. Brisch, Bedeutung von Bindung (Anm. 38), S. 16. 137 Vgl. ebd., S. 25, 28.

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IV. Schlussfolgerung: Traumasensibilität als unverzichtbare Grundhaltung der Richter:innen und Bandverteidiger:innen in kirchlichen Ehenichtigkeitsprozessen Bei Menschen, die den Dienst des kirchlichen Gerichts erbitten, wurde oft durch ein psychisches Trauma das Gefühl von Sicherheit zerstört, das Urvertrauen in Mitleidenschaft gezogen, die eigene Selbstachtung ausgehöhlt und ein Gefühl von Hilflosigkeit erzeugt. Daher ist es eminent wichtig, dass ein Offizialat als sicherer Ort erlebt wird, der Wertschätzung, Struktur und Verlässlichkeit bietet, in dem diejenigen, die sich hilfesuchend an das Gerichtspersonal wenden, dieses als „verlässlich, einfühlsam und unterstützend erleben“138. Da Kontexte, in denen Dominanz eine Rolle spielt, Orte von Gewalterleben139 sind, in denen Erfahrungen von Gewalt mit ihren impliziten Reaktivierungen sowohl das Erinnerungsvermögen beeinträchtigen als auch im schlimmsten Fall zu Retraumatisierungen führen können, besteht die Aufgabe der kirchlichen Gerichtsmitarbeiter:innen darin, Ratsuchenden und Parteien gegenüber ein traumasensibles Verhalten zu praktizieren. Dieses ist bestimmt von Wertschätzung und Anerkennung der je persönlichen Realität sowie ganz grundlegend davon, einen geschützten Raum nicht nur anzubieten, sondern auch erfahrbar zu machen. Damit verbietet es sich, den Beweiswert von Parteiaussagen in Ehenichtigkeitsverfahren, die unter dem Caput einer psychisch bedingten Eheunfähigkeit geführt werden, angesichts etwaiger feststellbarer Widersprüche zu bestreiten. Dies gilt sowohl für die Schriftsätze der Ehebandverteidiger:innen als auch für die Beweisaufnahme und schlussendlich die Beweiswürdigung durch die Richter:innen. Solche Widersprüchlichkeiten oder sogar dokumentarisch nachweisbare faktische Unrichtigkeiten in Parteieinlassungen können nur Anlass sein, sowohl die ohnehin vom Gesetz geforderte gutachterliche Hilfe in Anspruch zu nehmen als auch die Sachverständigen, u. a. durch Nutzung schematherapeutischer Hilfestellungen, zu unterstützen. Des Weiteren besteht eine Aufgabe des kirchlichen Gerichtspersonals darin, eine traumasensible Beziehungskultur zu praktizieren, die bestimmt ist von vorbehaltloser Mitmenschlichkeit auf Augenhöhe. Dies verlangt von den Gerichtsmitarbeiter:innen, die erlittenen Verletzungen mit den Augen des Gegenübers zu sehen, wodurch gleichsam ein Gegenentwurf zu jeweils lebensgeschichtlich verorteten traumatisierenden Gewalterfahrungen angeboten und bestenfalls erfahrbar gemacht wird. Solche Menschenfreundlichkeit von Richter:innen und Bandverteidiger:innen

138

Mayer, Traumasensibles Arbeiten (Anm. 27), S. 18. So die Einschätzung von Andreas Zick (Anm. 77) in der auf 3sat am 27. 09. 2018 ausgestrahlten Sendung „Scobel, Psychische Gewalt“. https://www.3sat.de/wissen/scobel/psychi sche-gewalt-100.html [Zugriff: 17. 11. 2022]. 139

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äußert sich im Umgang mit den ihnen im Zuge von Ehenichtigkeitsverfahren anvertrauten Menschen u. a. in folgenden Grundhaltungen140: - Sie, d. h. Richter:innen und Ehebandverteidiger:innen, vertrauen auf die Selbstentwicklungsbedürfnisse der Menschen, bieten ihnen Halt und Orientierung und schaffen ihnen eine anregende Gesprächssituation, die zu eigenständigem Denken und Handeln ermutigt. - Ihnen ist Macht über andere Menschen nicht wichtig. Sie wollen den Menschen auf Augenhöhe begegnen und lassen ihnen den Raum, selbst autonom ihre Entscheidungen zu treffen, und wollen, dass sie aus sich heraus ihr Leben gestalten. - Sie setzen auf Ehrlichkeit, aufrichtige Mitmenschlichkeit, Bewusstmachung und Aufklärung. - Sie denken zudem über ihre eigene Innenwelt nach und reflektieren, durch welche eigenen Erfahrungen ihr Welt- und Menschenbild geprägt ist. - Sie gestehen sich ihre eigenen Fehler ein und lernen daraus für ihre Zukunft. - Sie schätzen den Dialog und die offene Diskussion. - Sie sehen nicht nur die Verhaltensweisen anderer Menschen, sondern versuchen, deren Motive dahinter zu ergründen, zu verstehen und inhaltlich nachzuvollziehen. Sie haben Mitgefühl mit anderen Menschen, wenn sie bemerken, dass diese mit ihrem Leben nicht zurechtkommen. Sie sehen das Entwicklungspotential in jedem Menschen. - Sie machen anderen Mut und Hoffnung. Sie verbreiten Zuversicht in Bezug auf die Zukunft. - Sie finden ihre Menschenfreundlichkeit als nicht sonderlich erwähnenswert. Sie leben sie einfach. - Für sie ist jeder einzelne Mensch wichtig und wertvoll unabhängig von Persönlichkeit, Geschlecht, Hautfarbe, nationaler Herkunft, religiöser oder sexueller Orientierung141. Im Zuge einer traumasensiblen Vorgehensweise in Ehenichtigkeitsverfahren sind schließlich auch diagnostische Katalogisierungen tunlichst zu vermeiden. Dies beginnt bereits bei der Formulierung der Prozessfrage und dient dem Schutz davor, dass etwa eine Persönlichkeitsstörung durch ein Eheverfahren überhaupt erst gene140

Die nachfolgenden Formulierungen sind entnommen: Franz Ruppert, Ich will leben, lieben und will geliebt werden. Ein Plädoyer für Lebensfreude und tiefe menschliche Verbundenheit, o. O. Aktualisierte und ergänzte Version, 05. Mai 2021, 87 f.; vgl. Hüther, Hirnforschung (Anm. 3), S. 140. 141 Vgl. Franz Kalde, Diversitäts- und Diskriminierungskategorien im Kirchenrecht. Ausgewählte Beispiele für Zugangskriterien zur Priesterweihe in Geschichte und Gegenwart, in: Barbara Brunnert/Winfried Haunerland/Stefan Kopp (Hrsg.), Der Vielfalt Raum geben. Zum ambivalenten Potenzial einer differenzsensiblen Kirche (= Kirche in Zeiten der Veränderung 14), Freiburg/Br. 2022, 104 – 122.

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riert wird.142 Es geht damit um die Vermeidung möglicher iatrogener Störungen143 sowie etwaiger Traumatisierungen bzw. Retraumatisierungen sowohl der jeweiligen betroffenen Person als auch der Angehörigen (z. B. der Kinder), sofern diese von etwaigen sachverständigen Diagnosen Kenntnis erlangen sollten. Solche dem Persönlichkeitsschutz und der Vermeidung psychischer Leiden dienende Vorsichtsmaßnahmen gelten insbesondere auch für die Urteilsausfertigungen sowie für die Schriftsätze der Ehebandverteidigung. Richter:innen und Bandverteidiger:innen sollten sich vor Augen halten, dass die mögliche Wirkung der Urteilsausfertigung und der Animadversionen „gut überlegt sein [müssen], da keinesfalls gewährleistet ist, dass nur die beiden Prozessparteien diese Texte lesen werden“144. Dies impliziert, dass sich alles kirchengerichtliche Arbeiten vom „Sinn für Menschlichkeit sowie von der Einfühlsamkeit, die für den Seelsorger charakteristisch sind, leiten“145 lassen muss. Die

142

So zurecht Bier, Eheverfahren (Anm. 81), S. 211. Dieser Begriff findet für das Phänomen Verwendung, wenn durch Diagnostik oder Beurteilungen im Rahmen einer psychologischen oder psychiatrischen Begutachtung psychische Störungen oder Befindlichkeitsbeeinträchtigungen generiert oder verstärkt werden. Vgl. Ralph Schlieper-Damrich, Iatrogene Neurose (https://www.krisenpraxis.de/2014/01/iatrogeneneurose/ [Zugriff: 17. 11. 2022]), die Erkenntnisse Viktor Frankls (vgl. Viktor E. Frankl, Theorie und Therapie der Neurosen, München 2007, S. 143 – 150; ders., Die Psychotherapie in der Praxis. Eine kasuistische Einführung für Ärzte [= Gesammelte Werke 3], Wien 2008, S. 101, 122, 124 f.) rezipierend: „Eine iatrogene Neurose kann durch unbedachte Äußerungen eines Arztes oder Therapeuten entstehen, die dem Patienten glauben machen, sein Zustand von Körper oder Psyche sei bedenklich. Menschen, die eine Ängstlichkeit im Leben aufweisen, sind für solche Aussagen besonders empfänglich und entsprechend gefährdet“. Vgl. Arthur Jores, Der iatrogene Kranke (Die Induzierung und Chronifizierung einer Diagnose durch den Arzt), in: Psychotherapeutische Psychosomatik 15 (1967), S. 142 – 152; Michael Thir, Das Verständnis der Persönlichkeitsstörungen in der Logotherapie und Existenzanalyse Viktor Frankls. Master Thesis zur Erlangung des akademischen Grades „Master of Science“ im Universitätslehrgang Psychotherapie Fachspezifikum Existenzanalyse und Logotherapie. Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Donau-Universität Krems. Wien 15. 7. 2019, S. 39, 43, 45, 46, 73, 75, 80. https://abile.org/images/wissenschaft/ masterthesen/MT_Thir.pdf [Zugriff: 17. 11. 2022]. Humorvoll und eingängig schildert dieses Phänomen der Lyriker Eugen Roth in seinem Gedicht „Einschüchterung“: „Von Wechseljahren weiß der Kenner, Dass sie gefährlich auch für Männer./Schon naht – sonst abhold der Verrohung – Der Fachmann mit massiver Drohung:/Sie haben Sand in den Gelenken! Sie können nicht mehr richtig denken!/Sie haben Kribbeln in den Beinen! Sie fangen grundlos an zu weinen./Sie sind versucht, sich selbst zu töten, Sie leiden unter Atemnöten,/Schweiß rinnt von ihnen, ganze Bäche! Sie fürchten sich vor Mannesschwäche!/Sie haben Angst vor Frauenzimmern! Sie leiden unter Augenflimmern!/Schlaflosigkeit und Nervenzucken, Fußkälte, Kopfweh, Schwindel, Jucken,/Ihr Herz beginnt zu klopfen, jagen, Müd sind Sie, nieder-, abgeschlagen!/Der Ärmste, der dies schauernd liest, Kriegt’s mit der Angst und sagt: ,Na, siehst!‘/Und nimmt – das war der Warnung Willen – Ab heut die guten Knoblauch-Pillen“ (Eugen Roth, So ist das Leben. Verse und Prosa, München 72003, S. 80). 144 Elisabeth Kandler-Mayr, Datenschutz in Verfahren kirchlicher Gerichte im Blick auf die zivilrechtliche Situation in Österreich, in: DPM 29 (2022), S. 37 – 55, hier S. 50. 145 Nikolaus Schöch, Synopse der Veränderungen gegenüber dem bisher geltenden Eheprozessrecht, in: DPM 23 (2016), S. 325 – 361, hier S. 358. 143

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in diesem Beitrag beschriebenen Prinzipien könnten hierfür den einen oder anderen Wegweiser bereitstellen. Angesichts der Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit von Menschen in den westlichen Gesellschaften146 von durch in ihrer Kindheit entwickelten maladaptiven Schemata geprägt wird und Traumata erlitten hat, durch welche die hippocampale Leistungsfähigkeit eingeschränkt wurde, ist vermutlich auch bei dem Personenkreis, der den Dienst der kirchlichen Ehegerichte in Anspruch nimmt, von einer hohen Zahl an nichtigen Ehen auszugehen.147 Papst Franziskus formuliert es ähnlich. Aus seiner Sicht sei die große Mehrheit der Ehen nichtig, weil die Nupturienten bei ihrem JaWort nicht wissen, was sie sagen.148 Leider müssen erfahrene Richter:innen, die sich mit den oben beschriebenen Zusammenhängen im Gerichtsalltag regelmäßig konfrontiert sehen, feststellen, dass „der Ruf nach Veränderung […] zugleich einem Gefühl lähmenden Stillstands gegenüber[steht]“149. So bleibt zu hoffen, dass die von Papst Franziskus den kirchlichen Richter:innen zu Recht ins Stammbuch geschriebene Grundhaltung der Synodalität150 umgesetzt wird, wonach „die einzige erlaubte Art, auf eine Person herabzusehen, darin besteht, ihr die Hand zu reichen, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Die einzige. Und das ist die Sendung, die Jesus der Kirche anvertraut hat“151.

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Vgl. Sequeira, Trauma (Anm. 53), 40. Dabei ist es unbestritten, dass es viele Menschen gibt, die nicht an Traumafolgen leiden müssen. So hat z. B. ein stabiles, haltgebendes Umfeld einen schützenden Effekt. 148 Vgl. die von Papst Franziskus vorgetragenen Antworten auf die ihm gestellten Fragen anlässlich seiner am 16. Juni 2016 in der Lateranbasilika gehaltenen Ansprache. Papst Franziskus spricht nachweislich der Videoaufzeichnung davon, dass „eine große Mehrheit unserer sakramentalen Ehen nichtig“ („per questo una grande maggioranza dei nostri matrimoni sacramentali sono nulli“) sei. In den AAS 108 (2016), S. 749 – 762, hier S. 760, ist dieses Diktum anders abgedruckt: „E per questo una parte dei nostri matrimoni sacramentali sono nulli“. 149 Severin J. Lederhilger, „Es muss sich etwas ändern“. Zeit der Reformen – Anstöße der Reformation. 18. Ökumenische Sommerakademie Kremsmünster 2016 (= SKUL 3), Regensburg 2017, S. 7 – 16, hier S. 7. 150 „Dies bedeutet, dass der Richter stets die Konsequenzen seines Handelns zu bedenken, dabei jegliche Gefährdungen und emotionale Verletzungen der ihm anvertrauten Menschen auszuschließen hat. Gleiches gilt mit Selbstverständlichkeit auch für den Ehebandverteidiger“ (Karl-Heinz Selge, Synodalität und kirchliche Eherechtsprechung. Die Ansprache Papst Franziskus’ vom 27. Januar 2022 an die Mitglieder des Gerichts der Römischen Rota zur Eröffnung des Gerichtsjahres, in: DPM 29 [2022], S. 275 – 282, hier S. 280). 151 Franziskus, Angelus vom 07. 02. 2021. Deutscher Übersetzungstext. https://www.vati can.va/content/francesco/de/angelus/2021/documents/papa-francesco_angelus_20210207.html [Zugriff: 17. 11. 2022]. Italienischer Originaltext. https://www.vatican.va/content/francesco/it/ angelus/2021/documents/papa-francesco_angelus_20210207.html [Zugriff: 17. 11. 2022]. 147

V. Interreligiöses/ökumenisches Recht und Religionsrecht

Ambivalenz des Rechts und ambivalente Einstellungen zum Kirchenrecht: Evangelische und katholische Ansätze im 20. Jahrhundert Burkhard Josef Berkmann I. Einleitung „Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.“ Dieser Immanuel Kant zugeschriebene Denkspruch bewahrheitet sich im Leben eines Kanonisten wie Severin Lederhilger, der sowohl in der Theorie als auch in der Praxis verwurzelt ist. Viele kennen sein „praktisches“ Standbein als Generalvikar und Vizeoffizial. Ebenso wichtig ist aber sein „theoretisches“ als Professor für Kirchenrecht und als Wissenschaftler, der sich in seiner Doktorarbeit an der Lateranuniversität mit dem „Ius divinum bei Hans Dombois“1 beschäftigt hat. Das ist zweifellos ein theoretisches Thema, dessen Bearbeitung für die Praxis aber bestimmt wertvolle Einsichten geliefert hat. Der Verfasser des vorliegenden Beitrags lernte den Jubilar in der praktischen Zusammenarbeit kennen und schätzen, möchte an dieser Stelle aber auf den Themenkreis zurückkommen, in dem sich die Doktorarbeit bewegte. Wie Lederhilger schreibt, gehören die Arbeiten von Hans Dombois zusammen mit jenen von Erik Wolf und Johannes Heckel zu den großen Entwürfen evangelischer Rechtstheologie der Nachkriegszeit.2 Dabei versuchte Dombois, die Wissenschaft vom Kirchenrecht immer in ökumenischer Perspektive zu betreiben, und in der Tat entstanden in jener Zeit auch auf katholischer Seite bedeutsame Entwürfe einer Theologie des Kirchenrechts, wenn man nur an Hans Barion, Gottlieb Söhngen und Klaus Mörsdorf denkt. In gewisser Weise versuchen sie alle, eine Antwort auf die Infragestellung des Kirchenrechts durch Rudolph Sohm zu geben. Dieser deutsche Rechtshistoriker erblickte am Anfang des 20. Jahrhunderts einen Widerspruch zwischen dem Wesen des Rechts und dem Wesen der Kirche. Um dies zu verstehen, ist es nötig zu wissen, dass er das Recht primär als staatliche Zwangsordnung, die Kirche aber als charismatische Gemeinschaft der Gläubigen betrachtete. An dieser extremen, dualistischen Position wird deutlich, dass die Weise, wie jemand das Verhältnis von Recht und Kirche sieht, davon abhängt, ob die Sicht von Recht und Kirche selbst 1

Severin J. Lederhilger, Das „Ius divinum“ bei Hans Dombois, Wien 1994. Severin J. Lederhilger, Hans Adolf Dombois (1907 – 1997), in: 60 Porträts aus dem Kirchenrecht. Leben und Werk bedeutender Kanonisten, Philipp Thull (Hrsg.), St. Ottilien 2017, S. 505 – 514, hier S. 508. 2

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eine positive oder negative ist. Ausgehend von dieser These lohnt es sich zu untersuchen, wie sich eine negative oder positive Einstellung zum Recht bei verschiedenen Autoren auf deren Position zum Kirchenrecht auswirkt. Im vorliegenden Beitrag kann dies nur ansatzweise geschehen – beschränkt auf zwei evangelische und zwei katholische Positionen, die im 20. Jahrhundert vertreten wurden und versuchen, das Kirchenrecht auf eine theologische Grundlage zu stellen. Dabei wird sich die Ambivalenz des Rechts im Allgemeinen zeigen, insofern es sich nicht in ein SchwarzWeiß-Schema einordnen lässt. Ebenso werden sich ambivalente Einstellungen zum Kirchenrecht zeigen. Die Frage des Verhältnisses von Recht und Religion stellt sich aber nicht nur in christlichen Konfessionen, sondern in vielen Religionen. Auch in letzteren lassen sich ambivalente Positionen zum Recht ausmachen. Daher soll zunächst dieser breite Horizont in den Blick genommen werden. II. Positive und negative Sicht des Rechts in den Religionen Ein Vergleich zwischen den internen Rechtsordnungen der verschiedenen Religionen offenbart widersprüchliche Vorstellungen vom Recht. Im Judentum und im Islam wird das Recht weitgehend positiv wahrgenommen. Das Judentum ist eine Religion, in der das Gesetz eine zentrale Rolle spielt. Zum wesentlichen Inhalt des Sinai-Bundes, der von fundamentaler Bedeutung ist, gehört, dass sich das Volk Israel zu einer beträchtlichen Menge an Rechtsnormen verpflichtet hat: „Welche große Nation besäße Gesetze und Rechtsvorschriften, die so gerecht sind wie alles in dieser Weisung, die ich euch heute vorlege?“ (Dtn 4,8). Das Judentum ist eine Religion der Praxis, in der es um korrektes Verhalten geht, d. h. um ein Verhalten, das mit dem Gesetz übereinstimmt.3 Was den Islam betrifft, so hat vor allem der sunnitische Zweig den Ruf, eine stark auf das Recht ausgerichtete Tradition zu sein.4 Im Gegensatz dazu betrachteten die Daoisten und Konfuzianisten das geschriebene Recht als eine Verletzung der sozialen Ordnung, die Disharmonie hervorruft. Der Daoismus nimmt eine kritische Haltung gegenüber dem Gesetz ein, da Gesetze lediglich Interessengruppen dienen und eine Zunahme von Gesetzen nur zu einer Zunahme von Übertretungen führt.5 Das konfuzianische Konzept des Gesetzes ist das des Lıˇ. Es bezeichnet die Gesamtheit aller Formen des Umgangs und Verhaltens, die einen guten Menschen und eine intakte soziale Ordnung ausmachen. Es basiert auf der natürlichen Ordnung.6 Für den Konfuzianismus sind Gerichtsverfahren ein Übel, 3 Burkhard Josef Berkmann, Internes Recht der Religionen. Einführung in eine vergleichende Disziplin, Stuttgart 2018, S. 57. 4 Ibid. S. 62. 5 Cf. H. Patrick Glenn, Legal Traditions of the World. Sustainable diversity in law, Oxford 2014, S. 317 f. 6 Luke T. Lee/Whalen W. Lai, The Chinese Conception of Law. Confucian, Legalist, and Buddhist, in: Law and Religion, Gad Barzilai (Hrsg.), Aldershot 2007, S. 203 – 225, hier S. 205.

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denn es ist besser, Kompromisse einzugehen, als auf sein Recht zu pochen.7 Es steht in direktem Gegensatz zum Konzept des Gesetzes im chinesischen Legalismus: Faˇ . Demnach ist Gesetz das, was vom Herrscher als Gesetz geschaffen wird.8 Es geht einher mit offiziellen Gesetzbüchern und einer zentralisierten Bürokratie.9 Die Legalisten bestanden auf der völligen Gleichheit aller Menschen vor dem Faˇ , im Gegensatz zur konfuzianischen Annahme der Ungleichheit der Menschen.10 Während der Konfuzianismus das Gesetz selbst als einen Verstoß gegen die soziale Ordnung ansah, zielte der Legalismus bewusst darauf ab, die alte soziale Ordnung zu beseitigen und neu zu gestalten.11 Im Lıˇ bot der Konfuzianismus einen Mittelweg zwischen der Skepsis gegenüber dem Gesetz im Daoismus und dem Positivismus des Faˇ .12 III. Biblische und theologische Sicht des Rechts im Christentum Das Christentum hat von Anfang an eine ambivalente Haltung gegenüber dem Gesetz eingenommen. Die Erlösung wird keinesfalls von der Einhaltung der Gesetze erwartet. Ein gewisses Maß an Skepsis gegenüber dem Gesetz ist in einigen Passagen des Neuen Testaments zu erkennen.13 Der biblische Befund ist aber keineswegs eindimensional. Jesus Christus betonte, er sei nicht gekommen, um das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen (Mt 5,17). Paulus stellte die Gnade über das Gesetz,14 schuf aber zugleich die ersten Kirchenordnungen für seine Gemeinden.15 7

Ibid. S. 206. Ibid. S. 203. 9 Ibid. S. 205. 10 Ibid. 11 Randall Peerenboom, Law and Religion in early China, in: Religion, Law and Tradition. Comparative studies in religious law, Andrew Huxley (Hrsg.), London 2002, S. 84 – 107, hier S. 87. 12 Cf. Glenn, Traditions (Anm. 5), S. 318. 13 Z. B. Mk 2,27: „Und Jesus sagte zu ihnen: Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat.“ Joh 1,17: „Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit kamen durch Jesus Christus.“ 14 Röm, 6,14: „Denn die Sünde wird nicht mehr über euch herrschen; denn ihr steht nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade.“ und Röm 10,4: „Denn Ziel des Gesetzes ist Christus zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt.“ Gal 3,13: „Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes freigekauft, indem er für uns zum Fluch geworden ist; denn es steht geschrieben: Verflucht ist jeder, der am Holz hängt.“ 15 Z. B. 1 Kor 16,15 – 18: „Ordnet euch ihnen unter, ebenso ihren Helfern und Mitarbeitern!“ 1 Thess 5,12: „Wir bitten euch, Brüder: Erkennt die unter euch an, die sich solche Mühe geben, euch im Namen des Herrn zu leiten und zum Rechten anzuhalten.“ Phil 1,1: „Paulus und Timotheus, Knechte Christi Jesu, an alle Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi sind, mit ihren Bischöfen und Diakonen.“ Eph 4,11: „Und er gab den einen das Apostelamt, andere setzte er als Propheten ein, andere als Evangelisten, andere als Hirten und Lehrer“ 1 Kor 12,28 – 30: „So hat Gott in der Kirche die einen als Apostel eingesetzt, die andern als Propheten, die dritten als Lehrer; ferner verlieh er die Kraft, Wunder zu tun, sodann die Gaben, Krankheiten zu heilen, zu helfen, zu leiten, endlich die verschiedenen Arten von Zungenrede.“ 8

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Schritte in Richtung einer Rechtsordnung für die Jerusalemer Urkirche und die von Paulus gegründeten Gemeinden finden sich bereits im Neuen Testament.16 Schon in den ersten Jahrhunderten entstanden Rechtssammlungen wie die Didache und die Apostolischen Konstitutionen.17 Große Gestalten des Mittelalters hatten eine positive Sicht des Rechts, insbesondere des Kirchenrechts, das mit Gerechtigkeit in Verbindung gebracht wurde. Von Gratian, dem herausragenden Kanonisten des 12. Jahrhunderts, ist der Satz überliefert: „Recht wird es genannt, weil es gerecht ist.“18 Thomas von Aquin, der einflussreichste Theologe des 13. Jahrhunderts, betrachtete das Gesetz als Anordnung der Vernunft (ordinatio rationis).19 Er schlussfolgerte, dass das Recht Gegenstand der Gerechtigkeit ist.20 Die Wurzeln dieses Rechtsverständnisses liegen in der griechischen Philosophie und im römischen Recht. Für Aristoteles ist alles Gesetzliche im weitesten Sinn etwas Gerechtes.21 Der bedeutende römische Rechtsgelehrte Ulpian (170 – 228) bezeichnete das Recht als die Kunst des Guten und Gerechten.22 Unter Gerechtigkeit verstand er den unwandelbaren und dauerhaften Willen, jedem sein Recht zu gewähren.23 Hingegen stellten spiritualistische Tendenzen, die innerhalb der Christenheit immer wieder aufkamen, das Kirchenrecht in Frage. Beispiele sind Joachim von Fiore im 12. Jh. und Marsilius von Padua im 14. Jh.24 Ähnliche Ideen kamen im Umfeld der Reformation wieder auf, z. B. bei Thomas Müntzer. Martin Luther verbrannte 1520 in Wittenberg das mittelalterliche Kirchen-

16 Z. B. Apg 14,23: „In jeder Gemeinde bestellten sie durch Handauflegung Älteste und empfahlen sie mit Gebet und Fasten dem Herrn, an den sie nun glaubten.“ Vgl. die Ämterspiegel der Pastoralbriefe: 1 Tim 3,2 – 7 für die Episkopen; 1 Tim 3,8 – 13 für die Diakone; Tit 1,6 – 9 für die Ältesten/Presbyter. 17 Vgl. Georg May, Art. Kirchenrechtsquellen – Katholische, in: TRE XIX, S. 1 – 44, hier S. 3. 18 „Ius autem est dictum, quia iustum est.“ D 1, 2. 19 „ … quaedam rationis ordinatio ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis habet, promulgata.“ Thomas von Aquin, STh Ia-IIae qu. 90 art. 4. 20 „Unde manifestum est quod ius est obiectum iustitiae.“ Thomas von Aquin, STh II-II, q. 57, a. 1. 21 Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 3: „Wer die Gesetze mißachtet, ist ungerecht, so hatten wir gesehen, wer sie achtet, ist gerecht. Das heißt also: alles Gesetzliche ist im weitesten Sinn etwas Gerechtes.“ dt. übers. v. Franz Dirlmeier, Stuttgart 1969. 22 „Ius est ars boni et aequi.“ Dig. I.1.1. 23 „Iustitia est perpetua et constans voluntas ius suum unicuique tribuendi.“ Dig. I,1,10. 24 Vgl. Marsilius von Padua, Defensor Pacis, Schlussfolgerungen Nr. 14: „Principatum seu iurisdiccionem coactivam supra quemquam clericum aut laicum, eciam si hereticus extet, episcopum vel sacerdotem inquantum huiusmodi nullam habere.“ Nr. 16: „Excommunicare quemquam absque fidelis legislatoris auctoritate ulli episcopo vel presbytero aut ipsorum collegio non licere.“

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recht.25 Allerdings erstellte Melanchthon schon 1530 ein Exzerpt aus dem Decretum Gratiani, welches das Wohlgefallen Luthers fand und den frühen evangelischen Gemeinden als rechtliche Ordnung diente.26 Gemäß der evangelischen Ekklesiologie unterliegt die verborgene Kirche des Glaubens keiner gesetzlichen Regelung. Nur historisch konkrete Kirchen können daher eine rechtliche Verfassung haben. Der Inhalt des Kirchenrechts wurde unter dem Gesichtspunkt der Funktionalität bewertet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte der protestantische Rechtshistoriker Rudolph Sohm die Trennung von geistlicher und weltlicher Sphäre weiter, indem er behauptete, das Kirchenrecht stehe im Widerspruch zum Wesen der Kirche. Denn das Wesen der Kirche sei geistlich, das Wesen des Rechts aber weltlich.27 Er sprach dem Kirchenrecht jegliches eigene Existenzrecht ab, indem er argumentierte, dass die frühe Kirche keine rechtliche Verfassung hatte, sondern von einer Macht beherrscht wurde, die er „Charisma“ nannte. Freilich entsprach sein Rechtsverständnis dem seiner Zeit. Das Recht wurde damals vor allem als Zwangsordnung betrachtet. Die negativen Seiten standen also im Vordergrund und erschienen ihm für die Kirche nicht passend. Seine Kritik löste sowohl auf evangelischer als auch auf katholischer Seite mehrere Versuche aus, die Existenz des Kirchenrechts zu rechtfertigen. Einzelne sollen im Folgenden vorgestellt und miteinander verglichen werden. IV. Kirchenrechtstheologische Entwürfe im 20. Jahrhundert 1. Evangelischer Bereich a) Heckel Johannes Heckel lebte von 1889 bis 1963 und war ein evangelischer Staats- und Kirchenrechtler. Der Titel seines Hauptwerkes lautet programmatisch: „Lex Charitatis“, also „Gesetz der Liebe“. Darin untersucht er Luthers Werk auf Äußerungen zum Kirchenrecht und kommt schließlich zu einem dualistischen Konzept. Seine Antwort auf Sohm lautet: Staatliches und kirchliches Recht sind wesensmäßig verschieden. Er schreibt: „Auszugehen ist von dem eschatologischen Dualismus der Naturrechtslehre Luthers. Man hat zu unterscheiden zwischen dem göttlichen Naturgesetz als der Rechtsordnung des Reiches Christi und dem weltlichen Naturrecht als der obersten Rechtsordnung des Reiches der 25

Aufgrund Luthers eigener Aussage (WA 7, 180, 13 – 17) ist anzunehmen, dass er nicht nur die päpstlichen Dekretalen des Mittelalters, sondern auch das Decretum Gratiani verbrannte, denn soweit etwas Gutes drin wäre, wie er vom Decretum ausdrücklich bekannte, so gereiche doch alles zum Schaden und zur Stärkung des päpstlichen Regiments, vgl. Martin Brecht, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483 – 1521, Stuttgart 21983, S. 406; Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation in Deutschland, Berlin 2016, S. 288; John Witte, Law and Protestantism. The Legal Teachings of the Lutheran Reformation, Cambridge 2009, 53. 26 Witte, Law and Protestantism (Anm. 25), S. 72. 27 Cf. Rudolph Sohm, Kirchenrecht, 1. Bd., Berlin 1923, S. 1.

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Welt. Jenes ist von Christus geistlich ausgelegt worden. Dieses hat seine bis heute vorbildliche materiellrechtliche Fassung durch Moses im Dekalog erhalten. Beide Rechtsordnungen haben ihre Einheit in dem göttlichen Rechtswillen. Aber er wirkt in den beiden Reichen verschieden, im Reich Christi als lex charitatis spiritualis, im Reiche der Welt als lex irae et mortis.“28

Plastischer könnten die positiven und negativen Seiten des Rechts einander nicht gegenübergestellt werden. Die positiven werden dem Reich Christi, die negativen der Welt zugeordnet. Die These Heckels läuft auf eine Spiritualisierung und eine theologische Überhöhung des Kirchenrechts hinaus. Heckel muss aber auf der Ebene der sichtbaren Kirche ein autonomes Kirchenrecht annehmen, das dem äußeren Kirchenregiment dient und das lediglich aus Notwendigkeit und kraft des Konsenses der Gläubigen Bestand hat.29 Damit gibt er selbst zu, dass er die These von der Grundverschiedenheit des Rechtsbegriffs nicht durchhalten kann. b) Dombois Hans Dombois lebte von 1907 bis 1997 und war ein evangelischer Jurist und Kirchenrechtler, der sich in rechtstheologischer Argumentation für die Grundlegung eines ökumenischen Kirchenrechts einsetzte. Sein dreibändiges Hauptwerk trägt den Titel: „Das Recht der Gnade. Ökumenisches Kirchenrecht“. Er betrachtete das Kirchenrecht über die konfessionellen Grenzen und die geschichtlichen Epochen hinweg und versuchte ein ökumenisches Kirchenrecht systematisch zu begründen. Im Unterschied zu Sohm, wendet sich Dombois gegen einen normativistisch-positivistischen Rechtsbegriff, gegen die Gleichsetzung von Recht und Gesetz und gegen eine Beschränkung auf die koerzitive Seite.30 Im Unterschied zu Heckel hält er an einem einheitlichen Rechtsbegriff fest.31 Sein Rechtsbegriff bleibt aber bewusst vage, weil er meint, dass sich Recht nicht definieren lasse.32 Den Gegensatz von Recht und Gnade versucht er dadurch zu überwinden, dass er das Recht direkt aus der Gnade ableitet. Er deutet das Kirchenrecht als einen Komplex von Vorgängen, in denen sich das Verhältnis zwischen Gott und Mensch selbst unmittelbar vollzieht.33 Er schreibt: 28

Johannes Heckel, Lex Charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers, Köln 21973, S. 202 f. 29 Johannes Heckel, Kirche und Kirchenrecht nach der Zwei-Reiche-Lehre, in: ders., Lex Charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers, Martin Heckel (Hrsg.), Köln 21973, S. 354 – 409, hier S. 374 f. 30 Vgl. Lederhilger, Ius divinum (Anm. 1), S. 99. 31 Vgl. ibid. S. 96. 32 Hans Dombois, Das Recht der Gnade. Ökumenisches Kirchenrecht, 1. Bd., Witten 1961, S. 216. Vgl. Lederhilger, Ius divinum (Anm. 1), S. 97. 33 Michael Germann, Die Diskussion über die Grundlagen des evangelischen Kirchenrechts, in: Handbuch des Evangelischen Kirchenrechts, Tübingen 2016, S. 46 – 80, hier S. 67.

Ambivalenz des Rechts und ambivalente Einstellungen zum Kirchenrecht

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„Gnade ist ein Rechtsvorgang, in welchem zwischen zwei Personen ein zerstörtes Rechtsverhältnis wiederhergestellt oder ein neues begründet wird. Der einseitig berechtigte Geber lässt kraft überlegener Rechtsmacht durch eine konkrete Zuwendung dem Nichtberechtigten eine Neubegründung oder Mehrung seines Rechtsstandes als freie nichtgeschuldete Begünstigung zukommen. Die Gnade bedarf der Annahme durch den Begünstigten. Sie ist nicht von eigenen Leistungen des Empfängers abhängig. Aber sie verpflichtet diesen im Rechtssinne zur Dankbarkeit. Eine Verletzung dieser Verpflichtung würde zur Verwirkung der Vergünstigung führen.“34

Dombois erkennt in der relationalen und personalen Struktur rechtlichen Handelns eine Analogie zum theologischen Rechtfertigungsgeschehen der Gnade, die in der Zuwendung Gottes zum Menschen, als einer für diesen existentiellen Relation, ihm Rechtspersönlichkeit vor Gott als freie Gabe einräumt, und zwar durch Wiederherstellung eines früheren Rechtsverhältnisses oder Begründung eines neuen Status.35 So gelangt Dombois auf theologischer Grundlage nicht zu einem dualistischen, sondern zu einem eindeutig positiven Begriff des Rechts und zwar des Rechts im Allgemeinen sowie des Kirchenrechts als eines Sonderfalls desselben. Es bleibt aber die Frage, ob die Gnade überhaupt in rechtlichen Begriffen fassbar ist. Dombois musste sich gerade im evangelischen Bereich die Kritik einer unzulässigen Juridifizierung geistlichen Handelns bei gleichzeitiger theologischer Überhöhung des Rechts gefallen lassen.36 2. Katholischer Bereich In der katholischen Theologie wird das inkarnatorische Prinzip auf die Kirche angewandt. So wie Jesus Christus sowohl wahrer Gott als auch wahrer Mensch ist, so wächst auch in der Kirche das göttliche und das menschliche Element zu einer einzigen komplexen Wirklichkeit zusammen.37 Die Kirche ist daher nicht nur eine geistliche Gemeinschaft, die sich einer rechtlichen Regelung entzöge, sondern auch eine sichtbare Versammlung, die, wie jede menschliche Gesellschaft, eine rechtliche Ordnung braucht. a) Barion Auf katholischer Seite setzte sich schon früh Hans Barion (1899 – 1973) mit der These Sohms auseinander. Er erkannte, dass eine Entgegnung auf Sohm vom Kir34

Dombois, Recht der Gnade (Anm. 32), S. 178 f. Lederhilger, Ius divinum (Anm. 1), S. 100. 36 Vgl. Lederhilger, Portrait (Anm. 2), S. 513. 37 Art. 8 Abs. 1 Lumen Gentium: „Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst.“ 35

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chenbegriff ausgehen und daher in theologischer Weise geschehen muss.38 So schrieb er: „Der Glaube bestimmt den Kirchenbegriff, der Kirchenbegriff bestimmt das Kirchenrecht. Wer sich zur Glaubensüberzeugung Sohms bekennt, dem fällt es schwer, […] das Kirchenrecht zu begründen; der Katholik muß von seinem Glaubensstandpunkt aus, nicht um juristischer Überlegungen willen, Sohms Gedanken ablehnen und das Kirchenrecht anerkennen.“39 Barion verknüpft die Grundlagen des Kirchenrechts mit der Herrschaft in der Kirche. Er sagt weiter: „Die Hierarchie trägt das kirchliche Recht, sie wird getragen vom göttlichen Recht.“40 Letztlich begnügt sich Barion aber mit der Aussage, dass Christus die Kirche gewollt und ihr eine rechtliche Struktur eingestiftet hat. Ein solches Argument hätte Sohm selbst aber bekämpft.41 Um Sohm zu begegnen, wäre es nötig gewesen, das Kirchenrecht aus dem Wesen der Kirche zu begründen.42 b) Mörsdorf und Corecco Genau diesen Versuch unternahm Klaus Mörsdorf (1909 – 1989). Das Wesen der Kirche zeigt sich ihm zufolge in ihren Wesensvollzügen, nämlich in der Verkündigung des Wortes Gottes und in der Feier der Sakramente. Diese nun weisen nach Mörsdorf selbst einen rechtlichen Charakter auf.43 „Rechtlichen Charakter hat die Wortverkündigung in der Kirche dadurch, dass sie in der Vollmacht des Herrn geschieht.“44 Der rechtliche Anspruch der Wortverkündigung wird durch die stellvertretende Bevollmächtigung der Apostel in der jüdischen Rechtsform des Schaliach vermittelt.45 Den Rechtscharakter des Sakraments erläutert Mörsdorf auch anhand des Rechtssymbols. Das Sakrament ist nicht nur Sinnbild einer Heilswirklichkeit, die an sich unsichtbar ist; es ist auch wirksames Sinnbild. Dadurch ist es mit dem Rechtssymbol verwandt, das die Kraft hat, etwas auszusagen oder zu bewirken, was rechtsverbind-

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Ludger Müller, Recht und Kirchenrecht, in: HdBKathKR3, S. 12 – 31, hier S. 22. Hans Barion, Rudolph Sohm und die Grundlegung des Kirchenrechts. Bonner Antrittsvorlesung (= Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart. Heft 81), Tübingen 1931, S. 26 f. 40 Hans Barion, Erwiderung: Eunomia. Freundesgabe für Hans Barion zum 16. Dezember 1969, Privatdruck o. O. o. J., S. 203 – 219, hier S. 216. 41 Vgl. Müller, Recht und Kirchenrecht (Anm. 38), S. 22. 42 Vgl. Peter Krämer, Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts. Die rechtstheologische Auseinandersetzung zwischen Hans Barion und Joseph Klein im Licht des II. Vatikanischen Konzils (= Trierer Theologische Studien 33), Trier 1977, S. 62. 43 Klaus Mörsdorf, Wort und Sakrament als Bauelemente der Kirchenverfassung, in: AfkKR 134 (1965), S. 72 – 79, hier S. 76. 44 Ibid. S. 79. 45 Mörsdorf, Wort und Sakrament (Anm. 43), S. 51; Klaus Mörsdorf, Kanonisches Recht als theologische Disziplin, in: AfkKR 145 (1976), S. 45 – 58, hier S. 52. 39

Ambivalenz des Rechts und ambivalente Einstellungen zum Kirchenrecht

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lich ist.46 Zum einen haben viele Sakramente unmittelbare Rechtswirkungen in der Kirche. Zum anderen bedürfen sie einer rechtlichen Ordnung, damit ihre Authentizität gewährleistet ist. Die Stärke dieses Ansatzes liegt darin, das Kirchenrecht wirklich aus dem Wesen der Kirche zu begründen. Eine Schwäche besteht hingegen darin, dass der Rechtsbegriff ungeklärt bleibt. Das Recht in der Kirche ist nicht dasselbe wie das Recht im Staat. Das kanonische Recht ist für Mörsdorf ein ius sacrum, das von weltlichem Recht vollends verschieden ist.47 Corecco, ein Schüler Mörsdorfs, trieb diesen Ansatz ins Extrem. Ihm zufolge ist das Kirchenrecht vom staatlichen Recht in der Gesamtheit seiner Elemente verschieden.48 Die Andersartigkeit des Kirchenrechts zeigt sich auch darin, dass es ihm weniger um die Tugend der Gerechtigkeit geht als vielmehr um die Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe.49 Die kirchliche Tradition betrachtete das Recht gemäß Thomas von Aquin als Anordnung der Vernunft (ordinatio rationis). Dagegen bezeichnet Corecco das Kirchenrecht, im Unterschied zum weltlichen Recht, als Anordnung des Glaubens (ordinatio fidei).50 Das begründet er damit, dass die Vernunft in unserem modernen Kulturkreis von jedem strukturellen Zusammenhang mit dem Glauben gelöst ist.51 Das Verhältnis zwischen dem Gläubigen und der Hierarchie ist nach Corecco ein fundamental anderes als zwischen dem Bürger und dem Staat.52 Die Autonomie, die der Bürger gegenüber dem Staat braucht, lasse sich nicht im selben Sinne auf das Verhältnis zwischen den Gläubigen und der Hierarchie anwenden, weil beide Teil der kirchlichen Communio seien.53 Daher sei es in Streitfällen wichtiger, Prozesse zu vermeiden. Das Prozessverfahren, das im Rechtsstaat unabdingbar ist, könnte in der Kirche durch andere Instrumente der heiligen Gewalt ersetzt werden.54 Eine solche Sicht erinnert sehr stark an die eingangs skizzierte Position von Daoismus und Konfuzianismus, die den Rechtsstreit zugunsten von Harmonie vermeiden wollen.

46 Winfried Aymans/Klaus Mörsdorf, Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici, 1. Bd., Paderborn 1991, S. 31. 47 Mörsdorf, Kanonisches Recht (Anm. 45), S. 57 f. 48 Eugenio Corecco, Theologie des Kirchenrechts. Methodologische Ansätze, Trier 1980, S. 98. 49 Eugenio Corecco, Theologie des Kirchenrechts, in: ders., Ordinatio fidei. Schriften zum kanonischen Recht, Libero Gerosa/Ludger Müller (Hrsg.), Paderborn 1994, S. 3 – 16. 50 Eugenio Corecco, „Ordinatio rationis“ oder „ordinatio fidei“. Anmerkungen zur Definition des kanonischen Gesetzes, in: ders., Ordinatio fidei. Schriften zum kanonischen Recht, Libero Gerosa/Ludger Müller (Hrsg.), Paderborn 1994, S. 17 – 35, hier S. 35. 51 Ibid. S. 31. 52 Eugenio Corecco, Ekklesiologische Grundlagen des Codex Iuris Canonici, in: Concilium 22 (1986), S. 166 – 172, hier S. 171. 53 Ibid. 54 Ibid. S. 168.

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V. Unbequeme Seiten des Rechts für die Kirche wichtig Die in diesem Beitrag dargestellten evangelischen und katholischen Positionen, die in Deutschland im 20. Jahrhundert vertreten wurden, sind einander in einem Punkt sehr ähnlich: Sie begründen das Kirchenrecht theologisch. Manche von ihnen – speziell Heckel und Corecco – gehen noch weiter, indem sie das Kirchenrecht selbst zu einer theologischen Wirklichkeit machen, die sich grundlegend vom weltlichen Recht unterscheidet. Dieses Ergebnis des Vergleichs mag überraschen, weil die katholische und evangelische Ekklesiologie doch ziemlich stark divergieren. Gewiss werden sowohl im evangelischen als auch im katholischen Bereich noch andere Positionen vertreten, die hier außer Acht blieben. Aber die erwähnten sind von besonderem Interesse im Hinblick auf die positiven und die negativen Seiten des Rechts. Heckel und Corecco spalten den Rechtsbegriff auf und entwickeln für die Kirche einen eigenen theologisch verbrämten, weil sie der Meinung sind, dass die negativen Seiten des Rechts der Kirche nicht angemessen seien. Im Unterschied dazu entwickelt Dombois einen univoken, positiv besetzten Rechtsbegriff. Nicht nur das Recht ist etwas Ambivalentes, sondern auch die Religion. Die Betonung von Gemeinschaft und Liebe birgt die Gefahr, dass das Recht spiritualisiert und die Harmonie in der Kirche zu Lasten von Freiheit und Gerechtigkeit überbetont wird.55 Konflikte, die zum Beispiel zwischen der Hierarchie und den Gläubigen entstehen können und die gerade einer Lösung auf dem Rechtsweg bedürften, würden leicht als pathologisch erscheinen.56 Die Skandale der letzten Jahre in den Bereichen Sexualstrafrecht, Vermögensverwaltung und Machtmissbrauch zeigen, dass die katholische Kirche selbst dunkle Seiten hat. Sie sind unter anderem eine Folge der Missachtung des Kirchenrechts und lassen sich nicht durch eine Sakralisierung oder Spiritualisierung der Leitungsgewalt beschönigen. Im Gegenteil, um sie aufzuklären, müssen auch die unbequemen Seiten des Rechts ertragen werden: Prozesse, Verurteilungen und Schadensersatz. All das kennt Severin Lederhilger zur Genüge aus der Praxis. Trotzdem oder gerade deswegen gibt er aber auch ein gutes Beispiel für eine positive Einstellung zum Kirchenrecht und einen ermutigenden Umgang damit.

55 Vgl. Eva Maier, Zum Zusammenhang von „Theologisierung“ und Positivismus im kirchlichen Recht. Aktuelle Tendenzen kirchenrechtlicher Lehre und Entscheidungspraxis, in: ÖAKR 38 (1989), S. 37 – 51, hier S. 39 und S. 41. 56 Vgl. Eva Maier, Communio versus Gerechtigkeit? in: öarr 52 (2005), S. 63 – 87, hier S. 78.

Pfarrer Franz Joseph Mahr vor Gericht (1873) und im Gefängnis (1874) Ein grelles Schlaglicht auf die Kulturkampfzeit Manfred Eder Im Zuge der Auseinandersetzungen um die deutsche Reichsgründung von 1871 und den Anschluss Bayerns hatte sich im dortigen Königreich die sogleich erfolgreiche „Bayerische Patriotenpartei“ gebildet, „in der alle Ströme des bayerischen Widerstandes zusammenflossen: Stammesstolz, Preußenhaß, großdeutsche Verbitterung, Liebe zum Hergebrachten, kirchlicher Sinn. Gerade die alten gewachsenen Stände von Adel, Geistlichkeit und Bauerntum schlossen sich hier in einer Parteibewegung zusammen, die volkstümlich war wie keine mehr. […] Der führende Kopf war Josef Edmund Jörg, der Allgäuer Glaserssohn und Döllinger-Schüler, der seit 1852 die ,Historisch-politischen Blätter‘ herausgab1 […]. Und was die ,Historisch-politischen Blätter‘ für die Gebildeten waren, das wurde das ,Bayerische Vaterland‘ für den gemeinen Mann. […] Dazu kamen in Volksversammlungen und Flugschriften so streitbare geistliche Herren wie der Pfarrer Westermayer von St. Peter oder der Bibliothekar Ruland von Würzburg2, der Stadtpfarrer Mahr von Ebermannstadt oder der Stadtpfarrer Pfahler von Deggendorf.“3 Um den dritten aus diesem Kleeblatt soll es im Folgenden gehen. 1 Zu Joseph Edmund Jörg (1819 – 1901), einem der profiliertesten Köpfe im deutschen Katholizismus des 19. Jahrhunderts, siehe Manfred Eder, Art. Jörg, in: LThK3 5 (1996), Sp. 995 (Lit.); zu Döllinger vgl. unten Anm. 77. 2 Anton Westermayer (1816 – 1894), unehelich in Deggendorf geboren, war ab 1841 Domprediger in Regensburg, wurde aber 1844 wegen Majestätsbeleidigung seines Amtes enthoben und als Pfarrprovisor in das niederbayerische Dorf Laaberberg strafversetzt. Ab 1850 Stadtpfarrprediger bei St. Peter (München), ab 1853 Hofprediger in St. Michael (München) und ab 1860 Stadtpfarrer von St. Peter, war er wegen seiner derben und bissigen Predigten gefürchtet; sein umfangreiches schriftstellerisches Werk prägt vor allem Polemik gegenüber dem Liberalismus und dem Protestantismus. Weiteres zu Westermayer, 1849 – 1855 sowie 1869 – 1871 Landtagsabgeordneter der Patriotenpartei und 1874 – 1884 Reichstagsabgeordneter des Zentrums, bei Anton Doeberl, Art. Westermayer, Anton, in: LThK1 10 (1938), Sp. 842, sowie im Art. Westermayer, in: Hans-Michael Körner (Hrsg.), Große Bayerische Biographische Enzyklopädie, 3. Bd., München 2005, S. 2092. – Der 1832 zum Priester geweihte Anton Ruland war 1833 – 1837 und 1850 – 1874 (leitender) Bibliothekar der Würzburger Universitätsbibliothek und von 1847 bis zu seinem Tode Mitglied des bayerischen Landtags. Weiteres zu Ruland, der aufgrund seiner erzkonservativen Haltung und der Schärfe seiner Reden in den fast 26 Jahren seiner Abgeordnetentätigkeit für die Patriotenpartei nicht

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Abb. 1: Franz Joseph Mahr (undatierte Fotografie) © Archiv des Erzbistums Bamberg, Rep. 80 Slg 6 Nr. 2744

Pfarrer Franz Joseph Mahr vor Gericht (1873) und im Gefängnis (1874)

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I. Mahrs Leben und Wirken bis 1873 1822 als Sohn eines Kreisgerichtsrats in Bayreuth (Obermainkreis) geboren4, studierte Franz Joseph Mahr nach der Gymnasialzeit in Bamberg am dortigen Lyzeum Theologie und Philosophie und wurde 1846 im Bamberger Dom zum Priester geweiht. Nach knapp drei Jahren als Kaplan in Hallstadt und Burgebrach wurde er 1849 in gleicher Funktion an die Obere Pfarre in Bamberg versetzt. Dort gab Mahr ab Oktober 1852 das „Bamberger Volksblatt für Stadt und Land“ heraus, um „in ,möglichst populärer Form‘ […] das ,christliche Grundprinzip in allen Gebieten des Lebens zur notwendigen Anerkennung‘“ zu bringen5. Mit dieser katholischen Tageszeitung, in der er „eine kompromißlose konservativ-patriotische Haltung“6 vertrat, befand er sich von Anfang an in Konfrontation mit dem liberalen „Fränkischen Kurier“ (Nürnberg) und dem antiklerikalen „Nürnberger Anzeiger“. So hatte er sich ein Jahr später zum ersten Mal vor Gericht zu verantworten, und zwar in Bayreuth wegen Pressevergehens, wurde jedoch freigesprochen. Dennoch „zog er sich den Unwillen des bayerischen Innenministeriums und schließlich auch des erzbischöflichen nur bei politischen Gegnern des öfteren auf Unverständnis stieß, bei Thomas Sauer, Anton Ruland (1809 – 1874). Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Restauration in Bayern (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 103), München 1995; Stefan Petersen, Anton Ruland (1809 – 1874). Bibliothekar und Handschriftenforscher, in: Mainfränkisches Jahrbuch 72 (2020), S. 375 – 418. 3 Benno Hubensteiner, Bayerische Geschichte. Staat und Volk, Kunst und Kultur, München 10 1985, S. 433. – Zur energischen Persönlichkeit Pfahlers (amt. ab 1867) ausführlich Werner Schrüfer, Joseph Conrad Pfahler (1826 – 1887) – Professor, Pfarrer, Politiker. Versuch einer Lebensbeschreibung, in: Deggendorfer Geschichtsblätter 8 (1987), S. 5 – 50 (auch als Separatdruck: Deggendorf 1987, und als pdf-Datei: www.geschichtsverein-deggendorf.de/…/gbl_ 08_004_050_pfahler.pdf). Der gebürtige Mittelfranke Pfahler, der in der liberalen Presse u. a. als „Hyäne von Niederbayern“ und „berüchtigter Stier von Deggendorf“ tituliert wurde, war von 1869 bis zu seinem Tode Landtagsabgeordneter der Bayer. Patriotenpartei und von 1881 – 1884 Reichstagsabgeordneter der Zentrumspartei (Zitate nach Friedrich Hartmannsgruber, Die Bayerische Patriotenpartei 1868 – 1887 [= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 82], München 1986, S. 256, Anm. 336). 4 Dass der Vater Franz Joseph Mahrs in der Literatur sowohl als Kreisgerichtsrat als auch als Bezirksgerichtsrat aufscheint, rührt nicht von einer Beförderung her, sondern von der bayerischen Verwaltungsreform 1837. Hierdurch wurden aus den acht bayerischen Kreisen acht Regierungsbezirke, so aus dem Obermainkreis der Regierungsbezirk Oberfranken. 5 Josef Urban, Franz Josef Mahr. Priester und Politiker. Lebensbild eines Zapfendorfer Pfarrers (1822 – 1884), in: Thomas Gunzelmann (Hrsg.), Zapfendorf. Landschaft – Geschichte – Kultur. Heimatbuch zum 300jährigen Jubiläum der Pfarrei Zapfendorf, Zapfendorf 1986, S. 465 – 478 (Lit.), hier S. 467. Der gesamte Nachlaß Mahrs, der sich an seiner letzten Pfarrstelle in Zapfendorf befunden hatte, ist den Kriegsereignissen 1945 zum Opfer gefallen. Siehe hierzu Josef Urban, Die Bamberger Kirche in Auseinandersetzung mit dem Ersten Vatikanischen Konzil (= Historischer Verein für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg, Beiheft 15/I), Bamberg 1982, 1. Bd., S. 17. 6 Elmar Roeder (Hrsg.), Wider Kaiser und Reich 1871. Reden der verfassungstreuen Patrioten in den bayerischen Kammern über die Versailler Verträge. Unveränderter Textneudruck der Originalausgabe von 1871, München 1977, S. 311.

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Ordinariats in solchem Maße zu“7, daß er schon 1855, „der unabweisbaren Macht der Verhältnisse sich fügend“8, das Erscheinen des Volksblattes einstellen musste. Als letztem seines Weihekurses wurde Mahr 1864 nach 18 Kaplansjahren endlich eine Pfarrei übertragen, jedoch nicht in Bamberg, sondern im kleinen Ebermannstadt bei Forchheim mit damals gut 2.000 Seelen. Auch dort engagierte er sich politisch, so dass der Wahlbezirk Forchheim den streitbaren Pfarrherrn von 1870 bis 1875 in den Landtag (Kammer der Abgeordneten) entsandte9, wo er innerhalb der Patriotenpartei der Jörg-Gruppe angehörte und ein Hauptexponent der reaktionären Minorität war10. Daneben betätigte sich Mahr intensiv als Verfasser von Artikeln für fast alle katholischen Blätter Bayerns und Deutschlands, deren Zweck die Bekämpfung des Liberalismus und der staatlichen Unterdrückung der Freiheit der Kirche war. Dies veranlasste den „Nürnberger Anzeiger“, bereits im April 1871 in einer ganzseitigen ExtraBeilage die Befreiung Ebermannstadts und des zugehörigen Bezirks vom „Terrorismus eines Fanatikers“ zu fordern11. Eine daraufhin zu Erzbischof Michael von Deinlein (reg. 1858 – 1875)12 nach Bamberg entsandte Deputation erklärte hingegen, dass man vor Ort an Mahrs Wirken als Seelsorger und Landtagsabgeordneter nichts auszusetzen habe. „Bis auf wenige Ausnahmen schätze sich die ganze Pfarrgemeinde glücklich, einen Pfarrer zu haben, der auch den Mut besitze, durch die Wucht seiner Reden der Charakterlosigkeit, dem Scheinliberalismus und dem Willkürregiment, wie es gegenwärtig in Bayern sich zeigt, entgegenzutreten.“13

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Roeder, Kaiser (Anm. 6), S. 311 f. Zit. nach Urban, Mahr (Anm. 5), S. 467. 9 Hierzu Urban, Kirche (Anm. 5), S. 267 – 269. 10 Nach Hartmannsgruber, Patriotenpartei (Anm. 3), S. 131 f. Vgl. dazu den Art. Mahr, Franz, in: https://www.bavariathek.bayern/medien-themen/portale/geschichte-des-bayerischenparlaments/person/133561747.html [Zugriff: 16. 02. 2022]. Zu Jörg siehe oben Anm. 1. – Eine typische Rede Mahrs als Landtagsabgeordneter bietet Roeder, Kaiser (Anm. 6), S. 219 – 231. 11 Zit. nach Urban, Mahr (Anm. 5), S. 472. – Johann Baptist Huber (1842 – 1886), ab 1872 erzbischöflicher Sekretär in München, bezeichnete Mahr als „rabiaten Pfarrer“ (zit. nach Anton Landersdorfer [Hrsg.], „Nach Rom zu schreiben fühle ich oft ein wahres Bedürfniß“. Die Briefe des Germanikers Johann Baptist Huber (München) aus den Jahren 1870 bis 1886, Passau 2013, S. 282), die Passauer Zeitung (Nr. 90 v. 21. April 1874, S. 2, bzw. Nr. 109 v. 13. Mai 1874, S. 3) als „Heißsporn“ mit „gift- und gallespeienden Reden“ sowie als „kleinen Gerngroß“. Friedrich Hartmannsgruber, ein heutiger hervorragender Kenner der damaligen politischen Landschaft in Bayern, beurteilt Mahr keineswegs schmeichelhafter, sondern vielmehr ebenfalls als „ultramontanen Heißsporn“, zudem als „extrem-klerikalen Hauptagitator Oberfrankens“, „Extremen“ bzw. „extremen Abgeordneten“ und bescheinigt ihm „Radikalität“ (Hartmannsgruber, Patriotenpartei [Anm. 3], S. 41, 132, 181, 220, 233). 12 Zu Deinlein siehe Josef Urban (Hrsg.): Michael Deinlein (1800 – 1875). Biographie in Bildern und Texten zum 200. Geburtstag des vierten Bamberger Erzbischofs, Bamberg 2000; Stefan Seit, Erzbischof Michael von Deinlein (1800 – 1875), in: Andreas Hölscher/Norbert Jung (Hrsg.), Die Erzbischöfe von Bamberg, Petersberg 2015, S. 121 – 147. 13 Nürnberger Anzeiger, Nr. 112 v. 23. April 1871 (zit. nach Urban, Mahr [Anm. 5], S. 473). 8

Pfarrer Franz Joseph Mahr vor Gericht (1873) und im Gefängnis (1874)

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II. Mahr zweimal vor Gericht 1873 Am 26. Februar 1873, dem Aschermittwoch jenes Jahres, begann in Freising der Prozess gegen Franz Joseph Mahr „wegen eines mittels eines Preßerzeugnisses verübten Vergehens der Beleidigung“14. Grundlage der Anklage war ein Offener Brief von Pfarrer Mahr an den Ersten Staatsanwalt am Bezirksgericht Freising, Ludwig von Stubenrauch15, worin er diesem „Justizmord“ an Pfarrer Johann Nepomuk Lechner16 von Hörgertshausen bei Moosburg an der Isar (Landkreis Freising) vorgeworfen hatte und überdies Mangel an juristischen Kenntnissen. Worum ging es im Fall Lechner? Lechner hatte in einer Predigt am 21. März 1871 (Josefitag) den „seines rechtmäßigen Besitzthums“ – d. h. des Kirchenstaates – beraubten Papst Pius IX. (reg. 1846 – 1878) „unter den besonderen Schutz des hl. Joseph“ gestellt17. Genau vier Monate später, also am 21. Juli 1871, erstattete ein entlassener Gendarm und späterer Gerichtsdiener namens Schwarz Anzeige, dass Lechner in seiner Predigt gleich zu Beginn folgende majestätsbeleidigende Äußerung gemacht habe: „Die katholischen Fürsten18, welche dem heiligen Vater sein Land haben rauben lassen19, nennen sich wohl von Gottes Gnaden, man weiß aber nicht, ob sie 14 Zit. nach: Oberfränkische Zeitung (und Bayreuther Anzeiger), Nr. 50 v. 28. Febr. 1873, S. 3. Die nachstehende Schilderung des Prozesshergangs folgt im Wesentlichen diesem Bericht sowie den weiteren Artikeln in Nr. 51 v. 1. März 1873 und Nr. 52 v. 2. März 1873, jeweils S. 2. 15 Vgl. zu ihm das Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Bayern 1873, München 1873, S. 242. 16 Der im niederbayerischen Mainburg geborene Johann Nepomuk Lechner (1822 – 1883) wurde 1847 zum Priester geweiht. Nach einer Kaplanszeit in Hofdorf (Bistum Regensburg) war er ab 1852 Schulbenefiziat in Kronwinkel bei Moosburg (Bistum München und Freising) bei der altem bayerischen Adel entstammenden Familie Preysing (aus der nachmals der couragierte Bischof von Berlin, Kardinal Konrad Graf von Preysing [amt. 1935 – 1950], hervorgehen sollte), von 1863 bis 1865 Pfarrer in Priel und ab November 1865 in Hörgertshausen, wo er von 1874 bis zum Tod auch als Dekan fungierte. Vgl. zu Lechner die einschlägigen Schematismen der Geistlichkeit des Erzbistums München und Freising. 17 Beide Zitate nach [Franz Joseph Mahr], Pfarrer Mahr vor dem oberbayerischen Schwurgerichte am 25. und 26. Oktober 1873. Im Auszug auf Grund stenographischer Aufzeichnungen, München 1873, S. 6. Näheres zu dieser Broschüre unten in Anm. 53. – Zum Raub des Kirchenstaates siehe unten Anm. 19. 18 Laut Oberfränkischer Zeitung, Nr. 51 vom 1. März 1873, S. 2, sagten mehrere Zeugen aus, Lechner habe von „deutschen katholischen Fürsten“ gesprochen, was allerdings wenig sinnvoll und daher unwahrscheinlich ist (vgl. dazu die folgende Anm.). 19 Der hier erhobene Vorwurf an „die katholischen Fürsten“ ist in dieser pauschalen Form nicht haltbar, denn der Kirchenstaat war zwar nach der Eroberung Italiens durch Napoleon (1796/97) ab 1798 von Frankreich beherrscht, aber 1815 hatte ihn der Wiener Kongress (mit etwas reduziertem Territorium) als einzigen der ehemaligen geistlichen Staaten wiederhergestellt. Im Revolutionsjahr 1848 floh der Papst nach Gaëta im Königreich Neapel und in Rom wurde die Römische Republik ausgerufen; bereits 1849 erfolgte jedoch deren Liquidierung durch eine militärische Aktion Österreichs, Spaniens, Neapels und Frankreichs, was die Rückkehr des Papstes in den Vatikan ermöglichte. 1860 verlor der Kirchenstaat durch den Zug der Freischärler Giuseppe Garibaldis alle Gebiete, die über den Kern des alten Patrimonium

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von Gottes oder Teufels Gnaden sind.“20 Dabei soll er „heftig auf die Kanzel geschlagen“ haben21. In der darauffolgenden Gerichtsverhandlung am 28. Dezember 1871 in Freising hatte Staatsanwalt von Stubenrauch wegen Majestätsbeleidigung drei Jahre Festungshaft gefordert; verurteilt wurde Lechner dann zu einem Jahr. Nach einer von beiden Seiten eingelegten Berufung war durch das Appellationsgericht in München am 6. Februar 1872 eine Milderung auf ein halbes Jahr Haft erfolgt22. Dieser Verhandlung beim Appellationsgericht habe Mahr – nach eigener Aussage – teilweise selbst beigewohnt und dabei die Überzeugung gewonnen, dass die Zeugen nicht wahrheitsgetreu ausgesagt hätten. Dieser Meinung sei man auch in Hörgertshausen gewesen: „Da nun die Pfarrgemeinde wiederholt durch Deputationen an mich das dringende Ersuchen stellte, mich ihres ihrer Ansicht nach ungerecht verurtheilten Pfarrers anzunehmen, so schrieb ich einen offenen Brief an den Herrn Erzbischof von München-Freising, welcher in fünf Auflagen in den weitesten Kreisen Verbreitung und anerkennende Beurtheilung fand, weil ich obigen Thatbestand nachwies.“23

Petri hinausgingen, er bestand aber fort, bis es den italienischen Truppen nach dem Abzug französischer Schutztruppen aufgrund der Kapitulation Frankreichs im Deutsch-Französischen Krieg (1869/70) gelang, am 20. September 1870 Rom zu besetzen, was freilich bei den zuvor informierten europäischen Regierungen auf keinen Widerspruch stieß. Wenig später erfolgte dann die Annexion des Kirchenstaates durch das Königreich Italien. Fortan verstand sich der Papst als „Gefangener im Vatikan“, bis die Römische Frage schließlich 1929 in den Lateranverträgen durch die Wiederherstellung des Kirchenstaates in Gestalt eines winzigen Territoriums von 0,44 km2 gelöst werden konnte. „Dass der ,Raub‘ des Kirchenstaates befreiende Wirkung hatte, hat man im Vatikan erst seit Benedikt XV. (1914 – 1922) eingesehen“ und „erst Paul VI. hat […] 1970 (!) ausdrücklich anerkannt, dass der Verlust des Kirchenstaates gut für das Papsttum gewesen sei“ (Rudolf Lill, Die Macht der Päpste, Kevelaer 2006, S. 109). Weiteres zur Geschichte des Kirchenstaates bei Erwin Gatz, Art. Kirchenstaat, in: LThK3 6 (1997), Sp. 58 – 62; Bernd Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates. Cäsaren mit der Tiara, München 2012; Manfred Eder, Kirchengeschichte. 2000 Jahre im Überblick, Ostfildern 6 2022, S. 74 – 76, 191, 200. 20 Zit. nach: [Mahr], Pfarrer Mahr (Anm. 17), S. 6. 21 Franz Joseph Mahr, Offener Brief an den Herrn Erzbischof von München-Freising, München 21872, S. 7. 22 Vgl. dazu den Kitzinger Anzeiger, Nr. 6 vom 6. Januar 1872, S. 2, bzw. die Aschaffenburger Zeitung, Nr. 37 vom 8. Februar 1872, S. 2. – Im „Lindauer Tagblatt für Stadt und Land“ (Nr. 43 vom 20. Febr. 1873, S. 2) wurde unter „Verschiedenes“ und dem Datum des 17. Februar gemeldet: „Wie wir nun vernehmen, ist das von den Pfarrgemeinde [Hörgertshausen] eingereichte Begnadigungsgesuch verworfen worden und erhält Hr. Pfarrer Lechner die Weisung, die ihm wegen Majestätsbeleidigung zuerkannte Gefängnisstrafe von 6 Mon. binnen 8 Tagen auf der Festung Rosenberg [oberhalb der oberfränkischen Stadt Kronach] bei Vermeidung von Zwangsregeln anzutreten. Derselbe ist indessen bei der am 26. d[es]s.[elben Monats] gegen Mahr stattfindenden Schwurgerichtsverhandlung als Zeuge vorgeschlagen und wird also zuvor noch hiebei zu erscheinen haben.“ 23 Zit. nach [Mahr], Pfarrer Mahr (Anm. 17), S. 7 (Kursivsetzung im Original gesperrt).

Pfarrer Franz Joseph Mahr vor Gericht (1873) und im Gefängnis (1874)

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In diesem Offenen Brief vom 31. März 1872 (Ostersonntag), den er erstmals unter dem Datum des 20. April 1872 publizierte24, behauptete Mahr gegenüber dem Münchner Erzbischof Gregor von Scherr (reg. 1856 – 1877)25, Lechner sei zu Unrecht verurteilt worden, weil einige der im Prozess gegen ihn vernommenen Zeugen Meineide geschworen hätten. Er sei überzeugt, dass Pfarrer Lechner „das Opfer einer abscheulichen Intrigue“26 geworden sei. Zwar könne natürlich ein Priester wie jeder andere Mensch zum Verbrecher werden, „anders aber gestaltet sich die Sache, wenn, wie es zwar bei der politischen Strömung der jetzigen Zeit durchaus nicht mehr auffällig erscheint, ein Geistlicher Ihrer Diöcese fälschlich denuncirt und diese Gelegenheit von dem zuständigen Staatsanwalt seinem Berufe gemäß mit Energie ergriffen wird, den geistlichen Herrn zum großen Verbrecher zu stempeln, das möglichst höchste Strafmaß gegen denselben zu beantragen und mit möglichst großer juridischer Eloquenz die Verhängung dieser Strafe zu effectuiren.“27 Im Prozeß sagte Mahr aus, er habe nur um im Interesse der Wahrheit eine nochmalige Verhandlung zu erreichen, „den Weg der Öffentlichkeit beschritten, denn Herr v. Stubenrauch könne sich ja auch getäuscht haben. […] Auch sei ihm nicht zu verargen, wenn er sich seines Standes angenommen habe gegen den Vorwurf des Herrn v. Stubenrauch: ,Der rothe Faden der Lüge zieht sich durch den ganzen Klerus hindurch‘.“28 Da er keine halben Sachen mache, habe er nun am 2. September 1872 einen zweiten Offenen Brief an den „zuständigen Staatsanwalt“ von Stubenrauch geschrieben29. In diesem Brief, der wie derjenige an den Münchner Erzbischof in der Verhandlung vollständig verlesen wurde, beanstandete Mahr zunächst, dass die Staatsanwaltschaft in einem Prozess gegen fünf Münchnerinnen und Münchner wegen Beihilfe zur sexuellen Nötigung und zur Zuhälterei nur eine sehr milde Strafe „von einigen Monaten bis herab zu vierzehn Tagen beantragt“ habe. „Denn wir leben ja im modernen Staate und diese scheußlichen Verbrechen waren ja nur im Dienste 24 Die 2. Auflage, in der „einige, wenn auch unbedeutende Unrichtigkeiten“ getilgt wurden (Vorwort, S. 2), ist auf den 1. Mai 1872 datiert. 25 Zu Scherr, zuvor ab 1840 Abt des Benediktinerklosters Metten bei Deggendorf, ausführlich Anton Landersdorfer, Gregor von Scherr (1804 – 1877) Erzbischof von München und Freising in der Zeit des Ersten Vatikanums und des Kulturkampfes (= Studien zur altbayerischen Kirchengeschichte 9), München 1995. 26 Mahr, Brief Erzbischof (Anm. 21), S. 5. 27 Mahr, Brief Erzbischof (Anm. 21), S. 3 (Kursivsetzung im Original gesperrt). 28 Oberfränkische Zeitung, Nr. 50 vom 28. Februar 1873, S. 3. – Nach der Augsburger Postzeitung (Proceß gegen Pfarrer Mahr und Genossen wegen Beleidigung, Nr. 53 vom 3. März 1873, S. 6 [insgesamt: S. 422]), fuhr er fort: „… und daß nirgends mehr gelogen werde, als wo Geistliche verhandelt werden“. Der Zeitungsartikel (mit diesem Zitat) ist gekürzt auch bei [Mahr], Pfarrer Mahr (Anm. 17), S. 37, zu finden. 29 Dieser Brief erschien nicht als separate Veröffentlichung, sondern laut Franz Joseph Mahr, Offener Brief an den Herrn Justizminister von Fäustle, München 1873, S. 15, und [Mahr], Pfarrer Mahr (Anm. 17), S. 13, nur als Zeitungsartikel im „Volksboten für den Bürger und Landmann“ (München), Nr. 204 vom 7. September 1872. Da von dieser Zeitungsausgabe kein Exemplar ausfindig gemacht werden konnte, wird im Folgenden nach dem Offenen Brief an Fäustle zitiert, wo der Artikel wohl vollständig wiedergegeben ist (S. 15 – 19).

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der gesunden Sinnlichkeit begangen worden.“ Dagegen habe Stubenrauch für Pfarrer Lechner wegen angeblicher Majestätsbeleidigung gleich drei Jahre Festungshaft beantragt, die der „kränkliche und schwächliche Pfarrer“ gar nicht hätte aushalten können30. Bei anderen Geistlichen sei ähnlich streng verfahren worden. Und wenn er nun zur Begründung der Anklage gegen Pfarrer Lechner die Stirne gehabt habe zu behaupten, dass der rote Faden der Lüge sich durch den ganzen Klerus hindurch ziehe, dann frage er den Herrn von Stubenrauch, was er wohl sagen würde, wenn er – Mahr – behaupte, der rote Faden der Lüge ziehe sich durch alle bayerischen Regierungen oder durch alle Bürgermeister oder „durch das Hirn aller Schullehrer hindurch“, nur weil es dort ebenfalls einzelne Fälle von Lüge gegeben habe. „Wissen Sie nicht, Herr von Stubenrauch, daß man für Fehler und Vergehen eines Einzelnen (und ich bin der letzte, der für den ganzen Klerus einsteht) nicht einen ganzen Stand, oder eine ganze Kategorie verantwortlich machen kann, wenn man auf den Titel eines vernünftigen Mannes Anspruch machen will?“31 Damit ließ es Mahr aber nicht bewenden, sondern fuhr noch schwereres Geschütz gegen den Staatsanwalt auf: „Wissen Sie Herr von Stubenrauch, was ich thun würde, wenn es mir erlaubt wäre, auf sog. kavaliermässige Weise die Sache auszumachen, da Sie fortwährend schweigen? Ich würde Ihnen wegen Ihrer infamen Beleidigung des bayerischen Gesammtklerus ein halb Dutzend Forderungen auf krumme Säbel von Geistlichen besorgen und wenn Sie noch eine blasse Idee von Ehre hätten, dann müßten Sie Satisfaktion geben und losgehen und Ihr Gesicht müßte binnen Kurzem wie das belgische oder englische Eisenbahnnetz auf der Landkarte aussehen32. Allein unser Stand und unsere Religion erlaubt uns nicht, solche Satisfaktion zu nehmen, so wenig als das katholische Volk Revolution machen darf, was gewisse Fürsten recht wohl wissen, und deßhalb Alles gegen das katholische Volk sich erlauben zu dürfen glauben. Und weil uns dies nicht erlaubt ist, darum erlaubt sich jeder feige Bube im neuen Reiche, jeden Geistlichen und Ordensmann, welcher der ehrenwertheste Charakter sein kann, von dem aber der feige Bube mit seiner fadenscheinigen Ehre gar keinen Begriff hat, in frecher Weise zu beschimpfen und schlechter als den letzten Verbrecher des Reiches zu behandeln, indem er die Parole des Liberalismus brüllt: ,Schlagt ihn todt, den 30

Alle Zitate: Mahr, Brief Justizminister (Anm. 29), S. 15 f. Beide Zitate nach Mahr, Brief Justizminister (Anm. 29), S. 17 (die Kursivsetzungen sind im Original gesperrt). 32 Das Schienennetz war in diesen beiden Ländern schon damals recht dicht (1885: Belgien 4.366 km, England 30.358 km). England hatte seit 1825 die erste Bahnstrecke weltweit (41 km von Stockton nach Darlington) und baute das Netz rasch aus. In Belgien, wo die erste Eisenbahn 1835 von Brüssel nach Mechelen fuhr (20 km), entstand das damals dichteste Eisenbahnnetz der Welt, das außerdem auf Westdeutschland und Nordfrankreich ausstrahlte und einen Beitrag dazu leistete, daß die erste durchgehende Schienenverbindung zwischen Paris und Köln 1846 zustande kam (1. Bahnlinie Deutschlands: 1835 von Nürnberg nach Fürth, 6 km; Schienennetz 1885: 39.141 km). Siehe hierzu den Art. Eisenbahn, in: Meyers Konversations-Lexikon. Bd. 5, Leipzig 41888, S. 428 – 447, bes. S. 429 f., 434. – Im übertragenen Sinn ist hier gemeint, daß das Gesicht Stubenrauchs in kürzester Zeit von „Schmissen“ (Schnittverletzungen) übersät wäre. 31

Pfarrer Franz Joseph Mahr vor Gericht (1873) und im Gefängnis (1874)

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Hund, er ist ein Jesuit!‘“33 Letztlich begehe der moderne Staat und seine Bürokratie Mord an den „konservativen Elementen im Staate“34. Mahr versuchte diese rüde Tonart dadurch zu rechtfertigen, „daß er heute noch trotz der entgegenstehenden gerichtlichen Erkenntnisse der Überzeugung sei, Lechner sei unschuldig und deßhalb glaubte er auch das Wort ,Justizmord‘ gebrauchen zu können, ebenso halte er sich [für] berechtigt, die Beschuldigung des Herrn v. Stubenrauch gegen den Gesammtklerus als ,infame Beleidigung‘ zu bezeichnen. […] Die Worte ,feiger Bube‘ beziehe er nicht auf Herrn v. Stubenrauch, sondern er habe sich nur in einem allgemeinen Räsonnement bewegt“35. Die Zeugenvernehmung begann sodann mit den von Pfarrer Mahr vorgeschlagenen Personen. Der erste war Pfarrer Lechner, der aussagte, dass er Mahr hier in München kennengelernt und ihn gebeten habe, „der Verhandlung bei der AppellationsInstanz beizuwohnen, um sich davon zu überzeugen, ob er, Lechner, schuldig sei. Später habe Herr Mahr ihn auf sein Ansuchen im Pfarrhofe besucht, woselbst sie über seine Prozeß-Angelegenheit gesprochen.“ Die weiteren Zeugen waren sich darüber einig, dass Staatsanwalt von Stubenrauch negativ über den katholischen Klerus geredet habe. „Die Mehrzahl der vernommenen Zeugen erinnerte sich“ außerdem „noch genau, daß Pfarrer Lechner in der am St. Josephstag 1872 [richtig: 1871] in Hörgertshausen gehaltenen Predigt die incriminirten Äußerungen gethan“, darunter auch Schwarz, der die Sache seinerzeit angezeigt hatte. Allerdings sagte ein anderer Zeuge, daß Schwarz „feindselig gegen den Pfarrer Lechner gesinnt sei, weil ihm die Gemeindeschreiberei abgenommen worden“. An diesem Prozesstag kam schließlich auch noch zutage, dass ein österreichischer Zisterzienser als Aushilfsgeistlicher gepredigt und gesagt habe, dass wer etwas Unrechtes gegen einen Pfarrer sage, sündige und dass dann „Hagel, Blitz und Pestilenz“ über die Gemeinde kämen, ja, dass derjenige, der überhaupt etwas gegen einen Geistlichen aussage, nicht absolviert36 oder sogar aus der katholischen Kirche ausgestoßen werde. „In Folge dieser Drohungen sind mehrere Zeugen derart eingeschüchtert worden, daß sie sich in ihrer ersten Ver33

Mahr, Brief Justizminister (Anm. 29), S. 17 (die Kursivsetzung ist im Original gesperrt). Leicht gekürzt ist diese Stelle auch in der Coburger Zeitung, Nr. 52 v. 4. März 1873, S. 1, wiedergegeben, wo sie „zur Kennzeichnung des Tones“ von Mahrs Schreiben zitiert wird. – Da die überwiegend konservativ geprägten Jesuiten als Vorkämpfer des Papsttums, also einer außerdeutschen Macht, auftraten, erachteten Bismarck und seine liberalen Verbündeten diesen Orden, der bezüglich des „Syllabus errorum“ von 1864 (zu ihm unten Anm. 184), der Unfehlbarkeit des Papstes und der Römischen Frage (= Frage der Wiederherstellung des 1870 verlorengegangenen Kirchenstaates) den päpstlichen Standpunkt verfocht, nicht zu Unrecht als wesentliches Hindernis zur Erreichung eines ungeteilten preußisch-protestantischen Kaiserreichs mit einer nationalen, von Rom unabhängigen Kirche. Überdies wähnte man Zentrumspartei und Vatikan als jesuitisch gesteuert. Dies war der Grund für den Erlaß des Jesuitengesetzes von 1872 (hierzu unten Anm. 176). Näheres bei Franck Damour, Der schwarze Papst. Der Mythos von der „geheimen Macht“ der Jesuiten, Würzburg 2015. 34 Mahr, Brief Justizminister (Anm. 29), S. 18. 35 Oberfränkische Zeitung, Nr. 50 vom 28. Februar 1873, S. 3. 36 D. h. nach der Beichte nicht von den Sünden losgesprochen werde.

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nehmung zur Leugnung der Kenntniß des ganzen Vorfalls überhaupt haben hinreißen (!!) lassen, was heute jedoch von ihnen berichtigend widerrufen wird.“37 Nach Schließung des Beweisverfahrens legte der Staatsanwalt in seiner Anklagebegründung dar, daß es der Zweck der offenen Briefe Pfarrer Mahrs gewesen sei, „an dem Herrn v. Stubenrauch, der die Veranlassung zur Untersuchung gegen Lechner war, sich zu rächen“, wimmle doch der Brief an den Staatsanwalt „von Beleidigungen und Ehrenkränkungen“, er sei aber auch „ehrverletzend für den Richterstand“, da in ihm „auf die ganze Rechtsprechung in Bayern übergesprungen wird“. Mahr habe somit das Vertrauen in die bayerische Rechtspflege erschüttern wollen. Aus den Zeugenaussagen habe sich ergeben, dass Pfarrer Lechner die fraglichen Äußerungen in seiner Predigt wirklich gemacht habe38 und dass der Zeuge Lorenz Neumaier, auf den sich Schwarz berief, am Josephstag tatsächlich in der Kirche war39. „Der Vorwurf des Herrn Mahr, daß ein Justizmord durch Herrn v. Stubenrauch vorliege, ist so ungegründet, daß er sich nur darüber wundern könne, denn nach Lage der Akten sei der Urtheilsspruch gegen Lechner vollständig gerechtfertigt.“ Überdies könne ein Staatsanwalt ja gar keinen Justizmord begehen, denn nicht er, sondern das Richter-Kollegium spreche das Urteil und entscheide über das Strafmass. In dieser Sache seien „17 Richter thätig gewesen, denen doch gewiß auch so viel Rechtsbewußtsein und Selbstständigkeit zuzutrauen sei, wie dem Herrn Pfarrer Mahr“. Die Vorwürfe Mahrs seien alle nur darauf berechnet, Stubenrauch als Privatmann und insbesondere als Beamten in der öffentlichen Meinung zu diskreditieren. So sei der ganze Brief an ihn „nicht geschrieben, der Sache zu dienen, sondern er sei ein Ausfluß persönlichen Hasses, und wenn man in Betracht ziehe, daß dieser Brief von einem Geistlichen geschrieben sei, so könne man bedauern, daß die geistliche Würde so sehr hintan gesetzt sei, denn sonst könnte der Angeklagte dem Herrn v. Stubenrauch nicht vorwerfen, er besitze weder Intelligenz, noch juridische Kapazität, noch Ehrgefühl, er habe Willkühr in seinem Amte ausgeübt, er sei ein feiger Bube und schließlich wird ihm jedes Gewissen abgesprochen. Es sei also die Absicht gegeben, Herrn von Stubenrauch zu beleidigen.“ Nachdem Mahrs Anwalt, der Münchner Advokat Andreas Popp40, darauf abgehoben hatte, dass Mahr „nur“ die Privatperson Stubenrauch beleidigt habe und er zu 37

Alle Zitate: Oberfränkische Zeitung, Nr. 51 vom 1. März 1873, S. 2. Der Staatsanwalt bemängelte, daß Mahr in seinem Offenen Brief „kein Fünkchen von Entrüstung über die Majestäts-Beleidigung des Herrn Pfarrer Lechner“ gezeigt habe, „nachdem doch gerichtlich angenommen war, daß unter der Äußerung des Pfarrers Lechner über die katholischen Fürsten auch der König von Bayern [Ludwig II., reg. 1864 – 1886] gemeint gewesen sei“ (zit. nach Oberfränkische Zeitung, Nr. 52 vom 2. März 1873, S. 2). Jedoch war es ja das Anliegen Mahrs zu beweisen, dass Lechner die majestätsbeleidigende Äußerung gar nicht gemacht hatte. So war von vornherein keine Veranlassung zu einer Entrüstung Mahrs gegeben. 39 Das Verfahren wegen Meineids gegen Neumaier war zuvor bereits eingestellt worden. 40 Zu Rechtsanwalt Popp vgl. das Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Bayern 1875, München 1875, S. 377. 38

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dieser Beleidigung provoziert worden sei, berief sich Mahr, der zuvor vom Präsidenten noch zur Mäßigung ermahnt worden war, in seinem Schlusswort nochmals darauf, dass er – von Lechners Unschuld jetzt nur mehr „fast überzeugt“ – lediglich die Wiederaufnahme des Verfahrens habe erreichen wollen und durch seine offenen Briefe „,so zu sagen in diplomatischer Weise eine Erledigung‘ der Angelegenheit herbeizuführen bemüht gewesen, die Absicht einer Beleidigung ihm aber fern gelegen sei“41. Dies überzeugte die Geschworenen keineswegs, weshalb sie die an sie gestellte Frage, „ob der Angeklagte Pfarrer Mahr schuldig sei, durch den Brief an den k.[öniglichen] Staatsanwalt v. Stubenrauch denselben vorsätzlich an seiner Amtsehre beleidigt zu haben“42, nach nur viertelstündiger Beratung mit „Ja“ beantworteten. Das Urteil lautete schließlich auf 15 Tage Gefängnis für Pfarrer Mahr, die er von 15. bis 29. März 1873 im Münchner Bezirksgerichtsgefängnis absaß. Noch vor der Verhandlung in München, nämlich am 2. Februar 1873, hatte er voreiligerweise einen dritten Offenen Brief geschrieben, diesmal an den bayerischen Justizminister Dr. Johann Nepomuk von Fäustle (amt. 1871 – 1887)43, „weil die beiden ersten keinen Erfolg hatten“44. Denn es habe sich ihm – Mahr – die Überzeugung aufgedrängt, „daß Herr Pfarrer Lechner auf Grund falscher Zeugenaussagen hin verurtheilt worden, weil der Hauptzeuge Lorenz Neumaier, Huberbauer von Reißen, auf den sich der übelbeleumundete Denunciant Schwarz berief45, erwiesener Massen gar nicht am fraglichen Tage in der Kirche war, mithin ein Justizmord vorläge“46. Neumaier, „den Herr v. Stubenrauch seinen besten Zeugen nennt“, hätten die Verwandten wiederholt gedrängt, seine Falschaussage zu korrigieren, und er sei auch kurz davor gewesen, dies zu tun. Doch da sei er einem Winkeladvokaten in die Hände gefallen, „der ihm abrieth, da es sonst schlimm ausfallen könnte“47. 41

Alle Zitate sind der Oberfränkischen Zeitung, Nr. 52 v. 2. März 1873, S. 2, entnommen. Zit. nach der Oberfränkischen Zeitung, Nr. 52 v. 2. März 1873, S. 2. 43 Zu Johann Nepomuk von Fäustle (1828 – 1887) siehe den einschlägigen Artikel in: Körner, Enzyklopädie (Anm. 2), 1. Bd., S. 488, wo es heißt: „Politisch der bayerischen Fortschrittspartei nahestehend, bemühte er sich im Kulturkampf um ein wirksames Zurückdrängen des kirchlichen Einflusses in Politik und Öffentlichkeit, vermied jedoch eine scharfe Auseinandersetzung mit der Kirche.“ 44 [Mahr], Pfarrer Mahr (Anm. 17), S. 31. In dieser Broschüre ist der Offene Brief Mahrs an Fäustle ebenfalls abgedruckt (S. 6 – 17), jedoch mit einigen Auslassungen (hierzu unten Anm. 53). 45 Schwarz habe nämlich seine erste Frau (und das kleine Kind, das sie hatten) wiederholt brutal geschlagen, so dass ihr die Nachbarn zu Hilfe eilen mussten und sie auch einmal drei Tage versteckten. Nach dem Tod der misshandelten Frau habe er wieder geheiratet und seine zweite Gattin ebenso geschlagen. „Als sie sich in den Pfarrhof flüchtete und der Bürgermeister [von Hörgertshausen] auf Antrag des Pfarrers sie wieder nach Hause führte und den Schwarz zur besseren Behandlung ermahnte, sagte er: ,Du und der Pfarrer können mich etc.‘ Deshalb war er auch ziemlich allgemein verhaßt“ ([Mahr], Pfarrer Mahr [Anm. 17], S. 16 f.). 46 Mahr, Brief Justizminister (Anm. 29), S. 4 (Kursivsetzung im Original gesperrt); [Mahr], Pfarrer Mahr (Anm. 17), S. 7. 47 Mahr, Brief Justizminister (Anm. 29), S. 24; [Mahr], Pfarrer Mahr (Anm. 17), S. 17. 42

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Mahr schloß seinen Offenen Brief an Justizminister Fäustle, der im Lichte des Prozesses vom 26./27. Februar 1873 völlig sinnlos war und sich nur kontraproduktiv auswirken konnte, „in der Hoffnung, daß die Untersuchung im Lechner’schen Prozeß nochmals aufgenommen und nach unparteiischer Durchführung dem Schuldigen Strafe, Herrn Pfarrer Lechner aber die Freiheit werde, und zwar um so mehr, da das k.[önigliche] Bezirksgericht Freysing in s.[einem] Urtheile am 9. Jan. d.[es] J.[ahres] thatsächlich feststellen mußte, daß L. Neumayer bereits vor 20 Jahren einen falschen Eid geschworen hat. Ich aber trete getrost die Reise nach München in den Schwurgerichtssaal an. Bin ich doch vor zwanzig Jahren von den oberfränkischen Geschwornen freigesprochen worden48 und werden auch die oberbayerischen aus den dargelegten Thatsachen und Beweisen ersehen, daß es mir nur um Wahrheit, Recht, um die Rettung eines Unschuldigen und nicht um eine Beleidigung zu thun war und darnach ihren Wahrspruch kundgeben.“49 Dieser Brief, der sich außer mit der Lechnerschen Angelegenheit überaus weitschweifig noch mit einigen weiteren Rechtsfällen befasste, wurde vom Münchner Polizeidirektor Carl Alexander von Burchtorff50 konfisziert, der anschließend Hausdurchsuchungen in den Wohnungen Mahrs in München und Ebermannstadt, in der Münchner Druckerei (der Brief erschien gedruckt in fünf Auflagen) und in den Auslieferungsstellen der Münchner katholischen Blätter durchführen ließ51. Diesmal war es folgende Stelle gegen Ende des Briefes an Fäustle, die Anstoß erregte: „Ich glaube, daß der Schein nahe liegt, daß in all’ diesen Processen gegen Geistliche Herr von Stubenrauch nicht parteilos gehandelt, d. h. auf rein objektiven Rechtsboden sich gestellt habe. Es ist eben das Curiose in unserem Rechtsstaate, daß solche Herren wie Herr v. Stubenrauch, zu gleicher Zeit Staatsanwälte und Großsprecher des Liberalismus sind. Was aber die Person des Herrn v. Stubenrauch selbst anbelangt, so haben den eingezogenen Erkundigungen gemäß unparteiische und rechtlich denkende Männer und Beamte längst über ihn den Stab gebrochen, und solche, die ihn von seinen Jugendjahren her kennen, nennen ihn noch immer den nämlichen. – Er hat seiner Zeit mit einer gewissen cynischen oder übereilten Offenheit seinen Bekannten gegenüber selbst gestanden, daß er seine Carrière nicht sowohl seinem Wissen und Cha-

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Siehe oben S. 391 den erwähnten Freispruch von der Anklage des Pressevergehens im Jahr 1853. 49 Mahr, Brief Justizminister (Anm. 29), S. 26 (Kursivsetzungen im Original gesperrt); [Mahr], Pfarrer Mahr (Anm. 17), S. 17. 50 Der aus Regensburg stammende Carl Alexander von Burchtorff (1822 – 1894) amtierte von 1867 bis 1873 als Polizeidirektor und war dann Regierungsdirektor bei der Regierung von Oberbayern und schließlich von 1876 bis 1893 Regierungspräsident von Oberfranken. Näheres zu ihm bei Walter Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft von 1806 bis 1918, Kallmünz 1955, S. 196 (Nr. 286). 51 Vgl. [Mahr], Pfarrer Mahr (Anm. 17), S. 36; Franz Joseph Mahr, In der Frohnveste, München 21874, S. 4.

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rakter, als vielmehr dem Unterrocke seines Weibes verdanke, deren Verwandtschaft bis in sehr diskrete Kreise sich erstreckt.“52 Der betreffende Prozeß fand am 25. und 26. Oktober 1873 vor dem oberbayerischen Schwurgericht in München statt53, wobei die harschen und gewagten Bemerkungen über den „inzwischen weltberühmt gewordenen ersten Staatsanwalt v. Stubenrauch“54 im umfangreichen Offenen Brief des Pfarrers und damaligen Landtagsabgeordneten Mahr an Justizminister Fäustle der Hauptgegenstand dieses Prozesses waren55. Der Staatsanwalt führte dabei aus, dass in diesem Brief „die Art und Weise der Darstellung nur darauf berechnet gewesen, die bayerische Justiz zu schädigen. Die Darstellung sei keine würdevolle, sie sei wie ein Fastnachtsscherz und auf solch’ unwürdige Weise werde gegen die Beamten vorgegangen; es sei denselben imputirt56, sie seien nur aus Verfolgungssucht gegen die Geistlichen vorgegangen 52 Mahr, Brief Justizminister (Anm. 29), S. 25. Der Text ist als „die incriminierte Stelle“ – mit leichten orthographischen Abweichungen – auch im „Schwabmünchner Tages-Anzeiger“ abgedruckt (Nr. 255 v. 29. Okt. 1873, S. 3). Bei [Mahr], Pfarrer Mahr (Anm. 17) fehlt er aus nachvollziehbaren rechtlichen Gründen mit der ganzen Schlusspassage zum Gebaren der bayerischen Justiz und einem weiteren Seitenhieb gegen Stubenrauch, nämlich, dass er sich wundern würde, wenn Stubenrauch „nicht als heiliger Geist am obersten Gerichtshofe zu fungiren den Beruf [d. h. die Berufung] fühlen sollte“ (Mahr, Brief Justizminister, S. 26). Nur kurz im Rahmen von Mahrs letztem Wort als Angeklagter wird hier die „famose Stelle mit dem Unterrocke, weßhalb Herr v. Stubenrauch geklagt hat“, erwähnt (S. 36). 53 Mahr veröffentlichte über diesen Prozess im Dezember 1873 eine recht subjektiv gefärbte, 43-seitige Broschüre, die er durch zusätzliches, aber z. T. allenfalls am Rande zur Sache gehöriges Material angereichert hatte: [Mahr], Pfarrer Mahr (Anm. 17). Über die Veranlassung hierzu schreibt Mahr im Vorwort (S. 4): „So glaube ich dem bayerischen Klerus, in dessen Interesse ich zunächst diese Processe durchgemacht, sowie meinen politischen Freunden gegenüber zur Wahrung meiner Ehre die Verpflichtung zu haben, wenigstens die Hauptmomente dieses Processes in der Presse zu veröffentlichen, damit jeder Unbefangene sich sein Urtheil selbst bilden kann“ (Kursivsetzung im Original gesperrt). Die unbefangene Urteilsbildung war freilich schon deshalb nicht möglich, weil Mahr gegenüber seinem Offenen Brief an Justizminister Fäustle (Mahr, Brief Justizminister [Anm. 29]) hier einiges (ohne Kenntlichmachung!) weggelassen hat oder besser weglassen musste, so auf S. 13 einen kurzen Abschnitt zum Thema Juden (Brief S. 14; hierzu unten Anm. 148) und den Offenen Brief an Staatsanwalt v. Stubenrauch (Brief S. 15 – 19), auf S. 14 einige Invektive gegen einen Oberstaatsanwalt (Brief S. 19) und schließlich auf S. 17 die in der vorhergehenden Anm. erwähnte längere Schlusspassage, die das pikante Unterrock-Zitat enthält (Brief S. 24 – 26). 54 Mahr, Brief Justizminister (Anm. 29), S. 8. 55 Daneben ging es noch um den Bezirks-Amtmann-Assessor (bzw. Staatsanwaltsvertreter) Carl Rost, dem Mahr in einem Schreiben an das Bezirksamt Ebermannstadt zu einer ganz anderen Causa vorgeworfen hatte, daß er „unrichtig ausgesagt und ein unrichtiges Aktenstück producirt“ habe ([Mahr], Pfarrer Mahr [Anm. 17], S. 20). Die Geschworenen bejahten, dass Mahr in diesem Schreiben „vorsätzlich und rechtswidrig dem Hrn. Assessor Rost den Vorwurf wissentlich falscher Aussage als Beamter gemacht und sohin in der öffentlichen Meinung herabgesetzt“ habe (Schwabmünchner Tages-Anzeiger, Nr. 256 vom 30. Okt. 1873, S. 3). Vgl. dazu [Mahr], Pfarrer Mahr, S. 19 – 27; zu Rost, der später Bezirksamtmann in Vilshofen war, siehe das Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Bayern 1873, München 1873, S. 312, bzw. das Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Bayern 1879, München 1879, S. 293. 56 Unterstellt.

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[…]. Auch das Vorwort sei tendenziös, es solle nur ein Bild der bayerischen Justizzustände geben57. Das sei nicht die Sprache eines ruhigen, gebildeten, wahrheitsliebenden Mannes. Der angebliche Zweck des Angeklagten sei nicht stichhaltig, die Briefe seien nur geschrieben worden, um Haß und Unzufriedenheit gegen die Staatsregierung und gegen den Richterstand zu säen und namentlich, um die Stellung des Hrn. v. Stubenrauch zu erschüttern. Der Angeklagte sei eben mit der Entwicklung des modernen Staates unzufrieden, und habe auf diese Weise seinem Unmuthe Luft gemacht, deshalb müßten die Geschworenen ihn verurtheilen.“58 Übrigens versäumte es Sitzungspräsident Franz Cucumus59 nicht nachzufragen, „ob der Angeklagte auf die offenen Briefe an den Herrn Erzbischof, Herrn v. Stubenrauch und Herrn Minister Dr. v. Fäustle eine Antwort erhalten und als dies der Angeklagte verneint, sagt der Präsident: Sie sehen also, daß ihre Expectorationen60 keine Würdigung gefunden haben und daß die Herren etwas Gescheidteres zu thun haben, als auf solches Geschreibsel, wodurch Sie nur beleidigen, eine Antwort zu geben“61. Der Prozeß endete schließlich nach 121/2-stündiger Verhandlung mit einer neuerlichen, diesmal 16-tägigen Gefängnisstrafe für Mahr, wobei er noch von Glück reden konnte, daß der Richter nicht dem Antrag des Staatsanwalts Hermann Barsch62 auf sechs Monate Haft gefolgt war. Dies war wohl dem Verteidiger zu verdanken, der als Milderungsgrund angeführt hatte, dass das Hauptmotiv Mahrs die Hilfe für einen (zumindest seiner und der Pfarrgemeinde Hörgertshausen Meinung nach) unschuldig Verurteilten war. Außerdem wies er darauf hin, dass die Verhandlung im Frühjahr Mahr Kosten von etwa 600 Gulden und „die dießmalige Verhandlung c.[irca] 300 fl. verursacht habe“63. Zusätzlich musste Pfarrer Mahr auch noch die Kosten 57

Das Vorwort ist betitelt „Statt der Vorrede“ und besteht ausschließlich aus Zitaten und Gedichten, darunter die folgenden beiden namentlich gezeichneten: „Weichet niemals zurück, wenn es sich um Prinzipien handelt – in dem Prinzipienkampfe lasset uns unermüdlich fest stehen. Papst Pius IX.“ und „In Europa gilt nur noch das Recht des Stärkeren. Döllinger“. Auf den Rechtsbereich beziehen sich u. a. folgende Verse: „Um Recht zu thun, muß man kein Recht studiren, / Doch oft – um sicher Unrecht auszuführen. […]“ und „Zu hohem Amt und Würden zu gelangen, / Ist wohl in uns’rer schlimmen Zeit nicht leicht, / […] / Sie zu erreichen, muß man fliegen oder – kriechen.“ Zu Döllinger siehe unten Anm. 77. 58 [Mahr], Pfarrer Mahr (Anm. 17), S. 29 f. (Kursivsetzungen im Original gesperrt). 59 Zu Cucumus, zunächst Rat am Appellationsgericht zu München und dann Zweiter Staatsanwalt am Oberappellationsgericht des Königreichs Bayern, vgl. das Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Bayern 1873, München 1873, S. 241, bzw. das Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Bayern 1879, München 1879, S. 193. 60 Ausstoßungen (von lat. expectorare: aus der Brust scheuchen). 61 Zit. nach [Mahr], Pfarrer Mahr (Anm. 17), S. 28 (Kursivsetzungen im Original gesperrt). 62 Zu ihm siehe das Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Bayern 1873, München 1873, S. 242. 63 1 Gulden entspricht nach heutiger Kaufkraft etwa 10 E, so dass es sich hierbei um die durchaus ansehnlichen Beträge von 6.000 bzw. 3.000 E handelte.

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des Verfahrens tragen und hinnehmen, dass das Urteil in der „Augsburger Abendzeitung“ publiziert wurde64. Mahr war – nach eigener Aussage – an beiden Gerichtstagen beeinträchtigt „durch ein höchst intensives und schmerzliches, von Gesichtsrose begleitetes Zahnleiden“, das ihn „am Sprechen hinderte und nach der Verhandlung dem Tode nahe brachte“65. Die „Bamberger neuesten Nachrichten“ bestätigten, dass Mahr „nicht unerheblich erkrankt“ war und zwar „in Folge der Aufregung bei der gestrigen Schwurgerichtsverhandlung“66. Und bevor er seine Haftstrafe antrat, wurde er zudem „in Ebermannstadt zum drittenmale am Halse operirt“67. III. Mahr im Gefängnis 1874 „Von Stubenrauch magst ruhig sein, Der Mahr sitzt in der Frohnvest drein.“68

Mit diesen Versen kommentierte Mahr in seiner tagebuchartigen Broschüre „In der Frohnveste“69, dass er sich ab Aschermittwoch, den 18. Februar 1874, in Bam64 Vgl. hierzu den Bericht im Schwabmünchner Tages-Anzeiger, Nr. 255 v. 29. Okt. 1873, S. 3 f. (Zitat: S. 4). 65 Beide Zitate: [Mahr], Pfarrer Mahr (Anm. 17), S. 4. 66 Bamberger neueste Nachrichten, Nr. 296 v. 29. Okt. 1873, S. 1. 67 [Mahr], Frohnveste (Anm. 51), S. 4. 68 [Mahr], Frohnveste (Anm. 51), S. 3. Dies ist eine Abwandlung der Verse „Lieb Vaterland, magst ruhig sein, / Fest steht die Wacht, die Wacht am Rhein“, die Mahr seiner Variation selbst voranstellte. Diese Verse bilden den Refrain des patriotischen Liedes „Die Wacht am Rhein“, das im Deutschen Kaiserreich ab 1871 neben „Heil dir im Siegerkranz“ als inoffizielle Nationalhymne fungierte. Der Text wurde 1840 während der Rheinkrise von Max Schneckenburger verfaßt. Erst mit der im März 1854 von Carl Wilhelm komponierten Vertonung und der Aufführung bei der Silberhochzeit des späteren Kaisers Wilhelm I. gewann es an Popularität. Bereits vor 1900 wurde das Lied vielfach parodiert und variiert; aus neuerer Zeit ist die Version von Udo Jürgens (1971) bekannt. 69 Diese Broschüre lässt sich durchaus als Bericht lesen, auch wenn Mahr selbst in einer Fußnote meint, dass sein „Schriftchen vorzugsweise ein satyrisches ist und kein Protokoll“ und daher auch keine Sache für den Staatsanwalt, wie „einige Bureauherren“ bereits wieder „denken zu müssen geglaubt“ haben (Mahr, Frohnveste [Anm. 51], S. 8, Anm. *; Kursivsetzung im Original gesperrt). Nachstehend wird aus der Fülle dessen, was Mahr anspricht, eine Auswahl getroffen, insbesondere auch aus den zahlreichen Gedichten und Versen, die als Gedankensplitter den Tageseintragungen oft vorangestellt sind und kaum oder keinen Bezug zum Folgenden haben, wobei hier stets die 2. Auflage zugrundegelegt wird. 1875 erschien noch eine 3., als „Volksausgabe“ bezeichnete und im Textteil völlig unveränderte Auflage, in der die oben zitierte Anm. * auf S. 8 sowie die Anm. ** auf S. 20 f. fehlen, dafür der Anhang durch 25 „Aktenstücke für die oberbayerische Schwurgerichtssitzung am 28. November 1874“ (gegen Pachmayr und Dennerlein; dazu unten S. 438) stark erweitert ist (München 3 1875, S. 46 – 67). Das letzte Aktenstück XXVI (ebd., S. 66 f.) bildet die unten S. 436 angesprochene Erklärung bzgl. Staatsanwalt von Stubenrauch. Am Ende des Textteils konnte es sich Mahr offenbar nicht verkneifen, noch eine Fußnote zu setzen, um zu schreiben: „In einer Reihe von Recensionen verschiedener Journale Deutschlands ist die Broschüre ,In der

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berg in der Zelle Nr. 35 hinter Schloß und Riegel fand. Dorthin gelangt war er, indem er nach Abhaltung des morgendlichen Gottesdienstes mit Aschenauflegung („Einäscherung“) in der Pfarrkirche von Ebermannstadt um 13 Uhr aufgebrochen und mit dem „engen Omnibus“ bis Forchheim, mit der Bahn bis Bamberg und dann auf dem Leiterwagen „bis über die Kettenbrücke“ gefahren war, von wo aus er sich „schleunig zuerst zu Land und dann zu Wasser durch Überfahren über die Regnitz […] in die Frohnveste begab“70. Und hier erinnerte er sich, dass es genau am Aschermittwoch vor einem Jahr gewesen war, dass er den Schwurgerichtssaal betreten hatte, wo er wegen seiner Offenen Briefe an den Münchner Erzbischof und den Freisinger Staatsanwalt zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt worden war, die er ebenfalls in der Bamberger Frohnveste und in derselben Zelle Nr. 35 abgesessen hatte. Immerhin bot diese Zelle „eine herrliche Aussicht theils auf die Residenz, theils untere Brücke, den Regnitzfluß, St. Martin, Hochzeit- und Schlachthaus und eine lange Reihe von Gebäuden bis hinab zur Spinnerei, dem Spital, Hallstadt und Bischberg, wo sich die Regnitz mit dem Maine vermählt. Der mir angewiesene Raum des überhaupt kalten und zugigen Steingebäudes war vorher durchheizt worden, so daß ich für mein Gesichtsleiden wohl nichts zu befürchten haben werde.“71 Außerdem war ihm – nach Genehmigung des Bezirksgerichtsdirektors, Licht zu brennen – eine Lampe überlassen worden, damit er „nicht in den Finsternissen und Schatten des Todes sitzen“ musste, wie er sich mit viel Pathos ausdrückte, „sondern den Kampf mit den noch immer langen Nächten aufnehmen“ konnte. Bald sei er, in seine Wolldecke gehüllt, eingeschlafen mit dem tröstlichen Gedanken: „Wie’s kommt, so ist es gut!“ Den nächsten Tag, den 19. Februar, beginnt er mit einem Gedicht, das auf ihn selbst gemünzt scheint:

Frohnveste‘ sehr günstig beurtheilt; aus Mangel an Raum können wir dieselben jedoch nicht wiedergeben“ (München 31875, S. 45, Anm. *). Empfehlende Besprechungen der intensiv beworbenen Broschüre (z. B. im „Bayerischen Vaterland“ [München] vom 16. und 21. Mai sowie vom 4. und 18. Juni 1874, jeweils S. 4), enthalten – wie sich ermitteln ließ – das „Fränkische Volksblatt“ (Nr. 80 v. 10. April 1874, S. 3), der in München von Georg Ratzinger herausgegebene „Volksfreund“ (Nr. 114 v. 21. Mai 1874, S. 2) und die „Augsburger Postzeitung“ (Nr. 120 v. 22. Mai 1874, S. 6), wobei letztere vermerkt: „Wir sind keineswegs in allwege [= durchweg] mit der Kampf- und Schreibweise des Hrn. Verfassers einverstanden, müssen aber den Muth anerkennen, mit dem er der systematischen Lüge und der Recht und Gesetz mißbrauchenden Gewalt, stets sich selbst und seiner persönlichen Sicherheit vergessend, mit unerbittlicher Schärfe und Rückhaltlosigkeit zu Leibe geht, selbst dann, wenn er wissen muß, daß nichts dabei herauskommt als neue Prozesse und Verurtheilungen für seine Person.“ 70 Alle Zitate nach [Mahr], Frohnveste (Anm. 51), S. 3. – Die 1829 eröffnete schmiedeeiserne Brücke (mit Pylonen von Leo von Klenze) über den rechten Regnitzarm, die eine Holzbrücke ersetzte, hieß offiziell Ludwigsbrücke, wurde von der Bevölkerung aber meist Kettenbrücke genannt. 1891/92 ersetzte man sie durch eine stählerne Bogenbrücke, die ebenfalls meist als Kettenbrücke bezeichnet wurde. 71 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 5.

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„Laßt Streit und Prozessiren sein, Zu Haus wie in der Fremde; Der Schreiber nimmt euch ab den Rock, Der Advokat das Hemde, Geht es gar zum Gerichtshof hin, Dann seid ihr erst verloren, Denn dieser zieht euch dann das Fell Noch über beide Ohren.“72

Nach seiner ersten Nacht hätten ihn an diesem Donnerstag – so Mahr – die zahlreichen Bamberger Kirchenglocken geweckt und zugleich schöne Erinnerungen an seine Kinder- und Jugendzeit in Bamberg wachgerufen. Doch dann sei „die verhängnißvolle Entscheidung für den geistlichen Stand“ gekommen „und in Folge dessen […] als ,Extremer‘ zuerst der großdeutschen und dann der katholisch-patriotischen Partei eine reichliche Fülle von unruhigen Nächten, Processen, Verhandlungen und – endlich die Frohnveste.“ Immerhin sei er nun „Inhaber einer hübschen Congrualpfarrei“ und habe „lediglich in der Absicht, um das Faktum festzustellen, daß ich’s auch nicht weiter bringe, […] ohnlängst um eine bessere Pfarrei supplicirt, da ich auch solche Noten habe, wie manche Hochavancirte.“73 Die Staatsregierung habe aber einen jungen Mann ihm und den anderen Supplikanten vorgezogen. Auch das einträgliche Benefizium in Kronach sei einem von der geistlichen Oberbehörde nicht vorgeschlagenen und ausdrücklich als nicht qualifiziert bezeichneten, aber liberalen Kandidaten verliehen worden. „Es ist bekannt, daß Excellenz v. Lutz – der Kultusminister74 – auf den Klerus in Bayern […] wegen seiner entschiedenen, correcten Haltung, welche den ,Altkatholiken‘ das Concept verdorben, nicht gut zu sprechen 72

Sämtliche Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 5. Alle Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 6. Congrualpfarrei: eine Pfarrei, die dem Pfarrer das Mindesteinkommen eines bepfründeten Seelsorgegeistlichen gewährleistet; supplicirt: gebeten, ersucht; Hochavancirte: beruflich weit Vorangekommene. 74 Johann Freiherr von Lutz (1826 – 1890) war von 1867 bis 1871 bayerischer Justizminister und bekam 1869 – zunächst nur kommissarisch – das Ministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten (Bezeichnung seit 1918: Ministerium für Unterricht und Kultus) übertragen, das er bis zur Versetzung in den Ruhestand 1890 behielt; von 1880 bis 1890 war er außerdem Vorsitzender im Ministerrat (Bezeichnung seit 1918: Ministerpräsident). Für den Zeitraum von 1870 bis 1890 ist Lutz somit als die dominierende Gestalt in der bayerischen Politik anzusehen („System Lutz“), die insbesondere das Profil des Kulturkampfs in Bayern (mit der Verweigerung des königlichen Plazets für die – als staatsgefährdend eingestuften – Beschlüsse des Ersten Vatikanums und der Anerkennung der Altkatholiken) prägte. Weiteres zu Lutz, einem der wichtigsten und zugleich umstrittensten Männer in der Geschichte des Königreichs Bayern, bei Hans-Michael Körner, Art. Lutz, Johann von, in: Körner, Enzyklopädie (Anm. 2), 2. Bd., S. 1229, und unten Anm. 186. – In seiner Landtagsrede vom 1. Juli 1874 las Mahr aus der Broschüre „In der Frohnveste“ vor (!), was er dort über seine eigene Bewerbung und über die Besetzung des Benefiziums in Kronach geschrieben hatte, um Lutz’ Parteilichkeit bei der Anstellung von Geistlichen in Bayern zu belegen, von der Joseph Edmund Jörg in seiner Rede am Vortag gesprochen hatte (siehe: Das Bayerische Vaterland [München], Nr. 151 v. 5. Juli 1874, S. 1 f.; Der Volksfreund [München], Nr. 161 v. 21. Juli 1874, S. 1). 73

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ist – er taugt ihm nicht.“ Er sei froh, so Mahr, dass sein Vater, „der als k.[öniglicher] Bezirksgerichtsrath auch die hiesige Frohnveste zu inspiciren hatte“75, die jetzigen Zustände nicht mehr miterleben müsse, die die protestantische „Morning Post“ (New York) treffend so beschrieben habe: „Priesterhetze, Verfolgung friedlicher Ordensleute, denen man nicht das Geringste nachweisen kann, die vielmehr nach dem Urtheil von Hunderttausenden wegen ihrer seelsorgerlichen Tugenden alles Lob verdienen, gehört zu den wesentlichsten Labsalen des deutschen Liberalismus. Will man das deutsche Volk nach diesem Liberalismus, der eine förmliche Religionsverfolgung heraufbeschworen, beurtheilen, so muß man sagen, es ist trotz aller Siege noch heute ein politisch unreifes Volk.“76 Am sonnigen 20. Februar hatte sich Mahr nach seinen eigenen Worten schon so an das Gebetläuten gewöhnt, dass er es fast nicht mehr hörte, und rühmte Bamberg als „weder alt- noch neukatholisch, sondern recht katholisch und dazu noch eine patriotisch-katholische Stadt. Das Preußenthum, wie der Altkatholicismus, sie haben in Bamberg keinen fruchtbaren Boden gefunden; und gerade Bamberg, hätte man glauben sollen, wäre als Vaterstadt der Herren Döllinger77 und Friedrich78 eine Vorkämp75

Alle Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 6 f. (Kursivsetzung im Original gesperrt). Zit. nach Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 7. 77 Der tatsächlich in Bamberg geborene Ignaz von Döllinger (1799 – 1890), einer der bedeutendsten Kirchenhistoriker des 19. Jahrhunderts, war zunächst stark ultramontan und apologetisch ausgerichtet. Im Bayerischen Landtag und bei der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 kämpfte er für die Freiheit der Kirche. „Erst in den 50er Jahren, als der Ultramontanismus seine Gangart verschärfte und der Münchner Erzbischof Graf von Reisach (1800 – 1869) u. a. die Klerusausbildung von den staatlichen Fakultäten an die Priesterseminare verlegen wollte, wandelte sich Döllinger zum scharfen innerkatholischen Gegner des Ultramontanismus“ (Victor Conzemius, Art. Ultramontanismus, in: TRE 34 [2002], S. 253 – 263, hier: S. 257). Durch Vorträge 1861 (Entbehrlichkeit des gefährdeten Kirchenstaats) und 1863 (Münchner Gelehrtenversammlung) zog er das Mißtrauen Roms auf sich. 1869/70 bekämpfte Döllinger unter den Pseudonymen „Janus“ und „Quirinus“ das Erste Vatikanum publizistisch. Da er trotz wiederholter Aufforderung durch den Münchner Erzbischof Scherr der Primats- und Unfehlbarkeitsdefinition des Konzils aus Gewissensgründen die Zustimmung verweigerte (Vorwurf der Nicht-Ökumenizität des Konzils aufgrund mangelnder Freiheit, parteiischer Geschäftsordnung und fehlender Einmütigkeit der Konzilsväter in Glaubensaussagen), wurde er im April 1871 exkommuniziert. Seine Anhänger schlossen sich zur (bis heute bestehenden) Altkatholischen Kirche zusammen (hierzu unten Anm. 79); Döllinger trat den Altkatholiken jedoch nicht bei; „vielmehr warnte er davor, ,Altar gegen Altar‘ zu stellen und sich von der Kirche zu trennen“ (Victor Conzemius, Die katholische Kirche, in: Martin Greschat [Hrsg.], Liberalismus, Industrialisierung, Expansion Europas (1830 – 1914) (= Die Geschichte des Christentums 11), Freiburg i. Br. u. a. 1997, S. 642 – 655, hier S. 644). Näheres zu Döllinger, der unversöhnt mit der römisch-katholischen Kirche starb, seit längerem aber als namhafter „Wegbereiter heutiger Theologie“ (Johannes Finsterhölzl) geschätzt wird, bei Victor Conzemius, Art. Döllinger, in: TRE 9 (1982) S. 20 – 26 (Zitat: 25); Georg Denzler/Ernst Ludwig Grasmück (Hrsg.), Geschichtlichkeit und Glaube. Gedenkschrift zum 100. Todestag Ignaz von Döllingers, München 1990; Franz Xaver Bischof, Theologie und Geschichte. Ignaz von Döllinger (1799 – 1890) in der zweiten Hälfte seines Lebens. Ein Beitrag zu seiner Biographie, Stuttgart u. a. 1997; Thomas Albert Howard, The Pope and the Professor. Pius IX, Ignaz von Döllinger, and the quandary of the modern age, Oxford 2017; Manfred Weitlauff, 76

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ferin mit gewesen. Es muß doch dem Herrn v. Döllinger, welcher die Tausende aus dem Klerus prophezeite, welche nicht kamen, ganz eigen vorkommen, wenn er die jetzige gemischte Gesellschaft der Altkatholiken im Reiche betrachtet79. Die ganze Sekte zählt summa summarum nicht so viel Mitglieder wie die einzige Pfarrei St. PeDas erste Vatikanum (1869/70) wurde ihnen zum Schicksal. Der Münchner Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger (1799 – 1890) und sein englischer Schüler John Lord Acton (1834 – 1902), 2 Bde., München 2019; Eder, Kirchengeschichte (Anm. 19), S. 191 f. (mit Abb.). 78 Döllingers 1872 exkommunizierter Schüler, Weggefährte, späterer Biograph und Nachlaßverwalter Johann(es) Friedrich (1836 – 1917) reichte Döllinger die Sterbesakramente und war maßgeblich beteiligt am Aufbau der Altkatholischen Kirche (zu ihr siehe die folgende Anm.). Näheres zu Friedrich, der nicht in Bamberg, sondern im – immerhin 35 km entfernten – Poxdorf bei Forchheim geboren ist, bei Burkhard Neumann, Art. Friedrich, Johann, in: LThK3 4 (1995), Sp. 156. 79 Das wird Döllinger nicht sehr bekümmert haben, denn den Kern dieser innerkatholischen Protestbewegung, die sich v. a. in Deutschland und in der Schweiz verbreitete, bildeten Universitätsprofessoren der Katholischen Fakultäten in München, Bonn, Breslau, Braunsberg und Luzern. Um sie versammelten sich fast ausschließlich Angehörige der akademischen und bürgerlichen Schichten (darunter viele namhafte Historiker), so daß der Altkatholizismus zunächst eine Honoratiorenbewegung war; bis zu den 80er Jahren erhöhte sich der Anteil der Arbeiter und v. a. der Handwerker allerdings merklich (vgl. Johann Friedrich von Schulte, Der Altkatholizismus. Geschichte seiner Entwicklung, inneren Gestaltung, und rechtlichen Stellung in Deutschland. Aus den Akten und anderen authentischen Quellen dargestellt, Gießen 1887 [ND Aalen 1965], S. 593 f.). Als die Hoffnung auf Unterstützung aus dem Episkopat immer mehr schwand, ja mehrere Bischöfe „seit dem Herbst 1870 mit Entziehung der missio canonica, Suspension, Exkommunikation oder Verweigerung der Sakramente gegen die Konzilsgegner“ einschritten, appellierten sie an den Staat. „Die Regierungen gewährten ihnen Schutz und garantierten ihnen die Beibehaltung staatlicher und kirchlicher Ämter, die darüber entstehenden Streitigkeiten mit den Bischöfen leiteten den Kulturkampf ein“ (alle Zitate: Rudolf Lill, Die Entstehung der altkatholischen Kirchengemeinschaft, in: Hubert Jedin [Hrsg.], Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. VI/1, Freiburg i. Br. 1971, S. 792 – 796, hier S. 793). So kam es ab Frühjahr 1871 zur Gemeindebildung, die im Sommer 1873 durch die Wahl und Bischofsweihe des Breslauer Kirchenhistorikers Joseph Hubert Reinkens (1821 – 1896) zum Abschluss kam. 1889 bildeten die mittlerweile gegründeten altkatholischen Bistümer (Bonn, Wien, Bern) mit der jansenistischen „Utrechter Kirche“ die „Utrechter Union“. Bezüglich der Glaubenslehre wurden die ökumenischen Glaubensbekenntnisse und die dogmatischen Entscheidungen des 1. Jahrtausends, Schrift und Tradition als Glaubensquellen sowie die Siebenzahl der Sakramente für verbindlich erklärt. Hinsichtlich der Eucharistie finden Realpräsenz und Opfercharakter Anerkennung (nicht dagegen die Transsubstantiationslehre: zu ihr Eder, Kirchengeschichte [Anm. 19] 107). Abgelehnt werden die marianischen Dogmen von 1854 und 1950, ebenso u. a. Stolgebühren, Messstipendien, Devotionalien und das Ablasswesen. In der Liturgie wurden schon im 19. Jahrhundert die Landessprachen eingeführt, 1879 die Zölibatsverpflichtung abgeschafft und 1996 Frauen zur Priester- und Bischofsweihe zugelassen. Zur Altkatholischen Kirche (in der Schweiz „Christkatholische Kirche“ genannt), die seit 1931 in voller Kirchengemeinschaft mit den Anglikanischen Kirchen sowie seit 1985 in Abendmahlsgemeinschaft mit der Evang.-Luth. Kirche Deutschlands steht und deren wesentlichster Unterschied zur römisch-katholischen Kirche die bischöflich-synodale Organisation darstellt, außerdem Peter Neuner u. a., Art. Altkatholische Kirchen, in: LThK3 1 (1993), Sp. 468 – 471; Christian Oeyen, Art. Alt-Katholiken, in: RGG4 1 (1998), Sp. 375 – 379; Victor Conzemius, Katholizismus ohne Rom. Die Altkatholische Kirchengemeinschaft, Zürich u. a. 1969; Günter Eßer, Die Alt-Katholischen Kirchen (= Kirchen der Gegenwart 5), Göttingen 2016; Eder, Kirchengeschichte, S. 192 (mit Graphik).

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ter in München80, und Leute, die seit unvordenklichen Zeiten an allem Glauben Schiffbruch gelitten und vom Jahre 1848 an eine sonderbare Biographie aufzuweisen haben81. Und diese allein gelehrten, gebülteten82, aufgeklärten und unfehlbaren Charakterköpfe mit ihren eben so gelehrten und unfehlbaren etwa 20 Reinkens83, Renftle84, Hosemann85 und wie sie alle heißen, welche bereits ihre Verlobungskarten her80 Die Münchner Pfarrei St. Peter zählte Mitte der 1870er Jahre 25.000 bis 30.000 Seelen (lt. Schematismen von 1874 und 1876, jeweils S. 44), die Altkatholiken dagegen erreichten in Deutschland 1877 mit ca. 57.000 Mitgliedern (bei einer Gesamtzahl von 13 Mio. Katholiken) den Höchststand, hatten also wesentlich mehr Mitglieder als St. Peter, wo damals Anton Westermayer Stadtpfarrer war (siehe oben Anm. 2). Priester hatten sie zu dieser Zeit etwa 40. Vgl. hierzu Conzemius, Kirche (Anm. 77) 644; Klaus Schatz, Vaticanum I 1869 – 1870, 3. Bd., Paderborn u. a. 1994, S. 253 f. mit Anm. 252. 81 Victor Conzemius schreibt hierzu: „Einige wenige Geistliche Sailerscher Tradition oder Wessenbergianischer Richtung schlossen sich aktiv der [altkatholischen] Bewegung an. Unter den Pfarrgeistlichen überwogen wohl diejenigen, die bereits vorher, aus Disziplinar- oder Zölibatsschwierigkeiten mit den diözesanen Kurien in Konflikt geraten waren. Doch gab es auch hier Männer, die das Dogma aus den Bahnen ihrer bisherigen Theologie geworfen hat. Sie, und nicht die anderen, haben der theologischen Problematik des Altkatholizismus das geistige Gesicht gegeben“ (Katholizismus ohne Rom. Die altkatholische Kirchengemeinschaft, Zürich u. a. 1969, S. 59). Die Behauptung Mahrs ist somit eine starke Übertreibung, jedoch noch mehr die Aufzählung des „Volksboten“ unten in Anm. 89. – Zu 1848, dem Jahr der Märzrevolution, siehe Christof Dipper/Ulrich Speck (Hrsg.), 1848 – Revolution in Deutschland, Frankfurt a. M./Leipzig 1998. 82 Gebildeten. 83 Zu Reinkens, der nach kritischen Äußerungen zum Dogma der Unfehlbarkeit bereits 1870 seiner geistlichen und universitären Ämter enthoben und 1872 exkommuniziert wurde, siehe Raimund Lachner, Art. Reinkens, in: BBKL 7 (1994), Sp. 1561 – 1567; Angela Berlis, Art. Reinkens, in: RGG4 7 (2004), Sp. 254 f., und oben Anm. 79. 84 Der im schwäbischen Balzhausen geborene und 1846 zum Priester geweihte Josef Renftle (1823 – 1881), seit 1860 Pfarrer in Mering bei Augsburg, hatte am 9. Oktober 1870 von der Kanzel aus erklärt, dass er die Beschlüsse des Ersten Vatikanischen Konzils nicht anerkenne und war nach sofortiger Denunziation in Augsburg von Bischof Pankratius von Dinkel (reg. 1858 – 1894), der auf dem Konzil selbst der (das Unfehlbarkeitsdogma missbilligenden) Minorität angehört hatte, zum Widerruf aufgefordert worden. Da der größere Teil seiner Pfarrgemeinde zu Renftle hielt und den vom Bischof nach Mering entsandten Kapitelskämmerer nicht einließ, kam es zu einer Spaltung der Pfarrgemeinde in zwei fast gleichgroße Teile, zur Exkommunikation (30. Nov.) und Absetzung (30. Dez. 1870) Renftles, der aber bis Mai 1878 die Seelsorge in der ersten altkatholischen Gemeinde überhaupt fortführte und bis 1876 sogar einen Kaplan hatte. Daher wurde für die römisch-katholischen Gläubigen eine Holzbaracke als Notkirche errichtet, die man von 1874 bis 1878 nutzte. Pfarrer Renftle, immer mehr verzagend und des Kampfes mit dem römisch-katholischen Vikar überdrüssig, übernahm schließlich die Pfarrei Sauldorf (Baden), wo er mit 58 Jahren einem Schlaganfall erlag. Unter dem neuen Pfarrer Michael Klotz (ab November 1878, zuvor 1. Kaplan in St. Maximilian/Augsburg) normalisierten sich die Verhältnisse in Mering rasch; nur wenige Pfarrangehörige schlossen sich der Münchner oder der später gegründeten Augsburger altkatholischen Gemeinde an. Hierzu ausführlich Peter Rummel, Der Meringer Kirchenstreit. Das erste postkonziliare Schisma von 1870, in: Annuarium Historiae Conciliorum 3 (1971), S. 174 – 218; siehe ferner Schulte, Altkatholizismus (Anm. 79), S. 207, 358, 448, 583. 85 Anders als bei Renftle verhielt es sich im Falle des aus Bertoldsheim stammenden und 1849 zum Priester geweihten Pfarrers Gallus Hosemann (1824 – 1879) von Tuntenhausen bei

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umgeschickt à la Luther und Consorten86 und auf die Jesuiten schimpfen und den Bismarck anwedeln87, die wollen wirklich den Blödsinn auf den Markt des Lebens als echte Waare bringen, sie allein seien jetzt die echte katholische Kirche und der Papst mit seinen 1200 Bischöfen, 180.000 Priestern und 200 Millionen Laien88 sei abgefallen und bilde eine Sekte. Und doch, wo in der ganzen Welt gibt es gerade jetzt bei den Stürmen, Begriffsverwirrungen und Brutalitäten dieser Zeit eine Persönlichkeit, welche größer und vertrauenerweckender dastünde, als der Heldengreis zu Rom – der Einheitspunkt der katholischen Kirche? Wo gibt es eine imposantere Erscheinung, als die katholische Kirche im Kampfe mit der Revolution nach Oben? Wo gibt es etwas Wunderbareres als die Festigung dieses großartigen Organismus in den Prüfungstagen der Gegenwart, während die Spreu vom Sturmwind davon gefegt wird? Darum ist dem gutkatholischen Bamberg nur zu gratuliren, daß ihm ein Altkatholiken-Skandal erspart blieb, während Juden und Protestanten sich dort wie anderwärts geschäftig zeigten, als wenn sie’s etwas anginge89. Und doch möchte ich Rosenheim, der die Konzilsbeschlüsse trotz wiederholter Aufforderung ebenfalls nicht annahm und deshalb am 24. Oktober 1871 für exkommuniziert erklärt wurde. Hosemann, ab 1847 Benediktiner der Abtei St. Stephan in Augsburg und Professor am dortigen Gymnasium, dann ausgetreten und anschließend Kommorant in Bertoldsheim, Benefiziumsvikar in Rennertshofen sowie Schulbenefizium-Verweser in Pullach (jeweils Bistum Augsburg), war erst seit 16. Februar 1871 Pfarrer von Tuntenhausen gewesen. Erzbischof Scherr verkündete die Exkommunikation in Tuntenhausen am 28. Oktober 1871 persönlich, wobei in diesem Fall das Kirchenvolk geschlossen auf der Seite des Oberhirten stand. Insbesondere „formierten sich die Mitglieder des Tuntenhausener Bauernvereins, einer Organisation der patriotischen Partei, gegen die neue Bewegung“ (Rummel, Kirchenstreit [Anm. 84], S. 207, Anm. 107). Am 10. November wurden Hosemann die Pfründe entzogen. Er blieb noch einige Monate im Marienwallfahrtsort Tuntenhausen, ehe er resignierte und die am 29. April 1873 auf ihn gefallene Wahl zum altkatholischen Pfarrer in Konstanz am Bodensee annahm. Dieses Amt übte er von seiner Einführung am Pfingstsonntag 1873 bis zu seinem frühen Tod am 29. Oktober 1879 aus. Weiteres hierzu bei Landersdorfer, Scherr (Anm. 25), S. 459 f., 464 – 467; Schulte, Altkatholizismus (Anm. 79), S. 349, 583, sowie in den einschlägigen Schematismen. 86 Dies spielt darauf an, dass der Priester und Augustinermönch Martin Luther, nachdem er 1524 sein Ordensgewand abgelegt hatte, im Jahr darauf Katharina von Bora (vormals Zisterzienserin) heiratete. Auch andere Geistliche, die sich der Lehre Luthers zuwandten, nutzten die neu gegebene Möglichkeit, eine Ehe zu schließen. In der Altkatholischen Kirche war dies seit 1878 möglich, wurde aber weder von Reinkens noch von Renftle oder Hosemann in Anspruch genommen. Vgl. dazu Rummel, Kirchenstreit (Anm. 84), S. 214 f. 87 „Erst in dem Maße, in dem der Kulturkampf sich als Fehlschlag erwies und seit 1878 abgebaut wurde, erlahmte das fördernde Interesse der Regierungen; früher als andere Kulturkämpfer hatte Bismarck eingesehen, daß der Altkatholizismus zum Verbündeten gegen Rom zu schwach war“ (Lill, Entstehung [Anm. 79], S. 794). – Zu den Jesuiten siehe oben Anm. 33 und unten Anm. 176. 88 Zum Vergleich: Gegenwärtig zählt die katholische Kirche 5400 Bischöfe, 415.000 Priester und über 1,3 Milliarden Gläubige, die altkatholische 10 Bischöfe, gut 300 Priester und ca. 70.000 Gläubige. 89 „Bisweilen traten auch Protestanten zur altkatholischen Kirche über, in der sie das Erbe der Reformation besser als in der Kirche ihrer Herkunft gewahrt sahen“ (Conzemius, Katholizismus [Anm. 79], S. 69). Außerdem war für Protestanten die Liturgie der Altkatholischen Kirche attraktiv, die der römisch-katholischen sehr ähnelt. Bei einer Konversion konnten sie

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wissen, wie Viele von ihnen katholisch würden, wenn heute der Papst für lehramtlich nicht unfehlbar erklärt würde.“90 Am 21. Februar, dem Gedenktag der hl. Eleonore91, erinnerte sich Mahr der erhebenden Namenstagsfeiern für seine auf diesen Namen getaufte verstorbene Mutter. „Heute würde sie’s schwer empfunden haben, wenn ihr Franz, ihr Schmerzenskind, seine Gratulation nicht selbst hätte machen können, sondern nur mit höherer Erlaubniß ihr aus Hotel Frohnveste eine Karte schicken können.“ Sie sei gut und weich gewesen, „wenn sie auch dem unglücklich lebhaften Temperamente, das ihr Sohn geerbt, manche Unannehmlichkeit zu verdanken hatte“92. Stets habe sie ihren Namenstag begangen, auch schon vor ihrer Konversion vom protestantischen zum katholischen Glauben, die ohne sein Zutun erfolgt sei. Am 22. Februar, einem Sonntag, fühlte Mahr – so schreibt er – seine Gefangenschaft stärker als an anderen Tagen, da er gerne bei seiner Gemeinde und in seiner Kirche gewesen wäre. Ansonsten erhielt er an jenem Tag Zeitungen – darunter die

sie mitfeiern, ohne die römisch-katholischen Eigenheiten wie die Transsubstantiationslehre (hierzu Eder, Kirchengeschichte [Anm. 19], S. 107, 146, 164), den Ablass, das Unfehlbarkeitsdogma oder das Mariendogma von 1854 in Kauf nehmen zu müssen. Der Behauptung des Erzbischofs von Westminster, Edward Manning (zu ihm unten Anm. 105), dass die Unfehlbarkeitsdefinition die Konversion zur römisch-katholischen Kirche sogar fördere, wurde bereits auf dem Konzil widersprochen mit dem Hinweis, dass diese Ansicht keineswegs repräsentativ sei (vgl. Schatz, Vaticanum I, 3. Bd. [Anm. 80], S. 41). – Zumindest Reformjuden scheinen sich für den Altkatholizismus interessiert zu haben, wenn man der freilich äußerst polemischen und übelwollenden Aufzählung des ultramontan-konservativen „Volksboten für den Bürger und Landmann“ (München) in diesem Punkt Glauben schenken will, die auch die Protestanten nicht unberücksichtigt läßt: „Und welches Gefolge muß Dr. v. Döllinger bereits hinter sich erblicken? Halbkatholiken und Taufbuchkatholiken, rationalistische Protestanten, Reformjuden, Freimaurer, verworrene Gelehrte, verkommene Literaten, Fortschrittler, Pariser Communisten, Gottesläugner, Nihilisten, Materialisten, Deisten, Seelenläugner etc. Und dieses Gefolge betitulirt sich dann gegenseitig als ächte Katholiken, als Altkatholiken, als Söhne der wahren christlichen Kirche“ (Nr. 206 vom 12. Sept. 1871, S. 860, zit. nach Rudolf Bulin, Ablehnung des Antisemitismus bei Döllinger und Reinkens – ein Vergleich, in: Internationale kirchliche Zeitschrift 87 [1997], S. 16 – 42 [1. Teil], 89 [1999], S. 23 – 44 [2. Teil], hier: 2. Teil, S. 27, Anm. 155). Aus dem zweiten Teil des vorgenannten Aufsatzes geht hervor, dass der führende Altkatholik Reinkens (zu ihm oben Anm. 79 und 83) nicht nur den Antisemitismus ablehnte, sondern den Juden überhaupt recht wohlwollend gegenüberstand. 90 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 9 f. (Kursivsetzungen im Original gesperrt). 91 Der arabische Name Ellinor (dt.: Gott ist mein Licht) gelangte mit den Mauren nach Spanien und von dort nach Frankreich und England. Die hl. Eleonore (*1222) war die Tochter des Grafen Raimund IV. von der Provence und ab 1236 Gemahlin König Heinrichs III. von England (reg. 1216 – 1272). Nach dessen Tod führte sie bis zur Rückkehr ihres Sohnes Eduard I. (reg. 1272 – 1317) von einem Kreuzzug die Regierung und trat dann als Nonne in die englische Benediktinerabtei Amresbury ein, wo sie 1291 starb. Siehe hierzu Otto Wimmer/ Hartmann Melzer, Lexikon der Namen und Heiligen, bearb. und ergänzt von Josef Gelmi, Innsbruck/Wien 61988 (ND Hamburg 2002), S. 236 f. 92 Beide Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 11.

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„Nürnberger Presse“ mit einem Leitartikel „Pfarrer Mahr als Pasquillant“93 (bezogen auf die Broschüre über seinen Prozess im Oktober 1873) – und den Besuch des Redakteurs des „Fränkischen Volksblattes“ Dr. Rittler94, der ihm „erfreuliche Nachrichten“ brachte „über die Erstarkung des katholischen Bewußtseins“. Mahr führte dies zurück auf die „Missionsthätigkeit Bismarcks und Genossen“95 und die in den letzten Jahren abgehaltenen katholischen Volksversammlungen, die man in Verbindung mit diversen Herren abgehalten habe, wobei er neben Rittler u. a. Dr. Pfahler96 und Dr. Ratzinger97 namentlich nennt. „Ich bin daher auch vollkommen mit der ,Allg.[emeinen] evang.[elischen] Kirchenzeitung‘ einverstanden, wenn sie über das Resultat des bisherigen Kampfes mit Bezugnahme auf das stete Wachsen der Centrumspartei schreibt: ,Wenn in einem Krieg der Feind, je länger man ihn bekämpft, um so stärker wird, so pflegt man einen solchen Krieg keinen glücklichen zu nennen und schließt auf Fehler in der Kriegsführung. Die Liberalen haben sich getäuscht bezüglich der Bischöfe und des Klerus sowie des Altkatholicismus. Sie haben das Reich und den Protestantismus geschädigt, während der protestantische Norden mit Verwunderung auf die katholische Kirche sieht.‘“98 Am 23. Februar beschäftigt sich Mahr zunächst mit dem Thema der Majestätsbeleidigung und findet es auffällig, „daß seit dem Beginn des glorreichen deutschen 93 Zit. nach Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 12. Ein „Pasquillant“ ist ein Verfasser eines Pasquills, d. h. einer Schmäh- oder Spottschrift. 94 Alois Rittler (1839 – 1890) hatte in München und am Collegium Germanicum in Rom Theologie und Philosophie studiert und in beiden Fächern promoviert. 1865 zum Priester geweiht, war er zunächst Kaplan in Augsburg, dann nacheinander Sekretär der Bischöfe von Regensburg, Mainz und Rottenburg. Von Mai 1873 bis November 1876 fungierte Rittler, über den permanent Gerüchte über seinen sittlichen Lebenswandel kursierten, als Redakteur beim „Fränkischen Volksblatt“ (Würzburg); 1877/78 gab er in München das kämpferische, aber kurzlebige Blatt „Die katholische Fahne. Wochenschrift für das deutsche Volk“ heraus. 1882 wurde Rittler Professor für Philosophie am Lyzeum in Regensburg, wo er ab 1884 als Rektor amtierte. Der spätere Reichskanzler Georg Graf von Hertling (1843 – 1919) stufte den „zeitweise sehr einflußreichen Dr. Rittler“ als „eine mehr als problematische Natur“ ein und wies nach, daß seine „Synopsis der Philosophie“ (1889) bloß „eine deutsche Übersetzung des im Germanikum gebrauchten [lateinischen] Leitfadens“ zur neuscholastischen Philosophie war (Georg von Hertling, Erinnerungen aus meinem Leben, 2. Bd., Kempten 1920; Zitate: S. 54 f.). Weiteres zu Alois Rittler, der zudem von 1875 bis zu seinem Tode Landtagsabgeordneter der Bayer. Patriotenpartei war, aus der er eine rein katholische Partei machen wollte, bei Hartmannsgruber, Patriotenpartei (Anm. 3), S. 131 f., Anm. 61 u. ö.; Landersdorfer, Scherr (Anm. 25), S. 483 f., und im Art. Rittler, in: Körner, Enzyklopädie (Anm. 2), 3. Bd., S. 1624. 95 Alle Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 13. 96 Zu Pfahler siehe oben Anm. 3. 97 Gemeint ist der Priester, Publizist und Politiker Georg Ratzinger, der Großonkel von Joseph Ratzinger (Papst Benedikt XVI.). Zu Ratzinger, der sowohl Abgeordneter im Bayerischen Landtag (1875 – 1877, 1893 – 1899) als auch im Deutschen Reichstag (1877/78, 1898/ 99) war, ausführlich Johann Kirchinger/Ernst Schütz (Hrsg.), Georg Ratzinger (1844 – 1899). Ein Leben zwischen Politik, Geschichte und Seelsorge, Regensburg 2008. 98 Zit. nach Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 13.

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Reiches die Majestätsbeleidigungen so massenhaft zu Tage treten“. Sarkastisch fährt er fort: „Es scheint, daß von dem beschränkten Unterthanenverstand das Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte immer noch nicht für das erwartete Paradies angesehen wird. Aber eine Ähnlichkeit haben beide doch. Wie nämlich die ganze officiöse Presse jetzt im Solde Bismarcks steht und aus dem Reptilienfonde bezahlt wird99, so hatte auch die Schlange im Paradiese einen hochofficiösen Charakter, da sie als echtes Reptil die Aufgabe hatte, die Stammältern für die Politik des Satans zu gewinnen. Ihre Phrase: Ihr werdet sein wie Gott, hat auch richtig ihre Wirkung gethan. Deßhalb muß sie aber auch jetzt noch, wie die Bismarcksanwedler auf dem Bauch kriechen und Staub fressen.“100 Als nun die große Glocke der Bamberger Pfarrkirche zu unserer Lieben Frau („Obere Pfarre“) erklingt101 und zur ersten Fastenpredigt einlädt, erinnert sich Mahr an sein eigenes Wirken dort als Kaplan: „Wie viele erhebende Erinnerungen knüpfen sich daran, wenn ich in der dichtgefüllten Kirche Leuten aus allen Ständen die Wahrheiten unserer heiligen Religion verkünden oder die Größe der katholischen Kirche in geschichtlicher Entwicklung vorführen konnte. Heute darf ich weder Predigt halten noch hören, daher muß ich mich in der Zelle erbauen.“102

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Nach der Annexion Hannovers durch Preußen 1866 hatte sich in den Niederlanden eine aus früheren hannoverschen Soldaten und Wehrpflichtigen bestehende Freischar von etwa 800 Mann gebildet, die durch den bisherigen König Georg V. von Hannover aus dem Geschlecht der Welfen (reg. 1851 – 1866) unterstützte sog. Welfenlegion. Die angeblich von dieser kleinen Truppe für Preußen ausgehende Gefahr veranlasste Bismarck 1868 zur Beschlagnahmung des königlichen Privatvermögens in Höhe von 16 Mio. Talern, obwohl bereits 1867 ein Entschädigungsvertrag abgeschlossen worden war. Gemeinsam mit dem Privatvermögen des ebenfalls 1868 von Preußen enteigneten Kurfürsten von Hessen-Kassel, Friedrich Wilhelm I., bildete dieser „Welfenfonds“ den sog. Reptilienfonds, aus dem u. a. die Bekämpfung welfischer Bestrebungen und die Unterstützung der regierungsfreundlichen Presse finanziert wurden. Die Bezeichnung geht auf Bismarck zurück, da er in einer Rede am 30. Januar 1869 die Agenten der beiden ehemaligen Souveräne als „bösartige Reptilien“ tituliert hatte. Siehe hierzu Günter Cordes, Art. Welfenfonds und Art. Welfenlegion, in: Gerhard Taddey (Hrsg.), Lexikon der deutschen Geschichte. Ereignisse – Institutionen – Personen. Von den Anfängen bis zur Kapitulation 1945, Stuttgart 31998, S. 1327; Wolfgang Schmierer, Art. Reptilienfonds, in: Taddey a. a. O., S. 1053. 100 Beide Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 14. 101 Die Pfarrkirche zu Unserer Lieben Frau auf dem Bamberger Kaulberg gehört zu den Gründungskirchen des Bistums Bamberg. Der heutige Bau wurde 1387 geweiht. Das viel verehrte Gnadenbild der Kirche ist eine thronende Muttergottes aus Nußbaumholz (um 1320), die im barocken Hochaltar steht. Seit dem Jahr 1702 wird die 1,52 m hohe Figur, in kostbare Gewänder gehüllt, in der „Großen Marienprozession“ am Sonntag nach Mariä Himmelfahrt zur Pfarrkirche St. Martin am Grünen Markt in Bamberg getragen. Näheres zu diesem Gotteshaus bei Anna Elisabeth Stein, Die Obere Pfarre zu Bamberg. Ein Kurzführer, Bamberg 1995. 102 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 14.

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Dann liest Mahr im vom „unerschrockenen hochwürdigen Herrn Dr. Hopfenmüller trefflich redigirten Bamberger Volksblatt“103 (dem Nachfolger von Mahrs Zeitung), dass von liberaler Seite geplant sei, den Krieg gegen die katholische Kirche „auf das Äußerste“ zu führen, „denn Deutschland betrachte die Vaticanpolitik als seinen Todfeind, den es auf’s Äußerste bekämpfen müsse und werde“. Das sei ganz richtig und eben deshalb sei es auch „äußerst beachtenswert“, was der Erzbischof von London (eigentlich Westminster104) Eduard Manning105 den Mitgliedern des Vereins 103 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 14 f. (Kursivsetzungen sind im Original gesperrt). – Lorenz (Laurenz) Hopfenmüller (1844 – 1890) wurde 1866 in Bamberg zum Priester geweiht und promovierte 1867 in Würzburg zum Dr. theol. Anschließend Kaplan in Bamberg/St. Martin, war er seit Gründung des katholischen „Bamberger Volksblatts“ 1871 dessen leitender Redakteur. Mit seinen Artikeln über behördliche Willkür gegenüber Katholiken, Gehältersperrungen für Priester und Verhaftungen von Bischöfen sorgte Hopfenmüller immer wieder für Zündstoff und war – ähnlich wie Mahr – durchaus umstritten. Ebenfalls wie Mahr stand er einige Male vor Gericht und wurde zu mehr als acht Monaten Gefängnis verurteilt. Nach deren Verbüßung war er Kurat in Reichmannsdorf und ab 1882 Pfarrer im – nicht weit von Ebermannstadt entfernten – Seußling, wo er sich jeweils besonders der armen und einfachen Leute annahm. 1887 gab er seine Pfarrei auf und trat in Rom in den Salvatorianerorden ein. 1890 ging Pater Otto (so sein Ordensname) in die Mission nach Nordindien, wo er jedoch noch im selben Jahr im Alter von nur 46 Jahren verstarb. Weiteres zu Hopfenmüller bei Michael Kleiner, Lorenz Hopfenmüller. Vom Kulturkämpfer zum Indienmissionar, in: Michael Kleiner/Ludwig Unger (Hrsg.), Unterm Sternenmantel. 1000 Jahre Bistum Bamberg. Die Geschichte in Lebensbildern, Bamberg 2007, S. 212 – 237. Das „Bamberger Volksblatt“ wurde 1970 vom „Fränkischen Tag“ übernommen. 104 „Bei der Wiedererrichtung der katholischen Hierarchie in England und Wales 1850 wurde Westminster einziger Metropolitansitz Englands mit 12 (später 15) Suffraganen.“ Das Erzbistum Westminster, dessen zweiter Erzbischof Henry Edward Manning war, umfasst London, das nördliche Themseufer und Hertfordshire. Vgl. dazu Denis Bradley, Art. Westminster 2), in: LThK3 10 (2001), Sp. 1124 (Zitat ebd.). 105 Henry Edward Manning (1808 – 1892) stammte aus einer anglikanisch-evangelikalen Familie der englischen Oberschicht. Nach einem Studium in Oxford wurde er 1833 zum anglikanischen Priester ordiniert. Im selben Jahr heiratete er, seine Frau starb jedoch bereits 1837. Unzufriedenheit mit der Kirche von England, Konversionen zahlreicher Freunde sowie Aufenthalte in Rom (Papstaudienz 1848) und Mailand veranlaßten ihn 1851, zur römischkatholischen Kirche überzutreten und sich zum katholischen Priester weihen zu lassen. Nach seiner Promotion zum Dr. theol. (1854) wirkte Manning als Superior der Priestergemeinschaft der Oblaten des hl. Karl Borromäus, erbaute in London katholische Kirchen und Schulen und gründete Klöster. 1865 zum Erzbischof von Westminster geweiht (Kardinal ab 1875), entwickelte er rege Aktivitäten v. a. sozial-karitativer Art (Poor Men’s Cardinal). Kirchenpolitisch zeigte er sich strikt ultramontan, ja „römischer als Rom“ (More Roman than Rome) und übernahm beim Ersten Vatikanischen Konzil 1869/70 (gemeinsam mit dem Regensburger Bischof Ignatius von Senestrey) die Führung der Infallibilisten, d. h. der Anhänger der päpstlichen Unfehlbarkeit. Dabei war Henry Edward Manning nach Klaus Schatz der prominenteste Vertreter einer maximalistischen Deutung der Infallibilität, die durch zwei Tendenzen charakterisiert ist: „Die päpstliche Unfehlbarkeit wird als Quelle der Unfehlbarkeit der Kirche verstanden; und der Begriff ex cathedra, bzw. definieren wird sehr weit verstanden, so daß praktisch der ganze Bereich des päpstlichen Lehramtes darunter fällt“ (Schatz, Vaticanum I, 3. Bd. [Anm. 80], S. 284; Washburn stuft ihn hingegen als gemäßigten Ultramontanen ein: Christian D. Washburn, The First Vatican Council, Archbishop Henry Manning, and Papal Infallibility, in: The Catholic Historical Review 102 [2016], S. 712 – 745, hier: S. 712, 745).

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„Academia of the Catholic Religion“106 vorgetragen habe. Schon der Name des Autors bürge „für den gediegenen Inhalt“, und für die Wichtigkeit und Aktualität des Gegenstandes spreche der Umstand, dass die Londoner „Times“ ihm „vier lange Spalten ihres Raumes“ widme107. Die mittlerweile übersetzte und separat gedruckte Abhandlung mit dem Titel „Cäsarismus und Ultramontanismus“108 werde er „zur Empfehlung“ in Teilen wiedergeben, was Mahr vom 23. bis 28. Februar dann auch ausführlich und mit langen wörtlichen Zitaten tat109 ; hier soll es genügen, dessen Grundzüge wiederzugeben. Das erste historische Auftreten des Cäsarismus sei im Despotismus der römischen Kaiser zu sehen, das sich in der Titulatur „Divus Caesar, Imperator et Summus Pontifex“ zusammenfassen lasse110. Notwendigerweise schließe ein derart absoluter AnVgl. zu Manning und seiner ultramontanen Theologie insgesamt: James Pereiro, Cardinal Manning. An Intellectual Biography, Oxford 1998, bes. S. 254 f.; Gaston Zananiri, Art. Manning, in: Catholicisme. Hier – aujourd’hui – demain, 8. Bd., Paris 1979, Sp. 339 – 345; Sheridan Gilley, Art. Manning, in: TRE 22 (1992), S. 60 – 63; Günter Biemer, Art. Manning, in: LThK3 6 (1997), Sp. 1283; Jeffrey P. von Arx, Manning’s Ultramontanism and the Catholic Church in British Politics, in: Recusant History (Bognor Regis) 19 (1989), S. 332 – 347; Adrian Lüchinger, Päpstliche Unfehlbarkeit bei Henry Edward Manning und John Henry Newman, Fribourg 2001; Victor Conzemius, Art. Ultramontanismus 2.8, in: TRE 34 (2002), S. 259. 106 Für diese 1861 von Kardinal Nicholas Wiseman, dem ersten Erzbischof von Westminster (reg. 1850 – 1865), gegründete Vereinigung engagierte sich Manning von Anfang an. Allerdings trug er wesentlich dazu bei, sie ultramontan auszurichten, was zur Aufspaltung der englischen Katholiken in unversöhnliche Parteiungen führte. Hierzu ausführlich John D. Root, The „Academia of the Catholic Religion“: Catholic Intellectualism in Victorian England, in: Victorian Studies 23 (1979), S. 461 – 478. 107 Diese Einschätzung entnahm Mahr dem Vorwort zur deutschen Ausgabe (S. 3; siehe die folgende Anm.). Hier ist außerdem zu erfahren, daß Manning den Vortrag am 23. Dezember 1873 in seiner eigenen Wohnung gehalten hatte, und daß er bereits am Tag darauf, also am Hl. Abend, in der „Times“ abgedruckt worden war. Endzeitgedanken lässt der Schlusssatz des Vorworts aufkommen, wenn es heißt, die Worte des englischen Prälaten seien „gesprochen für eine ernste Zeit, wo in dem Kampf zwischen Christ und Antichrist an jeden denkenden Menschen die Aufforderung ergeht, feste Stellung zu nehmen“ (ebd.). 108 1874 erschien der Vortrag als Broschüre in zwei englischen und zwei deutschen Auflagen. Die englischen Auflagen mit dem Originaltitel „Caesarism and ultramontanism“ (hierzu Washburn, First Vatican Council [Anm. 105], S. 743) wurden in London veröffentlicht, die deutschen in Linz (Bezug genommen wird in der vorhergehenden Anm. und im Folgenden auf: Eduard Manning, Cäsarismus und Ultramontanismus, Linz 21874). Drei Jahre später folgte noch eine französische Ausgabe (Paris 1877). Über diese Schrift Mannings gab es in der Zeitschrift „The Contemporary Review“ (Oxford) 1874 eine Kontroverse zwischen dem englischen Juristen und Rechtshistoriker James Fitzjames Stephen (1829 – 1894) (Bd. 23, S. 497 – 527 und 989 – 1017, jeweils unter dem Titel: „Caesarism and ultramontanism“) und Manning (Bd. 23, 683 – 702, unter dem Titel „Ultramontanism and Christianity). 109 In diesen Zitaten gibt es mehrmals nicht gekennzeichnete Auslassungen Mahrs. 110 Alle Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 15. – Der „Deutsche Merkur“ kommentierte dies in einer umfangreichen Rezension von Mannings „Cäsarismus und Ultramontanismus“ so: „Mit dem fast bischöfliche Mode gewordenen kühnen Sprung von der Gegenwart in die römische Kaiserzeit, wobei das stellenweise etwas unbequeme Mittelalter mit seinem

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spruch die Oberherrschaft Gottes und seiner Gesetze aus und bedeute stattdessen die Vergötterung des Menschen. Daher sei der Cäsarismus stets der Gegner der Kirche gewesen und die Maxime „Cujus regio, ejus et religio“111 eines seiner Axiome. Wo diese „Lex Regia“ herrsche, existiere keine menschliche Freiheit mehr.112 Nachdem Mahr am 24. Februar zunächst vermerkt hatte, dass sich die Umgebung der Frohnveste – in der eigentlich nie Ruhe einkehre – in eine „vollständige Winterlandschaft“ verwandelt hatte113, kam er erneut auf das „Schriftchen des Herrn Erzbischofs von London“ zurück. Mit dem Erscheinen des Erlösers seien die Verhältnisse völlig umgestaltet worden; es gebe seither eine geistliche und eine weltliche Gewalt, die nie mehr in einer Person vereinigt werden könne. So könne der Cäsar weder „divus“ noch „pontifex maximus“ sein. Anschließend stellt Manning die Unterschiede zwischen dem heidnischen und dem christlichen Cäsarismus gegenüber: „1. Der erstere betrachtet den Staat als seine eigene Schöpfung, der letztere als die Schöpfung Gottes. 2. Der erstere ist Oberpriester und König über Leib und Seele, absolut und ausschließlich; der letztere ist in Allem, was die Seele betrifft, unterworfen dem göttlichen Gesetz und der Kirche Jesu Christi. 3. Der erstere macht die Religion zu einem Werkzeug und einer Domäne des Staates; der letztere macht sie zu einer Schranke der weltlichen Macht und zu einer Schutzwehr menschlicher Freiheit. 4. Der erstere behandelt die Kirche als ihm untergeben; der letztere behandelt alle weltliche Gewalt als Gott und seinem Gesetze unterworfen, wie die Kirche es bewahrt und auslegt. 5. Der erstere betrachtet alle Gewalt, die bürgerliche und die religiöse, als vom Volke kommend; der letztere betrachtet die weltliche Gewalt als formell von Gott stammend, und die geistliche Gewalt als ausschließlich von Gott verliehen und darum auch abhängig von Gott allein. Kampf zwischen Kaiser und Papst ignorirt wird, begann Manning“ (Erzbischof Manning über „Cäsarismus und Ultramontanismus.“, in: Deutscher Merkur. Organ für die katholische Reformbewegung im Auftrage der [altkatholischen] Comites zu Köln und München herausgegeben, München, Nr. 2 v. 10. Jan. 1874, S. 1 f., hier S. 1; der „Deutsche Merkur“ erschien von 1872 bis 1922). Völlig unkritisch ist dagegen die Besprechung von Mannings kleinem Opus in der „Theologisch-praktischen Quartalschrift“ (Linz), die mit dem Wunsch schließt: „Möchten Manning’s Worte allenthalben widerhallen und möge darum auch der Übersetzer den verdienten Dank empfangen, daß er diese herrlichen Worte auch für Kreise zugänglich gemacht hat, welche der englischen Sprache unkundig sind“ (ThPQ 27 [1874], S. 387 f., hier S. 388). 111 Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde festgelegt: In jedem Territorium sollte nur eine Konfession herrschen, die der jeweilige Landesherr frei bestimmen konnte. Er besaß das Ius reformandi (Reformationsrecht), das in dem erst 1599 so formulierten lateinischen Satz gipfelte: „Cuius regio, eius [et] religio“ (wörtlich: Wessen das Land, dessen [auch] die Religion, besser: wes die Herrschaft, des die Konfession). Vgl. dazu Eder, Kirchengeschichte (Anm. 19), S. 156 f. 112 Beide Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 16. Das lange Zitat in Mahr, Frohnveste, S. 15 f., findet sich bei Manning, Cäsarismus (Anm. 108) 6 f. Bei Mahr wie bei Manning (englisch und deutsch) heißt es ungebräuchlicherweise „… ejus est religio“. 113 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 16.

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Das ist Ultramontanismus, dessen Wesen darin besteht, daß die Kirche, weil eine göttliche Institution und durch göttlichen Beistand unfehlbar, innerhalb ihrer eigenen Sphäre unabhängig ist von aller weltlichen Gewalt, und als die Bewahrerin und Auslegerin des göttlichen Gesetzes auch die eigentliche Richterin ist über Menschen und Völker in allen Dingen, welche jenes Gesetz in Sachen des Glaubens und der Sitte berühren.“114

Ultramontanismus und Katholizismus seien identisch, ebenso Katholizismus und vollkommenes Christentum. Das Christentum habe die zwei Prinzipien der Trennung der geistlichen und der weltlichen Gewalt und des Supremats (Überordnung) der geistlichen über die weltliche Gewalt in die menschliche Gesellschaft eingeführt. Weder die Bulle „Unam sanctam“115 noch die Definitionen des Ersten Vatikanums enthielten mehr, und die beiden Konstitutionen (gemeint sind „Dei filius“ und „Pastor aeternus“) seien daher keine Verordnungen, sondern nur Erklärungen116. Dem fügt Mahr hinzu: „Man wird unschwer herausfinden, daß dies die richtige Ansicht der katholischen Kirche ist, weßhalb auch die Mitglieder des Centrums […] genau dieselben Ansichten ausgesprochen.“117 114

12 f.

Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 17 f., bzw. Manning, Caesarismus (Anm. 108), S. 9,

115 Die Bulle „Unam sanctam“ aus dem Jahre 1302 ist eine der berühmtesten in der gesamten Kirchengeschichte. Sie ist das klassische Dokument des päpstlichen Hoheitsanspruchs, wie er sich seit den Tagen Gregors VII. und Innocenz’ III. ausgebildet hatte und von Bonifaz VIII. nun mit Schroffheit vorgetragen wurde. Die Bulle führte aus, es gebe nur eine Kirche (Unam sanctam Ecclesiam catholicam et ipsam apostolicam …) und außer ihr kein Heil (extra ecclesiam nulla salus) und keine Vergebung der Sünden. Ihr einziges Haupt sei Christus, der durch seinen Stellvertreter Petrus und dessen Nachfolger wirke. Beide Schwerter, das geistliche wie das weltliche, gehörten der Kirche; sie selbst führe das geistliche, das weltliche aber der König im Dienst und nach Weisung der Kirche. Die geistliche Gewalt überrage an Würde jede weltliche, könne sie einsetzen und über sie richten, falls sie sündige. Die höchste geistliche Gewalt aber könne nur von Gott gerichtet werden. Wer sich ihr widersetze, widerstehe Gott. Und aufgrund alldessen folgert der berühmte Schlusssatz: „Wir erklären, sagen und definieren […], daß es für jedes menschliche Geschöpf unbedingt notwendig zum Heil ist, dem Römischen Bischof unterworfen zu sein.“ Vgl. dazu Jürgen Miethke, Art. Unam Sanctam, in: LThK3 10 (2001), Sp. 375. 116 Dies ist nicht zutreffend. Formal ist eine Konstitution eine An- oder Verordnung. Inhaltlich bringt zwar „Dei filius“ keine Neuerungen, sondern bekräftigt nur katholische Lehren, sehr wohl aber „Pastor aeternus“. Wenn in dieser dogmatischen Konstitution nichts Neues definiert worden wäre, hätte es weder Widerstand von Bischöfen, Theologen und Gläubigen noch den Altkatholizismus oder den Kulturkampf gegeben. Näheres zum Inhalt der Konstitutionen bei Bernward Schmidt, Die Konzilien und der Papst. Von Pisa (1409) bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 – 65), Freiburg i. Br. 2013, S. 238 – 247; Eder, Kirchengeschichte (Anm. 19), S. 189 f. 117 Alle Zitate nach Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 17 f. – Dass die Ansichten Mannings und des Zentrums keineswegs übereinstimmten, wie Mahr hier behauptet, zeigte der „Deutsche Merkur“ unter Verweis auf das in der katholischen Zeitung „Germania“, dem inoffiziellen Parteiorgan des Zentrums, am 5. Januar 1874 abgedruckte „Wahlprogramm der Berliner Ultramontanen“ auf, wo es im Abschnitt II.2 hieß: „,Wir müssen an dem Grundsatz festhalten, daß Fragen von kirchlich-politischer Natur nur durch gegenseitiges Einvernehmen beider Factoren geregelt, die Grenzen zwischen Staat und Kirche niemals vom Staate einseitig und eigenmächtig festgesetzt werden können.‘ In Manning’s Augen, das mögen die Herren vom

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Am 25. Februar „ist einmal große Vorstellung“, wie Mahr sich ausdrückt; er bekommt nämlich Besuch von der Visitationskommission, „um sich zu erkundigen, ob ich in meinem Käfig zufrieden sei, was ich unbedingt und mit gutem Gewissen bejahen konnte“118. Am Nachmittag wird der Ebermannstädter Pfarrer wegen eines Strafantrags des Bezirksarztes Dr. Pachmaier (richtig: Pachmayr) befragt119, den er offenbar in „Schnadahüpfeln“120 aufs Korn genommen hatte, und an dem er auch in seinem Gefängnis-Tagebuch viel zu kritisieren hat, namentlich seine Wandlungsfähigkeit in politischer und konfessioneller Hinsicht121. Schließlich lobt er die

Centrum sich gesagt sein lassen, ist dieser §. II.2 eine offene Ketzerei“ (zit. nach: Erzbischof Manning [Anm. 110], S. 1; die Kursivsetzungen sind im Original gesperrt). 118 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 19. 119 Johann Baptist Pachmayr (*1814) war der Bezirksarzt von Ebermannstadt (siehe das Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Bayern 1873, München 1873, S. 313: „BezirksArzt Erster Klasse“) und 1875 bereits pensioniert (vgl.: Schematismus der Ärzte im Königreiche Bayern nach dem Stande vom 31. Dezember 1875, München 1876, S. 44). 120 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 19. 121 Zu letzterer vgl. unten Mahrs Eintragung zum 27. Februar 1874. – Worum es bei der Kontroverse Mahrs mit Pachmayr, „dessen Namen in letzter Zeit so und so oft in der Presse mit dem des Hrn. Mahr zusammen genannt wurde“, wohl in erster Linie ging, offenbart – wenn auch sicherlich etwas zugespitzt – die (liberale) Passauer Zeitung (Nr. 90 v. 21. April 1874, S. 1 f.): „Dieser allgemein geachtete und beliebte, im ganzen Bezirk als Ehrenmann bekannte Arzt nun hatte, wie männiglich [= allgemein] bekannt, das Malheur, seiner liberalen Gesinnung halber den Zorn des Hrn. Pfarrers auf sich zu laden; gewiß bei dessen Schreib- und Kampfwuth keine Kleinigkeit. Herr Pfarrer Mahr und seine Helfershelfer in Civil- und Staatskleid haben es sich zur Aufgabe gemacht, ihre politischen Gegner in hiesiger Gegend, die sich irgendeines Einflusses bei der Bevölkerung erfreuen, mundtot zu machen und gehen hiebei systematisch zu Werke. Wie ihren Ränken und Intriguen schon so Mancher zum Opfer fiel, so kam jetzt die Reihe an Dr. P. Derselbe hatte wiederholt Gelegenheit ihre nach ihm ausgestreckte[n] Krallen zu fühlen. Eines schönen Tages des verflossenen Monats erhielt Hr. Dr. P. ein Protokoll des Pf. M., worin derselbe sagte: die Bierbrauerswitwe Margaretha Ott von Ebermannstadt sei bei ihm gewesen und habe ihm Mitteilung gemacht, daß ihr kürzlich verstorbener Sohn von Dr. P. falsch behandelt, demzufolge geliefert, mit andern Worten unter den Erdboden gebracht worden sei, weshalb sie sich auch genöthigt sehe gegen denselben wegen fahrlässiger Tödtung klagbar aufzutreten. Der dadurch an seiner Ehre tief beleidigte Dr. P. stellte sofort gegen Marg. Ott Strafantrag“. Beim anschließenden Prozess sagte Frau Ott jedoch aus, „daß sie zu Hrn. Pfarrer die Äußerungen ,geliefert‘, ,unter den Erdboden gebracht‘ nicht gemacht, ebensowenig habe sie eine Klagandrohung wegen fahrlässiger Töd[t]ung fallen lassen und auch zur Protokollaufnahme keine Veranlassung gegeben, ja sie habe von letzterem gar nichts mehr gewußt“. Der als Hauptzeuge geladene Pfarrer Mahr verweigerte in einem theaterreifen Auftritt zunächst den geforderten Eid, um ihn dann doch noch zu leisten, wobei er sich zu dem Ausspruch „Das Lügen überlasse ich den Staatsanwälten und Landrichtern“ hinreißen ließ, und musste dann zugeben, dass die Witwe Ott sich tatsächlich nicht (oder zumindest nicht in seinen scharfen Worten) über Dr. Pachmayr geäußert hatte, auf den er anschließend auch noch „Ort und Umgebung mißachtend mit drohend-erhobenen Armen und geballten Fäusten“ losging, aber vom Anwalt Pachmayrs zur Räson gebracht wurde. Nachdem ein weiterer Arzt ausgesagt hatte, dass sein Kollege den Sohn Otts nicht falsch behandelt habe, wurde Margaretha Ott schließlich zu 7 Talern (= 21 Mark) Strafe und zur Tragung der Kosten verurteilt, was sie letztlich Mahr zu verdanken hatte.

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„treffliche“ Haltung der katholischen Presse; sie sei „eine Riesenmacht im Reiche“122, was nicht immer so gewesen sei. Am 26. Februar erinnert sich Mahr seines besten Jugendfreundes Paul Förtsch aus Teuschnitz, mit dem er als Student gemeinsam musiziert habe (wobei Mahr Flöte spielte), der aber einer bei einem Duell erlittenen Stichverletzung erlag123. Dann wendet er sich erneut Manning zu und zitiert ausführlich aus dessen Traktat, in dem der Erzbischof von Westminster wiederum über den Ultramontanismus handelt, den er mit dem Christentum gleichsetzt und anschließend zusammenfaßt, woraus der Cäsarismus und woraus der Ultramontanismus jeweils besteht: „Der Cäsarismus besteht 1. in der Vereinigung der beiden Gewalten in einer Person; 2. in dem Anspruch auf den Supremat über alle Rechtssachen und Personen; 3. in der Belastung des Gewissens in geistlichen Dingen; 4. in der Abschließung der Nationalreligion unter dem Vorwand, daß keine auswärtige Jurisdiction im Staate sich geltend machen könne; 5. in der Abschließung der Nationalkirchen und dadurch in der Verwerfung der allgemeinen Autorität der Kirche. Der Ultramontanismus besteht 1. in der Trennung der beiden Gewalten und in der Übertragung derselben an verschiedene Personen; 2. darin, daß er für die Kirche das ausschließliche Recht in Anspruch nimmt, die Lehre des Glaubens und der Moral zu bestimmen, und 3. die Grenzen ihrer eigenen Jurisdiction in jener Sphäre zu ziehen; 4. in der unauflöslichen Einheit mit dem hl. Stuhl und in der Unterwerfung unter die allgemeine Jurisdiction derselben.“124

Der Trennung der geistlichen und der weltlichen Gewalt sei die Ordnung, der Fortschritt, die Zivilisation und – soweit gegeben – der Frieden der christlichen Welt zu verdanken. Mahrs besonders umfangreiche Eintragungen zum 27. Februar heben an mit heiteren Kurzgedichten und mit Zitaten Bismarcks sowie des Schweizer Schriftstellers und Pastors Heinrich Zschokke (1771 – 1848). Nach ein paar launigen Anmerkungen 122

Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 21. Paul Förtsch wurde 1820 in Teuschnitz bei Kronach (Oberfranken) als Sohn eines Bäckermeisters und späteren Gastwirts geboren und war somit zwei Jahre älter als Mahr. Dennoch besuchten sie gemeinsam die zweite Klasse des Gymnasiums in Bamberg, wobei sich Förtsch als sehr guter Schüler zeigte, während sich Mahr nur im Fach Deutsch positiv hervortat. Vgl. dazu den Jahresbericht der lateinischen Schule in Bamberg 1835, Bamberg 1835, S. 9, sowie den Jahresbericht über das königliche Lyzeum und Gymnasium in Bamberg, Bamberg 1839, S. 18 f. 124 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 24; Manning, Caesarismus (Anm. 108), S. 18 f. 123

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zu seinen Mithäftlingen und einigen Seitenhieben gegen die Liberalen und gegen Bismarck im Zusammenhang mit der deutschen Annexion Elsass-Lothringens von Frankreich 1871 nach dem Sieg im deutsch-französischen Krieg wendet er sich der am 23. Februar 1874, also vier Tage zuvor, verhandelten Klage des Strumpfwirkers Martin aus Kusel gegen den Bischof von Speyer, Bonifatius von Haneberg (reg. 1872 – 1876), zu. „Dieser hatte bekanntlich die civiliter125 eingegangene Ehe des Martin mit dem geschiedenen Eheweib eines Katholiken ein Concubinat genannt, worauf dieser gegen den Bischof wegen verleumderischer Beleidigung klagte.“126 Haneberg wurde – so Mahr – vom Bezirksgericht Kaiserslautern tatsächlich zur Zahlung von 25 Talern wegen dieses Vergehens verurteilt127. Ähnlich wie bei dem Strumpfwirker sei es bei Dr. Pachmaier (Pachmayr), der – protestantisch geworden – eine Katholikin heiratete, obwohl seine erste Frau, ebenfalls eine Katholikin, und ihre gemeinsame Tochter noch am Leben seien. Anschließend mokiert er sich über die Mode mancher Damen „mit einem Hühnerneste auf dem Kopf“; es sei unbegreiflich, wie deren Väter solch französischen Unsinn an ihren Töchtern dulden könnten. „Wie wohlthuend ist dagegen die Erscheinung einer Tyrolerin mit ihren einfachen Zöpfen oder eines altbayerischen Riegelhäubchens; der einzige Trost ist, daß es schon zu allen Zeiten so närrisches Zeug gegeben“128. Auf die geschilderte zweite Ehe von Dr. Pachmayr zurückkommend, erwähnte Mahr mit Mißbilligung die gleiche Absicht des Vorstands der Münchner Stadtgemeindebevollmächtigten Guggenheimer129 und die schon über drei Jahrzehnte zurückliegende Eheschließung, bei der „der Gottesläugner David Strauß die katholi-

125

D. h.: nur standesamtlich, nicht kirchlich. Die standesamtliche Trauung (Zivilehe) war ab 1875 im Deutschen Reich obligatorisch und ist es in Deutschland bis heute. 126 Beide Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 26. 127 Dies bestätigt die Coburger Zeitung (Nr. 115 v. 20. Mai 1874, S. 1) und vermerkt, dass der Bischof zusätzlich „die nicht unbedeutenden Kosten des Verfahrens“ zu tragen, aber dennoch die Berufung „nicht ergriffen“ habe, so dass das Urteil nunmehr rechtskräftig sei. Die Verhandlung hatte am 7. August 1873 stattgefunden (vgl. Coburger Zeitung, Nr. 161 v. 14. Juli 1873, S. 1). 128 Beide Zitate nach Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 26 f. 129 Moritz Guggenheimer (1825 – 1902) übte die genannte Funktion von 1870 bis 1879 aus und war damit einer der höchsten Repräsentanten der Isarmetropole. Dem Gremium selbst gehörte er seit 1869 als erstes jüdisches Mitglied an. Außerdem war er u. a. Mitbegründer der Bank „Brüder Guggenheimer & Co.“ und von 1872 bis zu seinem Tod Aufsichtsratsvorsitzender der Münchner Brauerei „Löwenbräu“. Bereits 1850 hatte er die Kaufmannstochter Therese Maron geheiratet, von der er 1871 geschieden wurde. 1879 schloß er eine zweite Ehe mit Helene Wolff, die ihm eine Tochter gebar. Näheres zu Guggenheimer, zu jener Zeit einer der einflußreichsten Kommunalpolitiker Münchens, der sich auch in der dortigen jüdischen Gemeinde engagierte, bei Marcus Pyka, Das Werden einer großstädtischen Gemeinde (1848 – 1892), in: Richard Bauer/Michael Brenner (Hrsg.), Jüdisches München. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2006, S. 89 – 109, hier: S. 103 f. (mit Abb.).

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sche Schebest“ heiratete130, „welche Ehe bekanntlich sehr unglücklich war, obwohl zwei Ideale von liberaler Bildung und Aufklärung zusammen heiratheten“. Und voller Ironie fuhr er fort: „Ei, wenn einmal diese Bildung und Aufklärung in unsre ultramontanen Bürger und Bauern hineinführe, daß sie alle ihre ersten Weiber fortschickten und sich civiliter solche Narrendinger antrauen ließen, dann wäre die menschliche Gesellschaft gerettet und obendrein das ganze Jahr – Fastnacht“131. Zwei Sinnsprüche und zwei Scherzgedichte eröffnen die Zeilen vom 28. Februar. Deren letzteres lautet: „Ein Haarring war mein Wunsch seit vielen Jahren – Gern gäb ihn Otto mir, nur fehlt es ihm an – Haaren.“132

An diesem Tag kritisierte Mahr die freundliche Russland-Politik des „allerchristlichsten Kaisers“ Franz Joseph I. von Österreich (reg. 1848 – 1916), seines „erhabenen Namensvetters“, „während die Katholiken im russischen Reiche auf die brutalste und unmenschlichste Weise wie tolle Hunde todtgeschlagen und erschossen werden, wenn sie nicht von ihrer Religion abfallen“133.

130 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 27. – Der evangelische Theologe und Philosoph David Friedrich Strauß (1808 – 1874) sorgte bereits früh durch sein Buch „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ (1835/36), in dem er zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens unterschied, für großes Aufsehen; es sollte sein wirkungsgeschichtlich bedeutendstes Werk bleiben. 1842 heiratete Strauß die österreichische Opernsängerin Agnese Schebest (1813 – 1869), deren Vater Tscheche war. Sie beendete mit der Heirat ihre Bühnenkarriere, arbeitete aber als Gesangslehrerin weiter. Das Paar lebte in Sontheim bei Heilbronn, bis Strauß 1843 allein nach Heilbronn und seine Frau zu ihrer Schwester zog. Die Ehe, aus der 1843 eine Tochter und noch 1845 ein Sohn hervorging, war in der Tat unglücklich und wurde 1848 geschieden. Weiteres zu Strauß, der sich im späteren Leben immer mehr vom Christentum entfernte, bei Thomas K. Kuhn, Art. Strauß, David Friedrich, in: TRE 32 (2001), S. 241 – 246. 131 Beide Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 27. 132 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 28. Mit „Otto“ könnte, falls dieses Scherzgedicht einen realen Bezug hat, Otto von Bismarck gemeint sein, dessen berühmte drei Haare neben dem Walroßschnauzer zum Markenzeichen des „Eisernen Kanzlers“ wurden und in vielen Bismarck-Karikaturen vorkamen. Näheres hierzu bei Manfred Eder, Kirchengeschichte in Karikaturen. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, Ostfildern 2017, S. 106 – 113 (mit Abb. des bismarckschen Haar-Barometers). 133 Alle Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 28. – „Unter den Gelegenheitsreaktionen und unschlüssigen Schritten scheint noch die Aussöhnung mit Rußland von Mitte 1873 an das entschlossenste Bestreben der Wiener Außenpolitik zu sein.“ Sichtbare Zeichen hierfür waren die Reise Kaiser Franz Josephs nach St. Petersburg im Februar 1874 und „daß beide Länder ihre Auslandsvertretung im März 1874 in den Rang von Botschaften erhoben“ (István Diószegi, Die Außenpolitik der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1871 – 1877, Wien u. a. 1985, S. 49 f.). In der Tat gab es aber zu jener Zeit „scharfe antikatholische Maßnahmen“ in Russland. Siehe hierzu Gerd Stricker, Art. Rußland II.2, in: LThK3 8 (1997), Sp. 1377 f. (Zitat: 1378).

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Dann wendet sich Mahr wieder der Broschüre Mannings zu, die er nach Zusammenfassung einer Passage in eigenen Worten über zwei Seiten lang wörtlich zitiert134. Hierbei geht es diesmal ausführlich um die deutsche Politik im Kulturkampf135. Manning führt hierzu diverse Aussagen Dr. Falks im preußischen Abgeordnetenhaus an136, so vom 17. Januar 1873: „Meiner Auffassung nach stehen sich Staat und Kirche auf ethischem Gebiete völlig gleich, auf dem Rechtsgebiete dagegen steht der Staat über der Kirche“137. Sodann bedenkt er die Wirkungen der Falk’schen Kulturkampfgesetze und kommt zu folgendem Schluss: „Diese Gesetze können nur aufgefaßt werden als ein wohlerwogener Plan, den Katholiken es unmöglich zu machen, zu gehorchen, damit sie dann des Widerstandes gegen die Autorität des Kaisers angeklagt und demgemäß behandelt werden möchten.“138 Mit den nachstehenden von Mahr zitierten (und goutierten) Sätzen schließt Mannings Abhandlung: „,Divus Caesar‘ und ,Vicarius Christi‘139 sind zwei Personen und zwei Systeme, zwischen welchen nicht nur kein Friede, sondern nicht einmal ein Waffenstillstand bestehen kann. Sie haben einander bekämpft seit 1800 Jahren. In Deutschland sieht man sie noch einmal im Kampfe begriffen. Der Ausgang ist gewiß. Diejenigen, welche früher immer gesiegt, werden wieder siegen. Wo sind jetzt die Kaiser von Rom, Deutschland und Frankreich? Aber Petrus ist noch immer auf seinem Stuhl und Petrus ist jetzt Pius IX.“140 Mit einem Kommentar zu einer Äußerung von Bischof Andreas Räß von Straßburg (reg. 1842 – 1887) beginnen die Eintragungen Mahrs am 1. März 1874. Hier geht es nochmals um die Annexion Elsass-Lothringens im Frankfurter Friedensver134

Die Zusammenfassung betrifft Manning, Caesarismus (Anm. 108), S. 19 – 21, das wörtliche Zitat S. 22 – 28 (mit größeren Auslassungen). 135 Vgl. hierzu auch Jeffrey P. von Arx, Archbishop Manning and the Kulturkampf, in: Recusant History 21 (1992), S. 254 – 266. 136 Die liberale Kirchen- und Schulpolitik Adalbert (von) Falks (1827 – 1900), der von 1872 bis 1879 als preußischer Kultusminister amtierte, wurde von den Katholiken erbittert bekämpft, aber auch von konservativen Protestanten und Kaiser Wilhelm I. (reg. 1861 – 1888) weithin abgelehnt. Der energische Jurist Dr. Falk, der den widerstrebenden Heinrich von Mühler abgelöst hatte, war der eigentliche Schöpfer der Kulturkampfgesetzgebung und neben Bismarck die treibende Kraft des Kulturkampfs überhaupt. Selbst der dem Protestanten Falk wohlgesonnene Biograph Erich Foerster merkte an: „Bei dem Vorgehen gegen die katholischen Orden und Klöster hat sich Falk wohl wirklich über die Linie fortreißen lassen, deren Innehaltung [= Einhaltung] der katholische Glaube fordern durfte.“ Vgl. Erich Foerster, Adalbert Falk. Sein Leben und Wirken als preußischer Kultusminister, Gotha 1927 (Zitat: S. 701); Stephan Skalweit, Art. Falk, Paul Ludwig Adalbert, in: NDB 5 (1961), S. 6 f.; Bernd Haunfelder, Die liberalen Abgeordneten des Deutschen Reichstags 1871 – 1918, Münster 2004, S. 130. 137 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 29; Manning, Caesarismus (Anm. 108), S. 22. 138 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 30; Manning, Caesarismus (Anm. 108), S. 28. 139 Papst Innocenz III. (reg. 1198 – 1216) fasste alle Herrschaftsansprüche seiner Vorgänger zusammen und begnügte sich endgültig nicht mehr mit dem Anspruch, „Vicarius Petri“ zu sein; vielmehr nennt er sich „Vicarius Christi“, Stellvertreter Christi auf Erden, was seither ein fester Titel der Päpste ist. Vgl. Eder, Kirchengeschichte (Anm. 19), S. 106. 140 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 31 (die Kursivsetzungen sind im Original gesperrt); Manning, Caesarismus (Anm. 108), S. 29 f. (ohne Sperrungen).

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trag, die Räß rasch akzeptierte, was Mahr als „ganz correct“ bewertet. „Denn nach katholischen Grundsätzen ist jede bestehende Obrigkeit von Gott und deßhalb kann ein in gesetzmäßiger Weise einmal zu Stande gekommener Staatsvertrag nicht in Frage gestellt werden“141. Ansonsten zitiert Mahr aus dem berühmten Buch Macchiavellis „Il principe“ (Der Fürst)142 und aus dem „Antimacchiavelli“ Friedrichs des Großen, der Macciavellis Opus als „eines der schädlichsten und unmoralischesten Werke“ bezeichnet143. Mahr verweist als „Ideal des Macchiavellismus“ auf den römischen Kaiser Julian

141 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 31. – Allerdings war diese Meinungsäußerung von Räß, dem ersten Elsässer auf dem Straßburger Bischofsstuhl seit dem 14. Jahrhundert, keineswegs unproblematisch. Die Mehrzahl der Elsässer lehnte nämlich die Annexion als ungerechten Gewaltakt ab, weswegen auch die elsass-lothringischen Abgeordneten im Reichstag, zu denen nicht wenige Geistliche gehörten, eine Protesterklärung abgaben. Der selbst dem Reichstag angehörende Räß, „der noch ganz aus den altelsässischen Traditionen lebte“, erklärte jedoch, „die Abgeordneten seiner Richtung hätten sich mit dem Frankfurter Friedensvertrag abgefunden. Durch diesen Schritt, der offenbarte, wie falsch Räß die Stimmung im Lande einschätzte, setzte er sich in Gegensatz zur großen Mehrheit von Klerus und Volk. Die dadurch entstandene Mißstimmung ist nie mehr ausgeräumt worden“ (Erwin Gatz, Art. Räß, in: ders. [Hrsg.], Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1983, S. 584 – 590, hier: S. 588 bzw. 589). 142 Der von 1498 bis 1512 als leitender Beamter der Republik Florenz tätige Humanist Niccolò Machiavelli (1469 – 1527) befasste sich in allen seinen Schriften mit den Voraussetzungen des politischen Erfolgs, wobei sein Grundgedanke war, „daß in der Politik ethische Verhaltensanforderungen hinter Effizienzaspekten zurückzustehen hätten. Als Modell hierfür stellt er den Papstsohn und Condottiere Cesare Borja dar, der einen Aufstand seiner Offiziere niederschlug, indem er sie mit falschen Versprechungen in eine Falle lockte und dann ermorden ließ“ (gemeint ist das Massaker von Sinigallia an Silvester 1502). Namentlich im 7. Kapitel seines um 1513 entstandenen berühmtesten Werkes „Il principe“ (Der Fürst) lobt Machiavelli ausdrücklich die kluge, listenreiche Politik Cesare Borgias, dem er selbst 1502/03 begegnet war, und riet seinem prototypischen „Fürsten“, sich an ihm ein Vorbild zu nehmen. Näheres zu Machiavelli und seiner vielrezipierten, aber nicht selten fehlinterpretierten Lehre (Machiavellismus) bei Alfred A. Strnad/Michael Gehler, Art. Machiavelli/Machiavellismus, in: TRE 21 (1991) 642 – 648; Herfried Münkler, Art. Machiavelli, in: LThK3 6 (1997), Sp. 1164 f. (Zitat: Sp. 1165); Volker Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, München 32014; ders. u. a. (Hrsg.), Der Machtstaat. Niccolò Machiavelli als Theoretiker der Macht im Spiegel der Zeit (= Staatsverständnisse 74), Baden-Baden 2015. 143 Zit. nach Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 32. – „Beispielhaft für die kategorische Ablehnung bei konsequenter Befolgung des Principe ist […] Friedrich der Große [reg. 1740 – 1786], der als Kronprinz unter Voltaires Einfluß im Antimachiavell (1739) ,die Verteidigung der Menschlichkeit wider diesen Unmenschen‘ übernahm, damit ,Gegengift unmittelbar auf die Vergiftung folge‘ (Friedrich II. von Preußen, Antimachiavel, oder Versuch einer Critik über Nic. Machiavels Regierungskunst eines Fürsten. Nach des Herrn Voltaire Ausgabe ins Deutsche übersetzt, Frankfurt a. M./Leipzig 1745 [ND Dortmund 1978], S. 213 f.). Er reflektierte jedoch die Diskrepanzen zwischen den Postulaten seiner Frühschrift und seiner Herrschaftszeit, als er im politischen Testament (1752) teilweise einräumen mußte, Machiavelli habe Recht behalten“ (Michael Gehler, Art. Machiavellismus, in: TRE 21 [1991], S. 645 – 648, hier: S. 646 f.).

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den Abtrünnigen (reg. 361 – 363)144. „Alles, was denkbar war, zur Beschimpfung und Ausrodung145 der Kirche, that er, starb aber, indem sein Blut zum Himmel spritzte, mit dem Rufe: Galiläer, Du hast gesiegt!146 – So ging es bei allen Kirchenverfolgungen, während heutzutage Papst Pius IX. als Repräsentant des Rechtes gegenüber der Gewalt die gefeiertste Persönlichkeit ist“147. Am 2. März verweist Mahr auf Rumänien, das ein Beispiel sei für die Realisierung einer National- oder Staatskirche, dem „Ideal der Bismarckianer“. Allerdings sei die dortige Staatskirche „moralisch ruiniert“, weil in der Residenz des Primas und Metropoliten von Rumänien in Bukarest eine „Falschmünzerbande“ ausgehoben worden sei, die „im Verein mit mehreren Juden148 seit Jahr und Tag bedeutende Sum144 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 32. – Kaiser Julian (*331) war christlich erzogen worden, hatte sich dann aber der Lehre des heidnischen Neuplatonismus zugewandt. Als Alleinherrscher unternahm er den (aussichtslosen) Versuch, die altrömischen Götterkulte wiederherzustellen. Die Christen nannte der römische Herrscher verächtlich „Galiläer“ und erlegte ihnen zahlreiche Einschränkungen auf. Daher erhielt Julian in christlichen Quellen den Beinamen „Apostata“ (der Abtrünnige). Weiteres zu ihm bei Klaus Rosen, Julian. Kaiser, Gott und Christenhasser, Stuttgart 2006; Theresia Nesselrath, Kaiser Julian und die Repaganisierung des Reiches. Konzepte und Vorbilder, Münster 2013. 145 Ausrottung. 146 Der gewaltsame Tod Julians wurde kirchlicherseits als Strafe des Himmels für seinen Abfall vom Glauben angesehen und legendär aufgebauscht; dem folgt Mahr in seiner dramatischen Schilderung. Der Kaiser starb jedoch auf einem Feldzug gegen das neupersische Reich nicht in der Schlacht, sondern erlag nach einem Gefecht bei Maranga, wo er schwer verwundet worden war, in der Nacht vom 26. auf 27. Juni 363 seinen Verletzungen. Auch die „letzten Worte“ Julians, die besonders durch das Drama „Kaiser und Galiläer“ von Henrik Ibsen aus dem Jahre 1873 populär wurden, sind unhistorisch. 147 Alle Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 32 f (die Kursivsetzungen sind im Original gesperrt). 148 Die Juden erwähnt Mahr in seiner Broschüre noch mehrmals (z. B. S. 42) und durchgängig negativ. In seinem Offenen Brief an Justizminister Fäustle (Mahr, Brief Justizminister [Anm. 29], S. 14; in [Mahr], Pfarrer Mahr [Anm. 17] getilgt) beklagt er sich, dass die von ihm im „Volksboten für den Bürger und Landmann“ (München; ermittelte Daten: Nr. 156 vom 19. Juli 1869, S. 2 [insgesamt: S. 668]) verwendete Formulierung „Es gibt nichts Frecheres als die Frechheit eines Judenbuben“ (und damit war kein Kind gemeint!) bei Rechtsanwalt Friedrich von Schauß (zu ihm unten Anm. 201) Anstoß erregte und ihm Schwierigkeiten eintrug, wobei er das Wort „Judenbuben“, das damals überhaupt en vogue war, noch zweimal in seinem Artikel benutzte. Und im selben Jahr bezeichnete er die Juden in einer Predigt als „Blutsauger und Wucherer, die man aus dem Lande jagen sollte“ (zit. nach Urban, Kirche [Anm. 5], S. 296). Mit einer solchen Haltung stand Mahr in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende unter den katholischen Gläubigen Bayerns und auch unter dem katholischen Klerus jedoch keineswegs allein, vielmehr war eine (in der Regel religiös-wirtschaftlich und nicht rassistisch motivierte) Judenfeindschaft in diversen Schattierungen damals stark verbreitet. Vgl. dazu Manfred Eder, „Ich habe gar keine Abneigung gegen die Juden als solche“. Georg Ratzingers Haltung zum Judentum, in: Kirchinger/Schütz, Ratzinger (Anm. 97), S. 221 – 290, 365 f. (mit graphischer Veranschaulichung: S. 231), und die besonnene Entgegnung auf den (anonym erschienenen) Artikel Mahrs durch die Münchner Abendzeitung „Süddeutscher Telegraph“ (Nr. 259 vom 18. Sept. 1869, S. 1 f.), die grundsätzlich feststellte: „Charakteristisch ist die inhumane Art des Volksboten, mit welcher er gegen die Juden verfährt. Glaubt die Redaktion wirklich, auf diesem Wege das erste Gebot der Christenlehre:

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men türkischer Goldstücke gefälscht und verbreitet“ habe. Alle Insassen der Residenz, mit Ausnahme des Erzbischofs – zugleich Staatspräsident (!) –, seien inhaftiert worden149. Dann springt Mahr nach Russland und England: „Einen solchen Klerus, wie man ihn in Rußland zu Wege gebracht, will man auch in Preußen und Bayern unter der Aegide der Herrn v. Bismarck und v. Lutz in kaiserlichen und königlichen Seminarien heranziehen und wenn dagegen Bischöfe sich wehren, dann sind sie Rebellen und werden gepfändet und eingesperrt.“150 Gerade habe er den Gesetzentwurf zu den entlassenen Kirchendienern gelesen, fährt Mahr fort, der „noch einige Pferdelängen über das Jesuitengesetz“ hinausgehe151. „Was längst alle Staaten als grausam, als des,Liebe deinen Nächsten‘ zu erfüllen, oder hofft sie, eine großartige Judenhetze heraufzubeschwören, um dann gewaltsame Taufen in Scene setzen zu können, ad maiorem dei gloriam [= zur größeren Ehre Gottes]? Wir wissen es nicht, wir freuen uns aber jenes Grades der zeitgenössischen Civilisation, welcher die Schmähung Andersgläubiger für den abscheulichsten Angriff gegen die erste Pflicht des Christen, gegen die Humanität, gegen die Gesetze einer toleranten Staatsverfassung und gegen die gute Sitte erachtet. Nur von diesem Standpunkte aus kann ein anständiger Mensch katholisch sein – der Volksbote ist vielleicht ultramontan, christlich ist seine Anschauung nicht“ (a. a. O., S. 2; Kursivsetzung im Original gesperrt). 149 1861 hatten sich die Fürstentümer Moldau (Moldawien) und Walachei zum Fürstentum (ab 1881 Königreich) Rumänien zusammengeschlossen. Dies brachte auch kirchliche Veränderungen mit sich, indem zunächst die beiden Metropolien zu einer nationalen orthodoxen Kirche vereinigt wurden und dann der Metropolit von Bukarest – es war Nifon Rusail: (1789 – 1875, reg. ab 1865) – den Titel eines Primas von Ruma¨nien erhielt. Ab 1864 war Rusail: außerdem Pra¨sident des neugeschaffenen ruma¨nischen Senats (er war also Senatspra¨sident unter einem Ko¨nig, keineswegs Staatspra¨sident!). 1872 wurde die „Heilige Synode“ als zentrales Leitungsorgan der Orthodoxen Kirche Ruma¨niens geschaffen (vgl. hierzu Bernhard Stasiewski, Pa¨pstliche Unionshoffnungen – Die selbsta¨ndigen und die mit Rom unierten Ostkirchen, in: Jedin, Handbuch [Anm. 79], Bd. VI/2, Freiburg i. Br. 1973, S. 345 – 387, hier: S. 366). Sie blieb allerdings weiterhin kanonisch abha¨ngig vom Patriarchen von Konstantinopel, bis ihr im Jahre 1885 die Autokephalie zugesprochen wurde. 1925 erfolgte schließlich die Errichtung eines eigensta¨ndigen ruma¨nisch-orthodoxen Patriarchats. Ob die Pressemeldung bzgl. der Falschmu¨nzer in der erzbischo¨fl. Residenz, auf die sich Mahr berief, zutreffend ist, ließ sich nicht feststellen. 150 Alle Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 34 (die Kursivsetzungen sind im Original gesperrt). – Zu Lutz siehe oben Anm. 74 und unten die folgende Anm. sowie Anm. 186. 151 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), ebd. Ganz ähnlich „führte die Vossische Zeitung (28. März [1874]) aus, daß das geplante Gesetz für die Priester der katholischen Kirche noch härter und drückender sein werde als für die Jesuiten das Ausweisungsgesetz von 1872“ (zit. nach Johannes B. Kißling, Geschichte des Kulturkampfes im Deutschen Reiche, 2. Bd., Freiburg i. Br. 1913, S. 381 f.). – Bei diesem „Gesetzentwurf zu den entlassenen Kirchendienern“ handelt es sich um den Entwurf zum dritten Kulturkampfgesetz, dem „Reichsgesetz betreffend die Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchenämtern“ (Expatriierungsgesetz, Verbannungsgesetz). Dieses sehr scharfe Gesetz wurde am 28. Februar 1874 von Preußen in den Bundesrat eingebracht, weil der preußischen Regierung die im Maigesetz vom 11. Mai 1873 (Gesetz über die Vorbildung und Anstellung von Geistlichen) vorgesehenen Sanktionsmittel (Geld- und Haftstrafen) nicht mehr ausreichten, um eine maigesetzwidrige Anstellung und Amtstätigkeit von Geistlichen zu verhindern (zu den vier Maigesetzen siehe Eder, Karikaturen [Anm. 132], S. 100 f. u. ö.). Am 17. März vom Bundesrat mit großer

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potisch gebrandmarkt und verworfen haben, das hat Fürst Bismarck als Alterthumsforscher an’s Tageslicht gebracht. Originell ist der Fürst aber auch hier nicht, wie überhaupt nie. War Alles schon da: England und Rußland ist ja sein Ideal.“152 Anschließend berichtet Mahr zutreffend, dass in England unter Königin Elisabeth I. (reg. 1558 – 1603) die Herrscherin als Oberhaupt der (anglikanischen) Kirche anerkannt und die Autorität des Papstes verworfen werden musste. Wer sich weigerte, hatte monatlich umgerechnet 125 Taler zu zahlen; ebenso stand eine Geldstrafe auf das Hören der (katholischen) Messe, und „wer einen katholischen Priester beherbergte, verwirkte sein Vermögen und der Priester wurde gehängt“. Der für dieses Gesetz zuständige „liberale Minister Burleigh“ habe sich heuchlerisch sogar noch seiner Milde gerühmt153. Obwohl sich laut Mahr „jeder vernünftige Engländer“ schämen müsse „über diese schwarzen Blätter in Englands Geschichte“, sei bei einem Londoner Treffen durch die Erinnerung daran Fanatismus erregt worden, dessen Echo in

Mehrheit angenommen, nahm auch der Reichstag den nochmals geänderten Entwurf nach stürmischer Debatte an, so dass das Gesetz am 4. Mai 1874 veröffentlicht werden konnte. Das Expatriierungsgesetz richtete sich gegen Geistliche, die entweder durch gerichtliches Urteil aus ihrem Amt entlassen oder im Widerspruch zum Gesetz vom 11. Mai 1873 in ihr Amt berufen oder wegen der Vornahme unbefugter Amtshandlungen rechtskräftig bestraft worden waren. Solchen Geistlichen konnte ein bestimmter Aufenthaltsort untersagt oder vorgeschrieben werden, so dass sich ihnen keinerlei Wirkungsmöglichkeit mehr bot und sie die Existenzgrundlage verloren. Wenn ein Geistlicher dem zuwiderhandelte, konnte ihm die Staatsangehörigkeit aberkannt und er des Landes verwiesen werden (daher der Name Expatriierungs- bzw. Verbannungsgesetz). Für Bayern blieb das Gesetz allerdings „praktisch bedeutungslos, da das Staatskirchenrecht hier die Amtsenthebung von Geistlichen nicht kannte. Im Gegenteil fand eine Reihe aus Preußen verwiesener Theologiestudenten und Priester in bayerischen Diözesen vorübergehend Aufnahme, was zu einer nicht unerheblichen Verstimmung Bismarcks gegen Lutz führte“ (Friedrich Hartmannsgruber, Im Spannungsfeld von ultramontaner Bewegung und Liberalismus: 1864 – 1890, in: Walter Brandmüller [Hrsg.], Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte, 3. Bd., St. Ottilien 1991, S. 205 – 262, hier S. 249). Näheres zu diesem Gesetz, das erst 1890 aufgehoben wurde, bei Dieter Lindner, Die Entwicklung der Kulturkampfgesetze in Bayern und Preußen, München 1977 (Diss. masch.), S. 29 – 33, 178, 227 – 229; Kißling a. a. O., S. 375 – 388. – Zum Jesuitengesetz siehe unten Anm. 176. 152 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 34 (die Kursivsetzungen sind im Original gesperrt). 153 Beide Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 34 f. bzw. S. 35. – Elisabeth I., Tochter Heinrichs VIII. und seiner zweiten, 1536 hingerichteten Gattin Anna Boleyn, setzte sich gegen die Thronansprüche ihrer Halbschwester Maria Stuart durch. In ihrer Regierung stützte sie sich bis zu dessen Tod v. a. auf ihren leitenden Minister William Cecil (amt. 1558 – 1598), obwohl er 1587 gegen ihren Willen die Hinrichtung Maria Stuarts durchsetzte. 1571 wurde Cecil zum Baron von Burghley (bei Mahr: Burleigh) geadelt. Um eine innenpolitische Konsolidierung zu erreichen, stellte Elisabeth 1559 mit der Supremats- und Uniformitätsakte die Anglikanische Staatskirche wieder her. 1570 wurde sie von Papst Pius V. exkommuniziert. Die Bannbulle „Regnans in excelsis“ brachte die bisher gegen Strafgebühren als „recusants“ (Verweigerer) geduldeten englischen Katholiken in schwere Bedrängnis, weil „Popery“ (Päpstlerei) nun als Kapitalverbrechen galt. Etwa 250 Katholiken wurden schließlich wegen Hochverrats hingerichtet. Vgl. hierzu Kurt Kluxen, Art. Elisabeth I. von England, in: LThK3 3 (1995), Sp. 599 f.

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Berlin nachgeklungen habe. „Da wir als ,Vaterlandslose‘154 jetzt so schöne Aussichten haben, so fehlt dies noch, daß man uns durch Erfindung der Eisenbahn in den Mond auch noch ,erdlos‘ macht und die Station ,Mond‘ (Aussteigen meine Herren!) anweist und zwar jedem einen andern Berg (internirt) der verschiedenen Ringgebirge z. B. Plato, Posidonius, Linné, Plinius etc., damit die Pfaffen nicht conspiriren können“155. Anschließend berichtet Mahr, dass er gelesen habe, der Bischof von Trier, d. h. Matthias Eberhard (reg. 1867 – 1876), sei darüber informiert worden, dass er sich zum Haftantritt bereithalten solle156. „Es ist also der erste Nachfolger Ledochow-

154 Es war ein Vorurteil, „das der Kulturkampf geschürt hatte und das die Katholiken als ,vaterlandslose Gesellen‘ brandmarkte: Ihre Loyalität gegenüber dem Stuhl Petri verhindere, dass sie sich voll und ganz hinter die Nation stellten“ (Frank Becker, Christliche Kirchen und radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich – Eine Skizze, in: Michaela Bachem-Rehm u. a. (Hrsg.), Teilungen überwinden. Europäische und internationale Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilfried Loth, München 2014, S. 645 – 658, hier: S. 645). Reichskanzler Bismarck diskreditierte sie gar als Reichsfeinde. Auf diese Weise wurde die gerade erst begonnene Integration der Katholiken in den neuen deutschen Nationalstaat abrupt abgebrochen. Vgl. dazu Karl-Egon Lönne, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986, S. 151 – 192, bes. S. 172. 155 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 35. – Das Bild Mahrs von einer Fahrt zum Mond könnte durch den Begründer der Science-Fiction-Literatur Jules Verne (1828 – 1905) inspiriert gewesen sein, dessen Roman „Von der Erde zum Mond“ in der deutschen Ausgabe just 1873 erschienen war. Eine weitere Inspiration könnte ihm der amerikanische Eisenbahningenieur Sylvester Marsh (1803 – 1884) geliefert haben, dessen Traum es war, eine Dampfmaschine zu bauen, die auf den Gipfel des Mount Washington (New Hampshire) fährt. Seine Idee wurde zunächst belächelt und einige Kritiker spotteten sogar, man könne genausogut eine Eisenbahn zum Mond bauen. Doch als er einige Geldmittel zusammengetragen hatte, entwarf und baute „crazy Marsh“ 1869 eine Zahnradbahn, die zur ersten Bergbahn der Welt und zur steilsten Bahnstrecke Nordamerikas werden sollte. Hierzu Josef Hons, Bergbahnen der Welt. Zahnrad bahnen, Schienen- und Standseilbahnen, Schwebebahnen und Skilifts, bearb. v. Dietrich Wende, Berlin 1990, S. 15 – 17. – Viele Formationen auf dem Mond wurden durch den Jesuiten und Astronomen Giovanni Battista Riccioli (1598 – 1671) in dessen mehrbändigem Werk „Almagestum novum astronomiam“ von 1651 mit noch heute gültigen Namen benannt. So gab er den großen dunklen Gebieten Namen von Meeren, und die markanten Ringgebirge, die wir heute Mondkrater nennen, bezeichnete er mit den Namen berühmter Astronomen (wie Kopernikus, Kepler und Galilei), aber auch nach Philosophen wie Platon und Posidonios oder Wissenschaftlern wie dem antiken Historiker und Naturforscher Plinius d. Ä. Jüngeren Datums ist natürlich die Bezeichnung eines Kraters nach dem schwedischen Naturwissenschaftler Carl von Linné (1707 – 1778), vorgenommen durch den Astronomen Johann Heinrich von Mädler (1794 – 1874), da dieser Krater aufgrund seines kleinen Durchmessers (2,4 km) erst später entdeckt wurde. Zu Riccioli siehe Stephan Ch. Kessler, Art. Riccioli, in: LThK3 8 (1999), Sp. 1166. 156 Wie seine Amtskollegen hatte sich auch Eberhard nach Erlass der Maigesetze von 1873 den staatlichen Forderungen verweigert und wurde 1874, da er die über ihn verhängte Geldstrafe nicht zahlen konnte, zu einer neunmonatigen Gefängnishaft verurteilt. Um nach seiner Entlassung einer neuerlichen Strafverfolgung zu entgehen, bereitete er sich im Frühjahr 1876 auf eine Emigration nach Luxemburg vor, erlag aber am 30. Mai 1876 in Trier einem Herzleiden. Näheres zu Eberhard bei Alois Thomas, Art. Eberhard, in: Gatz, Bischöfe (Anm. 141),

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ski’s157 und erinnert mich dieser an den Ausspruch Fenelon’s: ,Ein Bischof mit dem Evangelienbuch in der Hand kann getötet, aber nicht überwunden werden.‘“158 Auch Pfarrer und Kapläne seien zu Gefängnisstrafen verurteilt159 und den segensreich wirkenden Schulschwestern in Witten sei gekündigt worden160, „damit liberale und glaubenslose, mit Zwicker und Schnauzbart brillirende Schulmeister den Kindern das durch den Religionsunterricht verfinsterte Gehirn aufhellen, wie z. B. der gelehrte Schulmeister A. Hartmann in seiner Schrift: ,Gott und die Naturwissenschaft, Irrthum und Wahrheit‘“161. Wie Mahr durch ein Zitat aus dieser Broschüre belegt, wurde hier der Atheismus propagiert und Gott geleugnet, und solche Lehrbücher müssten – so Mahr – künftig in den kaiserlichen Seminarien für die Alumnen eingeführt werden – ganz im Sinne des Freimaurers Ekard162, der die Schule zur „Loge der S. 155 – 157; Josef Steinruck, Matthias Eberhard, Bischof von Trier in der Zeit des Kulturkampfes, in: Kurtrierisches Jahrbuch 25 (1985), S. 113 – 130. 157 Der Erzbischof der damals zu Preußen gehörigen Sprengel Gnesen und Posen, Mieczysław Halka von Ledóchowski (amt. 1866 – 1886, 1875 Kardinal), war im Kulturkampf am 3. Februar 1874 als erster preußischer Bischof inhaftiert und zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Da er sich weigerte, auf seine Erzbistümer zu verzichten, wurde er am 15. April 1874 für abgesetzt erklärt. Nach voller Verbüßung seiner Strafe und dem Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft reiste er nach Rom, wo er bis zu seinem Tode 1902 blieb und zum Präfekten der Propagandakongregation (1892) aufstieg. Weiteres zum „bestgehaßten unter den Bischöfen Preußens“ (Kißling, Geschichte, 2. Bd. [Anm. 151], S. 93) bei Erwin Gatz, Art. Ledóchowski, in: Gatz, Bischöfe (Anm. 141), S. 437 – 440; Lindner, Kulturkampfgesetze (Anm. 151), S. 120, 129 f. 158 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 35. – Der französische Theologe und Schriftsteller François Fénélon de Salignac de la Mothe (1651 – 1715) war ab 1689 Erzieher der Enkel Ludwigs XIV. und von 1695 an Erzbischof von Cambrai. Näheres zu Fénélon bei Gerda von Brockhusen, Art. Fénélon, in: LThK3 3 (1995), Sp. 1231; Eder, Karikaturen (Anm. 132), S. 60 f. 159 Z. B. wurden in den ersten vier Monaten des Jahres 1875 „in Preußen 241 Kleriker, 136 Redakteure und 210 andere Katholiken zu Geld- und Haftstrafen verurteilt, 74 Wohnungen durchsucht, 55 Veranstaltungen aufgelöst, 20 Zeitungen konfisziert und 103 Personen interniert oder ausgewiesen“ (Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, 2. Bd., S. 364 – 381 [Der Kulturkampf], hier: S. 375). Bis 1878 waren acht Bistümer und etwa 1200 (= 14) aller katholischen Pfarrstellen vakant, die meisten kirchlichen Behörden und alle Seminare und Konvikte geschlossen. 160 Über die Schulschwestern in Witten, wo es den Katholiken erst 1834 wieder möglich war, eine eigene Gemeinde zu gründen, konnte nichts eruiert werden. 161 Diese 1872 in Halle a. d. Saale in zwei Auflagen unter dem Verfassernamen Alexander von Hartmann erschienene Broschüre hatte 56 Seiten; das Zitat bei Mahr findet sich auf S. 2. Nach der Konfiszierung der Schrift durch den Staatsanwalt von Halle a. d. S. am 11. Juli 1872 kam es zu mehreren Prozessen (20. Dez. 1872, 8. Febr. 1873, 17. April 1873), bei denen der Verleger unter der Anklage der Gotteslästerung und des Pressvergehens belangt wurde, da er den Autor (dessen Name offenbar ein Pseudonym war) nicht namhaft machen wollte. Hierüber berichtet der Autor in der 3., in Zürich erschienenen Auflage 1875 auf etwa 20 Seiten: Gott und die Naturwissenschaft, Irrthum und Wahrheit! Mit einer gedrängten Darstellung des vor den Gerichtshöfen zu Halle a. S. und Naumburg a. S. und dem Königl. Obertribunale zu Berlin anlässlich dieser Schrift verhandelten Press-Prozesses. 162 Ein Freimaurer dieses Namens konnte nicht ermittelt werden.

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Kindheit“ machen wolle. Jedenfalls sei das Ergebnis all dessen eine Errungenschaft, „welche von unendlichem Werthe ist, nämlich einen felsenfesten Episcopat, einen pflichtgetreuen Priesterstand und hinter ihm Millionen des gläubigen Volkes, also eine wunderbare Erstarkung der katholischen Kirche163. Als nächstes kommt Mahr auf „Bismarcks treuen Rathgeber“, den Leipziger Professor Friedberg164, zu sprechen, der in seiner Schrift „Das deutsche Reich und die katholische Kirche“ (1872) letztere als ein „staatsgefährliches Institut“ bezeichne, weswegen er eine Gesetzgebung wolle, die die Kirche gegenüber der Regierung unschädlich mache, „als wenn die jeweilige Regierung und der Staat oder das Vaterland identisch wären, während doch kein politisches Recht heiliger sein soll, als das der legalen und loyalen Opposition. Aber Fürst Bismarck ist eben groß und Dr. Friedberg sein unfehlbarer Prophet“165. Dies alles gereiche den Sozialdemokraten zu „kannibalischer Freude“166. Doch dann reißt die Bamberger St. Kunegundas-Glocke den Häftling Mahr aus seinen kirchenpolitischen Gedanken und er wünscht sich folgendes: „Ach, wenn sie heute aufstünde, die edle Gemahlin des Kaisers [Heinrich II. des Heiligen, reg. 1002 – 1024] und Braut des Herrn167, was würde sie und ihr Gemahl sagen zu den Maßregeln seines Herrn ,Bruders‘ im deutschen Reiche168. Klöster leeren und

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Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 36. Der Protestant Emil Albert von Friedberg (1837 – 1910) war von 1869 bis zu seinem Tode Professor für Kirchenrecht in Leipzig. Sein zentrales wissenschaftliches Thema war das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in Geschichte und Gegenwart, dem bereits seine Doktorarbeit gewidmet war. In der Tat war Friedberg im Kulturkampf „wissenschaftlicher Parteigänger und politischer Berater“ Bismarcks, wobei er „im Geiste des zeitgenössischen Liberalismus die unbedingte Hoheitsgewalt des Staates über die Kirche“ befürwortete. Insbesondere war er maßgeblich an den Kirchengesetzen von 1872 beteiligt. Immerhin war es sein Verdienst, „daß der Kampf in den Bahnen des konstitutionellen Rechtsstaates verblieb“. Vgl. zu Friedberg, auf den die bis heute maßgebliche Ausgabe des Corpus Iuris Canonici zurückgeht (1879/81; ND Graz 1959), Adalbert Erler, Art. Friedberg 1), in: NDB 5 (1961), S. 443 f. (Zitate: S. 443). 165 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 36. 166 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), ebd. 167 Kunigunde (* um 977) war seit spätestens 1000 mit Heinrich vermählt und unterstützte angesichts der Kinderlosigkeit der Ehe nachdrücklich die Ausstattung des 1007 von Heinrich II. gegründeten Bistums Bamberg. Nach dem Ableben ihres Gatten 1024 lebte sie von 1025 bis zu ihrem eigenen Tod 1033 in dem von ihr selbst acht Jahre zuvor gegründeten Kloster Kaufungen als einfache Nonne. Weiteres zu Kunigunde und Heinrich, die im Jahr 1200 bzw. 1146 heiliggesprochen wurden, bei Eduard Hlawitschka, Art. Kunigunde, Kaiserin, in: LThK3 6 (1997), Sp. 527 f.; Harald Zimmermann, Art. Heinrich II., in: TRE 15 (1986), S. 1 – 3; Karin Schneider-Ferber, Kaiser Heinrich II. und Kunigunde. Das heilige Paar, Regensburg 2022. 168 Gemeint ist Wilhelm I., König von Preußen (1861 – 1888) und deutscher Kaiser (1871 – 1888). 164

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ihre Einwohner ächten, Kirchen schließen, Religions-Unterricht verbieten, Bischöfe einkerkern und sagen, um Religion handle es sich nicht.“169 Während es zum 3. März, einem Dienstag, keinerlei Eintragung gibt, beginnt Mahr seine Aufzeichnungen zum 4. März mit ein paar Sinnsprüchen und einem längeren Zitat Bismarcks von 1847, in dem der Reichskanzler ausführt, dass jeder auf Dauer gesicherte Staat auf religiöser Grundlage stehen muss170. Dann vermeldet Mahr, dass er erfreulicherweise ein Paar neue Stiefel erhalten habe, damit er nach seiner Haftentlassung „in Ebermannstadt wieder fest auftreten“ könne. Nachdem er nochmals die „niedlichen Gesetze bezüglich der abgesetzten Kirchendiener“171 erwähnt und Bismarck ironisch als großen Psychologen und Gesetzgeber gerühmt hatte, fiel sein Auge „auf ein Aktenstück von außerordentlicher Wichtigkeit, von unschätzbarem Werthe, das Millionen mit Bewunderung, mit Entzücken erfüllen wird – es ist der Hirtenbrief der preußischen Bischöfe. Eine solche echt apostolische, freimüthige Sprache der pflichttreuen Hirten verdient den heißen Dank der katholischen Welt. Jetzt nachdem sie ihr Testament gemacht und ihren letzten Willen kund gegeben, können sie getrost in den Kerker gehen – der Bischof mit dem Evangelium in der Hand ist eben unüberwindlich.“172 169

Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 36 f. Mahr gibt hier nur den damaligen vollen Namen Bismarcks („Freiherr Otto v. BismarckSchönhausen“) und dahinter das Datum „15. Juni 1847“ an. Die Zitate stammen aus der an diesem Tag im preußischen Landtag gehaltenen Rede „Die Judenemanzipation und der christliche Staat“ (abgedruckt in: Horst Kohl (Hrsg.), Bismarck-Reden 1847 – 1895, Leipzig 2 1899, S. 1 – 7, hier: S. 3 f.) und sollen wohl belegen, dass Bismarck im Widerspruch zu seinen eigenen Ausführungen von 1847 nun einen Irrweg eingeschlagen habe. Allerdings war es nicht das Ziel Bismarcks, das Christentum im Deutschen Reich zu eliminieren, sondern eine romfreie Nationalkirche zu schaffen (vgl. Eder, Kirchengeschichte [Anm. 19], S. 193 – 195). 171 Beide Zitate aus Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 37. – Zu den „niedlichen Gesetzen“ siehe oben Anm. 151. 172 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 38. – Bei diesem Hirtenbrief handelt es sich um das „Sendschreiben der katholischen Bischöfe in Preußen“ vom Februar 1874. Der Regensburger Bischof Senestrey publizierte es gemeinsam mit einem eigenen Hirtenbrief vom 7. März 1874 „über die jetzigen Bedrängnisse der katholischen Kirche“ und der päpstlichen Enzyklika Pius’ IX. „Etsi multa luctuosa“ vom 21. November 1873 (in dt. Übersetzung) in einer Broschüre (Regensburg 1874 [auch online verfügbar]; hier S. 13 – 20, wonach im Folgenden zitiert wird). Dieser klar und deutlich formulierte und von 12 Oberhirten unterzeichnete Hirtenbrief ist in der Tat ein beeindruckendes Dokument, veranlasst durch die Inhaftierung Bischof Ledóchowskis (hierzu oben Anm. 157). Das Anliegen des Schreibens war es, „vor Gott, dem Zeugen und Richter der Gewissen, und vor der ganzen Welt feierlich Widerspruch zu erheben gegen eine doppelte Anklage, die in der jüngsten Zeit wider uns erhoben worden ist, nämlich: daß wir Revolutionäre, Rebellen gegen die weltliche Obrigkeit seien, und dadurch herz- und gewissenlos die katholische Kirche in Deutschland, Klerus und Volk, in die gegenwärtigen schweren Drangsale und Gefahren gebracht hätten“ (S. 13). Denn „dem Gewissen treu bleiben, […] die auf göttlichem und menschlichem Rechte beruhende, durch Geschichte, Vertrag und Königswort verbürgte Freiheit der Kirche und des christlichen Gewissens vertheidigen, Eingriffe der Staatsgewalt in das Gebiet der Kirche abwehren, das ist keine Rebellion, und beweist keine revolutionäre Gesinnung“ (S. 14). Nach einer ablehnenden Stellungnahme zur staatlichen Anerkennung Reinkens als katholischen Bischof (der nament170

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Von der „erhabenen Erscheinung der preußischen Kirchenfürsten“ stieg Mahr zu der „simpleren“ des weltlichen Fürsten Hohenlohe herab, über den er las, dass er zum Gesandten in Paris ernannt worden sei173. „Was bedeutet dies? Ich bin zwar schon einmal wegen eines Ausdruckes im Privatkreise über die Fähigkeit des neuen Reichsgesandten in zwei Instanzen verurtheilt worden; allein ich will dessen ungeachtet mein Urtheil abgeben. In politischer Hinsicht ist diese Ernennung gewissermaßen eine Satisfaktion bezüglich meiner Verurtheilung. Es bedeutet, daß Bismarck in Paris keinen genialen und selbständigen Charakter haben will, sondern das, was man […] Strohmänner heißt174 […]. In religiöser Hinsicht bedeutet es, daß Bismarck sicher ist, […] der Mann werde ganz gewiß nicht mit dem französischen Episcopat conspiriren, wenn auch sein Bruder – Cardinal ist.“175

lich nicht genannt wird) und zum Altkatholizismus überhaupt stellten die Oberhirten die Frage: „Was steht uns bevor? Verlust unserer Habe, Gefängniß, vielleicht vorzeitiger Tod in der Gefangenschaft. Und unsern guten, glaubenstreuen Priestern, was steht diesen bevor? Verlust ihrer Ämter, Vertreibung aus ihren Gemeinden, harte Strafen und Gefängniß“ (S. 17). Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund die an den Klerus und die Gläubigen gerichtete „Mahnung, ja unser ausdrückliches Gebot im Namen Gottes […]: Keine Bedrängniß, kein Unrecht, das Ihr dulden müßt, darf je Euch fortreißen zu sündhaftem Zorne, je Euch verleiten, die Ehrerbietung und den schuldigen Gehorsam gegen die Obrigkeit und die christliche Liebe gegen alle Euere Mitbürger auch nur im Mindesten zu verletzen“ (S. 19). Die Bischöfe schlossen mit der Aufforderung zum Gebet, insbesondere für diejenigen, „die uns und unsern Glauben so sehr verkennen“ (S. 20). 173 Der Jurist Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819 – 1901) war von 1866 bis 1870 bayerischer Ministerpräsident und Außenminister, trat aber nach einem Misstrauensvotum (v. a. wegen seiner Ablehnung des Unfehlbarkeitsdogmas) zurück. Von 1874 bis 1885 war er deutscher Botschafter in Paris (also in derjenigen Position, von der Mahr spricht), anschließend von 1885 bis 1894 kaiserlicher Statthalter der Reichslande Elsass-Lothringen. 1894 schließlich erreichte Hohenlohe den Gipfelpunkt seiner Karriere als preußischer Ministerpräsident und deutscher Reichskanzler (bis 1900). Weiteres zu ihm bei Manfred Eder, Art. Hohenlohe-Schillingsfürst 1), in: LThK3 5 (1996), Sp. 213; Haunfelder, Die liberalen Abgeordneten (Anm. 136), S. 207, und unten Anm. 174 und 176. Über seine Zeit als Botschafter berichtet Hohenlohe selbst ausführlich: Friedrich Curtius (Hrsg.), Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, 2. Bd., Stuttgart/Leipzig 1906, S. 122 – 369. 174 Hohenlohe war in Paris, wo er sich – kurz nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/ 71 – für die Versöhnung mit Frankreich einsetzte, sicherlich mehr als ein bloßer Strohmann, aber gleichwohl ein überzeugter Anhänger und Sachwalter Bismarcks. 175 Es handelt sich um Gustav Adolph von Hohenlohe-Schillingsfürst (1823 – 1896), den jüngeren Bruder Chlodwigs. 1849 zum Priester geweiht, war er anschließend päpstlicher Kammerherr und Geheimkämmerer und ab 1857 Großalmosenier (d. h. Direktor des päpstlichen Almosenamtes) und Titularerzbischof. Nachdem etliche Versuche, ihn auf einen deutschen Bischofsstuhl zu befördern, am Widerstand der Ultramontanen in den Domkapiteln und der „Hardliner“ an der päpstlichen Kurie gescheitert waren, wurde er 1866 Kurienkardinal. Näheres zu Hohenlohe bei Hubert Wolf, „Die liebenswürdigste aller Eminenzen“. Kardinal Gustav Adolf von Hohenlohe-Schillingsfürst (1823 – 1896), in: Römische Quartalschrift 90 (1995), S. 110 – 136; Eder, Karikaturen (Anm. 132), S. 102 – 105 (mit Abb.).

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Anschließend verweist Mahr den „Jesuitenfresser Hohenlohe“176 auf den Jesuiten Friedrich von Spee, von dem der Ebermannstädter Pfarrer zu Recht erwähnt, daß er sich „unendliche Verdienste um Beseitigung der Hexenprocesse erworben“ habe177. Dann zitiert er aus dem letzten Teil von dessen Schrift „Cautio criminalis“, wonach die Hexenmeister und Inquisitoren bei diesen Prozessen gar kein Interesse an solchen Priestern „einer gewissen Gesellschaft (Jesuiten)“ hätten, die die Fürsten aufklären und die Unschuld der Gefangenen erweisen könnten. Deshalb sei ihnen nicht einmal das Beichthören gestattet, ja manche verlangen, dass sie als „Störenfriede der Rechtspflege“ aus dem Lande vertrieben werden müssten178. „Ich will damit durchaus nicht andeuten, daß ich den Fürsten Hohenlohe für einen Hexenmeister halte, sondern nur, daß auch in Vertreibung der Jesuiten weder er noch Fürst Bismarck originell sei.“179 Am Donnerstag, den 5. März, beklagt sich Mahr, dass es dank der Liberalen so viel Schwindel in der Welt gebe und nennt als Beispiele u. a. den „Reptilienfonds-

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Dieses Verdikt Mahrs geht darauf zurück, dass Hohenlohe, von 1871 bis 1881 liberalkonservativ gesinnter Reichstagsabgeordneter, im Kulturkampf einer der Initiatoren des Jesuitengesetzes war. Dieses Gesetz vom 4. Juli 1872 verbot die „Gesellschaft Jesu“ und „verwandte Orden“ (wie die Redemptoristen) auf dem Gebiet des Deutschen Reiches und löste deren Niederlassungen auf. Mindestens 775 Jesuiten mußten Deutschland damals verlassen und gingen vielfach in die Mission. Vgl. zum Jesuitengesetz, das 1904 gemildert und erst 1917 ganz aufgehoben wurde, Lindner, Kulturkampfgesetze (Anm. 151), S. 21 – 28, 92 – 96, 173 – 177, 229 – 235; Eder, Karikaturen (Anm. 132), S. 108, 149 – 153 (Lit.). Da Hohenlohe auch für den Kanzelparagraphen und die Zivilehe (zu ihr oben Anm. 125) stimmte, brachte er sich in scharfe Gegnerschaft zur Zentrumspartei. Der sog. Kanzelparagraph von 1871 (erweitert 1876) verbot Geistlichen, in Ausübung ihres Amtes Angelegenheiten des Staates „in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise“ zu erörtern (Lindner a. a. O., S. 18). Der im Dritten Reich massiv missbrauchte Paragraph wurde 1953 aufgehoben. 177 Der Moraltheologe Friedrich Spee von Langenfeld SJ (1591 – 1635), der zahlreiche „Hexen“ zum Scheiterhaufen begleitete, prangerte in seiner 1631 anonym erschienenen Schrift „Cautio criminalis seu de processibus contra sagas liber“ (Mahnwort für den Strafprozess oder Buch gegen die Hexenprozesse) die Grausamkeit der Hexenjagden und die gnadenlose Art der Prozessführung an und trug hierdurch in der Tat wesentlich zur Beendigung der Hexenprozesse bei. Weiteres zu Friedrich Spee, von dem die bekannten Kirchenlieder „O Heiland, reiß die Himmel auf“ und „Zu Bethlehem geboren“ stammen, und zu seinem Werk bei Michael Embach, Art. Spee, in: BBKL 14 (1998), Sp. 1497 – 1506; Helmut Zschoch, Art. Spee, in: TRE 31 (2000), S. 635 – 641; Alexander Loichinger, Friedrich von Spee und seine „Cautio criminalis“, in: Georg Schwaiger (Hrsg.), Teufelsglaube und Hexenprozesse, München 41999 (ND Hamburg 2007), S. 128 – 149; Walter Rupp, Friedrich Spee. Dichter und Kämpfer gegen den Hexenwahn, Ostfildern 22011; Eder, Kirchengeschichte (Anm. 19), S. 171 (mit Abb.). 178 Im Originaltext (Cautio Criminalis, dubio [= Frage] 51, Nr. 33) ist nicht von einer „Gesellschaft“, geschweige denn direkt von Jesuiten die Rede, aber aus der Erwähnung bei Spee (in Mahrs Zitat ist dies ohne Kennzeichnung weggefallen), dass diese Priester als Jugenderzieher und -lehrer sowie als Gewissensführer von Fürsten tätig sind, ist dennoch klar, dass es sich um Ordensbrüder des Autors handeln muss. Die Übersetzung bei Mahr (mit dem vorausgehenden Satz und ohne Auslassung) findet sich auch bei Guido Maria Dreves, Art. Spee, in: ADB 35 (1893), S. 92 – 94, hier S. 93. 179 Alle Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 39.

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[Schwindel]“180, den „ultramontanen Reichsfeinde-[Schwindel]“181 und den „Culturkampf-[Schwindel]“. „Bei dem letzten französisch-deutschen Kriege [1870/71] hat Bismarck gesagt, daß er in unverantwortlicher Weise von Frankreich Preußen aufgedrungen worden sei und heute – glaubt kein Mensch mehr daran182. Bei dem Culturkampfe gegen die katholische Kirche hat Bismarck ausdrücklich gesagt, daß nur die Mobilmachung der Centrumsfraktion und nicht das Dogma von der lehramtlichen Unfehlbarkeit des Papstes die Schuld trage, denn dies müsse ihm heilig sein, weil es von so vielen Millionen deutscher Katholiken geglaubt werde. Und heute sagen die Reptilienblätter, daß nur dies Dogma die Schuld am Kriege trage, da die Bischöfe nur Werkzeuge Roms seien und kein Staat die Prätensionen183 der römischen Kirche sich gefallen lassen könne.“184 Nachdem er mehrere Tage ohne Besuch gewesen sei, habe er nun „einige angenehme Besuche“ gehabt. Namen nennt Mahr keine, er sei aber den ganzen Tag sehr beschäftigt gewesen und „sehe, wie pfeilschnell die Tage dahinschwinden. Konnte ich doch meine Vorsätze im Arbeiten nicht durchführen; denn morgen soll ich schon wieder entlassen werden.“ Im Anschluss berichtet Mahr kurz über eine Versammlung der Altkatholiken in München185, denen er eine schwache theologische 180

Zum Reptilienfonds siehe oben Anm. 99. Vgl. hierzu oben Anm. 154. 182 In der Tat hatte Bismarck durch seine herausfordernde Politik und namentlich durch die von ihm verschärfte Emser Depesche einen wesentlichen Beitrag geleistet, dass es zur Kriegserklärung Frankreichs gegen Deutschland kam. Vgl. Günter Cordes, Art. DeutschFranzösischer Krieg und Art. Emser Depesche, in: Taddey, Lexikon (Anm. 99), S. 264 bzw. 324. 183 Anmaßungen. 184 Sämtliche Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 40. – Auslösendes Moment des Kulturkampfes war (neben der damaligen Notlage altkatholischer Priester und Staatsbeamter) in der Tat die Gründung des Zentrums 1870, das bis 1878 zur stärksten Fraktion im Reichstag anwuchs. Bismarck sah in ihm eine Ansammlung von Reichsfeinden und einen „Vorposten“ des „Heeres hinter den Alpen“ (Papst und Kurie). Die eigentliche Wurzel der sich seit dem Erlass des „Syllabus errorum“ (1864) zunehmend deutlicher abzeichnenden und sich durch das Unfehlbarkeitsdogma zuspitzenden Kulturkampfsituation war jedoch der ideologische Gegensatz zwischen der ultramontan verfestigten katholischen Kirche und dem das geistige und politische Leben bestimmenden Liberalismus. Mehr und mehr zeigte sich, dass die politische Konzeption der Liberalen weltanschaulich bestimmt war, weswegen sie eine Bindung an überzeitliche Normen und religiöse Autoritäten weitgehend ablehnten und in der Unfehlbarkeitsdefinition einen papalistischen Herrschaftsanspruch über die staatliche Autorität erblickten. Insbesondere wurde eine häufige Inanspruchnahme der päpstlichen Unfehlbarkeit auf kirchenpolitischem Gebiet befürchtet, was sich als unbegründet herausstellen sollte (hierzu Eder, Kirchengeschichte [Anm. 19], S. 193). Zur Zentrumspartei vgl. Wolfgang Schmierer, Art Zentrum, in: Taddey, Lexikon (Anm. 99), S. 1396; zum Syllabus, einer Sammlung von 80 als moderne Irrtümer verurteilten Sätzen, bei Klaus Schatz, Art. Syllabus, in: LThK3 9 (2000), Sp. 1153 f.; Eder, Kirchengeschichte, S. 186 f. 185 Die Memminger Zeitung (Nr. 67 v. 20. März 1874, S. 2) berichtete unter dem Datum des 18. März wie folgt über dieses wohl Anfang März 1874 abgehaltene Münchner Treffen: „In der jüngst zahlreich besuchten vom [Handschuh-]Fabrikanten [Max] Schaumburger [richtig: Schaumberger] präsidirten Altkatholiken-Versammlung im [Gasthaus und Hotel 181

Pfarrer Franz Joseph Mahr vor Gericht (1873) und im Gefängnis (1874)

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Bildung bescheinigt und Undankbarkeit gegenüber dem bayerischen Kultusminister Lutz, „der sie doch als seine Schoßkinder gehätschelt und großgezogen“ habe186. Überraschend ist schließlich die Mitteilung Mahrs, dass Lutz nach einer schon länger zurückliegenden Meldung des „Volksboten“187 bei der Besetzung einer Augsburger Domherrenstelle zwischen Pfarrer Hafenmaier (richtig: Hafenmair) und ihm schwanke. Lutz habe sich nun – wie er soeben lese – für Pfarrer Hafenmaier und gegen ihn entschieden188. Schon früher sei ihm von einem Landtagskollegen prophezeit worden: „,Sie werden sehen, daß Herr Hafenmaier noch Domherr wird und Sie –

Zum] Achatz [Maximiliansplatz (auch Dultplatz genannt) 8] wurde mitgetheilt, daß demnächst auch Vorträge für Damen abgehalten werden. Prof. Dr. Friedrich [zu ihm oben Anm. 78] hielt einen längeren Vortrag über die gedeihliche Reformbewegung in Baden, beklagte dagegen die [dies]bezüglichen Vorgänge in Bayern und sprach u. a. bezüglich des Gutachtens über die Anerkennung des Bischof[s] Reinkens [zu ihm oben Anm. 79 und 83] seine Verwunderung aus, daß wenn die Angelegenheiten und Forderungen der Altkatholiken zur Sprache kommen, man juristischer Kommissionen bedürfe, dieselben aber durchaus nicht benöthigt scheine, wenn es sich um diejenigen handelt, welche das königl. Placet übertreten.“ Das Plazet (von lat.: es gefällt) war die damals verlangte königliche Veröffentlichungsgenehmigung (placetum regium) für alle kirchlichen Verlautbarungen, insbesondere für päpstliche Enzykliken und bischöfliche Hirtenbriefe, die die bayerischen römisch-katholischen Bischöfe (mit Ausnahme des Bamberger Erzbischofs Deinlein) jedoch nicht einholten. 186 Alle Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 40. – In der Tat beklagte sich auf dieser Versammlung nach einem Bericht der Memminger Zeitung (Nr. 67 v. 20. März 1874, S. 2) „Dr. Zirngibl [richtig: Zirngiebl] […] bitter über die Zurückhaltung, welche das Kultusministerium gegenüber den Altkatholiken einnehme, vergebens erwarte man Antwort auf längst gestellte Petitionen, von diesem Kultus-Minister sei für die Altkatholiken nichts zu erwarten“. Obwohl Lutz den Altkatholiken v. a. in den ersten Jahren verschiedentlich entgegenkam, lautete das Urteil des Altkatholiken Johann Friedrich von Schulte über ihn ähnlich: „Ihm sind die Altkatholiken im innersten Grunde des Herzens unsympathisch, weil sie für seine ministerielle Ruhe und Behaglichkeit gar unbequem sind und den Mut haben es nicht beim blossen Aussprechen ihrer Überzeugung bewenden zu lassen“ (Schulte, Altkatholizismus [Anm. 79], S. 438). Der Münchner Archivar Dr. phil. Eberhard Zirngiebl (1831 – 1901) – vom „Volksboten“ (siehe die folgende Anm.) gerne als „Zornkübel“ tituliert – war Sekretär des nach dem Altkatholikenkongreß 1871 gegründeten Landesvereins zur Unterstützung der katholischen Reformbewegung (= Altkatholikenbewegung). Vgl. zu Zirngiebl, aus dessen Feder die umfangreiche Monographie „Studien über das Institut der Gesellschaft Jesu“ (Leipzig 1870, 533 S.) floß: Lebenserinnerungen des Historikers Moriz Ritter (3. Teil), in: Internationale kirchliche Zeitschrift 88 (1988), S. 403 – 414, hier S. 411. Zu Lutz siehe oben Anm. 74. 187 Es handelt sich dabei sicherlich um den „Volksboten für den Bürger und Landmann“ (München). Da diese Zeitung 1872 eingestellt wurde, stammt die betreffende Meldung spätestens aus diesem Jahr. Näheres bei Paul Hoser, Art. Volksbote für den Bürger und Landmann (publiziert am 16. 10. 2012, aktualisierte Version am 17. 02. 2020), in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: [Zugriff: 03. 11. 2022]. 188 Der in Kempten geborene und 1848 zum Priester geweihte Johann Georg Hafenmair (1825 – 1884), seit 1864 Stadtpfarrer von Memmingen, war ab 25. Mai 1874 Domkapitular in Augsburg, zudem von 1869 bis 1874 und 1883/84 Landtagsabgeordneter der Patriotenpartei (vgl. die einschlägigen Schematismen der Geistlichkeit des Bistums Augsburg).

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werden noch eingesperrt.‘ Und gerade so ist’s gekommen. Welch wunderbare etc. etc.“189. Den 6. März, seinen „Austrittstag, von Sonnenschein begleitet“, eröffnet Mahr u. a. mit einem passenden Psalmenzitat („Führe meine Seele aus dem Kerker, damit ich danke deinem Namen. Ps. 142. 8.“)190 und einem längeren hymnischen Gedicht zum Lebewohl an die Stadt Bamberg, verbunden mit dem Hinweis auf einen guten Bamberg-Führer mit Stadtplan in der Fußnote. Aus der Zeitung entnimmt Mahr, „daß es in Münster Unruhen gegeben, weil man Nachts die Geräthschaften des Herrn Bischofs [Brinkmann] geholt“191. Im Oktober 1872 habe es kaiserliche Orden für die Jesuiten in Münster gegeben und drei Wochen später seien sie „als ,Vaterlandslose‘ ausgetrieben“ und in Wort und Schrift übel beschimpft worden. „Das begreift eben das Volk nicht und eben so wenig, daß sein Bischof ein Revolutionär192, ein Verbrecher sei, während es ganz andere Leute kennt, die aber durchaus nicht incommodiert193 werden. Dies hilft aber Alles Nichts. Die Bischöfe wissen, daß der treue Rathgeber und Gehilfe Bismarck’s Dr. Friedberg194 gesagt hat, der Krieg [= Kulturkampf] gelte nicht allein den Jesuiten, sondern der ganzen katholischen Kirche und der Krieg müsse energisch geführt werden. Wenn also die Sprache der jetzigen Machthaber dieselbe ist, wie jene des Nero, Diocleti-

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Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 41. Zit. nach Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 42 bzw. 41. Zum Folgenden vgl. S. 42, Anm. *. 191 Nachdem gegen den Münsteraner Bischof Johann Bernard Brinkmann (reg. 1870 – 1889) bis 1873 insgesamt 7.200 Taler an Bußgeldern aufgelaufen waren, die er aber nicht zahlen wollte, sollte ein Gerichtsvollzieher am 28. Januar 1874 das bischöfliche Mobiliar pfänden, wurde jedoch von der katholischen Bevölkerung Münsters daran gehindert. Nachdem ein weiterer Versuch am 23. Februar gescheitert war, gelang der Abtransport der Möbel am 28. Februar 1874 mit Hilfe eines protestantischen Tischlers, den man dafür als „Judas“ beschimpfte. Ein völliger Fehlschlag war dann die Versteigerung der Möbel am 16. und 27. März 1874. Sie wurden nämlich von Katholiken erworben und wieder zum Bischofspalais zurückgebracht. Brinkmann, der infolge seiner weiterhin unnachgiebigen Haltung im Kulturkampf 1875 zuerst gut einen Monat im Kreisgefängnis Warendorf inhaftiert war, floh anschließend vor der drohenden Absetzung (die im März 1876 erfolgte) ins Exil in die Niederlande, wo er bis zur Aufhebung seines Absetzungsurteils im Januar 1884 blieb. Näheres zu Brinkmann, dessen Rückkehr nach Münster von 30.000 Menschen in einem Triumphzug gefeiert wurde, bei Otto Hellinghaus (Hrsg.), Der Kulturkampf in Münster. Aufzeichnungen des Kreisgerichtsrates a. D. Stadtrates Ludwig Ficker, Münster 1928 (Register!); Eduard Hegel, Art. Brinkmann, Johann Bernard, in: Gatz, Bischöfe (Anm. 141), S. 73 f.; Wilhelm Damberg, Moderne und Milieu 1802 – 1998 (= Geschichte des Bistums Münster 5), Münster 1998, S. 129 – 142 (mit mehreren Abb.); Eder, Karikaturen (Anm. 132), S. 111; speziell zu den Ereignissen 1874: In Cruce Salus. Gedenkschrift anläßlich des 100. Todestages des Bekennerbischofs Johann Bernhard Brinkmann 1870 – 1889, hrsg. v. Pfarrgemeinderat der Kirchengemeinde St. Magnus Everswinkel, Warendorf 1989, S. 21 – 26. 192 Hierzu oben Anm. 172. 193 Belästigt. 194 Zu Friedberg siehe oben Anm. 164. 190

Pfarrer Franz Joseph Mahr vor Gericht (1873) und im Gefängnis (1874)

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an195 etc., so muß auch die Antwort und Haltung der Bischöfe, Priester und des katholischen Volkes dieselbe sein, wie während der ersten drei Jahrhunderte der Christenverfolgung.“196 Nun aber war es soweit: Mahr wurde aus dem Gefängnis entlassen. „Ich habe vor meinem Austritte selbstverständlich meine Rechnung gezahlt und den Kindern, welche mir, nachdem ich frei war, noch Brod und Wasser brachten, einige neue Münzen gegeben197, worüber große Freude herrschte.“ Als der Kutscher vor der Frohnveste angekommen war, um ihn abzuholen, habe er sich beim freundlichen Hauspersonal bedankt. Dank wisse er auch den Freunden, die ihn besucht hätten oder „mit Briefen beglückten“, besonders dem Prälaten Conrad von Bolanden, „dessen herrliche Schriften, welche den Preußen so unverdaulich schwer in dem Magen liegen, einen so durchschlagenden Erfolg in Deutschland hatten198. Den persönlichen Be195

Unter dem römischen Kaiser Nero (reg. 54 – 68) gab es die erste Christenverfolgung, unter Diokletian (reg. 284 – 305) dagegen begann die letzte kaiserliche Verfolgungswelle. Allerdings war die Gewaltanwendung gegen Christen durch Nero im Jahre 64 keine Christenverfolgung im engeren Sinn. Vielmehr hatte Nero damals, wahrscheinlich zur Beschwichtigung der öffentlichen Empörung über den von ihm selbst gelegten Brand Roms, eine hinreichend missliebige Gruppe als Sündenbock gesucht, um an ihr zur Ablenkung grausame Strafen vollziehen zu lassen, ohne dass jemand die Betroffenen deshalb bedauert hätte. Die Apostelfürsten Petrus und Paulus dürften hierbei ums Leben gekommen sein. Diokletian dagegen wollte wie Decius ein halbes Jahrhundert zuvor die Wiederherstellung der altrömischen Religion gegen alle „Neuerer“ durchsetzen, und so erging im Jahre 303 ein allgemeines Edikt, wonach die Bücher der Christen zu verbrennen und die christlichen Gotteshäuser zu zerstören waren. Sie selbst wurden aller Ehren und Würden für verlustig erklärt. Auch nach der Abdankung Diokletians 305 gingen die Verfolgungen weiter, bis sich ab 311 unter den Kaisern Galerius und v. a. Konstantin d. Gr. das Blatt endgültig wendete. Vgl. hierzu Eder, Kirchengeschichte (Anm. 19), S. 28 – 30, 32 – 34 (mit Abb.). 196 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 42. 197 Nach der Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 wurde noch im selben Jahr eine Währungsreform beschlossen, damit es fortan eine einheitliche deutsche Währung gebe. Dies hieß für Bayern: Mark und Pfennig statt Gulden und Kreuzer. Die bisherigen Landesmünzen wurden aber nicht sofort, sondern erst sukzessive bis 1875 außer Kurs gesetzt. Deshalb sprach Mahr hier 1874 von „neuen Münzen“. 198 Conrad von Bolanden (1828 – 1920, eigentlich: Josef Eduard Konrad Bischoff) hatte ab 1849 in München Theologie und Philosophie studiert und war 1852 zum Priester geweiht worden. Anschließend war er Domkaplan in Speyer, Pfarradministrator in Kirchheimbolanden (daher sein Künstlername) und von 1856 bis 1869 Pfarrer im nordpfälzischen Börrstadt bzw. in Berghausen bei Speyer. Ab dieser Zeit widmete er sich der Schriftstellerei und verfasste katholische Kampfschriften mit pfälz. Kolorit, um „das Volk durch historische Romane und Novellen über die Geschichtslügen aufzuklären“, wie er selbst erläuterte. So stellte er in seinem zweiten Roman „Franz von Sickingen“ die Reformation als gemeinen Aufruhr dar und zog generell schroff gegen den Protestantismus zu Felde, weswegen seine Publikationen im protestantischen Preußen auf den Index gesetzt und verboten wurden. 1869 stellte der Speyerer Bischof Nikolaus von Weis (amt. 1842 – 1869) Bolanden ob seiner scharfen Polemik und Tendenz in seinen Schriften vor die Alternative, entweder nur noch als Seelsorger oder nur noch als Schriftsteller tätig zu sein. Daraufhin gab er seine Pfarrei auf und lebte fortan als freier Autor in Speyer. Da seine Werke in Rom wesentlich mehr geschätzt wurden als in Speyer, ernannte ihn Papst Pius IX. 1872 zum „Wirklichen Geheimen Kammerherrn“ (mit der

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such [bei Bolanden] muß ich aufsparen, da mein Gesichtsleiden bei der Kälte sich wieder regte, darum auf und nach Ebermannstadt. Mein Nachfolger in Nr. 35 soll ein Graf sein; wenn ich also wieder wegen Herrn Dr. Pachmaier eingesperrt werde, dann – werde ich hoffähig.“199 Nach diesem Abschiedskalauer schloß Mahr mit einem nachdrücklichen Plädoyer an die „liberalen Tageshelden“ sein Bamberger Gefängnistagebuch: „Wann werden sich denn endlich diese Herren zu meinem echt liberalen Standpunkt der völligen Sprech- und Preßfreiheit nach englischen und amerikanischen Grundsätzen200 erschwingen und das Anzeigen und Klagen gewissen Rittern von der traurigen Gestalt, wie Herrn v. Schauß und den deutschen Schulbuben überlassen?“201 In einem Anhang auf der letzten Seite schließlich tarockt Mahr nochmals nach bezüglich „Unwahrheiten und beziehungsweise Verläumdungen“202 des Staatsanwalts von Stubenrauch in der Schwurgerichtssitzung in München am 25. Oktober 1873. Dabei war bereits am folgenden Tag, also am 26. Oktober, durch Mahrs VerAnrede: Prälat). Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert fanden Bolandens zahlreiche Werke, die in 14 Sprachen übersetzt wurden und oft programmatische Titel trugen (z. B.: Die Reichsfeinde, 2 Bde., 1874; Die Sozialdemokraten und ihre Väter, 1894; Die Volksverderber, 1896; Satan bei der Arbeit, 1908), eine große Leserschaft in weiten Teilen Europas und in den USA. Weiteres zu ihm bei Lorenz Wingerter, Art. Bolanden, in: NDB 2 (1955), S. 429 f.; Volker Busch/Red., Art. Bolanden, in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, hrsg. v. Wilhelm Kühlmann, 2. Bd., Berlin 22008, S. 68 (Zitat ebd.). 199 Alle Zitate: Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 43. 200 England war 1695 das erste Land, in dem die Redefreiheit (freedom of speech) und deren Unterart, die Pressefreiheit (freedom of the press), eingeführt wurden. Dies geschah, indem das englische Parlament das bis dahin geltende Zensur-Statut nicht mehr verlängerte. In den USA wurde die Rede- und Pressefreiheit knapp ein Jahrhundert später, nämlich 1791, in die Verfassung aufgenommen. Diese Rechte werden in den USA traditionell sehr weit ausgelegt und schützen z. T. auch Äußerungen, die in anderen Ländern als Volksverhetzung, Angriff auf die Verfassung oder Anstiftung zu Straftaten gelten. Im Gegensatz zur Meinungsfreiheit schützt die Redefreiheit auch unwahre Tatsachenbehauptungen. In Deutschland dagegen wurde in der Bundesakte von 1815 lediglich die Pressefreiheit kodifiziert und auch sie bereits vier Jahre später wieder stark eingeschränkt. Die Reichsverfassung von 1871 erwähnt sie gar nicht mehr. So wurde die Meinungsfreiheit (und mit ihr die Pressefreiheit) in Deutschland erst durch die Weimarer Reichsverfassung von 1919 zum bürgerlichen Grundrecht. Vgl. dazu Michael Hoppmann, Art. Redefreiheit, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 10. Bd., Darmstadt 2011, Sp. 1021 – 1029. 201 Beide Zitate nach Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 44 (Kursivsetzung im Original gesperrt). – Der gebürtige Münchner Friedrich von Schauß (1832 – 1893) hatte sein Studium der Rechtswissenschaften in München, Erlangen und Heidelberg mit der Promotion zum Dr. jur. abgeschlossen und war dann zunächst in die Kanzlei seines Vaters eingetreten. Von 1863 bis 1871 war er Rechtsanwalt am Bezirksgericht in München rechts der Isar. 1871 gründete Schauß mit Freunden die Süddeutsche Bodenkreditbank, deren erster Direktor er wurde. Von 1869 bis 1892 war er Landtagsabgeordneter, zunächst für die Fortschrittspartei, dann für die Nationalliberale Partei. Von 1871 bis 1881 vertrat er überdies den Wahlkreis Oberfranken 1 im Reichstag. Weiteres zu Schauß, der ein enger Freund König Maximilians II. von Bayern war, bei Haunfelder, Die liberalen Abgeordneten (Anm. 136), S. 351. 202 Mahr, Frohnveste (Anm. 51), S. 47.

Pfarrer Franz Joseph Mahr vor Gericht (1873) und im Gefängnis (1874)

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teidiger Popp203 darauf dezidiert Bezug genommen worden und „aus der ganzen Haltung des Herrn v. Stubenrauch, der diejenigen Zeugen, die nicht in seinem Sinne deponiren204, nicht mit Gründen widerlegt, sondern durch Androhung der Meineidsuntersuchung lediglich todtschlagen will, der bei jeder Gelegenheit mit unhaltbaren Vorwürfen gegen den Klerus bei der Hand ist und in ungerechtfertigter Weise bei jeder Gelegenheit die Politik in den Gerichtssaal zieht, der Schluß gezogen [worden], daß er in der That nicht unparteiisch gegen Geistliche handelt“. Dies sei nicht nur die Beurteilung des Angeklagten Mahr, sondern auch in Freising urteile man – nach einstimmiger Aussage von Zeugen – so über den Staatsanwalt, „und namentlich habe Bürgermeister Mauermaier [richtig: Mauermayr]205 schon in der früheren Verhandlung [vom 26./27. Februar 1873] bestimmt erklärt, daß, wenn v. Stubenrauch aus Freising entfernt würde, dann wohl der Friede zurückkehren dürfte“206. Dies war bereits geschehen, hatte doch der „Pfälzische Kurier“ unter dem Datum des 25. September 1873 gemeldet: „Staatsanwalt v. Stubenrauch, dem es in Freising in Folge der Processe gegen Mahr und Lechner unbehaglich geworden, hat sich nach München versetzen lassen (vom ersten Staatsanwalt am Bezirks-Gericht zum zweiten Staatsanwalt am Appellations-Gericht).“207 Wenn wir Mahrs Frohnveste-Tagebuch nun nochmals Revue passieren lassen, ergibt sich folgendes Resümee: Mahr zeigt sich vielseitig, auch historisch interessiert, belesen208 und eloquent, scharfzüngig und streitbar und er hält – wie schon in seinen Gerichtsprozessen – mit seiner Meinung nie hinter dem Berg209. So konnte folgender Vorfall bei einer Schwurgerichtsverhandlung niemanden überraschen: „Als […] Pfarrer Mahr die Äußerung machte: ,Sie wissen, daß ich unparteiisch bin‘, – brach das Publikum in helles Gelächter aus“210. Pfarrer Mahr streift oder ventiliert eine Vielzahl damals aktueller Themen, die er entweder der täglichen Lektüre entnimmt oder die ihm aus freien Stücken in seiner Gefängniszelle in den Sinn kommen. Manches ist belangloser Tratsch, manches reizt ihn zu Polemik, Ironie und Sarkasmus, manches aber ist ihm auch bitterernst und hochwichtig, etwa wenn es um die damals ganz neue altkatholische Bewegung geht, die wegen der staatlichen Unter203

Zu Popp siehe oben Anm. 40. Hier: aussagen. 205 Zum Freisinger Bürgermeister und Rechtsanwalt Martin Mauermayr (1833 – 1907), der von 1869 bis 1899 amtierte, siehe Florian Notter, Freisinger (Ober-)Bürgermeister der letzten 150 Jahre, in: fink. Das Magazin aus Freising 6 (2012) H. 2, S. 14 – 19, hier S. 15 f. 206 [Mahr], Pfarrer Mahr (Anm. 17), S. 31. 207 Pfälzischer Kurier. Die Heimatzeitung der Vorderpfalz (Ludwigshafen), Nr. 227 v. 27. Sept. 1873, 2. Blatt. Die Versetzung erwähnt bereits zuvor (ohne Angabe eines Grundes) der Fränkische Kurier, Nr. 490 v. 25. Sept. 1873, Morgenblatt, S. 2. 208 Allerdings – so hat es jedenfalls den Anschein – mit Ausnahme wissenschaftlicher Literatur. 209 Daher scheut er auch vor antijüdischen Seitenhieben nicht zurück. Vgl. hierzu oben Anm. 148. 210 Der Bayerische Landbote (München), Nr. 283 v. 2. Dez. 1874, S. 2. 204

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stützung zumindest kurzzeitig als ernstzunehmende Konkurrenz der römisch-katholischen Kirche erschien, v. a. aber wenn es sich um den 1873/74 mit voller Wucht über die Kirche hereinbrechenden Kulturkampf handelt. Mahrs Standpunkt ist dabei völlig eindeutig, nämlich strikt ultramontan und intolerant. Er schwärmt von seiner Kirche und ihrem Oberhaupt, dem „Heldengreis“ Pius IX., den Altkatholizismus tut er lapidar als „Blödsinn“ ab. Alles Liberale und jeder einzelne Liberale sind ein rotes Tuch für ihn. Insofern wirkt es merkwürdig, wenn Mahr am Schluss völlige Redeund Pressefreiheit fordert211. Insgesamt gewinnen wir auf diesen 47 Seiten einen lebhaften Eindruck von der aufgewühlten Situation in Deutschland und insbesondere von der für die Kirche äußerst bedrückenden Entwicklung jener Jahre und auch davon, was einen katholischen Priester und Parlamentarier, der diese Entwicklung genau und kritisch mitverfolgte, zu beschäftigen und umzutreiben vermochte. So manches hätte Pfarrer Franz Joseph Mahr freilich besser nur gedacht als gesagt oder geschrieben (und in Druck gegeben!) – aber daran war wohl sein hitziges, von Mutter Eleonore ererbtes Temperament schuld … IV. Mahrs weiteres Leben und Wirken 1875 hatte Mahr erneut eine Haftstrafe anzutreten; diesmal waren es immerhin acht Monate in Nürnberg212 (mit Schreibverbot!) wegen Beleidigung des Ebermannstädter Bezirks-Arztes Dr. Johann Baptist Pachmayr213 und des Ebermannstädter Landrichters Thomas Dennerlein214, mit welch letzterem er schon seit Beginn seiner Zeit als Pfarrer von Ebermannstadt im Clinch lag. Da sich Mahr überdies bei den ebenfalls bereits seit langem währenden Streitigkeiten mit einigen Ebermannstädter Beamten in einen förmlichen Verfolgungswahn hineingesteigert hatte, legte man ihm in Bamberg den Verzicht auf seine Pfarrei nahe, wozu er im September 1875 – noch im Gefängnis – „nach schwerem Kampfe“215 seine Einwilligung gab. 211

Dies tut er übrigens auch in der Landtagsrede, auf die oben in Anm. 10 verwiesen wurde (S. 220). 212 Hierzu ging der Presse folgende Mitteilung Mahrs zu: „Mein Gesuch, die mir vom Schwurgerichtshofe zu München zuerkannte 8monatliche Gefängnisstrafe wegen Beleidigung der Hrn. Dr. Pachmayr und Dennerlein im Bezirksgerichtsgefängnisse an der Badstraße zu München erstehen zu dürfen, ist vom k.[öniglichen] Justizministerium abschlägig begutachtet, deßhalb verworfen und mir durch den hiesigen Gerichtsvollzieher der Befehl des k.[öniglichen] Bezirksgerichtes München l. d. I. [= links der Isar] zugekommen, mich binnen acht Tagen bei Vermeidung zwangsweiser Lieferung im Zellengefängnis zu Nürnberg zu stellen. Ebermannstadt, 26. Januar [1875], F. J. Mahr.“ (Coburger Zeitung, Nr. 24 v. 29. Jan. 1875, S. 1; die Kursivsetzung ist im Original gesperrt). 213 Zu Pachmayr siehe oben Anm. 119 und 121. 214 Zu Dennerlein siehe das Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Bayern 1873, München 1873, S. 307. 215 Zit. nach Urban, Mahr (Anm. 5), S. 474.

Pfarrer Franz Joseph Mahr vor Gericht (1873) und im Gefängnis (1874)

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Gut eine Woche später verlieh ihm Erzbischof Friedrich von Schreiber (reg. 1875 – 1890)216 die freigewordene Pfarrei Zapfendorf im Obermaintal. Hier entfaltete er wiederum vielseitige Aktivitäten, v. a. auf sozialem und karitativem Gebiet, machte sich aber durch die sofort in Angriff genommene Neuordnung der pfarrlichen Verhältnisse rasch wieder Feinde. Ein großes Anliegen war ihm zudem die (durch Spenden finanzierte und stilvoll durchgeführte) Renovierung der Pfarrkirche und auch diejenige des Pfarrhauses, wobei er sich in der dortigen Dachkammer eine ganz nach dem Vorbild seiner Nürnberger Zelle gestaltete Gefängniszelle einrichtete. „Testamentarisch verfügte er, daß dieses Zimmer immer erhalten bleiben und dem jeweiligen Nachfolger mit der Bibliothek als Arbeitszimmer dienen soll.“217 Am 2. Januar 1884 starb Mahr im Alter von 61 Jahren in Zapfendorf. Wenige Tage zuvor hatte er noch gesagt: „Ich verzeihe allen meinen Feinden, aber mit ihren Grundsätzen kann ich mich nie versöhnen.“218 Besonders beweint von den Armen und Kranken seiner Pfarrei, denen er stets nach Kräften geholfen hatte, wurde Franz Joseph Mahr posthum sogar von liberalen Zeitungen ob seines ehrlichen Charakters (oder doch eher aus Erleichterung über sein Ableben?) in warmherzigen Nachrufen gewürdigt.

216 Zu Schreiber vgl. Manfred Berger, Art. Schreiber, Friedrich, in: BBKL 26 (2006), Sp. 1358 – 1364; Bernhard Steinhauf, Erzbischof Joseph Friedrich von Schreiber (1819 – 1890), in: Andreas Hölscher/Norbert Jung (Hrsg.), Die Erzbischöfe von Bamberg, Petersberg 2015, S. 149 – 171. 217 Urban, Mahr (Anm. 5) S. 475. Vgl. [Johann Körber], Auf das Grab des Freundes, in: Bamberger Pastoralblatt 27 (1884), S. 6 f. (Nr. 2 vom 12. Januar), hier S. 7. Nach Urban, Mahr, S. 478, war Dr. Johann Körber (1829 – 1905), der langjährige Herausgeber und Chefredakteur des „Bamberger Pastoralblatts“, der Autor dieses anonym erschienenen Nachrufes auf Mahr. Der 1852 zum Priester geweihte und 1855 mit einer Abhandlung über die Höllenfahrt Christi promovierte Körber blieb zeitlebens 1. Kaplan der Stadtpfarrei St. Martin in Bamberg. Weiteres zu Körber, der von 1881 bis 1886 auch Landtagsabgeordneter war, im einschlägigen Art. in: https://www.hdbg.eu/biografien/detail/dr-johann-koerber/6585 [Zugriff: 12. 08. 2022], sowie in den Schematismen des Erzbistums Bamberg. 218 Zit. nach [Körber], Grab (Anm. 217), S. 7 (Kursivsetzungen im Original gesperrt).

Grundlagen des Dialogs der kirchlichen Rechtsordnung mit andersreligiösen und staatlichen Rechtsordnungen in der postsäkularen Gesellschaft Andreas E. Graßmann „Die Zukunft aller [ist] auch von der Begegnung der Religionen und Kulturen abhängig.“1

I. Hinführung Die Kirche existiert nicht abstrakt im luftleeren Raum, sondern steht notwendigerweise auch in Kontakt mit der sie umgebenden Welt. So sind die Beziehungen der katholischen Kirche zur staatlichen Rechtsordnung seit den Anfängen der Kirche2 ein zentrales Gebiet der Reflexion, da sich das Verhältnis von Kirche und Staat im parallelen Wirken an und in der menschlichen Gesellschaft verwirklicht.3 Entgegen dem Denken der sog. societas perfecta-Theorie ist die Kirche gerade keine von jeglicher staatlichen Gewalt autonome Gesellschaft, sondern vielmehr ist die katholische Kirche gerufen, mit den Staaten – aber auch andersreligiösen Gruppen – in Dialog zu treten, um die Ziele der kirchlichen Sendung zu erreichen. In diesem Sinn ist die Aussage Papst Franziskus’ aus seiner Ansprache an die Teilnehmer der Internationalen Friedenskonferenz am 28. April 2017 zu verstehen.4 Die Kirche ist zur offenen Begegnung aufgefordert, um ihre zentrale Sendungsaufgabe5 1 Franciscus PP., Apostolische Reise von Papst Franziskus nach Ägypten (28.–29. April 2017). Ansprache des Heiligen Vaters an die Teilnehmer der Internationalen Friedenskonferenz. 28. April 2017. Verfügbar unter: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2017/april/ documents/papa-francesco_20170428_egitto-conferenza-pace.html. [Zugriff 19. 08. 2022]. 2 Vgl. Richard Puza, Katholisches Kirchenrecht (Uni-Taschenbücher 1395), Heidelberg 2 1993, S. 91. 3 Vgl. Stefan Muckel, § 116 Die Lehre der Kirche über das Verhältnis von Kirche und Staat, in: Stephan Haering/Wilhelm Rees/Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 32015, S. 1769 – 1790, hier S. 1769. 4 Vgl. Franciscus PP., Ansprache (28. 04. 2017) (Anm. 1): „Die Zukunft aller [ist] auch von der Begegnung der Religionen und Kulturen abhängig.“ 5 Zentraler kirchlicher Auftrag ist die freie Erfüllung des göttlichen Sendungs- und Verkündigungsauftrags in der menschlichen Gesellschaft, d. h. an Menschen, welche zur gleichen Zeit Staatsbürger sind. Hierbei beansprucht die Kirche das Recht „immer und überall die sittlichen Grundsätze auch über die soziale Ordnung zu verkündigen wie auch über menschliche Dinge jedweder Art zu urteilen, insoweit die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen dies erfordern.“ (C. 747 § 2 CIC/83. [CIC/83 = Codex Iuris Canonici vom 25. Januar 1983, in: AAS 75 (1983) S. 1 – 317; dt. Ausgabe: Codex Iuris Canonici. Codex des

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gemäß ihres Selbstverständnisses sowie des Auftrags durch ihren Stifter Jesus Christus6 erfüllen zu können. Vor allem durch die langwierige und facettenreiche Entwicklung weg vom Christentum als Staatsreligion im Römischen Reich und hin zur Anerkennung des Grundund Menschenrechts auf Religionsfreiheit sowie des religiös neutralen modernen Staatswesens durch die Kirche7 sind die Wegmarken benannt, welche die Geschichte des rechtlichen Verhältnisses von Kirche und Staat sowie Kirche und anderen religiösen Rechtsordnungen kennzeichnen.8 Der vorliegende Beitrag soll aufzeigen, dass das katholische Kirchenrecht durch den ekklesiologischen Paradigmenwechsel des Zweiten Vatikanischen Konzils in der postsäkularen religiös und kulturell hete-

kanonischen Rechtes, Kevelaer10 2021 (deutsche Übersetzung und Sachverzeichnis: Bonn 1984).] Vgl. auch: Concilium Vaticanum II, Constitutio pastoralis de ecclesia in mundo huius temporis Gaudium et spes. 7 dec. 1965, in: AAS 58 (1966) S. 1025 – 1115, Art. 76. Der CIC/83 formuliert aufgrund der fundamentalen Pflicht der Kirche, den Völkern der Welt das Evangelium zu verkünden, ein ius nativum der Kirche. Es handelt sich hierbei um einen Rechtstitel, welcher der Kirche aufgrund der Stiftung durch Christus zukommt und nicht auf einer Verleihung durch Dritte oder einem Zugeständnis von außen beruht. Aufgrund der Tatsache, dass es sich um ein angeborenes Grundrecht der Kirche handelt, verlangt die Kirche für die Ausübung ihres Verkündigungsauftrags die Unabhängigkeit von jeglicher menschlichen Gewalt. Vgl. hierzu die Formulierung von can. 1322 § 2 CIC/17: „Ecclesiae, independenter a qualibet civili potestate, ius est et officium gentes omnes evangelicam doctrinam docendi: hanc vero rite ediscere veramque Dei Ecclesiam amplecti omnes divina lege tenentur.“ [CIC/17 = Pietro Gasparri (Hrsg.), Codex Iuris Canonici. Pii X pontificis maximi iussu digestus Benedicti papae XV auctoritate promulgatus. Praefatione, Fontium Annotatione et Indice Analytico-Alphabetico ab Emo. Petro Card. Gasparri auctus, Cittá del Vaticano 1918.] Das bedeutet, dass jeglicher Versuch von Menschen, Gruppen von Menschen, Staaten, Parteien oder ideologischen Mächten, den Verkündigungsdienst der Kirche einzuschränken, zu verbieten oder zu behindern, stets illegitim ist und eine Verletzung des Grund- und Menschenrechts auf Religionsfreiheit darstellt. Vgl. Heinrich Mussinghoff, c. 747, in: Klaus Lüdicke/u. a. (Hrsg.), Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici. Unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Deutschland, Österreich und der Schweiz. (Loseblattwerk, Stand: 60. Erg.-Lfg. April 2021), Essen seit 1984, Rn. 1 u. 3. 6 Vgl. Mt 28, 19; Mk 16, 15. Direkte Aussagen zum Verhältnis von Kirche und Staat lassen sich für die neuzeitlich-säkulare Situation aus dem ius divinum positivum nicht ableiten. Die Logien Jesu zur staatlich-politischen Autorität beschränken sich auf einige wenige situationsbedingte Aussagen. Grundsätzlich ist das weltliche Staatswesen als eigenständig anzuerkennen und die christliche Gemeinde schuldet dem Staat Loyalität, Gott gebührt jedoch stets der Vorrang vor dem Staatswesen. Vgl. Paul Mikat, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach der Lehre der katholischen Kirche, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland. Erster Band, Berlin2 1994, S. 111 – 155, hier S. 121 – 126. 7 Vgl. dazu: Andreas E. Graßmann, „Die Kirche achtet die berechtigte Autonomie der demokratischen Ordnung“. Zum Verhältnis von Katholischer Kirche und demokratischem Rechtsstaat mit einem Ausblick auf die österreichische Situation, in: Jessica Fortin-Rittberger/ Franz Gmainer-Pranzl (Hrsg.), Demokratie – ein interdisziplinäres Forschungsprojekt. (Salzburger interdisziplinäre Diskurse 10), Frankfurt a. M./u. a. 2017, S. 329 – 369. 8 Vgl. Muckel, Lehre (Anm. 3), S. 1775.

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rogenen Gesellschaft gegenüber staatlichen und andersreligiösen Rechtsordnungen – v. a. über das Konzept der Menschenrechte – anschlussfähig ist. Im Beitrag wird aufgezeigt, dass die Kirche im Zweiten Vatikanum vor dem Hintergrund der neuen Argumentationsgänge zur theologischen Begründung des Kanonischen Rechts einerseits eine erneuerte Verhältnisbestimmung zum säkularen neuzeitlichen Rechtsstaat sowie andererseits durch die inklusivistische Religionstheologie eine neue Position im interreligiösen Dialog entwickelte. Der Beitrag illustriert diesbezüglich die Anschlussfähigkeit der Rechtsordnung der nachkonziliaren katholischen Kirche an die Herausforderungen in der postsäkularen religiös und kulturell heterogenen Gesellschaft. Insbesondere das Feld des interreligiösen (Rechts-)Dialogs sowie der Wandel im rechtlichen Verhältnis der Kirche zu den Staaten wird skizziert. Ein zentraler Kontaktpunkt der Rechtsordnung der katholischen Kirche mit säkularen Rechtsordnungen sowie Rechtsordnungen anderer religiöser Gemeinschaften ist das Feld der Menschenrechte. An ausgewählten Beispielen wird knapp auf die teils problematische Rezeption im Kanonischen Recht hingewiesen sowie ein Ausblick darauf gegeben, inwiefern die Menschenrechte als eine, die verschiedenen religiösen und säkularen Rechtsordnungen verbindende, Klammer angesehen werden können. II. Die Begründung des Kanonischen Rechts und das Verhältnis der Kirche zum demokratischen Rechtsstaat und andersreligiösen Rechtsordnungen 1. Bis zum Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils Für jedwede Rechtsordnung stellt sich die Frage nach der Legimitation und der Begründung. In religiös geprägten Rechtsordnungen kommt die Aufgabe der Suche nach einer diesbezüglichen Antwort der Theologie zu. Für die christlichen Kirchen und deren Rechtsordnungen ist die gemeinsame Wurzel in der Religion des Judentums zu beachten. Das Verständnis des Rechts in christlicher Perspektive ist entscheidend beeinflusst vom Rechtsdenken des Volkes Israel in dessen theologischer Prägung, demzufolge das Recht ursprünglich von Gott als dessen Schöpfer und Urheber ausgeht.9

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Vgl. Helmuth Pree, Das Verhältnis von Theologie und Recht aus christlicher Sicht, in: Nora Kalbarczyk/Timo Güzelmansur/Tobias Specker (Hrsg.), Gibt Gott Gesetze? Ius divinum aus christlicher und muslimischer Perspektive. (CIBEDO-Schriftenreihe 5), Regensburg 2018, S. 17 – 51, hier S. 19 f.; Burkhard J. Berkmann, Internes Recht der Religionen. Einführung in eine vergleichende Disziplin, Stuttgart 2018, S. 32.

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Jesus Christus hat das jüdische Recht, das „Gesetz des Mose“10, nicht aufgehoben, jedoch überboten,11 da Christus selbst sich als das endgültige, inkarnierte Wort Gottes präsentiert. Das rechtliche Erbe des Judentums bildet zusammen mit der neutestamentarischen Heilsbotschaft Jesu Christi und der sich darauf stützenden apostolischen Tradition die Grundlage, auf welcher die Kirche im ersten christlichen Jahrtausend ihr eigenes kirchliches Recht geschaffen hat. Recht und Theologie stehen sich in dieser Epoche noch nicht als gegenseitig voneinander klar abgrenzbare Größen gegenüber. Vielmehr ist die kirchliche Rechtsordnung in die Heilsbotschaft und das Leben integriert.12 Das Recht „ist in die Theologie eingebettet und von ihr umschlossen.“13 Diese enge Bindung wurde durch die sich ausbildende Wissenschaft vom Kanonischen Recht spätestens ab der Mitte des 12. Jahrhunderts zunehmend gelöst und spätestens zur Zeit des Trienter Konzils (1545 – 1563) „war die Kluft zwischen dem kanonischen Recht und der Theologie bereits beachtlich, jedoch übte die Theologie auf das kanonische Recht weiterhin Einfluss aus“14. Ein Bruch in Methodik und Rechtsverständnis erfolgte zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Übernahme der Kodifikationstechnik in den kirchlichen Rechtsbereich. Das im Jahr 1917 promulgierte kirchliche Gesetzbuch, der Codex Iuris Canonici repräsentierte die zu dieser Zeit modernste Rechtstechnik und wurde als perfektes Gesetz betrachtet. Wie Pree bemerkt, wurde „[i]m Bewusstsein der Kirche […] das Kirchenrecht geradezu mit dem CIC identifiziert; das Gewohnheitsrecht wurde drastisch zurückgedrängt; das Ziel der Auslegung war das Auffinden der voluntas legislatoris. Das Kirchenrecht ist ganz auf die Hierarchie zentriert und an ihren Willen gebunden.“15

10 Das Gesetz des Mose, die sog. Thora, findet sich in den fünf Büchern des Mose, dem Pentateuch, welche Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium sind. 11 Vgl. Mt 5,17 f. 12 Vgl. Pree, Verhältnis (Anm. 9), 20 f. Zur Rechtserzeugung kam es in dieser Zeit v. a. in Synoden und Konzilien der frühen Kirche, aber auch durch Gewohnheitsrecht, Entscheidungen und Regelungen der Päpste sowie Äußerungen der Kirchenväter. In den Sammlungen des Kirchenrechts des ersten Jahrtausends verbinden sich disziplinäre, liturgische, pastorale und katechetische Elemente und Anordnungen. Die Bereiche des Rechts und der Ethik sind noch nicht voneinander unterschieden. 13 Pree, Verhältnis (Anm. 9), S. 21. 14 Pree, Verhältnis (Anm. 9), S. 22. Insbesondere mit „der Moraltheologie geht das kanonische Recht der nachtridentinischen Epoche eine enge Verbindung ein, was u. a. zu einer Verrechtlichung der kasuistisch verstandenen Moral, einer einseitigen Betonung des Gehorsams als moralische Grundtugend und einer Ausweitung der Geltung des Rechts in den Bereich des Gewissens zur Folge hatte.“ (Pree, Verhältnis [Anm. 9], S. 22 mit Verweis auf: Carlo Fantappiè, Storia del diritto canonico e delle istituzioni della Chiesa, Bologna 2011, S. 183 u. 206 – 209) 15 Pree, Verhältnis (Anm. 9), S. 23.

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a) Vorkonziliare Kirche und das Verhältnis zur staatlichen Rechtsordnung Eine theologische Verortung bzw. Fundierung der kirchlichen Rechtsordnung, etwa aus ekklesiologischer Perspektive, schien nicht notwendig zu sein,16 da die katholische Kirche in der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil für ihre Selbstbeschreibung das Konzept der societas perfecta iuridica bemühte. Die Kirche stellt eine vollkommene Gesellschaft dar, welcher absolute Autonomie von jedweder staatlichen Autorität zukommt. „Mit diesem Konzept glaubte die katholische Kirche ihre Existenzberechtigung hinreichend begründet und gegen Anfragen von Seiten der Aufklärung und der Naturrechtslehre abgesichert zu haben.“17 Diese Haltung zeitigte im kirchlichen Leben und in der Theologie eine zunehmende Selbstzufriedenheit und Selbstgenügsamkeit, welche als Konsequenz dazu führte, dass zunehmend lediglich innerkirchliche Fragestellungen in den Blick genommen wurden und v. a. die Reflexion des Verhältnisses der Kirche zu Welt und Gesellschaft vernachlässigt wurde. Aus der Verschiedenheit von Kirche und Staat hinsichtlich ihres Ursprungs, ihres Zweckes und ihres Wesens leitet Papst Leo XIII. das Recht der Kirche ab, gemäß den ihrem Wesen entsprechenden Gesetzen und Einrichtungen zu leben und zu handeln.18 Aus der grundsätzlich verschiedenen Aufgabenstellung von Kirche und Staat dedu16

Vielmehr stützten sich im Gegenteil theologische Publikationen argumentativ oftmals auf den CIC/17. Vgl. Carlo Fantappiè, Art. Diritto canonico codificato, in: Melloni, Alberto (Hrsg.), Dizionario del sapere storico-religioso del Novecento. Bd. I. A–F, Bologna 2010, S. 654 – 700, hier S. 691. 17 Sabine Demel, Kirchenrechtlich denken und forschen – was heißt das? Hermeneutische Schlüsselfragen, in: Markus Graulich/Thomas Meckel/Matthias Pulte (Hrsg.), Ius canonicum in communione christifidelium. Festschrift zum 65. Geburtstag von Heribert Hallermann. (Kirchen- und Staatskirchenrecht 23), Paderborn 2016, S. 47 – 64, hier S. 48. 18 Vgl. Leo PP. XIII., Rundschreiben Papst Leos XIII. vom 10. Januar 1890. Sapientiae christianae, in: Emil Marmy (Hrsg.), Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau. Dokumente, Freiburg i. Ue. 1945, S. 603 – 631, hier S. 620: „Die Kirche ist vollkommen verschieden von jeder politischen Herrschaft. Wenn sie auch in der Verfassung einem Reiche ähnlich sieht, so ist sie doch von jedem irdischen Reiche nach Ursprung, Zweck und Wesen himmelweit verschieden. – Die Kirche hat also das Recht, nach eigenen, ihr eigentümlichen Einrichtungen und Gesetzen zu leben und sich zu erhalten.“ Aus diesem Wesensunterschied ergeben sich die Eigenständigkeit der Kirche gegenüber der staatlichen Gewalt und die gegenseitige Unabhängigkeit von Kirche und politischer Macht. Zur Eigenrechtsmacht der Kirche erklärt schließlich das Zweite Vatikanische Konzil in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes: „Communitas politica et Ecclesia in proprio campo ab invicem sunt independentes et autonomae.“ (Concilium Vaticanum II, Gaudium et spes [Anm. 5], Art. 76. Die Pflicht des Staates zur Achtung der kirchlichen Eigenständigkeit folgt nach der Auffassung des Konzils letztlich aus dem vorstaatlichen Grundrecht der Religionsfreiheit. Diese Verpflichtung des Staates ist darin begründet, dass Staat und Kirche, wenn auch unter verschiedener Rücksicht „der persönlichen und gesellschaftlichen Berufung derselben Menschen dienen.“ (Die Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, in: Karl Rahner/Herbert Vorgrimler [Hrsg.], Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils. Allgemeine Einleitung – 16 spezielle Einführungen – ausführliches Sachregister. [Grundlagen Theologie], Freiburg i. Br./u. a. 352008, S. 449 – 552, hier Art. 76).

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ziert Leo XIII. die auch vom Verfassungsrecht moderner freiheitlicher Staaten anerkannte Wesensverschiedenheit und die gegenseitige Unabhängigkeit sowie die daraus resultierende Souveränität der beiden Institutionen Kirche und Staat in ihren jeweiligen rechtlichen Eigenbereichen.19 Vor allem die Äußerungen Papst Leos XIII. in der Enzyklika Immortale Dei sind paradigmatisch für das Verhältnis von Kirche und Staat an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, welches von der Auffassung geprägt war, „dass die staatliche Gemeinschaft nicht weniger als die Kirche Adressatin und Empfängerin des göttlichen Willens ist.“20 Analog zur Verpflichtung zur wahren Gottesverehrung der Gläubigen unter Anleitung der Kirche ist auch der Staat gegenüber Gott zur öffentlichen Religionsausübung verpflichtet,21 wobei es für die Staaten keine andere Art und Weise der Gottesverehrung gibt, als jene, welche Gottes Wille selbst vorgezeichnet hat.22 Kraft göttlichen Rechts sind die Staaten somit verpflichtet, als einzige Staatsreligion das katholische Bekenntnis zu proklamieren sowie die kirchliche Sendung zu fördern und zu unterstützen, weshalb das kirchliche Magisterium es den Staaten nicht erlauben kann, anderen Bekenntnissen dieselben Rechte einzuräumen, welche der katholischen Religion zugestanden werden.23 Vor dem Hintergrund dieser lehramtlichen 19

Dies ist insbesondere in der Enzyklika Immortale Dei geschehen, in welcher Leo XIII. ausgeführt hat: „So hat also Gott die Sorge für das Menschengeschlecht zwei Gewalten zugeteilt, der kirchlichen und der staatlichen. Der einen obliegt die Sorge für die göttlichen Belange, der anderen für die menschlichen. Jede ist in ihrer Art die höchste. Jede hat bestimmte Grenzen, innerhalb derer sie sich bewegt, Grenzen, die sich aus dem Wesen und dem nächsten Zweck jeder der beiden Gewalten ergeben.“ (Leo PP. XIII., Rundschreiben Papst Leos XIII. vom 1. November 1885. Immortale Dei, in: Emil Marmy [Hrsg.], Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau. Dokumente, Freiburg i. Ue. 1945, S. 571 – 602, hier S. 582) Dies bedeutet gleichsam, dass das Selbstbestimmungsrecht der Kirche in ihren eigenen Angelegenheiten eine vorstaatliche, d. h. nicht vom Staate verliehene oder aus der staatlichen Rechtsordnung abgeleitete, Befugnis darstellt. 20 Heinrich Watzka, Von der Toleranz zur religiösen Freiheit. Argumente auf dem Weg zur Konzilserklärung Dignitatis Humanae, in: Dirk Ansorge (Hrsg.), Das Zweite Vatikanische Konzil. Impulse und Perspektiven. (Frankfurter theologische Studien 70), Münster 2013, S. 199 – 227, hier S. 212. 21 Vgl. Leo PP. XIII., Epistola encyclica. Immortale dei. 1 ian. 1995, in: ASS 18 (1885/ 1886) S. 161 – 180, hier S. 163: „Hac ratione constitutam civitatem, perspicuum est, omnino debere plurimis maximisque officiis, quae ipsam iungunt Deo, religione publica satisfacere.“ 22 Vgl. Leo PP. XIII., Immortale Dei (dt.) (Anm. 19), S. 579: „Auch [die Staaten] müssen unbedingt die Art und Weise der Gottesverehrung annehmen, die Gottes Wille selbst vorgezeichnet hat.“ Die Erkenntnis der wahren Religion dürfte den Staaten nach Leo XIII. nicht schwer fallen, „denn aus vielen und glänzenden Beweisen, aus der Bewahrheitung der Weissagungen, aus der Fülle der Wunder, aus der äußerst schnellen Verbreitung des Glaubens inmitten einer feindlichen Welt und trotz größter Hemmnisse, aus dem Zeugnis der Märtyrer und anderen ähnlichen Tatsachen geht klar hervor, daß die wahre Religion allein jene ist, welche Christus selbst gestiftet und mit deren Schutz und Ausbreitung er seine Kirche betraut hat.“ (Leo PP. XIII., Immortale Dei [dt.] [Anm. 19], S. 579). 23 Vgl. Watzka, Toleranz (Anm. 20), S. 213; Jedoch tolerierte die Kirche die Existenz anderer Religionen, wenn die Staaten diese aus unterschiedlichen Gründen in ihrem Hoheits-

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Position wird im nächsten Schritt die Haltung der Kirche zum Grund- und Menschenrecht auf Religionsfreiheit in den Blick genommen, um sich im Verlauf des Beitrags dem Verhältnis des Kirchenrechts zu andersreligiösen Rechtsordnungen nähern zu können. b) Haltung der vorkonziliaren Kirche zum Menschenrecht auf Religionsfreiheit Hinsichtlich der Position des kirchlichen Lehramts zum Menschenrecht auf Religionsfreiheit zeichnete sich im Pontifikat Leos XIII. ab, dass diese – nachdem sie von seinen Vorgängern Gregor XVI.24 und Pius IX.25 scharf verurteilt wurde – neu zu gebiet duldeten. Vgl. Leo PP. XIII., Immortale Dei (dt.) (Anm. 19), S. 594: „Wenn auch die Kirche lehrt, daß die verschiedenen Arten der Gottesverehrung nicht dasselbe Recht haben dürfen, wie die wahre Religion, so verdammt sie doch jene Staatsmänner nicht, die, um irgend ein großes Gut zu erreichen, oder ein Unheil abzuwenden, jene mit Rücksicht auf Brauch und Gewohnheit im Staate dulden.“ 24 In seiner Enzyklika Mirari vos entwarf Papst Gregor XVI. ein düsteres Bild der Lage der Kirche vor dem Hintergrund der Herausforderung durch die Gefahren des Rationalismus, des Gallikanismus und v. a. des Liberalismus. Vgl. Heinrich Denzinger, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Lateinisch-Deutsch = Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben von Peter Hünermann, Freiburg i. Br. 422009, S. 2730: „Wir kommen nun zu einer anderen folgenreichsten Ursache von Übeln, von denen die Kirche gegenwärtig zu unserem Kummer heimgesucht wird, nämlich dem Indifferentismus bzw. jener verkehrten Meinung, […] man könne mit jedem beliebigen Glaubensbekenntnis das ewige Seelenheil erwerben, wenn man den Lebenswandel an der Norm des Rechten und sittlich Guten ausrichte […]. Und aus dieser höchst abscheulichen Quelle des Indifferentismus fließt jene widersinnige und irrige Auffassung bzw. vielmehr Wahn, einem jeden müsse die Freiheit des Gewissens zugesprochen und sichergestellt werden. Diesem geradezu pesthaften Irrtum bahnt freilich jene vollständige und ungezügelte Meinungsfreiheit den Weg, die zum Sturz des heiligen und bürgerlichen Gemeinwesens weit und breit grassiert, wobei manche noch mit größter Unverschämtheit behaupten, es fließe aus ihr ein Vorteil für die Religion.“ (Vgl. für den lat. Text Gregorius PP. XVI., Litterae encyclicae. Mirari vos arbitramur. 15 aug. 1832, in: ASS 4 (1868) S. 336 – 345, hier S. 341) Roger Aubert stellt die in Mirari vos formulierte Haltung der Amtskirche wie folgt dar: „Man toleriert notgedrungen das Regime der modernen Freiheiten in den Fällen, wo es nicht zu umgehen ist, und unter der Bedingung, daß die Rechte der Kirche nicht geschmälert werden. […] Aber man weist hingegen formell die Behauptung zurück, die Rechtsgleichheit für alle, Katholiken und Nichtkatholiken, und die Freiheit, gleich welche Lehre zu verbreiten, stelle ein Ideal und einen Fortschritt dar.“ (Roger Aubert, Die Religionsfreiheit von „Mirari vos“ bis zum „Syllabus“, in: Concilium 1 [1965] S. 584 – 591, hier S. 586) Aubert zufolge versuchte Gregor XVI. gegen „eine Apologie der Freiheit und der Freiheiten aus einer naturalistischen Sicht des Menschen heraus“ (a. a. O., S. 586) anzuschreiben. „Rom hatte entdeckt, daß der konkrete Liberalismus von damals entschieden für die Emanzipation des Menschen von Gott eintrat und den Primat des Übernatürlichen bewusst bestritt.“ (a. a. O., S. 586). 25 Pius IX. zeigte keine größere Hinwendung zu den Bestrebungen nach freiheitlichen Regierungsformen, in Fragen des Verhältnisses von Kirche und Staat vertrat er dieselben Ansichten wie sein Vorgänger Gregor XVI. Infolge der Krise nach den Revolutionen des Jahres 1848 zeigte sich das große Problem, mit der sich die kath. Kirche seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts auseinandersetzen musste, in neuer Schärfe: Welche Haltung sollte man ge-

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bestimmen war, wodurch sich als Folge die harte Frontstellung der Kirche gegenüber der Demokratie auflöste.26 Zwar kommt es noch zu keiner grundlegenden Neuorientierung, doch Aufbrüche und das Ernstnehmen der Fragestellung, welche mit dem Konzept der Religionsfreiheit verbunden ist, sind unter Leo XIII. bereits zu erkennen. In der Enzyklika Libertas praestantissimum donum lässt sich hinsichtlich dieser neuen Freiheit noch die vorherrschende Unsicherheit der Kirche ablesen. So formuliert Leo XIII.:

genüber der Welt einnehmen, die aus den gesellschaftlichen Umwälzungen der letzten 100 Jahre hervorgegangen war? Die Antwort der Kirche stellte der Syllabus Errorum Pius’ IX. dar. (Vgl. Pius PP. IX., Syllabus complectens praecipuos nostrae aetatis errors qui notantur in encyclicis aliisque apostolicis litteris sanctissimi domini nostri Pii Papae IX. 8 dec. 1864, in: ASS 3 [1867] S. 168 – 176) U. a. findet man im Syllabus auch die Ansichten verurteilt, „es sei jedem Menschen freigestellt, jene Religion anzunehmen und zu bekennen, die einer, durch das Licht der Vernunft geführt, für die wahre hält, sowie die Auffassung, es gehe in unserer Zeit nicht mehr an, daß die katholische Religion gleichsam die einzige Religion eines Staates unter Ausschluß aller übrigen Kultformen zu sein habe.“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde, Über die Autorität päpstlicher Lehrenzykliken. am Beispiel der Äußerungen zur Religionsfreiheit, in: ErnstWolfgang Böckenförde [Hrsg.], Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957 – 2002. [Wissenschaftliche Paperbacks Rechtswissenschaft 25], Münster 22007, S. 471 – 489, hier S. 477) Die im Schreiben vertretene Lehrposition war nicht neu, der Syllabus Errorum erregte aber aus verschiedenen Gründen (vgl. Aubert, Religionsfreiheit [Anm. 24], S. 588) als Schrift gegen den Liberalismus weitaus größeres Aufsehen als das Rundschreiben Mirari Vos: 1. Die Verurteilung des Liberalismus durch Gregor XVI. entsprach zu seiner Zeit den Erwartungen der Majorität der – in den meisten Ländern reaktionär gesinnten – Staatsmänner. Zur Zeit des Syllabus hatte der Wandel in der Gesellschaft bereits stattgefunden, die Thesen des Syllabus standen im Gegensatz zum common sense der Zeit und erregten dadurch hohe Aufmerksamkeit. 2. Das Papsttum unter Pius IX. hatte als Folge des Ultramontanismus eine ungleich wichtigere Leitungsfunktion als zu Beginn des Pontifikats Gregors XVI. 3. Durch den wachsenden Widerstand gegen den Liberalismus in Teilen des Klerus und des Kirchenvolkes sahen sich die Bischöfe gezwungen – teilweise gegen ihren eigenen Willen – dem Syllabus größere Resonanz zu verschaffen als der Enzyklika Gregors XVI. einige Jahre zuvor. 26 Vgl. Hans Maier, Die Katholiken und die Demokratie. Wahrnehmungen demokratischer Entwicklungen im modernen Katholizismus, in: Karl Gabriel/Christian Spieß/Katja Winkler (Hrsg.), Religionsfreiheit und Pluralismus. Entwicklungslinien eines katholischen Lernprozesses. (Katholizismus zwischen Religionsfreiheit und Gewalt 1), Paderborn/u. a. 2010, S. 135 – 154, hier S. 146. Die ängstliche Abwehrhaltung mit ihren düsteren und pathetischen Tönen verschwindet unter Leo XIII. und an die Stelle reiner Abwehr und bloßen Reagierens auf das nationalstaatliche Gegenüber tritt nun zunehmend das Bemühen um die Entwicklung einer zeitgemäßen Lehre des Verhältnisses von Staat und Kirche. Vgl. auch Urs Altermatt, Religionsfreiheit und Demokratie aus Sicht der Katholizismusforschung, in: Karl Gabriel/ Christian Spieß/Katja Winkler (Hrsg.), Religionsfreiheit und Pluralismus. Entwicklungslinien eines katholischen Lernprozesses. (Katholizismus zwischen Religionsfreiheit und Gewalt 1), Paderborn/u. a. 2010, S. 57 – 79, hier S. 59.

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„Illa [libertas] quoque magnopere praedicatur, quam conscientiae libertatem nominant: quae si ita accipiatur, ut suo cuique arbitratu aeque liceat Deum colere, non colere, argumentis quae supra allata sunt, satis convincitur. Sed potest etiam in hanc sententiam accipi, ut homini ex conscientia officii. Dei voluntatem sequi et iussa facere, nulla re impediente, in civitate liceat. Haec quidem vera, haec digna filiis Dei libertas, quae humanae dignitatem personae honestissime tuetur, est omni vi iniuriaque maior: eademque Ecclesiae semper optata ac praecipue cara.“27

Die päpstliche Staatslehre blieb – trotz dieser Entschärfung zentraler Aussagen – zwiespältig, „denn sie akzeptierte die demokratisch-liberale Staatsordnung nur dort, wo sie sich faktisch durchgesetzt hatte. Nach der lehramtlichen Doktrin waren sowohl Monarchie als auch Demokratie legitime Staatsordnungen, sofern sie dem Gemeinwohl dienten.“28 Die fundamentale Frage, die sich für die Kirche seit der Geburt der neuzeitlichen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert stellte, war, ob ein Staat, in dem die Majorität der Bevölkerung der katholischen Konfession angehörte, „den katholischen Glauben zur offiziellen und privilegierten Staatsreligion erklären oder ob er um des Gemeinwohls willen anderen Glaubensbekenntnissen mit Toleranz begegnen und auf eine Katholisierung von Recht und Gesellschaft verzichten solle.“29 Im Jahr 1863 stellte die Zeitschrift Civiltà cattolica diesbezüglich die Formel von der These und der Hypothese30 auf, die großes Aufsehen erregte. Sie prägte

27 Leo PP. XIII., Litterae encyclicae. Libertas praestantissimum 20 iun. 1888, in: ASS 20 (1887) S. 593 – 613, hier S. 608; deutsche Übersetzung in Denzinger, Enchiridion symbolorum definitionum (Anm. 24), S. 3245: „Auch jene [Freiheit] wird hoch gepriesen, die man die Gewissensfreiheit nennt; wenn sie so aufgefaßt wird, daß es jedem nach seinem Gutdünken gleichermaßen erlaubt ist, Gott zu verehren (oder) ihn nicht zu verehren, so wird sie durch die oben angeführten Beweise zur Genüge widerlegt. Sie kann aber auch in dem Sinne aufgefaßt werden, daß es dem Menschen im Staate erlaubt ist, ohne jede Behinderung aus Pflichtbewußtsein dem Willen Gottes zu folgen und seine Gebote zu erfüllen. Diese wahre, diese der Söhne Gottes würdige Freiheit nun, die die Würde der menschlichen Person auf ehrenvollste Weise schützt, ist größer als alle Gewalt und alles Unrecht: und sie ist der Kirche immer erwünscht und besonders teuer.“ 28 Altermatt, Religionsfreiheit (Anm. 26), S. 59. 29 Altermatt, Religionsfreiheit (Anm. 26), S. 60. 30 Vgl. Il Congresso Cattolico di Malines e le libertà moderne, in: La Civiltà Cattolica 14 (1863) S. 129 – 149; vgl. Altermatt, Religionsfreiheit (Anm. 26), S. 60; vgl. mit Hinweis auf die Verbreitung dieser Denkfigur durch Bischof Felix Dupanloup (1864): Hans Maier, Gewalt im Christentum, in: StdZ 226 (2008) S. 679 – 692, hier S. 688; Bei Siebenrock lässt sich lesen: „Die Begrifflichkeit scheint erstmals 1863 in der Civiltà cattolica oder in der Diskussion um den Syllabus von Bischof Dupanloup verwendet worden zu sein.“ (Roman A. Siebenrock, Wie die römisch-katholische Kirche zur Religionsfreiheit fand. Systematische Analytik der Konflikte, Optionen und Erfahrungen in der Entstehung der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit Dignitatis Humanae, in: Karl Gabriel/Christian Spieß/Katja Winkler [Hrsg.], Religionsfreiheit und Pluralismus. Entwicklungslinien eines katholischen Lernprozesses. [Katholizismus zwischen Religionsfreiheit und Gewalt 1], Paderborn/u. a. 2010, S. 19 – 40, hier S. 27).

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„als wegleitende Denkfigur das Denken über Religionsfreiheit, Demokratie und andere liberale Errungenschaften des modernen Verfassungsstaates für ein ganzes Jahrhundert […]. Gemeint war, dass die katholische Kirche die Gewissens- und Religionsfreiheit zwar als ,These‘ ablehne, diese aber unter bestimmten Bedingungen – eben als ,Hypothese‘ – von den Katholiken eines Landes akzeptiert werden dürfe.“31

Dieser bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil gültigen Toleranz-Idee folgend, kann gemäß der These prinzipiell und ausschließlich die Wahrheit, niemals jedoch ein Irrtum ein Recht beanspruchen, gemäß der Hypothese allerdings kann bzw. muss unter speziellen historisch-kontextualen Voraussetzungen durch die staatliche Gewalt der Irrtum um eines höheren Gutes willen geduldet werden.32 Die von Leo XIII. vertretene Toleranz-Idee ging von der Grundannahme aus, „dass die reine katholische Doktrin unter Umständen nicht streng durchgesetzt werden könne und die andere Konfession der Bevölkerungsmehrheit pragmatisch toleriert werden müsse.“33 Diese doppeldeutige Strategie machte es der Kirche möglich, sich in der Praxis mit den modernen nationalen Verfassungsstaaten zu arrangieren, ohne jedoch deren liberaldemokratische Grundwerte übernehmen zu müssen. Die seit dem Pontifikat Leos XIII. vertretene kirchliche Staatslehre konnte so als Hilfskonstruktion für eine theologisch fundierte politische Theorie dienen, die, jeweils angepasst an die Ausgangssituation und Opportunität, entweder die Staatsformen der Monarchie, der Demokratie oder auch autoritäre Regime billigte. Im 19. Jahrhundert begünstigte diese Lehre primär die damals existierenden europäischen Monarchien, indem sie deren Legitimität stützte.34 Festzuhalten ist, dass Papst Leo XIII. von den Pauschalverurteilungen seiner Vorgänger Gregor XVI. und Pius IX. abkam und einen Versuch wagte, „die kirchliche Lehre dem aufkommenden bürgerlichen Verfassungsstaat anzupassen, ohne die Kontinuität des päpstlichen Lehramtes aufzuheben.“35 In Libertas praestantissimum donum erklärt Papst Leo XIII.: „Von den verschiedenen Staatsformen verwirft die Kirche nämlich keine, sofern sie nur aus sich geeignet sind, für den Nutzen der Bürger zu sorgen.“36 Jedoch hält Leo XIII. bzgl. der Religionsfreiheit weiterhin daran

31

Altermatt, Religionsfreiheit (Anm. 26), S. 60. Vgl. Walter Kasper, Religionsfreiheit. II. Katholische Kirche, in: Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft (Hrsg.), Staatslexikon/Recht – Wirtschaft – Gesellschaft. Vierter Band. Naturschutz und Landschaftspflege – Sozialhilfe, Freiburg i. Br./u. a. 71988, S. 825 – 827, hier S. 826. 33 Altermatt, Religionsfreiheit (Anm. 26), S. 61. 34 Vgl. Altermatt, Religionsfreiheit (Anm. 26), S. 61. 35 Altermatt, Religionsfreiheit (Anm. 26), S. 61. 36 Denzinger, Enchiridion symbolorum definitionum (Anm. 24), S. 3254; vgl. für den lat. Text Leo PP. XIII., Libertas praestantissimum (Anm. 27), S. 613: „Ex variis rei publicae generibus, modo sint ad consulendum utilitati civium per se idonea, nullum quidem Ecclesia respuit[.]“ 32

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fest, dass „es keineswegs erlaubt ist, die Freiheit zu denken, zu schreiben zu lehren und desgleichen unterschiedslose Religionsfreiheit zu fordern, zu verteidigen oder zu gewähren, so als ob dies alles Rechte seien, die die Natur dem Menschen verliehen habe.“37 Mit abstrakten Formulierungen wurde durch Leo XIII. somit mittelbar die Staatsform der Demokratie, nicht aber das Grund- und Menschenrecht auf Religionsfreiheit, welches er in der Praxis nur duldete, anerkannt.38 Die von Leo XIII. geprägte Lehre des Verhältnisses von demokratischem Rechtsstaat und Kirche war grundsätzlich bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil gültig39 und wurde bspw. von Papst Pius XII. am 6. Dezember 1953 in seiner sog. Toleranzrede noch einmal betont.40 In einigen Punkten kritisch weiterentwickelt, jedoch nicht grundsätzlich in Frage gestellt, wurde die Position des kirchlichen Lehramts durch Papst Johannes XXIII. in seiner Enzyklika Pacem in terris41, in welcher das Fundament für die spätere Erklärung über die Religionsfreiheit des Zweiten Vatikanischen Konzils gelegt wurde.42 Johannes XXIII. war es, der im Laufe seines kurzen Pontifikates die Wende einläutete. In Pacem in terris formuliert er zum ersten Mal in einem Die zentralen Gedankengänge von Libertas praestantissimum donum fasst Böckenförde zusammen: „Da Gott es ist, der den Menschen für die Gesellschaft geschaffen und in den Verband von Wesen gleicher Art gestellt hat, hat die Gesellschaft, so die Lehre, Gott als ihren Vater und Urheber anzuerkennen und ihm als ihrem Herrn und Gebieter in Ehrfurcht zu dienen. Gerechtigkeit und Vernunft verbieten daher, daß der Staat ohne Gott ist, oder, was auf das gleiche (einen Atheismus) hinausläuft, daß er sich gegenüber den verschiedenen Religionen auf gleiche Weise verhält (pari modo affectam) und jeder einzelnen unterschiedslos die nämlichen Rechte zuerkennt. Vielmehr hat er sich, da das Bekenntnis einer Religion im Staat notwendig ist, zu der einzig wahren Religion zu bekennen.“ (Böckenförde, Autorität [Anm. 25], S. 477). 37 Denzinger, Enchiridion symbolorum definitionum (Anm. 24), S. 3252; vgl. Leo PP. XIII., Libertas praestantissimum (Anm. 27), S. 612. 38 Vgl. Altermatt, Religionsfreiheit (Anm. 26), S. 61. Vgl. auch Böckenförde, Autorität (Anm. 25), S. 477. 39 Vgl. Watzka, Toleranz (Anm. 20), S. 213; Muckel, Lehre (Anm. 3), S. 1781. 40 Vgl. Pius PP. XII., Die religiöse Toleranz in einer Staatengemeinschaft. Ansprache an den Verband der katholischen Juristen Italiens am 6. Dezember 1953. [„Toleranzansprache“], in: Karl Gabriel/Christian Spieß/Katja Winkler (Hrsg.), Die Anerkennung der Religionsfreiheit auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Texte zur Interpretation eines Lernprozesses. (Katholizismus zwischen Religionsfreiheit und Gewalt 4), Paderborn 2013, S. 39 – 47; Vgl. für das italienische Original: Pius PP. XII., Allocutio. Iis qui interfuerunt Conventui quinto nationali Italico Unionis Iureconsultorum catholicorum. 6 dec. 1953, in: AAS 45 (1953) S. 794 – 802. 41 Vgl. Ioannes PP. XXIII., Litterae encyclicae. Pacem in terris. 11 apr. 1963, in: AAS 55 (1963) S. 257 – 304. 42 Altermatt schreibt über die Entwicklungen unter Johannes XXIII.: „Es war Johannes XXIII. Roncalli, der 1958 nach dem Tod von Eugenio Pacelli zum Papst gewählt wurde und in seinem kurzen Pontifikat die eigentliche Wende brachte.“ (Altermatt, Religionsfreiheit [Anm. 26], S. 65) Oswald von Nell-Breuning beschreibt diese Wende als den Aufbruch in ein neues Zeitalter. (Vgl. Oswald v. Nell-Breuning, Soziallehre der Kirche. Erläuterungen der lehramtlichen Dokumente [Soziale Brennpunkte 5], Wien 1977, S. 74).

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lehramtlichen Dokument43 ein Konzept von – aus dem christlichen Menschenbild abgeleiteten – Menschenrechten als Selbstverständlichkeit.44 Im einleitenden Absatz des ersten Hauptteils des Rundschreibens lässt sich lesen: „Jedem menschlichen Zusammenleben, das gut geordnet und fruchtbar sein soll, muß das Prinzip zugrunde liegen, daß jeder Mensch seinem Wesen nach Person ist. Er hat eine Natur, die mit Vernunft und Willensfreiheit ausgestattet ist; er hat daher aus sich Rechte und Pflichten, die unmittelbar und gleichzeitig aus seiner Natur hervorgehen. Weil sie allgemein gültig und unverletzlich sind, können sie auch in keiner Weise veräußert werden.“45

Darüber hinaus findet sich noch eine Aussage über das Recht auf Gottesverehrung, welche das Tor für die weiteren Entwicklungen öffnete: „Zu den Menschenrechten gehört auch das Recht, Gott der rechten Norm des Gewissens entsprechend zu verehren und seine Religion privat und öffentlich zu bekennen.“46 Johannes XXIII. näherte sich hier „vorsichtig der Anerkennung der Religionsfreiheit, ohne diese bereits zu deklarieren.“47 Die in Pacem in terris formulierte Position „machte den Weg zu einer grundlegenden Neubesinnung auf dem II. Vatikanischen Konzil frei.“48

43

Vgl. Kasper, Religionsfreiheit (Anm. 32), S. 826. Vgl. Altermatt, Religionsfreiheit (Anm. 26), S. 65. 45 Ioannes PP. XXIII., Enzyklika. Pacem in terris. 11. April 1963. Verfügbar unter: http:// w2.vatican.va/content/john-xxiii/de/encyclicals/documents/hf_j-xxiii_enc_11041963_pacem. html. [Zugriff: 19. 08. 2022], S. 5; Vgl. für das lat. Original Ioannes PP. XXIII., Pacem in terris (Anm. 41), S. 259: „Porro in quovis humano convictu, quem bene compositum et commodum esse velimus, illud principium pro fundamento ponendum est, omnem hominem personae induere proprietatem; hoc est, naturam esse, intellegentia et voluntatis libertate praeditam; atque adeo, ipsum per se iura et officia habere, a sua ipsius natura directo et una simul profluentia. Quae propterea, ut generalia et inviolabilia sunt, ita mancipari nullo modo possunt.“ 46 Ioannes PP. XXIII., Pacem in terris (Anm. 45), Art. 5; Vgl. Ioannes PP. XXIII., Pacem in terris (Anm. 41), S. 260: „In hominis iuribus hoc quoque numerandum est, ut et Deum, ad rectam conscientiae suae normam, venerari possit, et religionem privatim publice profiteri.“ 47 Altermatt, Religionsfreiheit (Anm. 26), S. 65. 48 Kasper, Religionsfreiheit (Anm. 32), S. 826. Bis an die Schwelle des Konzils bestand die katholische Option in der „Beibehaltung und Dehnung des klassischen Toleranzkonzepts im Verbund mit einer Staatskonzeption, der gemäß Staat und Kirche zwar nicht unterschiedslos eins sind, aber als Instrumente der einen Vorsehung und als Adressaten des einen göttlichen Willens in einem gemeinsamen Verantwortungsraum vor Gott stehen und aus diesem Transzendenzbezug ihre je spezifischen Rechte und Pflichten herleiten.“ (Watzka, Toleranz [Anm. 20], S. 203). 44

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2. Die Grundlegung des Kirchenrechts durch das Zweite Vatikanische Konzil und die Grundlagen für einen Dialog mit säkularen und andersreligiösen Rechtsordnungen Das Zweite Vatikanische Konzil bedeutete für die katholische Kirche einen fundamentalen Wandel im Selbstverständnis,49 damit einhergehend wurden die Determinanten für eine erneuerte Begründung des Kirchenrechts bestimmt.50 Die Kanonistik der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil „beschäftigte sich positivistisch mit mehr oder weniger wichtigen und lebensrelevanten Detailfragen“51 der eigenen Disziplin. Fundamentale Fragen „nach dem Selbstverständnis […] wurden nicht gestellt.“52 Verheerende Folge war hinsichtlich der kirchlichen Rechtsordnung in erster Linie die lediglich „naturrechtliche Begründung [ihrer] Existenz mit dem Standardargument ,ubi societas, ibi ius‘ […] und die rein buchstabengetreue und kasuistische Interpretation und Anwendung der Rechtsnormen.“53 Eine derartige Rechtspraxis musste früher oder später zur Frustration führen, welche sich am Vorabend des Zweiten Vatikanums „je nach Ausmaß der Stimmung in den verschiedenen Formen des Vorwurfs der Verrechtlichung des (kirchlichen) Lebens, der Ablehnung der rechtlichen Bestimmungen bis hin zu einer rechtsfeindlichen Grundeinstellung zum Ausdruck brachten.“54 Im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 – 1965) war das Bedürfnis wahrnehmbar, das kanonische Recht umfassend theologisch grundzulegen und zu legitimieren. Der Graben zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen der Kanonistik und der Theologie ist dadurch noch nicht überwunden,55 jedoch beschäftigen sich seit dem Zweiten Vatikanum zahlreiche Forscherinnen und Forscher mit Fragen einer

49 Vgl. Guido Bausenhart, Zentrale theologische Desiderate für die kirchliche Gesetzgebung, in: Peter Hünermann/Bernd J. Hilberath (Hrsg.), Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zeichen der Zeit heute, Freiburg i. Br. 2006, S. 362 – 381, hier S. 366: „Das Konzil hebt eine gegenreformatorisch eng geführte, vornehmlich juridisch geprägte, an empirischäußer(lich)en Kennzeichen orientierte Ekklesiologie auf in ein Verständnis der Kirche als einer geistlichen Größe, als mysterium (LG 1 – 8), und verschließt dabei doch nicht die Augen vor ihrer Greifbarkeit und Sichtbarkeit.“ 50 Vgl. Ludger Müller, § 2 Recht und Kirchenrecht, in: Stephan Haering/Wilhelm Rees/ Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 32015, S. 12 – 31, hier S. 25 – 30. 51 Demel, Schlüsselfragen (Anm. 17), S. 48. 52 Demel, Schlüsselfragen (Anm. 17), S. 48. 53 Demel, Schlüsselfragen (Anm. 17), S. 48. 54 Demel, Schlüsselfragen (Anm. 17), S. 48. 55 Vgl. Andreas E. Graßmann, Kirchenrecht und Theologie. Grundfragen der Kirchenrechtswissenschaft im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil, in: Das Theologische der Theologie. Wissenschaftstheoretische Reflexionen – methodische Bestimmungen – disziplinäre Konkretionen. (Salzburger Theologische Studien 62), Innsbruck 2019, S. 235 – 266, hier S. 236 – 251.

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theologischen Grundlegung der kanonischen Rechtsordnung. Ein Konsens konnte in dieser Frage bisher nicht erzielt werden.56 Der mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil vorgenommene ekklesiologische Paradigmenwechsel resultierte für die katholische Kirche in der Wiederentdeckung der Bildbegriffe des Volk Gottes,57 des Leib Christi58 und der communio für die Selbstbezeichnung sowie die Ekklesiologie der Kirche.59 Im Zentrum steht hierbei die communio fidelium i. S. e. „communio des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe“60, in welcher alle Gläubigen durch die Ausübung des allgemeinen Priestertums aller Getauften in den drei munera der Verkündigung, der Heiligung sowie der Leitung zur aktiven Teilhabe an der Sendung der Kirche berufen sind.61 Das Ka-

56 Vgl. Pree, Verhältnis (Anm. 9), S. 23. Gemäß Pree handelt der Streit „nicht darüber, ob das Kirchenrecht eine theologische Grundlage und Verankerung hat und einer solchen bedarf – das steht außer Zweifel –, sondern darüber, wie diese Verankerung im Einzelnen auszusehen hat und ob ,Recht‘ im Kirchenrecht ein univoker Begriff ist oder, wegen der theologischen Eigenprägung dieser Rechtsordnung, ein äquivoker bzw. analoger Begriff.“ (Pree, Verhältnis [Anm. 9], 23 f.). Vgl. dazu: Ludger Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? Über den Rechtscharakter der kirchlichen Rechtsordnung (Dissertationen. Kanonistische Reihe 6), St. Ottilien 1991; Ludger Müller, Der Rechtscharakter der kirchlichen Rechtsordnung. Überlegungen zur These vom analogen Wesen des Kirchenrechts, in: AfkKr 159 (1990) S. 3 – 18. 57 Vgl. u. a. Concilium Vaticanum II, Constitutio Dogmatica de Ecclesia Lumen gentium. 21 nov. 1964, in: AAS 57 (1965) S. 5 – 67, Art. 9. 58 Vgl. u. a. Concilium Vaticanum II, Lumen gentium (Anm. 57), Art. 7. 59 Vgl. Ilona Riedel-Spangenberger, Die Communio als Strukturprinzip der Kirche und ihre Rezeption im CIC/1983, in: TrThZ 97 (1988) S. 217 – 238, hier S. 227 – 232. 60 Riedel-Spangenberger, Communio (Anm. 59), S. 230. Vgl. dazu: Concilium Vaticanum II, Lumen gentium (Anm. 57), Art. 13; Concilium Vaticanum II, Decretum de oecumenismo Unitatis redintegratio. 21 nov. 1964, in: AAS 57 (1965) S. 90 – 112, Art. 2; deutsch: Concilium Vaticanum II, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio. 21. November 1964. Verfügbar unter: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/docu ments/vat-ii_decree_19641121_unitatis-redintegratio_ge.html. [Zugriff: 19. 08. 2022], Art. 2; Concilium Vaticanum II, Decretum de apostolatu laicorum Apostolicam actuositatem. 19 nov. 1965, in: AAS 58 (1966) S. 837 – 864, Art. 18; deutsch: Concilium Vaticanum II, Dekret über das Laienapostolat Apostolicam actuositatem. 18. November 1965. Verfügbar unter: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decree_ 19651118_apostolicam-actuositatem_ge.html. [Zugriff: 19. 08. 2022], Art. 18. 61 Vgl. Concilium Vaticanum II, Lumen gentium (Anm. 57), Art. 10; Vgl. dazu: Thomas Meckel, Die Tria-Munera-Lehre in Konzil und Codex, in: Markus Graulich/Thomas Meckel/ Matthias Pulte (Hrsg.), Ius canonicum in communione christifidelium. Festschrift zum 65. Geburtstag von Heribert Hallermann. (Kirchen- und Staatskirchenrecht 23), Paderborn 2016, S. 115 – 148, hier S. 119 – 132; Elfriede Glaubitz, Der christliche Laie. Vergleichende Untersuchung vom Zweiten Vatikanischen Konzil zur Bischofssynode 1987 (Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft 20), Würzburg 1995, S. 80 – 86. In einem zweiten Schritt wird die Gemeinschaft aller Gläubigen segmentiert, indem einige als Träger der suprema auctoritas in der Kirche durch den Empfang des Weihesakramentes in der Nachfolge der Apostel als Papst und Bischofskollegium „zum besonderen Dienst am Volk Gottes bestellt [werden], um im Namen der Kirche und in der Person Christi des Hauptes der Kirche zu handeln.“ (Thomas Meckel, Religionsunterricht im Recht. Perspektiven des katholischen Kirchenrechts und des

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nonische Recht stellt ein Instrument dar, welches in der konkreten Umsetzung dem Leben des Gottesvolkes dienen soll.62 In Christus, dem Licht der Völker, ist die Kirche „gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.“63 Die Kirche hat den Auftrag sowie die göttliche Sendung das Evangelium zu verkünden und dadurch einerseits eine heilvolle Begegnung zwischen Gott und den Menschen, andererseits zwischen den Menschen untereinander zu ermöglichen. „Mit dem Auftrag, das Heilswirken des Herrn fortzusetzen, wurde der Kirche zugleich die Art und Weise bestimmt, in der sie ihren Auftrag zu erfüllen hat: durch ihr Leben aus dem göttlichen Wort und der Feier der Sakramente.“64 Von zentraler Relevanz für die im vorliegenden Beitrag gestellte Frage nach der Anschlussfähigkeit der kirchlichen Rechtsordnung gegenüber säkularen und andersreligiösen Rechtsordnungen in der postsäkularen religiös und kulturell heterogenen Gesellschaft ist die Blickrichtung in Art. 1 Lumen Gentium, derzufolge sich der kirchliche Auftrag auf die ganze Menschheit bezieht. Diese Perspektive zeitigt Auswirkungen auf die Möglichkeiten für den Dialog der Rechtsordnungen.65 Mit in den Blick zu nehmen ist des Weiteren die caritas als kirchlicher Wesensvollzug.66 Die communio der Kirche ist gleichzeitig auch communio cum deo. Da diedeutschen Staatskirchenrechts [Kirchen- und Staatskirchenrecht 14], Paderborn 2011, S. 73 f.; mit Verweis auf Riedel-Spangenberger, Communio [Anm. 59], S. 235) 62 Vgl. Paulus PP. VI., Allocutio ad eos, qui Conventui Internationali interfuerunt, in urbe Roma favente Pontificia Universitate Gregoriana habito, exeunte saeculo ex quo Facultas Iuris Canonici eodem in Athenaeo constituta est. 19 febr. 1977, in: AAS 69 (1977) S. 208 – 212, hier S. 211 f.; dt. Übersetzung: Paulus PP. VI., Liebe als Ziel des Rechtes. Ansprache des Papstes an die Teilnehmer des Internationalen Kongresses für Kirchenrecht am 19. Februar 1977, in: OssRom (dt.) Nr. 11, 18. März 1977, S. 4 f., hier S. 5: „Das Recht ist für die Seelsorge nicht Hindernis, sondern Hilfe, es tötet nicht, sondern macht lebendig. Seine Hauptaufgabe ist nicht Verbot und Widerstand, sondern Anregung und Förderung; es soll behüten und den echten Freiheitsraum schützen […].“ Vgl. auch: Wilhelm Rees, Zwischen Bewahrung und Erneuerung. Zu Entdeckungen und (Weiter-)Entwicklungen im Recht der römisch-katholischen Kirche, in: Elmar Güthoff/Stephan Haering (Hrsg.), Ius quia iustum. Festschrift für Helmuth Pree zum 65. Geburtstag. (Kanonistische Studien und Texte 65), Berlin 2015, S. 81 – 111, hier S. 85. 63 Concilium Vaticanum II, Die dogmatische Konstitution über die Kirche. [= Lumen Gentium], in: Karl Rahner/Herbert Vorgrimler (Hrsg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils. Allgemeine Einleitung – 16 spezielle Einführungen – ausführliches Sachregister. (Grundlagen Theologie), Freiburg i. Br./u. a. 352008, S. 123 – 197, Art. 1. 64 Winfried Aymans/Klaus Mörsdorf, Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici. Einleitende Grundfragen und Allgemeine Normen (Bd. I), Paderborn/u. a. 13 1991, S. 30. 65 Vgl. dazu unten Punkt 3. 66 Vgl. Benedictus PP. XVI., Litterae encyclicae Deus caritas est. 25 dec. 2005, in: AAS 98 (2006) S. 217 – 252, Art. 25a: „Intima Ecclesiae natura triplici exprimitur munere: praedicatione Verbi Dei (kerygma-martyria), celebratione Sacramentorum (leiturgia), ministerio caritatis (diakonia).“

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ser Gott die Liebe ist,67 kann in der Kirche zwischen Recht und Liebe kein unüberwindbarer Graben existieren. Vielmehr fordern sich Liebe und Recht gegenseitig. Im Hören seines Wortes, in der Feier seiner Sakramente sowie in der christlichen Liebestätigkeit ist die Kirche der Ort der Gottesbegegnung. Da sie sonst der kirchlichen Sendung nicht dienlich sein könnte, muss die Rechtsordnung der Kirche mit diesem Verständnis des Wesens der Kirche übereinstimmen.68 Der Grund, weshalb es das Kanonische Recht in der und für die Kirche gibt und geben muss, liegt „im Dienst an der Kirche als ,Communio‘“69, dem Dienst an der sichtbaren Gemeinschaft des Gottesvolkes als irdisch verfasster Kirche. a) Programmatische Aussagen in den Konzilsdokumenten über die katholischen Ostkirchen, den Ökumenismus und das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Stellt man die Frage nach dem Wesen der Kirche, führt dies zu einer Schwierigkeit in Bezug auf die Bestimmung des Gehalts des Terminus Kirche. Was ist die Ecclesia catholica, in der man als Gläubiger ein Glied sein kann oder auch nicht? Das Zweite Vatikanische Konzil entwirft den Begriff der Kirche unter verschiedenen Aspekten der Diversität. Das Konzil wollte andere Kirchen als solche anerkennen und den Exklusivitätsanspruch der Ecclesia catholica durch die Theologie der communio-Ekklesiologie neu definieren. Es war jedoch nicht die konziliare Intention, dass alle christlichen Denominationen als gleichwertig verstanden werden sollen. Das katholische Proprium sollte dezidiert erhalten bleiben.70 Wie Helmuth Pree formuliert, ist die „katholische Kirche in ihrer Gesamtheit […] kein monolithischer Block. Sie ist nicht nur communio fidelium, sondern wesentlich auch communio Ecclesiarum.“71 Im Sinne einer innerkatholischen Vielfalt definiert 67 Vgl. 1 Joh 4, 16: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.“ 68 Vgl. Müller, Recht (Anm. 50), 29 f. 69 Antonio M. Rouco Varela, Das kanonische Recht im Dienst der kirchlichen Communio, in: Antonio M. Rouco Varela (Hrsg.), Schriften zur Theologie des Kirchenrechts und zur Kirchenverfassung. Herausgegeben von Winfried Aymans, Libero Gerosa und Ludger Müller, Paderborn/u. a. 2000, S. 291 – 309, hier S. 308; Vgl. auch: Wilhelm Rees, Strafe und Strafzwecke – Theorien, geltendes Recht und Reformen, in: Matthias Pulte (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung. (Kirchen- und Staatskirchenrecht 25), Paderborn 2017, 23 – 60, hier S. 26; Wilhelm Rees, Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Innsbruck. Kirchenrechtler und Selbstverständnis des Faches in Vergangenheit und Gegenwart, in: Konrad Breitsching/Wilhelm Rees (Hrsg.), Tradition – Wegweisung in die Zukunft. Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 75. Geburtstag. (Kanonistische Studien und Texte 46), Berlin 2001, S. 317 – 341, hier S. 331 – 333. 70 Vgl. Urs Brosi, Recht, Strukturen, Freiräume. Kirchenrecht (Studiengang Theologie 9), Zürich 2013, S. 69. 71 Helmuth Pree, Der „Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium“. Sein Ort im katholischen Kirchenrecht und im ökumenischen Dialog, in: Christoph Ohly/Wilhelm Rees/Libero Gerosa (Hrsg.), Theologia Iuris Canonici. Festschrift für Ludger Müller zur Vollendung des

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das Konzilsdekret über die katholischen Ostkirchen Orientalium Ecclesiarum die katholische Kirche als mystischen Leib Christi, der aus Gläubigen besteht, „die durch denselben Glauben, dieselben Sakramente und dieselbe oberhirtliche Führung im Heiligen Geist organisch geeint sind. Durch ihre Hierarchie zu verschiedenen Gemeinschaften zusammengeschlossen, bilden sie ,Teilkirchen‘ oder ,Riten‘. Unter diesen herrscht eine wunderbare Verbundenheit, so daß ihre Vielfalt in der Kirche keinesfalls der Einheit Abbruch tut, sondern im Gegenteil diese Einheit deutlich aufzeigt.“72

Diese verschiedenen Riten werden als Erbe der gesamten Kirche Christi betrachtet,73 innerhalb der unterschiedlichen Riten wird keinerlei weitere Spezifikation i. S. e. Rangfolge vorgenommen. Alle diese Riten und Teilkirchen – die sog. Ecclesiae sui iuris74 – sind der Hirtenführung des Papstes in gleicher Art und Weise anvertraut.75 Sie nehmen daher alle „die gleiche Würde ein, so daß auf Grund ihres Ritus keine von ihnen einen Vorrang vor den anderen hat.“76 Die faktische Spaltung der Christenheit wurde im Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio durch das Zweite Vatikanische Konzil als ein dem Willen Christi widersprechendes Ärgernis bezeichnet, die Wiederherstellung der sichtbaren Einheit aller Christen wurde demgegenüber als bedeutendes Ziel definiert.77 Die Kirche Jesu Christi, welche nach Lumen gentium „in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet“78 ist, „ist verwirklicht in der katholischen Kirche, die vom Nach65. Lebensjahres. (Kanonistische Studien und Texte 67), Berlin 2017, S. 769 – 782, hier S. 769. 72 Concilium Vaticanum II, Dekret über die katholischen Ostkirchen Orientalium Ecclesiarum. 21. Dezember 1964. Verfügbar unter: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_ vatican_council/documents/vat-ii_decree_19641121_orientalium-ecclesiarum_ge.html. [Zugriff: 19. 08. 2022], Art. 2; lat. Original: Concilium Vaticanum II, Decretum de Ecclesiis Orientalibus Catholicis Orientalium Ecclesiarum. 21 dec. 1964, in: AAS 57 (1965) S. 76 – 89, Art. 2. 73 Vgl. Concilium Vaticanum II, Orientalium Ecclesiarum (Anm. 72), Art. 5. 74 Vgl. für das Konzept der Ecclesiae sui iuris: Konrad Breitsching, Art. Ecclesia sui iuris – Katholisch, in: Heinrich d. Wall/u. a. (Hrsg.), Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht. Band 1. A–E, Paderborn 2019, S. 690; Carl G. Fürst, Die Bedeutung des Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium für die ostkirchliche Diaspora, in: ÖAfKR 42 (1993) S. 345 – 375, hier S. 347 – 353. 75 Vgl. Pree, Codex (Anm. 71), S. 770. 76 Concilium Vaticanum II, Orientalium Ecclesiarum (Anm. 72), Art. 3. Vgl. dazu auch: Concilium Vaticanum II, Constitutio de Sacra Liturgia Sacrosanctum concilium. 4 dec. 1963, in: AAS 56 (1964) S. 97 – 138, Art. 4; deutsch: Concilium Vaticanum II, Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum concilium. 4. Dezember 1963. Verfügbar unter: http://www.vati can.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19631204_sacrosanc tum-concilium_ge.html. [Zugriff: 19. 08. 2022], Art. 4. 77 Vgl. Concilium Vaticanum II, Unitatis redintegratio (Anm. 60), Art. 1. Vgl. dazu Thomas A. Amann, § 65 Der ökumenische Auftrag, in: Stephan Haering/Wilhelm Rees/Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 32015, S. 944 – 963, hier S. 949. 78 Concilium Vaticanum II, Lumen gentium (Anm. 57), Art. 8.

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folger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird.“79 Jedoch schließt die Tatsache, dass eine Vielfalt von eigenberechtigten Riten und Teilkirchen unter der Leitung des Papstes und der Bischöfe in der Ecclesia catholica geeint leben,80 „nicht aus, dass außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen.“81 Das Ökumenismusdekret lenkt den Blick auf dem Weg zur Einheit der Christen auf das verbindende Band der Taufe,82 da Christinnen und Christen, welche die Taufe nicht innerhalb der Ecclesia catholica erhalten haben, gemäß der Theologie des Konzils „durch den Glauben in der Taufe gerechtfertigt und Christus eingegliedert“83 werden. Den Getauften, welche in nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen „Gemeinschaften geboren sind und in ihnen den Glauben an Christus erlangen, darf die Schuld der Trennung nicht zur Last gelegt werden – die katholische Kirche betrachtet sie als Brüder, in Verehrung und Liebe. Denn wer an Christus glaubt und in der rechten Weise die Taufe empfangen hat, steht dadurch in einer gewissen, wenn auch nicht vollkommenen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche.“84

Aus diesem Grund „gebührt ihnen der Ehrenname des Christen, und mit Recht werden sie von den Söhnen der katholischen Kirche als Brüder im Herrn anerkannt.“85 Dieser Blick des Zweiten Vatikanums auf nichtkatholische Christinnen und Christen sowie deren Gemeinschaften stellte in der kanonistischen Tradition einen Paradigmenwechsel dar, denn aus Sicht des vorkonziliaren Magisteriums wurde der Mensch durch die Taufe in die Kirche Jesu Christi inkorporiert, welche mit der Ecclesia catholica identifiziert wurde. Der Geltungsanspruch des Kirchen79

Concilium Vaticanum II, Lumen gentium (Anm. 57), Art. 8. Vgl. zum Anspruch, dass aufgrund des ekklesiologischen Selbstverständnisses der Ecclesia catholica die Kirche Jesu Christi lediglich in der katholischen Kirche wesensvollständig verwirklicht ist: Alexandra von Teuffenbach, Die Bedeutung des „subsistit in“ (LG 8). Zum Selbstverständnis der katholischen Kirche, München 2002. 80 Vgl. Concilium Vaticanum II, Orientalium Ecclesiarum (Anm. 72), Art. 1 – 3. Vgl. dazu: Pree, Codex (Anm. 71), S. 769 – 774. 81 Concilium Vaticanum II, Lumen gentium (Anm. 57), Art. 8. 82 Vgl. Concilium Vaticanum II, Unitatis redintegratio (Anm. 60), Art. 2. Vgl. allgemein zu den verbindenden Elementen der Taufe, der Heiligen Schrift und der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse: Friedrich Weber, Schritte auf dem Weg zur Einheit der Kirche, in: Una Sancta 66 (2011) S. 318 – 326. Vgl. auch: Amann, Auftrag (Anm. 77), S. 947 – 950; Stephan Haering, Ökumenischer Dialog und ökumenische Praxis aus dem Blickwinkel einzelner Konfessionen. Chancen, Grenzen, Problemfelder. Ein Statement aus katholischer Sicht, in: Wilhelm Rees (Hrsg.), Ökumene. Kirchenrechtliche Aspekte. (Kirchenrechtliche Bibliothek 13), Wien 2014, S. 233 – 242, hier S. 233; Georg Gänswein, Kirchengliedschaft – Vom Zweiten Vatikanischen Konzil zum Codex Iuris Canonici. Die Rezeption der konziliaren Aussagen über die Kirchenzugehörigkeit in das nachkonziliare Gesetzbuch der Lateinischen Kirche (Münchener theologische Studien. III. Kanonistische Abteilung 47), St. Ottilien 1995. 83 Concilium Vaticanum II, Unitatis redintegratio (Anm. 60), Art. 3. 84 Concilium Vaticanum II, Unitatis redintegratio (Anm. 60), Art. 3. 85 Concilium Vaticanum II, Unitatis redintegratio (Anm. 60), Art. 3.

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rechts erstreckte sich demzufolge auf alle Getauften,86 die nichtkatholischen Christinnen und Christen wurden jedoch durch eine Sperre mit einer Rechtsbeschränkung belegt.87 Sie wurden „unterschiedslos als Häretiker und Schismatiker angesehen, die zugleich außerhalb der Kirche standen.“88 Eine positive Bewertung nichtkatholischer christlicher Gemeinschaften war vor dem Hintergrund der vorkonziliaren Ekklesiologie nicht möglich, kirchenrechtlich wurden sie „mit der Bezeichnung sectae acatholicae unterschiedslos lediglich in ihrer nichtkatholischen Vergemeinschaftung bewertet.“89 Nichtkatholische Getaufte konnten nur als Einzelpersonen in den Blick genommen90 werden und der Weg zur Einheit führte ausschließlich über die Konversion der Individuen.91 Den Konzilsvätern war jedoch bewusst, dass die Bestrebungen zur Vorbereitung sowie die Wiederaufnahme nichtkatholisch getaufter Einzelpersonen, welche den Wunsch nach Aufnahme in die plena communio in sich tragen, sich der Natur nach vom allgemeinen ökumenischen Auftrag und der diesbezüglichen Zielsetzung der Kirche unterscheiden, auch wenn „kein Gegensatz zwischen ihnen [besteht], da beides aus dem wunderbaren Ratschluss Gottes hervorgeht.“92 Für die Fragestellung des vorliegenden Beitrags relevant ist, über die Dokumente zur innerkatholischen und christlich-ökumenischen Diversität hinaus, vor allem die Konzilserklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra Aetate, da das Konzil in dieser Verhältnisbestimmung eine grundlegende Neuorientierung vorgenommen und die Verwerfung anderer Religionen aufgegeben hat. Die Kirche lehnt in der formulierten konziliaren Lehre „nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist.“93 Die katholische Kirche betrachtet mit aufrichtigem Ernst „jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen er86 Vgl. can. 12 CIC/17: „Legibus mere ecclesiasticis non tenentur qui baptismum non receperunt, nec baptizati qui sufficienti rationis usu non gaudent, nec qui, licet rationis usum assecuti, septimum aetatis annum nondum expleverunt, nisi aliud iure expresse caveatur.“ 87 Vgl. can. 87 CIC/17: „Baptismate homo constituitur in Ecelesia Christi persona cum omnibus christianorum iuribus et officiis, nisi, ad iura quod attinet, obstet obex, ecclesiasticae communionis vinculum impediens, vel lata ab Ecclesia censura.“ 88 Amann, Auftrag (Anm. 77), S. 947. 89 Amann, Auftrag (Anm. 77), S. 947. 90 Vgl. Amann, Auftrag (Anm. 77), S. 947. 91 Vgl. Meckel, Religionsunterricht (Anm. 61), S. 78. 92 Concilium Vaticanum II, Unitatis redintegratio (Anm. 60), Art. 4. 93 Concilium Vaticanum II, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate. 28. Oktober 1965. Verfügbar unter: http://www.vatican.va/ar chive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decl_19651028_nostra-aetate_ge. html. [Zugriff: 19. August 2022], Art. 2; lat. Original: Concilium Vaticanum II, Declaratio de ecclesiae habitudine ad religiones non-christianas Nostra aetate. 28 nov. 1965, in: AAS 58 (1966) S. 740 – 744, Art. 2.

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leuchtet.“94 Den nichtchristlichen Religionen wird in Nostra Aetate ein Teilwahrheitscharakter zugestanden und dadurch die religionstheologische Position des Exklusivismus zugunsten eines inklusivistischen Ansatzes verworfen.95 Diese religionstheologische Position „fordert eine tiefe Ernsthaftigkeit in der Wahrnehmung der anderen Religionen, gerade auch in ihrer Differenz.“96 Diese in Nostra Aetate grundgelegte Lehre der Wahrnehmung der Elemente von Wahrheit und Heiligkeit in nichtchristlichen Religionen muss, vor dem Hintergrund des konziliaren Kirchenbegriffs und der Anerkennung der Religionsfreiheit,97 auf geeignete Weise auch im Dialog der kanonischen Rechtsordnung mit andersreligiösen Rechtsordnungen Beachtung finden. Wie gezeigt wurde, stellt das Konzil nachdrücklich die ökumenische Perspektive der christlichen Sendung sowie die Notwendigkeit der Öffnung gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften heraus. Bisher wurde diese erneuerte religionstheologische Position durch die katholische Kirche jedoch kaum im Kirchenrecht rezipiert.98 b) Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis Humanae – Aufgabe der Forderung nach einem katholischen Staat und Anerkennung des Verfassungsstaatswesens der Neuzeit Die Anerkennung der Religionsfreiheit durch die Konzilsväter stellt einen außergewöhnlichen Akt des Gewaltverzichts durch die Kirche dar, indem sich diese mit der Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis Humanae von der Vorstellung 94

Concilium Vaticanum II, Nostra aetate (Anm. 93), Art. 2. Vgl. ausführlich zur Entwicklung der theologisch-lehramtlichen Position zu den anderen Religionen: Roman A. Siebenrock, Theologischer Kommentar zur Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra Aetate, in: Peter Hünermann/Bernd J. Hilberath (Hrsg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Band 3. Orientalium Ecclesiarum, Unitatis Redintegratio, Christus Dominus, Optatam Totius, Perfectae Caritatis, Gravissimum Educationis, Nostra Aetate, Dei Verbum, Freiburg i. Br./u. a. 2005, S. 591 – 693, hier S. 595 – 632. 96 Siebenrock, Kommentar Nostra Aetate (Anm. 95), S. 657. 97 Vgl. Concilium Vaticanum II, Declaratio de libertate religiosa. Dignitatis humanae. De iure personae et communitatum ad libertatem socialem et civilem in re religiosa. 7 dec. 1965, in: AAS 58 (1966) S. 929 – 946. 98 In Bezug auf Nostra Aetate ist Burkhard Berkmann zuzustimmen, der darauf hinweist, dass die Konzilserklärung „im Kirchenrecht nicht so stark rezipiert wurde, wie andere Konzilsdokumente.“ (Burkhard J. Berkmann, Impulse von Nostra Aetate für das Kirchenrecht, in: öarr 61 (2014) S. 225 – 243, hier S. 242). Exemplarisch bemerkt Wilhelm Rees für das Feld des schulischen Religionsunterrichts in Österreich, dass die konziliare religionstheologische Lehre nicht in die entsprechenden schulischen Lehrpläne Eingang gefunden haben. Vgl. Wilhelm Rees, Die kirchenrechtlichen Rahmenbedingungen für den katholischen Religionsunterricht, in: Burkhard Kämper/Klaus Pfeffer (Hrsg.), Religionsunterricht in der religiös pluralen Gesellschaft. (Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 49), Münster 2016, S. 75 – 130, hier S. 82; Wilhelm Rees, Rechtliche Rahmenbedingungen für einen konfessionell-kooperativen Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen Österreichs, in: ÖRF 26 (2018) S. 47 – 68, hier S. 55. 95

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eines katholischen Staates löst und somit schlussendlich die Trennung der Sphären von Religion und Politik lehramtlich formuliert. Durch das Anerkennen der Religionsfreiheit auf Basis der Menschenwürde öffnete sich die Kirche dem religionsrechtlichen Dialog mit den freiheitlich-demokratischen Staaten und überstaatlichen Organisationen, dessen Ausgangspunkt die multiplen religiösen Interessen der Staatsbürger sind.99 Den entscheidenden Schritt zu einer erneuerten Bestimmung der Beziehungen von Kirche und Staat auf dem Fundament der Anerkennung des in religiösen Dingen neutralen demokratischen Staatswesens der Neuzeit setzte die Kirche in der Erklärung Dignitatis Humanae, in welcher zum ersten Mal in der Geschichte der Kirche explizit formuliert und anerkannt wird, „dass es erstens zur Würde der menschlichen Person gehört, in der Frage des Glaubens frei zu sein […], und zweitens, dass diese Glaubens- und Religionsfreiheit als Grundrecht jeder Person im Offenbarungsgeschehen Gottes in Jesus Christus verankert ist.“100 Die komplizierte Geschichte der Textentstehung der Erklärung über die Religionsfreiheit, welche wie kaum ein anderes Konzilsdokument „mit dem Ereignis Konzil und mit seinem Ringen um das Einholen der Neuzeit verknüpft“101 ist, umfasst den Zeitraum des gesamten Konzils und die Erklärung gehörte zu den am kontroversesten diskutierten Problemstellungen des Zweiten Vatikanischen Konzils.102 Das Ringen 99 In diesem Dialog verfolgt der Heilige Stuhl durch sein nachkonziliares Konkordatswesen gegenüber den Staaten und überstaatlichen Organisationen kein „institutionelles Absichern von Einflusssphären zweier souveräner Mächte mit inkommensurablen Rechtsordnungen.“ (Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, S. 456) Aus Sicht des Staates ist die Katholische Kirche – völkerrechtlich vertreten durch den Heiligen Stuhl – eine an der öffentlichen religionsrechtlichen Diskussion teilnehmende Föderation, der „aufgrund ihrer Größe, ihrer Institutionalisierung u. ihrer weltweiten Verbindungen besondere Bedeutung zu[kommt].“ (Konrad Hilpert, Menschenrechte. I. Theologisch-ethisch, in: Walter Kasper/Konrad Baumgartner [Hrsg.], Lexikon für Theologie und Kirche. Siebter Band. Maximilian bis Pazzi, Freiburg i. Br./u. a. 31998, S. 120 – 125, hier S. 121). 100 Sabine Demel, Handbuch Kirchenrecht. Grundbegriffe für Studium und Praxis, Freiburg i. Br./u. a. 22013, S. 532. 101 Franz X. Bischof, Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, in: Franz X. Bischof/Stephan Leimgruber (Hrsg.), Vierzig Jahre II. Vatikanum. Zur Wirkungsgeschichte der Konzilstexte, Würzburg 2004, S. 334 – 354, hier S. 354. Am Tag nach der Veröffentlichung der Erklärung titelte die italienische Tageszeitung La Stampa, die Erklärung begrüßend, mit folgenden Worten: „Lo schema che riguarda la libertà religiosa costituisce da solo un autentico arricchimento dottrinario, forse il maggiore e più caratteristico venuto dal Concilio.“ (Vittorio Gorresio, Un bilancio positivo e qualche compromesso, in: La Stampa [99], 292/1965, 09. Dezember 1965, S. 1). Der damalige Konzilsberater Joseph Ratzinger formulierte noch im Jahr 1965, die Erklärung über die Religionsfreiheit markiere „das Ende des Mittelalters, ja das Ende der konstantinischen Ära“. (Joseph Ratzinger, Ergebnisse und Probleme der dritten Konzilsperiode, Köln 1965, S. 31). 102 Schlussendlich wurde das sechste Textschema in der neunten öffentlichen Sitzung am 7. Dezember 1965 – dem letzten Arbeitstag des Konzils – als Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis Humanae mit 2308 Ja-Stimmen, 70 Nein-Stimmen und 8 ungültigen Stimmen von den Konzilsvätern angenommen. Vgl. Roman A. Siebenrock, Theologischer

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der Konzilsväter um das rechte Erfassen der Thematik der Erklärung lässt sich bereits im Titel der Erklärung ablesen. Durch das Einfügen der Attribute socialem et civilem in die lateinische Überschrift,103 stellt sich Dignitatis Humanae als persönlich-individuelles und gemeinschaftliches Recht in einen staatskirchenrechtlichen Kontext. Die Fragestellung von Dignitatis Humanae zielt vorrangig auf den sozial-gesellschaftlichen sowie den bürgerlichen Bereich ab, der eigentliche Dialogpartner findet sich im Staat bzw. in der öffentlichen Gewalt.104 Religionsfreiheit wird hierbei verstanden als ein Recht, das von staatlicher Seite nicht eingeräumt oder gewährt wird, es muss vom Staat als unverlierbares Recht der Person anerkannt werden. Ein Staat, der Religionsfreiheit nicht gewährt, schränkt die Menschenrechte auf intolerable Weise ein und maßt sich Kompetenzen an, die ihm aus kirchlicher Sicht nicht zukommen. Gemäß Dignitatis Humanae entbehrt der Staat jeglicher Heilskompetenz im religiösen oder nicht-religiösen Bereich.105 Vom Staat fordert Dignitatis Humanae „eine rechtliche Einschränkung der öffentlichen Gewalt, damit die Grenzen einer ehrenhaften Freiheit der Person und auch der Gesellschaftsformen nicht zu eng umschrieben werden“106, bevor das Motiv der wahren Religion eingeführt wird, um zu argumentieren, dass die katholische Kirche als von Jesus Christus gestiftete Kirche die Verwirklichung der wahren Religion darKommentar zur Erklärung über die religiöse Freiheit Dignitatis Humanae, in: Peter Hünermann/Bernd J. Hilberath (Hrsg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Band 4. Apostolicam actuositatem, Gaudium et spes, Presbyterorum ordinis, Ad gentes, Dignitatis humanae, Freiburg i. Br./u. a. 2005, S. 125 – 218, hier S. 165; Bischof, Konzilserklärung (Anm. 101), S. 340. Für die Entstehungsgeschichte der endgültigen Textfassung, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, vgl. bspw.: Pietro Pavan, Declaratio de Libertate Religiosa – Erklärung über die Religionsfreiheit. Einleitung und Kommentar, in: Josef Höfer/Karl Rahner (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil. Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen. Lateinisch und Deutsch. Kommentare, Teil II, Freiburg i. Br./u. a. 2 1967, S. 703 – 748; Otto H. Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – Nachgeschichte (Topos plus-Taschenbücher 393), Würzburg 2001; Siebenrock, Kommentar (Anm. 102); Bischof, Konzilserklärung (Anm. 101). 103 Der Untertitel der Declaratio de libertate religiosa lautet im lateinischen Original „De iure personae et communitatum ad libertatem socialem et civilem in re religiosa“ (Concilium Vaticanum II, Dignitatis humanae [Anm. 97], S. 929). 104 Mit der Akzentsetzung auf den Bereich in re religiosa sieht Siebenrock jeden Zweifel ausgeräumt, „dass die geforderte Freiheit sich nicht allein auf Glaubende bezieht, sondern jegliche Stellungnahme zur Letztorientierung des Menschen in Bezug auf Transzendenz gemeint ist.“ (Siebenrock, Kommentar [Anm. 102], S. 168). Siebenrock sieht hier auch die atheistische, die agnostische oder eine zum gegebenen Zeitpunkt noch unentschlossene Position inkludiert. Vgl. auch Watzka, Toleranz (Anm. 20), S. 200. 105 Vgl. Siebenrock, Kommentar (Anm. 102), S. 169. 106 Concilium Vaticanum II, Erklärung über die Religionsfreiheit. Dignitatis Humanae. Das Recht der Person und der Gemeinschaften auf gesellschaftliche und bürgerliche Freiheit in religiösen Dingen, in: Karl Rahner/Herbert Vorgrimler (Hrsg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils. Allgemeine Einleitung – 16 spezielle Einführungen – ausführliches Sachregister. (Grundlagen Theologie), Freiburg i. Br./u. a. 35 2008, S. 655 – 675, hier Art. 1.

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stellt. Hierdurch wird „zwar ein Anruf an die freie individuelle Gewissensentscheidung aller Menschen gegeben […], keineswegs aber irgendeine Forderung der Rechtseinschränkung oder -bevorzugung im individuellen und öffentlichen Bereich gestellt“107. Dignitatis Humanae Art. 2 entwirft in zwei Abschnitten die Kernaussage des Konzilstextes. Gleich am Beginn erklärt das Konzil, dass „personam humanam ius habere ad libertatem religiosam.“108 Alle Menschen besitzen durch ihre Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie und die den Menschen auszeichnende menschliche Würde das Recht auf Religionsfreiheit. Eine Freiheit, die darin ihren Niederschlag findet, dass alle Menschen „frei sein müssen von jedem Zwang sowohl von Seiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt, so daß in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird […] nach seinem Gewissen zu handeln.“109 Das Recht auf 107

Concilium Vaticanum II, Dignitatis Humanae (Anm. 106), S. 656. Dignitatis Humanae unterscheidet klar zwischen dem bürgerlichen Recht, dem Anspruch der Kirche und der moralischen Pflicht der Menschen zur Wahrheitssuche. „Durch diese Unterscheidung kann der traditionelle Wahrheitsanspruch von Glauben und Kirche aufrecht erhalten werden.“ (Siebenrock, Kommentar [Anm. 102], S. 172). Somit steht die Kirche zu ihrem Anspruch, die Verwirklichung der wahren Kirche Jesu Christi zu sein, bricht damit aber nicht die Grundlinie des Textes, da sich in einer pluralistischen Gesellschaft die je einzelnen religiösen Gruppierungen mit ihren Selbstverständnissen authentisch präsentieren müssen. Religionsfreiheit erfordert keine Uniformierung der religiösen Ansprüche seitens der Traditionen, sondern sie ermöglicht vielmehr das Zusammenleben der verschiedenen Wahrheitsansprüche in ihrer Pluralität. Siebenrock zufolge wäre es daher falsch gewesen, in Dignitatis Humanae „die katholische Ekklesiologie gerade auch in ihren Spitzenaussagen zu verschleiern. Vielmehr kann gesagt werden: ,Wir bekennen uns nicht trotz unserer Ekklesiologie zu der Religionsfreiheit, sondern unmittelbar auf Grund unserer Lehre über die Kirche. […]‘“ (Siebenrock, Kommentar [Anm. 102], S. 172) Lediglich eine „Minderheit der Konzilsväter vertrat beharrlich den Standpunkt, dass sich Rechte nur aus objektiven geistigen Werten, z. B. der Wahrheit, herleiten ließen. Bei der Frage der Religionsfreiheit sei der Gegenstand des Rechts kein anderer als der Inhalt des religiösen Glaubens. Ein objektives Recht auf Religionsfreiheit besitze daher nur die römisch-katholische Kirche, die als wahre Kirche Jesu Christi Trägerin der offenbarten Wahrheit sei. Die Staaten, so die Auffassung der Minderheit, unterstehen nicht weniger dem göttlichen Gebot wie die Kirche. Demnach schulden Regierungen, nicht nur einzelne Bürger, Gott die Erfüllung ihrer religiösen Pflicht, die im Fall der Staaten in nichts anderem bestehen könne als der Anerkennung und dem Schutz des Rechts der Kirche auf die unbehinderte Ausübung ihrer Sendung.“ (Watzka, Toleranz [Anm. 20], S. 200). 108 Concilium Vaticanum II, Dignitatis humanae (Anm. 97), Art. 2. In der hierbei verwendeten lateinischen Verbform declarat nehmen die Konzilsväter die gesamte Lehrautorität des Konzils in Anspruch und setzen ein Zeichen, welches einen derartig einschneidenden kirchlich-lehramtlichen Kurswechsel markiert, dass es in der Tat als Paradigmenwechsel bezeichnet werden kann. Vgl. Siebenrock, Kommentar (Anm. 102), S. 173. 109 Concilium Vaticanum II, Dignitatis Humanae (Anm. 106), Art. 2; Abstand genommen hat „das Konzil von einer bestimmten rechtsphilosophischen Figur, wonach allein der Bezug zu einem transzendenten Wert wie z. B. der Wahrheit ein Recht zu konstituieren vermag. Rechtliche Beziehungen […] sind ,immer und ausschließlich intersubjektive Beziehungen, d. h. Beziehungen zwischen den Trägern des Rechts, von Person zu Person‘. Das Recht der

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Freiheit in re religiosa kommt dem Menschen nicht von einer menschlichen Instanz zu, sondern ist „in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird.“110 Die Formulierung der Überschrift in re religiosa impliziert, dass das Recht auf Religionsfreiheit neben der individuell-personalen ebenso eine soziale Dimension hat, weshalb es in den Verfassungswerken der Staaten zu verorten und als bürgerliches Recht auszugestalten ist.111 Die Überzeugung, dass das Ziel und die Erfüllung des Menschen die objektive und gleichbleibende Wahrheit ist, sodass eine moralische Pflicht existiert, nach dieser Wahrheit zu suchen sowie an der einmal erfassten Wahrheit festzuhalten, wird durch das Zweite Vatikanische Konzil nicht aufgegeben.112 Durch Deduktion aus dem göttlichen Gesetz wird in Dignitatis Humanae Art. 3 festgestellt, ein jeder habe „die Pflicht und also auch das Recht, die Wahrheit im Bereich der Religion zu suchen“113, was sich in der Unterscheidung der irdisch-staatlichen von der religiösen Ordnung manifestiert: „Während sich der Mensch im religiösen Akt auf Gott hinordnet […], hat die staatliche Gewalt als Ziel, die Wahrung des Gemeinwohls. Sie kann und darf daher religiöse Akte weder

religiösen Freiheit ist ein Recht auf Freisein von Zwang, der von anderen Personen, gesellschaftlichen Gruppen oder der Staatsgewalt ausgehen kann, und besteht unabhängig von der Stellungnahme der Person zu einem transzendenten Wert wie der Wahrheit allein aufgrund der Freiheitsnatur menschlicher Personen.“ (Watzka, Toleranz [Anm. 20], S. 202; Mit Zitation von Pietro Pavan, Die wesentlichen Elemente des Rechtes auf Religionsfreiheit, in: Jérôme Hamer/Yves Congar [Hrsg.], Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit. [Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien 20], Paderborn 1967, S. 167 – 225, hier S. 169). 110 Concilium Vaticanum II, Dignitatis Humanae (Anm. 106), Art. 2. 111 Vgl. Siebenrock, Kirche (Anm. 30), S. 22; Bevor diese Ausgestaltung in Dignitatis Humanae Art. 3 – 8 in verschiedene politische und soziale Gesellschaftsrealitäten hineininterpretiert werden wird, „erklärt das Konzil explizit, dass das Recht der freien religiösen Selbstbestimmung allen Menschen ohne Ausnahme und Unterschied – auch Atheisten – zukomme“ (Bischof, Konzilserklärung [Anm. 101], S. 342), wenn es in Dignitatis Humanae Art. 2 formuliert: „So bleibt das Recht auf religiöse Freiheit auch denjenigen erhalten, die ihrer Pflicht, die Wahrheit zu suchen und daran festzuhalten, nicht nachkommen, und ihre Ausübung darf nicht gehemmt werden, wenn nur die gerechte öffentliche Ordnung gewahrt bleibt.“ (Concilium Vaticanum II, Dignitatis Humanae [Anm. 106], Art. 2). Entgegen der Befürchtungen mancher Konzilsväter, „fördert die Religionsfreiheit weder den Subjektivismus noch den religiösen Indifferentismus. Denn sie entlässt den Menschen weder aus der Verpflichtung gegenüber der Wahrheit, noch hebt sie die moralische Pflicht auf, den wahren Glauben zu suchen und anzunehmen.“ (Bischof, Konzilserklärung [Anm. 101], S. 342). 112 Vgl. Kasper, Religionsfreiheit (Anm. 32), S. 827. 113 Concilium Vaticanum II, Dignitatis Humanae [Anm. 106], Art. 3. Aufgrund der Unvertretbarkeit des Individuums in den Gewissensentscheidungen, kann die je spezifische Ausgestaltung dieser Wahrheitssuche und etwaigen Gottesbeziehung durch rein menschliche Gewalt – sei diese kirchlich oder staatlich – niemals befohlen oder verboten werden.

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bestimmen und verhindern. Vielmehr hat der Staat das religiöse Leben seiner Bürger anzuerkennen und zu fördern.“114

Das Konzept des gesellschaftlichen Gemeinwohls wird in Dignitatis Humanae Art. 6 und 7 noch einmal aufgegriffen, und „besteht in der Gesamtheit jener Bedingungen des sozialen Lebens, unter denen die Menschen ihre eigene Vervollkommnung in größerer Fülle und Freiheit erlangen können; es besteht besonders in der Wahrung der Rechte und Pflichten der menschlichen Person.“115

In dieser Bestimmung steht das Individuum in der Mitte, der neuzeitliche Freiheitsgedanke ist hereingenommen und in weiterer Folge werden vom Konzil die diversen sozialen Gruppen, die Staatsgewalten, die Kirche und die anderen religiösen Gemeinschaften angesprochen, jeweils mit der individuellen Aufgabe „je nach ihrer eigenen Weise und je nach der Pflicht, die sie dem Gemeinwohl gegenüber haben“116, Sorge für das Recht auf Religionsfreiheit zu tragen. In Dignitatis Humanae Art. 6 wird der Staat ausdrücklich auf den Schutz und die Förderung der Religionsfreiheit verpflichtet. Die öffentliche Hand muss „durch gerechte Gesetze und durch andere geeignete Mittel den Schutz der religiösen Freiheit aller Bürger wirksam und tatkräftig übernehmen und für die Förderung des religiösen Lebens günstige Bedingungen schaffen“117. In diesem Zusammenhang formuliert Dignitatis Humanae, dass die Wahrung der Menschenrechte, „und innerhalb dieser der Schutz und die Förderung der Religionsfreiheit, […] als primäres Staatsziel herausgehoben“118 ist. So kann die Forderung nach einem katholischen Staat nicht mehr gestellt werden.119

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Siebenrock, Kommentar (Anm. 102), S. 176. [Eigene Hervorhebung] Concilium Vaticanum II, Dignitatis Humanae (Anm. 106), Art. 6. 116 Concilium Vaticanum II, Dignitatis Humanae (Anm. 106), Art. 6. 117 Concilium Vaticanum II, Dignitatis Humanae (Anm. 106), Art. 6. 118 Siebenrock, Kommentar (Anm. 102), S. 179. 119 Vgl. Bischof, Konzilserklärung (Anm. 101), S. 344. Vgl. auch Watzka, Toleranz (Anm. 20), S. 201: „Das Ideal der Minorität auf dem Konzil war bis zuletzt der katholische Konfessionsstaat, in dem die katholische Kirche die Stelle der einzigen Staatsreligion besetzt hielt. Im katholischen Konfessionsstaat des 20. Jahrhunderts – das Modell war Spanien unter der Herrschaft Francos – war Andersgläubigen die Religionsausübung ,privat‘ gestattet, auch war die Ausübung religiösen Zwangs wie zu Zeiten der Reformation keine Option mehr. Die Existenz nicht-katholischer Minderheiten, ihrer Denkweisen und ihrer religiösen Praxis, wurde als ein Übel angesehen, das um der Vermeidung größerer Übel zu tolerieren war. Rechte wurden den Gläubigen der geduldeten Denominationen nicht zuerkannt. Atheistische Propaganda war zu verbieten. Das war die Norm für die katholischen Staaten. Von den nichtkatholischen Staaten, d. h. den Staaten mit großer nichtkatholischer oder nichtchristlicher Bevölkerungsmehrheit, forderte die Kirche für sich und für alle ,Kulte, die der natürlichen Religion nicht widerstreiten‘, das Recht auf freie Religionsausübung. Auf dem Konzil wurde für die hier nur sehr verkürzt dargestellte Position der Minorität wiederholt wie folgt argumentiert: Doctrina traditionalis haec est: Ius pro veritate; pro errore tolerantia, si quando exigat bonum commune.“ 115

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Mit diesem doktrinellen Umbruch haben die Konzilsväter in Dignitatis Humanae „das Prinzip der rechtlichen Unverfügbarkeit der personalen Freiheit in Bezug auf die Religion – und damit einen unverzichtbaren Teil des modernen Freiheitsgedankens – anerkannt.“120 Dignitatis Humanae hat diese Anerkennung insofern noch vertieft, als diese aus der Freiheit des Glaubensaktes, welcher um seiner selbst willen die Freiheit nicht zu glauben voraussetzt, auch theologisch begründet wurde.121 Das Grund- und Menschenrecht auf Religionsfreiheit stellt mit der Souveränität der Kirche122 gleichsam die Grundpfeiler der Lehre der Kirche über ihr Verhältnis zum Staat und seiner säkularen Rechtsordnung dar.123 Die Anerkennung der Religionsfreiheit durch das kirchliche Lehramt kann seit der Promulgation der Konzilserklärung Dignitatis Humanae als gefestigt bezeichnet werden. In Folge bezeichnete etwa Papst Johannes Paul II. die Religionsfreiheit „als Recht, in der Wahrheit des eigenen Glaubens und in Übereinstimmung mit der transzendenten Würde der eigenen Person zu leben“124, im Sinne einer „Quelle und Synthese“125 des gesamten Katalogs der Allgemeinen Menschenrechte.126 120 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Religionsfreiheit. Die Kirche in der modernen Welt (Schriften zu Staat – Gesellschaft – Kirche 3), Freiburg i. Br./u. a. 1990, S. 63; Möglich geworden war dieser Paradigmenwechsel durch „die der Konzilserklärung zugrundeliegende Unterscheidung von der rechtlichen und der moralischen Ordnung. Die moralische Pflicht, die religiöse Wahrheit zu suchen, anzunehmen und zu bewahren, bleibt bestehen, gleichzeitig aber wird für den rechtlichen Bereich die volle Religionsfreiheit gefordert und mit der Würde des Menschen begründet.“ (Bischof, Konzilserklärung [Anm. 101], S. 348). Neben der Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat, die in Dignitatis Humanae geleistet wird, und der prinzipiellen Anerkennung des Verfassungsstaatswesens der Neuzeit, kann auch die ökumenische Dimension von Dignitatis Humanae „nicht hoch genug eingeschätzt werden“ (Siebenrock, Kommentar [Anm. 102], S. 198). Die röm.-kath. Kirche reklamiert darin nicht mehr weiter nur ihr eigenes Recht auf Religionsfreiheit, „sondern – und das ist das eigentlich Neue – sie steht auch für das Recht aller anderen Religionsgemeinschaften ein, innerhalb der gebührenden Grenzen nach ihrer religiösen und weltanschaulichen Überzeugung leben zu können.“ (Bischof, Konzilserklärung [Anm. 101], S. 350). 121 Vgl. Böckenförde, Religionsfreiheit (Anm. 120), S. 64. 122 Verstanden als Unabhängigkeit vom Staat in der Regelung der inneren Angelegenheiten. 123 Die partnerschaftliche Kooperation des Staates mit den Kirchen beruht u. a. darauf, dass der Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern Religionsfreiheit in seinen verschiedenen Dimensionen gewährt und gleichzeitig den Kirchen Autonomie zugesteht. Diese wiederum erkennen sowohl als einzelne Gläubige als auch als strukturell verfasste Gemeinschaft Kirche die souveräne Staatsmacht in ihren Angelegenheiten an. Vgl. Kurt Beck, Kirchensteuer und mehr. Was dem Staat die Kirchen bedeuten, in: Wolfgang Thierse (Hrsg.), Religion ist keine Privatsache, Düsseldorf 2000, S. 228 – 239, hier S. 228. Eine Übersicht über die Grundpositionen der katholischen Soziallehre bis zum Pontifikat von Papst Benedikt XVI. findet sich bei: Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg i. Br./u. a. 2006. 124 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Enzyklika Centesimus annus Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II. an die verehrten Mitbrüder im Bischofsamt, den Klerus, die Ordensleute, die Gläubigen der katholischen Kirche und alle Menschen guten Willens zum

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Die Lehre der Kirche über ihre Autonomie und Souveränität vom Staat fordert als Prämisse die Existenz des religiös neutralen Staates, mit welchem die Kirche kooperieren kann, ohne auf Privilegien zu beharren, welche von der staatlichen Autorität zugestanden werden.127 Abgelehnt wird von der Kirche eine Trennung von Staat und Kirche in dem Sinn, dass eine Kooperation der beiden Sphären ausgeschlossen ist.128 Vielmehr präferiert die Kirche das Koordinationssystem129 und begründet diese Haltung damit, dass „in kirchlicher Sicht Staat und Kirche im Dienste des Menschen stehen und diese Aufgabe in der Zusammenarbeit besser erfüllt werden kann als in strikter Trennung oder gar Konfrontation.“130 Die Kirche trifft sich so auch im theoretischen Grundansatz mit den Aufgabengebieten und Kompetenzzuschreibungen des demokratischen Verfassungsstaates, welcher im Rahmen seiner religiös neutralen Grundausrichtung mit den Religionsgemeinschaften zusammenarbeitet.131 hundertsten Jahrestag von Rerum Novarum. 1. Mai 1991 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 101), Bonn 1991, 47. 125 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Centesimus annus (dt.) (Anm. 124), 47. 126 Vgl. Muckel, Lehre (Anm. 3), S. 1784. Unter Religionsfreiheit versteht die Kirche allerdings weder einen moralischen Freibrief Irrtümern anzuhängen, noch ein implizites Recht auf Irrtum (vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre [Anm. 123], S. 421). Durch die Anerkennung der Religionsfreiheit in ihren grund- und menschenrechtlichen Dimensionen, „gibt [die Kirche] den Wahrheitsanspruch des katholischen Glaubens nicht auf. Religiöser Pluralismus ist für die katholische Kirche nach wie vor nicht erstrebenswert. Religionsfreiheit ist für sie vielmehr eine Forderung an Staat und Gesellschaft, in puncto Religion keinen äußeren Zwang anzuwenden.“ (Muckel, Lehre [Anm. 3], S. 1785). 127 Vgl. Concilium Vaticanum II, Gaudium et spes (Anm. 5), Art. 76. 128 Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre (Anm. 123), S. 425: „Die beiderseitige Autonomie der Kirche und der politischen Gemeinschaft führt nicht zu einer Trennung, die ihre Zusammenarbeit ausschließen würde: Beide dienen, wenn auch unter anderen Vorzeichen, der personalen und sozialen Berufung derselben Menschen. Die Kirche und die politische Gemeinschaft drücken sich in Organisationsformen aus, die kein Selbstzweck sind, sondern im Dienst des Menschen stehen, um ihm die uneingeschränkte Wahrnehmung der mit seiner Identität als Christ und als Bürger verbundenen Rechte und eine korrekte Erfüllung der entsprechenden Pflichten zu ermöglichen. Die Kirche und die politische Gemeinschaft können ihren Dienst ,zum Wohl aller umso wirksamer leisten, je mehr und besser sie rechtes Zusammenwirken miteinander pflegen; dabei sind jeweils die Umstände von Ort und Zeit zu berücksichtigen‘.“ (Mit Zitation von Gaudium et spes [dt.] [Anm. 18], Art. 76). 129 Im Anschluss an Campenhausen lassen sich drei Grundformen der Beziehung von Kirche und Staat unterscheiden: 1. die historisch frühere Verbindung von Kirche und Staat; 2. die neuzeitliche Maxime der Trennung von Kirche und Staat; 3. die Trennung der kirchlichen und staatlichen Bereiche unter Aufrechterhaltung des öffentlich-rechtlichen Status der Kirchen und des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, das sog. Koordinationsystem. Vgl. Axel v. Campenhausen/Heinrich d. Wall, Staatskirchenrecht. Eine systematische Darstellung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und Europa. Ein Studienbuch (Kurzlehrbücher für das juristische Studium), München 42006, S. 2. 130 Muckel, Lehre (Anm. 3), S. 1787. Vgl. auch Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre (Anm. 123), S. 425. 131 Vgl. Muckel, Lehre (Anm. 3), S. 1787; Campenhausen/Wall, Staatskirchenrecht (Anm. 129), S. 356. Dabei verlangt die Kirche rechtliche Anerkennung ihres religiösen Cha-

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III. Prämissen des Dialogs mit andersreligiösen Rechtsordnungen im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil Für die Frage nach den Möglichkeiten eines Dialogs des Kanonischen Rechts mit säkularen und andersreligiösen Rechtsordnungen ist als Prämisse auf die freie Erfüllung des göttlichen Sendungs- und Verkündigungsauftrags in der menschlichen Gesellschaft132 als zentrale Aufgabe der kirchlichen Sendung aufgrund ihres Selbstverständnisses sowie des Auftrags durch ihren Stifter Jesus Christus133 zu verweisen. Diese kirchliche Sendung in der Welt, welche wesentlicher Bestandteil des communio-Charakters der Kirche ist, stellt den Anknüpfungspunkt für den Dialog mit der Welt i. S. d. Staaten und anderer religiöser Gemeinschaften auch in rechtlicher Perspektive dar.134 Es besteht eine Verbindung zwischen der innerkirchlichen communio und dem Konzept des Dialogs, mit dem das Zweite Vatikanische Konzil die Außenbeziehungen der Kirche beschreibt.135 Dieser konziliare Leitbegriff manifestiert sich – wie bereits oben gezeigt wurde136 – u. a. in den Perspektiven des innerkirch-

rakters durch die staatliche Autorität und „nimmt die Freiheit für sich in Anspruch, über alle menschlichen Bereiche ihr Urteil abzugeben“ (Muckel, Lehre [Anm. 3], S. 1787; vgl. auch c. 747 § 2 CIC/83), zugleich strebt sie zur Vermeidung von Konflikten nach Möglichkeit stabile Formen des Miteinanders an. Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre (Anm. 123), S. 427: „Um möglichen Konflikten zwischen der Kirche und der politischen Gemeinschaft vorzubeugen oder ihnen die Schärfe zu nehmen, hat die juristische Erfahrung der Kirche und des Staates verschiedentlich stabile Formen des Miteinanders sowie Mittel aufgezeigt, die geeignet sind, harmonische Beziehungen zu gewährleisten. Diese Erfahrung ist ein wesentlicher Bezugspunkt für all die Fälle, in denen der Staat den Anspruch erhebt, in das Aktionsfeld der Kirche einzudringen, ihr freies Wirken zu behindern oder sie sogar offen zu verfolgen, und ebenso für die Fälle, in denen sich die kirchlichen Organisationen dem Staat gegenüber nicht korrekt verhalten.“ 132 Die Congregatio pro doctrina fidei hat diesbezüglich klargestellt, dass die Kirche in die Welt gesandt wurde, um das Geheimnis der Gemeinschaft, welches sie konstituiert, zu verkünden, es gleichsam zu bezeugen, zu vergegenwärtigen und zu verbreiten. Vgl. Congregatio pro doctrina fidei, Litterae Communionis notio. De aliquibus aspectibus Ecclesiae prout est communio. 28 maii 1992, in: AAS 85 (1993) S. 838 – 850, Nr. 4. 133 Vgl. Mt 28, 19; Mk 16, 15. Direkte Aussagen zum Verhältnis von Kirche und Staat lassen sich für die neuzeitlich-säkulare Situation aus dem ius divinum positivum nicht ableiten. Die Logien Jesu zur staatlich-politischen Autorität beschränken sich auf einige wenige situationsbedingte Aussagen. Grundsätzlich ist das weltliche Staatswesen als eigenständig anzuerkennen und die christliche Gemeinde schuldet dem Staat Loyalität, Gott gebührt jedoch stets der Vorrang vor dem Staatswesen. Vgl. Mikat, Verhältnis (Anm. 6), S. 121 – 126. 134 Dieser Dialog ist nicht automatisch eine rechtliche Größe, impliziert jedoch Fragen von rechtlichem Gehalt. Vgl. Helmuth Pree, Par cum pari. Rechtliche Implikationen des ökumenischen Dialogs, in: AfkKr 174 (2005) S. 353 – 379, hier S. 361. 135 Vgl. Burkhard J. Berkmann, Nichtchristen im Recht der katholischen Kirche (ReligionsRecht im Dialog 23), Wien 2017, S. 825. Wie Berkmann an dieser Stelle nachweist, findet sich der Leitbegriff des Dialog an 28 Stellen der Konzilstexte, der bedeutungsähnliche Terminus colloquium (Gespräch) findet sich an 32 weiteren Stellen. 136 Vgl. oben Punkt II.2.a) und II.2.b).

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lichen,137 des ökumenischen138 und des interreligiösen Dialogs139 sowie schließlich auch im Dialog mit der Welt.140 Berkmann zufolge ist insbesondere der Dialog mit den Nichtchristen „nicht einfach als sprachliche Handlung zu sehen, sondern als Grundhaltung, die das gesamte Verhältnis zu den Nichtchristen durchdringt.“141 Die spezifische Verbindung zwischen der kanonischen Rechtsordnung und dem Konzept des Dialogs mit den Nichtchristen stellt Berlingò her, demzufolge einer der charakteristischen Züge der kirchlichen Rechtsordnung in ihrem dialogischen Wesen zu finden ist. Durch Letzteres übersteigt sich das Kirchenrecht selbst in der Ausrichtung auf die Zusammenführung aller Menschen, welche alle Individuen als mögliche Dialogpartner einbezieht.142 Der Dialog des Kirchenrechts mit Ungetauften findet im Spannungsfeld zwischen den Prinzipien der Gleichheit und der Verschiedenheit statt, da einerseits für einen Dialog auf gleicher Ebene die Gleichheit der Dialogpartner unerlässliches Fundament ist,143 andererseits setzt das Konzept des Dialogs ebenso ein notwendiges Maß an Verschiedenheit voraus. Im spezifischen Dialog mit den Nichtchristen liegt das Element der Gleichheit in der personalen Würde, mit der alle Menschen auf gleiche Weise ausgestattet sind, insofern sie von Gott nach seinem Ebenbild geschaffen und zum ewigen Heil berufen sind.144 Die Verschiedenheit liegt in der Tat137

Vgl. Concilium Vaticanum II, Apostolicam actuositatem (Anm. 60), Art. 25 Abs. 3. Vgl. v. a. Concilium Vaticanum II, Unitatis redintegratio (Anm. 60). 139 Vgl. v. a. Concilium Vaticanum II, Gaudium et spes (Anm. 5); Concilium Vaticanum II, Decretum de activitate missionali Ecclesiae Ad gentes. 7 dec. 1965, in: AAS 58 (1966) S. 947 – 990. 140 Vgl. v. a. Concilium Vaticanum II, Gaudium et spes (Anm. 5). 141 Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 827. Mit Verweis auf: Roman A. Siebenrock, Pacem in terris – Der Urimpuls Johannes XXIII. Die theologische Grundlegung der dialogischen Haltung der Kirche gegenüber allen Menschen guten Willens und ihre Vertiefung durch Paul VI., in: Roman A. Siebenrock/Jan-Heiner Tück (Hrsg.), Selig, die Frieden stiften. Assisi – Zeichen gegen Gewalt, Freiburg i. Br. 2012, S. 53 – 69, hier S. 63. 142 Vgl. Salvatore Berlingò, La tipicità dell’ordinamento canonico nel raffronto con gli altri ordinamenti e nell’„economia“ dell „diritto divino rivelato“, in: IusEccl 1 (1989) S. 95 – 155, hier S. 154. Vgl. auch Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 827, der anmerkt, dass „[d]er Begriff ,dialogus‘ […] in den geltenden kirchlichen Gesetzbüchern […] nicht häufig vor[kommt], aber er kommt insbesondere dann vor, wenn es darum geht, das Verhältnis zu den Nichtchristen zu beschreiben.“ 143 Vgl. Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 141 – 143. Die Partner im Dialog „müssen einerseits gleich sein, damit sie sich überhaupt begegnen können; andererseits müssen sie verschieden sein, weil der Dialog sonst zu einem Monolog würde.“ (Berkmann, Nichtchristen [Anm. 135], S. 827). 144 Vgl. zum Konzept der Gottesebenbildlichkeit im Dialog von Kirche und säkularem Rechtsstaat: Andreas E. Graßmann, Religion, Staat und Menschenwürde – sind drei einer zu viel? Überlegungen zum Verhältnis von Religion und postsäkularem Staat auf Basis der Menschenwürde, in: Franz Gmainer-Pranzl/Sigrid Rettenbacher (Hrsg.), Religion in postsäkularer Gesellschaft. Interdisziplinäre Perspektiven. (Salzburger interdisziplinäre Diskurse 3), Frankfurt a. M. 2013, S. 303 – 324; Karl Korinek, Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Grundlage moderner Grundrechtskataloge, in: Egon Kapellari/Herbert Schambeck (Hrsg.), 138

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sache, dass die Nichtchristen nicht im sakramentalen Akt der Taufe in die Kirche inkorporiert worden sind und daher nicht Glieder am Leib Christi sind.145 Durch die theologischen Weichenstellungen in Nostra Aetate ist es der nachkonziliaren Kirche jedoch möglich, die Gläubigen nichtchristlicher Bekenntnisse als mögliche Subjekte einer Beziehung und nicht mehr lediglich als Objekte zu sehen.146 Wird die Beziehung zu den Nichtchristen als Dialog aufgefasst, sind die nichtchristlichen Dialogpartner als Rechtssubjekte anzusehen, da ein Dialog nicht mit jemanden geführt werden kann, den man nicht als Person anerkennt. Eine Rechtsbeziehung ist lediglich in der Anerkennung des Partners als gleichwertiges Rechtssubjekt möglich.147 Auf der Ebene des Rechts ist eine analoge Beziehung mit Nichtchristen und deren Rechtsordnungen ebenso möglich. Wie einerseits der Dialog zwischen verschiedenen Subjekten stattfinden kann, vernetzt andererseits „das Recht als formale Größe verschiedene Subjekte ungeachtet ihrer Unterschiedlichkeit. Die Rechtsbeziehung setzt eine formale Gleichheit, aber keine inhaltliche Übereinstimmung voraus. Soweit sie miteinander einen Dialog führen, begegnen sich die Partner auf der gleichen Ebene, so verschieden sie auch sonst sein mögen.“148

Gerade das Recht hat „die Kapazität, unterschiedliche Subjekte miteinander in Beziehung zu setzen, ohne dass diese dabei ihre Identität aufgeben müssten.“149 Die kirchliche Rechtsordnung anerkennt i. S. d. Gleichheitsgedankens Nichtchristen als Personen im rechtlichen Sinn als Grundvoraussetzung weitergehender Rechtsbeziehungen, in manchen Bereichen des Kanonischen Rechts – v. a. im Vermögens- und Prozessrecht150 – kommt Ungetauften sogar weitgehend dieselbe Rechtsstellung zu, wie Katholiken.151 Da nur ein in Freiheit geführter Dialog fruchtbar sein kann, stellt Berkmann das Prinzip der Freiheit als relevante Voraussetzung für den Dialog zwischen der kirchlichen und andersreligiösen sowie säkularen Rechtsordnungen dar.152 Im Wesen des Dialogs gründet die Notwendigkeit der Respektierung der Gewissensfreiheit der Dialogpartner, was in Konsequenz das gegenseitige Zuerkennen eines gewissen Ausmaßes an Autonomie erfordert.153 Freiheit im Dialog impliziert jedoch „keine Beliebigkeit. Die Dialogpartner bleiben verpflichtet, die Wahrheit zu suchen. Der Dialog bedeutet keinen Verzicht auf Wahrheit und keine Relativierung der Wahrheit. Die Diplomatie im Dienst der Seelsorge. Festschrift zum 75. Geburtstag von Nuntius Erzbischof Donato Squicciarini, Graz/u. a. 2002, S. 76 – 85. 145 Vgl. Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 827. 146 Vgl. Siebenrock, Kommentar Nostra Aetate (Anm. 95), S. 646. 147 Vgl. Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 828. 148 Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 828. 149 Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 828. 150 Vgl. Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 478 – 501 u. 518 – 551. 151 Vgl. Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 828. 152 Vgl. Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), 138 – 140, 829. 153 Vgl. Pree, Implikationen (Anm. 134), S. 364 – 366.

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Freiheit der Dialogpartner ermöglicht gerade die Wahrheitssuche.“154 Die Prinzipien der Freiheit und der Wahrheit sind auch im rechtlichen Dialog von Relevanz, da das Recht die Aufgabe hat, beide Werte zu schützen. Wird die Beziehung der kirchlichen Rechtsordnung zu den Ungetauften als Dialog qualifiziert, sind diese beiden Werte von den im Dialog stehenden Rechtsordnungen durch Normen zu schützen.155 Zwei weitere von Berkmann identifizierte Werte für den Dialog des Kirchenrechts mit Ungetauften sind Frieden und Solidarität. Der Frieden, v. a. der Religionsfrieden, stellt eines der Ziele des Dialogs mit Nichtchristen dar,156 die Solidarität ist gleichsam Grundlage und Ergebnis dieses Dialogs.157 Rechtlich relevant sind beide Güter, da das Recht einerseits die Aufgabe hat, gerechte Verhältnisse zu schaffen und somit ein Mittel zur Friedenssicherung darstellt. Andererseits ist Solidarität ein Ausdruck von Gerechtigkeit, zu dessen konkreter Umsetzung auch das Kirchenrecht rechtliche Instrumente bietet.158 Über die in den Blick genommenen Werte, Güter und Prinzipien hinaus besitzt der Dialog des Kirchenrechts mit den Nichtchristen auch eine theologische Grundlage, welche ihr Fundament in der konziliaren Rede von der universalen Heilssakramentalität der Kirche für die Einheit der Menschheit hat.159 Die kirchliche Rechtsordnung hat „keine andere Aufgabe als die äußeren Minimalvoraussetzungen zu gewährleisten, damit die Kirche in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit sei und werde“160. Berkmann weitet diese Aufgabe der Kirche und des Kirchenrechts auf die interreligiöse und interkulturelle Ebene aus, insofern „sich der Heilsdialog Gottes mit den Menschen im Dialog der Kirche mit den Menschen einschließlich der Nichtchristen wider[spiegelt]. Somit ist niemand ein Fremder für die Kirche.“161 Als die Güter, welche mit diesem Dialog verknüpft sind, identifiziert Berkmann die spezifisch kirchlichen Güter des Wortes Gottes sowie der Sa154

Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 829. Vgl. Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 829. Für den Bereich des Kanonischen Rechts weist Berkmann nach, inwiefern der Schutz der Werte von Freiheit und Wahrheit durch den kirchlichen Legislator insbesondere im Recht des kirchlichen Verkündigungsdiensts einer Normierung zugeführt wird. Vgl. dazu Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 224 – 248, v. a. 227 – 230 u. 246 – 248. 156 Vgl. dazu Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 144 – 146. 157 Vgl. Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 147 – 149. Insofern Solidarität vom Wort zur Tat schreitet, schließt sie Kooperation ein und übersteigt somit das Konzept des Dialogs. Vgl. Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 830. 158 Hier nennt Berkmann exemplarisch die Aufnahme von Ungetauften in kanonische Vereine oder kirchliche Einrichtungen im Bildungsbereich sowie den Abschluss über kirchliches Vermögen mit Nichtchristen. Vgl. Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 830 mit Verweis auf Pree, Implikationen (Anm. 134), S. 371 – 375. 159 Vgl. Concilium Vaticanum II, Lumen gentium (Anm. 57), Art. 1. 160 Helmuth Pree, Die evolutive Interpretation der Rechtsnorm im Kanonischen Recht (Linzer Universitätsschriften. Monographien 6), Wien 1980, S. 239. 161 Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 831. 155

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kramente und Sakramentalien, welche jeweils auch eine rechtliche Gestalt besitzen und die in entsprechenden Normen des kirchlichen Verkündigungs- und Heiligungsdienstes auch hinsichtlich der Rechtsbeziehung zu den Nichtchristen entfaltet werden. Berkmann zufolge zeigt sich dadurch, „dass der Dialog als theologischer Leitbegriff, der das Verhältnis der Kirche zu den Nichtchristen bestimmt, zwar nicht dem Sprachgebrauch nach, sehr wohl aber in der Sache auch die Rechtsstellung der Nichtchristen im katholischen Kirchenrecht prägt. Das Kirchenrecht, das rechtliche Beziehungen der Nichtchristen mit der Kirche ermöglicht, berücksichtigt in dieser Hinsicht das Kirchenbild des Zweiten Vatikanischen Konzils, das die Kirche als Sakrament für die innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit des ganzen Menschengeschlechts präsentiert.“162

Wie bereits festgestellt wurde, ist die Kirche gemäß der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils in Christus, dem Licht der Völker, „gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.“163 Die Kirche hat den Auftrag sowie die göttliche Sendung, das Evangelium zu verkünden und dadurch einerseits eine heilvolle Begegnung zwischen Gott und den Menschen, andererseits zwischen allen Menschen untereinander zu ermöglichen. In der konziliaren Ekklesiologie ist somit der Auftrag zum Dialog mit der gesamten Menschheit – auch in rechtlicher Perspektive – grundgelegt. Zentraler Kontaktpunkt in diesem Dialog der Rechtsordnung der katholischen Kirche mit säkularen Rechtsordnungen sowie Rechtsordnungen anderer religiöser Gemeinschaften ist u. a. das Feld der Menschenrechte. IV. Menschenrechte als Anschlusspunkt Menschenrechte bilden gegenwärtig einen normativen Grundbestand mit universalem Geltungsanspruch, der sich durch Offenheit für unterschiedliche philosophische, säkulare aber auch religiöse Begründungen auszeichnet.164 So ist es möglich, dass im Ergebnis ein Konsens entsteht, „obwohl die Begründungsweisen jeweils unterschiedlich sind (,overlapping consensus‘).“165 Vornehmlich aus den Religionsge-

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Berkmann, Nichtchristen (Anm. 135), S. 831. Concilium Vaticanum II, Lumen Gentium (Anm. 63), Art. 1. 164 Vgl. bspw.: Heiner Bielefeldt, Ein „Von allen Völkern und Nationen zu erreichendes gemeinsames Ideal“. Der Streit um die Universalität der Menschenrechte, in: Amnesty International (Hrsg.), Menschenrechte im Umbruch. 50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Neuwied/u. a. 1998, S. 31 – 46; Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos, Darmstadt 1998S. 145; Eva M. Synek, Menschenrechte/Religionsfreiheit, in: Johann Figl (Hrsg.), Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen, Innsbruck/u. a. 2003, S. 786 – 803, hier S. 786 – 789 u. 796 – 798. 165 Berkmann, Recht (Anm. 9), S. 159. 163

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meinschaften wird betont, dass viele der in den Menschenrechten ausgedrückten Werte „in ihrer jeweiligen Tradition ,schon längst‘ berücksichtigt sind.“166 1. Menschenrechte und religiöse Rechtsordnungen im Allgemeinen Die Frage, inwiefern Menschenrechte in den religiösen Traditionen einen Platz haben, ist bis zum heutigen Tag noch nicht beantwortet.167 Von verschiedener Seite wird immer wieder die Frage gestellt, inwiefern die Menschenrechte eine Art Klammer bilden könnten, um die verschiedenen staatlichen und religiösen Rechte miteinander zu verbinden. Lange Zeit stieß das Konzept der Menschenrechte seitens der Bekenntnisgemeinschaften auf Widerstand, erst in der jüngeren Vergangenheit gingen die Religionen dazu über, sich die Menschenrechtsidee anzueignen. Heiner Bielefeldt zufolge bietet das Konzept der unantastbaren Menschenwürde, welches der Menschenrechtsidee normativ zugrunde liegt, für unterschiedliche religiös-weltanschauliche und kulturelle Traditionen jeweils Anknüpfungsmöglichkeiten, um so die Menschenrechte in der je eigenen Tradition beheimaten zu können.168 In der Frage nach dem inhaltlichen Gehalt des Menschenrechtskonzepts ist festzuhalten, dass dieser in manchem Bereich mitunter strittig sein kann. Berkmann zufolge sind „[i]m Sinne des overlapping consensus […] alle wertorientierten Kräfte in der Gesellschaft einschließlich der Religionsgemeinschaften aufgerufen, sich einzubringen. Es gibt kein Deutungsmonopol für säkulare Kräfte.“169 An diesem Punkt begegnet man der rechtlich mitunter problematischen Abgrenzung zwischen religiösem und säkularem Bereich, welche durch die unterschiedlichen religiösen Traditionen je anders vorgenommen wird.170 Je nach Konzeption wird in Folge auch das Verhältnis zu den Grundrechten unterschiedlich ausfallen. Nach der einen Auffassung ist religiöses Recht dasjenige Recht, mit welchem eine Religionsgemeinschaft ihre internen Angelegenheiten ordnet. In diesem Verständnis steht das religiöse Recht selbst unter grundrechtlichem Schutz, welcher selbst dann gilt, wenn die religiöse Rechtsordnung Vorschriften enthält, die an den Grundrechtskatalog angepasst werden müssten, wenn es staatliche Bestimmungen wären.171 Gemäß der anderen Kon166

Synek, Menschenrechte (Anm. 164), S. 797. Vgl. Adrian Loretan, Religionen im Kontext der Menschenrechte (Religionsrechtliche Studien 1), Zürich 2010, S. 15. Mit Verweis auf: Norbert Brieskorn, Menschenrechte und Kirche, in: StdZ 217 (1999) S. 3 – 14, hier S. 12. 168 Vgl. Bielefeldt, Philosophie (Anm. 164), S. 148. Vgl. auch: Franz Wolfinger, Die Religionen und die Menschenrechte. Eine noch unentdeckte Allianz (Missio pockets 2), München 2000, S. 71. 169 Berkmann, Recht (Anm. 9), S. 161. 170 Vgl. Berkmann, Recht (Anm. 9), 113 f. 171 Vgl. die Erläuterung anhand des Grundrechts auf Religionsfreiheit bei Synek, Menschenrechte (Anm. 164), S. 799: „Die Religionsgemeinschaften, die nicht wie der Staat unmittelbar an Grundrechte gebunden sind, können von diesem auch nicht verpflichtet werden, 167

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zeption handelt es sich um ein religiös inspiriertes Recht, welches auch Materien betreffen kann, die in die Sphäre des Staates fallen. In diesem Fall ist eine Grundrechtsbindung der religiösen Rechtsordnung eher zu bejahen.172 2. Menschenrechte und katholische Kirche Hinsichtlich der Position der katholischen Kirche war es Papst Johannes XXIII., welcher im Laufe seines kurzen Pontifikates die Wende von einer Ablehnung des Menschenrechtsgedankens zu einer Akzeptanz einläutete. In Pacem in terris formuliert er zum ersten Mal in einem lehramtlichen Dokument173 ein Konzept von – aus dem christlichen Menschenbild abgeleiteten – Menschenrechten als Selbstverständlichkeit.174 Wie Matthias Pulte formuliert, wurde durch das päpstliche Schreiben der kirchlichen Sozialverkündigung der „Graben zwischen der neuzeitlichen Menschenrechtsdiskussion und der Kirche überwunden.“175 Durch die etwas verzögerte Anerkenntnis der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948176 und deren Umwandlung in die Kataloge der Pflichten und Rechte aller Gläubigen in den Codices des kanonischen Rechts kann eine weitgehende Übernahme der Menschenrechte in das Rechtssystem der katholischen Kirche bejaht werden.177 Mit der Billigung und Unterstützung der AEMR durch Johannes XXIII. integriert dieser „in die katholische Soziallehre das Konzept unveräußerlicher Menschenrechte und Grundfreiheiten. Diese Position rezipiert das Zweite Vatikanische Konzil in seinem Abschlussdokument, der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute.“178 In Gaudium et spes bekräftigen die Konzilsväter die unveräußerliche Würde des Menschen, aus welcher sich die auf gleiche Weise unveräußerlichen Menschenrechte deduzieren lassen.179 ihrerseits ihren Angehörigen im Innenbereich Religionsfreiheit zu gewähren. Denn die Anerkennung des Rechts auf Religionsfreiheit für Religionsgemeinschaften impliziert auch den Schutz eines Selbstbestimmungsrechtes.“ 172 Vgl. Berkmann, Recht (Anm. 9), S. 163. 173 Vgl. Kasper, Religionsfreiheit (Anm. 32), S. 826. 174 Vgl. dazu bereits oben Punkt II.1.b). 175 Matthias Pulte, Das Kirchenrecht im Spannungsfeld von ius divinum, Naturrecht und Autonomie, in: Nora Kalbarczyk/Timo Güzelmansur/Tobias Specker (Hrsg.), Gibt Gott Gesetze? Ius divinum aus christlicher und muslimischer Perspektive. (CIBEDO-Schriftenreihe 5), Regensburg 2018, S. 135 – 178, hier S. 166. In Pacem in terris geht Papst Johannes XXIII. „die einzelnen Artikel der Menschenrechtserklärung durch, um auf Texte der kirchlichen Tradition zu verweisen, in denen diese Menschenrechte bereits sinngemäß gefordert worden waren.“ (Pulte, Kirchenrecht [Anm. 175], S. 166). 176 Vgl. Generalversammlung der Vereinten Nationen, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte [= AEMR]. 10. Dezember 1948. Verfügbar unter: http://www.un.org/depts/ger man/menschenrechte/aemr.pdf. [Zugriff: 19. August 2022]. 177 Vgl. Pulte, Kirchenrecht (Anm. 175), S. 166. 178 Pulte, Kirchenrecht (Anm. 175), S. 166 f. 179 Vgl. Concilium Vaticanum II, Gaudium et spes (Anm. 5), Art. 12 – 22.

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Nach Dafürhalten des katholischen Magisteriums haben die Menschenrechte ihren Grund in der Ordnung des Naturrechts, da sie der Mensch mittels der biblischen Schöpfungsordnung im göttlichen Recht erkennen kann und anzuerkennen hat.180 Die Menschenrechte bedürfen demzufolge der Formalisierung in konkreten Rechtsnormen durch den universalkirchlichen Gesetzgeber. Dies ist in den Codices des lateinischen sowie des katholisch-orientalischen Kirchenrechts jeweils in eigenen Katalogen von Pflichten und Rechten aller Christgläubigen geschehen.181 Im CIC/83 umfasst dieser Katalog der Pflichten und Rechte aller Gläubigen182 die cc. 208 – 223 CIC/83. Durch die Aufnahme in den Corpus des CIC/83 kommt diesen Bestimmungen formalrechtlich kein Vorrang vor anderen Normen des CIC/83 zu. Dies wäre anders gewesen, wenn die geplante Promulgation der sog. Lex Ecclesiae fundamentalis zu einem Ende gebracht worden wäre. Die cc. 208 – 223 CIC/83 waren allesamt für die Aufnahme in dieses geplante ,Grundgesetz‘ der gesamten katholischen Kirche vorgesehen. Zu dieser Promulgation kam es letztlich nie, wobei Gründe hierfür nicht angegeben wurden.183 Materiell-rechtlich kommt dem Katalog der Grund-

180 Vgl. Pulte, Kirchenrecht (Anm. 175), S. 165. Das Konzil referiert zur theologisch-biblischen Begründung der Menschenrechtsidee auf das Motiv der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Vgl. Concilium Vaticanum II, Gaudium et spes (Anm. 5), Art. 12. Wie Pulte kommentiert, wendet sich diese Begründung „nicht gegen andere Begründungen, schon gar nicht gegen jene, die positivrechtlich argumentieren, denen eine Normenbegründung ausreicht, die Recht dann anerkennt, wenn es aus sich heraus von der Rechtsgemeinschaft als gerechtes Recht anerkannt werden kann, weil es universal gilt, die gleichen Rechte für alle statuiert und von einer Grundnorm ausgeht, die für die weitere Rechtsordnung maßgeblich ist.“ (Pulte, Kirchenrecht [Anm. 175], S. 167). 181 Vgl. Heribert Hallermann, Art. Grundrechte und Grundpflichten der Christen – Katholisch, in: Heribert Hallermann/u. a. (Hrsg.), Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht. Band 2. F–K, Paderborn 2019, S. 455f. 182 Zur Frage, ob der Terminus christifideles in Bezug auf die cc. 208 – 223 CIC/83 lediglich auf Katholiken oder auch auf nichtkatholische Christen zu beziehen ist, herrschen unterschiedliche Auffassungen. Vgl. für die Diskussion: Heribert Hallermann, Die Vereinigungen im Verfassungsgefüge der lateinischen Kirche, Paderborn 1999, S. 323 – 332. Vgl. u. a. für die Position, dass auch nichtkatholische Christen umfasst sind: Heinrich J. F. Reinhardt, Einführung vor c. 208, in: Klaus Lüdicke/u. a. (Hrsg.), Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici. Unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Deutschland, Österreich und der Schweiz. (Loseblattwerk, Stand: 60. Erg.-Lfg. April 2021), Essen seit 1984, Rn. 5. Vgl. für die Gegenposition, dass lediglich Katholikinnen und Katholiken umfasst seien, bspw.: Norbert Lüdecke, § 68 Das Bildungswesen, in: Stephan Haering/Wilhelm Rees/Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 32015, S. 989 – 1017, hier S. 990; mit Verweis auf: Margit Weber, Rechtssprachliche Anmerkungen zur Verwendung von christifidelis, fidelis, baptizatus und christianus im CIC/1917 und im CIC/1983, in: Karl-Theodor Geringer/Heribert Schmitz (Hrsg.), Communio in ecclesiae mysterio. Festschrift für Winfried Aymans zum 65. Geburtstag, St. Ottilien 2001, S. 653 – 667. 183 Vgl. zum Überblick: Winfried Aymans, § 6 Das Projekt einer Lex Ecclesiae Fundamentalis, in: Joseph Listl/Hubert Müller/Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 1983, S. 65 – 71. Ein deutschsprachiger Entwurf der Lex Ecclesiae

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pflichten und -rechte der Gläubigen ein Vorrang vor den anderen Bestimmungen des CIC/83 zu, insofern sie ihren Grund im ius divinum positivum bzw. im ius divinum naturale haben.184 3. Unterscheidung von Grundrechten und Menschenrechten Das Verhältnis der Menschenrechte zum internen Recht der Religionen im Allgemeinen und zum dargestellten kodikarischen Katalog der Grundrechte im Kanonischen Recht im Speziellen ist jedoch nicht konfliktfrei. Terminologisch und konzeptionell ist zwischen Grund- und Menschenrechten zu unterscheiden. Als Menschenrechte werden diejenigen fundamentalen Rechte bestimmt, die jedem Menschen durch seine Zugehörigkeit zur Spezies Mensch aufgrund seiner personalen Würde von sich aus zukommen. Menschenrechte „bringen Werte zum Ausdruck, die auch über Kultur- und Religionsgrenzen hinweg konsensfähig sind. Sie sind aber in diesem Sinne noch nicht konkretisiert, noch nicht sprachlich formalisiert und noch nicht in den Grundrechtskatalog einer bestimmten Rechtsordnung eingegangen.“185 Ist dieser Schritt der Konkretisierung getan, spricht man von Grundrechten i. S. v. fundamentalen Rechten, die von den Staaten als beständig, unvergänglich und einklagbar ihren Staatsangehörigen gegenüber garantiert werden. Als Menschenrechte beziehen sich die Grundrechte auf alle Menschen, als Bürgerrechte sind sie nur für einen bestimmten Personenkreis gültig. Die AEMR versteht sich selbst als ein Ideal, welches von allen Völkern und Nationen mittels geeigneter Maßnahmen umzusetzen ist.186 Die darauf aufbauenden konkreten Grundrechtskataloge können sich – im Gefundamentalis wurde 1978 publiziert. Vgl. o. N., Der neue Entwurf einer Lex fundamentalis, in: HerKorr 32 (1978) S. 623 – 632. 184 Vgl. Reinhild Ahlers, § 17 Die rechtliche Grundstellung der Christgläubigen, in: Stephan Haering/Wilhelm Rees/Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 32015, S. 289 – 301, hier S. 293. Vgl. auch Berkmann, Recht (Anm. 9), S. 160: „Im materiellen Sinne können sie [= die Kataloge der Grundpflichten und -rechte der Gläubigen] aber nach einer verbreiteten kanonistischen Meinung sehr wohl als Grundrechte aufgefasst werden, weil sie die Grundstellung aller Christgläubigen vor jeder Differenzierung definieren und weil ihre Inhalte grundlegende Bedeutung für die gesamte Rechtsordnung besitzen.“ Dass die Diskussion um den etwaigen Vorrang des Katalogs der Grundpflichten und -rechte der Gläubigen jedoch als nicht beendet bezeichnet werden kann, sei durch den exemplarischen Verweis auf die Überlegungen von Dieter Weiß angemerkt (Dieter Weiß, Das Recht der religiösen und weltanschaulichen Kindererziehung. Staatliche und kirchliche Regelungen [Linzer kanonistische Beiträge 5], Linz 1995, S. 193 – 197), welcher in dieser Frage eine andere Position als Ahlers einnimmt und mit Verweis auf Literatur den cc. 208 – 223 CIC/ 83 grundsätzlich keine erhöhte Bestandskraft zuspricht. 185 Berkmann, Recht (Anm. 9), S. 161. 186 Vgl. Generalversammlung der Vereinten Nationen, AEMR (Anm. 176), Präambel: „[…] verkündet die Generalversammlung [der Vereinten Nationen] diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame

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gensatz zu den universal gültigen Menschenrechten – in ihren Formulierungen und Gewährleistungen durchaus unterscheiden und gelten jeweils nur für den Bereich, für den sie erlassen worden sind. Ziel der Formulierung der konkreten Grundrechtskataloge war eine Limitierung der Staatsmacht um Freiräume der Individuen zu sichern.187 Da in Konsequenz der Grundsatz der Einheit der Menschheit aufgegeben werden würde, ist an der Universalität der Menschenrechte unbedingt festzuhalten. Universalität impliziert jedoch nicht, dass hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der Grundrechte keine Unterschiede nach geographischen und kulturellen Gesichtspunkten möglich wären. Die Eigenart des Phänomens Religion im Unterschied zum Staatswesen ist diesbezüglich zu achten. Da religiöse Rechtsordnungen nur ausnahmsweise an staatliche Grundrechtskataloge gebunden sind, gilt die Möglichkeit der Unterschiedlichkeit in der Umsetzung erst recht für die Konkretisierung der Menschenrechte in Religionsgemeinschaften.188 Aufgrund ihrer Erfahrungen im Bereich der Normen und (sittlichen) Werte können Religionen bestimmte einseitige und verzerrte Interpretationen von Grundrechten kritisch hinterfragen, im Gegenzug können jedoch auch religiöse Vollzüge durch Grundrechte legitim bezweifelt werden. Das interne Recht der Religionsgemeinschaften genießt auf der einen Seite den grundrechtlichen Schutz, auf der anderen Seite können Grundrechte jedoch Einzelbestimmungen dieser religiösen Rechtsordnungen widersprechen. Das Verhältnis zwischen Menschen- bzw. Grundrechten und religiösen Rechtsordnungen ist nicht eindimensional zu verkürzen, sondern vielmehr stellen Universalität und Partikularität zwei Pole dar, welche auf diesem Gebiet eines Ausgleichs bedürfen.189 4. Umsetzung der Grundrechte in der Rechtsordnung der katholischen Kirche Umgemünzt auf die kirchliche Rechtsordnung ist somit festzuhalten, dass Menschenrechte und die im Codex Iuris Canonici formulierten christlichen Grundrechte formalrechtlich nicht auf die gleiche Ebene gestellt werden können, da die Christenrechte der cc. 208 – 223 CIC/83 unter einem anderen Anspruch stehen. Adressaten Ideal, damit jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemühen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung vor diesen Rechten und Freiheiten zu fördern und durch fortschreitende nationale und internationale Maßnahmen ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Einhaltung durch die Bevölkerung der Mitgliedstaaten selbst wie auch durch die Bevölkerung der ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Gebiete zu gewährleisten.“ 187 Vgl. Robert Alexy, Art. Grundrechte, in: Hans J. Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie. Band 1. A–N, Hamburg 1999, S. 525 – 529, hier S. 526: „Als Träger komme nur der Einzelne, als Adressat nur der Staat und als Gegenstand nur das Unterlassen von Eingriffen in die Freiheitssphäre des Einzelnen in Frage.“ 188 Wie Berkmann bemerkt, liefe es bspw. ins Leere, ein Recht auf Wehrdienstverweigerung in religiösen Rechtsordnungen zu verankern. Vgl. Berkmann, Recht (Anm. 9), S. 163. 189 Vgl. Berkmann, Recht (Anm. 9), S. 164.

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der cc. 208 – 223 CIC/83 „sind nicht alle Menschen auf Erden, sondern die auf den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist in die ecclesia Christi hineingetauften Menschen (vgl. c. 204) oder – in den meisten Fällen spezifischer – ausschließlich katholisch Getaufte.“190 Auch ist die katholische Kirche als solche einerseits keine Staatsmacht, andererseits aber auch kein Individuum. Sie wird im intermediären Bereich der Zivilgesellschaft verortet und fungiert in je eingeschränktem Maß gleichsam als Grundrechtsverpflichtete sowie als Grundrechtsträger.191 Durch die Formulierung des Katalogs der grundlegenden Christenrechte wird seitens des universalkirchlichen Gesetzgebers kein absolut autonomer und unangreifbarer Rechtsbereich für die einzelnen Gläubigen geschaffen, da die kompetente kirchliche Autorität durchaus das Recht besitzt, die Wahrnehmung der verbürgten Grundrechte zum Wohl der Kirche – jedoch lediglich zu diesem Zweck – legitim einzuschränken.192 So schränken zwar einerseits bspw. die Bestimmungen über die Ehehindernisse das Grundrecht auf Sakramentenempfang193 aus religiösen Gründen ein,194 andererseits besteht jedoch gleichzeitig ein Grundrecht auf kirchlichen Rechtsschutz, demzufolge alle Gläubigen stets und jedenfalls ihre Rechte gerichtlich oder auf dem Verwaltungsrechtsweg geltend machen können.195 Der gute Ruf und die Intimsphäre sind ebenso geschützt196 und sogar strafrechtlich bewehrt.197 Hierbei gilt es zu beachten, dass sich die Schutzvorschrift auf jeden Menschen erstreckt und somit eigentlich ein Menschenrecht darstellt, als Täter kommt jedoch lediglich eine katholisch getaufte Person in Frage. Das kanonische Strafrecht beansprucht lediglich Geltung in Bezug auf straffällig gewordene Gläubige,198 eine Bestrafung ist – vor dem Hintergrund des Grundrechts auf kirchlichen Rechtsschutz – lediglich nach Maßgabe des Gesetzes zulässig.199

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Pulte, Kirchenrecht (Anm. 175), S. 168. Vgl. Berkmann, Recht (Anm. 9), S. 162. 192 Vgl. c. 223 CIC/83: „§ 1. Bei der Ausübung ihrer Rechte müssen die Gläubigen sowohl als einzelne wie auch in Vereinigungen auf das Gemeinwohl der Kirche, die Rechte anderer und ihre eigenen Pflichten gegenüber anderen Rücksicht nehmen. § 2. Der kirchlichen Autorität steht es zu, im Hinblick auf das Gemeinwohl die Ausübung der Rechte, die den Gläubigen eigen sind, zu regeln.“ 193 Vgl. c. 213 CIC/83. 194 Vgl. bspw. die Ehehindernisse der Religionsverschiedenheit (c. 1086 CIC/83), der heiligen Weihen (c. 1087 CIC/83) und des öffentlichen und ewigen Gelübdes in einem Ordensinstitut (c. 1088 CIC/83). 195 Vgl. c. 221 §§ 1 – 2 CIC/83. 196 Vgl. c. 220 CIC/83. 197 Vgl. c. 1390 CIC/83. Vgl. ferner auch c. 1717 § 2 CIC/83. 198 Vgl. c. 11 i. V. m. c. 1311 CIC/83 über die Reichweite des ius mere ecclesiasticum, speziell des kanonischen Strafanspruchs. 199 Vgl. c. 221 § 3 CIC/83. 191

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Eine bereits im Zuge der Reformarbeiten zum CIC/83 scharf kritisierte200 problematische Ausnahme ist die Allgemeine Strafnorm des c. 1399 CIC/83, welche die Sanktionierung im Fall eines nicht im Gesetzbuch strafbewehrten Verstoßes gegen ein göttliches oder kanonisches Gesetz legitimiert. Selbstverständlich gilt für die Anwendung dieser – gegen den Grundsatz Nulla poena sine lege verstoßende – Bestimmung das Willkürverbot.201 Da jedoch bereits der zu erfüllende Tatbestand nicht eindeutig umschrieben ist, wird es – wie Pulte zu Bedenken gibt – „hinsichtlich des Ermessens im Falle einer auf c. 1399 gründenden Bestrafung schwierig zu überprüfen sein, ob diese Grenze nicht überschritten wurde.“202 V. Schlussbemerkungen Im Beitrag wurde skizziert, wie die katholische Kirche ihre Rechtsordnung in Abgrenzung zu säkularen und andersreligiösen Rechtsordnungen theologisch begründet. Der diesbezügliche Wechsel in den Begründungslinien durch das Zweite Vatikanische Konzil wurde beleuchtet und in Bezug auf das Menschenrecht auf Religionsfreiheit sowie die konziliaren Neupositionierung in den Fragen des Ökumenismus, des interreligiösen Dialogs sowie des Verhältnisses der Kirche zum neuzeitlichen Staatswesen vertieft. Im Sinne dieser geänderten Verhältnisse ist die Kirche – wie u. a. Papst Franziskus dies in seiner bereits verwiesenen Ansprache an die Teilnehmer der Internationalen Friedenskonferenz am 28. April 2017 formulierte203 – geradezu gefordert, den Kontakt mit der Welt und andersreligiösen Gruppen zu suchen. Die Aufgabe des societas perfecta-Konstrukts sowie die erneuerten theologischen Positionen bilden das Fundament, auf welchem die nachkonziliare Kirche sich im Dialog öffnen kann. Dieser Dialog hat vor dem Hintergrund der neuen Begründungslinien des Kanonischen Rechts auch auf rechtlicher Ebene stattzufinden, sodass im Beitrag auch nach den Prämissen für den Dialog mit andersreligiösen Rechtsordnungen gefragt wurde. Im Anschluss an die dem rechtlichen Dialog zugrunde liegenden Werte und Prinzipien ist festzuhalten, dass die Menschenrechtsidee als Klammer in diesem Dialog seitens des Kanonischen Rechts herangezogen werden kann. Die Anschlussfähigkeit der kirchlichen Rechtsordnung an das moderne Menschenrechtskonzept ist spätestens durch Papst Johannes XXIII. lehramtlich bestätigt worden, wobei der Men200 Vgl. Klaus Lüdicke, c. 1399, in: Klaus Lüdicke/u. a. (Hrsg.), Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici. Unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Deutschland, Österreich und der Schweiz. (Loseblattwerk, Stand: 60. Erg.-Lfg. April 2021), Essen seit 1984, Rn. 2 u. 3. 201 Vgl. dazu für viele: Wilhelm Rees, Die Strafgewalt der Kirche. Das geltende kirchliche Strafrecht – dargestellt auf der Grundlage seiner Entwicklungsgeschichte (Kanonistische Studien und Texte 41), Berlin 1993, 75 – 77 u. 485 f. 202 Pulte, Kirchenrecht (Anm. 175), S. 169. 203 Vgl. Franciscus PP., Ansprache (28. 4. 2017) (Anm. 1): „Die Zukunft aller [ist] auch von der Begegnung der Religionen und Kulturen abhängig.“

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schenrechtsgedanke auch für andere philosophische, säkulare und nicht-christlich religiöse Begründungen offen ist. In diesem sich ergebenden overlapping consensus ist die Kirche des Zweiten Vatikanischen Konzils aufgrund des ekklesiologischen Paradigmenwechsels und der damit einhergehenden Neupositionierung in der Ökumene und der inklusivistischen Religionstheologie im interreligiösen Dialog gerufen, die Menschenrechte in die eigene Rechtsordnung zu integrieren. Dies ist durch das kodikarische Konzept der Grundpflichten und -rechte der Gläubigen formal geschehen. Problematisch ist hierbei in der konkreten Bewertung der Umsetzung die Tatsache, dass die Kirche mit ihrer Rechtsordnung im intermediären Bereich der Zivilgesellschaft gleichsam als Grundrechtsverpflichtete sowie als Grundrechtsträger auftritt. Dies manifestiert sich in der mitunter problematischen Umsetzung konkreter Einzelrechte in der kirchlichen Rechtsordnung. Die postsäkulare Gesellschaft ist u. a. maßgeblich durch die religiös-weltanschauliche Heterogenität der Bevölkerung charakterisiert. Interkulturelle Transformations- und Migrationsprozesse stellen den gesellschaftlichen Normalfall dar und die Existenz von kulturellen Parallelgesellschaften stellt eine Herausforderung für die staatlich-gesellschaftliche Ordnung dar, sodass es Formen der Wahrnehmung des religiös und kulturell Anderen sowie eines kultivierten Umgangs damit nicht zuletzt auch auf rechtlicher Ebene bedarf. Wie im Beitrag gezeigt wurde, verfügt die Kirche des Zweiten Vatikanischen Konzils über die theologisch-kanonistisch fundierte Möglichkeit in einen wahrhaften Dialog mit säkularen und andersreligiösen Rechtsordnungen einzutreten, was in Zukunft zu einer immer drängenderen Herausforderung werden wird, um im Sinne von Papst Franziskus in der Begegnung der Religionen und Kulturen an der gemeinsamen gesellschaftlichen Zukunft zu bauen.204

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Vgl. Franciscus PP., Ansprache (28. 4. 2017) (Anm. 1).

Sterben in Würde: Assistierter Suizid. Rechtliche Regelung Herbert Kalb I. Einführung Kirchen und Religionsgesellschaften sind zentrale Akteure in der reflexiven Auseinandersetzung mit Moralität in der pluralistischen Gesellschaft. Die hermeneutische Bemühung, auf dem jeweiligen religiösen Selbstverständnis Menschenrechte und Menschenwürde zu interpretieren, sind wichtige Beiträge für einen begründeten ethischen Diskurs über ein „Sterben in Würde“1. Durch die Aufklärung und die damit einhergehende Säkularisierung der „praktischen“ Philosophie wurde die Monopolstellung der Religionen für die Begründung und Vermittlung moralischer Sollensanforderungen beendet. Dass ihnen im modernen liberalen Verfassungsstaat dennoch eine wesentliche Kompetenz in der Vermittlung moralischer Werte und der dazu gehörenden ethischen Reflexion zukommt, wird heute selbst von Kirchen- und Religionskritikern kaum mehr bezweifelt.2 Nach langjährigen gesellschaftspolitischen Debatten über medizinische, rechtliche und ethische Aspekte eines „Sterbens in Würde“ musste die Republik Österreich durch das VfGH Erkenntnis vom 11. 12. 2020, G 139/2019 den Weg zur ärztlich unterstützten Selbsttötung freigeben und mündete in das „Sterbeverfügungsgesetz sowie Änderung des Suchtmittelgesetzes und des Strafgesetzbuches“3, Veränderungen, die diskursiv auch von Kirchen und Religionsgesellschaften begleitet wurden. Es wird im Folgenden ein Überblick über das Recht auf selbstbestimmtes Sterben bzw. der Suizidunterstützung präsentiert.

1 Zur sozial- und kulturhistorischen Perspektive vgl. Thomas Macho, Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne, Berlin 22018; Georges Minois, Geschichte des Selbstmords, Düsseldorf/Zürich 1996. 2 Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, S. 316 – 323. Zur aktuellen Diskussion der Verortung von Religion in der aktuellen politischen Philosophie – zentrale Akteure sind Jürgen Habermas, John Rawls und Charles Taylor – vgl. Jürgen Wallner, Rawls und Religion. Zur religionsrechtlichen Konzeption im Werk von John Rawls: Wider die Unvernunft, in: öarr 50 (2003), S. 554 – 587 (FS Potz zum 60. Geb.); Eduardo Mendieta/Jonathan Van Antwerpen (Hrsg.), Religion und Öffentlichkeit, Berlin 2012; Richard Potz, Aktuelle Entwicklungen des Religionsrechts in Österreich und Europa, in: Joseph Marko/Wolfgang Schleifer (Hrsg.), Staat und Religion. 9. Fakultätstag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz, Graz 2014, S. 21 – 34, hier S. 23. 3 BGBl I 242/2021.

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II. Rechtslage bis zum VfGH Erkenntnis Vorschläge einer strafbaren Beihilfe zum Selbstmord finden sich in den StG-Entwürfen von 1909/1912/1927, eine tatbestandliche Feststellung erfolgte im Austrofaschismus. Mit der Wiedereinführung der Todesstrafe im ordentlichen Verfahren war auch eine teilweise Novellierung des Strafgesetzes notwendig. Da bei einer Tötung auf Verlangen nunmehr die Todesstrafe zu verhängen gewesen wäre, wurde in das Strafrechtsänderungsgesetz vom 19. 6. 19344 die Tötung auf Verlangen als eigener Tatbestand als eine Privilegierung des Mordes mit einer geringeren Strafsanktion aufgenommen (§ 139a). Da der Selbstmord weiterhin straffrei blieb, wurde die bisherige Lücke im Strafgesetz bezüglich der Mitwirkung am Selbstmord als ein Delikt sui generis konzipiert (§ 139b).5 Zutreffend verweist Lengauer auf eine „gewisse Ironie“: „Während … staatlichen Organen eine Entscheidung über das Leben zugemutet wurde, sollte der Rechtsunterworfene weder einen anderen auf dessen Verlangen hin töten, noch den Suizid fördern“6. Die Regelungen wurden inhaltsgleich in das StGB 19747 übernommen. § 77 StGB (Tötung auf Verlangen) sieht eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren vor, „wer einen anderen auf dessen ernstliches und eindringliches Verlangen tötet“. § 78 StGB – Mitwirkung am Selbstmord – sieht dieselbe Strafsanktion vor, „wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet“8. Die Differenzierung erfolgt über eine naturalistische Festlegung anhand des Kriteriums der Tatherrschaft. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Strafnormen liegt darin, dass im Falle des § 78 StGB die Tötung durch eigene Hand – aktiver (direkter) Suizid durch „Hand an sich legen“9 –, im Falle des § 77 durch fremde Hand erfolgt. Zur rechtsethischen Legitimität finden sich in den EB nur zwei lapidare Sätze: „Das Rechtsgut des menschlichen Lebens ist … um Interessen der Gesamtheit willen grundsätzlich unabhängig vom Willen des unmittel4

BGBl 1934/II/7. Michael Memmer, Selbstmord, Beihilfe zum Selbstmord und Tötung auf Verlangen – von der Constitutio Criminalis Carolina zum StGB 1974, in: Journal für Strafrecht 8 (2021), S. 469 – 479. 6 Siegmar Lengauer, Selbstmord oder Fremdtötung: Unrecht, Abgrenzung und StRÄG 2015, in: Journal für Strafrecht 3 (2016), S. 109 – 113, hier S. 109. 7 BGBl 60/1974. 8 Alois Birklbauer, Die Kriminalisierung des assistierten Suizids (§ 78 StGB): Eine (un) notwendige Strafbestimmung zum Schutz des Lebens?, in: Recht der Medizin 2016, S. 84 – 90; ders., Mögliche Grenzen straffreier Suizidunterstützung – ein (vorsichtiger) Ausblick auf 2022, in: Journal für Strafrecht 8 (2021), S. 131 – 141; ders., §§ 77, 78 StGB, in: Frank Höpfel/Eckhart Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Wien 22022; ders., Ausgewählte Aspekte zur Neuregelung strafbarer Suizidassistenz, in: Newsletter für Menschenrechte 31 (2022), S. 211 – 220. 9 Vgl. z. B. OGH 27. 10. 1988, 11 Os82/98: „Selbstmord i. S. d. § 78 setzt daher voraus, daß der zur Selbsttötung frei Entschlossene selbst Hand an sich legt, mithin die den Tod auslösende Handlung unmittelbar an sich vornimmt.“ Unübersehbar entfernt sich die strafrechtliche Beurteilung des Vorliegens von Suizid vom allgemeinen Verständnis von Selbsttötung, vgl. Alois Birklbauer/Angelika Feichtner/Dietmar Weixler, Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit: strafrechtliche Aspekte, in: Recht der Medizin 2019, S. 4 – 19. 5

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baren Trägers dieses Rechtsguts geschützt … Die Fassung des § 139b StG entspricht durchaus der sozialethischen Beurteilung einer Mitwirkung am Selbstmord und den kriminalpolitischen Bedürfnissen.“10 Dieser umfassende Lebensschutz mit der gravierenden Beschränkung einer diesbezüglichen freien Disposition des Rechtsgutträgers, insbesondere die Kriminalisierung des assistierten Suizids, stieß zunehmend auf Kritik. So führte etwa die Weite der möglichen Unterstützungshandlungen und der Möglichkeit der Begehung durch Unterlassen auch zu einer Strafverfolgung von Personen, die einen Sterbewilligen zu einem (legal) assistierten Suizid in die Schweiz begleiteten11. Das Lebensende ist international seit Beginn der modernen Bioethik in den 1960er Jahren mit anhaltenden, teils äußerst kontroversen Debatten verbunden. In Österreich zeigte sich dies u. a. in einer parlamentarischen Enquete-Kommission12. 2015 präsentierte die Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt Empfehlungen zum „Sterben in Würde13 : Die Weite der österreichischen Regelung zur Mitwirkung am Selbstmord“, die als gleichwertige Begehungsformen das Verleiten zum Suizid sowie die Hilfestellung beim Suizid durch Tun und Unterlassen strafbewehre, stelle auch Angehörige, nahestehende Personen und Ärzte unter Strafe, die aus Loyalität gegenüber der suizidwilligen Person eine Unterstützung leisten und könne zu erheblichen Gewissenskonflikten führen. Im Mehrheitsvotum der Kommission wird eine Reform des § 78 StGB empfohlen, die sowohl dem Prinzip der Aufrechterhaltung der sozialen Norm der Suizidprävention, als auch dem Schutz von Fremdbestimmung vulnerabler Personen Rechnung trage, aber auch eine individuelle Hilfe in Ausnahmefällen zulasse. Die Verleitung zum Suizid solle weiterhin unter Strafe stehen, um zu gewährleisten, dass vulnerable Personen keinem Druck ausgesetzt 10

Erwin Bernat, Recht auf Beihilfe zur Selbsttötung: Der österreichische VfGH setzt neue Maßstäbe, in: Medizinrecht 39 (2021), S. 529 – 534, hier S. 530. 11 Karin Bruckmüller/Stefan Schumann, „In die Schweiz fahren“: Sterbetourismus und Strafbarkeit der Mitwirkung an der Selbsttötung, in: Jahrbuch für Gesundheitsrecht 2008, S. 97 – 118; Kurt Schmoller, Grenzen der Strafbarkeit bei Begleitung zur Selbsttötung, in: FS Kopetzki (65), Wien 2019, S. 591 – 603. 12 Bericht der parlamentarischen Enquete-Kommission zum Thema „Würde am Ende des Lebens“, 491 BlgNR 25. GP. 13 Bundeskanzleramt. Geschäftsstelle der Bioethikkommission (Hrsg.), Sterben in Würde. Empfehlungen zur Begleitung und Betreuung von Menschen am Lebensende und damit verbundenen Fragestellungen. Stellungnahme der Bioethikkommission, Wien 2015; Bereits 2011 legte die Bioethikkommission in Anlehnung an die Stellungnahme des deutschen nationalen Ethikrates aus 2006 („Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende“) „Empfehlungen zur Terminologie medizinischer Entscheidungen am Lebensende“ vor. Die in der juristischen Literatur und Judikatur verwendete Begrifflichkeit zwischen aktiver und passiver, direkter und indirekter Sterbehilfe wurde als nicht sachadäquat und zeitgemäß beurteilt. Die Bioethikkommission empfahl, diese Terminologie aufzugeben und stattdessen die Begriffe „Sterbebegleitung“, „Therapie am Lebensende“ und „Sterben zulassen“ einzuführen. Vgl. zur Terminologie Benjamin Kneihs, Grundrechte und Sterbehilfe, Wien 1998, S. 27 – 43; Alois Birklbauer, Strafrechtliche Haftung der Gesundheitsberufe, in: Reinhard Resch/Felix Wallner (Hrsg.), Handbuch Medizinrecht, Wien3 2020, S. 397 – 460, hier S. 425 – 434.

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werden können. Es erscheine aber angebracht, für Angehörige und persönlich nahestehende Personen eine Straflosigkeit vorzusehen, wenn sie einer an einer unheilbaren, zum Tode führenden Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung leidenden Person beim Suizid Hilfe leisten, sofern die Beweggründe der Hilfe auch für einen mit den rechtlich geschützten Werten verbundenen Menschen (vgl. § 10 StGB) verständlich sind. Darüber hinaus sollte die Hilfeleistung durch Ärzte beim Suizid in bestimmten Fällen entkriminalisiert werden, um es letztlich dem Patienten zu ermöglichen, offen mit dem Arzt über seine Situation zu sprechen, ohne gleich fürchten zu müssen, aufgrund akuter Selbstgefährdung zwangsweise untergebracht zu werden. Diese straffreie Hilfeleistung beim Suizid sollte in allen Fällen auf volljährige und einwilligungsfähige Personen begrenzt sein und deren ernsthaftes Verlangen erfordern. Weiters sollte auch die straffreie Unterstützung beim Suizid auf Patienten begrenzt sein, die an einer unheilbaren, zum Tode führenden Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung leiden. Da das Gewissen des behandelnden Arztes zu respektieren sei, dürfe kein Arzt zur Hilfeleistung bei der Selbsttötung verpflichtet sein. Andererseits dürfe er jedoch wegen einer Hilfeleistung auch nicht, in welcher Art auch immer, benachteiligt werden.14 Im abweichenden Minderheitenvotum wird keine Abänderung des § 78 StGB für erforderlich gehalten. Vor dem Hintergrund etwaiger Gewissensnot könnten als ein differenzierteres, kontextsensitiveres und mit weniger Problemen belastetes rechtliches Instrumentarium seitens des Justizministeriums bindende Richtlinien für die Strafverfolgungsbehörden entwickelt werden, in denen eine ethisch fundierte Prüfung konkreter Vorwürfe von Suizidbeihilfe vorgegeben werden.15 In einem Sondervotum zur Tötung auf Verlangen wird gefordert, die Kriterien für die Reform des assistierten Suizids (§ 78 StGB) auch auf die Tötung auf Verlangen (§ 77 StGB) zu übertragen.16 Aufbauend auf den Empfehlungen der Bioethikkommission erarbeitete Alois Birklbauer einen Gesetzesvorschlag, ergänzt von Gloria Burda.17 2016 hatte sich der VfGH erstmals mit der Frage der Verfassungsgemäßheit von § 78 auseinanderzusetzen. Im Rahmen einer Erkenntnisbeschwerde bezüglich der Errichtung des Vereins „Letzte Hilfe – Verein für ein selbstbestimmtes Sterben“ wurde das diesbezügliche Verbot als verfassungskonform beurteilt und, insbesondere mit Verweis auf den Fall Pretty18, auf den weitgehenden gesetzgeberischen Gestal14

Rz. 7.4. Rz. 7.5. 16 Rz. 7.7. 17 Birklbauer, Die Kriminalisierung des assistierten Suizids (Anm. 8), S. 87; Gloria Burda, Ein Reformvorschlag zum Verbot des assistierten Suizids, in: Recht der Medizin 2020, S. 272 – 283; dies., Der Suizid im Strafrecht, Linz 2022. 18 Pretty/Vereinigtes Königreich, EGMR 29. 4. 2002, 2346/02: Die Beschwerdeführerin litt an einer tödlichen, unheilbaren Krankheit und konnte aufgrund ihrer Erkrankung nicht allein Suizid begehen. Sie begehrte Zusicherung von Straffreiheit für ihren Gatten, sollte dieser sie beim Selbstmord unterstützen, was aber vom britischen Generalanwalt abgelehnt wurde. Der EGMR beurteilte die Entscheidung der nationalen Instanzen als konventionskonform. Aus Art. 2 EMRK könne nicht im Sinne eines negativen Aspekts ein Recht auf Sterben abgeleitet 15

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tungsspielraum abgestellt.19 Die Kehrtwende folgte mit dem VfGH Erkenntnis v. 11. 12. 202020, in dem explizit festgehalten wird: „Soweit im Erkenntnis VfSlg 20.057/2016 eine andere Auffassung als in dieser Entscheidung zum Ausdruck kommt, wird diese nicht aufrechterhalten.“21 Durch eine Novelle zum ÄrzteG22 erfolgte eine Klarstellung bezüglich der indirekten Sterbehilfe. § 49a Abs. 2 sieht im Kontext der ärztlichen Beistandspflicht gemäß Abs. 1 und zugleich der Verpflichtung zur Wahrung des Patientenwohls gemäß § 49 Abs. 1 ÄrzteG 1998 eine ergänzende Präzisierung vor, wonach es bei Sterbenden insbesondere auch zulässig ist, im Rahmen qualitätsgesicherter palliativmedizinischer Indikationen Maßnahmen zu setzen, deren Nutzen zur Linderung schwerster Schmerzen und Qualen im Verhältnis zum Risiko überwiegt, dass dadurch eine Beschleunigung des Verlusts vitaler Lebensfunktionen bewirkt werden kann.23 werden, es erwachse dem Staat keine positive Schutzpflicht, eine Form von Sterbehilfe einzuräumen. Die Große Kammer verortet die Frage der Sterbehilfe als Teil der persönlichen Autonomie – wenn auch nicht im Kernbereich – von Art. 8 EMRK, dieses Recht dürfe „nicht bloß theoretisch oder gar illusorisch“ gewährleistet werden. Weiters wird auf der Rechtfertigungsebene auf die Aufgabe des nationalen Gesetzgebers verwiesen, das Risiko und die Wahrscheinlichkeit eines Missbrauchs im Falle von Lockerungen des Verbots zur Beihilfe zum Suizid oder der Zulassung von Ausnahmen zu beurteilen; vgl. Benjamin Kneihs, Verstoß gegen die Strafgesetze (§ 78 StGB) durch Vereinszweck der Hilfe für selbstbestimmtes Sterben, in: Recht der Medizin 2016, S. 108 – 112; ders., Sterbehilfe durch EMRK nicht geboten/ Der Fall Pretty, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2002, S. 234 – 244; Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München7 2021, S. 182, 302. 19 VfSlg 20.057/2016; „Aus dieser Entscheidung ist bloß abzuleiten, dass es in die ausschließliche Zuständigkeit des jeweiligen Gesetzgebers falle, Sachverhalte wie die Beihilfe zum Selbstmord zu regeln“; Kneihs, Verstoß gegen die Strafgesetze (Anm. 18), S. 108. Neben dem Fall Pretty verweist der VfGH noch mit einem Satz auf den Fall Lambert u. a./Frankreich, EGMR 5. 6. 2015, 46043/14 (Newsletter für Menschenrechte 2015, S. 1 – 7): „Schließlich ist für den Beschwerdeführer auch nichts aus der Berufung auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 5. Juni 2015 im Fall Lambert … zu gewinnen, geht es dort doch um den Abbruch von Maßnahmen, mit denen das Leben künstlich erhalten wird“. Im Fall Lambert ging es um die rechtliche Beurteilung des Entscheidungsprozesses zur Beendigung von lebenserhaltenden Maßnahmen. Der Gerichtshof betont, dass der Wille des Patienten, selbst wenn dieser nicht äußerungsfähig ist, im Mittelpunkt zu stehen habe. In den Mitgliedstaaten des Europarates herrsche kein Konsens hinsichtlich der genauen Voraussetzungen für die rechtmäßige Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen, daher komme diesen in dieser Frage ein entsprechender Gestaltungsspielraum zu. 20 G 139/2019. Bemerkenswerterweise datiert die Aufhebung des „Kopftuchverbotes gem. § 43a Abs. 1 SchUG ebenfalls vom 11. 12. 2020, ein bemerkenswerter Tag für die Etablierung eines liberalen Grundrechtsverständnisses. 21 Rz. 76. 22 BGBl I 2019/20. 23 Felix Wallner, Medizinrecht, Wien 22022, S. 224. Hintergrund und Anlassfall für die Novellierung waren ethische Problemzonen im Kontext palliativmedizinischer Maßnahmen und damit verbundene Unsicherheiten bei Ärzten, wie sich etwa im Fall eines Arztes in Salzburg gezeigt hatte: „Dem Arzt wurde zur Last gelegt, einer 79-jährigen Patientin so viel

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III. VfGH Erkenntnis v. 11. 12. 202024 Ausgangspunkt war ein Individualantrag auf Normenkontrolle von 4 Personen mit dem Begehr der Aufhebung von § 77 StGB („Tötung auf Verlangen“) und § 78 StGB („Mitwirkung am Selbstmord“). Bei zwei Antragstellern handelte es sich um Schwerkranke, die an einer unheilbaren Krankheit litten (Multiple Sklerose und Morbus Parkinson). Für die Umsetzung eines selbstbestimmten Todes waren sie für eine „Reise in die Schweiz“ auf Suizidbegleitung angewiesen. Der Drittantragsteller war zwar körperlich gesund, wollte aber für den Fall einer zukünftigen schweren Erkrankung eine Suizidhilfe beanspruchen; zudem war er bereits rechtskräftig nach § 78 StGB verurteilt worden, da er seiner schwerkranken Gattin bei ihrem Suizid Hilfe geleistet hatte. Beim vierten Antragsteller handelte es sich um einen Arzt für Allgemeinmedizin und Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin, der in seiner ärztlichen Tätigkeit immer wieder mit Patientenwünschen nach aktiver Sterbehilfe konfrontiert wurde. Nach langer Beratung, die sich über mehrere Sessionen hinzog und einer mündlichen Verhandlung, hob der VfGH die in § 78 StGB enthaltene Wortfolge „oder ihm dazu Hilfe leistet“ als verfassungswidrig auf, die Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. Dezember 2021, frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft. Der Individualantrag zu § 77 StGB wurde zurückgewiesen, da der Antrag zu eng gefasst sei. Da diese Norm eine lex specialis zu § 75 (Mord) ist, würde eine Aufhebung weiterhin nach § 75 StGB strafbar bleiben, was eine Strafverschärfung bedeute. Morphin verabreicht zu haben, dass sie daran starb. Wenngleich nach dem zunächst erhobenen Mordvorwurf schlussendlich auch ein Freispruch vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung erfolgte, blieben gerade auf dem Gebiet der Palliativmedizin Unbehagen und große Verunsicherung zurück.“ (RV 385 Blg NR 26. GP). 24 Vgl. zur verfassungsrechtlichen Einordnung Anna Gamper, Gibt es ein „Recht auf menschenwürdiges Sterben? Zum Erkenntnis des VfGH vom 11. 12. 2020, G 139/2019, in: Juristische Blätter 143 (2021), S. 137 – 146; Lamiss Khakzadeh, Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Verfassungsrechtliche Überlegungen zu VfGH 11. 12. 2020, G 139/20219, in: Recht der Medizin 2021, 48 – 54; Magdalena Pöschl, Sterben mit Würde?, in: Europäische Grundrechte – Zeitschrift 2021, S. 12 – 16; vgl. weiters Samara Assfahani, Wenn uns der VfGH im Dunkeln tappen lässt … Eine Analyse zu VfGH 11. 12. 2020, G 139/2019, in: Interdisziplinäre Zeitschrift für Familienrecht 2021, S. 42 – 44; Alois Birklbauer, Teilweise Verfassungswidrigkeit der Mitwirkung am Selbstmord (§ 78 StGB): Erste Analyse des Erkenntnisses und weiterführende Überlegungen, in: Journal für Strafrecht 8 (2021), S. 10 – 20; Gloria Burda, Sterbehilfe: Das VfGH-Erkenntnis zur Verfassungswidrigkeit des § 78 StGB in der Handlungsalternative des Hilfeleistens. Ein Schritt in die richtige Richtung, aber ein Stopp auf halbem Weg?, in Österreichische Juristen-Zeitung 2021, S. 220 – 225; dies., Der Suizid im Strafrecht (Anm. 17), S. 123 – 167; Michael Halmich/Andreas Klein, Sterbehilfe/Suizidbeihilfe in Österreich. VfGH-Erkenntnis/Diskussion zur Neuregelung 2021, Wien 2021, S. 49 – 64; Benjamin Kneihs, Drei Mal Sterbehilfe, in: Newsletter Menschenrechte 2020, S. 425 – 437, hier S. 431 – 433; Kurt Schmoller, Sterbehilfe und Autonomie – strafrechtliche Überlegungen zum Erkenntnis des VfGH vom 11. 12. 2020, in: Juristische Blätter 143 (2021), S. 147 – 156.

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Diese Neuorientierung des VfGH zeigte sich bereits in der Zulassung der Individualanträge, über die in bemerkenswert großzügiger Weise abgesprochen wurde. Obwohl die Erst-, Zweit- und Drittantragsteller nicht Adressat von § 78 StGB sind, bejaht der VfGH die notwendige unmittelbare Betroffenheit für die Zulässigkeit eines Individualantrages, es bestehe kein Zweifel daran, dass § 78 StGB deren Rechtssphäre unmittelbar und aktuell beeinträchtige, die angefochtene Bestimmung berühre die Antragsteller „nicht bloß reflexartig“, sondern wirke wie eine an sie gerichtete Gesetzesanordnung. Der Viertantragsteller sei Adressat des Verbots, da ihm bei Zuwiderhandeln rechtliche Konsequenzen drohen.25 Als Maßstab der Normprüfung benennt der VfGH das freie Selbstbestimmungsrecht, das aber nicht in einem konkreten Grundrecht wie etwa Art. 8 EMRK verortet, sondern, dogmatisch unkonventionell, aus der Bundesverfassung abgeleitet wird. Der demokratische Rechtsstaat, wie ihn die Bundesverfassung konstituiere, setze Freiheit und Gleichheit aller Menschen voraus, referenziert wird bemerkenswerterweise auf Art. 63 Abs. 1 StV Germain. Dies werde durch mehrere grundrechtliche Gewährleistungen konkretisiert, nämlich insbesondere durch das Recht auf Leben gemäß Art. 2 EMRK sowie den Gleichheitssatz gemäß Art. 2 StGG und Art. 7 BVG, aus denen das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf freie Selbstbestimmung resultiere.26 Daran anschließend setzt sich der VfGH mit der Judikatur des EGMR zu Art. 2 und Art. 8 EMRK27 auseinander, rekurriert insbesondere auf die Entscheidungen Pretty28, Lambert29, Haas30 und Koch31 – selbstbestimmtes Sterben 25

Rz.14 – 28. Rz. 65. 27 Martina Sperlich, Suizidbeihilfe in der Rechtsprechung des EGMR, Zürich, St. Gallen 2019 (Erörterung der Fälle Pretty, Haas, Koch, Gross und Lambert bezüglich Art. 2, 3 und 8 EMRK). 28 Hier, Anm. 18. 29 Hier, Anm. 19. 30 EGMR Haas/Schweiz 20. 1. 2011, 31322/0. Der Beschwerdeführer litt seit etwa 20 Jahren an einer bipolaren Störung, beging während dieser Zeit zwei Suizidversuche und wurde wiederholt stationär behandelt. Der Erwerb von Natrium-Phenobarbital wurde ihm verweigert, da er die Bedingung zur Erlangung – ein ärztliches Rezept mit einem vertieften psychiatrischen Gutachten – nicht erfüllte. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass bei einer möglichen Verletzung von Art. 8 EMRK auch das Recht auf Leben gemäß Art. 2 EMRK miteinzubeziehen sei. In seinen Erwägungen beruft er sich auf den nationalen Ermessensspielraum, betont aber auch, dass das von Art. 2 EMRK geschützte Recht auf Leben die Staaten verpflichte, ein Kontrollverfahren vorzusehen, welches gewährleiste, dass die Entscheidung tatsächlich dem freien Willen des Suizidwilligen entspreche. 31 EGMR Koch/Deutschland, 19. 7. 2012, 497/09. Der Fall betraf die Weigerung der deutschen Behörden, der Frau des Beschwerdeführers, die querschnittgelähmt und auf künstliche Beatmung sowie ständige medizinische Beaufsichtigung und Betreuung angewiesen war, die Erlaubnis für eine tödliche Dosis Natrium-Phenobarbital zu erteilen. Bezüglich des materiellen Aspekts der Beschwerde aus Art. 8 EMRK verweist der Gerichtshof auf den nationalen Ermessensspielraum, wobei er seine Kontrollbefugnis unter Beachtung des Grundsatzes der Subsidiarität ausübe. 26

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als Teil der Autonomie des Art. 8 EMRK, Schutzpflicht für vulnerable Personen, erheblicher staatlicher Gestaltungsspielraum. Die freie Selbstbestimmung umfasse auch die Entscheidung des Einzelnen, wie er sein Leben gestalte und führe, aber auch die Entscheidung, ob und aus welchen Gründen ein Einzelner sein Leben in Würde beenden will. All dies hänge von den Überzeugungen und Vorstellungen jedes Einzelnen ab und liege in seiner Autonomie32. Davon erfasst sei nicht nur die Entscheidung und das Handeln des Suizidwilligen selbst, sondern auch dessen Recht auf die Inanspruchnahme der Hilfe eines Dritten: „Der Suizidwillige hat ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben in Würde, dazu muss er die Möglichkeit haben, die Hilfe eines dazu bereiten Dritten in Anspruch zu nehmen.“33 Nach Auffassung des VfGH kann das ausnahmslose Verbot der Selbsttötung mit Hilfe eines Dritten ein besonders intensiver Eingriff in das Recht des Einzelnen darstellen. Wenn jemand kraft freien Entschlusses sich in einer Situation befinde, die für ihn ein selbstbestimmtes Leben in persönlicher Integrität und Identität und damit in Würde nicht mehr gewährleistet, könne dieser durch das in der zweiten Handlungsalternative des § 78 StGB enthaltene ausnahmslose Verbot der Suizidbeihilfe zu einer menschenunwürdigen Form der Selbsttötung veranlasst werden34. Ermögliche jedoch die Rechtsordnung dem Betroffenen sein Leben in Würde und nach seiner freien Selbstbestimmung zu dem von ihm gewählten Zeitpunkt mit der Hilfe eines Dritten zu beenden, so könne dies ein Gewinn an Lebenszeit bedeuten, da der Betroffene sich nicht gezwungen sehe, sein Leben vorzeitig und in menschenunwürdiger Form zu beenden.35 Verneint wird vom VfGH bezüglich der Hilfeleistung ein weiter rechtspolitischer Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, da dadurch die existentielle Entscheidung über die Gestaltung des Lebens und damit ganz wesentlich das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen betroffen sei.36 Stehe unzweifelhaft fest, dass der Selbsttötungsentschluss auf einer freien Selbstbestimmung gründe, habe der Gesetzgeber dies zu respektieren. Es sei schon im Ansatz verfehlt, aus dem in Art. 2 EMRK verankerten Recht auf Schutz des Lebens eine Pflicht zum Leben abzuleiten und derart den Grundrechtsträger zum Adressaten der Schutzverpflichtung zu machen.37 Drehund Angelpunkt ist für den VfGH das freie Selbstbestimmungsrecht für ein Sterben in Würde, Autonomie und Würde des Einzelnen wird in den Mittelpunkt gestellt. Diese autonome Entscheidung müsse auf einer dauerhaften, nicht vorübergehenden Entscheidung beruhen, der ein aufgeklärter und informierter Willensschluss zugrunde liege. Dabei habe der Gesetzgeber auch zu berücksichtigen, dass der helfende Dritte eine hinreichende Grundlage dafür habe, dass der Suizidwillige tatsächlich 32

Rz. 72, 73. Rz. 74. 34 Rz. 80. 35 Rz. 81. 36 Rz. 82, 83. 37 Rz. 84. 33

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eine auf freier Selbstbestimmung gegründete Entscheidung zur Selbsttötung gefasst habe38. Im Weiteren verweist der VfGH auf Regelungen des österreichischen Rechts, die dem individuellen Selbstbestimmungsrecht im Bereich medizinischer Behandlungen auch bei Entscheidungen über das Lebensende Rechnung tragen (§§ 252 ff. ABGB, § 110 StGB, PatientenverfügungsG, § 49a ÄrzteG). Dann setzt sich der VfGH näher mit der Notwendigkeit eines diskriminierungsfreien Selbstbestimmungsrechts auseinander. Die freie Selbstbestimmung könne durch vielfältige soziale und ökonomische Umstände beeinflusst werden, dementsprechend obliege es dem Gesetzgeber, Maßnahmen bzw. Sicherungsinstrumente vorzusehen, dass die betroffene Person den Selbsttötungsentschluss nicht unter dem Einfluss Dritter fasse39. Ausdrücklich wird auf die Notwendigkeit auch von Mitteln zur Egalisierung der Lebensbedingungen, welche das freie Selbstbestimmungsrecht einschränken, verwiesen, insbesondere sollte allen ein Zugang zu palliativmedizinischer Versorgung ermöglicht werden.40 Allerdings sei unter Umständen schwer feststellbar, ob der Entschluss eines Suizidwilligen, sein Leben mit Hilfe eines Dritten zu beenden, auf einer freien Selbstbestimmung beruhe, dies rechtfertige aber nicht ein ausnahmsloses Verbot jeglicher Hilfeleistung zur Selbsttötung.41 Das ausnahmslose Verbot der Hilfeleistung gemäß § 78 StGB verstoße gegen das aus der Bundesverfassung ableitbare Recht auf Selbstbestimmung.42 Die grundrechtlichen Bedenken der Antragsteller bezüglich der ersten Tatbestandsvariante („Verleitung zur Selbsttötung“) werden vom VfGH entkräftet. Er verweist darauf, dass bei einer Verleitung zum Suizid die Entscheidung nicht frei und unbeeinflusst getroffen werde. Auch liege keine Verletzung des Determinierungsgebots gemäß Art. 18 B-VG vor. Der Tatbestand des „Verleitens“ weise notwendigerweise eine bestimmte Offenheit auf, sei aber im Hinblick auf die dazu ergangene Rechtsprechung konkretisierbar.43 Abschließend hält der VfGH fest, dass die zur Aufhebung des § 78 StGB, zweite Handlungsalternative, getroffenen Erwägungen, „nicht ohne Weiteres auf die Frage der Verfassungsgemäßheit des – nicht zulässigerweise angefochtenen – § 77 StGB übertragbar sind, weil sich diese Bestimmung in wesentlichen Belangen von § 78 zweiter Tatbestand StGB unterscheidet“44. Die vom VfGH eingeräumte Übergangsfrist bis zum Außerkrafttreten von § 78 StGB, zweite Tatbestandsvariante, sollte auch dazu dienen, den rechtlichen Umgang mit einem Sterben in Würde breit zu diskutieren. Es fand aber nur ein eingeschränk38

Rz. 85. Rz. 89. 40 Rz. 102. 41 Rz. 103. 42 Rz. 104. 43 Rz. 109 – 112. 44 Rz. 115. 39

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ter Diskurs statt, den Birklbauer sarkastisch folgendermaßen zusammenfasst: „Nach anfänglichen Versuchen, in einem ,Dialogforum Sterbehilfe‘ mit ausgewählten Expert*innen und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft eine grundlegende Diskussion anzustoßen, gab es nur mehr ,Geheimgespräche mit Auserwählten‘, die letztlich in einen Ministerialentwurf mündeten, mit einer Begutachtungsfrist von lediglich drei(!) Wochen“.45 Die Beschlussfassung des „Bundesverfassungsgesetz, mit dem ein Sterbeverfügungsgesetz erlassen wird“ sowie das Suchtmittelgesetz und das Strafgesetz geändert werden, wurde am 16. 12. 2021 vom Nationalrat verabschiedet, am 22. 12. 2021 beschloss der Bundesrat keinen Einspruch zu erheben, die Neufassung trat am 1. 1. 2022 in Kraft.46 Das Erkenntnis ist eine Kehrtwende zum VfGH-Erkenntnis aus 2016 und eröffnet einige Liberalisierungsschritte. Bemerkenswerterweise hatte das deutsche Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 26. 2. 202047 bereits Weichenstellungen vorgenommen, indem er das Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung (§ 217 StGB)48 für verfassungswidrig und nichtig erklärte. Abgeleitet wird das Recht auf selbstbestimmtes Sterben aus der Würdebestimmung des Art. 2 Abs. 1 GG und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG. Danach umfasse das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Ausdruck persönlicher Autonomie auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben und erstrecke sich auch auf die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen oder in Anspruch zu nehmen.49 Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben sei unmittelbarer Ausdruck der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung, „sie ist, wenngleich letzter, Ausdruck von Würde“.50 Der VfGH referenziert nicht ausdrücklich auf dieses Urteil, doch ist eine inhaltliche Beeinflussung zu Selbstbestimmung und Autonomie nur schwer von der Hand zu weisen. Keinen Eingang fanden jedoch die Ausführungen des deutschen Gerichts, wonach das Recht zur Selbsttötung „nicht auf fremddefinierte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte 45

Birklbauer, Ausgewählte Aspekte (Anm. 8), S. 212. BGBl I 42/2021. 47 2 BvR2347/15 u. a., vgl. Michael Lysander Fremuth, Le temps qui reste – Eine rechtsvergleichende Betrachtung der verfassungsrechtlichen Entscheidungen zur Suizidassistenz in Deutschland und Österreich, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 76 (2021), S. 841 – 913, hier S. 863 – 888 („Die Entscheidungen der BVerfG und des VfGH zur Suizidassistenz – ein bewertender Vergleich“); Michael Germann, Das Recht auf den eigenen Tod. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2010. Zum Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, in: Kristina Kuhnbaum-Schmidt (Hrsg.), Streitsache assistierter Suizid. Perspektiven christlichen Handelns, Leipzig 2022, S. 15 – 45; Benjamin Kneihs, Drei Mal Sterbehilfe (Anm. 24), S. 427 – 431. 48 Am 6. November 2015 beschloss der Bundestag das Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, BGBl. I, S. 2177; vgl. die engagierte Kritik von Elisa Hoven, Für eine freie Entscheidung über den eigenen Tod. Ein Nachruf auf die straflose Suizidbeihilfe, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtdogmatik 2016, S. 1 – 9. 49 Rz. 208. 50 Rz. 211. 46

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Lebens- und Krankheitsphasen“ beschränkt ist, sondern in jeder Phase menschlicher Existenz besteht“.51 Auch entziehe sich die Selbsttötungsentscheidung des Einzelnen einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit.52 IV. 1. Sterbeverfügungsgesetz und Novellierung von § 78 StGB Der rechtlich mögliche Weg einer völligen Straffreiheit jeglicher Beihilfe wurde nicht beschritten, sondern an den Erwägungen des VfGH angeknüpft. Diese Vorgaben betrafen – auf der Folie von freier Selbstbestimmung und Würde – die Berücksichtigung des Schutzes vulnerabler Personen, Vorkehrungen zur Gewährleistung eines freien selbstbestimmten Willensentschlusses und Maßnahmen zur Vermeidung eines Klimas, in dem sich Menschen aus Nützlichkeitserwägungen zu einem Suizid gedrängt fühlen. Das StVfG53 legt einen gesicherten Rahmen fest, um legal an ein letales Präparat54 zu gelangen und bringt auch Hilfe leistenden Personen, insbesondere Angehörigen und Pflegekräften eine gewisse Sicherheit vor einer allfälligen Strafverfolgung nach dem geänderten § 78 Abs. 2 StGB.55 § 1 Abs. 1 hält programmatisch fest, dass das StVfG Voraussetzungen von Strafverfügungen zum Nachweis eines dauerhaften, freien und selbstbestimmten Entschlusses zur Selbsttötung regelt. Abs. 2 normiert, dass eine Sterbeverfügung nur 51

Rz. 210. Rz. 210. 53 Vgl. die konzise Analyse von Matthias Neumayr/Reinhard Resch, Bundesgesetz über die Errichtung von Sterbeverfügungen (Sterbeverfügungsgesetz – StVfG), in: dies. (Hrsg.), Gmundner Kommentar zum Gesundheitsrecht, Wien 22022, S. 2993 – 3023; vgl. weiters Dietmar Dokalik/Caroline Mokrejs-Weinhappel/Brigitte Rom, Die Errichtung einer Sterbeverfügung und der neue Tatbestand des § 78 StGB, in: Österreichische Juristen-Zeitung 2022, S. 161 – 167; Michael Halmich, Sterbeverfügungsgesetz, Wien 2022; Peter Lewisch, Quo vadis „strafbare Suizidhilfe“? Vom VfGH-Erk zur Neuregelung, in: Österreichische JuristenZeitung 2021, S. 979 – 987 und die Zusammenfassung bei Gloria Burda, Rechtsrahmen zur Suizidassistenz: Das neue Sterbeverfügungsgesetz ab. 1. 1. 2022, in: Österreichische Gesellschaft für Recht und Ethik in der Notfall- und Katastrophenmedizin (Hrsg.), Selbstbestimmung in Grenzsituationen, Wien 2022, S. 93 – 102; Ulrich Pesendorfer, Die neue Sterbeverfügung im Überblick, in: Interdisziplinäre Familienzeitschrift 2021, S. 316 – 318; Alexander Tipold, Mitwirkung am Selbstmord, Sterbeverfügungsgesetz, Kronzeugenregelung und unbare Zahlungsmittel, in: Journal für Strafrecht 9 (2022), S. 5 – 11, hier S. 5 – 9; spezifisch zu den strafrechtlichen Risiken einer ärztlichen Suizidbegleitung vgl. Alois Birklbauer, Ärztliche Unterstützung beim Suizid. Strafrechtliche Risiken nach der Neuregelung, in: Reinhard Resch (Hrsg.), FS Felix Wallner (65), Wien 2022, S. 11 – 27. 54 Derzeit steht nur Natrium-Phenobarbital zur Verfügung, vgl. die Sterbeverfügungs-Präparate-Verordnung, vom 17. 1. 2022, BGBl II Nr. 16. 55 EB RV 1177 BlgNR 27. GP, S. 7. 52

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von sterbewilligen Personen errichtet werden kann, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich oder die österreichische Staatsbürgerschaft haben. In einer Sterbeverfügung ist der Entschluss der sterbewilligen Person festzuhalten, ihr Leben selbst zu beenden. Die sterbewillige Person muss darin ausdrücklich erklären, dass der Suizidbeschluss frei und selbstbestimmt nach ausführlicher Aufklärung gefasst wurde (§ 5 Abs. 1). Fakultativ können in der Sterbeverfügung auch hilfeleistende Personen angegeben werden, mit der Konsequenz (§ 5 Abs. 2), dass sie das letale Pharmazeutikum in der Apotheke abholen können (§ 11 Abs. 1). Die sterbewillige Person muss sowohl im Zeitpunkt der Aufklärung als auch im Zeitpunkt der Errichtung volljährig und entscheidungsfähig sein (§ 6 Abs. 1). Ausdrücklich verweist der Gesetzgeber für das Vorliegen eines freien und selbstbestimmten Entschlusses auf die Freiheit von Willensmängeln und von Beeinflussung durch Dritte (§ 6 Abs. 2). Neben den Voraussetzungen der Volljährigkeit, der Entscheidungsfähigkeit und der freien selbstbestimmten Entscheidung wird zur Wirksamkeit der Verfügung verlangt, dass die sterbewillige Person an einer unheilbaren, zum Tode führenden Krankheit (§ 120 Z 1 ASVG) oder an einer schweren, dauerhaften Krankheit (§ 120 z 1 ASVG) mit anhaltenden Symptomen leidet, deren Folgen die betreffende Person in ihrer gesamten Lebensführung beeinträchtigen. Weiters muss die Krankheit einen für die Person nicht anders abwendbaren Leidenszustand mit sich bringen (§ 6 Abs. 39). Bezüglich des Krankheitsbegriffs wird auf § 117 Z 2 ASVG verwiesen und umfasst einen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand, der die Krankenbehandlung notwendig macht. „Krankheit ist … als Störung der Lebensvorgänge in Organen oder im gesamten Organismus mit der Folge von subjektiv empfundenen und/oder objektiv feststellbaren körperlichen, geistigen oder seelischen Veränderungen zu definieren und umfasst auch Unfallfolgen. Dabei wird es sich oftmals um eine medizinische Notlage handeln, die mit schweren Leiden, insbesondere mit starken Schmerzen, verbunden ist.“56 Um einen freien und selbstbestimmten Willensentschluss sicherzustellen, hat zur Wirksamkeit eine Aufklärung der sterbewilligen Person über Konsequenzen und Alternativen durch zwei ärztliche Personen, von denen eine palliativ medizinisch qualifiziert sein muss, voranzugehen. Wenn sich im Rahmen der Aufklärung ein Hinweis ergibt, dass bei der sterbewilligen Person eine krankheitswertige psychische Störung, deren Folge der Sterbewunsch sein könnte, vorliegt, bedarf es einer Abklärung samt Beratung durch einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin oder einen klinischen Psychologen57, bevor der Arzt eine Bestätigung über die Entscheidungsfähigkeit ausstellen darf (§ 7).

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Ebda., S.10. Abzulehnen ist die verschiedentlich vertretene „Krankheitsthese“, wonach alle Selbsttötungen letztlich durch psychische Störungen oder Erkrankungen (mit)verursacht werden, vgl. hiezu Johann S. Ach, Autonomer Suizid?, in: Preprints of the Center for Advanced Study in Bioethics, Münster 2011, S. 1 – 16, hier S. 7. 57

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Die Sterbeverfügung muss schriftlich vor einem Notar oder einem rechtskundigen Mitarbeiter einer krankenanstaltenrechtlichen Patientenvertretung errichtet werden, und zwar frühestens zwölf Wochen nach der ersten Aufklärung. Eine Verkürzung dieser „Bedenkfrist“ ist möglich, wenn der Arzt bestätigt, dass der Sterbewillige an einer unheilbaren, zum Tod führenden Erkrankung leidet und in die terminale Phase58 eingetreten ist. Die Mitwirkung an der Durchführung von Maßnahmen, die zur Beendigung des Lebens eines anderen führen können, kann nur freiwillig erfolgen, keine natürliche oder juristische Person ist zur Hilfeleistung verpflichtet (§ 2 Abs. 1). Daran schließt nach dem Vorbild des § 6 FMedG und des § 97 Abs. 2 StGB ein allgemeines Benachteiligungsverbot. Diese Gewissensklausel untersagt jegliche Benachteiligung aus einer Hilfeleistung59, der Durchführung einer ärztlichen Aufklärung, oder der Mitwirkung an der Errichtung einer Sterbeverfügung oder aus der Weigerung zur Erbringung derartiger Leistungen (§ 2 Abs. 2). Regelungen über die Dokumentation und Sterbeverfügungsregister (§ 8), der Abgabe des letalen Präparats durch öffentliche Apotheken (§ 11)60 und einem Verbot, mit der Hilfeleistung zu werben sowie dem Verbot, sich für das Angebot und die Durchführung der Suizidbeihilfe wirtschaftliche Vorteile versprechen zu lassen (§ 13) vervollständigen den gesetzlichen Rahmen. Resümierend ist festzuhalten, dass das StVfG nicht zu überzeugen vermag. Detailregelungen stießen auf fundierte Kritik61, unübersehbar auch Fragen der Verfassungskonformität. So entspricht etwa die Begrenzung zulässiger Suizidassistenz auf schwer Kranke wohl kaum den Vorgaben des VfGH bezüglich der umfassenden freien Selbstbestimmung und Autonomie. Zutreffend führen Matthias Neumayr und Reinhard Resch in einer ersten Bewertung aus, dass sterbewillige Personen diese „aufwändige Prozedur“ wohl vermeiden und zu anderen Möglichkeiten der Selbsttötung greifen werden, „das technokratisch anmutende Prozedere ist wenig an die typische Lebenssituation einer moribunden sterbewilligen Person angepasst“62. Nachvollziehbar sieht Karl Weber im Entwurf – bezüglich der in Kraft gesetzten Gesetzesfassung fanden nur minimale Änderungen statt – die Absicht, „Sterbeverfü58 „Terminale Phase“ liegt vor, wenn die Krankheit ein Stadium erreicht hat, in dem sie nach medizinischem Ermessen voraussichtlich innerhalb von sechs Monaten zum Tod führen wird (§ 3 Z. 8). 59 „Hilfeleistung“ umfasst die physische Unterstützung der strebewilligen Person bei der Durchführung lebensbeendender Maßnahmen (§ 3 Z. 4). 60 § 7 Abs. 1a Suchtmittelgesetz: „Apotheken dürfen Präparate gemäß § 3 Z 9 Sterbeverfügungsgesetz (StVfG), BGBl. I Nr. 242/2021 nach Maßgabe des § 11 StVfG abgeben; vgl. Alois Birklbauer, Bundesgesetz über Suchtgifte, psychotrope Stoffe und Drogenausgangsstoffe (Suchtmittelgesetz – SMG), in: Matthias Neumayr/Reinhard Resch (Hrsg.), Gmundner Kommentar zum Gesundheitsrecht (Anm. 53), S. 2505 – 2582, hier S. 2514 f. 61 Hier, Anm. 53. 62 Neumayr/Resch, Bundesgesetz über die Errichtung von Sterbeverfügungen (Anm. 53), S. 3000.

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gungen möglichst zu verhindern oder mit erheblichen Schwierigkeiten aufzuladen“63. In der strafrechtlichen Neuregelung des § 78 StGB i. d. F. BGBl I 242/202164 wurde gegenüber der Vorversion65 in der Überschrift die Terminologie verändert und die moralisch negativ konnotierte Wendung „Selbstmord“ – durch den neutralen Begriff „Selbsttötung“ ersetzt. Die Variante des verbotenen Verleitens66 zur Selbsttötung wurde in Abs. 1 unverändert übernommen, in Abs. 2 wurde die Hilfeleistung auf die physische Hilfeleitung begrenzt. Damit scheidet eine Begehung durch Unterlassen aus. Zutreffend merkt Birklbauer an, dass die Anforderungen an eine physische Unterstützung immer noch gering sind, „weil etwa Boten- oder Taxidienste, die einem anderen die Selbsttötung ermöglichen oder zumindest erleichtern, weiterhin der Strafbarkeit unterliegen“67. § 78 Abs. 2 Z. 1 kriminalisiert psychische Hilfeleistung gegenüber einem Minderjährigen, Z. 2 die Suizidassistenz bei einem verwerflichen Beweggrund68. Z. 3 verbindet die strafbare Suizidassistenz mit der Sterbeverfügung, indem die Strafbarkeit direkt mit der fehlenden Krankheit nach § 6 Abs. 3 StVfG bzw. der fehlenden ausreichenden ärztlichen Aufklärung im Rahmen der Errichtung einer Sterbeverfügung nach § 7 StVfG korreliert wird. 63 Karl Weber, Das Sterbeverfügungsgesetz: Der Ministerialentwurf, in: Angelika Feuchter/Ulrich Körtner/Rudolf Likar/Herbert Watzke/Dietmar Weixler (Hrsg.), Assistierter Suizid. Hintergründe, Spannungsfelder und Entwicklungen, Berlin 2022, S. 11 – 18, hier S. 18. 64 Mitwirkung an der Selbsttötung (1) Wer eine andere Person dazu verleitet, sich selbst zu töten, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen. (2) Ebenso ist zu bestrafen, wer 1. einer minderjährigen Person, 2. einer Person aus einem verwerflichen Beweggrund oder 3. einer Person, die nicht an einer Krankheit im Sinne des § 6 Abs. 3 des Sterbeverfügungsgesetzes (StVfG), BGBl. I Nr. 242/2021, leidet oder die nicht gemäß § 7 StVfG ärztlich aufgeklärt wurde, dazu physisch Hilfe leistet, sich selbst zu töten. 65 § 78: Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen (BGBl. Nr. 60/1974); Vgl. dazu Birklbauer, Ausgewählte Aspekte (Anm. 8), S. 212 – 220. 66 „Verleiten“ entspricht dem „Bestimmen“ i. S. d. § 12, 2. Fall StGB, Es ist keine subtile Vorgangsweise erforderlich, aber es muss aktiv auf den anderen eingewirkt werden; Alois Birklbauer/Johanna Lehmkuhl/Alexander Tipold, Strafrecht Besonderer Teil I, Wien 62022, S. 51; Birklbauer, Wiener Kommentar (Anm. 8), § 78 Rz 47. 67 Birklbauer, Ausgewählte Aspekte (Anm. 8), S. 213; So ist die Suizidbegleitung in die Schweiz nur straflos, sofern „der sterbewillige keine physische Unterstützung benötigt, um in die Schweiz gelangen zu können“. 68 EB: „Darunter sollen – wie im Kontext des § 71 StGB, der dieses Tatbestandsmerkmal bereits kennt – Beweggründe zu verstehen sein, aus denen über bloße menschliche Schwächen und Untugenden hinaus, eine ausgeprägt asoziale Gesinnung zum Ausdruck kommt, die in der Einzeltat sichtbar wird. Als Beispiele sind Grausamkeit, Rachsucht oder ausgeprägtes Gewinnstreben zu nennen.“

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V. Stellungnahmen – Selbstverständnis von Religionsgemeinschaften Stellungnahmen zum „Bundesgesetz, mit dem ein Sterbeverfügungsgesetz erlassen und das Suchtmittelgesetz sowie das Strafgesetzbuch geändert werden“, wurden seitens der Österreichischen Bischofskonferenz, der Evangelischen Kirche in Österreich und aus dem Bereich des Islams von der IMÖ, der „Initiative Muslimischer ÖsterreicherInnen“ eingebracht. 1. Katholische Kirche69 : Wirkmächtig für die Theologie des Mittelalters wurde die Stellungnahme von Augustinus, der den Suizid mit dem Verweis auf das biblische Tötungsverbot scharf verurteilte, Ausnahmen aber im Falle eines göttlichen Befehls zulässt. Die Ablehnung des Suizids in der moraltheologischen Tradition und in lehramtlichen Stellungnahmen basierten in der weiteren Entwicklung wesentlich auf der Moraltheologie des Thomas von Aquin, der drei Erwägungen gegen den Suizid benannte: Gott allein komme das Recht zu, über Tod und Leben zu entscheiden (1), Suizid sei ein Verstoß gegen die natürliche Selbsterhaltung (2) und ein Unrecht gegenüber der Gemeinschaft (3). Gemäß CIC 1917 waren noch jene, „qui se ipsi occciderint in deliberato consilio“ vom kirchlichen Begräbnis ausgeschlossen, im CIC 1983 wird der „Selbstmörder“ nicht mehr eigens genannt, was mit einer differenzierteren Beurteilung der Selbsttötung und einem gewandelten Begräbnisverständnis in Verbindung gebracht werden kann. Can. 1184 § 1 sieht ein Begräbnisverweigerungsrecht für öffentliche Sünder, denen das kirchliche Begräbnis nicht ohne öffentliches Ärgernis bei den Gläubigen gewährt werden kann, vor.70 Ungeachtet differenzierter moraltheologischer Diskurse sind die lehramtlichen Aussagen eindeutig und unmissverständlich: „Ein Recht auf selbstbestimmtes Ster69 Frank-Michael Kuhlemann, Suizid II. Kirchengeschichtlich, in: RGG4, 7. Bd., Sp. 1851 f.; Adrian Holderegger, Suizid III. Theologisch-ethisch, in: LThK3, 9. Bd., Sp. 1103 f.; Karl Golser, Ehrfurcht vor dem Leben an seinem Ende. Argumentation katholischer Moraltheologie, in: Ulrich H. J. Körtner/Günter Virt/Franz Haslinger/Dietrich von Engelhardt (Hrsg.), Lebensanfang und Lebensende in den Weltreligionen. Beiträge zu einer interkulturellen Medizinethik, Neukirchen-Vluyn 2006, S. 51 – 69; Hartmut Kreß, Ärztlich assistierter Suizid. Das Grundrecht von Patienten auf Selbstbestimmung und die Sicht von Religionen und Kirchen – ein unaufhebbarer Gegensatz?, in: Stefan Huster/Hans-Martin Sass/ Jochen Vollmann/Michael Zenz (Hrsg.), Medizinethische Materialien, 192, Bochum 2021, S. 1 – 34; Wilhelm Rees, Selbstmord – Katholisch, in: LKRR, 4. Bd., S. 167 f. 70 Vgl. Heinrich J. F. Reinhardt, Das kirchliche Begräbnis, in: HdbKathKR3, 1437 – 1441, hier S. 1438; Stefan Schima, Die rechtliche Entwicklung des Bestattungswesens im Spannungsfeld zwischen Kirche und Staat. Das Tauziehen um das Suizidantenbegräbnis und der Konflikt um die Feuerbestattung, in: Wolfgang Hameter/Meta Niederkorn-Bruck/Martin Scheutz (Hrsg.), Freund Hein? Tod und Ritual in der Geschichte, Innsbruck/Wien/Bozen 2007, S. 135 – 156; Karoline Weiler, Die Beurteilung der Selbsttötung unter besonderer Berücksichtigung kirchenrechtlicher Regelungen, Hamburg 2013.

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ben gibt es nicht“71. Illustrativ etwa die „Erklärung zu Euthanasie“ der Glaubenskongregation vom 4. Mai 1980, welche die thomasische Tradition widerspiegelt: „Der Freitod oder Selbstmord ist daher ebenso wie der Mord nicht zu rechtfertigen, denn ein solches Tun des Menschen bedeutet die Zurückweisung der Oberherrschaft Gottes und seiner liebenden Vorsehung. Selbstmord ist ferner oft die Verweigerung der Selbstliebe, die Verleugnung des Naturinstinkts zum Leben, eine Flucht vor den Pflichten der Gerechtigkeit und der Liebe, die den Nächsten, den verschiedenen Gemeinschaften oder auch der ganzen menschlichen Gesellschaft geschuldet werden, wenn auch zuweilen, wie alle wissen, seelische Verfassungen zugrunde liegen, welche die Schuldhaftigkeit mindern oder auch ganz aufheben.“72 Gemäß dieser rigorosen Auffassung ist für die Österreichische Bischofskonferenz die Legalisierung der Suizidbeihilfe „Teil eines schleichenden Kulturbruchs, der sich der Illusion einer totalen ,Machbarkeit‘ des Lebens verschrieben hat“, „jede Form von Mangel, Beeinträchtigung, Leiderfahrung und Krankheit wird als nicht zu duldendes Versagen gewertet“. Besonders besorgniserregend sei eine gefährliche Werteverschiebung in unserem Sprachgebrauch, wenn im aktuellen Diskurs von einem „Sterben in Würde“ die Rede sei, das scheinbar alternativlos nur durch eine Selbsttötung möglich sein soll. Diese manipulative Rede verkenne nicht nur die Tatsache, dass jeder Suizid eine menschliche Tragödie bleibe. Sie tue auch all jenen Unrecht, die bisher menschenwürdiges Sterben durch eine verlässliche und achtsame Begleitung ermöglicht haben und dies auch in Zukunft tun werden – sei es im familiären Umfeld, in Krankenhäusern, in den Hospizeinrichtungen oder in den vielen Pflegeund Wohnheimen des Landes.73 In der Stellungnahme wird weiters ausgeführt, dass in Österreich ein breiter gesellschaftlicher und politischer Konsens bestehe, wonach das menschliche Leben bis zu seinem natürlichen Ende zu schützen und das Recht auf Leben vor Infragestellung durch wen auch immer zu bewahren sei. Diesem Konsens sei mit der Aufhebung der Beihilfe zum Suizid gemäß § 78 StGB, zweiter Fall, widersprochen worden: „Die 71 Stephan Goertz, Die Würde des Menschen und die „Heiligkeit des Lebens“. Über das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben, in: Herder Korrespondenz 2020, S. 24 – 27. 72 Golser, Ehrfurcht vor dem Leben (Anm. 69), S. 56; Vgl. auch den „Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2280 f.: „Selbstmord: 2280 Jeder ist vor Gott für sein Leben verantwortlich. Gott hat es ihm geschenkt. Gott ist und bleibt der höchste Herr des Lebens. Wir sind verpflichtet, es dankbar entgegenzunehmen und es zu seiner Ehre und zum Heil unserer Seele zu bewahren. Wir sind nur Verwalter, nicht Eigentümer des Lebens, das Gott uns anvertraut hat. Wir dürfen darüber nicht verfügen. 2281 Der Selbstmord widerspricht der natürlichen Neigung des Menschen, sein Leben zu bewahren und zu erhalten. Er ist eine schwere Verfehlung gegen die rechte Eigenliebe. Selbstmord verstößt auch gegen die Nächstenliebe, denn er zerreißt zu Unrecht die Bande der Solidarität mit der Familie, der Nation und der Menschheit, denen wir immer verpflichtet sind. Der Selbstmord widerspricht zudem der Liebe zum lebendigen Gott.“ 73 Presseerklärung der Herbstvollversammlung der Österreichischen Bischofskonferenz, 8. bis 11. November 2021 – Wien, https://www.bischofskonferenz.at/2021/presseerklaerungenzur-herbstvollversammlung-2021 [Zugriff: 17. 12. 2022].

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Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs ist deshalb ein kultureller Dammbruch, dessen langfristige Auswirkungen noch in keiner Weise absehbar sind. Das bisherige generelle Verbot der Beihilfe zum Suizid war ein wirksamer Schutz vulnerabler Personengruppen vor gesellschaftlichem und privatem Druck, sich für einen Suizid zu entscheiden, und sicherte auf diese Weise deren Freiheit und Autonomie. Die Aufhebung der Strafbarkeit der Hilfeleistung zum Suizid ist daher gleichbedeutend mit der Beeinträchtigung des Schutzes und einem Verlust von Freiheit vulnerabler Personen“. Die Bischofskonferenz beharrt daher, dass die generelle Zurückweisung der Suizidassistenz uneingeschränkt aufrecht zu bleiben habe. Die geäußerte Suizidabsicht sei in der Regel als Hilferuf nach menschlicher Zuwendung, nach seelischem Beistand oder nach ärztlicher Schmerzmilderung zu verstehen, notwendig sei der Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung und eine dafür notwendige gesicherte Finanzierung für eine Assistenz zum Leben. Die Bischofskonferenz plädiert auch für eine verfassungsrechtliche Absicherung des Verbots der Tötung auf Verlangen (§ 77 StGB), denn es sei nicht auszuschließen, dass der VfGH in einem etwaigen zukünftigen Verfahren zu dem Ergebnis gelangen könnte, „dass auch das Verbot der Tötung auf Verlangen gegen das sogenannte ,Recht auf freie Selbstbestimmung‘ verstößt und damit verfassungsrechtlich nicht haltbar ist“.74 2. Evangelische Kirche:75 Bereits Martin Luther, wenn auch noch durchaus in der rigorosen christlichen Tradition der Suizidverwerfung verankert, eröffnete mit seiner Differenzierung von Suizid als satanischer Verursachung und der persönlichen Not des Suizidenten einen Ausgangspunkt für differenzierte Stellungnahmen im Protestantismus. So ist „eine im Sinne eines strikten Verbots des Suizids … evangelischer Ethik nicht möglich“76, „zwar gibt es ein elementares Recht auf Leben, jedoch keine Pflicht zum Leben“, demzufolge ist es „unethisch, Menschen gegen ihren erklärten Willen zum Weiter-

74 Stellungnahme: https://www.bischofskonferenz.at/dI/oqNIJmoJkKMmJqx4KJKJKJKLm Knk/2021_11_12_BMJ_Sterbeverf_gungsgesetz_Stellungnahme_pdf. 75 Kuhlemann, Suizid II. Kirchengeschichtlich (Anm. 69), Sp. 1851 f.; Kreß, Ärztlich assistierter Suizid (Anm. 69), S. 12 – 14; Eberhard Pausch, Selbstmord-Evangelisch, in: LKRR, 4. Bd., S. 168 f.; Thomas K. Kuhn, Suizid III. Kirchliche Praxis und Stellungnahmen, in: RGG4, 7. Bd., Sp. 1852 f.; Eine ebenso rigorose Sichtweise prägt die jüdische Tradition, in der, verpflichtet der Auffassung des Lebens als unveräußerliche Gabe Gottes, Selbsttötung und Sterbehilfe als unzulässig bewertet werden, vgl. Yves Nordmann, Das Ende menschlichen Lebens. Aspekte der jüdischen Medizinethik, in: Virt/Haslinger/Engelhardt (Hrsg.), Lebensanfang und Lebensende in den Weltreligionen (Anm. 69), S. 19 – 33; ders., Sterbehilfe aus der Sicht der jüdischen Medizinethik, in: Michael Anderheiden/Wolfgang Uwe Eckart (Hrsg.), Handbuch Sterben und Menschenwürde 1. Bd., Berlin 2012, S. 307 – 316. 76 Martin Honecker, Grundriß der Sozialethik, Berlin 1995, zitiert nach Pausch, Selbstmord-Evangelisch (Anm. 75), S. 168.

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leben zu zwingen“77. Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts schafften die evangelischen Landeskirchen eine Begräbnisuntersagung für Selbsttötung ab, manche Landesordnungen stellten auch ausdrücklich fest, dass die Todesumstände, insbesondere ein Selbstmord, kein Anlass gegen eine kirchliche Bestattung geben dürfen.78 In der Stellungnahme des Evangelischen Oberkirchenrat A. und HB. wird die Grundhaltung der Evangelischen Kirche zum assistierten Suizid erläutert79. Danach dürfe der assistierte Suizid nicht zum „gesellschaftlichen Normalfall“ werden. Es sei aber auch evangelische Position, „dass in dramatischen Ausnahmefällen Barmherzigkeit und ein Spielraum für Gewissensentscheidungen gefragt sind und Einzelne, die sich in diesen Ausnahmefällen tragischerweise trotz aller Begleitung nicht für das Leben entscheiden können, nicht allein gelassen werden dürfen“. Die Evangelische Kirche akzeptierte das VfGH-Urteil80 und damit die Aufhebung des ausnahmslosen Verbots des assistierten Suizids und plädiert, davon ausgehend, für eine gesetzliche Regelung, die gewährleiste, dass Menschen in dieser Situation vor Missbrauch und Druckausübung geschützt werden und eine tatsächliche freie Willensbildung sichergestellt wird. Auch die Gewissensfreiheit derjenigen, die um Suizidbeihilfe gefragt werden, sei zu schützen und es müsse eine Absicherung der Bedingungen für eine tatsächliche frei und selbstbestimmte Entscheidung gerade 77 Ulrich H. J. Körtner, Die VfGH-Entscheidung aus ethischer Sicht. Österreichische Kommentare zu Medizinrecht, Medizin- und Bioethik (IERM Working Paper), Nr. 5, Wien 2021, S. 12. 78 Renate Penßel, Bestattung und Friedhöfe, in: Hans Ulrich Anke/Heinrich de Wall/Hans Michael Heinig (Hrsg.), Handbuch des evangelischen Kirchenrechts, Tübingen 2016, § 24 Rz. 45. 79 https://evang.at › wp-content › uploads › 2021/11. 80 Auch die Österreichische Buddhistische Religionsgesellschaft (ÖBR) pflichtete im Rahmen des Dialogforums Sterbehilfe (26. – 30. 4. 2021) der Entscheidung des VfGH zu: „Grundsätzlich begrüßen wir, im Sinne von Eigenverantwortung, die Entscheidung der Straffreistellung von assistiertem Suizid durch den VfGH. Zugleich entsteht durch diesen Schritt eine große Aufgabe, die entsprechenden Rahmenbedingungen durch den Gesetzgeber festzulegen. Diese Verantwortung zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die zu regelnden Agenden in fast keinem Fall naturwissenschaftlich messbare Größen sind, sondern dem weiten Feld der menschlichen Psyche zugeordnet werden müssen … Aus buddhistischer Sicht sollte die oberste Motivation bei der Neufassung dieses Gesetzes sein, bestehendes Leiden zu lindern und aufzulösen und aus den zu erarbeitenden, rechtlich abgesicherten Lösungsansätzen kein neues Leiden entstehen zu lassen. Diese Formel beschreibt zugleich einen zentralen Aspekt der Lehren des Buddha“, https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20210506_ OTS0202/oebr-statement-zu-assistiertem-suizid-dialogforum-sterbehilfe [Zugriff: 17. 12. 2022]; Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Schlussbericht des Dialogforums Sterbehilfe, Wien 2021, S. 38; zur Betonung der Achtsamkeit für das Leben und differenzierte Abwägungen der Selbsttötung, eingebettet in die komplexe Vorstellung von Karma und Wiedergeburt in den buddhistischen Traditionen vgl. Martin Delheye, Buddhismus und Selbsttötung, in: Lambert Schmitthausen/Jan Sobisch (Hrsg.), Weiterbildendes Studium Buddhismus in Geschichte und Gegenwart, 7. Bd. (Grundfragen buddhistischer Ethik), Hamburg 2002, S. 113 – 132; Eva Sabine Saalfrank, Die buddhistischen Entsprechungen der Würde des Menschen, in: Handbuch Sterben und Menschenwürde (Anm. 75), S. 317 – 328.

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im Hinblick auf Rechtssicherheit für unterstützende Personen – Abgrenzung zur Fremdtötung – vorgesehen werden. Es sollte jedoch „keine allzu detaillierte Kasuistik“ entwickelt werden: „Je geregelter der assistierte Suizid ist, desto mehr besteht die Gefahr, dass dieser zum Regelfall wird, und desto mehr erscheint der assistierte Suizid als durch den Staat legitimierter gesellschaftlicher Normalfall“. Wenn die freie Willensbildung sichergestellt sei, „dürfen die rechtlichen Vorgaben nicht so gestaltet sein, dass die Inanspruchnahme des assistierten Suizids de facto unmöglich ist“. Starkes Gewicht wird auf die auch von der evangelischen Diakonie angebotene Palliativversorgung gelegt, diesbezüglich wird ein Rechtsanspruch eingemahnt. 3. Islamische Sichtweisen81: Selbstmord gilt in den islamischen Sichtweisen allgemein als Auflehnung gegen Gott, als verboten, wird als schwere Sünde bewertet. Uneinigkeit besteht, welche Sünde schwerer wiegt, Suizid oder der Mord an einer anderen Person. Unterschiedlich werden auch Selbstmordattentate beurteilt, die Bandbreite reicht von der Subsumierung unter das Selbstmordverbot bis zu „Märtyreroperationen“, „Selbstaufopferungen im Streben nach Gottes Wohlgefallen“ (Sure: 2:207). In der Stellungnahme der Initiative muslimischer ÖsterreicherInnen82 wird festgehalten: „Aus islamischer Sicht ist das menschliche Leben mit allen verfügbaren Mitteln zu schützen. Jede Hilfe zum Suizid wäre analog absolut verboten. Auch die bewusst herbeigeführte Selbsttötung ist im Islam untersagt.“ Positiv bewertet wird der geplante Ausbau der Palliativmedizin und die Förderung der Hospizbewegung. VI. Résumé und Ausblick Die Suizidbeihilfe wird im gesellschaftlichen Diskurs „zwischen grundrechtlichem Schutz und moralischem Tabu“83 weiterverfolgt werden, auch eine weitere Befassung des VfGH ist zu erwarten. Durchaus nachvollziehbar merkt Georges Minois an: „Sollte man in dem schwierigen Wertewandel, dem wir gegenwärtig beiwohnen,

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Patrick Franke/Annika Becker, Selbstmord – Islamisch, in: LKRR, 4. Bd., S. 170 – 172; Merdan Günes, Menschenwürde und würdiges Sterben im Islam, in: Eckart, Handbuch Sterben und Menschenwürde (Anm. 75), 1. Bd., S. 277 – 305; Ilhan Ilkilic, Wann endet das menschliche Leben? Das muslimische Todesverständnis und seine medizinischen Implikationen, in: Körtner/Virt/Haslinger/von Engelhardt, Lebensanfang und Lebensende in den Weltreligionen (Anm. 69), S. 165 – 182; Daniel Schulz, Dürfen Muslime sich selbst töten? Das Suizid-Verbot in der islamischen Theologie und dem islamischen Recht, Marburg 2009. 82 https://www.islaminitiative.at [Zugriff: 17. 12. 2022]. 83 Christian Kopetzki, Suizidbeihilfe zwischen grundrechtlichem Schutz und moralischem Tabu, in: Recht der Medizin 2021, S. 45 (Editorial).

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bei den Debatten, die sich auf die Bioethik polarisieren, nicht auch eine Thanatoethik in Erwägung ziehen?“84 Die wohl komplexeste Frage in dieser Gemengelage betrifft die Abschätzung der gesellschaftlichen Konsequenzen einer Legalisierung von Suizidhilfe oder Tötung auf Verlangen. Dabei geht es z. B. um folgende Aspekte: – Wie wirkt sich die Legalisierung auf besonders vulnerable Gruppen aus (z. B. hochbetagte, sozioökonomisch schwache, geistig oder körperlich behinderte Menschen)? Inwieweit geraten diese Personen unter einen erhöhten gesellschaftlichen Druck, Suizidhilfe oder Tötung auf Verlangen in Anspruch zu nehmen? – Wie wirkt sich die Legalisierung auf die Praxis der Palliative Care aus? Inwieweit wird eine palliative Versorgung bei gleichzeitiger Verfügbarkeit von Suizidhilfe oder Tötung auf Verlangen als zu aufwendig angesehen und werden entsprechende Angebote reduziert? – Wie wirkt sich die Legalisierung auf das Selbstverständnis derjenigen aus, die Suizidhilfe oder Tötung auf Verlangen praktizieren? Soweit es um Gesundheitsberufe geht: Inwieweit wird dadurch das öffentliche Vertrauen in sie verändert? – Wie wirkt sich die Legalisierung auf das Rechtsverständnis in der Bevölkerung aus? Inwieweit würden die Menschen zwischen Straffreistellung (Ausnahme) und Rechtmäßigkeit (Normalität) differenzieren? Inwieweit sind die österreichische Rechtskultur und Rechtspraxis dazu in der Lage, derart differenzierende Gesichtspunkte ordnungsgemäß umzusetzen? Die Schwierigkeit zu diesen Fragen ist darin zu sehen, dass es bislang keine überzeugende Evidenz jenseits von Einzelbefunden gibt, welche die gesellschaftlichen Konsequenzen hinreichend abschätzen ließe.85

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Minois, Geschichte des Selbstmords (Anm. 1), S. 473. Herbert Kalb/Jürgen Wallner, Grundzüge der Rechtsphilosophie, Linz 32021, S. 187 –

Die Ukrainische Griechisch-Katholische Seelsorgestelle St. Markus in Salzburg Historische, kanonistische und pastorale Anmerkungen Gerlinde Katzinger I. Geschichtliche Anmerkungen zur Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche Die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche (UGKK) ist sowohl weltweit gesehen als auch auf den deutschen Sprachraum bezogen die größte aller katholischorientalischen Kirchen.1 Seit 1989 wird die Eigenbezeichnung Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche verwendet.2 In Österreich existieren zurzeit sieben ukrainische griechisch-katholische Seelsorgestellen mit ca. 8.000 Mitgliedern.3 Die Zahl der Mitglieder ist aktuell im Steigen begriffen. Zusätzlich zur Immigration in den vergangenen Jahren ist aktuell der Krieg in der Ukraine, der die Menschen zur Flucht zwingt, als Ursache zu nennen. Die Ursprünge der UGKK gehen auf die Christianisierung der Kiewer Rus, wie das Kiewer Reich auch genannt wird, im 9. und 10. Jahrhundert zurück.4 Der Fall Konstantinopels 1453 und die Gründung des Moskauer Patriarchates 1589 sowie die Ausbreitung der Reformation und Gegenreformation in Polen förderten den Gedanken einer Union von Orthodoxen und Katholiken.5 1596 wurde auf der Synode von Brest die Union ratifiziert. 1

Vgl. Georg Hintzen, Die katholische Kirche, in: Johann-Adam-Möhler-Institut, Kleine Konfessionskunde, Paderborn 4. Auflage 2005, S. 25. 2 Thomas Mark Németh, Eine Kirche nach der Wende. Die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche im Spiegel ihrer synodalen Tätigkeit, Freistadt 2005, S. 2. 3 https://www.katholischeostkirchen.at/unit/katholischeostkirchen/ordinariatderkatholischen [Zugriff: 16. 05. 2022]. 4 Vgl. Karl Amon, § 37 Slawen, Bulgaren, Ungarn, in: Josef Lenzenweger u. a. (Hrsg.), Geschichte der katholischen Kirche, Graz/Wien/Köln 1986, S. 187 – 189. 5 Die kontroversen Diskussionen und Deutungen des Unionsbegriffs können in diesem Beitrag nicht vertieft werden. Vgl. Németh, Kirche nach der Wende, S. 2, S. 221. Vgl. Dmitrij Zlepko, Die ukrainische katholische Kirche – orthodoxer Herkunft, römischer Zugehörigkeit, München 1991, S. 8 f. Johannes Oeldemann, Die Kirchen des christlichen Ostens. Orthodoxe, orientalische und mit Rom unierte Kirchen, Kevelaer 2016, S. 132.

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Mit der Ratifizierung des Unionsbeschlusses war der Wechsel in der Jurisdiktion weg vom Patriarchen von Konstantinopel hin zum römischen Papst verbunden. Trotz des Jurisdiktionswechsels kam es nicht zur Verschmelzung der beiden Kirchen. Die UGKK fühlte sich weiterhin zur Bewahrung des tradierten Ritus und des religiösen Brauchtums verpflichtet. Auf der Basis der ostkirchlichen Ekklesiologie wurde die Entwicklung der ukrainischen Kirche hin zu einer ecclesia particularis sui iuris in Gang gesetzt – ein langwieriger und herausfordernder Prozess. Der Jurisdiktionswechsel förderte die Angst von vielen Gläubigen, angesichts der Dominanz des römischen Katholizismus die Eigenprägung zu verlieren und vereinnahmt zu werden.6 Auf der Synode von Brest war die ursprüngliche Absicht, eine Kirchengemeinschaft zwischen zwei gleichberechtigten Kirchen herzustellen, nicht realisiert worden, was den Widerstand der orthodoxen Gläubigen hervorrief. Bereits 1620 wurde in Kiew wieder ein eigener orthodoxer Metropolit eingesetzt.7 Die zwangsweise Eingliederung in das Moskauer Patriarchat erfolgte 1686.8 Die Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts bescherten der griechisch-katholischen Kirche, wie die UGKK in der Habsburger Monarchie bezeichnet wurde,9 erhebliche Verluste. Lediglich in der Westukraine, dem ehemaligen Galizien, das 1772 unter habsburgische Herrschaft kam, konnte die griechisch-katholische Kirche weiter bestehen und sowohl in organisatorischen Belangen als auch im Bildungswesen vom Wohlwollen der Habsburger profitieren.10 In der Zwischenkriegszeit zählte die griechisch-katholische Kirche zu den zentralen Institutionen in der Westukraine und konnte das religiöse sowie das gesellschaftliche Leben maßgeblich mitgestalten. Dieser Aufschwung war v. a. Andrej Szepteyckyj zu verdanken, der die griechisch-katholische Kirche von 1901 bis 1944 als Metropolit leitete. Sein Hauptanliegen war die Festigung der ostkirchlichen Identität. Aber auch in karitativen Anliegen, in der Förderung des kirchlichen Bildungswesens

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Zlepko, Ukrainische katholische Kirche. S. 20 f. Vgl. Németh, Kirche nach der Wende, S. 7. 7 Oeldemann, Kirchen des christlichen Ostens, S. 133. Németh, Kirche nach der Wende, S. 7. 8 Zlepko, Ukrainische katholische Kirche, S. 24. Zum Zeitpunkt des Verfassens des Beitrages steht die Abspaltung der ukrainisch-orthodoxen Kirche vom Moskauer Patriarchat im Raum. Begründet wird diese Entscheidung mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und der Unterstützung des Moskauer Patriarchen Kyrill für den russischen Angriff. Vgl. Russland: Moskauer Patriarch gegen Abspaltung der ukrainischen Kirche – religi on.ORF.at [Zugriff: 30. 05. 2022]. 9 Németh, Kirche nach der Wende, S. 2. 10 Ebda, S. 8.

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und der Klöster sowie auf diplomatischem Parkett erwarb Szepteyckyi große Verdienste.11 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Westukraine in die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik eingegliedert. Für die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche bedeutete dies die Zwangseingliederung in die Russisch-orthodoxe Kirche. 1945 wurden alle Bischöfe und zahlreiche Kleriker der UGKK verhaftet. Parallel wurde ein „Initiativausschuss zur Wiedervereinigung der Griechisch-Katholischen Kirche mit der russisch-orthodoxen Kirche“ ins Leben gerufen. Ziel dieses Ausschusses war die Zerschlagung der UGKK.12 Von 8. bis 10. März 1946 fand die sogenannte Lemberger Pseudosynode statt. Diese Synode wird als illegitim betrachtet, weil sie nicht von den Bischöfen der UGKK einberufen wurde. Auf Betreiben der sowjetischen Behörden wurden die Beschlüsse von Brest widerrufen und die zwangsweise Verschmelzung mit der russisch-orthodoxen Kirche beschlossen.13 Die versuchte Auslöschung der UGKK hatte für die Kleriker und Gläubigen Verfolgung, Deportation und ein Abdrängen in den Untergrund zur Folge. Dennoch gelang es der UGKK, im Untergrund neue Strukturen zu schaffen, durch geheime Bischofsweihen die Sukzession zu gewährleisten und unter schwierigsten Bedingungen die Seelsorge im Untergrund zu organisieren.14 Eine Diaspora-Kirche konnte sich v. a. in Kanada und in den USA bilden. Dieser kam eine zentrale Rolle in der Bewahrung des geistlichen, liturgischen und kulturellen Erbes zu.15 Die häufig als zu defensiv empfundene Ostpolitik des Heiligen Stuhles stellte für die UGKK in der Diaspora immer wieder eine Quelle der Enttäuschung dar.16 Der Versuch der zwangsweisen Verschmelzung mit der russisch-orthodoxen Kirche und die Repressionen gegen Mitglieder der UGKK dauerten bis zum Jahr 1988. Trotz der fortgesetzten Unterdrückung gelang es, die Forderung nach Legalisierung der UGKK so überzeugend zu vertreten, dass die sowjetische Behauptung von der Nichtexistenz der UGKK immer unglaubwürdiger wurde.17 11 Taras Bublyk u. a., Zum Licht der Auferstehung durch die Dornen der Katakomben. Untergrundtätigkeit und Legalisierung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche, Lviv 2013, S. 9. Németh, Kirche nach der Wende, S. 9. 12 Vgl. Ivan Hrynioch, Die Zerstörung der Ukrainisch-Katholischen Kirche in der Sowjetunion, in: Ostkirchliche Studien 12 (1963), S. 3 f. 13 Bublyk u. a., Licht der Auferstehung, S. 15 f.; Németh, Kirche nach der Wende, S. 10 f. 14 Zwischen 1945 und 1989 wurden im Untergrund 15 Diözesan- und wahrscheinlich fünf Titularbischöfe unter strengster Geheimhaltung geweiht. Bublyk u. a., Licht der Auferstehung, S. 19 f., S. 36 f. 15 Oeldemann, Kirchen des christlichen Ostens, S. 133. 16 Németh, Kirche nach der Wende, S. 14 f. 17 Ebda, S. 19. Bublyk u. a., Licht der Auferstehung, S. 71.

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Am 4. August 1987 erklärte eine Gruppe von 23 Priestern und zahlreichen Gläubigen unter der Leitung von Bischof Pavlo Vasylyk, sie wolle das Leben im Untergrund beenden und den Glauben in der Öffentlichkeit leben.18 Ein Treffen zwischen Papst Johannes Paul II. und Michail Gorbatschow am 1. Dezember 1989, im Zuge dessen Gorbatschow ein Gesetz über Gewissensfreiheit ankündigte, brachte die Wende. Noch am gleichen Tag wurde die Wiederherstellung der Rechte der UGKK verlautbart, was für die Gemeinden der UGKK die Erlaubnis brachte, sich registrieren zu lassen.19 Übertritte von mehr als 350 Priestern aus der russisch-orthodoxen Kirche zur UGKK hatten Auseinandersetzungen zwischen den Kirchen zur Folge. Ein weiteres Spannungsfeld ergab sich aus den Forderungen der UGKK nach der Rückerstattung von ehemaligem Vermögen. In den folgenden Verhandlungen verfestigte sich bei allen Parteien (Vertreter der UGKK, der russisch-orthodoxen Kirche, des Heiligen Stuhls) der Eindruck, in ihren Anliegen nicht entsprechend wahrgenommen zu werden.20 Letztendlich mussten die Verhandlungen für gescheitert erklärt werden. Mit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine konnte sich die UGKK weiter konsolidieren und einen legalen Status erreichen. Als abschließende Meilensteine auf diesem Weg gelten: Die Rückgabe der St. Georgs-Kathedrale in Lemberg an die UGKK am 19. August 1990, die Wiedererrichtung zahlreicher Männer- und Frauenklöster und die Rückkehr des Oberhauptes der UGKK Patriarch Myroslav Ivan Lubachivskyj am 30. März 1991.21 Die Probleme, mit denen der neue Staat konfrontiert war – Németh nennt hier wirtschaftliche und soziale Instabilität, Korruption, die Ausbildung eines Nationalbewusstseins, etc. – haben auch diesen Prozess beeinflusst und die Aufbauarbeit der UGKK sehr erschwert.22 Dazu kamen zahlreiche innerkirchliche Probleme, wie die heterogene Zusammensetzung des Klerus und das Empfinden, von Seiten des Heiligen Stuhls in der Eigenart zu wenig wahrgenommen zu werden. Der Krieg in der Ukraine bringt die UGKK schwer unter Druck. Aktuell haben Vertreter in mehreren Stellungnahmen den Krieg Russlands mit der Ukraine verurteilt und sich mit dem ukrainischen Staat solidarisiert.23 18 Besonders nachhaltig in diesem Kampf waren die sogenannten „offenen“ Gottesdienste in verschiedenen Orten in der Westukraine. Aus Zusammenkünften von wenigen Gläubigen entwickelten sich in kurzer Zeit Großveranstaltungen. Bublyk u. a., Licht der Auferstehung, S. 73 f. 19 Németh, Kirche nach der Wende, S. 19; Ihor Zawerucha, Orthodox-vatikanische Verhandlungen in Moskau – 300 Registrierungen und 600 Registrierungsanträge in der Westukraine, in: Informationsdienst Osteuropäisches Christentum 2 Nr. 1 (1990), S. 3. 20 Details zu diesen Verhandlungen finden sich bei Németh, Kirche nach der Wende, S. 21. 21 Bublyk u. a., Licht der Auferstehung, S. 81. 22 Németh, Kirche nach der Wende, S. 21 f. 23 Wie gehen ukrainische Kirchen mit dem Krieg um? – DOMRADIO.DE [Zugriff: 30. 06. 2022].

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II. Kanonistische Streiflichter24 Die Gemeinde der UGKK in Salzburg, St. Markus, ist – kanonistisch betrachtet – eine rechtlich unselbständige Seelsorgestelle der griechisch-katholischen Zentralpfarre St. Barbara in Wien. Die Errichtung der Pfarre St. Barbara im Jahr 1784 geht auf Kaiser Joseph II. zurück,25 so wie auch die Bezeichnung „griechisch-katholisch“ als Synonym für byzantinisch aus dem Sprachgebrauch in der österreichischungarischen Monarchie stammt.26 Mit dem Terminus „griechisch-katholisch“, der kein genuin kanonistischer Begriff ist, sondern der staatskirchenrechtlichen Terminologie zur Zeit der Habsburgermonarchie entnommen wurde, konnte sowohl eine Abgrenzung gegenüber der Orthodoxie als auch gegenüber der römisch-katholischen Kirche erreicht werden.27 Die eigenständige Kirchenorganisation ermöglichte eine Abgrenzung zu den katholischen Polen und den orthodoxen Ukrainern und hat maßgeblich zur Ausbildung eines Nationalbewusstseins beigetragen, welches sich v. a. über die Zugehörigkeit zur griechisch-katholischen Kirche definierte. Mit Dekret der Kongregation für die orientalischen Kirchen vom 20. Dezember 1935 wurde die Jurisdiktion für die Pfarre St. Barbara dem Wiener Erzbischof übertragen.28 Der Erzbischof von Lemberg erhielt in diesem Dekret das Recht, dem Erzbischof von Wien für das Amt des Pfarrers drei Kandidaten zu präsentieren. Im Dekret vom 3. Oktober 1945, mit dem dem Wiener Erzbischof alle Vollmachten für die Mitglieder der damals als ruthenisch29 bezeichneten Kirche übertragen worden

24 Dieses Kapitel basiert überwiegend auf den Ausführungen von Helmuth Pree, Zur Rechtsstellung der Ukrainischen Griechisch-katholischen Kirche in Österreich, in: Brigitte Schinkele, u. a. (Hrsg.), Recht Religion Kultur. Festschrift für Richard Potz zum 70. Geburtstag, Wien 2014, S. 663 – 678. 25 Zur Geschichte der Pfarre St. Barbara vgl. Willibald Maria Plöchl, St. Barbara zu Wien. Die Geschichte der griechisch-katholischen Kirche und Zentralpfarre St. Barbara, Wien 1975. 26 Pree, Ukrainische Griechisch-katholische Kirche, S. 664. 27 Maria Theresia hatte mit Resolution vom 28. Juni 1773 für den ungarischen Teil der Monarchie verfügt, dass die griechisch-unierten Gläubigen künftig als griechisch-katholisch zu bezeichnen seien. Carl Gerold Fürst, Zur Frage der Kirchensteuerpflicht von „Griechisch-katholischen“ in Bayern, in: ÖAKR 43 (1994), S. 209 – 224, S. 213 f. Vgl. Wolfdieter Biel, Die Ruthenen, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, Bd. III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, S. 555 – 584. 28 Wiener Diözesanblatt 74 (1936), Nr. 3/4, S. 59 f. Im Konkordat 1933/34 fehlt eine Festlegung der Diözesen des griechisch-katholischen Ritus. Es wurden nur die Diözesen der römisch-katholischen Kirche festgeschrieben. Fürst vermutet, dass diese Festlegung vor dem Hintergrund, dass 1933 die Zentralpfarrei St. Barbara zumindest formal noch dem Erzbischof von Lemberg unterstand, bewusst vermieden wurde. Carl Gerold Fürst, Die Bedeutung des Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium für die ostkirchliche Diaspora, in: ÖAKR 42 (1993), S. 345 – 375, S. 364, S. 368. 29 In der österreichisch-ungarischen Monarchie wurden die Westukrainer als Ruthenen bezeichnet. Sie lebten als Minderheiten in Galizien, Ungarn und der Bukowina.

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waren, wird dieses Vorschlagsrecht nicht mehr erwähnt. Pree und Fürst ziehen daraus den Schluss, dass mit dem Dekret vom 3. Oktober 1945 dieses Recht implizit abgeschafft worden war.30 Ein weiteres Dekret vom 13. Juni 1956 stattete den Wiener Erzbischof mit „iurisdictio ordinaria et exclusiva“ aus, allerdings nicht mehr als Delegat des Heiligen Stuhles, sondern kraft seines Amtes als Ordinarius für alle Gläubigen des byzantinischen Ritus, die sich in Österreich aufhalten. Pree qualifiziert dieses Amt als eigenständiges Kirchenamt mit „potestas ordinaria et exclusiva“, das neben dem des Ordinarius für Wien besteht.31 Die Berufung von Kardinal Christoph Schönborn zum Ordinarius für die Gläubigen des byzantinischen Ritus in Österreich erfolgte mit Dekret der Kongregation für die orientalischen Kirchen vom 9. November 1995.32 Das Vorgängerdekret stammte aus dem Jahr 1987 und wurde inhaltlich übernommen. In der Zwischenzeit, nämlich am 1. Oktober 1991, war der CCEO in Kraft getreten, der die Rechtsgrundlage für die Mitglieder der UGKK darstellt. Als eine Grundsatznorm ist c. 38 CCEO heranzuziehen, welcher festlegt, dass sich für die Mitglieder der UGKK in Österreich trotz der mit Dekret festgelegten Zuständigkeit des lateinischen Ordinarius nichts an der Zugehörigkeit zu ihrer Ecclesia sui iuris ändert. Für orientalische Katholik:innen mit Wohn- oder Nebenwohnsitz in Österreich gilt der CCEO als das von der obersten Autorität erlassene Gesetz (cc. 1, 149). Weiters gilt für sie gemäß c. 150 § 2 CCEO das liturgische Recht ihrer Ecclesia sui iuris, auch wenn es nicht von der obersten Autorität, sondern vom Gesetzgeber ihrer Kirche erlassen wurde. Diese Jurisdiktionsregeln müssen vom lateinischen Ordinarius beachtet werden.33 In Österreich existiert die Praxis, dass jeder neue Erzbischof ein eigenes Ernennungsdekret bekommt, das in der Regel nicht gemeinsam mit der Ernennung zum Erzbischof ausgestellt wird, sondern zu einem späteren Zeitpunkt. Helmuth Pree weist unter Bezugnahme auf Carl Gerold Fürst34 darauf hin, dass aus dieser Praxis keine Rechtsgrundlage für eine dauerhafte Personalunion abgeleitet werden kann. Der Rechtsterminus „munus Ordinarii“, der im Dekret verwendet wird, bezeichnet ein Kirchenamt im technischen Sinn gemäß c. 145 CIC/c. 984 CCEO, das per Dekret bestimmt, übertragen und in seinen Kompetenzen mit einer Generalklausel ausgeVgl. Die großen Unbekannten: Die Ruthenen j Der Erste Weltkrieg (habsburger.net) [Zugriff: 19. 09. 2022]. 30 Pree, Ukrainische Griechisch-katholische Kirche in Österreich, S. 666. Fürst, Bedeutung des Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium, S. 364, S. 369. 31 Pree, Ukrainische Griechisch-katholische Kirche in Österreich, S. 667. 32 Das Dekret ist im Wortlaut abgedruckt bei Pree, Ukrainische Griechisch-katholische Kirche in Österreich, S. 668. 33 Ebda, S. 669. Pree führt noch weitere Gesetzesstellen an, die die weltweite Geltung des liturgischen Rechts einer Ecclesia sui iuris bestätigen: Cc. 17, 40, 657, 674 CCEO. 34 Vgl. Fürst, Bedeutung des Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium, S. 365.

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staltet wird (c. 145 § 2 CIC/c. 936 § 2 CCEO).35 Die Vollmachten eines Ordinarius für die Gläubigen der UGKK setzt Pree auf der Basis der herrschenden Rechtsauslegung mit denen eines Diözesan- bzw. Eparchialbischofs gleich, d. h. er verfügt über potestas legislativa, exsecutiva und iudicialis (vgl. c. 191 CCEO).36 Auf der Basis von c. 150 § 3 CCEO kann der Erzbischof von Wien für die Mitglieder der UGKK in Österreich Gesetze promulgieren und Synodalentscheidungen in Kraft setzen. Partikulargesetze, die er für die Mitglieder der lateinischen Erzdiözese erlässt, gelten nicht für die Mitglieder der UGKK. Es bleiben allerdings einige Fragen offen. Pree stellt fest, dass nicht ersichtlich ist, ob und in welcher Weise der Wiener Erzbischof von seiner Gesetzgebungsbefugnis für die Mitglieder der UGKK Gebrauch macht(e) und auch offen bleibt, welches Promulgationsorgan (vgl. c. 1488) für diesen Fall zum Einsatz kommt. Ebenso lässt das Ernennungsdekret die Frage offen, ob es sich bei seiner Gewalt um potestas ordinaria propria oder vicaria handelt. Für Gläubige wie die Mitglieder der UGKK, die zwei verschiedenen Jurisdiktionen angehören und für die keine abweichenden Regelungen getroffen worden sind, geht Pree von einer kumulativen Jurisdiktion aus. Dies deckt sich auch mit dem Wortlaut der Dekrete von 1987 und 1995, mit denen das Amt des Ordinarius für die Byzantiner dem Wiener Erzbischof mit allen Rechten und Pflichten übertragen wird. Eine exklusive Jurisdiktion – so Pree – hätte ausdrücklich angeordnet werden müssen. Weiters müsste in diesem Fall der Widerspruch zu c. 916 § 5 CCEO geklärt werden.37 Unter die offenen Fragen reiht Pree auch die Anwendbarkeit der Instruktion „Erga migrantes“38 auf die Rechtsverhältnisse der UGKK ein. In der Praxis gelangt Erga migrantes im konkreten Zusammenhang nicht zur Anwendung, die Zentralpfarre genießt aber Gaststatus bei den Versammlungen der fremdsprachigen Seelsorge.39 Im Hinblick auf Pfarrstruktur und Matrikenwesen ist festzuhalten, dass auf der Basis von c. 912 § 1 CCEO i. V. m. c. 916 § 1 CCEO der kirchenrechtliche Wohnsitz der Mitglieder der UGKK in Österreich nicht die lateinische Wohnortpfarre ist, sondern die Zentralpfarre St. Barbara in Wien. Neben Salzburg existieren rechtlich un35

Pree, Ukrainische Griechisch-katholische Kirche in Österreich, S. 671. Vgl. Peter Stockmann, Die Ordinariate für Gläubige eines orientalischen Ritus – ein Rechtsinstitut praeter legem, in: Ulrich Kaiser/Ronny Raith/Peter Stockmann (Hrsg.), Salus animarum suprema lex (FS Max Hopfner zum 70. Geburtstag), Frankfurt am Main u. a. 2007, S. 431 – 448. 36 Pree, Ukrainische Griechisch-katholische Kirche in Österreich, S. 671. 37 Ebda., S. 672 f. 38 Instruktion „Erga migrantes caritas Christi“ des Päpstlichen Rates der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs vom 3. Mai 2004, in: AAS 96 (2004), 762 – 822. Instruktion „Erga migrantes caritas Christi“ (vatican.va). Vgl. Gerlinde Katzinger, Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge in einer globalisierten Welt, in: Konrad Breitsching/Wilhelm Rees (Hrsg.), Recht – Bürge der Freiheit. Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 80. Geburtstag, Berlin 2006, S. 787 – 826, S. 813 f. 39 Pree, Ukrainische Griechisch-katholische Kirche in Österreich, S. 674.

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selbständige Seelsorgestellen in Graz, Innsbruck, Klagenfurt und Linz. Eigenberechtigter Pfarrer ist der Zentralpfarrer, Ordinarius proprius ist der Erzbischof von Wien. Gemäß c. 382 § 2 CIC existiert eine kumulative Zuständigkeit der lateinischen Ortsordinarien. Die Matrikenführung erfolgt ebenfalls in der Zentralpfarre. Sakramentenspendungen durch lateinische Amtsträger werden gemäß cc. 535 i. V. m. c. 877 CIC in den Büchern der Pfarre eingetragen, in der die Sakramente gespendet wurden. Es muss aber immer eine Meldung an die Zentralpfarre gemacht werden.40 Finanziert wird die UGKK in Österreich über die Erzdiözese Wien und die Diözesen, in denen es eine Seelsorge für Mitglieder der UGKK gibt. Weder das Ordinariat noch die Zentralpfarre fungieren als Vermögensträger. Auch das Kirchenbeitragsaufkommen der byzantinischen Katholiken in Österreich wird nicht gesondert erhoben und ausgewiesen. Als Desiderat bleibt eine korrekte Erfassung der entsprechenden Daten, um künftig mehr Verteilungsgerechtigkeit zu erreichen und somit auch über das kirchliche Vermögensrecht die Eigenständigkeit und den Schutz der katholisch-orientalischen Kirchen zu fördern und dauerhaft zu gewährleisten.41 III. Seelsorgestelle St. Markus in Salzburg Die Quellenlage hinsichtlich der Entwicklung der Seelsorgestelle St. Markus in Salzburg ist dünn. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges kann der Beginn der UGKK in Salzburg datiert werden. Der örtliche Ursprung liegt im Lager Lexenfeld in der Schönleitenstraße und dem Lager in der Hellbrunner Straße. In beiden Lagern waren zum Ende des Zweiten Weltkrieges mehrere Tausend griechisch-katholische Flüchtlinge aus der Ukraine, sogenannte „Displaced Persons“, untergebracht. Als Displaced Persons werden Zivilpersonen bezeichnet, die sich aufgrund von Kriegsfolgen außerhalb ihres Heimatlandes aufhalten müssen.42 Von den beiden Lagern in Salzburg existieren keine Dokumente, da diese bei der Auflösung der Lager vernichtet wurden. Zur Situation im Lager Lexenfeld gibt es einen „Almanac of the Ukrainian National Association“. Der ehemalige Lagerbewohner F. Lukijanowytsch43 hat in diesem Werk in ukrainischer Sprache seine Memoiren niedergeschrieben.44 Maria Mykytyn, die Tochter des Pfarrers in St. Markus, 40

Ebda., S. 675 f. Ebda., S. 677 f. 42 Juliane Wetzel, Displaced Persons (DP), in: Historisches Lexikon Bayerns, Onlineausgabe. Displaced Persons (DPs) – Historisches Lexikon Bayerns (historisches-lexikon-bayerns.de) [Zugriff: 27. 09. 2022]. Wolfgang Schellenbacher, Displaced Persons in Österreich, in: Lexikon zur österreichischen Zeitgeschichte, Onlineausgabe. Displaced Persons in Österreich – hdgö (hdgoe.at) [Zugriff: 27. 09. 2022]. 43 Leider ist es nicht gelungen, den vollständigen Vornamen zu eruieren. 44 F. Lukijanowytsch, Ukrajinskij Tabir Leksenfel’d u Zal’cburzi, in: Almanac of the Ukrainian National Association, New York 1996, S. 165 – 110. 41

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hat im Rahmen ihrer Vorwissenschaftlichen Arbeit, die eine Säule der österreichischen Matura darstellt, den Text ins Deutsche übersetzt und diese Memoiren, die als persönliche, emotional aufgeladene Erinnerungen verfasst wurden, auf ihre inhaltliche Relevanz hin untersucht.45 Das Lager Lexenfeld bestand aus 12 Holzbaracken. Die Versorgung mit Strom und Wasser, der Schutz vor Witterungseinflüssen sowie der Zustand der sanitären Anlagen werden in den Memoiren als sehr schlecht beschrieben. Eine stationäre medizinische Versorgung war nicht vorhanden. Aus den vorhandenen Archivalien im Archiv der Erzdiözese Salzburg46 lassen sich ebenfalls nur verhältnismäßig wenige Erkenntnisse gewinnen. Deutlich wird, dass über viele Jahrzehnte der Wunsch nach einer eigenen Kirche vordringliches Anliegen der Gemeinde war. Eine Hauptquelle für die Entwicklung der UGKK in Salzburg sind die Aufzeichnungen von Pfarrer Johannes Daszkowski, der in den Jahren 1951 bis 1996 Seelsorger für die griechisch-katholischen Ukrainer in Salzburg war.47 Aus den Kriegsjahren 1940 – 45 sind im Archiv der Erzdiözese einige Briefe erhalten, aus denen deutlich hervorgeht, wie die Seelsorge für die ukrainischen Kriegsgefangenen erschwert, Zuständigkeiten hin und her geschoben sowie Ernennungen verweigert wurden.48 In den Jahren von 1945 bis 1950 prägten Flüchtlingsströme und das Lagerleben die seelsorglichen Bemühungen. Genaue Zahlen sind nicht bekannt, in den AufzeichIn diesem Beitrag wird ausschließlich die Arbeit von Maria Mykytyn herangezogen. Maria Mykytyn, Die ukrainischen Flüchtlinge in der Nachkriegszeit in Salzburg, Salzburg 2022 (Vorwissenschaftliche Arbeit, ungedruckt). 45 Dies ist im Rahmen der Möglichkeiten einer Vorwissenschaftlichen Arbeit bestens geschehen. 46 AES 12/2 Rd 1 Seelsorge. Seelsorge bei Kriegsgefangenen, Flüchtlingen, Arbeitern, Studenten, Kindern, bei verschiedenen größeren Bauunternehmungen im Gebiete der Erzdiözese. 47 Der langjährige Seelsorger der UGKK in Salzburg, Nikolaj Hornykewycz, hat diese Erinnerungen zusammengefasst und veröffentlicht: Nikolaj Hornykewycz, Die Ukrainisch Griechisch-Katholische Kirche in Salzburg – ein geschichtlicher Umriss, in: Peter L. Hofrichter, Ostkirchliches Christentum in Salzburg, Salzburg 2006, S. 29 – 35. 48 Z. B. Brief vom 10. September 1940 mit der Bitte des Wehrmachtsoberpfarrers Peter Biebel an das Ordinariat, dass die Vorschriften für die Seelsorge an den Kriegsgefangenen in den Arbeitslagern streng eingehalten werden, da sonst für Seelsorger und Kriegsgefangene große Schwierigkeiten zu befürchten seien. Zivilpersonen war es verboten, an den Sondergottesdiensten teilzunehmen. Ukrainische Seelsorger benötigten eine Sonderbewilligung vom Ministerium für kirchliche Angelegenheiten in Berlin. Brief aus der Zentralpfarre St. Barbara an das FeB Ordinariat vom 21. September 1944: Information, dass die Ernennung des Seelsorgers Stephan Roman Tschechowskyj verweigert wurde, weil dem Gauleiter des Reichsgaus Wien die Ernennung eines eigenen Seelsorgers für jeden Gau überflüssig erschien. Gegen diese Entscheidung intervenierte das Ordinariat Salzburg am 16. Oktober in Berlin und bat auch Kardinal Innitzer um Intervention beim Gauleiter. Aus der vorhandenen Korrespondenz ist nicht ersichtlich, wie die Angelegenheit entschieden wurde. AES 12/2 Rd 1 Seelsorge.

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nungen von Johannes Daszkowski ist von einigen tausenden ukrainischen Flüchtlingen die Rede, die in den beiden Lagern in Salzburg Aufnahme fanden. Im Lager Lexenfeld waren 1946 Personen folgender Nationalitäten untergebracht: Ein Ukrainer aus den Karpaten, 34 Bukowiner, 80 – 90 Wolhynier, 300 – 350 Ukrainer:innen aus dem Gebiet des Dnjepr und ca. 800 Galizier:innen.49 Unter den Flüchtlingen waren auch ukrainische griechisch-katholische Priester, die die Seelsorge übernahmen.50 Im Lager Lexenfeld wurde mit Unterstützung der Erzdiözese ein eigenes Dekanat aufgebaut. Mit Ausnahme der Matrikenbücher gibt es aus dieser Phase keine Aufzeichnungen. Diese bezeugen, dass es trotz der Schwierigkeiten einer Lagerkirche intensive seelsorgliche Bemühungen gab. Da die meisten ukrainischen Flüchtlinge Österreich als Durchgangsstation betrachteten, konnten Pläne hinsichtlich der Gründung einer dauerhaften Gemeinde in dieser Zeit keine Gestalt annehmen.51 1951 wurde der spätere langjährige Pfarrer Johannes Daszkowski in Innsbruck zum Priester geweiht und noch im selben Jahren zum Provisor für die UGKK in Salzburg bestellt. Als Gottesdienstraum diente eine Kapelle im Lager in der Hellbrunner Straße, in der Baracke neben der Kapelle war die provisorische Wohnung des Pfarrers untergebracht. Zumindest für diese Wohnung werden die Verhältnisse ähnlich schlecht wie im Lager Lexenfeld beschrieben. Nikolaj Hornykewycz zitiert aus den Erinnerungen von Johannes Daszkowski, dessen Worte die bedrückende Wohnsituation anschaulich wiedergeben: „Ein Mitglied des Kirchenrates hat mir ein Barackenzimmer gezeigt. Dabei sagte er, ich müsste hier ,inoffiziell‘ wohnen, da ich bei keiner Flüchtlingsorganisation gemeldet sei. Dieses Barackenzimmer war vernachlässigt, mit Wasser unter dem Boden. Auch an Mäusen und Ratten fehlte es nicht. …“52 Trotz der großen Not und der hohen Fluktuation unter den Gemeindemitgliedern, die zu einer belastenden Schrumpfung der Gemeinde führten, gelang es, seelsorgliche Strukturen aufzubauen. Während in den Jahren von 1945 – 1950 ca. 550 Taufen, Eheschließungen und Begräbnisse stattfanden, weisen die Matrikenbücher für die Jahre von 1950 bis 1953 nur noch 60 Eintragungen auf.53 Nikolaj Hornykewycz 49

Mykytyn, Ukrainische Flüchtlinge in der Nachkriegszeit, S. 18. 1948 waren 15 griechisch-katholische Priester in Salzburg tätig: Marko Gill, Yuriy Hnatyschak, Elias Hawryhjschyn, Jaroslav Kekisch, Mykola Komar, Antoniy Kuczma, Iulian Saonskyj, Vassyl Swarytsch, Lubomir Sywenkyj, Vassyl Tereschtschuk, Wolodymyr Tereschtschuk, Oleksiy Luciw, Iulian Kotoscherschuk, Ivan Lehky, Wolodymyr Luszkiw. An dieser Stelle sei Pfarrer Vitaliy Mykytyn herzlich für seine Bereitschaft zum Gespräch gedankt. Informationen aus diesem Gespräch werden folgendermaßen zitiert. Gespräch mit Pfarrer Mykytyn 03.11.22. 51 Hornykewycz, Die Ukrainisch Griechisch-Katholische Kirche in Salzburg, S. 30 f. 52 Ebda., S. 31. 53 In den Matrikenbüchern sind für die Jahre 1945 – 1959 320 Taufen eingetragen, 1951 acht Taufen, 1952 vier Taufen und 1953 drei Taufen. Die Eheschließungen reduzierten sich von 180 Hochzeiten in den Jahren 1945 – 1950 auf sechs Eheschließungen im Jahr 1951. 1952 und 1953 sind überhaupt keine Trauungen verzeichnet. In gleicher Weise waren die Begräb50

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weist zu Recht darauf hin, dass das statistische Material dieser Zeit schwer zu interpretieren ist. Viele Gemeindemitglieder, die in entfernter liegenden Lagern oder privat untergebracht waren, hatten keinen Kontakt zur Seelsorgestelle. Nicht unterschätzt werden darf auch das Vorhandensein eines gewissen Assimilierungsdruckes, der dazu führte, dass immer wieder Taufen und Eheschließungen in römisch-katholischen Pfarren gefeiert und auch dort in die Matrikenbücher eingetragen wurden.54 Im Lager Lexenfeld waren auch Ukrainer untergebracht, die der russisch-orthodoxen Kirche angehörten. Sie pflegten ein sehr entschiedenes religiöses Leben und erwirkten bei der Lagerleitung die Erlaubnis zum Bau einer orthodoxen Kirche. Die Beziehungen zwischen den griechisch-katholischen und den orthodoxen Ukrainern werden von Lukijanowytsch als sehr förmlich, reduziert und mit vielen Vorbehalten belastet beschrieben.55 In kultureller Hinsicht gab es im Lager Lexenfeld beachtliche Initiativen. Erwähnt seien hier das Operntheater, das Dramatheater, das Theater der „kleinen Formen“, das Puppentheater sowie verschiedene Chöre und Orchester. Die Ukrainer waren die einzige organisierte Volksgruppe in Salzburg, die Zugang zum Landestheater hatte und auch außerhalb des Lagers ihre kulturellen Aktivitäten präsentieren konnte. Es gab mehrfach Angebote für österreichweite Tourneen. Da diesen Kulturreisen aber in sowjetisch besetzte Gebiete geführt hätten und die Mitwirkenden deswegen Angst hatten, konnten diese Tourneen nicht realisiert werden.56 In den Erinnerungen von Pfarrer Daszkowski ist für das Jahr 1955 ein interessantes Detail vermerkt: Der Wechsel vom julianischen zum gregorianischen Kalender. Leider existieren keine Quellen, denen der Grund für diese Umstellung nachvollziehbar entnommen werden kann und auch zur Akzeptanz dieser Entscheidung in der Gemeinde gibt es keine Hinweise. Die Erklärungsversuche von Nikolaj Hornykewycz erscheinen plausibel: Er nennt zum einen den Assimilierungsdruck, zum anderen eine terminliche Entlastung. Wenn die Gemeinden unterschiedlichen Kalendern folgen, gibt es keine Terminüberschneidungen bei kirchlichen Festen.57 So sehr die Gemeindearbeit im Lager mit großer Not und schwierigen Bedingungen zu kämpfen hatte – mit der Lagerkapelle und dem Raum neben der Kapelle stand zumindest ein Minimum an Infrastruktur zur Verfügung. Die Auflösung der Flüchtnisse rückläufig: Von 40 Begräbnissen zwischen 1945 und 1950 auf drei Begräbnisse im Jahr 1952. Für das Jahr 1953 ist kein einziges Begräbnis in den Matrikenbüchern eingetragen. Vitaliy Mykytyn/Manfred Straberger, 70 Jahre Ukrainisch Griechisch-Katholische Kirche in Salzburg. Geschichte und Gegenwart (nach den Unterlagen von Nikolaj Hornykewycz), in: St. Barbara. Zeitung des Ordinariates für die Katholiken des byzantinischen Ritus in Österreich Nr. 1/März (7), S. 4 – 5. 07 2015 Ostern.pdf (st-barbara-austria.org) [Zugriff: 06. 10. 2022]. 54 Hornykewycz, Die Ukrainisch Griechisch-Katholische Kirche in Salzburg, S. 31. 55 Mykytyn, Ukrainische Flüchtlinge in der Nachkriegszeit, S. 28 f. 56 Ebda., S. 21 f. 57 Hornykewycz, Die Ukrainisch Griechisch-Katholische Kirche in Salzburg, S. 31.

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lingslager in den Jahren 1959/60 und der damit verbundene Verlust der Kapelle mit dem Gemeinderaum stellten einen schweren Rückschlag für das Gemeindeleben dar. Mit dem Wegfall der Gemeinschaft im Lager sahen sich viele Gemeindemitglieder mit einem starken Assimilierungsdruck und mit Unwissenheit konfrontiert – auch in der Begegnung mit dem römisch-katholischen Klerus. Auch mussten einige Mitglieder die Erfahrung von Diskriminierung machen, v. a. in den Schulen, was die UGKK enorm schwächte.58 Die Suche nach einer eigenen Kirche wurde seit dem Jahr 1957 betrieben und gehörte zu den größten Herausforderungen in der Geschichte der UGKK nach dem Zweiten Weltkrieg. Kardinal Josyf Slipyi zählte zu den prominenten Unterstützern der Gemeinde bei der schwierigen Suche, wie die einschlägige Korrespondenz belegt. Erst mit seiner Unterstützung konnte dieses Vorhaben ernsthaft verfolgt werden.59 Zahlreiche Möglichkeiten wurden geprüft und mussten wieder verworfen werden. Im Gespräch waren z. B. das Sacellum, das aber bereits von verschiedenen Gruppen genützt wurde und auch keine Möglichkeit bot, eine Ikonostase aufzustellen. St. Johannes am Imberg wurde der Gemeinde mehrfach angeboten, aber wegen der schwierigen Erreichbarkeit abgelehnt.60 Ebenfalls geprüft wurden die Eignung der alten Borromäumskapelle am Mirabellplatz61 und der Marienkapelle in St. Elisabeth. Erstere befand sich mittlerweile nicht mehr im Eigentum der Kirche und die Marienkapelle wurde wieder von der Gemeinde benötigt. Von 1959 bis 1999 feierte die UGKK die Gottesdienste in der Kajetanerkirche, der Spitalskirche der Barmherzigen Brüder. Pfarrer Daszkowski würdigte immer wieder die Gastfreundschaft der Barmherzigen Brüder, benannte aber auch die zahlreichen Probleme: zu kleine Zeitfenster, terminliche Überschneidungen v. a. an den Hochfesten Weihnachten und Ostern, keine Möglichkeit zur Aufbewahrung der liturgischen Geräte, fehlende Räumlichkeiten für die Gemeinde, … Aus der Korrespondenz wird immer wieder auch die Enttäuschung über die als unzureichend wahrgenommene

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Ebda., S. 32. AES 12/2 Rd 1 Seelsorge bei Kriegsgefangenen, Flüchtlingen, Arbeitern, Studenten, Kindern, bei verschiedenen größeren Bauunternehmungen im Gebiete der Erzdiözese. V. a. für den Zeitraum 1970 bis 1975 ist zu diesem Thema eine rege Korrespondenz vorhanden. Vgl. z. B. Brief vom 27. 10. 1970: Der Generalvikar und der Ordinariatskanzler wenden sich an den Vizelandtagspräsidenten Hans Zyla mit dem Anliegen, der Bitte von Kardinal Slipyi hinsichtlich eines eigenen Gottesdienstraumes für die ukrainische Gemeinde in Salzburg nachzukommen und im Rahmen neuer Wohnbauprojekte eine neue Kapelle mit Platz für ca. 50 Personen zu bauen. 60 St. Johannes liegt auf halber Höhe des Kapuzinerberges und ist ausschließlich über eine steile Stiege erreichbar. 61 Diese Kapelle wurde in der Zwischenzeit abgerissen. 59

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Unterstützung seitens der Erzdiözese deutlich.62 Es ist Nikolaj Hornykewycz zuzustimmen, der die Umstände rund um diesen jahrzehntelangen Prozess als schwierig zu beurteilen sieht. Einerseits ist tatsächlich schwer nachzuvollziehen, warum es über diesen langen Zeitraum nicht möglich gewesen sein soll, passende Gottesdienstund Gemeinderäume zu finden. In diesem Zusammenhang sind auch die Enttäuschung von Pfarrer Daszkowski und das Unverständnis von Kardinal Slipyi verständlich. Auf der anderen Seite sieht Nikolaj Hornykewycz auch einen Anteil bei Pfarrer Daszkowski selbst, der durch mangelnde Flexibilität und Kompromissfähigkeit möglicherweise gute Lösungen verhindert hat. Nicht vergessen werden darf, dass trotz des Fehlens einer eigenen Kirche in den Bereichen Krankenseelsorge, Kinderund Jugendpastoral, Wallfahrtswesen, etc. viele seelsorgliche Impulse gesetzt wurden.63 Die Zeit von 1982 – 1995 ist geprägt von einer Flüchtlingswelle aus Polen in der ersten Hälfte der 1980er Jahre, mit der auch zahlreiche Ukrainer polnischer Abstammung nach Österreich kamen. Pfarrer Daszkowski engagierte sich in der Sorge um diese Flüchtlinge, die v. a. in St. Georgen im Attergau untergebracht waren. Für die meisten Flüchtlinge war Österreich eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Kanada. Die Jugoslawienkriege in den 1990er Jahren zwangen ebenfalls zahlreiche Ukrainer, die schon zur Zeit der Monarchie nach Bosnien-Herzegowina ausgewandert waren und im ehemaligen Jugoslawien gelebt hatten, zur Flucht. Auch aus dieser Gruppe siedelten sich nur wenige Personen dauerhaft in Österreich an. Etliche dieser Gemeindemitglieder sind nach dem Ende des Bosnienkrieges und nach dem Ende ihrer beruflichen Aktivität wieder nach Bosnien-Herzegowina zurückgekehrt, deren Kinder und Enkelkinder sind in Salzburg geblieben. Obwohl viele Personen aus dieser Gruppe niemals in der Ukraine gelebt haben, konnte die ukrainische Identität gut bewahrt werden. Bis zum Ausbruch des Kriegs in der Ukraine stellte diese Gruppe ca. die Hälfte der Gemeindemitglieder dar.64 Die Seelsorgearbeit stand Ende der 1980er Jahre und in der ersten Hälfte der 1990er Jahre vor weiteren neuen Herausforderungen. In dieser Zeit starben viele Ge62

AES 12/2 Rd 1 Seelsorge bei Kriegsgefangenen, Flüchtlingen, Arbeitern, Studenten, Kindern, bei verschiedenen größeren Bauunternehmungen im Gebiete der Erzdiözese. Vgl. Brief von Johannes Daszkowski an EB Berg vom 01. 03. 1973, in dem er auf das Dekret über die katholischen Ostkirchen hinweist, in dem die Pflege der Liturgie und des geistlichen Erbgutes nach Maßgabe der eigenen Kirche eingemahnt wird. Weiters erinnert er EB Berg daran, dass viele Ukrainer 1945 für den Wiederaufbau des Doms gespendet und bereits im Ersten Weltkrieg für Österreich gekämpft hätten. Mit einer eigenen Kirche könnte sich die Gemeinde engagierter in den ökumenischen Dialog einbringen. Am 28. 10. 1975 wendet sich EB Berg an Vizelandtagspräsident Zyla und erneuert seine Bitte zu prüfen, ob im Rahmen neuer Wohnbauprojekte der Bau einer Kapelle möglich sei. Er habe Kardinal Slipyi in Rom getroffen, dieser sei wegen der unzureichenden Unterstützung der ukrainischen Gemeinde ungehalten gewesen. In diesem Brief wird auch die Markuskirche ins Gespräch gebracht. 63 Hornykewycz, Die Ukrainisch Griechisch-Katholische Kirche in Salzburg, S. 33. 64 Gespräch mit Pfarrer Mykytyn 03.11.22.

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meindemitglieder der ersten Generation, die das Gemeindeleben wesentlich geprägt hatten. Pfarrer Daszkowski war wegen Krankheit und Erschöpfung nicht mehr in der Lage, die Gemeinde weiterhin seelsorglich zu betreuen. 1996 konnte er in den Ruhestand gehen. Als Nachfolger wurde Nikolaj Hornykewycz bestellt. Der personelle Wechsel wurde genützt, um auch in organisatorischer und pastoraler Hinsicht einen Neubeginn zu starten. So wurde die Suche nach einer eigenen Kirche und nach Gemeinderäumen wieder aufgenommen. Dieses Projekt konnte 1999 mit der Übernahme der Markuskirche nach über 40 Jahren zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden. Mit Unterstützung des damaligen Diözesankonservators Johannes Neuhardt konnte beim Lemberger Ikonografen Bohdan Turetsky eine Ikonostase in Auftrag gegeben werden, die bereits im Sommer 2000 von Erzbischof Georg Eder eingeweiht wurde. 1996 ging die UGKK mit einem eigenen Internetauftritt erstmals online. Kirchenrechtlich hat die Gemeinde weiterhin die Position einer Seelsorgestelle der Pfarre St. Barbara in Wien. Die Matriken werden in Salzburg geführt und auch hinsichtlich der Vermögensverwaltung ist die Seelsorgestelle St. Markus selbständig. Der zuständige Priester ist mit seinen Vollmachten einem Pfarrer gleichgestellt.65 Seit 8. Jänner 2013 wird die byzantinische Gemeinde in Salzburg, die aktuell ca. 400 Gläubige umfasst, von Vitaliy Mykytyn seelsorglich betreut. Zu ca. 55 Familien besteht ein ständiger Kontakt. Die Ernennung erfolgte im Auftrag von Kardinal Christoph Schönborn mit Einverständnis des Erzbischofs der Erzdiözese IvanoFrankivsk, Volodymyr Vijtshyn. Die Ernennung zum Rektor der Markuskirche seitens der Erzdiözese Salzburg erfolgte mit 1. Jänner 2013.66 Zusätzlich ist Pfarrer Mykytyn als Seelsorger im Unfallkrankenhaus tätig und hat die Erlaubnis, birituell zu zelebrieren und die Sakramente zu spenden.67 Seit 2008 gibt es in Salzburg ein Zentrum für ostkirchliche Spiritualität, kurz „Byzantinisches Gebetszentrum“ genannt. Dieses Zentrum, das aktuell von John Reves geleitet wird, steht in der Trägerschaft der Erzdiözese Salzburg und ist an die Ukrainische Griechisch-katholische Gemeinde St. Markus und das Ordinariat für die Gläubigen der katholischen Ostkirchen in Österreich angebunden. Auftrag des Byzantinischen Zentrums ist es, über unterschiedliche Angebote (Ikonenmalkurse, Jesusgebet, Einkehrtage, Teilnahme an Gebetszeiten, …) Möglichkeiten der Begegnung mit der ostkirchlichen Spiritualität zu bieten und sich in den ökumenischen Dialog einzubringen.68 Mit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine haben sich für die Gemeinde neue Herausforderungen ergeben, in pastoraler, aber auch in sozialer und organisatorischer Hinsicht. Die Seelsorgestelle St. Markus hat sich zur zentralen An65

Ebda., S. 34 – 35. Unser Pfarrer – Pfarre St. Markus (ukrainische-kirche.at) [Zugriff: 06. 10. 2022]. 67 Gespräch mit Pfarrer Mykytyn, 03.11.22. 68 Herzlich willkommen!: Byzantinisches-gebetszentrum (ostkirchenzentrum.at) [Zugriff: 11. 10. 2022]. 66

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laufstelle entwickelt. Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 wurden ca. E 150.000,– Spenden gesammelt, die überwiegend für den Kauf von Medikamenten verwendet wurden. 16 LKW und zehn Kleintransporter mit Hilfsgütern konnten in die Ukraine geschickt werden. Aktuell befindet sich ein Projekt in Planung, das die Menschen in der Ukraine im Hinblick auf die Stromversorgung unterstützen soll.69 Das religiöse Leben in St. Markus hat sich seit dem Ausbruch des Krieges intensiviert. Der Bedarf nach geistlicher Begleitung und seelsorglicher Unterstützung ist stark gestiegen. Um die Kinder, die nach der Flucht häufig traumatische Erfahrungen verarbeiten müssen, gut unterstützen zu können, wurde eine ukrainische „Samstagsschule“ eingerichtet. Mit musikalischen, bildnerischen und sportlichen Angeboten sollen die Kinder die Möglichkeit bekommen, Gemeinschaft zu erleben und sich in der Muttersprache mit Gleichaltrigen austauschen zu können. Die pastoralen Angebote werden nicht nur von Mitgliedern der UGKK in Anspruch genommen. Im Zuge der Flüchtlingsströme kommen auch zahlreiche Menschen nach Salzburg, die der russisch-orthodoxen Kirche angehören und trotzdem Kontakt zur UGKK suchen, weil sie sich hier im Hinblick auf Sprache und gelebte Traditionen Beheimatung erhoffen. Die Gemeinde versteht sich mit ihren Angeboten für diese Menschen als Ort, an dem Ökumene gelebt wird. Aus kirchenrechtlicher Sicht ist in diesem Zusammenhang interessant, dass nach Auskunft von Pfarrer Mykytyn bei der Sakramentenspendung, v. a. was die Taufe und das Patenamt betrifft, nahezu ausschließlich familiäre Sonderkonstellationen zu berücksichtigen sind. Familien, bei denen alle Mitglieder der UGKK angehören, sind in diesem Zusammenhang die Ausnahme. Die UGKK in Salzburg blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück, in der es an Herausforderungen nicht gefehlt hat. Zu allen Zeiten wurde das Gemeindeleben von engagierten Mitgliedern getragen und mit Leben erfüllt. Im kirchlichen Leben Salzburgs und im ökumenischen Dialog ist die UGKK unverzichtbar und stellt eine große Bereicherung dar.

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Gespräch mit Pfarrer Mykytyn 03.11.22.

Religionsrechtliche Fragen der Krankenhausseelsorge in Österreich Andreas Kowatsch „Für Kranke und Sterbende bleibt die Möglichkeit der seelsorglichen Begleitung unter Einhaltung strenger Hygieneregeln nach Maßgabe der jeweiligen Einrichtung gewährleistet.“ Mit diesem Satz leitet die Diözese Linz, deren Generalvikar der Jubilar bereits seit dem Jahr 2005 ist, „wichtige Informationen zur Krankensalbung“ in Zeiten der Pandemie ein.1 Zweierlei ist damit ausgesagt: Das Angebot seelsorglicher Betreuung gehört auch und gerade in lebensbedrohenden Umständen für die Kirche zum unverhandelbaren Kern ihres Auftrages.2 Da die Seelsorge sich nicht vollständig in den digitalen Raum verlegen lässt, sondern eine spezielle Form mitmenschlicher Zuwendung darstellt, sind Kontakte im Rahmen der Krankenseelsorge mögliche Situationen der Übertragung von Viren und unterliegen damit aus infektiologischer Sicht denselben Überlegungen zur Kontaktvermeidung wie jede andere interpersonale Begegnung. Daher müssen für direkte Kontakte von Mensch zu Mensch, die im Normalfall die Voraussetzung einer vertrauensvollen und letztlich heilsamen seelsorglichen Begegnung sind, die Risiken der Infektion möglichst hintangehalten werden. Die strikte Einhaltung von Hygieneregeln kann zwar das Risiko nicht ausschalten, dass im Rahmen einer seelsorglichen wie bei jeder anderen Art „analoger“ Begegnung Ansteckungen erfolgen können. Dieses Risiko ist aber zumindest auf jenes Niveau zu senken, das auch bei anderen notwendigen Kontakten von Mensch zu Mensch im Krankenhaus besteht. Abstrahiert man diesen Gedanken, dann kann allgemein formuliert werden, dass die Krankenhausseelsorge vom System „Krankenhaus“ und seinen Erfordernissen, Sachlogiken und Zwängen ebenso abhängt wie vom kirchlichen Selbstverständnis. Bei genauerem Hinsehen verbirgt sich hinter dem eingangs zitierten kurzen Satz somit eine ganze Vielfalt an Fragen, die mit der Seelsorge, welche die Kirchen und Religionsgesellschaften für ihre kranken Mitglieder anbieten, verbunden sind. 1 Vgl. https://www.dioezese-linz.at/portal/zu/corona/portal/betenundfeiern/sakramente/article/ 143853.html [Zugriff: 12. 09. 2022]. 2 Vgl. die Betroffenenberichte in Maria Berghofer/Sabine Petritsch/Detlef Schwarz, Was willst Du, dass ich Dir tue? (Lk 18,41). Zur Situation der katholischen Krankenhausseelsorge (KHS) Österreichs während der Covid19-Pandemie, in: Wolfgang Kröll u. a. (Hrsg.), Die Corona-Pandemie. Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise (= Bioethik in Wissenschaft und Gesellschaft 10), Baden-Baden 2020, S. 283 – 298.

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Haben die Religionsgesellschaften das Recht, auch in öffentlichen und privaten Einrichtungen des Gesundheitswesens ihren Dienst zu vollziehen? Auf welche Weise kann ein Ausgleich zwischen den institutionellen Interessen und grundrechtlich geschützten Freiheiten der Religionsgesellschaften (vgl. Art. 15 StGG) und den institutionellen Erfordernissen des komplexen Systems „Krankenhaus“ geschaffen werden? Welche Rolle spielt die individuelle Religionsfreiheit der Kranken und Sterbenden, die auch als Patienten3 in vollem Umfang Grundrechtsträger bleiben? Welche Wechselwirkung besteht zwischen dem (Grund-)Recht auf Datenschutz der Patienten, der Verpflichtung der Träger von Gesundheitseinrichtungen, das Datenschutzrecht, allen voran die DSGVO4 , zu beachten und dem verfassungs- und einfachgesetzlich verbürgten Recht der Religionsgesellschaften, die Krankenhausseelsorge als „innere Angelegenheit“ i. S. d. Art. 15 StGG zu besorgen?5 Einige dieser Fragen sollen im Folgenden aus der Perspektive des österreichischen Religionsrechts etwas näher thematisiert werden.

3 Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird in diesem Artikel das generische Maskulinum verwendet. Die Krankenhausseelsorge wäre ohne das große Engagement der ehren- und hauptamtlichen Seelsorgerinnen nicht denkbar. Einige sprachliche Durchbrechungen sind daher bewusst gesetzt, um auf diese Tatsache besonders hinzuweisen. 4 Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. 04. 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG, OJ L 119, 04. 05. 2016, 1 – 88 (Datenschutz-Grundverordnung/DSGVO). 5 Die Komplexität steigert sich durch die unterschiedlichen Rechtsformen, welche das österreichische Religionsrecht für organisierte Formen von Religion (Religionsgemeinschaften) vorhält. Während das korporative Freiheitsrecht des Art. 15 StGG den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschafen vorbehalten wird, sind auch die Religionsgemeinschaften, die als staatlich eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaft, als ideeller Verein oder in der rudimentären Rechtsform der erlaubten Gesellschaft nach § 26 ABGB rechtlich konstituiert sind, Grundrechtsträger, denen Art. 9 EMRK einen Kernbereich institutioneller Freiheit zusichert. Der VfGH hat im Blick auf Strafgefangene in VfSlg. 15.592/ 1999 klargestellt, dass das Recht auf Zuspruch durch einen Seelsorger des „eigenen Bekenntnisses“ nicht bloß den Angehörigen der gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaften oder einer religiösen Bekenntnisgemeinschaft i. S. d. BekGG zusteht. Im Fall der anerkannten Religionsgesellschaften und der staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaften ist aber davon auszugehen, dass die Ausübung der Seelsorge keines der in Art. 63 Abs. 2 StV St. Germain (öffentliche Ordnung; gute Sitten) und Art. 9 Abs. 2 EMRK (öffentliche Sicherheit, öffentliche Ordnung, Gesundheit und Moral, Schutz der Rechte und Freiheiten anderer) genannten Schutzgüter verletzt. Vgl. Richard Potz, Recht auf seelsorgliche Betreuung aus der Sicht der Patienten und der Religionsgemeinschaften, in: Ulrich Körtner u. a. (Hrsg.), Spiritualität, Religion und Kultur am Krankenbett, Wien 2009, S. 108 – 118, hier S. 112.

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I. Die Krankenhausseelsorge im Spannungsfeld unterschiedlicher Erwartungen 1. Besondere Herausforderungen für die Krankenhausseelsorge Die meisten Religionsgemeinschaften erheben den Anspruch, für ihre kranken, pflegebedürftigen und sterbenden Mitglieder seelsorgliche bzw. religiöse Begleitung anzubieten. Da die Krankenseelsorge vielfach nicht zu Hause oder in zu religiösen Zwecken gewidmeten Gebäuden möglich ist, sind die Seelsorger und Seelsorgerinnen auf den Zutritt in jene Einrichtungen, die für die Sorge um die Kranken und Sterbenden errichtet sind, angewiesen.6 Dass die Religionsgemeinschaften unterschiedliche Dienste der religiösen Betreuung ihrer Mitglieder in den öffentlichen7 Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen anbieten dürfen, ist kein Privileg einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, sondern ist Bestandteil einer modernen und lege artis organisierten Betreuung kranker und sterbender Menschen.8 Spiritual Care9 ist ein Bestandteil eines ganzheitlichen Gesundheitskonzepts. Da im Krankenhaus Menschen aller Herkünfte als Dienstleistende und Hilfesuchende zusammenkommen, ist das Krankenhaus auch ein Spiegel der pluralistischen Gesellschaft und ihrer vielfältigen, einander auch widersprechenden Sinnentwürfe. Die Krankenhausseelsorge selbst steht daher in einem mehrfachen Spannungsfeld zwischen dem Selbstverständnis der Kirche bzw. Religionsgesellschaft, in deren Namen sie tätig wird, und der Pluralität religiöser Erwartungen nicht nur der Mitglieder der eigenen Religionsgesellschaft. Sie richtet sich an die Patienten, muss aber auch das Krankenhauspersonal im Blick haben. Die Seelsorge erfolgt im Namen der Glaubensgemeinschaft und hängt zugleich ganz an der Person des Seelsorgers. Sie richtet sich an die Mitglieder der eigenen 6 Zur Geschichte der Krankenhausseelsorge vgl. Michael Klessmann, Von der Krankenseelsorge zur Krankenhausseelsorge – historische Streiflichter, in: Traugott Roser (Hrsg.), Handbuch der Krankenhausseelsorge, 52019 Göttingen, S. 34 – 41. 7 Dass die Seelsorge zum Profil von Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft gehört, muss nicht eigens betont werden. 8 Vgl. etwa Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e. V./Deutscher Hospiz- und PalliativVerband e. V./Bundesärztekammer (Hrsg.), Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland, Leitsatz 2,1: „Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht auf eine umfassende medizinische, pflegerische, psychosoziale und spirituelle Betreuung und Begleitung, die seiner individuellen Lebenssituation und seinem hospizlich-palliativen Versorgungsbedarf Rechnung trägt. Die Angehörigen und die ihm Nahestehenden sind einzubeziehen und zu unterstützen. Die Betreuung erfolgt durch haupt- und ehrenamtlich Tätige soweit wie möglich in dem vertrauten bzw. selbst gewählten Umfeld. Dazu müssen alle an der Versorgung Beteiligten eng zusammenarbeiten.“ Vgl. https://www. dgpalliativmedizin.de/images/stories/Charta-08-09-2010%20Erste%20Auflage.pdf [Zugriff: 18. 09. 2022]. 9 Die Begriffe Seelsorge und Spiritual Care sind nicht deckungsgleich. Die genaue Bestimmung muss aber an dieser Stelle der Pastoraltheologie überlassen werden.

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Gemeinschaft, welche auch bei formaler Mitgliedschaft sehr unterschiedliche Bedürfnisse hinsichtlich einer religiösen Betreuung haben können. Aufgrund der individuellen Religionsfreiheit können diese Bedürfnisse gegenüber der Seelsorge auch ablehnend sein. Die korporativrechtlichen und die individualrechtlichen Schutzgüter der Religionsfreiheit überschneiden sich vielfältig, sind aber nicht notwendigerweise deckungsgleich. Seelsorger, die von außen ins Krankenhaus kommen, betreten eine hochkomplexe Organisation, in die sie sich einfügen müssen. Auch außerhalb von Zeiten der Pandemie reicht das mögliche Spektrum an Erfahrungen von Ablehnung über Gleichgültigkeit bis zum offenherzigen Willkommsein im gemeinsamen Dienst an den Kranken. Auch wo innerhalb einer Gesundheitseinrichtung eine eigene institutionalisierte Seelsorge besteht, muss die Akzeptanz der nichtmedizinischen Dienste der Seelsorge gegenüber den Ärzten und Pflegenden und den in vielen anderen Berufen Tätigen im Kontext Krankenhaus immer neu erarbeitet werden. Der Wegfall religiöser Selbstverständlichkeiten macht vor den Spitalstoren nicht Halt. Die Krankenhausseelsorge und ihre Mitarbeitenden befinden sich unausweichlich in einer Situation „zwischen den Stühlen“.10 Sie sind eigebunden in die Institution Krankenhaus mit ihren Eigengesetzlichkeiten,11 die je nach Spital auch unterschiedliche Ausprägungen haben können. Aus der Sicht der Patienten und ihrer Angehörigen ist der Aufenthalt im Krankenhaus immer eine besondere Situation. Demgegenüber ist das Krankenhaus für die dort Beschäftigten, Ärzte, Pfleger, Psycho- und Physiotherapeuten und Angehörigen vieler weiterer Berufsgruppen, das tägliche Arbeitsumfeld. Die Seelsorger und das Krankenhauspersonal haben mit dem Wohl der Patienten ein gemeinsames Ziel, das allerdings auf unterschiedlichen existentiellen und professionellen Ebenen verfolgt wird. Die äußere Struktur ist dabei für alle Beteiligten dieselbe:12 „Die Arbeit der Krankenhausseelsorge geschieht“, so die katholische österreichische Pastoralkommission, „innerhalb vorgegebener Arbeitsabläufe auf Stationen. Dies erfordert eine gegenseitige Rücksichtnahme aller auf der Station Tätigen. Sie haben ein gemeinsames Arbeitsziel: das Wohl der Patienten.“13

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Vgl. zum „Dazwischen“ als Ortsbestimmung der Krankenhausseelsorge: Michael Klessmann, Die Fremdheit und Widerständigkeit der Seelsorge im Krankenhaus, in: Traugott Roser (Hrsg.), Handbuch der Krankenhausseelsorge (Anm. 6), S. 391 – 401. 11 Dass auch betriebswirtschaftliche Logiken und Zwänge zu diesen Eigengesetzlichkeiten zählen, liegt auf der Hand. Vgl. zur dadurch mitunter entstehenden Spannung Dorothee Haart, Die Rolle der Seelsorge im Wirtschaftsunternehmen Krankenhaus, in: Traugott Roser (Hrsg.), Handbuch der Krankenhausseelsorge (Anm. 6), S. 92 – 103. 12 Vgl. Pastoralkommission Österreich, Seelsorge im Krankenhaus (2000), 7. Der Text ist abrufbar unter https://www.pastoral.at/dl/NKOOJKJKKOKkLJqx4KJK/Seelsorge_im_Kranken haus_pdf [Zugriff: 18. 09. 2022]. 13 Ebd., 11.

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2. Krankenhausseelsorge als kategoriale Seelsorge Die Freiheit der Patienten, die Spitäler, Pflegeeinrichtungen und Hospize zu verlassen, um ihre Religion auszuüben, ist vielfach beschränkt. Neben faktischen Behinderungen treten im Kontext des Infektionsschutzes auch rechtliche Verbote, die ein Verlassen des Krankenhauses verhindern und so den Zutritt in die Einrichtung zur notwendigen Voraussetzung für die Ausübung der Seelsorge machen.14 In der Erfahrung von Krankheit und fortgeschrittenem Alter stellen sich vielen Menschen Fragen, für die im Alltag kaum Platz sind. Warum muss ich leiden? Was geschieht mit mir, wenn ich nicht mehr alleine entscheiden kann? Bin ich im Letzten alleine? Was ist der Tod und wie kann ich mit der Sterblichkeit umgehen? Gibt es Hoffnung angesichts medizinischer Prognosen eines aussichtslosen Krankheitsverlaufes? Diese und andere Fragen betreffen den Kranken existentiell und können allein durch medizinischen und psychologischen Beistand nicht beantwortet bzw. situativ verarbeitet werden. Die religiöse Dimension dieser Fragen liegt auf der Hand, ganz unabhängig vom individuellen Bekenntnis. Aus christlicher Sicht ist die Sorge um die Kranken und Sterbenden eine Verwirklichung der ethisch-religiösen Pflicht, Kranken beizustehen und untrennbar mit dem biblischen Gebot der Nächstenliebe verbunden.15 Aus der Glaubensüberzeugung, im Kranken Christus selbst zu begegnen (vgl. Mt 25, 31 – 46), nimmt sie gottesdienstliche Züge an. Als „leibliches Werk der Barmherzigkeit“ ist die Sorge um Kranke ein integraler Teil der christlichen Berufung jedes und jeder Getauften. Die Sorge um die Kranken ist aber auch Aufgabe der Gemeinde bzw. Kirche als ganzer. Die Seelsorge an Kranken und Sterbenden gehört daher zum Kernbestand des Selbstverständnisses der Katholischen Kirche:16 „Sie ist ein Grundrecht des Kranken und eine Pflicht der Kirche (vgl. Mt 10,8; Lk 9,2; 10,9). Wird sie nicht sichergestellt, nur nach Belieben gewährt, nicht gefördert oder gar behindert, so stellt das eine Verletzung dieses Rechts und eine Untreue gegenüber dieser Verpflichtung dar.“17 Ihren tiefsten, wenn14

Zu den besonderen Herausforderungen, welche die Besuchsverbote für Patienten und Angehörige, aber auch für das Krankenhauspersonal und die Krankenhausseelsorge bedeute(te)n vgl. Gerhard Hundsdorfer, Unsere täglichen Besuche gib uns heute …“. Krankenhausseelsorge und Besuchsverbot, in: Wolfgang Kröll u. a. (Hrsg.), Die Corona Pandemie. Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise (Anm. 2), S. 299 – 311. 15 Neben den Heilungsgeschichten des Neuen Testaments ragt die Gleichniserzählung Jesu über den barmherzigen Samariter heraus, um die Frage, wem die Pflicht der Nächstenliebe gilt, zu klären, heraus. Vgl. Lk 10, 25 – 37. 16 Vgl. KKK Nr. 1509. 17 Päpstlicher Rat für die Seelsorge im Krankendienst, Charta der im Gesundheitsdienst tätigen Personen, Vatikanstadt 1995, Nr. 108. Zit. aus: Fachbereich Krankenhaus- und Pflegeheimseelsorge/Kategoriale Seelsorge der Erzdiözese Wien, Das Profil der röm.-kath. Krankenhaus- und Pflegeheimseelsorge in der Erzdiözese Wien, Wien 2008, S. 10. Seit 2016 bildet der Päpstliche Rat für die Seelsorge im Krankendienst einen Teil des unter Papst Franziskus neu errichteten Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen. Bereits 1995 gab der Rat eine Charta der im Gesundheitsdienst tätigen Personen heraus.

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gleich in der konkreten pastoralen Praxis bei weitem nicht einzigen Ausdruck findet sie in der Feier der Krankensakramente. Die Krankensalbung hat wie jedes Zeichen des Glaubens eine geschichtliche Entfaltung durchgemacht, ist in ihrem Kern aber biblisch sicher bezeugt (vgl. Lk 10,9; Mk 6, 12 – 13, sowie die klassische Stelle Jak 5, 14 – 15). Die Sorge um die Kranken ist kein christliches Phänomen, sondern Kernbestand der Ethik der meisten großen Religionen. Die vereinsmäßig unter dem Dach der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) organisierte Spitalseelsorge dient der Erfüllung einer religiösen Pflicht des Islam.18 Im Auftrag des Oberrabbinats der Israelitischen Kultusgemeinde Wien leisten im Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien (AKH) zwei ehrenamtliche Seelsorger den Dienst der jüdischen Patientenbetreuung.19 Die Buddhistische Religionsgesellschaft verantwortet den Dienst der Buddhistischen Krankenbegleitung.20 Auch für die Angehörigen der Zeugen Jehovas gilt, dass „nicht nur der Körper versorgt werden muss“.21 Die Krankenhausseelsorge ist Teil der „kategorialen“ Seelsorge.22 Die meisten Religionsgesellschaften sind im Prinzip territorial strukturiert, sei es in Pfarren oder Kultusgemeinden. Die territoriale Untergliederung hat den Vorteil, alle Mitglieder, die auf einem bestimmten Gebiet wohnen, der jeweiligen Einrichtung der eigenen Religionsgemeinschaft zuordnen zu können. Dadurch werden nicht nur Zuständigkeiten verteilt – niemand muss sich einen zuständigen Seelsorger suchen –, sondern auch verhindert, dass die Ausübung der Seelsorge von persönlichen spirituellen Präferenzen des Amtsträgers abhängt.

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Vgl. die Informationen der IGGÖ auf https://www.derislam.at/soziales/spitalseelsorge/. Vgl. auch Mona Elsabagh/Farag Elgendy, Spiritualität im Krankenhaus aus der Sicht der islamischen Seelsorge, in: Ulrich Körtner u. a. (Hrsg.), Spiritualität, Religion und Kultur am Krankenbett (Anm. 5), S. 41 – 45. 19 Vgl. dazu Willy Weisz, Zum Wohle des jüdischen Patienten im AKH Wien, in: Ulrich Körtner u. a. (Hrsg.), Spiritualität, Religion und Kultur am Krankenbett (Anm. 5), 36 – 40. 20 Nach der kurzen Selbstdarstellung auf https://www.akh-seelsorge.at/buddhistische-kran kenbegleitung/ liegt der Schwerpunt auf der spirituellen Sorge um den Verstorbenen bzw. die hinterbliebenen Angehörigen. 21 Vgl. den Webauftritt der Krankenseelsorge der Religionsgesellschaft der Zeugen Jehovas in Österreich: https://www.krankenseelsorge.at. 22 Vgl. die Definition der kategorialen Seelsorge im Statut der Kategorialen Seelsorge der Erzdiözese Wien: Diese „ist – in Ergänzung zur territorial strukturierten Katholischen Kirche auch im Kontext einer spezifischen Gruppe – die nicht territorial sondern überpfarrlich organisierte Pastoral für Menschen in besonderen Lebenssituationen, wenn sie offiziell vom Bischof zur Erfüllung des Missionsauftrages, mit einem Auftrag ausgestattet ein bestimmtes pastorales Ziel zu erreichen, an einem bestimmten Ort errichtet und dafür mit einer eigenen, nicht allein pfarrlichen Struktur, Autorität, Kompetenz und Zuständigkeit ausgestattet wird.“ Statut der Kategorialen Seelsorge in der Erzdiözese Wien vom 30. 09. 2019, in: Wr. DBl. 157 (2019), S. 61 – 64.

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Auf Seiten der Gläubigen besteht hingegen durchaus die Freiheit, nach den eigenen Präferenzen die eigene Religiosität zu leben.23 Unzählige Vereinigungen – nicht nur in der Katholischen Kirche – bilden auch innerhalb der Religionsgesellschaften eine breite Vielfalt ab. Die territorial organisierte Seelsorge wird durch die Angebote der kategorialen Seelsorge ergänzt. In einem engeren Sinn ist diese dazu da, Menschen in Situationen das religiöse Leben zu ermöglichen, in denen diese aus besonderen Gründen nicht am Leben ihrer Gemeinde oder ihrer Vereinigungen teilnehmen können. Strafgefangene können nicht den Gottesdienst in ihrer Gemeinde mitfeiern. Angehörige des Militärs und seiner Einrichtungen unterliegen vielfältigen Beschränkungen. Im Auslandseinsatz hängt das religiöse Leben gänzlich von Strukturen der Militärseelsorge ab. Schließlich hat sich der Bewegungsradius von Kranken und Sterbenden auf die Einrichtung des Krankenhauses bzw. Pflegeheims und dort oftmals auch nur auf das eigene Bett eingeengt, sodass ohne Zutritt von Seelsorgern in diese Einrichtungen das religiöse Leben gerade in einer Situation gefährdet wäre, wo der Kranke heilendes Potential aus dem eigenen Glauben schöpfen könnte. Die Seelsorger wirken zwar als eigenständige Persönlichkeiten und bezeugen als solche ihren eigenen Glauben24 und ihre Hingabe zu den Menschen. Sie tun dies jedoch nicht im eigenen Namen, sondern aufgrund einer rechtlichen Beauftragung durch ihre Religionsgesellschaft. Deren Recht auf Ausübung der Seelsorge ermöglicht den individuellen Krankenbesuch als seelsorglichen Akt. II. Krankenhausseelsorge aus religionsrechtlicher Sicht 1. Krankenhausseelsorge in der Spannung der Freiheit der Religionsgemeinschaften und der Religionsfreiheit der Einzelnen: verfassungsrechtlicher Rahmen Art. 15 StGG gewährt allen anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften das Recht, ihre inneren Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten. Soweit die Lehre einer Religionsgesellschaft die Hinwendung zu den Kranken als Teil des eigenen Auftrags umfasst, liefe das Selbstbestimmungsrecht in die Leere, wenn die

23 Diese ist nicht nur dem Staat gegenüber durch das Individualrecht auf Religionsfreiheit (Art. 14 StGG, Art. 63 Abs. 2 StV StG, Art. 9 EMRK, Art. 10 GRC) verbürgt. Auch das kanonische Recht sichert die Freiheit der Gläubigen auf eine eigene Form des christlichen Lebens (vgl. c. 214 2. HS CIC). Innerhalb einer Glaubensgemeinschaft reicht diese Freiheit freilich nur soweit eine Übereinstimmung mit den Grundlagen des betreffenden Glaubens besteht. 24 Leitsatz 3 der (dt.) Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen (Anm. 8) sieht in der Auseinandersetzung mit der eigenen Spiritualität sogar eine generelle Anforderung an die Ausbildung aller in der medizinischen Versorgung, Pflege und Begleitung Schwerkranker und Sterbender Tätigen.

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„Verwaltung“, d. h. die Ausübung der Seelsorge durch rechtliche Maßnahmen oder faktische Hindernisse verunmöglicht würde.25 Bereits aus dem zuvor Genannten ergibt sich, dass Krankenhausseelsorge als Verlängerung der allgemeinen Krankenseelsorge hinein in die Einrichtungen des Gesundheitswesens aber nicht nur ein Recht der Kirchen und Religionsgesellschaften als Institutionen ist. Im Mittelpunt stehen vielmehr die Kranken und Sterbenden selbst. Diese bleiben selbstverständlich auch während eines vorübergehenden oder gar dauerhaften Aufenthalts in einer Gesundheitseinrichtung Träger des Grundrechts auf Religionsfreiheit, welches in Österreich in den Art. 14 StGG 1867, Art. 63 Abs. 2 StV St. Germain und in Art. 9 EMRK26 normiert ist und im Verfassungsrang steht. Auch wenn die österreichische Rechtsordnung, abgesehen von den durch Art. 44 Abs. 3 B-VG formal besonders abgesicherten „Baugesetzen“ der staatlichen Ordnung, keine formalrechtliche Differenzierung innerhalb der Kategorie des Bundesverfassungsrechts kennt und Grundrechte demgemäß formal als verfassungsgesetzlich gewährleistete subjektive Rechte normiert sind, zeigt sich in der mehrfachen Garantie der Religionsfreiheit und im Kontext ihrer jeweiligen Regelung die besondere Bedeutung dieses Freiheitsrechts. Diese Bedeutung gewinnt angesichts des religiösweltanschaulich neutralen Charakters des liberalen Rechtsstaates eine im Vergleich zur geschichtlichen Herkunft aus der konstitutionellen Monarchie, mit ihrem System der Staatskirchenhoheit, noch einmal eine besondere freiheitssichernde Bedeutung. Die positive Religionsfreiheit des Einzelnen basiert auf dem Recht auf eine eigene religiöse Überzeugung als Freiheit des Gewissens. Die Ausübung des Bekenntnisses ist vielfach an die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft gebunden. Die Kriterien, die über diese Zugehörigkeit entscheiden, überschreiten den persönlichen Gewissensbereich. Sie festzulegen, liegt aber auch nicht in der Kompetenz des weltanschaulich-religiös neutralen Staates, sondern zählt zum Kernbereich der korporativrechtlich geschützten inneren Angelegenheiten. Um dieses Recht zu gewährleisten, trifft den Staat auch die Pflicht, die Rechtsordnung so zu gestalten, dass die Ausübung der Religion nicht grundlos behindert wird. Für den staatlichen Bereich muss aufgrund der negativen Religionsfreiheit die jederzeitige Möglichkeit bestehen, eine nach innerreligionsgemeinschaftlichen Kriterien begründete Zugehörigkeit durch den Austritt aus der Religionsgemeinschaft wieder zu beenden. Solange eine Person aber aus freien Stücken einer Religionsgemeinschaft angehört, gilt einerseits die Vermutung, dass ihre formale Zugehörigkeit und ihr inneres, eigenes Bekenntnis so weit übereinstimmen, dass religiöse Angebote, welche durch die eigene Gemeinschaft angeboten werden, auch subjektiv gewollt sind. Andererseits schützt das Grundrecht auf Religionsfreiheit aber auch die Entscheidung des Einzelnen, von einem religiösen Angebot seiner eigenen Gemeinschaft nicht Gebrauch zu machen und inhaltlich den Vorgaben der eigenen Religions25 Zur Frage, inwieweit die Ausübung der Krankenhausseelsorge durch das Datenschutzrecht erschwert wird, siehe unten, IV. 26 Bei der Umsetzung und Vollziehung des Unionsrechts kommt Art. 10 GRC hinzu.

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gesellschaft zu widersprechen.27 Dass sich nicht nur Religionslose und Angehörige anderer Religionsgemeinschaften, sondern auch die eigenen Mitglieder auch auf den negativen Aspekt der Religionsfreiheit berufen können, wird durch die korporative Freiheit der Religionsgemeinschaft nicht ausgehöhlt. Da in diesem Fall aber objektiv die Zugehörigkeit einer Person zu einer bestimmten Religion und ihr Bekenntnis, beide getragen vom selben freien Willen, voneinander abweichen, muss dies nach außen hin kundgetan werden.28 Die korporative Religionsfreiheit schützt den ungehinderten Kontakt zu den eigenen Mitgliedern, soweit dies für die Ausübung der Religion notwendig ist. Auch die konkreten Entscheidungen, welche Aufgaben und Rollen für die Seelsorge an den Kranken bestimmt werden, richten sich allein nach den religiösen Vorschriften und bilden eine grundrechtlich geschützte „innere Angelegenheit“ gem. Art. 15 StGG.29 Wo der Einzelne aber von sich aus Seelsorgekontakte ablehnt, ist dies unbedingt zu respektieren. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber, dass nicht das Seelsorgeangebot und als dessen notwendige Voraussetzung der Zutritt ins Krankenhaus von einem geäußerten Wunsch der Patienten abhängen, sondern nur die Ausübung der Seelsorge gegenüber einem bestimmten Patienten. 2. Die Krankenhausseelsorge im Konkordat und in den religionsrechtlichen Anerkennungsgesetzen a) Im Konkordat 1934 Für die Ausübung der Krankenhausseelsorge betritt die Katholische Kirche bzw. ihr zurechenbare Personen Einrichtungen, die als solche nicht für die Religionsausübung gewidmet sind. Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen dienen in erster Linie der medizinischen Versorgung von Kranken und der palliativen Begleitung Sterben27 Im Erkenntnis VfSlg. 15.592/1999 führt der VfGH aus: „Unabhängig von den formellen Kriterien der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft ist das ,eigene Bekenntnis‘ nämlich die nach außen in Erscheinung tretende Deklaration innerer (Glaubens-) Einstellungen und Werte; es kann somit einer formellen Zugehörigkeit nicht gleichgesetzt werden.“ Konkret ging es um die Frage, ob ein Strafgefangener, der noch nicht in die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas aufgenommen worden ist, auf seinen Wunsch hin seelsorglichen Zuspruch durch einen Vertreter dieser Religionsgemeinschaft erfahren dürfe. Vorausgesetzt ist die Bereitschaft des Religionsvertreters, diesem Wunsch auch entsprechen zu wollen. 28 Das wohl bekannteste Beispiel dafür bildet Möglichkeit der Abmeldung vom konfessionellen Religionsunterricht. Solange diese nicht gem. den rechtlichen Vorgaben erfolgt, ist der Religionsunterricht Pflichtfach. 29 In diesem Sinn formuliert die katholische Pastoralkommission Österreichs in Seelsorge im Krankenhaus (Anm. 12), 9 f.: „Krankenhausseelsorge konkretisiert die pastorale Sendung der Kirche im Krankenhaus. Im Auftrag der Kirche und im Rahmen eines Krankenhauses besuchen Krankenhausseelsorger Patienten von sich aus bzw. nach Anfrage und treten in Kontakt mit anderen Menschen im Krankenhaus. […] Krankenhausseelsorge ist Teil des gesamten Pastoralauftrags der Kirche.“

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der. Sie bilden einen soziologischen Mikrokosmos mit sehr eigenständigen Funktionslogiken. Krankenhausseelsorge kann daher nur funktionieren, wenn diese bereit ist, sich in diesen Rahmen integrieren zu lassen. Die spirituelle Dimension des Menschseins und die religiösen Bedürfnisse gehören für viele Patienten zu einer ganzheitlichen Sicht von Gesundheit und Heilung. Ihre Ausblendung würde daher auch medizinischer Vernunft widersprechen. Gleichwohl ist nicht von vornherein ausgemacht, dass die Seelsorger von den sonstigen Personengruppen, welche den Kosmos „Krankenhaus“ bilden, als organischer Teil des Ganzen akzeptiert werden. Besondere Hemmnisse können auftreten, wenn die Seelsorger bzw. Seelsorgerinnen nur sporadisch oder anlassbezogen von außen kommen, etwa wenn ein Pfarrer „seine“ Gläubigen besuchen möchte. Die rechtliche Normierung der Rahmenbedingungen der Krankenhausseelsorge ist daher zwar notwendig, kann aber die persönlichen Begegnungen zwischen den Seelsorgern und der Krankenhausleitung sowie den Angehörigen der unterschiedlichen Berufsgruppen im Krankenhaus nicht ersetzen. In Art. XVI des österreichischen Konkordats30, das in der gegenwärtigen Rechtsordnung Österreichs neben der völkerrechtlichen Verbindlichkeit im innerstaatlichen Rang eines einfachen Bundesgesetzes steht,31 verpflichtet sich die Republik, dass für die „in öffentlichen Spitälern, Heil-, Versorgungs- und dergleichen Anstalten“ untergebrachten Personen dem zuständigen Seelsorger „das Recht des freien Zutrittes zu den Anstaltsinsassen behufs freier Ausübung seines geistlichen Amtes“ zu gewährleisten ist. Dieses Recht kann nur dann verweigert werden, wenn innerhalb der betreffenden Anstalt im Einvernehmen mit dem jeweiligen Diözesanbischof eigene Strukturen der Krankenhausseelsorge im Sinne einer institutionalisieren Seelsorge eingerichtet sind. Sollte dies nicht der Fall sein, richtet sich die Bestimmung, wer zuständiger Seelsorger ist, nach den innerkirchlichen Vorschriften. Die entsprechende Normierung bildet eine innere Angelegenheit gem. Art. 15 StGG, sodass eine Verweigerung des Zutritts mit der Begründung, die betreffende Person sei für die Ausübung der Seelsorge im konkreten Fall nicht zuständig, nur dann statthaft wäre, wenn ein offensichtlich Unzuständiger sich auf das Konkordat bzw. auf eine offenkundig nicht vorhandene Beauftragung durch die Kirche berufen würde. Wo keine institutionelle Einbindung der katholischen Krankenseelsorge in die betreffende Gesundheitseinrichtung erfolgt ist, besteht die primäre Zuständigkeit des Wohnsitzpfarrers des Patien30 Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhle und der Republik Österreich samt Zusatzprotokoll StF: BGBl. II Nr. 2/1934 i. d. F. BGBl. Nr. 195/1960. 31 In der ständestaatlichen Ordnung der Jahre vor dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich standen einige Artikel im Verfassungsrang. Vgl. Stefan Schima, Überschätzt von Freund und Feind? Das österreichische Konkordat 1933/34, in: Ilse Reiter-Zatloukal/Christiane Rothländer/Pia Schölnberger (Hrsg.), Österreich 1933 – 1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg Regime, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 42 – 57, hier S. 47.

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ten.32 Da gerade in größeren Gemeinden und Städten der Bezug zur Wohnsitzpfarre in vielen Fällen nicht gegeben ist, kommt auch der Pfarrer, in dessen Pfarre das Krankenhaus gelegen ist, als „zuständiger Seelsorger“ in Betracht.33 Die Spendung der Krankenkommunion als Wegzehrung und die Krankensalbung sind kirchenrechtlich ausdrücklich als Amtspflichten der Seelsorger normiert (vgl. c. 911 § 134 und c. 922 CIC). Als Mindestmaß korporativer Freiheit erhebt die Kirche den Anspruch, dass die sakramentale Krankenseelsorge unbehindert ausgeübt werden kann. Art. XVI Konk gewährt dem zuständigen Seelsorger kein unmittelbar einklagbares subjektives Recht auf Zutritt. Die Republik verpflichtet sich aber, diesen Zutritt zu gewährleisten, was die Pflicht zum Erlass entsprechender rechtlicher Vorkehrungen im Krankenanstaltenrecht mit sich bringt. Das Konkordat konkretisiert hier die bereits in Art. 15 StGG enthaltene staatliche Gewährleistungspflicht.35 Völkerrechtlich verpflichtet das Konkordat die Republik und somit den Bund und die Länder. Innerstaatlich fallen gem. Art. 12 B-VG Regelungen betreffend Heil- und Pflegeanstalten hinsichtlich des Erlasses von Grundsatzgesetzen in die Kompetenz des Bundes. Landessache ist der Erlass von Ausführungsgesetzen und die Vollziehung des Krankenanstaltenrechts. Dem Vertragswortlaut nach sichert Art. XVI Konk den Zutritt zu den dort genannten Anstalten, um dem Seelsorger die Ausübung des geistlichen Amtes zu ermöglichen. Systematisch richten die Vertragspartner ihren Blick somit auf die institutionelle Absicherung der kirchlichen Sendung in besonderen Situationen, in welchen der ungehinderte Kontakt zwischen dem Seelsorger und den Gläubigen nicht ohne weiteres möglich ist. Die Ermöglichung der Ausübung des geistlichen Dienstes zielt aber auf die pastorale Betreuung der Gläubigen, die sich in einer Situation eingeschränkter Mobilität befindet. Im Kern sichert die Konkordatsbestimmung daher auch die Ausübung der individuellen Religionsfreiheit der Patienten.

32 C. 529 § 1 CIC normiert als Amtspflicht des Pfarrers, den Kranken, vor allem den Sterbenden, mit hingebungsvoller Liebe zur Seite zu stehen, indem er sie sorgsam durch die Sakramente stärkt und ihre Seelen Gott anempfiehlt. 33 Sobald ein Patient zumindest einen Quasiwohnsitz (vgl. c. 102 CIC) im Krankenhaus oder in der Pflegeeinrichtung begründet, wird der Ortspfarrer des Krankenhauses zugleich auch der eigene Pfarrer. 34 Genannt werden dort neben den Pfarrern auch die Pfarrvikare, die Kapläne und die Oberen einer Gemeinschaft in klerikalen Ordensinstituten oder Gesellschaften des apostolischen Lebens für alle, die sich im Haus aufhalten. „Kapläne“ i. S. d. c. 911 CIC sind Priester, die für die kategoriale Krankenseelsorge bestellt sind. Vgl. cc. 564 – 566 CIC. 35 Vgl. Potz, Recht auf seelsorgliche Betreuung aus der Sicht der Patienten und der Religionsgemeinschaften (Anm. 5), S. 109.

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b) § 18 Protestantengesetz Das 1961 in Kraft getretene ProtG36 zeichnet sich in mehrfacher Hinsicht dadurch aus, dass ihm unter den religionsrechtlichen Anerkennungsgesetzen Modellcharakter zukommt. Zugleich gilt es gemeinhin als freiheitssensibelste Normierung der äußeren Rechtsverhältnisse einer anerkannten Religionsgesellschaft. In besonderer Weise treffen beide Beobachtungen auf § 18 ProtG zu. Auf diese Bestimmungen verweisen sowohl § 7 Abs. 1 OrthodoxenG37 als auch § 3 Abs. 1 OrientKG 201338, weshalb von einer Zentralnorm des Rechts der Krankenhausseelsorge gesprochen werden kann.39 Über den allgemeinen Gleichheitssatz und den nach der h. L.40 in Art. 15 StGG enthaltenen Paritätsgrundsatz betreffend die gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaften41 hinaus gewinnt § 18 ProtG eine Maßstabsfunktion, an der sich die Normierungen der Kranken- und Pflegeheimseelsorge in anderen Anerkennungsnormen messen lassen müssen. Systematisch ist die Anerkennung einer Religionsgemeinschaft als Religionsgesellschaft durch ein Spezialgesetz eigentlich die Ausnahme, während die Anerkennung aufgrund des AnerkG 187442 die systematische Regel darstellt. Da das AnerkG keine Normen über die Anstaltsseelsorge enthält, bildet § 18 ProtG die einfachgesetzliche Grundlage der Krankenhausseelsorge für all jene Religionsgesellschaften, welche nicht durch ein Spezialgesetz gesetzlich anerkannt worden sind,43 bzw. für die mittlerweile ein Spezialgesetz die ursprüngliche Anerkennung aufgrund des AnerkG ersetzt hat.44 36

Bundesgesetz vom 6. Juli 1961 über äußere Rechtsverhältnisse der Evangelischen Kirche, StF: BGBl. Nr. 182/1961 i. d. F. BGBl. Nr. 166/2020. 37 Bundesgesetz vom 23. Juni 1967 über äußere Rechtsverhältnisse der griechisch-orientalischen Kirche in Österreich, StF: BGBl. Nr. 229/1967 i. d. F. BGBl. I Nr. 68/2011. 38 Bundesgesetz über äußere Rechtsverhältnisse der orientalisch-orthodoxen Kirchen in Österreich (Orientalischorthodoxes Kirchengesetz; OrientKG), BGBl. I Nr. 20/2003. 39 Die Anwendbarkeit des § 18 ProtG auf die Orthodoxen und Altorientalischen Kirchen unter Berücksichtigung ihrer eigenen, von der Evangelischen Kirche deutlich abweichenden Strukturen. Insbesondere hat das Kriterium der Nationalität eine auch für die Seelsorge gesteigerte Bedeutung. 40 Vgl. Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, S. 62 – 64. 41 Zuletzt krit. zum Paritätsgrundsatz als gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz spezieller Gleichheitsbestimmung Florian Werni, Vom Nutzen und Nachteil verfassungsrechtlicher „Prinzipien“ für das Religionsrecht, in: ZÖR 76 (2021), S. 995 – 1035. 42 Gesetz vom 20. Mai 1874, betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften, StF: RGBl. Nr. 68/1874. 43 Es sind dies zurzeit die Altkatholische Kirche Österreichs, die Evangelisch-methodistische Kirche in Österreich, die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in Österreich, die Neuapostolische Kirche in Österreich, die Österreichische Buddhistische Religionsgesellschaft, Jehovas Zeugen in Österreich und die Freikirchen in Österreich. 44 Dies trifft auf die Armenisch-Apostolische Kirche und die Syrisch-Orthodoxe Kirche in Österreich zu.

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Das einfache Bundesgesetz ist Ausdruck des status positivus der verfassungsgesetzlich garantierten korporativen Religionsfreiheit der Evangelischen Kirche(n) und der individuellen Religionsfreiheit der evangelischen Gläubigen. Der Gesetzgeber erfüllt seinen in den Grundrechen enthaltenen Auftrag, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, dass die verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte überhaupt ausgeübt werden können. Sollte daher an anderen Stellen der Rechtsordnung eine Kollision mit den im ProtG geschützten Rechtsgütern auftreten, bildet § 18 ProtG den religionsfreiheitlichen Referenzpunkt für grundrechtliche Güterabwägungen (etwa mit dem Grundrecht auf Erwerbsfreiheit der Träger oder dem Datenschutzrecht). Inhaltlich garantiert § 18 ProtG, direkt oder als Verweisziel, der Evangelischen, den Orthodoxen und den Altorientalischen Kirchen die Ausübung der Seelsorge an ihren Mitgliedern, die in öffentlichen Krankenanstalten, Versorgungs- und ähnlichen Anstalten untergebracht sind, durch die von der jeweiligen Kirche beauftragte und ausgewiesene Amtsträger. Soweit eine anstaltseigene Krankenseelsorge besteht oder eingerichtet wird, kann für diese ausschließlich eine Person bestellt werden, die hierzu eine schriftliche Ermächtigung durch die jeweilige Kirche vorweisen kann. Ähnlich wie die religionsgesellschaftliche Befähigung und Ermächtigung im Bereich des Religionsunterrichtsrechts45 kann diese Ermächtigung wieder entzogen werden, da in ihr die institutionelle Verknüpfung zwischen der Krankenseelsorge als Bestandteil des kirchlichen Auftrags und damit als geschützte innere Angelegenheit gem. Art. 15 StGG und der mit der Wahrnehmung der konkreten Seelsorge beauftragten Person zum Ausdruck kommt. Modellhaften Charakter hat § 18 ProtG auch für die institutionelle Verortung der Krankenhausseelsorge. Soweit keine eigene Krankenseelsorge eingerichtet ist, ist gem. Abs. 3 1. S. leg. cit. dem von der jeweiligen Kirche beauftragten und ausgewiesenen Amtsträger der freie Zutritt zu den Kranken seiner Kirche zu ermöglichen. Ebenso ist die „freie Ausübung“ der Seelsorge zu ermöglichen. In den Anstaltsordnungen46 ist vorzusehen, dass dem Seelsorger Auskunft darüber erteilt wird, ob und welche Gläubigen aufgenommen worden sind. Bei Gefahr im Verzug ist der Krankenseelsorger unverzüglich zu verständigen (Abs. 3 2. S. leg. cit.). Voraussetzung dieser Auskunft ist die Abfrage des Religionsbekenntnisses im Zuge der Aufnahme in die Einrichtung. Aufgrund der negativen Religionsfreiheit muss diese Auskunft freiwillig sein. Erfolgt keine Auskunft seitens des Patienten ist konkludent davon auszugehen, dass auch keine Leistungen der Krankenhausseelsorge in Anspruch genommen werden wollen. Das Recht der Kirche, Seelsorge allgemein anzubieten, bleibt davon unbeschadet. Religiöse Akte haben gegenüber Personen, deren Bekenntnis unbekannt ist, zu unterbleiben. Nicht verboten ist die bloße 45 46

Vgl. § 4 Abs. 2 RelUG. Siehe dazu unten, III.4.

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Information über die Angebote der Krankenhausseelsorge, da einerseits aus der bloßen Nichtauskunft über das Religionsbekenntnis nicht eine aktive Ablehnung jeglicher Kontaktaufnahme allgemeiner Art geschlossen werden kann, andererseits auch einem Patienten nicht unterstellt werden darf, er könnte seine Meinung nicht im Laufe eines mitunter längeren Aufenthaltes verändern. Das im ProtG normierte Auskunftsrecht der Kirche bezieht sich somit nur auf Personen, die ihre Zugehörigkeit zur Evangelischen Kirche bekanntgegeben haben. Allerdings wirft das Auskunftsrecht der Kirche datenschutzrechtliche Fragen auf, die zum Zeitpunkt des Erlasses des ProtG noch nicht berücksichtigt werden konnten.47 Die Seelsorger sind zwar in Fragen der religiösen Betreuung frei, müssen sich jedoch in das Anstaltsgefüge einordnen. Dementsprechend bestimmt § 18 Abs. 4 ProtG, dass diese bei Ausübung ihrer Funktion die Vorschriften der Anstaltsordnungen zu beachten und in den Angelegenheiten, die nicht geistliche Belange betreffen, die Anordnungen der zuständigen Anstaltsorgane zu befolgen haben. Soweit keine arbeitsrechtliche Bindung an das Krankenhaus vorliegt, bleibt die Kirche für disziplinäre Maßnahmen zuständig, wobei bei Gefahr in Verzug die Leitung des Krankenhauses von ihrem Hausrecht Gebrauch machen kann. c) Islamgesetz 2015 Durch die rechtliche Anerkennung der Anhänger des Islam „nach hanafitischem Ritus“ durch das IslamG 191248 wurde zwar eine im europäischen Vergleich49 innovative Einbindung des Islam in das nationale religionsrechtliche System geschaffen, allerdings wies das ursprüngliche IslamG eine Reihe von Regelungslücken (und auch -tücken) auf, die durch die Neufassung des IslamG im Jahr 2015 behoben werden sollten. Eine der Lücken betraf das Fehlen einer ausdrücklichen50 Bestimmung zur Anstalts- und somit auch zur Krankenhausseelsorge. 47

Siehe dazu unten, IV. StF RGB l Nr 159/1912; nach der Streichung der Wortfolge „nach hanafitischem Ritus“ bis 2015 in Geltung als Gesetz vom 15. Juli 1912, betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams als Religionsgesellschaft, BGBl. Nr. 164/1988. Zur Entstehungsgeschichte des IslamG 1912 vgl. Richard Potz, Das Islamgesetz 1912 und der religionsrechtliche Diskurs in Österreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Thomas Olechowski/Christian Neschwara/ Alina Christian (Hrsg.), Grundlagen der österreichischen Rechtskultur, FS Werner Ogris zum 75. Geburtstag, Wien 2010, S. 385 – 407. 49 Vgl. Katharina Pabel, Das Islamgesetz in rechtsvergleichender Perspektive, in: Stephan Hinghofer-Szalkay/Herbert Kalb (Hrsg.), Islam, Recht und Diversität, Wien 2018, S. 341 – 354. 50 Allerdings war in § 6 IslamG eine ausdrückliche Positivierung des Paritätsgrundsatzes enthalten: „Die Religionsgesellschaft der Anhänger des Islams genießt als solche sowie hinsichtlich ihrer Religionsübung und ihrer Religionsdiener denselben gesetzlichen Schutz wie andere gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaften.“ Bereits aufgrund Art. 7 B-VG wäre freilich ein gänzliches Verbot islamischer Krankenhausseelsorge verfassungswidrig gewesen. Über die institutionelle Garantie und das Anerkennungsrecht hinaus konnte freilich schon vor 48

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Wohl aus Gründen religionspolitischer Sensibilität verweist das IslamG 2015 nicht auf das Anerkennungsrecht christlicher Kirchen (§ 18 ProtG), sondern normiert ein eigenständiges Rahmenrecht für die Anstaltsseelsorge. Da die Anstaltsseelsorge nicht das Anerkennungsrecht als solches betrifft, welches in den ersten beiden Abschnitten des IslamG 2015 geregelt ist, erfolgte eine jeweils eigenständige Normierung für die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich – IGGÖ51 in § 11 Abs. 1 Z. 3 IslamG und für die (Islamische)52 Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich in § 18 Abs. 1 Z. 3 IslamG.53 Vergleicht man beide (gleichlautende) Normen des IslamG mit § 18 ProtG, stehen im IslamG die Seelsorger intensiver im Fokus der rechtlichen Regelung. Gem. § 11 Abs. 2 bzw. § 18 Abs. 2 IslamG kommen als Seelsorger nur solche Personen in Betracht, die aufgrund ihrer Ausbildung und ihres Lebensmittelpunktes in Österreich fachlich und persönlich dafür geeignet sind. Wie die christlichen Seelsorger sind sie in allen religiösen („konfessionellen“) Fragen allein der Religionsgesellschaft verantwortlich, in allen anderen Angelegenheiten hingegen der jeweils zuständigen Leitung für die Einrichtung. Verfassungsrechtlich problematisch ist die nähere Umschreibung der fachlichen Eignung. Für diese ist der Abschluss eines Studiums an einer österreichischen universitären Einrichtung für islamische Theologie oder eine gleichwertige Qualifikation verlangt. Auch das Urteil über die persönliche Eignung wird nicht den Religi2015 der Besuch einzelner Kranker diesen nicht verweigert werden, ohne deren Religionsausübungsfreiheit zu verletzen. 51 Beide Bestimmungen lauten wortgleich: „Die Religionsgesellschaft hat das Recht, ihre Mitglieder, die in öffentlichen Krankenanstalten, Versorgungs-, Pflege- oder ähnlichen Anstalten untergebracht sind, in religiöser Hinsicht zu betreuen.“ 52 Die Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich ist im IslamG als „Islamische Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich“ anerkannt, worin sich der komplexe Weg zur Anerkennung widerspiegelt, den die Religionsgesellschaft gehen musste. In der Selbstbezeichnung entfällt das „Islamische“. § 16 Abs. 1 IslamG gewährt das Recht, einen Namen in Übereinstimmung mit den in § 6 Abs. 1 Z. 1 IslamG genannten Grenzen zu führen. Der Name muss demnach klar erkennbar eine Religionsgesellschaft bezeichnen und eine Verwechslung mit anderen Kirchen oder Religionsgesellschaften, Vereinen, Einrichtungen oder anderen Rechtsformen muss ausgeschlossen sein. Das im Hintergrund dieser Regelung stehende Ausschließlichkeitsrecht geht jedoch nicht soweit, dass der religiös-weltanschauliche Staat darüber befinden könnte, ob eine Religionsgesellschaft nach ihrem eigenen Selbstverständnis dem Islam zuzuordnen ist oder nicht. Da die ALEVI bereits vor Inkrafttreten des IslamG gesetzlich anerkannt worden waren, ist es auch nicht problematisch, dass die Grundlage der jetzigen Anerkennung das IslamG ist. Neue im Rahmen des IslamG anzuerkennende Religionsgesellschaften müssen freilich dem Islam zugeordnet werden können, da es sich sonst nicht um eine „islamische Religionsgesellschaft“ handeln würde. 53 Da das IslamG über die – bereits vor seinem Inkrafttreten erfolgte – Anerkennung des IGGÖ und der ALEVI hinaus auch die Anerkennung weiterer islamischer Religionsgesellschaften ermöglicht, kann durch die jeweils separate Normierung der Anstaltsseelsorge auch in Zukunft auf individuelle Bedürfnisse und Eigenheiten einer weiteren Religionsgesellschaft besser Rücksicht genommen werden. Bislang erfolgte jedoch eine wortgleiche und somit legistisch wenig elegante Normierung.

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onsgesellschaften allein überlassen, sondern von einer mindestens dreijährigen einschlägigen Berufserfahrung und Deutschkenntnissen auf Maturaniveau abhängig gemacht. Diese Bestimmung übersieht, dass Krankenhausseelsorge nach dem Selbstverständnis einer Religionsgesellschaft auch von Ehrenamtlichen ausgeübt werden kann.54 Die Verpflichtung auf einen akademischen Abschluss in Theologie verkennt, dass Krankenseelsorge nicht im Zentrum der Curricula des universitären Studiums steht und über theologische Kenntnisse hinaus eine Reihe von mindestens ebenso wichtigen praktischen Fähigkeiten der Gesprächsführung verlangt, welche ebenfalls nicht Gegenstand der akademischen Lehre sind. Beide Regelungen greifen in die inneren Angelegenheiten der betreffenden Religionsgesellschaften ein und verletzen in ihrer Allgemeinheit55 Art. 15 StGG.56 d) Jüdische Krankenhausseelsorge Die Israelitische Religionsgesellschaft, die gem. § 1 IsraelitenG57 eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist,58 besteht gem. § 5 Abs. 1 IsraelitenG aus Kultus54 Vgl. etwa die Kriterien für die Auswahl, Ausbildung, Beauftragung und Qualitätssicherung für ehrenamtliche MitarbeiterInnen der röm.-kath. Krankenhaus-/Pflegeheim-Seelsorge in: Das Profil der röm.-kath. Krankenhaus- und Pflegeheimseelsorge in der Erzdiözese Wien (Anm. 17), S. 8. 55 Nicht ausgeschlossen ist, dass der Staat Rahmenbedingungen für die fachliche und persönliche Eignung von Krankenseelsorgern normiert. Diese dürften allerdings keine theologischen Voraussetzungen festlegen und müssten für alle Religionsgesellschaften gleichermaßen gelten. Dass Deutschkenntnisse verlangt werden, mag integrationspolitisch wünschenswert sein. Im Kontext der Seelsorge am Krankenbett ist aber die Zuwendung zum Patienten in der von ihm gesprochenen Sprache entscheidend. Für die Kommunikation mit den anderen im Krankenhaus arbeitenden Berufsgruppen und mit der Leitung ist freilich die Kenntnis der deutschen Sprache eine Voraussetzung für die Integration der Seelsorge in die komplexe Welt „Krankenhaus“. 56 Vgl. die Richtlinien der Pastoralkommission Österreichs, Seelsorge im Krankenhaus (Anm. 12), S. 15. Auch wenn der Text kirchenrechtlich keine Gesetzeskraft besitzt, ist er als Text der Pastoralkommission Österreichs eine kirchliche Wahrnehmung einer inneren Angelegenheit. Die Voraussetzungen für den Beruf des Krankenhausseelsorgers sind demnach: die persönliche Eignung, eine theologische Ausbildung (nicht unbedingt das fachtheologische Vollstudium), eine spezielle Krankenhausseelsorgeausbildung, die Bereitschaft zur Arbeitsreflexion sowie die Bereitschaft zur Weiterbildung. 57 Gesetz vom 21. März 1890, betreffend die Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der israelitischen Religionsgesellschaft, StF: RGBl. Nr. 57/1890, grundlegend novelliert BGBl. I Nr. 48/2012 i. d. F. BGBl. I Nr. 166/2020. 58 Dem Wortlaut des IsraelitenG nach erübrigt sich die Diskussion, ob die Israelitische Religionsgesellschaft eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, den Charakter einer solchen genießt, eine Analogie zur öffentlichrechtlichen Korporation besteht oder gewisse Elemente der öffentlich-rechtlichen Körperschaft auch ihr zukommen. War diese Rechtsform im staatskirchenhoheitlichen System ursprünglich dazu da, die anerkannten Religionsgesellschaften in die Staatsorganisation einzubauen, um diese auch mit hoheitlichen Aufgaben betrauen zu können, kommt heute durch die staatliche Verleihung der Rechtsform einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an Religionsgemeinschafen das Angebot und die Erwartung

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gemeinden, deren Aufgabe es ist, für die Befriedigung der religiösen Bedürfnisse ihrer Mitglieder und für die Bereitstellung der dafür erforderlichen Einrichtungen zu sorgen. Die Kultusgemeinden als selbständige Körperschaften des öffentlichen Rechts sind daher jene Organisationsstrukturen, die innerhalb der Israelitischen Religionsgesellschaft die Verantwortung für die Krankenseelsorge tragen.59 § 8 IsraelitenG präzisiert Art. 15 StGG als Recht der Religionsgesellschaft, religiöse Betreuung in besonderen Einrichtungen zu leisten. Neben Angehörigen des Bundesheeres und inhaftierten Personen besteht dieses Recht gem. Abs. 1 Z. 3 auch gegenüber den eigenen Mitgliedern, die in öffentlichen Krankenanstalten, Versorgungs-, Pflege- oder ähnlichen Anstalten untergebracht sind. Während die Kosten für die religiöse Betreuung der Heeresangehörigen gem. Abs. 3 leg. cit. vom Bund übernommen werden, enthält das IsraelitenG keine finanziellen Regelungen, welche die Krankenhausseelsorge betreffen. In diesem Punkt unterscheidet es sich nicht von den übrigen Anerkennungsgesetzen. Auch die jüdische Krankenhausseelsorge ist auf eine möglichst offene Aufnahme in der Institution Krankenhaus für eine gedeihliche Arbeit angewiesen. Auch sie steht gewissermaßen „zwischen den Stühlen“, worauf Abs. 2 leg. cit. näher eingeht: Wer im Auftrag einer jüdischen Kultusgemeinde Dienste der Krankenseelsorge in den genannten Einrichtungen ausübt, untersteht unabhängig davon, ob dies ehrenamtlich oder im Rahmen eines Dienstverhältnisses geschieht, in konfessionellen Belangen der Religionsgesellschaft. In allen anderen Angelegenheiten sind die Seelsorger der jeweils zuständigen Leitung der Einrichtung unterstellt. III. Krankenhausseelsorge und Krankenanstaltenrecht 1. Bundesgesetz über Krankenanstalten und Kuranstalten (KAKuG) Gem. Art. 12 Abs. 1 Z. 1 B-VG verfügt in Angelegenheiten der Heil- und Pflegeanstalten der Bund über die Kompetenz, Grundsatzgesetze zu erlassen, die als Grundlage für den Erlass von Ausführungsgesetzen der Bundesländer dienen. In der Zuständigkeit der Länder liegt in weiterer Folge auch die Vollziehung. In Ausübung dieser Kompetenz wurde bereits im Jahr 1957 das Bundesgesetz über Krankenanstalten und Kuranstalten (KAKuG)60 erlassen. Die ausdrückliche

des Staates zur Kooperation zum Ausdruck. Vgl. Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 40), S. 71 – 74. 59 Zur jüdischen Tradition des Bikkur Cholim als nichtärztliche psychosoziale Begleitung vgl. Stephan M. Probst (Hrsg.), Die Begleitung Kranker und Sterbender im Judentum. Bikkur Cholim, jüdische Seelsorge und das jüdische Verständnis von Medizin und Pflege, Leipzig 2017. 60 Bundesgesetz über Krankenanstalten und Kuranstalten (KAKuG), StF: BGBl. Nr. 1/ 1957 i. d. F. BGBl. I Nr. 79/2022.

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Hervorhebung der Patientenrechte im KAKuG geschah durch die Novelle im Jahr 1993.61 Dem Charakter eines Grundsatzgesetzes entsprechend, verpflichtet dieses in § 5a Abs. 1 Z. 5 KakuG die Landesgesetzgeber, die Träger von Krankenanstalten zu verpflichten, dass auf Wunsch des „Pfleglings“ eine seelsorgerische Betreuung möglich ist. Die Bestimmung ist eingebettet zwischen die Z. 4 leg. cit., wonach dafür zu sorgen ist, dass ausreichend Besuchs- und Kontaktmöglichkeiten mit der Außenwelt bestehen und die Z. 6 leg. cit., nach der auf Wunsch des Pfleglings hin psychologische Unterstützung gewährleistet sein muss. Die institutionelle Verortung der Seelsorge ist somit im Bereich der Aufrechterhaltung und Sicherung der psychischen Gesundheit angesiedelt. Eine gewisse Einschränkung ergibt sich dadurch, dass alle diese Maßnahmen von den Trägern der Krankenanstalten „unter Beachtung des Anstaltszwecks und des Leistungsangebotes“ bereitgestellt werden müssen. Eine verfassungskonforme Interpretation im Licht der Religionsfreiheit verbietet jedenfalls, unter Berufung auf strukturelle Argumente seelsorgliche Angebote gänzlich zu unterbinden. Nach der Legaldefinition des § 42a Abs. 1 KAKuG sind unter „Kuranstalten“ Einrichtungen zu verstehen, die der stationären oder ambulanten Anwendung medizinischer Behandlungsarten dienen, die sich aus einem ortsgebundenen natürlichen Heilvorkommen oder dessen Produkten ergeben. „Krankenanstalten“ umfassen begrifflich auch Heil- und Pflegeanstalten (vgl. § 1 Abs. 1 KAKuG). Die genaue Unterscheidbarkeit ist indes nicht gegeben, da § 1 Abs. 1 Z. 3 KAKuG als Krankenanstalt auch Einrichtungen, die Behandlungen zur Vorbeugung von Krankheiten durchführen, definiert. Eine verfassungskonforme Interpretation des Begriffs Krankenanstalt in § 5a KAKuG ergibt, dass zumindest in jenen Kuranstalten, in denen Patienten sich über einen längeren Zeitraum aufhalten, Krankenseelsorge möglich sein muss, da auch in diesen das Verlassen der Anstalt zum Zweck der Religionsausübung erheblich erschwert ist. 2. Patientencharta Grundrechte der Patienten, zivilrechtliche Ansprüche, im Verwaltungsrecht wurzelnde subjektive Rechte, sozialversicherungsrechtliche Ansprüche und die strafrechtliche Absicherung der wesentlichen Rechtsgüter waren zwar schon längst gegeben, eine Kodifizierung der Patientenrechte wurde jedoch seit Anfang der 1990er-Jahre diskutiert.62 Einerseits sollte eine solche Kodifikation die kompetenzrechtlich bedingte Verstreuung der einzelnen Rechte handhabbarer machen, andererseits sollte wohl durch die Herstellung einer größeren Übersichtlichkeit die Rolle des Patienten als Subjekt und nicht bloß als Objekt ärztlichen Handelns gestärkt werden. 61 62

BGBl. Nr. 801/1993. Vgl. 1268 der Beilagen XXII. GP, 1.

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Nach der Novellierung des KAKuG bildete eine Vereinbarung zwischen dem Bund und dem Land Kärnten gem. Art. 15a B-VG63 einen ersten Schritt hin64 zu einer für den Bund und die einzelnen Länder gleichermaßen verbindlichen Charta der Patientenrechte („Patientencharta“ – PC).65 Die Patientencharta fasst die wesentlichen Patientenrechte in den vier Gruppen (Recht auf Behandlung und Pflege, Recht auf Patientenwürde, Recht auf Selbstbestimmung sowie Recht auf Information und Dokumentation) zusammen.66 Als Vereinbarung gem. Art. 15a B-VG begründet die Charta nicht direkt subjektive Rechte Einzelner, sondern verpflichtet die an der Vereinbarung beteiligten Parteien zur Umsetzung des Übereingekommenen im jeweils eigenen Kompetenzbereich. Träger von Patientenrechten ist gem. Art. 1 Abs. 2 PC jede Person, die Leistungen auf dem Gebiet des Gesundheitswesens in Anspruch nimmt oder ihrer auf Grund ihres Gesundheitszustandes bedarf. Verpflichtet werden sollen alle freiberuflich tätigen Angehörigen der Gesundheitsberufe und alle Einrichtungen, die Leistungen auf dem Gebiet des Gesundheitswesens, welche der Erhaltung und dem Schutz der Gesundheit, der Feststellung des Gesundheitszustandes, der Behandlung von Krankheiten, der Vornahme operativer Eingriffe, der Geburtshilfe sowie der Pflege und Betreuung von Kranken und Genesenden dienen, erbringen (Art. 1 Abs. 3 PC). Als Klammer über die nachfolgend kodifizieren Rechte ordnet Art. 2 PC an, dass die Persönlichkeitsrechte der Patienten und Patientinnen besonders zu schützen sowie ihre Menschenwürde unter allen Umständen zu achten und zu wahren ist.67 Ausdrücklich geschützt werden die Würde und die Integrität der Patienten durch die in Abschnitt III (Art. 9 – 15 PC) normierten Rechte.68 Das Recht auf Seelsorge ist in Art. 12 PC geregelt. Diese Bestimmung lautet: „Die religiöse Betreuung stationär aufgenommener Patienten und Patientinnen ist auf deren Wunsch zu ermöglichen.“ Damit zieht die Patientencharta zwei Grenzen: Dieses Recht soll nur stationär aufgenommenen Patienten zustehen und das Recht hängt davon ab, dass der Patient einen entsprechenden Wunsch äußert. Die Begrenzung auf die stationär Aufgenommenen erscheint vor dem Hintergrund des Schutzzweckes als zu eng. Auch ambulant behandelte Patienten können sich, etwa nach der ärztlichen 63

BGBl. I Nr. 195/1999. Nach und nach folgten weitere bilaterale Abschlüsse zwischen dem Bund und einzelnen Ländern. 65 Vgl. für das Land Wien: Vereinbarung zur Sicherstellung der Patientenrechte (Patientencharta), StF: BGBl. I Nr. 42/2006. 66 Zu ergänzen sind noch abschließende Bestimmungen über die Rechte von Kindern. 67 Die Menschenwürde als oberster Leitwert der gesamten Rechtsordnung ist zwar kein Begriff der österreichischen Bundesverfassung. Die Menschenwürde und ihr Schutz sind aber als Kern der Grundrechte zumindest indirekt positiviert. Die ausdrückliche Bezugnahme auf die Menschenwürde in der PC stellt aber zweifellos einen großen Fortschritt für die liberale österreichische Rechtsordnung dar. 68 Allerdings hängt das Recht auf Selbstbestimmung und Information (Abschnitt IV PC) ebenfalls innerlich mit dem Schutz der Menschenwürde zusammen. 64

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Mitteilung einer unerwarteten Diagnose, in krisenhaften Situationen wiederfinden, welche eine religiöse Betreuung sinnvoll erscheinen lassen. Die Verknüpfung zwischen dem Patientenwunsch und der religiösen Betreuung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Religionsgesellschaften unabhängig von einem konkreten Patientenwunsch das Recht der Krankenhausseelsorge genießen. Ohne den korporativrechtlichen Aspekt könnte dem individuellen Wunsch nicht entsprochen werden.69 Neben dem Recht auf religiöse Betreuung im engeren Sinn sind für die Ausübung der Seelsorge im Krankenhaus auch die Art. 14 und 15 PC relevant. Patienten, die sich in stationärer Versorgung befinden, haben das Recht, Besuche zu empfangen und sonstige Kontakte zu pflegen (vgl. Art. 14 Abs. 1 PC). Dazu zählen auch Besuche und Kontakte zu den Vertretern der eigenen Religionsgemeinschaft. Zugleich ist der Wunsch eines Patienten zu respektieren, keinen Besuch oder bestimmte Personen nicht empfangen zu wollen. Die negative Religionsfreiheit sichert das Recht des Patienten, Seelsorger vom Besuchsrecht auszuschließen. Gem. Art. 14 Abs. 2 PC ist auch dafür zu sorgen, dass die Patienten Vertrauenspersonen nennen können, die insbesondere im Fall einer nachhaltigen Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu verständigen sind und denen in solchen Fällen auch außerhalb der Besuchszeit ein Kontakt mit den Patienten und Patientinnen zu ermöglichen ist. Auch wenn die Krankenhausseelsorger nicht explizit genannt sind, zählen diese zweifellos zur Gruppe der möglichen Vertrauenspersonen. Im Rahmen rechtmäßig ausgeübter Seelsorge ist auch das Angebot, als eine solche Vertrauensperson zur Verfügung zu stehen, möglich. Die Entscheidung darüber verbleibt aber einzig und allein beim Patienten. Art. 15 Abs. 1 verlangt Maßnahmen, die in stationären Einrichtungen ein Sterben in Würde ermöglichen. Da eine allgemeingültige Ausfüllung dieses Begriffs nicht möglich ist, muss auf die Situation der Patienten im Rahmen des Möglichen eingegangen werden. Der Beistand durch einen Seelsorger in der unmittelbaren Todesgefahr gehört für viele religiöse Menschen zu einem würdevollen Sterben. 3. Landeskrankenanstaltenrecht Die Umsetzung der Grundsatzbestimmung des KAKuG erfolgte in den jeweiligen Landes- Krankenanstaltengesetzen: a) Burgenland § 35 Abs. 1 Z. 5 Bgld. KAG 200070 verpflichtet die Rechtsträger von Krankenanstalten „unter Beachtung des Anstaltszwecks und des Leistungsangebotes“ dafür zu 69

Siehe dazu bereits oben, II.1. Gesetz vom 27. April 2000 über die Krankenanstalten im Burgenland (Burgenländisches Krankenanstaltengesetz 2000 – Bgld. KAG 2000), LGBl. Nr. 52/2000, i. d. F. LGBl. Nr. 83/ 2020. 70

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sorgen, dass auf Wunsch des Patienten eine seelsorgerische Betreuung möglich ist. Z. 4 verpflichtet, ausreichend Besuchs- und Kontaktmöglichkeiten mit der Außenwelt zu gewährleisten. Vertrauenspersonen des Patienten müssen im Fall einer nachhaltigen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes auch außerhalb der Besuchszeiten Kontakt mit dem Patienten aufnehmen können Gem. Z. 6 KAG hat der Patient auf seinen Wunsch hin das Recht auf psychologische Unterstützung. Das Recht auf „seelsorgerische Betreuung“ steht somit im Kontext der psychosozialen Gesundheit, zu der auch der religiös-spirituelle Aspekt gezählt wird. b) Kärnten Die Kärntner Krankenanstaltenordnung 199971 trägt als „Ordnung“ nicht nur einen geringfügig abweichenden Gesetzestitel, sondern zeigt auch eine im Vergleich mit dem Bgld. KAG – und auch den übrigen LandesKAG – modifizierte Systematik. Gem. § 23 Abs. 1 lit. h leg. cit. haben die Träger von Krankenanstalten Vorsorge zu treffen, dass im Rahmen des Betriebes, entsprechend dem Anstaltszweck und dem jeweiligen Leistungsangebot, sichergestellt wird, dass neben der Erbringung fachärztlicher Leistungen auf Wunsch des Patienten eine seelsorgerische Betreuung möglich ist und eine psychologische Unterstützung gewährt werden kann. Seelsorge und Psychologische Betreuung werden somit in einem Atemzug genannt, was allerdings nicht bedeutet, dass das eine im anderen aufgeht. Die Recht auf Konsultation eines Allgemeinmediziners erscheint in diesem Zusammenhang systematisch verirrt. c) Niederösterreich Wie im Bgld. KAG sind gem. § 16b Abs. 1 Z. 5 NÖ Krankenanstaltengesetz72 die Rechtsträger von Krankenanstalten unter Beachtung des Anstaltszweckes und des Leistungsangebotes verpflichtet, dafür zu sorgen, dass auf Wunsch des Patienten eine seelsorgerische Betreuung möglich ist.73 Neben dem Patientenrecht auf seelsorgliche Betreuung enthält das NÖ KAG, anders als die anderen Landes-KAG, eine ausdrückliche Regelung über die Weitergabe von Patientendaten im seelsorglichen Kontext. Gem. § 20 Abs. 3 NÖ KAG kann von den in der Krankenanstalt beschäftigten Personen auf Anfragen im Einzelfall Auskunft erteilt werden, ob der Patient in die Krankenanstalt aufgenommen worden ist und wo er angetroffen werden kann. Durch diese Regelung sollen datenschutzsensibel Besuche ermöglicht werden. 71 Kärntner Krankenanstaltenordnung 1999 – K-KAO StF: LGBl Nr 26/1999 (WV), i. d. F. LGBl Nr 98/2020. 72 Niederösterreichisches Krankenanstaltengesetz (NÖ KAG), StF: LGBl. 9440 – 0 (WV), i. d. F. LGBl. Nr. 49/2021. 73 Auch die systematische Platzierung zwischen dem Besuchsrecht und dem Recht auf Zutritt einer Vertrauensperson einerseits und dem Recht auf psychologische Betreuung auf Wunsch des Patienten entspricht der burgenländischen Regelung.

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Ausdrücklich wird diese Durchbrechung der Verschwiegenheitspflicht der Mitarbeiter auch für religiöse Betreuung angeordnet. Der Patient behält das Recht, dieser Auskunftserteilung zu widersprechen. Der Widerspruch kann sich auf Auskünfte gegenüber bestimmten Personen beschränken oder nur gegenüber bestimmten Personen die Auskunft zulassen. d) Oberösterreich Etwas ausführlicher formuliert § 28 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Z. 5 Oö. KAG74 das Patientenrecht auf Seelsorge: Die Rechtsträger von Krankenanstalten haben sicherzustellen, dass unter Bedachtnahme auf den Anstaltszweck und das Leistungsangebot die Rechte der Patienten in der Krankenanstalt beachtet werden und, dass den Patienten die Wahrnehmung ihrer Rechte in der Krankenanstalt ermöglicht wird. Dabei ist durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass auf Wunsch des Patienten eine seelsorgerische Betreuung möglich ist. Auch hier ist das Recht eingebettet zwischen dem Recht auf Kontakt mit der Außenwelt und Besuche und psychologische Unterstützung. Darüber hinaus ordnet § 10 Abs. 3 Z. 3 Oö. KAG an, dass die Möglichkeit für eine seelsorgerische Betreuung aller Patienten, die eine solche wünschen, in die jeweiligen Anstaltsordnungen aufzunehmen ist. e) Salzburg Rechtssprachlich knapper und in der doppelten Nennung des Wortes „Patient“ unelegant, aber systematisch nicht von den anderen Landes-KAG abweichend, bestimmt § 21 Abs. 1 Z. 5 Sbg. KAG75 : „Jeder Patient einer Krankenanstalt hat insbesondere folgende Rechte: (…) das Recht auf seelsorgerische Betreuung auf Wunsch des Patienten.“ f) Steiermark Der steirische Landesgesetzgeber setzte die Grundsatzbestimmung des § 5a KAKuG in § 19 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Z. 8 Stmk. KAG76 um. Ähnlich ausführlich wie in Oberösterreich, im Gegensatz zum Oö. KAG aber in geschlechterinklusiver Sprache, wird der Rechtsträger der Krankenanstalt unter Beachtung des Anstaltszweckes und des Leistungsangebotes verpflichtet, „Sorge zu tragen, dass die Rechte 74 Oberösterreichisches Krankenanstaltengesetz 1997 (Oö. KAG 1997), StF: LGBl.Nr. 132/1997 (WV), i. d. F. LGBl.Nr. 35/2020. 75 Salzburger Krankenanstaltengesetz 2000 – SKAG, StF: LGBl Nr 24/2000 (WV9), i. d. F. LGBl Nr 112/2020. 76 Gesetz vom 16. Oktober 2012 über Krankenanstalten in der Steiermark (Stmk. Krankenanstaltengesetz 2012 – StKAG), StF: LGBl. Nr. 111/2012, i. d. F. LGBl. Nr. 20/2022.

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der Patientinnen/Patienten in der Krankenanstalt beachtet werden und dass den Patientinnen/Patienten die Wahrnehmung ihrer Rechte in der Krankenanstalt ermöglicht wird. Dies betrifft insbesondere folgende Patientinnen-/Patientenrechte: […] Möglichkeit einer seelsorgerischen Betreuung auf Wunsch der Patientin/des Patienten.“ g) Tirol Das Tiroler KAG77 reicht in seiner Stammfassung bis in die Zeit des ersten Bundes-KAG zurück. Auch die Regelung der Patientenrechte lehnt sich stark an Systematik und Wortlaut des Bundesgrundsatzgesetzes an. § 9a Abs. 1 leg. cit. verpflichtet die Träger der Krankenanstalten unter Beachtung des Anstaltszweckes und des Leistungsangebotes die Patientenrechte sicherzustellen. Zu diesen zählt gem. Z. 5 leg. cit., dass auf Wunsch des Patienten eine seelsorgerische Betreuung möglich ist. h) Vorarlberg Das Vorarlberger „Gesetz über Krankenanstalten“78 weicht nicht nur in seinem Titel von den übrigen Landes-KAG geringfügig ab. Es nimmt, anders als diese auch mehrmals Bezug auf europäische Richtlinien, in deren Umsetzung Teile des Gesetzes erlassen sind. Für die Normierung des Rechts auf Seelsorge sind die Richtlinien aber nicht einschlägig.79 § 29 Vbg. GKA, betreffend die nähere Ausgestaltung der Anstaltsordnungen, sieht vor, dass der innere Betrieb der Krankenanstalt nicht nur am Heil- und Pflegezweck, sondern auch an den Bedürfnissen der Patienten auszurichten ist. Der Betrieb ist so zu gestalten, dass das geistig-seelische und körperliche Wohlbefinden der Patienten gefördert wird. Unter der Überschrift „Sicherung der Patientenrechte“ bestimmt § 30 Abs. 2 lit. i leg. cit., dass der Rechtsträger zugunsten der Patienten und Patientinnen sicherzustellen hat, dass auf deren Wunsch eine seelsorgerische Betreuung und eine psychische Unterstützung bereitgestellt werden muss.80

77

Gesetz vom 10. Dezember 1957 über Krankenanstalten (Tiroler Krankenanstaltengesetz – Tir KAG), StF: LGBl. Nr. 5/1958, i. d. F. LGBl. Nr. 161/2021. 78 [Vorarlberger] Gesetz über Krankenanstalten, StF: LGBl. Nr. 54/2005, i. d. F. LGBl. Nr. 42/2022. Im Rechtsinformationssystem des Bundes ist das Gesetz mit dem Titel „Spitalgesetz“ eingetragen. 79 Vgl. für die StF: RL 2001/20/EG vom 4. April 2001, ABl. L 121 vom 1. 5. 2001, S. 34 – 44. Die RL betrifft Rechts-und Verwaltungsvorschriften über die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln. 80 Auch wenn der Wortlaut suggeriert, dass sowohl seelsorgliche als auch psychologische Unterstützungen zusammen bereitgestellt werden müssen, kann sich der Patientenwunsch rechtmäßig auf eine oder beide Formen der Unterstützung beziehen.

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i) Wien Schließlich nimmt auch das Wiener KAG81 die Seelsorge unter die Patientenrechte auf. Nach § 17a Abs. 1 Wr. KAG hat der Rechtsträger der Krankenanstalt unter Beachtung des Anstaltszwecks und des Leistungsangebots vorzusorgen, dass die Rechte der Patienten in der Krankenanstalt beachtet werden und dass den Patienten die Wahrnehmung ihrer Rechte in der Krankenanstalt ermöglicht wird. Abs. 2 lit. l leg. cit. spricht als einzige landesgesetzliche Norm nicht von seelsorgerischer bzw. seelsorglicher Unterstützung. Die Patienten haben vielmehr das Recht auf religiöse Betreuung und psychische Unterstützung.82 j) Resümee § 5a Abs. 1 Z. 5 KAKuG verpflichtet die Landesgesetzgeber, die Träger von Krankenanstalten unter Beachtung des Anstaltszwecks und des Leistungsangebotes zu verpflichten, dass auf Wunsch des Pfleglings eine seelsorgerische Betreuung möglich ist. Vergleicht man die in Ausführung dieser Grundsatzbestimmung ergangenen landesgesetzlichen Normen, erkennt man abgesehen von kleineren Abweichungen in der Formulierung keine inhaltlich relevanten Unterschiede. Einige gesetzessystematische Besonderheiten (z. B. im Ktn. KAG) haben keinen Einfluss auf die Normaussage. Die bundesgesetzliche Verknüpfung zwischen der seelsorgerischen Betreuung und dem Patientenwunsch wurde in alle Landes-KAG übernommen. Auf den ersten Blick handelt es sich hierbei um eine einseitige individualrechtliche Sicht der Krankenhausseelsorge als Bestandteil der individuellen Religionsfreiheit. Bei genauerem Hinsehen muss aus der Ausblendung der korporativrechtlichen Dimension aber nicht zwangsläufig geschlossen werden, dass die Krankenhausseelsorge als eine „Leistung, die vom Patienten erst angefordert werden muss“, normiert ist.83 Gesetzessystematisch erfolgt die Regelung im Kontext der Patientenrechte und stimmt mit der Patientencharta überein. Der institutionelle Aspekt kommt daher im Gesetzestext gar nicht in den Blick. Dass die Religionsgemeinschaften Angebote der Krankenhausseelsorge anbieten dürfen, und dass sie das auch aktiv tun, sind Voraussetzungen, dass dem Patientenwunsch überhaupt entsprochen werden kann. Die verfassungsrechtliche Garantie und die Absicherung der Krankenhausseelsorge im Konkordat und den unterschiedlichen Anerkennungsgesetzen, vor allem in § 18 81

Wiener Krankenanstaltengesetz 1987, StF: LGBl. Nr. 23/1987 i. d. F. LGBl. Nr. 62/2021. Der Wortlaut suggeriert, dass Seelsorge in erster Linie Betreuung durch die Kirchen und Religionsgemeinschaften ist. Auch der Seelsorge kommt freilich unterstützender Charakter zu. 83 So unter Hinweis auf die Spannung zwischen § 18 ProtG und dem im Krankenanstaltenrecht jeweils normierten „Wunsch des Patienten“ Karl W. Schwarz, Wieviel Seelsorge verträgt das Krankenhaus? Eine Problemanzeige zum Verhältnis von Krankenseelsorge und Patientenschutz, in: ÖARR 62 (2015), S. 38 – 47. 82

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ProtG, müssen systematisch mitgelesen werden, will man den Begriff „seelsorgerische Betreuung“ rechtsrichtig interpretieren. Nicht das institutionelle Angebot der Religionsgemeinschaften, sondern nur die Betreuung im Einzelfall ist an den Patientenwunsch gekoppelt. Auf welche Weise dieser Wunsch nach außen kundgetan werden muss, wird nirgends normiert. Ein etwaiges Abstellen auf einen über die Kundgabe des Religionsbekenntnisses hinausgehenden Patientenwunsch brächte die Gefahr mit sich, dass Patienten, welche aktuell oder dauerhaft nicht mehr in der Lage sind, ihren Willen zu äußern, auf seelsorgliche Angebote verzichten zu müssen, sofern nicht zu einem früheren Zeitpunkt eine betreffende Wunschäußerung stattgefunden hat. In Todesgefahr liefe das auf eine Verweigerung der Seelsorge hinaus. Dass das Krankenhaus schließlich nicht ohne personelle und inhaltliche Abstimmung mit den Religionsgemeinschaften in eigener Regie seelsorgliche Angebote anbieten kann, folgt direkt aus Art. 15 StGG. Die landesgesetzlich normierten Patientenrechte auf Seelsorge übernehmen auch den im Grundsatzgesetz enthaltenen Verweis auf Anstaltszweck und Leistungsangebot, welche bei der Sicherstellung der Patientenrechte zu beachten sind. Soweit die Krankenhausseelsorge organisatorisch ins Krankenhaus eingegliedert bzw. diesem angegliedert ist, ist die Abstimmung zwischen den institutionellen Erfordernissen beider Seiten, etwa was die Nutzung von Räumlichkeiten betrifft, leichter zu bewerkstelligen als im Fall der nicht-institutionalisierten Seelsorge. Auch hier vermag der bloße Hinweis auf den Zweck und das Leistungsangebot der Anstalt jedoch nicht das Recht der Patienten auf seelsorgliche Unterstützung und das Recht der Religionsgemeinschaften, diese zu leisten, auszuhebeln. Eine genauere Abstimmung zwischen den konkreten Erfordernissen einer bestimmten Anstalt und der Krankenhausseelsorge kann nicht in den KAG erfolgen, sondern ist den Anstaltsordnungen und Hausordnungen vorbehalten. In der Praxis wird vielfach auch der Weg einer vertraglichen Abstimmung zwischen Krankenhausträger und Religionsgemeinschaft gegangen.84 4. Umsetzung in den Krankenanstaltenordnungen – ein Beispiel § 5a KuKAG verpflichtet die Landesgesetzgeber, die Träger von Krankenanstalten zur Beachtung der Patientenrechte zu verpflichten. Diese Verpflichtung gilt allerdings nur „unter Beachtung des Anstaltszwecks und des Leistungsangebotes“. M. a. W. sind die Träger von Krankenanstalten nicht dazu zu verpflichten, die religiöse Betreuung der Patienten ohne Rücksicht auf die institutionellen Rahmenbedingungen der jeweiligen Einrichtung zu ermöglichen. Die Krankenhausseelsorge muss sich in das Gesamtgefüge „Krankenhaus“ einordnen. Eine solche Einordnung kann, wie bereits in Art. XVI Konk und § 18 ProtG angesprochen, durch die Errichtung einer Krankenhausseelsorge innerhalb und für ein bestimmtes Krankenhaus er84 Vgl. für das AKH der Stadt Wien Richard Potz, Recht auf seelsorgliche Betreuung aus der Sicht der Patienten und der Religionsgemeinschaften (Anm. 5) S. 117.

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folgen. In diesem Fall ist die kooperative Rücksichtnahme aufeinander von vornherein institutionalisiert. Die Krankenhausseelsorge kann aber auch durch Vertreter der Religionsgemeinschaften erfolgen, ohne dass diese in das Krankenhaus ein- oder dessen Organisation angegliedert sind. In diesem Fall ist das Recht auf Zutritt in die Gesundheitseinrichtungen in den jeweiligen Anstaltsordnungen näher auszugestalten. Die konkrete Regelung darf dabei nicht nur die Arbeitsabläufe im Krankenhaus berücksichtigen, sondern muss auf die Situation der Patienten hin eine flexible Ausgestaltung ermöglichen. Im Fall der Verschlechterung des Gesundheitszustands oder unmittelbarer Todesgefahr muss der Zutritt jederzeit garantiert sein. Gem. § 6 Abs. 1 KuKAG wird der innere Betrieb einer jeden Krankenanstalt durch die Anstaltsordnung geregelt. Über den genauen Inhalt der Anstaltsordnungen hat der Landesgesetzgeber zu befinden, der sich dabei innerhalb der bundesgesetzlichen Grundsatzbestimmung bewegt.85 Die Anstaltsordnungen haben in allen ihren Regelungen die Patientenrechte besonders zu berücksichtigen.86 In den Anstaltsordnungen können das Recht der Religionsgemeinschaften auf Ausübung der Krankenseelsorge und das Patientenrecht auf religiöse Betreuung im Blick auf die konkrete Einrichtung präzisiert werden. Da das Recht auf Seelsorge verfassungsgesetzlich verankert ist, kann dieses durch die Anstaltsordnungen genauso wenig ausgeschlossen werden wie durch einfachgesetzliche Maßnahmen. Die AnstaltsO des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien (AKH),87 der größten öffentlichen Zentralkrankenanstalt in Österreich, enthält in ihrem Teil III eine Zusammenfassung der Patientenrechte. Diese „sind vom gesamten Personal des AKH verbindlich einzuhalten. Den Patientinnen und Patienten wird die Wahrnehmung ihrer Rechte im AKH ermöglicht. Im Besonderem betrifft das jene Rechte, die sich aus den entsprechenden Bestimmungen des Wiener KAG 1987 in der jeweils geltenden Fassung ergeben.“88 Ausdrücklich wird das Recht auf religiöse Betreuung und psychische Unterstützung festgehalten: „Auf Wunsch der/des stationär aufgenommenen Patientin/Patienten wird die seelsorgerische bzw. religiöse Betreuung durch ein Organ der jeweiligen Konfession ermöglicht.“89 Den Patienten ist die Möglichkeit gegeben, den Andachtsraum zu besuchen, was die Widmung eines Raumes für religiöse Zwecke voraussetzt. Schließlich ist Sterbenden, auf ihren Wunsch hin, religiöse (und psychische) Betreuung zu gewähren, womit ein besonders wichtiger Auftrag der Krankenhausseelsorge eigens hervorgehoben wird.

85 Vgl. § 15 Bgld. KAG; § 23 Ktn. KAO; § 16 NÖ KAG; § 10 OÖ KAG; § 20 Sbg. KAG; § 18 Stmk. KAG; § 10 Tiroler KAG; § 29 Vbg. G über KA; § 10 Wr. KAG. 86 Vgl. ausdr. § 10 Wr. KAG. 87 Abrufbar unter: https://www.akhwien.at/default.aspx?pid=27169 [Zugriff: 18. 09. 2022]. 88 AnstaltsO AKH Wien, S. 11. 89 Obwohl einleitend zur Ausformulierung dieses Rechts genannt, wird psychische Unterstützung nicht mehr eigens erwähnt. Soweit diese psychologische Hilfestellungen umfasst, geht dies über religiöse Betreuung im engeren Sinn hinaus.

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Die AnstaltsO des AKH spricht von einem „Organ der jeweiligen Konfession“. Damit sind nicht nur Vertreter der christlichen Kirchen, sondern auch Vertreter nichtchristlicher Religionsgemeinschaften gemeint.90 Als Organ einer Konfession kommt nur in Betracht, wer im Auftrag der jeweiligen Religionsgemeinschaft die Seelsorge ausübt. Indirekt wird damit auf das institutionelle Recht der Kirchen und Religionsgesellschaften gem. Art. 15 StGG verwiesen. Zugleich scheint dieses Recht dadurch relativiert zu sein, dass auch hier jeweils der Wunsch des Patienten als Voraussetzung für die Ausübung der seelsorgerischen Betreuung genannt wird. Die AnstaltsO ist erst nach einer Genehmigung der Landesregierung rechtswirksam, welche erfolgt, wenn keine gesetzlich begründeten Bedenken bestehen.91 Die Kriterien, welche an die Äußerung des Patientenwunsches zu legen sind, sind daher keine anderen als in den Landes-KAG selbst.92 Fragt man nach einer Auskunftspflicht gegenüber den Kirchen- und Religionsgesellschaften, findet man in der AnstaltsO des AKH zwar die Normierung der Verschwiegenheitspflicht für alle im AKH beschäftigten Personen, sofern ihnen nicht schon nach anderen gesetzlichen oder dienstrechtlichen Vorschriften ohnehin eine solche Verschwiegenheitspflicht auferlegt ist. Diese Verschwiegenheitspflicht erstreckt sich auf alle die Krankheit betreffenden Umstände sowie auf die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Verhältnisse der Patienten und Patientinnen. Eine Durchbrechung dieser Verschwiegenheitspflicht, wie sie § 18 Abs. 3 ProtG ausdrücklich anordnet und § 20 Abs. 3 NÖ KAG93 ausdrücklich für das Land Niederösterreich normiert, findet in der AnstaltsO des AKH jedoch keinen Widerhall. Das Schweigen der AnstaltsO kann freilich die für das ganze Bundesgebiet verpflichtende religionsrechtliche Bestimmung des ProtG nicht außer Kraft setzen. Ob mit dem gesetzlich geschützten Interesse der Religionsgesellschaften jedoch u. U. das Datenschutzrecht kollidiert, soll abschließend dargestellt werden. IV. Krankenhausseelsorge und Datenschutz – ein mehrdimensionales Grundrechtsproblem Die oben vertretene Auffassung94 geht davon aus, dass zwischen den institutionellen Garantien, dem Individualrecht der Patienten und dem Krankenanstaltenrecht ein spannungsreiches Gefüge herrscht, das nicht einseitig zugunsten des individuellen Patientenwunsches oder zugunsten einer möglichst reibungsfreien Organisation anstaltsinterner Abläufe auflösbar ist, ohne zugleich das verfassungsrechtlich veranker90 Die Homepage der Krankenhausseelsorge des AKH dient demnach auch dem gemeinsamen Auftritt der katholischen, evangelischen, orthodoxen, orientalischen, muslimischen, jüdischen und buddhistischen Seelsorge. Darüber hinaus wird auf den Beitrag der Krankenhausseelsorge der Zeugen Jehovas in Österreich verwiesen. 91 Vgl. z. B. § 10 Abs. 6 Wr. KAG. 92 Siehe III.3.j). 93 Siehe oben, III.3.c). 94 V. a. II.1. und III.3.j).

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te und im einfachgesetzlichen Religionsrecht garantierte korporative Recht auszuhöhlen. Die sachlogische Voraussetzung, dass die Kirchen und Religionsgesellschaften ihre Seelsorgedienste zielgerecht, d. h. ihren Mitgliedern gegenüber anbieten und ausüben können, ist, dass diese zuerst davon Kenntnis erlangen, dass sich potentielle Adressaten der Seelsorge in einer Krankenanstalt befinden. Im Blick auf den korporativrechtlichen Aspekt der Problematik legt § 18 Abs. 3 2. Satz ProtG Art. 15 StGG folgerichtig aus und normiert ein Auskunftsrecht der Kirche. Anerkennt man das religionsrechtliche Meistbegünstigungsprinzip, ist diese Bestimmung zumindest auch auf die anderen gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaften anwendbar. Da es sich bei der Kenntnis über die Aufnahme der eigenen Gläubigen um die sachlogische Voraussetzung für die Ausübung (verfassungs-)gesetzlich garantierter Rechte handelt, ist ein solches Recht in den speziellen Anerkennungsgesetzen mit enthalten, auch wenn der jeweilige Wortlaut dazu schweigt. Das in § 11 Abs. 1 Z. 3 bzw. § 18 Abs. 1 Z. 3 IslamG der IGGÖ bzw. ALEVI gegenüber normierte Recht ihre Mitglieder, die in den dort aufgezählten Anstalten untergebracht sind, in religiöser Hinsicht zu betreuen, liefe ohne die Kenntnis vom Aufenthaltsort der Mitglieder ins Leere. Dasselbe gilt für das Recht der Israelitischen Glaubensgemeinschaft gem. § 8 IsraelitenG. Die korporativrechtlich scheinbar eindeutige Lösung wird aber durch die Frage überlagert, ob die gesetzlich angeordnete Auskunft ihrerseits dem Datenschutzrecht widerspricht. 1. Zur Rechtslage vor der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) Die Frage, ob Vertretern der Religionsgesellschaften unter Berufung auf den Datenschutz die Auskunft über den Aufenthalt ihrer Mitglieder im Krankenhaus verweigert werden kann, war bereits nach der Rechtslage vor dem Inkrafttreten der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO)95 im Jahr 2018 nicht unumstritten. Gem. § 9 Z. 13 DSG 200096 waren schutzwürdige Geheimhaltungsinteressen bei der Verwendung sensibler Daten dann nicht verletzt, wenn nicht auf Gewinn gerichtete Vereinigungen mit politischem, philosophischem, religiösem oder gewerkschaftlichem Tätigkeitszweck Daten, die Rückschlüsse auf die politische Meinung oder weltanschauliche Überzeugung natürlicher Personen zulassen, im Rahmen ihrer erlaubten Tätigkeit verarbeiteten und es sich hierbei um Daten von Mitgliedern, Förderern oder sonstigen Personen handelte, die regelmäßig ihr Interesse für den Tätigkeitszweck der Vereinigung bekundet hatten. Diese Daten durften, sofern sich aus gesetzlichen Vorschriften nichts anderes ergab, nur mit Zustimmung der Betroffenen an Dritte weitergegeben werden. Die Frage, ob die Auskunft gegenüber Vertretern 95

Siehe Anm. 4. Bundesgesetz zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten (Datenschutzgesetz – DSG), StF: BGBl. I Nr. 165/1999, i. d. F. BGBl. I Nr. 148/2021. 96

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der Religionsgesellschaften zulässig ist, wurde hierdurch aber nicht beantwortet, da die Krankenanstalten, nicht die Religionsgesellschaften als Auskunftspersonen bzw. Datenverarbeiter auftreten. Die wohl h. L. erblickte deshalb hinaus in 18 ProtG die von § 7 Abs. 2 DSG i. d. F. der Novelle 2014 geforderte gesetzliche Grundlage für die Datenweitergabe der gem. § 4 Z. 2 DSG sensiblen Daten des religiösen Bekenntnisses an die Religionsgemeinschaften und stellte dementsprechend solange keinen Verstoß gegen das Grundrecht auf Datenschutz fest, als dass die Angaben zum Religionsbekenntnis anlässlich der Aufnahme in die Krankenanstalt freiwillig erfolgten.97 Diese Auffassung entsprach auch der öffentlich kundgetanen Rechtsauffassung des Kultusamtes.98 Das Bundeskanzleramt hingegen hatte zuvor eine rechtspolitische Empfehlung ausgesprochen, die ausdrückliche, über die Angabe des Religionsbekenntnisses hinausgehende Zustimmung der Patienten zur Weitergabe der Daten an die Religionsgesellschaften einzuholen.99 Da diese Empfehlung in der damaligen Rechtsordnung keine Deckung fand, bekräftigte das Kultusamt seine Rechtsauffassung in einer ergänzenden Stellungnahme.100 Diese Auffassung berücksichtigt die korporativrechtlichen wie die individualrechtlichen Aspekte der Problematik gleichermaßen. Ein darüber hinausgehendes Abstellen auf einen ausdrücklichen Wunsch des Patienten als Grundlage für die Datenweitergabe hätte auch die Rechtswirkungen der Mitgliedschaft nivelliert, da unterstellt würde, zwischen der freiwilligen Mitgliedschaft und dem Willen, die Religion entsprechend der eigenen Religionsgemeinschaft auch ausüben zu wollen, sei so lange ein Widerspruch zu vermuten, als dass die betreffende Person nicht ausdrücklich dem Angebot der eigenen Gemeinschaft zugestimmt hätte. Abgesehen davon, dass eine solche Sicht den Einzelnen ohne weiteres einen Widerspruch im äußeren Verhalten und im inneren Bekenntnis unterstellt, überhöht eine solche Forderung die negative Religionsfreiheit. Diese bleibt freilich die Grundlage dafür, den ausdrücklichen Wunsch, Seelsorgeangebote nicht annehmen zu wollen, unbedingt respektieren zu müssen. Der Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt schloss sich jedoch auch in weiterer Folge nicht der Rechtsmeinung des Kultusamtes und der herrschenden religionsrechtlichen Lehre an. Eine Übermittlung der Daten sei zwar datenschutzrechtlich 97

Vgl. Richard Potz, Recht auf seelsorgliche Betreuung aus der Sicht der Patienten und der Religionsgemeinschaften (Anm. 5), S. 116; ebenso in: Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 40), S. 172. 98 Vgl. Information zur datenschutzrechtlichen Beurteilung der Krankenseelsorge, GZ 7.830/2-KA/b/2000. Zit. nach Karl Schwarz, Wieviel Seelsorge verträgt das Krankenhaus? (Anm. 83), S. 41. 99 GZ 810.036/3-V/3/99 vom 10. 12. 1999; ebenfalls zit. nach Karl Schwarz, ebd. Auch Richard Potz, Recht auf seelsorgliche Betreuung aus der Sicht der Patienten und der Religionsgemeinschaften (Anm. 5), S. 116, qualifiziert diese Rechtsauffassung als „rechtspolitische Überlegung“. 100 GZ 7.830/6-KA/b/2000 vom 12. 10. 2000.

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möglich, sei aber an die ausdrückliche Zustimmung durch die Betroffenen geknüpft. Bei Zutreffen dieser Auffassung müsste im Zuge der Erhebung des Religionsbekenntnisses für den Fall, dass ein Patient dieses offenbart, zusätzlich noch die Zustimmung erbeten werden, dass die entsprechenden Daten (Name, Religionsbekenntnis, Zimmernummer im Krankenhaus) an den oder die Vertreter seiner eigenen Religionsgesellschaft weitergegeben werden dürfen. Schwarz erkennt in dieser Auffassung „einen weiteren Schritt zur Delegitimierung von Art. 15 StGG.“101 Selbst wenn man diese Einschätzung nicht teilen sollte, ist die einseitige Konzentration auf die datenschutzrechtlichen Aspekte des Problems und der mangelnde Wille, zwei gleichrangige Verfassungsrechtsgüter zu einem schonenden Ausgleich zu bringen, unübersehbar. Das Grundproblem, das hinter der Frage, ob die Krankenanstalten zur Auskunft gegenüber den Religionsgesellschaften verpflichtet sind, liegt, besteht demnach in der Konstellation mehrerer einander überschneidender und nicht völlig kollisionsfreier Grundrechte. Dies ist für den geschulten Rechtsanwender aber keine Seltenheit, sondern gewissermaßen der grundrechtsdogmatische Normalfall. Nach dem Stufenbau der österreichischen Rechtsordnung stehen alle subjektiven öffentlichen Rechte auf derselben Stufe. Kein Grundrecht ist als solches den anderen rechtlich überlegen. Jedes Grundrecht stößt an die Schranken durch die gleichrangigen verfassungsgesetzlichen subjektiven Rechte. Die richtige Lösung einer solchen Grundrechtskollision zu finden, ist keine mathematische Gleichung, sondern erfordert eine Sensibilität für den besonderen Charakter aller beteiligten Grundrechte. Je nach Situation kann das eine oder andere in seiner Bedeutung über den anderen stehen, gänzlich übergangen werden darf aber keines. Das Grundrecht auf Datenschutz ist dadurch gewährleistet, dass einerseits auch die Mitglieder der Religionsgesellschaften trotz ihres fortbestehenden Willens zur Mitgliedschaft nicht verpflichtet sind, ihr religiöses Bekenntnis zu offenbaren. Darüber hinaus hat jeder Patient das Recht, Leistungen der Krankenhausseelsorge ausdrücklich auszuschließen. Dies kann bereits im Zuge der Aufnahme geschehen, wenn auf das Angebot der Seelsorge im Kontext der Abfrage des Bekenntnisses hingewiesen wird. 2. Zur geltenden Rechtslage nach der DSGVO Dem Vernehmen nach sehen sich seit Inkrafttreten der europäischen Datenschutzgrundverordnung – DSGVO 2018 vor allem kleinere Religionsgesellschaften massiv in der Ausübung ihres Auftrages gegenüber ihren erkrankten und sterbenden Mitgliedern behindert.102

101

Schwarz, ebd., 47. Der evangelische Synodenpräsident Krömer sieht die evangelische Krankenhausseelsorge sogar „am Sterben“! Vgl. den Bericht vom 11. 12. 2019 auf https://evang.at/synodenprae sident-kroemer-krankenhausseelsorge-ist-amsterben [Zugriff: 18. 09. 2022]. 102

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Als Verordnung hat die DSGVO gem. Art. 288 AEUV allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Das nationale Datenschutzgesetz ergänzt die DSGVO, kann diese aber nicht derogieren. Durch die DSGVO sollte in der gesamten Europäischen Union ein vergleichbares Datenschutzniveau hergestellt werden. Dem Unionsrecht kommt Anwendungsvorrang vor dem gesamten nationalen Recht zu, das Verfassungsrecht inbegriffen.103 Soweit die DGSVO Art. 15 StGG und den einfachgesetzlichen Bestimmungen über die Krankenhausseelsorge als Recht der Religionsgesellschaften widerspricht, geht das Unionsrecht vor. Der Anwendungsvorrang betrifft dementsprechend auch das Konkordat, insofern dieses innerstaatlich als einfaches Bundesgesetz verpflichtet.104 Allerdings ist ein Kernbereich des religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmungsrechts auch durch Art. 9 EMRK geschützt. Nach der Rechtsprechung des EGMR dürfen sich die Mitgliedstaaten ihrer Verpflichtung zum Schutz der Konventionsrechte nicht dadurch entziehen, dass sie einer internationalen Organisation beitreten und dieser die Kompetenz zur Aushöhlung eben dieser Rechte übertragen.105 Derartige Bedenken sind im Blick auf das Unionsrecht aber unbegründet, da die Grundrechte der EMRK gem. Art. 6 Abs. 3 EUV als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind, auch wenn die Union als solche entgegen dem in Art. 6 Abs. 2 EUV enthaltenen Auftrag bislang noch nicht der EMRK beigetreten ist. Soweit es die Umsetzung und Anwendung von Unionsrecht betrifft, ist die korporative Religionsfreiheit auch in der primärrechtlichen Norm des Art. 10 Abs. 1 GRC enthalten. Die Verarbeitung personenbezogener Daten darf nur erfolgen, wenn eine der in Art. 6 DSGVO genannten Bedingungen erfüllt ist: Die in Art. 6 Abs. 1 lit. a DSGVO genannte Zustimmung des Betroffenen scheidet hier aus, da es gerade um die Frage geht, ob eine ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen erforderlich ist. Lit. c leg. cit. gestattet die Verarbeitung von Daten, wenn dies zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich ist, der der Verantwortliche unterliegt. Die Verarbeitung der Daten erfolgt nicht durch die Religionsgesellschaften, sondern durch den jeweiligen Träger der Krankenanstalt. Die religionsrechtlich normierten Rechte der Religionsgesellschaften zur Ausübung der Krankenhausseelsorge bilden dennoch eine taugliche rechtliche Grundlage für die Anwendung dieser Bestim103

Ausgenommen sind die Baugesetze der österreichischen Bundesverfassung, da das Volk anlässlich der Volksabstimmung über den Beitritt Österreichs zu den Europäischen Gemeinschaften keinen Blankoscheck für über den Beitrittsvertrag hinausgehende Totaländerungen des B-VG ausgestellt hat. 104 Die völkerrechtliche Verpflichtung Österreichs bleibt vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts zwar unberührt, würde im Fall einer echten Kollision aber die Republik zum Bruch des Konkordats verpflichten. 105 Vgl. Helmut Aust, Eine völkerrechtsfreundliche Union? Grund und Grenze der Öffnung des Europarechts zum Völkerrecht, in: EuR 52 (2017), S. 106 – 120, hier S. 117 mit Verweis auf EGMR, Urteil vom 18. Februar 1999, Waite & Kennedy/Deutschland, 26083/94.

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mung. Dem Recht der Religionsgesellschaften korrespondiert notwendigerweise eine entsprechende Verpflichtung der Krankenanstalten. Eine Anwendung der lit. d leg. cit.106 wird im Normalfall ausscheiden. Nicht auszuschließen ist aber, dass etwa die Spendung der Krankensakramente im Fall von unmittelbarer Todesgefahr für einzelne Patienten als „lebenswichtiges Interesse“ gewertet werden kann.107 Von besonderer Bedeutung ist lit. f leg. cit., welche die Verarbeitung dann gestattet, wenn dies zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erforderlich ist, sofern nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen. Der in Art. 15 StGG i. V. m. Art. 9 EMRK verfassungsrechtlich geschützte Auftrag der Religionsgesellschaften ist für diese ein berechtigtes Interesse. Zudem ist ein Kernbereich der inneren Angelegenheiten auch im Primärrecht der Union geschützt, da in der Anwendung der DSGVO Art. 19 GRC verbindlich zu beachten ist.108 Da es sich bei der Verarbeitung des Religionsbekenntnisses um besonders sensible Daten handelt, ist zusätzlich Art. 9 DSGVO zu beachten. Nach Abs. 1 dieser Norm ist der Verarbeitung von Daten, aus denen religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen hervorgehen, untersagt. Das Verbot gilt aber nicht, wenn einer der in Abs. 2 genannten Ausnahmetatbestände erfüllt ist. Erfolgt die Datenverarbeitung auf der Grundlage geeigneter Garantien durch eine politisch, weltanschaulich, religiös oder gewerkschaftlich ausgerichtete Stiftung, 106 „[…] die Verarbeitung ist erforderlich, um lebenswichtige Interessen der betroffenen Person oder einer anderen natürlichen Person zu schützen“. Lit. b scheidet aus, da die Datenverarbeitung nicht für die Erfüllung eines Vertrags, dessen Vertragspartei die betroffene Person ist, oder zur Durchführung vorvertraglicher Maßnahmen erforderlich, ist. Markus Brandner sieht in der Taufbitte und der darauffolgenden Taufspendung vertragliche Elemente. Vgl. Markus Brandner, Datenschutzrechtliche Erwägungen zur Anwendung der DSGVO auf die Katholische Kirche in Österreich, in: ÖARR 66 (2019), S. 61 – 89, hier S. 75. Die Datenverarbeitung erfolgt aber auf dieser Stufe noch nicht durch die Katholische Kirche, sondern durch die Krankenanstalt. Für die Erfüllung des Behandlungsvertrages erscheint die Verarbeitung nicht unmittelbar relevant. 107 Zur Frage, ob die Verarbeitung der Daten durch die Krankenanstalt in der Wahrnehmung einer Aufgabe erfolgt, die im öffentlichen Interesse liegt (lit. e leg. cit.) siehe gleich im Anschluss. Jedenfalls übt die Krankenanstalt keine öffentliche Gewalt aus, welche ihr übertagen wurde (ebenfalls lit. e leg. cit.). 108 Eine besondere Vertiefung bedürfte die Frage, inwiefern auch Art. 17 AEUV in diesem Zusammenhang einschlägig ist. Die Union ist durch diese Norm des Primärrechts verpflichtet, den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, zu achten und diesen nicht zu beeinträchtigen. In Umsetzung dieser Verpflichtung bestimmt Art. 91 DSGVO, dass bestehende Datenschutzvorschriften von Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften weiter angewandt werden dürfen, wenn sie mit der DSGVO in Einklang gebracht werden. Vgl. umfassend Markus Brandner, Datenschutzrechtliche Erwägungen zur Anwendung der DSGVO auf die Katholische Kirche in Österreich (Anm. 106).

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Vereinigung oder sonstige Organisation ohne Gewinnerzielungsabsicht109 im Rahmen ihrer rechtmäßigen Tätigkeiten, gilt das Verbot des Art. 9 Abs. 1 DSGVO gem. Abs. 2 lit. d leg. cit. dann nicht, wenn sich die Verarbeitung ausschließlich auf die Mitglieder oder ehemalige Mitglieder der Organisation oder auf Personen, die im Zusammenhang mit deren Tätigkeitszweck regelmäßige Kontakte mit ihr unterhalten, bezieht und die personenbezogenen Daten nicht ohne Einwilligung der betroffenen Personen nach außen offengelegt werden. In dieser Ausnahmebestimmung spiegelt Art. 17 Abs. 1 AEUV wider, der die Union verpflichtet, den jeweiligen Status, den die Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, zu achten und nicht zu beeinträchtigen. Zugleich erfolgt innerhalb der Verordnung eine Abwägung zwischen dem grundrechtlich (Art. 10 Abs. 1 GRC, Art. 9 Abs. 1 EMRK) geschützten autonomen Bereich der Religionsgemeinschaften, dem grundrechtlichen Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 GRC) und weiteren individuellen Freiheitsrechten wie dem Recht auf Privat- und Familienleben (Art. 7 GRC, Art. 8 Abs. 1 EMRK). Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit sind die Mitgliedschaft bzw. Fortwirkungen aus einer ehemaligen Mitgliedschaft oder ein Verhältnis, das einer Mitgliedschaft im Wesentlichen gleichkommt, weil regelmäßige Kontakte zwischen der Person und der religiösen Organisation bestehen. Die Verarbeitung muss im Rahmen der rechtmäßigen Tätigkeit erfolgen, was auf das Religionsbekenntnis für religiöse Organisationen ohne weiteres zutrifft. Die Zulässigkeit der Datenverarbeitung inkludiert nicht die Zulässigkeit der Offenlegung der Daten nach außen. Dafür ist eine ausdrückliche Bewilligung erforderlich. Die Ausnahmetatbestände sind erfüllt, soweit sich eine Krankenanstalt in der Trägerschaft einer Kirche oder Religionsgesellschaft befindet und überdies nicht in der primären Absicht, am Wirtschaftsverkehr teilzunehmen, sondern als Ausdruck und zur Verwirklichung des eigenen grundrechtlich geschützten Selbstverständnisses betrieben wird. Im Interesse eines kohärenten Grundrechtsschutzes bezieht sich die Zulässigkeit ohne Zustimmung zu einer Weitergabe an externe Personen der Krankenhausseelsorge jedoch nur für eine in das kirchliche Krankenhaus integrierte Seelsorge. Die Zulässigkeit besteht auch nur gegenüber jenen Patienten, welche derselben Religionsgemeinschaft angehören, welcher auch der Träger der Krankenanstalt zuzurechnen ist. Für die große Zahl öffentlicher und privater Krankenanstalten wird die Frage, ob diese zur Weitergabe der Daten verpflichtet sind, in Art. 9 Abs. 2 lit. d DSGVO nicht 109 Geschützt ist die interne Datenverarbeitung der unterschiedlichen Kategorien von Tendenzbetrieben. Das Kriterium der fehlenden Gewinnerzielungsabsicht ist dem Wortlaut nach auf alle genannten Organisationen anzuwenden, bedeutet aber nicht, dass die Organisation bzw. eine ihr unmittelbar zurechenbare Untergliederung nicht die materielle Basis für die Verwirklichung ihrer tendenzbegründenden Aufgabe erwirtschaften dürfte. M. w. N. vgl. Kastelitz/Hötzendorfer/Tschohl in: Knyrim, DatKomm, Art. 9 DSGVO, Rn. 39 (Stand 07. 05. 2020, rdb.at).

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beantwortet, da nicht die Religionsgesellschaft, sondern der Anstaltsträger als Verarbeiter auftritt. Liegt ein Patient im Sterben, dann kommt die Anwendung von Art. 9 Abs. 2 lit. c leg. cit. in Betracht. Ist der Patient aus körperlichen oder rechtlichen Gründen außerstande, seine Einwilligung zu geben und ist die Verarbeitung zum Schutz lebenswichtiger Interessen der betroffenen Person erforderlich, so erfolgt diese rechtmäßig. Da das Urteil darüber, ob etwa der Empfang der Sterbesakramente „lebenswichtig“ ist, weder dem religiös-weltanschaulich neutralen Staat noch den Organen eines Krankenhauses zusteht, ist für diesen Extremfall der Krankenhausseelsorge die Verarbeitung der Daten zum Zweck der Weitergabe an die Religionsgemeinschaft nicht nur rechtmäßig, sondern auch geboten. In Betracht kommt schließlich auch die Anwendung des in lit. g leg. cit. normierten Ausnahmetatbestandes: Die Verarbeitung der sensiblen Daten ist zulässig, wenn diese eine rechtliche Grundlage im Unionsrecht oder im Rechts des Mitgliedstaats findet. In diesem Fall muss die Verarbeitung in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahren und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsehen. Überdies muss die Verarbeitung aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich sein. Art. 15 StGG und § 18 ProtG bilden eine rechtliche Grundlage im nationalen (Verfassungs-)Recht. Soweit die Auskunft ausschließlich dem zuständigen Seelsorger gegeben wird, ist die Verhältnismäßigkeit zum verfolgten Ziel, die Rechte der Patienten und der Religionsgemeinschaften schonend in Einklang zu bringen, gegeben. Der Wesensgehalt des Grundrechts auf Datenschutz ist gewahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person sind insofern vorhanden, als die anschließende Verwendung und Verarbeitung der Daten durch die Religionsgesellschaft nur in den engen Grenzen der lit. d gestattet ist. Verstöße dagegen sind sanktionsbewehrt.110 Strittig könnte die Frage nach einem erheblichen öffentlichen Interesse sein. Die Antwort auf die Frage, ob ein solches gegeben ist, muss allein in der Rechtsordnung gefunden werden. Die Auskunft sichert ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes subjektives Recht. Ohne diese wäre die „Verwaltung“ einer inneren Angelegenheit der meisten Religionsgesellschaften erheblich erschwert. Soweit Art. XVI Konk die Rechtsgrundlage für die katholische Krankenhausseelsorge bildet, kann in der Vertragstreue der Republik Österreich ein erhebliches öffentliches Interesse gesehen werden. Schließlich stellt eine grundrechtskonforme Anwendung des Unionsrechts ein erhebliches öffentliches Interesse dar.111

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Vgl. §§ 62 f. DSG. Vgl. auch zur DSGVO: „Auch die Verarbeitung personenbezogener Daten durch staatliche Stellen zu verfassungsrechtlich oder völkerrechtlich verankerten Zielen von staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften erfolgt aus Gründen des öffentlichen Interesses.“ 111

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Sollte die Frage in einem gerichtlichen Verfahren virulent werden, stünde die verbindliche Entscheidung darüber, welche Wirkung die Art. 10 GRC und Art. 17 AEUV auf die Anwendung dieser Ausnahmebestimmung entfalten, dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV zu.

Zusammenfassung Wie das Konkordat regeln auch die religionsrechtlichen Anerkennungsgesetze die Krankenseelsorge primär als staatliche Ermöglichung der Ausübung einer inneren Angelegenheit i. S. v. Art. 15 StGG. Die individualrechtliche Perspektive kommt lediglich indirekt in den Blick. Im Gegensatz dazu widmen sich die Patientencharta und das Krankenanstaltenrecht der Frage der Seelsorge aus einer ausschließlich auf den einzelnen Patienten und seinen artikulierten Wunsch zentrierten Perspektive. Dieser Umstand erleichtert die Bewältigung der bereits auf der Ebene der verfassungsrechtlich geschützten subjektiven Rechte bestehenden Interessenskollision nicht und überlässt es dem Rechtsanwender, den verfassungsrechtlich gebotenen Ausgleich herzustellen. Datenschutzrechtlich besteht das Problem darin, dass die Verarbeitung der Daten durch die Krankenanstalten erfolgt und daher die tendenzschützende Ausnahme des Art. 9 Abs. 2 lit. d DSGVO nicht anwendbar ist, sofern es sich nicht um die Seelsorge gegenüber Patienten der eigenen Religionsgesellschaft in einem Krankenhaus in der Trägerschaft eben dieser Religionsgesellschaft handelt. Die Verarbeitung der Daten und deren Weitergabe ausschließlich zum Zweck der Krankenhausseelsorge kann sich daher nur auf Art. 9 Abs. 2 lit. g DSGVO stützen. Der Tatbestand ist aber so sehr interpretationsbedürftig, dass eine Lösung, die zugleich unionsrechtskonform ist. wie auch dem österreichischen Verfassungsrecht entspricht, nahelegt, die Frage der Auskunft gegenüber der Krankenhausseelsorge ausdrücklich in den KAG des Bundes und der Länder zu normieren. Im Blick auf das verfassungsmäßige und in den einzelnen Anerkennungsgesetzen bzw. im Konkordat 1934 garantierte Recht der Kirchen und Religionsgesellschafen, gegenüber ihren eigenen kranken und sterbenden Angehörigen ihren jeweiligen Auftrag zu erfüllen, darf das Erfordernis des Wunsches nicht als ausdrückliche positive Willenskundgebung interpretiert werden. Die Zugehörigkeit zu einer anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft entfaltet für den staatlichen Rechtsbereich so lange Wirkungen, solange diese nicht durch eine Austrittserklärung vor der staatlichen Behörde beendet wird. Aus der Mitgliedschaft folgt die verbindliche Vermutung, dass im Fall der Fälle die Seelsorge in Anspruch genommen werden möchte, solange nicht der gegenteilige Wille geäußert wird. Wie eingangs ausgeführt, entfaltet das Individualrecht auf Religionsfreiheit in einem gewissen Sinn auch Wirkungen gegenüber der eigenen Gemeinschaft, sodass die aus der Zugehörigkeit folgende Vermutung jederzeit widerlegbar ist. Das Erfordernis einer ausdrücklichen Zustimmung unterstellt dem Mitglied einer Religionsgemeinschaft aber von vornherein, in einer

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innerlichen Reserve zur eigenen Religion zu stehen. Die bereits in § 20 Abs. 3 NÖ KAG112 gefundene Lösung, dass der Patient ausdrücklich widersprechen kann, berücksichtigt diese mehrpolige Spannung und bietet sich als Modell für eine bundesweite rechtliche Lösung an.

112 „Soferne es der Patient nicht ausdrücklich untersagt, kann von den in der Krankenanstalt beschäftigten Personen auf Anfragen im Einzelfall Auskunft erteilt werden, ob der Patient in die Krankenanstalt aufgenommen worden ist und wo er angetroffen werden kann. Dies gilt sinngemäß auch für die religiöse Betreuung.“

Religions- und Kunstfreiheit während der Corona-Pandemie Überlegungen aus Anlass des VfGH-Erkenntnisses V 312/2021 vom 30. Juni 2022 Richard Potz und Brigitte Schinkele I. Einleitung Die im Zuge der Corona-Pandemie in den Jahre 2020 und 2021 erfolgte komplette Stilllegung der Kulturbranche hat in vielen Staaten zu Protesten und in Österreich schließlich auch zur Einbringung von zwei Anträgen mehrerer Künstler (Initiative Florestan1) beim VfGH auf Aufhebung von Bestimmungen der jeweils geltenden Cov-19-Notmaßnahmenverordnungen gemäß Art. 139 Abs. 1 Z 3 B-VG unter Berufung auf die Verankerung der Kunstfreiheit in Art. 17a Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger aus 1867 (StGG) geführt. Nachdem der erste Antrag teilweise ab- bzw. zurückgewiesen worden war,2 wurde in einem zweiten Antrag der Vergleich mit der die Religionsausübung betreffenden undifferenzierten Ausnahmebestimmung in der 5. COVID-Notmaßnahmenverordnung3 in den Mittelpunkt gestellt. Dabei geht es einerseits um die religionsrechtlichen Implikationen der Bekämpfung von Epidemien und andererseits um die durchaus komplexe Frage, ob es für eine unterschiedliche Behandlung in den von der Religionsfreiheit bzw. der Kunstfreiheit jeweils geschützten Bereichen eine sachliche Rechtfertigung geben könne. Dies vor allem im Hinblick auf die für Religionsausübungen geltenden großzügigeren Regelungen, die auf freiwilliger Selbstbeschränkung beruhten. Damit ist auch die Reichweite des Selbstbestimmungsrechts von Religionsgemeinschaften in den Blick zu nehmen, dessen Berücksichtigung durch die Bundesregierung in Form von formlosen Absprachen allerdings nicht gerade als geglückt zu bezeichnen ist.4 Insgesamt macht die hier zu behandelnde Thematik wieder einmal ein Charakteristikum des Religionsrechts deutlich, nämlich dass jede Einzelfrage unversehens ins Prinzipielle 1

Offenbar in Anspielung auf die Arie des Florestan aus Beethovens Oper Fidelio: Gott! Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille!, worin allerdings angesichts von Dunkelheit und Stille mit der Anrufung Gottes auch die religiöse Dimension angesprochen wird. 2 VfGH 6. 12. 2021, V 86/2021. 3 BGBl. II 475/2021. 4 Näheres siehe unten II.

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gerät und zu einem unmittelbaren Anwendungsfall der kirchenpolitischen Fundamentalentscheidung über das Verhältnis von Staat und Kirche wird.5 Es ist nichts Neues, dass Maßnahmen zur staatlichen Epidemiebekämpfung6 notwendiger Weise Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Gewährleistung der Religionsfreiheit mit sich bringen, vor allem in die Religionsausübungsfreiheit, wobei es vor allem um die kultisch-liturgische Dimension, also einen Kernbereich geht.7 Dabei ist zu bedenken, dass die psychologische, gesellschaftliche und rechtliche Bewältigung der mit Epidemien verbundenen Herausforderungen insbesondere seit dem Auftreten der Pest im 14. Jahrhundert in hohem Maße mit Religion verbunden war. So wurden zwar Bittprozessionen und Gottesdienste im Freien ausdrücklich angeordnet, es kam aber doch regelmäßig auch zur Schließung von Kirchen. Bis in das 19. Jahrhundert stellten für derartige Bestimmungen die jahrhundertelangen Erfahrungen mit der Pest das paradigmatische Modell dar.8 Die auf das 16. Jahrhundert zurückgehenden Pestordnungen haben Standards für die folgende Seuchengesetzgebung bis weit in die Neuzeit geschaffen. In dieser Tradition stehen viele Maßnahmen, die angesichts der Choleraepidemien des 19. Jahrhunderts in die österreichische Epidemiegesetzgebung übernommen wurden, die dann in das Epidemiegesetz 19139 mündete. Dieses stellt in seiner weitgehend unverändert wiederverlaubarten Fassung

5 Andreas Kowatsch, Die freie Religionsausübung in Zeiten der Pandemie – ein religionsrechtlicher und kanonistischer Zwischenbericht, in: öarr 69 (2022), im Druck. 6 Zur Geschichte der Epidemiegesetzgebung in Österreich vgl. Adolf Schauenstein, Handbuch der öffentlichen Gesundheitspflege in Österreich, Wien 1863; Heinz Flamm, Die ersten Infektions- oder Pest-Ordnungen in den österreichischen Erblanden, im Fürstlichen Erzstift Salzburg und im Innviertel im 16. Jahrhundert, Wien 2008; Alexander Hiersche, Sanitätspolizeiliche Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, Dissertation Univ. Wien 2010; Jakob Wintersberger, Von der Pestordnung zum Epidemiegesetz. Die Entwicklung der Seuchenbekämpfung aus rechtsgeschichtlicher Perspektive, Diplomarbeit Linz 2021. 7 Der über die jeweils aktuellen Entwicklungen jährlich Aufschluss gebende Sektenbericht zeigt auf, dass seit dem Jahr 2020 bei den gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie geäußerten Verschwörungstheorien christlich-konservative bzw fundamentalistische Bewegungen eine merkbare Rolle spielten und dabei insbesondere Einschränkungen von Gottesdiensten vehement zurückgewiesen wurden. Siehe https://ris.bka.gv.at/Doku mente/Mrp/MRP_20211014_2/005_001.pdf (14. 12. 2022). 8 Die einstmals tödliche Bedrohung insbesondere durch Pestepidemien kommt im öffentlichen Raum in Österreich vielfach zum Ausdruck. So finden sich in vielen Gemeinden auf Grund von Gelübden errichtete barocke Pestsäulen und Pestkapellen, auch der Bau der kunsthistorisch bedeutendsten Barockkirche Wiens wurde von Kaiser Karl VI. seinem Namenspatron Karl Borromäus für die Abwendung der letzten in Wien wütenden Pestepidemie 1713 gelobt. Bemerkenswerterweise kam es im Zuge der COVID-19-Pandemie in Wien zur Niederlegung von Blumen und Kerzen an der aus Anlass der Pestepidemie 1679 errichteten großen Dreifaltigkeitssäule im Zentrum Wiens. Im 19. Jahrhundert führte das Auftauchen der Cholera als epidemische Krankheit österreichweit zur Errichtung von Cholerakapellen. 9 Gesetz vom 14. 4. 1913, betreffend die Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, RGBl. 1913/67.

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im Epidemiegesetz 195010 die gesetzliche Grundlage der gegenwärtigen Pandemiemaßnahmen dar. Am 26. Jänner 2020 wurde die Anwendbarkeit dieses Gesetzes durch die Aufnahme des „neuen Corona-Virus“ (2019-nCoV) unter die anzeigepflichtigen Erkrankungen sichergestellt.11 II. Absprachen als „österreichischer Weg“12 Unter religionsrechtlicher Perspektive sind Epidemiegesetze zum einen als „allgemeine Staatsgesetze“ im Sinne des Art. 15 StGG und damit als Schranken des Selbstbestimmungsrechts bzw. der „inneren Angelegenheiten“ der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften (KuR) zu relevieren. Zum anderen ist Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in den Blick zu nehmen, worin die private und öffentliche Religionsausübung gewährleistet ist, die aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer eingeschränkt werden kann. Damit ist für den Staat die verfassungsrechtliche Grundlage gegeben, um pandemiebedingte Einschränkungen gemeinsamer öffentlicher Religionsausübung in welcher Form auch immer unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips vorzusehen. Die österreichische Regierung hat jedoch einen anderen Weg beschritten und sich dazu entschlossen, die entsprechenden Regelungen als „innere Angelegenheiten“ bzw. im internen Bereich den Religionsgemeinschaften zu überlassen. Dies stellt durchaus eine ambivalente Vorgangsweise dar,13 bringt aber für den säkularen, religiös-weltanschaulich neutralen Staat jedenfalls den Vorteil, Abgrenzungsschwierigkeiten im Bereich von Religionsausübung hintanzuhalten. Die Vertreter aller anerkannten KuR wurden daher in Vorbereitung der ersten Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemie am 12. März 2020 in das Bundeskanzleramt eingeladen, über die bevorstehenden Maßnahmen informiert und gebeten „freiwillig und von sich aus auf gottesdienstliche Versammlungen zu verzichten.“14 Es darf allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass die staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaften nicht einbezogen wurden, sodass das „übliche Vergessen“ dieser Religionsge10

Kundmachung der Bundesregierung vom 8. 8. 1950 über die Wiederverlautbarung des Gesetzes über die Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten (Epidemiegesetz), BGBl. 186/1950. 11 Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz betreffend anzeigepflichtige übertragbare Krankheiten 2020, BGBl. II 15/2020 bzw. § 1 Abs. 1 Z 1 EpidemieG. 12 Peter Schipka, Zwischen staatlicher Erwartungshaltung und Aufrechterhaltung kirchlicher Sendung: Institutionalisierte Kontakte zwischen Staat und Kirche in der Corona-Krise in der Republik Österreich, in: Stefan Mückl (Hrsg.), Religionsfreiheit in Seuchenzeiten (= Soziale Orientierung Bd. 29), Berlin 2021, 253 – 263 (255 ff.). 13 Vgl. Schipka, Coronakrise (Anm. 12), S. 257 f. 14 Schipka, Coronakrise (Anm. 12), S. 256.

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meinschaften die Frage aufwirft, was für sie angesichts der Ausnahmebestimmung in den Verordnungen gegolten hat.15 In der Folge kam es zu einer Absprache mit den KuR,16 in der sich diese verpflichteten, die staatlichen Maßnahmen in eigenen Regelungen zu übernehmen. In seiner Stellungnahme im Rahmen des Verfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) wies der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) darauf hin, dass damit sowohl der höchstpersönlichen Bedeutung der Religionsausübung als auch den besonderen institutionellen Voraussetzungen der KuR Rechnung getragen worden war, die solcherart ihre eigenen Angelegenheiten selbstbestimmt wahrnehmen konnten. Vor Ort wurde am 12. März 2020 eine Presseerklärung formuliert in der es hieß: „Aufgrund der Situation wurde gemeinsam vereinbart, dass öffentliche Gottesdienste und Versammlungen ab Montag weitestgehend ausgesetzt und kirchliche Familienfeiern wie Taufen und Hochzeiten verschoben werden (…) Die Kirchen und Religionsgemeinschaften werden die konkrete Umsetzung im jeweiligen Bereich kommunizieren.“17

So wurde von den anerkannten KuR beschlossen, die staatlichen Maßnahmen strikt zu befolgen und Aktivitäten in den religiösen Gemeinden, insbesondere öffentliche Gottesdienste und Versammlungen ab 16. März 2020 für die nächsten Wochen weitestgehend auszusetzen. Die Gotteshäuser sollten jedoch für das Gebet geöffnet und ein seelsorgerliches Gesprächsangebot gewährleistet bleiben. Diese Vorgaben betrafen insbesondere auch Ostern, Pessach und das Fastenbrechen am Ramadanende. Geplante kirchliche Familienfeiern wie Taufen und Hochzeiten mussten ebenfalls verschoben werden. Entsprechend der Absprache wandten sich die KuR unter Verwendung von theologischen Aussagen zum Schutz von Leben und Gesundheit entsprechend der jeweiligen Tradition an ihre Gläubigen.18 Die Katholische Kirche setzte eine bischöfliche Ad-hoc-Kommission ein, die am 19. März 2020 ein Maßnahmenpaket zur Handhabung der Sonntagspflicht und der Sakramentenspendung präsentierte. Der evangelische Bischof und der griechisch-orthodoxe Metropolit wandten sich mit Erklärungen im Wesentlichen gleichen Inhalts an die Gläubigen. Die Israelitische Kultusgemeinde stellte den Normalbetrieb aller Synagogen ein und richtete einen Krisenstab ein, der umfangreiche Regelungen und Empfehlungen bezüglich des religiösen Lebens formulierte. Die Islamische Glaubensgemeinschaft stellte den Normalbetrieb aller Moscheen ein und veröffentlichte einen detaillierten Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung der Pandemie. 15

In der aufgrund der Entscheidung des VfGH erlassenen VO werden die eingetragenen Bekenntnisgemeinschaften dann angesprochen. 16 Zur rechtlichen Qualifikation dieser Absprache siehe unten II. 17 Zitiert nach Schipka, Coronakrise (Anm. 12), S. 256. 18 Die Informationen über die im Folgenden genannten Maßnahmen sind inzwischen nicht mehr abrufbar.

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Drei Tage nach der Absprache mit den Vertretern der anerkannten KuR wurde am 15. März 2020 das COVID-19-MaßnahmenG beschlossen,19 und bereits am 16. März 2020 wurden drei Verordnungen zu dessen Umsetzung erlassen, die absprachegemäß keine die KuR speziell ansprechenden Regelungen enthielten. Diese übernahmen die Vorgaben der Verordnungen sowie der in kurzen Abständen folgenden großen Zahl von mehrfach novellierten und umbenannten COVID-19-Verordnungen.20 Nach Ablauf der mit dem Kultusministerium getroffenen Corona-Absprache am 30. Juni 2021 erklärten sich die KuR bereit, „weiterhin im eigenen Ermessen Vorsichtsmaßnahmen für den Schutz der Gläubigen [zu] treffen“.21 Die ab dem 1. Juli 2021 geltende Rahmenordnung der Österreichischen Bischofskonferenz (ÖBK) hielt dazu fest, dass, um „niemanden von der Feier öffentlicher Gottesdienste von vornherein auszuschließen“, die „Teilnahme weiterhin ohne Nachweis einer geringen epidemiologischen Gefahr (geimpft, getestet, genesen) möglich sei.“22 Schließlich wurden ab dem 1. Juni 2022 die Corona-Regeln vorübergehend zur Gänze ausgesetzt, lediglich für Veranstaltungen mit über 500 Personen war die Erstellung und Beachtung eines Präventionskonzepts vorgeschrieben. III. Das Erkenntnis des VfGH V 312/2021 vom 30. Juni 2022 Insgesamt betrachtet hat der VfGH nur in wenigen Fällen eine Verletzung von Grundrechten durch staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie festgestellt, zumeist aufgrund unzureichender Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen oder unsachlicher Differenzierungen im jeweiligen Maßnahmensystem. In einem ersten Antrag vom 9. März 2021, der sich auf die 4. COVID-19-SchuMaV bezog,23 erachteten sich „die antragstellenden Parteien […] durch das Betretungsverbot für Kultureinrichtungen gemäß § 12 der 4. COVID-19-SchuMaV und das Verbot kultureller Veranstaltungen gemäß § 13 der 4. COVID-19-SchuMaV insbesondere im Bestimmtheitsgebot gemäß Art. 18 B-VG, in der Kunstfreiheit gemäß Art. 17a StGG, in der Freiheit der Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK, in der Unversehrtheit des Eigentums gemäß Art. 5 StGG, in der Erwerbsausübungsfreiheit gemäß Art. 6 StGG und im Gleichheitsgrundsatz gemäß Art. 7 B-VG und Art. 2 StGG verletzt.“

19 Bundesgesetz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 (COVID-19-Maßnahmengesetz – COVID-19-MG) BGBl. I 12/2020. 20 Eine Übersicht über alle Corona-Maßnahmen der Katholischen Kirche findet sich unter https://www.katholisch.at/corona (17. 12. 2022). 21 https://www.bischofskonferenz.at/138816/bischofskonferenz-setzt-corona-regelungen-vo ruebergehend-aus (17. 12. 2022). 22 https://www.bischofskonferenz.at/dl/NpskJmoJKOMoJqx4KJKJKJKLmmLo/Rahmenord nung_der_OEBK_zur_Feier_oeffentlicher_Gottesdienste_ab_01072021_pdf (17. 12. 2022). 23 BGBl. II 58/2021.

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In seiner Entscheidung vom 6. Oktober 2021 wies der VfGH diesen Antrag teilweise ab bzw. zurück.24 Auf die im Antrag gleichsam als obiter dictum geäußerten Bedenken der antragstellenden Parteien, dass die differenzierte Behandlung künstlerischer bzw. kultureller Veranstaltungen einerseits und religiöser Veranstaltungen andererseits dem Gleichheitsgrundsatz widerspreche, ging der VfGH ausdrücklich mit der Begründung nicht ein, dass § 16 Abs. 1 Z 4 der 4. COVID-19-SchuMaV, der die Ausnahme für Zusammenkünfte zur Religionsausübung regelt, nicht angefochten worden war. Insoweit wurde den antragstellenden Parteien der Ball gleichsam zugespielt, den sie in ihrem zweiten Antrag betreffend die 5. COVID-19NotMV25 aufnahmen, die für den Zeitraum vom 22. November bis 11. Dezember 2021 einen bundesweiten Lockdown auch für Geimpfte und Genesene vorsah und das Betreten des Kundenbereichs von Kultureinrichtungen zur Inanspruchnahme von Dienstleistungen ausnahmslos untersagte (§ 7 Abs. 1 Z 4).26 Nunmehr machten die antragstellenden Parteien geltend, dass die differenzierte Behandlung künstlerischer bzw. kultureller Veranstaltungen einerseits und religiöser Veranstaltungen und Versammlungen andererseits durch die angefochtenen Bestimmungen dem Gleichheitsgrundsatz widerspreche, zumal sie ohne sachliche Begründung erfolge, obwohl keine wesentlichen Unterschiede feststellbar seien. Darüber hinaus entsprach das Vorbringen nahezu gleichlautend jenem im Antrag vom 9. März 2021, sodass der VfGH bezüglich der Details auf sein Erkenntnis vom 6. Oktober 2021 verweisen konnte. Der BMSGPK stellte dazu in seiner Stellungnahme zum nunmehrigen Antrag fest: „Es werde mit diesen Ausnahmen27 vielmehr ihrer zentralen Bedeutung für die Erfüllung gesellschaftspolitischer bzw. staatlicher Funktionen, der Aufrechterhaltung des Arbeitsund Wirtschaftslebens, der höchstpersönlichen Bedeutung der Religionsausübung bzw. der Versammlungsfreiheit als Grundbedürfnis sowie der Autonomie bestimmter Einrichtungen, eigene Angelegenheiten selbstbestimmt wahrzunehmen, Rechnung getragen. Die Ausnahme der Religionsgemeinschaften gemäß § 18 Abs. 1 Z 7 der 5. COVID-19-NotMV sei auch vor dem Hintergrund der Vereinbarung mit den Religionsgemeinschaften über eine Selbstbeschränkung zu sehen. Die von den Religionsgemeinschaften ergriffenen Maßnahmen hätten den Maßnahmen der COVID-19-NotMV bzw. später der COVID-19-SchuMaV geglichen bzw. seien noch darüber hinausgegangen. Insbesondere seien jeweils zeitgleich mit den Notmaßnahmenverordnungen religiöse Veranstaltungen gänzlich ausgesetzt und ein gewissenhafter Umgang mit dieser Freiheit zur Selbstregulierung beobachtet worden, 24

VfGH 6. 10. 2021, V 86/2021. BGBl. II 475/2021. 26 Als Kultureinrichtungen im Sinne dieser Bestimmung galten Einrichtungen, die der kulturellen Erbauung und der Teilhabe am kulturellen Leben dienen, wie insbesondere 1. Theater, 2. Konzertsäle und -arenen, 3. Kinos, 4. Varietees, 5. Kabaretts, 6. Museen, kulturelle Ausstellungshäuser und Kunsthallen, 7. Bibliotheken, Büchereien und Archive. 27 Es wird auf die Ausnahmen gemäß § 14 Abs. 1 Z 2 und § 18 Abs. 1 Z 7 der 5. COVID19-NotMV im Gesamtgefüge der §§ 14 und 18 der 5. COVID-19-NotMV Bezug genommen. 25

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der keinen Anlass für staatliches Eingreifen gegeben habe. Diese effektive freiwillige Selbstverpflichtung setze aber auch eine den Einrichtungen in § 18 Abs. 1 der 5. COVID-19-NotMV vergleichbare Struktur, Organisiertheit und Durchsetzungsbefugnis voraus.“ (Rz. 11)

Der VfGH stufte das Betretungsverbot für Kultureinrichtungen auch in dieser Entscheidung als eine Maßnahme ein, die geeignet war, der Verbreitung von COVID-19 in der damals dominierenden Delta-Variante entgegenzuwirken. Dem BMSGPK sei nicht entgegenzutreten, dass es sich bei der Anordnung des Betretungsverbotes unter anderem auch für Kultureinrichtungen gemäß § 7 Abs. 1 Z 4 sowie die Beschränkungen von Zusammenkünften gemäß § 14 der 5. COVID-19-NotMV um einen Teilbereich eines umfassenden Maßnahmenpaketes und ein geeignetes Mittel zur Erreichung der beschriebenen Zielsetzung handelt. Die hier in Rede stehenden Maßnahmen der 5. COVID-19-NotMV seien Teil eines Regelungskomplexes, der insgesamt das legitime Ziel verfolgt, Leben und Gesundheit zu schützen, indem insbesondere durch die Hintanhaltung von Menschenansammlungen die Verbreitung von COVID-19 verhindert werden soll. Damit solle dem Vorbringen der verordnungserlassenden Behörde zufolge, dem nicht entgegenzutreten ist, auch die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Gesundheitsinfrastruktur sichergestellt werden. Gegenstand des Betretungsverbotes für Kultureinrichtungen gemäß § 7 Abs. 1 Z 4 der 5. COVID-19-NotMV und des Verbotes von anderen als den in § 14 der 5. COVID-19-NotMV genannten Zusammenkünften sei nicht die künstlerische Tätigkeit als solche, sondern seien allgemeine Maßnahmen zur Vermeidung von Menschenansammlungen. Dass dies dem übergeordneten Ziel zu dienen geeignet ist, werde hinreichend dokumentiert. Da der Besuch kultureller Einrichtungen – wie der Gerichtshof weiter ausführt – auch dem Austausch und der Kommunikation zwischen den Besuchern dient, führten die angefochtenen Verbote jedenfalls zu der mit der Maßnahme verfolgten Reduktion der Kontakte, die zu diesem Zeitpunkt für nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche vorgesehen wurde, die der Verordnungsgeber als nicht „zur Grundversorgung“ gehörend bzw. nicht als systemrelevante Einrichtung betrachtet hat. Diese Maßnahme sei erforderlich sowie – im Hinblick auf die begrenzte Geltungsdauer von zwanzig Tagen – verhältnismäßig und verstoße daher nicht gegen die verfassungsgesetzlich geschützte Freiheit der Kunst. Der mit der 5. COVID-19-SchuMaV, BGBl. II 465/ 2021, als gelindere Maßnahme angeordnete „Lockdown für Ungeimpfte“ habe zu diesem Zeitpunkt nicht mehr die erforderliche Entlastung der Gesundheitsinfrastruktur erzielt. Die epidemiologische Entwicklung – insbesondere auch wegen der besonders ansteckenden Virus-Variante „Delta“ – war volatil, wobei auch die Auslastung der Gesundheitsinfrastruktur angespannt und eine Systemauslastung mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar drohte bzw. in einzelnen Bundesländern bereits erreicht war. Die für eine zeitlich eng begrenzte Geltungsdauer vorgesehene Beschränkung sei daher geeignet, erforderlich und verhältnismäßig gewesen. Das angefochtene Betretungsverbot für Kultureinrichtungen gemäß § 7 Abs. 1 Z 4 der 5. COVID19-NotMV und die Beschränkungen in Bezug auf Zusammenkünfte gemäß § 14

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Abs. 1 Z 9 der 5. COVID-19-NotMV stellten somit keine unverhältnismäßigen Beschränkungen der Freiheit der Kunst gemäß Art. 17a StGG dar; die von den antragstellenden Parteien behauptete Verletzung liege nicht vor. In seinen weiteren Ausführungen verweist der VfGH auf seine bisherige Rechtsprechung, worin er dem Aspekt Bedeutung beigemessen habe, dass Beschränkungen gleichermaßen grundrechtlich geschützter Freiheitsbetätigungen auch in einer mit dem Gleichheitsgrundsatz zu vereinbarenden, keine unsachlichen Bevorzugungen bzw. Benachteiligungen bewirkenden Weise erfolgen müssen. Dies sei vor dem Hintergrund zu sehen, dass einschlägigen Grundrechten wie im vorliegenden Zusammenhang der Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK, der Versammlungsfreiheit gemäß Art. 11 EMRK bzw. Art. 12 StGG oder der Kunstfreiheit gemäß Art. 17a StGG keine generelle „Vorrangstellung“ dahingehend entnommen werden kann, dass eine der jeweils grundrechtlich geschützten Freiheitsbetätigungen als solche mehr oder weniger schützenswert wäre. In bestimmten Konstellationen könnte sich jedoch auch eine Bevorzugung einzelner grundrechtlicher Freiheitsausübungen als sachlich gerechtfertigt, mitunter auch als grundrechtlich geboten erweisen. Dies treffe auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit zu, dem in demokratischer Hinsicht gerade dann besondere Bedeutung zukomme, wenn es um die Artikulation des Protestes der Zivilgesellschaft gegen staatliche Freiheitsbeschränkungen geht. Dieser Aspekt rechtfertigt es daher auch unter gleichheitsrechtlichen Gesichtspunkten jedenfalls, wenn der Verordnungsgeber Versammlungen nach dem VersammlungsG 1953 in § 14 Abs. 1 Z 2 der 5. COVID-19-NotMV besonders herausgehoben und deren Abhaltung – auch zahlenmäßig – nicht beschränkt hat, wobei auch zu beachten ist, dass Versammlungen typischerweise im Freien stattfinden. Dass gemäß § 18 Abs. 1 Z 7 „Zusammenkünfte zur Religionsausübung“ vom Geltungsbereich der Verordnung ausgenommen waren, sah der VfGH jedoch als gleichheitswidrig an. Der Verordnungsgeber habe in § 18 Abs. 1 Z 7 der 5. COVID-19NotMV „Zusammenkünfte zur Religionsausübung“ schlechthin vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen. Derartige Zusammenkünfte seien nach der 5. COVID-19-NotMV daher in jeder Hinsicht und in jedem Umfang zulässig, ungeachtet dessen, ob diese Zusammenkünfte im Freien oder in geschlossenen Räumen stattfinden, ob sie Gottesdiensten, Andachten oder der sonstigen Ausübung religiöser Gebräuche dienen und unter Beteiligung welcher Anzahl an Personen sie erfolgen. Der Verordnungsgeber lasse also nicht nur näher eingegrenzte Formen der Religionsausübung in Gemeinschaft mit anderen zu, um ein diesbezüglich, wie der BMSGPK formuliert, elementares Grundbedürfnis gemeinschaftlicher Religionsausübung in Krisenzeiten zu ermöglichen, sondern nimmt mit § 18 Abs. 1 Z 7 der 5. COVID19-NotMV jedwede Zusammenkunft – zu welcher Form der Religionsausübung auch immer – vom Anwendungsbereich der Verordnung aus. Demgegenüber ist nach dem Regelungssystem der 5. COVID-19-NotMV die künstlerische Betätigung gemeinsam mit anderen, sofern sie nicht zu beruflichen Zwecken in fixer Zusammensetzung erfolgt, und die künstlerische Betätigung und

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damit die Vermittlung künstlerischen Schaffens für andere Menschen gänzlich untersagt. Für die in § 18 Abs. 1 Z 7 angeordnete unbegrenzte Ausnahme jedweder Zusammenkünfte zur Religionsausübung lasse sich aber im Vergleich zum weitgehend untersagten künstlerischen Wirken, auch in den Fällen, in denen dieses essentiell auf künstlerische Darbietung vor Publikum ausgerichtet und auf dieses angewiesen ist, eine sachliche Rechtfertigung nicht finden. Der VfGH betont weiter, dass es besondere Gründe geben könne, die bestimmte begünstigende Ausnahmen und damit eine Ungleichbehandlung der Freiheitsbetätigungen rechtfertigen. So könne sich insbesondere über begrenzte Zeiträume die Notwendigkeit der Berücksichtigung elementarer Grundbedürfnisse im Zusammenhang mit entsprechender grundrechtlicher Betätigung gemeinsam mit bzw. vor anderen unterschiedlich darstellen. Im Hinblick auf die Zielsetzung, Menschenansammlungen möglichst hintanzuhalten, lasse sich eine sachliche Rechtfertigung für eine derartige kategoriale Ungleichbehandlung nicht finden, Zusammenkünfte im Schutzbereich des Art. 17a StGG praktisch weitestgehend zu untersagen (Vermittlung von Kunst), während Zusammenkünfte im Schutzbereich des Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit) schlechthin möglich waren. Religion wie Kunst gehörten – unabhängig voneinander, vielfach aber auch miteinander verschränkt – zu den Grundbedürfnissen einer zivilisierten Gesellschaft. In beiden Fällen komme bestimmten Grundrechtsausübungen gemeinsam mit oder vor anderen Menschen wesentliche Bedeutung zu. Der VfGH stellte daher fest, dass § 18 Abs. 1 Z 7 der 5. COVID-19-NotMV wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz gesetzwidrig war. IV. Die Grundrechte der „Kulturanthropologischen Trias“ Religion und Kunst als wesentliche Bereiche von Kultur gehören zusammen mit Wissenschaft zur sogenannten „kulturanthropologischen Trias des Wahren, Guten und Schönen“.28 Es handelt sich um neuzeitlich ausdifferenzierte Lebensbereiche, für die spezifische Kriterien gelten. Religions-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit stellen somit die dieser Trias korrespondierenden Grundrechte dar,29 mit denen in besonderem Maß unterschiedlichen Gottes-, Welt- und Menschenbildern Rechnung getragen wird.30 Sie sind dadurch charakterisiert, dass sie Gegenstand spezieller grund28 Peter Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat (= Schriften zum Öffentlichen Recht Bd. 540), 4. Auflage, Berlin 2008, S. 64. In diesem Sinn spricht etwa das Landesgericht Graz von einem „zentrale[n] Dreigestirn der Verfassungsrechte“ (LGS Graz, 2. 7. 1984, 3 b E Vr 4.128/83 – 46), zitiert nach Theo Öhlinger, „Das Gespenst“ und die Freiheit der Kunst in Österreich, ZUM 1985, S. 190 – 199, hier S. 195. 29 Die Wissenschaftsfreiheit unterscheidet sich insoweit deutlicher von den beiden anderen Grundrechten, als sie auf eine rational nachvollziehbare und damit überprüfbare Intersubjektivität hin angelegt ist und damit die Voraussetzung für eine gewisse Objektivierbarkeit aufweist, was auf Religion und Kunst nicht in gleicher Weise zutrifft. 30 Vgl. den Satz von Johann Wolfgang von Goethe aus Zahme Xenien IX: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion; wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion.“

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rechtlicher Gewährleistung sind, die eine Reihe von Besonderheiten aufweisen. Sie sind weder vom Staat oder von seinem Recht erzeugt, noch können sie grundsätzlich von staatlicher Omnipotenz abgeleitet werden. In ihnen sind nämlich normative Strukturen enthalten, die sich einer Regulierung im Sinne des am zweckrationalen Handeln orientierten Einheitsideales neuzeitlicher staatlicher Rechtskonzepte weitgehend verweigern. Sie verpflichten den demokratischen Rechtsstaat daher dazu, das jeweilige eigengesetzlich bestimmte Selbstverständnis zum Ausgangspunkt jeder ordnenden und fördernden Maßnahme zu nehmen. Die staatliche Rechtsordnung hat die entsprechenden Gestaltungsräume grundrechtlich abzusichern. Sowohl Kunst als auch Religion sind in ihren vielfältigen Manifestations- und Erscheinungsformen einer exakt-juristischen Definition nicht zugänglich, sondern lediglich anhand von Typenelementen umschreibbar. Dies wird deutlich, wenn im Zusammenhang mit Religion von einem „säkularen Mantelbegriff“31 gesprochen wird oder etwa die richterlichen Versuche, Kunst zu definieren, als eine „Abfolge von Blamagen“32 bezeichnet werden. Derart geprägte Rechtsbegriffe stellen „in ihrer Unbeschriebenheit die offene Flanke jeder Grundrechtsinterpretation schlechthin und damit die Ursache für das Aufkommen immer neuer Auslegungskonflikte“33 dar. Es geht dabei sehr wesentlich um die Frage nach der Definitionsmacht des Staates, die sich bei den genannten Grundrechten besonders deutlich stellt. Bei Normierungen im Bereich der Religions- und der Kunstfreiheit34 ist also an Phänomene anzuknüpfen, die dem Staat vorgegeben sind. Sie betreffen neuzeitliche Lebensbereiche, welche angesichts des immer noch zunehmenden Verrechtlichungsprozesses eine besondere Herausforderung darstellen.35 Neben einem sachgeprägten Normbereich sind diese Grundrechte zusätzlich durch ein hohes Maß an Entwicklungsoffenheit und Eigendynamik gekennzeichnet.36

31 Johannes Heckel, Die religionsrechtliche Parität, in: Ernst Friesenhahn/Ulrich Scheuner (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1. Auflage, Berlin 1974, S. 445 – 544, hier S. 505. Der Begriff wurde von der deutschen Judikatur übernommen: BVerfGE 83, 341 (357); BVerfGE 102, 370 (388). 32 Josef Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte? Selbstverständnis der Grundrechtsträger und Grundrechtsauslegung des Staates, Heidelberg-Karlsruhe 1980, 26. 33 Müller-Volbehr, Das Grundrecht der Religionsfreiheit und seine Schranken, in: DÖV 20 (1995), S. 301 – 310, hier S. 301. 34 Gesetzliche Regelungen zur Religionsfreiheit finden sich insbesondere in Art. 14 und Art. 15 StGG, Art. 9 EMRK sowie Art. 63 Staatsvertrag von St. Germain. Eine eigene Garantie der Kunstfreiheit enthält Art. 17a StGG, vgl. unten Anm. 37. 35 Eingehend dazu sowie zum Folgenden Richard Potz, Das Konfliktfeld Kunst – Religion – Recht, in: Patrick Werkner/Frank Höpfel (Hrsg.), Kunst und Staat. Beiträge zu einem problematischen Verhältnis, 2007, S. 51 – 68, insbesondere vertiefend zur Kunstfreiheit, und Brigitte Schinkele, Kunst- und Religionsfreiheit im Kontext der kulturanthropologischen Trias – Überlegungen zur Umgestaltung bzw Umwidmung von Kirchengebäuden, in: Heimo Konrad, Rechtsprobleme im Kulturbetrieb, Wien 2015, S. 51 – 82. 36 Vgl. Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religionsrecht, 2003, S. 37.

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Da es sich sowohl bei Religion als auch bei Kunst um offene Begriffe handelt, gilt es ein „Justiziabilitätsvakuum“ zu vermeiden. Im Kontext von Religion in all ihren freiheitsrechtlichen Dimensionen – der individuellen, der kollektiven und der korporativen – wird ein Mindestmaß an Plausibilität verlangt, in Bezug auf Kunst wird gefordert, dass diese „kommunikabel“ sein müsse, der Künstler sein Anliegen mit einsehbaren Erwägungen verständlich zu machen habe.37 In beiden Fällen ist also eine Form von Identifizierung, ein Mindestmaß an normativen Konturen notwendig. Bei religiösen wie auch bei künstlerischen Manifestationsformen werden in besonderer Weise „den Persönlichkeitskern tangierende Grundwertungen berührt“,38 so dass mit Einschränkungen derselben die Gefahr einer Identitätskrise verbunden sein kann. Dabei erscheint der Schutzbereich von Gewissen und Glaube gegenüber dem von Kunst insoweit etwas leichter fassbar, als aus religiösen bzw. Gewissensüberzeugungen resultierende Handlungsweisen und deren praktische Folgen in der Regel eher einsichtig sind.39 Demgegenüber ist das künstlerische Schaffen im Hinblick auf seine „transpersonale ,werk‘hafte“ Komponente schwerer nachvollziehbar und damit in vielfältiger Weise missverstehbar.40 Diese insoweit „verwandten“ Grundrechte können daher auch leicht in ein Spannungsverhältnis zueinander geraten. Das Verhältnis von Religion und Kunst war historisch durch vielfältige Beziehungen bestimmt, die von den religiösen Wurzeln von Kunst und der theologischen Begründung religiöser Kunst bis zu in Bilderverboten gipfelnden Einschränkungen für künstlerische Darstellungen reichen.41 Das hat zur Folge, dass die Grundrechtsgarantien im Bereich von Religion und Kunst in einem

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Walter Berka, Kunst im Konflikt mit dem Recht – mit rechtsdogmatischen Anmerkungen versehene Notizen zu einem spannungsreichen Verhältnis, in: Manfred Nowak/Dorothea Steurer/Hannes Tretter (Hrsg.), Fortschritt im Bewußtsein der Grund- und Menschenrechte, 1988, S. 361 – 384, hier S. 361. Die strukturellen normativen Ähnlichkeiten zwischen Religion und Kunst werden beispielsweise deutlich, wenn das deutsche Bundesverfassungsgericht im „Mephisto“-Urteil (BVerfGE 30, 173) ausführt: „Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers.“ Eingehend zu Art. 17a StGG Michael Holoubek/Heinrich Neisser, Die Kunstfreiheit in Österreich, in: Rudolf Machacek/Willibald Pahr/Gerhard Stadler (Hrsg.), Grund und Menschenrechte in Österreich II, 1992, S. 195 – 244. 38 Matthias Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts (= Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht Bd. 99), Berlin 1989, S. 241. 39 Brigitte Schinkele, Gewissensgebot und Normativität des positiven Rechts. Überlegungen unter Berücksichtigung des sogenannten „Kirchenasyls“, in: öarr 50 (2003), S. 448 – 480, hier S. 468. 40 Friedrich Müller, Die Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik (= Schriften um öffentlichen Recht 102), Berlin 1969, S. 95 f. 41 Potz, Konfliktfeld (Anm. 35), S. 51 – 68.

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hohen Maß durch „wechselnde Konkurrenz- und Komplementärverhältnisse“42 bestimmt sind. Dies findet mitunter in spektakulären Gerichtsverfahren oder öffentlichen Diskussionen im Zusammenhang mit der Verletzung religiöser Gefühle bzw. der Gefährdung des religiösen Friedens durch Meinungsäußerungen in Form – mehr oder weniger – künstlerischer Manifestationen seinen Niederschlag. Im gegenständlichen Kontext wird das Verhältnis von Religions- und Kunstfreiheit um eine Facette bereichert, indem es um den Vergleich dieser beiden Grundrechte im System der grundrechtlichen Gewährleistungen geht. V. Religionsfreiheit und Kunstfreiheit im gegenständlichen Kontext Die Verpflichtung des Staates, das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers zum Ausgangspunkt zu nehmen, trifft daher auf Kunst und Religion in besonderer Weise zu. Um den Schutzbereich dieser äußerst sensiblen Grundrechte einigermaßen abstecken zu können und damit die konkrete Umsetzung justiziabel zu machen, bedarf es – wie bereits angesprochen – jedoch gewisser verallgemeinerungsfähiger Kriterien. In beiden Fällen ist also eine Form von Identifizierung, ein Mindestmaß an normativen Konturen notwendig. Dabei ist staatlicherseits äußerste Zurückhaltung geboten, und sind die angesprochenen engen Grenzen strikt zu wahren. Anderenfalls läge im Kontext von Religion ein Verstoß gegen die ein Verfassungsprinzip darstellende Säkularität bzw. religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates vor, in Bezug auf Kunst ein mit der Freiheitsgarantie unvereinbares staatliches Kunstrichtertum. Bei Akten der Religionsausübung ebenso wie bei künstlerischem Schaffen sind in der Regel die Identität und die Integrität der handelnden Person in fundamentaler Weise betroffen. Dies impliziert auch eine besondere Nähe dieser Grundrechte zur Menschenwürde, ohne damit eine „Rangordnung“ der Grundrechte andeuten zu wollen. Die Menschenwürde stellt gewissermaßen den – geschriebenen oder ungeschriebenen – konstitutionellen Grundkonsens im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat dar. Der letzte Zweck aller Grundrechte – so komplex und vielfältig sie auch seien – besteht in der Sicherung der Menschenwürde.43 Vor diesem Hintergrund gilt es, einen rechtlichen Zweckbegriff auszumachen, an dem die Subsumption einer konkreten menschlichen Ausdrucksform unter die genannten Begriffe sinnvoll anknüpfen kann. Die aufgezeigten Spezifika von Kunst und Religion implizieren, dass dabei den subjektiven Tatbestandselementen zweifelsohne vorrangige Bedeutung zukommt.44 Gleichzeitig ist ein Mindestmaß an „Ob42 Wolfram Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation. Grundrechtsauslegung zwischen amtlichem Interpretationsmonopol und privater Konkretisierungskompetenz (= Schriften um öffentlichen Recht 524), Berlin 1987, S. 96. 43 Vgl. Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 36), S. 36 f. 44 Nach der Rechtsprechung des OGH ist die künstlerische Qualität eines Werkes „möglichst großzügig“ zu bestimmen (z. B. OGH 11. 10. 1988, 1 Ob 26/88). So wurde in der Judikatur zum Pornographiegesetz auf die „Ehrlichkeit des künstlerischen Strebens“ abgestellt.

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jektivierbarkeit“ notwendig, wobei eine Orientierung an Plausibilitäts- und nicht an Rationalitätskriterien zu erfolgen hat. Letztlich hat das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers ausschlaggebend zu sein, dessen Absicht, Religion auszuüben bzw. einen Kunstwert zu schaffen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Selbstverständnis allein bestimmender Interpretationstopos wäre bzw. ihm unbegrenzte rechtliche Relevanz zukäme. Es hat vielmehr auf den einzelnen grundrechtsdogmatischen Ebenen in unterschiedlichem Maß Beachtung zu finden. Während hinsichtlich des Grundrechtstatbestandes der Grundsatz „in dubio pro libertate“ zum Tragen kommt, wird durch die Aktualisierung des staatlichen Selbstverständnisses auf der Schrankenebene eine Verabsolutierung des Freiheitsgedankens auf Kosten anderer Rechtsgüter verhindert. Der Staat darf bzw. muss in Bezug auf die Auswirkungen der unterschiedlichen Manifestationsformen von Religion und Kunst regelnd eingreifen, wenn dies zum Schutz gleichoder höherrangiger Rechtsgüter notwendig ist. Dabei bedarf es entsprechender Gewichtungen und einzelfallbezogener diffiziler Abwägung zwischen den kollidierenden Rechtsgütern unter strenger Bindung an das Verhältnismäßigkeitsprinzip.45 Die zentrale Argumentationslinie des VfGH in Bezug auf eine mangelnde sachliche Rechtfertigung für eine „derartige kategoriale Ungleichbehandlung“ von Kunst und Religion – einerseits ausnahmslose Untersagung und andererseits generelle Zulässigkeit von Zusammenkünften – ist für sich genommen schlüssig.46 Die Ausführungen in der Entscheidungsbegründung im Einzelnen lassen jedoch manche Perspektive vermissen bzw. geben Anlass zu kritischen Bemerkungen, sodass ein gewisses Unbehagen nicht von der Hand zu weisen ist. Dabei sind zwei Aspekte hervorzuheben, einerseits müssen unterschiedliche existentielle Betroffenheiten bei der jeweiligen Grundrechtsausübung angesprochen werden, und andererseits ist die Bedeutung des durch die korporative Religionsfreiheit gewährleisteten Selbstbestimmungsrechts insbesondere der gesetzlich anerkannten KuR zu relevieren. Es steht außer Streit, dass sich der Schutzbereich der beiden hier relevanten Grundrechte auf elementare menschliche Grundbedürfnisse bezieht. Unabhängig von der in der Novellierung vom 21. Oktober 2022 nunmehr vorgesehenen differenzierten Ausnahmeregelung für Zusammenkünfte zur Religionsausübung, soll im Hinblick auf die Spezifika von Religionsfreiheit und Kunstfreiheit der Versuch einer möglichen Unterscheidbarkeit unternommen werden. Ohne Zweifel stellt die Frage einer diesbezüglichen Differenzierung angesichts der – oben bereits angesprochenen – Charakteristika dieser beiden Grundrechte für den säkularen, zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichteten Staat eine besondere Herausforderung dar. Wenngleich Unterschiede auf dieser Ebene aus staatlicher Sicht zweifellos nur äußerst schwer festzumachen sind, gibt es doch Anknüpfungspunkte. So spiegelt sich die spezifische Sensibilität des Grund45 46

Vgl. Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 36), S. 45 f., 49. In diesem Sinn auch Kowatsch, Religionsausübung (Anm. 5).

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rechts auf Religionsfreiheit etwa in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wider, der oftmals ausgeführt hat, dass die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK einen der Grundpfeiler einer demokratischen Gesellschaft darstellt. Dieses Grundrecht sei eines der lebendigsten Elemente, das darauf ausgerichtet ist, die Identität der Gläubigen und ihrer Lebensauffassung zum Ausdruck zu bringen. Diese besondere Betonung der religionsfreiheitsrechtlichen Garantien hängt damit zusammen, dass durch diese Überzeugungen und Verhaltensweisen geschützt werden, die in der Regel die handelnde(n) Person(en) fundamental betreffen. Eine solche Sichtweise wird auch in dem Kommentar von Alexander Somek deutlich, der in Bezug auf die Begründung in dem Erkenntnis des VfGH ausführt: „Wenn man die Begründung näher betrachtet, fällt auf, dass das Gericht sich über die wichtigste Grundlage der gerichtlichen Normenkontrolle hinwegsetzt. Diese ist, um es in der Originalsprache des modernen Verfassungsrechts auszudrücken, die ,deference‘, also die Zurückhaltung im Verhältnis zu den politischen Organen. Denn die verfassungsrechtliche Problemstellung lautet nicht, ob zwischen religös und künstlerisch motivierten Zusammenkünften ein grundrechtlich relevanter Unterschied besteht, sonder ob der Verordnungsgeber legitimerweise einen solchen Unterschied sehen und seiner Regulierung zugrunde legen durfte. Ein zurückhaltendes (,deferential‘) Gericht hätte zu diesem Zweck ins Auge gefasst, was uns (und dem Verordnungsgeber) in liberalen Demokratien die Religionsfreiheit im Verhältnis zu anderen Freiheiten bedeutet.“47

Dieter Grimm hat in einem Interview vom 5. März 2021 im Zuge der Diskussion im Zusammenhang mit der Schließung von Kirchen und Kulturstätten zu allfälligen Unterschieden aus staatlicher Sicht ausgeführt: „Ich kann sie nur darin erblicken, dass der Gottesdienst für die Gläubigen existentiellere Bedeutung hat als, sagen wir, das Konzert für den Musikliebhaber. Im Konzert ist man Rezipient, Teil eines Publikums. Die Gläubigen schauen sich den Gottesdienst nicht an. Sie sind in die kultische Handlung einbezogen, haben an dem, was sich dort nach ihrer Glaubensüberzeugung vollzieht, teil. Es ist wohl auch dem Musikliebhaber der vorübergehende mediale Kunstgenuss eher zuzumuten als dem Gläubigen der Gottesdienst am Fernseher. Wenn man überhaupt zwischen Gottesdiensten und Kulturveranstaltungen unterscheiden will, müsste man die rechtfertigenden Gründe wohl auf dieser Ebene suchen.“48

Anhand dieser beiden Stimmen aus dem Schrifttum wird deutlich, dass dann, wenn die religiöse Dimension mit im Spiel ist, sich diese als „eine Art Eruption 47

Alexander Somek, Artikel „Kirche und Kunst sind nicht gleich“ in: Die Presse vom 6. 8. 2022, worin der Autor vorweg schreibt: „Ich bin ein unermüdlicher Opernbesucher. So manche Aufführung vertreibt mir die emotionalen Schatten, die mein Gemüt häufig verfinstern. Musik, vor allem wenn sie theatralisch ausgeführt ist, erlöst mich vom Leiden am rationalen Leben. Die Kunst bietet mir somit, was andere, vielleicht ernsthaftere, Menschen in der Religion finden, nämlich Erlösung (oder zumindest die Hoffnung darauf).“ 48 Uta Sailer, Über Kunstfreiheit in der Corona-Krise, Interview mit Dieter Grimm am 5. 3. 2021, www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/kunstfreiheit-grundgesetz-corona-verfassung-rechtinterview-dieter-grimm-100.html (10. 11. 2022).

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der Eigentlichkeit des Selbst, die man nur mit staunender Toleranz zur Kenntnis nehmen und respektieren, aber inhaltlich nicht überprüfen kann“,49 darstellt. Vor diesem Hintergrund kommt in Bezug auf die in Rede stehenden Grundrechte – wie oben ausgeführt – dem Selbstverständnis der Grundrechtsträger eine besondere Relevanz zu. An dieses anknüpfend sind die spezifischen grundrechtlichen Gewährleistungen in den Blick zu nehmen. Es ist daher über die individualrechtlichen Garantien hinausgehend die korporative Religionsfreiheit bzw. das verfassungsrechtlich gewährleistete Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften vertiefend zu untersuchen.50 Gerade unter dieser Perspektive ist es erstaunlich, dass der VfGH den Art. 15 StGG – lange Zeit als lex regia des österreichischen Religionsrechts betrachtet – überhaupt nicht erwähnt,51 sondern seine Argumentation ausschließlich auf Art. 9 EMRK stützt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig vorweg grundsätzlich festzuhalten, dass in Bezug auf diese beiden Grundrechtsgarantien und vor allem ihr Verhältnis zueinander in der Rechtsprechung des VfGH eine interessante Entwicklung festzumachen ist. Während der Gerichtshof eine Zusammenschau religionsfreiheitsrechtlicher Garantien zunächst nur mit Blick auf die individuelle Religionsfreiheit – Art. 14 StGG, Art. 63 Abs. 2 StVStGermain, Art. 9 EMRK – vorgenommen hat, findet sich ein derartiger grundrechtsdogmatischer Ansatz nun in jüngerer Zeit auch unter korporationsrechtlicher Perspektive. So hat der VfGH in Zusammenhang mit der Abschaffung des Karfreitags als Feiertag unter korporationsrechtlichem Gesichtspunkt betont, dass Art. 9 EMRK und Art. 15 StGG „im Zusammenhang zu lesen sind“.52 In vergleichbarer Weise heißt es im Erkenntnis VfSlg 20.321/ 201953, dass „[g]emäß Art. 15 StGG und Art. 9 EMRK […] staatliche Vorgaben religiöser Inhalte im Bereich der selbstständigen Verwaltung der inneren Angelegenheiten einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft jedoch nicht zulässig [seien].“54 In zunehmendem Maß schlägt sich ein derartiger grundrechts49 Niklas Luhmann, Gewissensfreiheit und Gewissen, in: AöR 90 (1965), S. 257 – 286, hier S. 260 f. 50 Wenngleich eine derartige institutionelle Garantie mit Blick auf die Kunstfreiheit nicht existiert, ist festzuhalten, dass durch Art. 17a StGG auch die Vermittlung von Kunst geschützt ist, sodass neben dem Werkbereich auch der künstlerische Wirkbereich, also die Präsentation von Kunst, mit umfasst ist (z. B. Galerist, Intendant). Nach der jüngeren Judikatur des VfGH können auch juristische Personen Grundrechtsträger dieses Grundrechts sein, „soweit es hinsichtlich des sachlichen Schutzbereichs in Frage kommt“. Vgl. Walter Berka/Christina Binder/Benjamin Kneihs, Die Grundrechte. Grund- und Menschenrechte in Österreich, 2. Auflage, Wien 2019, S. 717. 51 Vgl. Kowatsch, Religionsfreiheit (Anm. 5). 52 VfSlg 20.379/2020, in: öarr 67 (2020), S. 389 – 423, mit einem Kommentar von Brigitte Schinkele. 53 VfSlg 20.321/2019, in: öarr 67(2020), S. 356 – 388, mit einem Kommentar von Stefan Schima. 54 An dieser Stelle verweist der VfGH auf EGMR [GK] 24. 4. 2016, 62.649/10 Dog˘ an u. a./ Türkei.

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dogmatischer Ansatz auch in der Rechtsprechung des OGH55 sowie im Schrifttum nieder.56 Diese Entwicklung ist grundsätzlich zu begrüßen, scheint ein solcher Ansatz doch dem Umstand am besten gerecht zu werden, dass die einzelnen relevanten Grundrechtsgarantien aus ganz unterschiedlichen Epochen stammen, die durch eine je spezifische Verfassungswirklichkeit gekennzeichnet waren und sind. Darüber hinausgehend hat das Grundrechtsverständnis einen dynamischen Wandlungsprozess durchgemacht, wesentlich bestimmt auch durch die EMRK, der in Österreich Verfassungsrang zukommt. Nunmehr sind Lehre und Rechtsprechung wesentlich von einem materiellen Grundrechtsverständnis geprägt, für das Abwägungsprozesse charakteristisch sind, eingebunden in eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung. Vor diesem Hintergrund ist das Kernproblem in der „kategoriale[n] Ungleichbehandlung“ zu erblicken, wie der VfGH die Ausnahmeregelung für „Zusammenkünfte zur Religionsausübung“ in § 18 Abs. 1 Z 7 im Vergleich zu Kultureinrichtungen gemäß § 7 Abs. 1 Z 4 der 5. COVID-19-NotMV bezeichnet. In der Verordnung wurden weder irgendwelche Kriterien genannt, an die anzuknüpfen wäre, wie die Art der Religionsausübung oder deren nähere Umstände, noch wird auf die zwischen der Bundesregierung und den gesetzlich anerkannten KuR getroffenen Absprachen Bezug genommen. Diese werden sowohl in der Darstellung der Bundesregierung bzw. des BMSGPK als auch in den Stellungnahmen der für Kultusangelegenheiten zuständigen Bundesministerin als „Vereinbarungen“ bezeichnet. Da ihr Inhalt nur durch Pressekonferenzen öffentlich gemacht wurde und sie bestenfalls den Charakter von Gentlemen’s Agreements haben, fehlt eine Grundlage für eine rechtliche Qualifizierung, insbesondere auch unter dem Aspekt der unzulänglichen Publizität. Nicht zu Unrecht ist der VfGH daher auf diese „Vereinbarungen“ in seiner Entscheidung überhaupt nicht eingegangen. Die Regelung in der 3. Novelle zur 2. COVID-19-Basismaßnahmenverordnung vom 21. Oktober 202257 versucht nun in Umsetzung des Erkenntnisses des VfGH eine entsprechende Differenzierung in der für Zusammenkünfte zur Religionsausübung vorgesehenen Ausnahme vom Geltungsbereich der Verordnung vorzunehmen. Gemäß § 9 Abs. 1 Z 7 sind nunmehr ausgenommen: „Zusammenkünfte der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften sowie der staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaften zur Religionsausübung,

55 So etwa OGH 27. 9. 2017, 1 Ob 155/17a, in: öarr 65 (2018), S. 315 – 325, mit einem Kommentar von Astrid Deixler-Hübner. 56 So insbesondere Christoph Grabenwarter, Verhältnismäßig einheitlich: Die Gesetzesvorbehalte des StGG 1867 im Wandel, in: JBl 140 (2018), S. 417 – 426, und Franz Merli, Die Zukunft des Staatsgrundgesetzes, in: Franz Merli/Magdalena Pöschl/Ewald Wiederin (Hrsg.), 150 Jahre Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, Wien 2018, S. 95 – 113. 57 BGBl. II 392/2022. Diese Verordnung tritt mit Ablauf des 30. April 2023 außer Kraft.

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sofern in ihrem Wirkungsbereich dem § 7 gleichwertige Regelungen bestehen,58 für deren Einhaltung Sorge getragen wird. Von diesen Regelungen können Abweichungen vorgesehen werden, sofern das Infektionsrisiko durch sonstige geeignete Schutzmaßnahmen minimiert werden kann oder Ausnahmen zur Vornahme religiöser Handlungen notwendig sind.“59

Mit dieser Formulierung wird zum einen der vom VfGH beanstandeten „derartigen kategorialen Ungleichbehandlung“ Rechnung getragen, und zum anderen die – außerhalb des beim VfGH eingebrachten Antrags – gerügte Außerachtlassung der eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaften aufgegriffen.60 Insgesamt kommt damit die korporative Religionsfreiheit bzw. das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften sowohl gemäß Art. 15 StGG als auch Art. 9 EMRK zum Tragen. Damit wird gleichzeitig der oben angesprochenen Differenzierung zwischen der Teilnahme an einer Kulturveranstaltung und an Zusammenkünften zur Religionsausübung Raum gegeben, so schwierig dies auch für den säkularen Staat sein mag. Damit wird der dem Staat zustehende rechtspolitische Gestaltungsspielraum genützt, um der elementaren Bedeutung von Religion für Gläubige, insbesondere auch im liturgisch-kultischen Bereich, gerecht werden zu können. VI. Ausblick Die mehrfach als Vereinbarung bezeichneten Absprachen zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften betreffend die Durchführung von Maßnahmen gegen die COVID-19-Pandemie hat ein Thema wieder virulent gemacht, das seit einiger Zeit im Grundsätzlichen diskutiert wird. Es geht um die Frage, inwieweit in Österreich „Kirchenvertragsrecht“61 Platz hat bzw. ob man bei einer Reform des österreichischen Religionsrechts an Stelle der formell einseitig vom Staat erlassenen Spezialgesetze für einzelne Kirchen und Religionsgesellschaften vertragliche Regelungen in Betracht ziehen sollte.

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Gemäß § 7 Abs. 1 hat bei Zusammenkünften für mehr als 500 Personen der für eine Zusammenkunft Verantwortliche einen COVID-19-Beauftragten zu bestellen und ein COVID19-Präventionskonzept auszuarbeiten und umzusetzen. Die Bezirksverwaltungsbehörde hat die Einhaltung der COVID-19-Präventionskonzepte stichprobenartig zu überprüfen. Das COID-19 Präventionskonzept ist zu diesem Zweck während der Dauer der Zusammenkunft bereitzuhalten und auf Verlangen der Bezirksverwaltungsbehörde vorzulegen. 59 Dem § 9 Abs. 1 wird folgender Schlussteil angefügt: „Sofern in den Fällen der Z 3 bis 6 strengere Regelungen im Bereich der Hausordnung bestehen, bleiben diese unberührt.“ 60 So Richard Potz, Eine Replik auf Ernst Smole und die jüngste Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, in: Die Furche, Nr. 35, 1. 9. 2022. 61 „Kirchenvertragsrecht“ wurde in Deutschland zunächst für die Evangelische Kirche entwickelt, um entsprechend dem traditionellen Paritätsprinzip formelle Gleichheit mit dem katholischen Konkordatsrecht herzustellen, und später auch auf andere Kirchen und nichtchristliche Religionsgemeinschaften ausgedehnt. Von Deutschland ausgehend wurde es in den letzten Jahrzehnten in weiteren Staaten, wie Italien, Spanien und der Slowakei als religionsrechtliches Instrument eingesetzt.

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Inge Gampl hat das Konzept der Spezialgesetze für einzelne anerkannte KuR als „System der demokratisch-paritätischen Konkordanz, oder kurz Konkordanzsystem“ umschrieben,62 eine Charakterisierung, die viel Zustimmung gefunden hat. Sie versteht das Konkordanzsystem als eine Maxime, „die der Herbeiführung eines möglichst weitgehenden Einverständnisses unter den Betroffenen dient, unter grundsätzlicher Berücksichtigung ihres jeweiligen Selbstverständnisses.“ Damit wurde erstmals versucht, das österreichische religionsrechtliche Modell als eine Kombination von Elementen der klassischen Trennung von Staat und Kirche sowie des Koordinationssystems einzuordnen und das jeweilige Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften als wesentlichen Faktor ihres grundrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrechtes zu verorten. Mit anderen Worten, das österreichische Konkordanzsystem besteht darin, dass die einseitig vom Staat erlassenen Gesetze inhaltlich kaum anders als „Kirchenvertragsrecht“ zustande kommen. Abgesehen von den völkerrechtlichen Verträgen mit dem Hl. Stuhl fehlt in Österreich bekanntlich eine verfassungsrechtliche Grundlage für öffentlich-rechtliche Verträge mit Kirchen und Religionsgesellschaften, da Art. 15a B-VG derartige Vereinbarungen nur zwischen Bund und Ländern über Angelegenheiten ihres jeweiligen Wirkungsbereiches vorsieht.63 Allerdings bestehen seit einiger Zeit in Österreich eine Reihe von Vereinbarungen, die gemeinsame Angelegenheiten (res mixtae) von Staat und gesetzlich anerkannten KuR betreffen und deren Konkretisierung dienen, wie insbesondere im Bereich der kategorialen Seelsorge. Mit den damit im Zusammenhang stehenden Fragen hat sich Raoul Kneucker vertiefend auseinandergesetzt.64 Er betont, dass derartige ergänzende vertragliche Regelungen gerade auch im hoheitlichen Bereich sowohl auf kirchlicher als auch auf staatlicher Seite zunehmend als wünschenswert angesehen werden. Wenngleich sie nicht in jeder Hinsicht rechtlich unbedenklich sind und es insbesondere einer gesetzlichen Ermächtigung bedürfte, so drücken sie doch „eine prinzipielle Haltungsänderung mit Bezug auf die gegenwärtigen Beziehungen von Staat und Kirche in Österreich aus, mit der ein neuartiges, partnerschaftliches Verhältnis zwischen Staat und Kirche erkennbar wird.“65 Zu Recht betont der Autor weiter, dass die Evangelische Kirche aufgrund ihrer Stellung als Körperschaft öffentlichen Rechts das Recht hat, in eigener Sache „alle ihre zweckdienlichen Verträge abzuschließen – sozusagen innerhalb ihres staatsrechtlichen Status zu agieren, nicht nur autonom innerhalb ihrer ,inneren Angelegenheiten‘. […] Dies ist der juristische Kern: Ihre Existenz gewährt mit der gesetzlichen Aner-

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Inge Gampl, Österreichisches Staatskirchenrecht, Wien/NewYork 1974, S. 55. In Entwürfen zum Grundrechtskatalog im Rahmen des österreichischen Verfassungskonvents war übrigens der Vorschlag enthalten, die Möglichkeit von öffentlich-rechtlichen Verträgen mit gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften verfassungsrechtlich zu garantieren. Vgl. dazu Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religions- und Weltanschauungsfreiheit im aktuellen österreichischen Verfassungsdiskurs, öarr 52 (2005), S. 1 – 37. 64 Raoul Kneucker, Verträge mit Kirchenleitungen, in: öarr 58 (2011), S. 293 – 327. 65 Kneucker, Verträge (Anm. 64), S. 306. 63

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kennung der Staat, der ihr zugleich nach Art. 15 StGG Autonomie des Handelns gewährleistet.“66 Dies gilt selbstverständlich für sämtliche anerkannten KuR. Die aufgezeigte Vorgangsweise betreffend Regelungen von Zusammenkünften zur Religionsausübung während der Pandemie hat Schwierigkeiten deutlich gemacht, die sich für den säkularen, religiös-weltanschaulich neutralen Staat stellen können. Angesichts der oben angestellten Überlegungen böte sich nunmehr eine gute Gelegenheit, die seinerzeit bereits im Verfassungskonvent diskutierte Idee zur Schaffung eines „Kirchenvertragsrecht“ wieder aufzugreifen. Auf diese Weise könnte auch in Österreich ein adäquates religionsrechtliches Instrumentarium geschaffen werden, das einer zeitgerechten Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften gerecht würde.

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Kneucker, Verträge (Anm. 64), S. 307.

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Aufsätze (2016 – 2020) Hans Adolf Dombois (1907 – 1997), in: Ph. Thull (Hg.), 60 Portraits aus dem Kirchenrecht. Leben und Werk bedeutender Kanonisten, St. Ottilien 2017, 505 – 514. Kirchenasyl. Klärungen zu einer immer noch aktuellen Fragestellung, in: ThPQ 165, 2017, 21 – 35. Kirchliche Hochschulen und Katholische Universitäten in Österreich, in: A. Hense/M. Pulte (Hg.), Kirchliche Hochschulen und konfessionelle akademische Institutionen im Lichte staatlicher und kirchlicher Wissenschaftsfreiheit (Mainzer Beiträge zu Kirchen- und Religionsrecht 4), Würzburg 2018, 49 – 112. Autonomie und Aufsicht. Vermögensverwaltung von Ordensgemeinschaften und kirchliche Sorgfaltspflicht, in: Österreichisches Archiv für Recht und Religion 64, 1 – 2/2018. Herbert Kalb zum 60. Geburtstag, 260 – 281. auch in: B. Feldbauer-Durstmüller/T. Wolf/M. Neulinger (Hg.), Unternehmen und Klöster. Wirtschaft und monastisches Leben im interdisziplinären Dialog, Wiesbaden 2019, 185 – 207. Die Biographie eines Heiligen in Zeiten großen gesellschaftlichen Wandels, in: Diözese Linz (Hg.), Severin von Norikum. Christ und Helfer, red. von St. Dorninger, Linz 2018, 14 – 19. „Recht in der Kirche verstehen und lieben lernen“ – Wozu nützt das kirchliche Recht?, in: Lebendige Seelsorge 69, 3/2018, 192 – 197. Heiligkeit – ein alltäglicher Lebensstil jenseits der Komfortzone, in: ThPQ 167, 2019, 365 – 369. Die Missionare der Barmherzigkeit und ihre Sondervollmachten. Ein neues Amt der Versöhnung für den Strafnachlass im forum internum, in: B. S. Anuth/B. Dennemarck/St. Ihli (Hg.), „Von Barmherzigkeit und Recht will ich singen“. Festschrift für Andreas Weiß (Eichstätter Studien 84), Regensburg 2020, 325 – 342. Reform der Territorialpastoral zwischen Tradition und Innovation. Überlegungen zur Dynamik pastoraler Strukturprozesse, in: W. Rees/St. Haering (Hg.), Iuris sacri pervestigatio. Festschrift für Johann Hirnsperger (KST 72), Berlin 2020, 259 – 282.

Aufsätze (2021 – 2023) Die Hirtensorge als gemeinsame Aufgabe. Die Instruktion zur Pfarrgemeinde und die Strukturreform in der Diözese Linz, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 188, 2021, 78 – 112. Der Pfarrer und die pfarrlichen Mitarbeiter:innen in Österreich, in: A. Graßmann/W. Rees (Hg.), Der Pfarrer, Regensburg 2023 (im Erscheinen).

Bibliographie

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Artikel in Lexika 1. Lexikon für Theologie und Kirche (Bde. I-X, Erg.), 3. Aufl., hg. von W. Kasper u. a., Freiburg 1993 – 2004: 1. Kondonation (VI, 235) 2. Konkubinat (VI, 272) 3. Lex Dei (VI, 870) 4. Option (VII, 1078) 5. Ritus, Ritual (VIII, 1212 – 1213) 6. Roffredus de Epiphanio (VIII, 1233) 7. Roskovány, Augustin v. (VIII, 1311) 8. Seelsorge (IX, 387) 9. Skrutinien (IX, 662) 10. Titulus (X, 58) 11. Weihehindernisse (X, 1005) 12. Weiheprozess (X, 1006) 13. Weihetitel (X, 1016) 14. Weihezeugnis (X, 1016) 15. Dombois, Hans (Erg., 61) 2. Lexikon des Kirchenrechts, hg. von St. Haering/H. Schmitz, Freiburg/Basel/Wien 2004: 1. Kondonation (576 f.) 2. Konkubinat (599 – 601) 3. Lex Dei (641) 4. Option (697) 5. Ritus (855 ff.) 6. Roffredus de Epiphanio (1144) 7. Roskovány, A.v. (1145 f.) 8. Seelsorge (887 f.) 9. Skrutinien (900) 10. Titutulus (952 f.) 11. Weihehindernisse (1003 f.) 12. Weiheprozess (1004 f.) 13. Weihetitel (1009 – 1011) 14. Weihezeugnis (1011) 15. Dombois H. (1065) 3. Diccionario enciclopédico de Derecho Canónico, hg. von St. Haering/H. Schmitz/I. Pérez de Heredia y Valle/J. L. Llaquet, Barcelona 2008 – Lemmata wie unter 2. 4. Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht (Bde. I – III), hg. von A. v. Campenhausen/ I. Riedel-Spangenberger/R. Sebott, Paderborn 1999 – 2004: 1. Aufsicht (I, 180 – 182) 2. Bischofsrat (I, 282) 3. Bischofsvikar (I, 284 – 285) 4. Ehrfurcht (I, 570 – 571) 5. Fronleichnam (I, 732 – 733) 6. Generalvikar (II, 62 – 63) 7. Generalvikariat (II, 63 – 64) 8. Heilfron, E.v. (II, 220 – 221) 9. Rechtshindernis (III, 359) 10. Rechtsquellen (III, 367 – 370) 11. Territorialabt (III, 670 – 671) 12. Territorialabtei (III, 671 – 672) 13. Territoralprälat (III, 672 – 673)

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Bibliographie

14. Territorialprälatur (III, 673 – 674) 15. Titularpfarrer (III, 689 – 690) 16. Wallfahrtsstätte (III, 857 – 858) 5. Diccionario General de Derecho Canónico, hg. von J. Otaduy/A. Viana,/J. Sedano (Instituto Martín de Azpilcueta. Facultad de Derecho Canónico. Univ. de Navarra), Pamplona 2012: 1. Abad (I, 51 – 53) 2. Abadesa (I, 53 – 56) 3. Abadía (I, 56 – 57) 4. Ordenes Terceras (V, 895 – 808) 5. Prior (VI, 469 – 471) 6. 100 Begriffe aus dem Ordensrecht, hg. von D. M. Meier/J. Kandler/E. Kandler-Mayr (Hg.), St. Ottilien 2015: 1. Erbfähigkeit (Österreich), 170 – 172 2. Körperschaft öffentlichen Rechts (Deutschland/Österreich), 261 – 274 3. Testierfähigkeit (Österreich), 459 – 466 7. Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht (LKRR), hg. von M. Droege/H. de Wall/H. Hallermann/Th. Meckel: Band 1, Paderborn 2019: 1. Aufsicht (254 – 257) 2. Auslandsgemeinde (263 – 264) 3. Bischofsrat (429 – 430) 4. Bischofsvikar (432 – 434) 5. Ehrfurcht (812 – 813) Band 2, Paderborn 2020: 1. Generalvikar (220 – 222) 2. Heimatpfarrei (534 – 535) 3. Heimatpfarrer (535 – 536) Band 3, Paderborn 2020: 1. Rechtshindernis (789 – 790) 2. Rechtsquellen (802 – 805) Band 4, Paderborn 2021: 1. Territorialabt (399 – 400) 2. Territorialabtei (400 – 402) 3. Territorialprälat (403 – 404) 4. Territorialprälatur (405 – 406) 5. Titularpfarrer (438 – 439) 6. Wallfahrtsstätte (703 – 704) 8. 111 Begriffe des österreichischen Religionsrechts, hg. von A. Kowatsch/Fl. Pichler/D. Tibi/ H. Tripp), St. Ottilien 2023: 1. Gestellungsvertrag (150 – 152) 2. Vermögensverwaltung, katholische (345 – 348)

Bibliographie

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Rubrik „Römische Erlässe“ in der Theologisch-praktischen Quartalsschrift (gemeinsam mit Herbert Kalb) ThPQ 140, 1992, 283 – 287. ThPQ 141, 1993, 65 – 72, 281 – 285. ThPQ 142, 1994, 63 – 70, 306 – 314. ThPQ 143, 1995, 72 – 77, 187 – 192, 285 – 290, 411 – 416. ThPQ 144, 1996, 67 – 71, 186 – 192, 303 – 308, 429 – 433. ThPQ 145, 1997, 64 – 68, 286 – 294, 398 – 402. ThPQ 146, 1998, 68 – 72, 187 – 192, 293 – 300, 409 – 413. ThPQ 147, 1999, 78 – 85, 192 – 196, 305 – 310, 397 – 403. ThPQ 148, 2000, 80 – 83, 310 – 313, 411 – 414. ThPQ 149, 2001, 66 – 71, 192 – 198, 298 – 300, 407 – 411. ThPQ 150, 2002, 73 – 76, 191 – 196, 301 – 306, 412 – 417. ThPQ 151, 2003, 203 – 210, 298 – 302. ThPQ 152, 2004, 86 – 92, 315 – 318, 413 – 417. ThPQ 153, 2005, 82 – 87, 413 – 417. ThPQ 154, 2006, 183 – 186, 411 – 414. ThPQ 156, 2008, 81 – 87.

Miscellanea Kanonistisches rund um die Klerikerausbildung, in: Schlägl intern 16, 1990, 409 – 443. Über Selig- und Heiligsprechungen, in: Lesungen und Gebete (Novene) um die Fürbitte von Franz Joseph Rudigier, Linz 1992, 11 – 16. „Kirchenasyl“ – Klärungen zu einer aktuellen Fragestellung, in: Schlägl intern 20, 1994, 410 – 426. Ist eine Diskussion in der katholischen Kirche erwünscht bzw. möglich? Kirchenrechtliche Aspekte zur Meinungsäußerungsfreiheit, in: Schlägl intern 22, 1996, 146 – 161. Mein Leben ist mein Leben! Wiedergeburtsglaube oder Auferstehung – Freiheit und Verantwortung aus der Osterbotschaft, in: Schlägl intern 21, 1995, 82 – 91, 138 – 144; Schlägl intern 22, 1996, 33 – 44. „Das ist ein Fasten wie ich es liebe …“ (Jes. 58,5 – 8). Bemerkungen zum spirituellen Fasten, in: Schlägl intern 22, 1996, 89 – 103.

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Bibliographie

Leseranfrage – Antwort (zu neuen Pfarrleitungsmodellen in der Diözese Linz), in: Entschluss 51, 1996, 34. Ist ein kirchliches Begräbnis trotz Austritt möglich? in: Jahrbuch der Diözese Linz 1997, Linz 1996, 48 – 50. „Obsculta, o fili, praecepta magistri …“ (RB, Prol. 1). Ein Benediktiner als Großkanzler der Universität, in: Neues Archiv für die Geschichte der Diözese Linz, Beiheft 10, Linz 2003, 22 – 27. (mit H. E. Jurman) Kleines Lexikon kirchlicher Ämter und Gremien, in: Jahrbuch der Diözese Linz 2005, Linz 2004, 49 – 57. Über Selig- und Heiligsprechungen, in: pax. Die Zeitung der Friedensbewegung Pax Christi Österreich 2/06, 6 – 7. als Herausgeber: Franz Jägerstätter – Christ und Märtyrer (redigiert von S. Renoldner/T. Schlager-Weidinger/J. Schwabeneder/R. Altreiter), Linz 2007 (1. und 2. erg. Aufl.). „Es stellte sich nachträglich als Fehler heraus, zunächst sein Tun abzuwarten und sein Wirken erfahrungsgemäß selbst beurteilen zu wollen“. Stellungnahme des Generalvikars der Diözese Linz, in: N. Blaichinger, Pater B. Eine Dokumentation, Ranshofen-Osternberg 2010, 104 – 109. als Herausgeber: Franz Joseph Rudigier – Christ und Hirte, Linz 2011. Ein Leben auf dem Prüfstand – Der lange Weg des Seligsprechungsverfahrens, in: Ders. (Hg.), Franz Joseph Rudigier – Christ und Hirte, Linz 2011, 30 – 35.

Rezensionen (zeitl. absteigend) L. Müller/W. Rees/M. Krutzler, Vermögen der Kirche – Vermögende Kirche. Beiträge zur Kirchenfinanzierung und kirchlichen Vermögensverwaltung, Paderborn 2015, in: Theologische Revue 113, 2/2017, Sp. 173 – 174. St. Leimgruber/ L. Müller, Religionsunterricht zwischen Norm und Wirklichkeit (Kirchenrecht im Dialog 2) Paderborn 2000, in: ThPQ 149, 2001, 424 – 425. F. Veraja, Heiligsprechung. Kommentar zur Gesetzgebung und Anleitung für die Praxis, Innsbruck 1998, in: ThPQ 149, 2001, 314. A. Hense, Glockenläuten und Uhrenschlag. Der Gebrauch von Kirchenglocken in der kirchlichen und staatlichen Rechtsordnung, Berlin 1998, in: ThPQ149, 2001, 88 – 90. U. Staschelt/E. Turk, Leitfaden für Arbeitslose. Der Ratgeber zum SGB III (Bd. 3), Frankfurt 1999 (16. Aufl.), in: ThPQ 148, 2000, 419. F. Fahr (Hg.), Kirchensteuer. Notwendigkeit und Problematik. Regensburg 1996, in: ThPQ 148, 2000, 202 – 203. T. Koller, Die Klerikerbesoldung in Kärnten von Maria Theresia bis 1939. Wien/Salzburg 1995, in: ThPQ 147, 1999, 424 – 425. J. Kremsmair/H. Pree (Hg.), Ars boni et aequi. Gesammelte Schriften von Bruno Primetshofer (KST 44), Berlin 1997, in: ThPQ 147, 1999, 324 – 326.

Bibliographie

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D. Henrich (Hg.), Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht mit Staatsangehörigkeitsrecht, begründet von A. Bergmann, fortgeführt von M. Ferid, Frankfurt/Berlin (132. Erg.-Lfg. 1998), in: DPM 6, 1999, 315 – 317. R. Sebott, Ordensrecht. Kommentar zu den Kanones 573 – 747 des Codex Iuris Canonici, Frankfurt am Main 1995, in: ThPQ 146, 1998, 323 – 324. E. Glaubitz, Der christliche Laie. Vergleichende Untersuchung vom II. Vatikanischen Konzil zur Bischofsynode 1987 (Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft 20), Würzburg 1995, in: ThPQ 145, 1997, 429 – 430. H. Paarhammer/F. Pototschnig/A. Rinnerthaler (Hg.), 60 Jahre Österreichisches Konkordat, in: ThPQ 145, 1997, 416 – 419 (Das aktuelle theologische Buch). W. Aymans/K.-Th. Geringer, Iuri Canonico Promovendo. FS Heribert Schmitz, in: DPM 4, 1997, 345 – 352. Amati, L’incidenza dell’immaturità psico-affettiva sul consenso matrimoniale canonico, in: DPM 3, 1996, 327 f. R. Siegel, Die Finanzierung anerkannter Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: ThPQ 144, 1996, 207 f. (und LDBl. 1996). C. Redaelli, Il concetto di diritto della Chiesa nella riflessione canonistica tra concilio e codice, in: ThPQ 144, 1996, 95 f. K. Lüdicke/H. Paarhammer/D. Binder (Hg.), Neue Positionen des Kirchenrechts, in: ThPQ 144, 1996, 96 f. E. Güthoff/K.-H. Selge (Hg.), Adnotationes in iure canonica. FS Franz Xaver Walter, in: ThPQ 144, 1996, 90. R. Ahlers/L. Gerosa/L. Müller (Hg.), Ecclesia a Sacramentis, in: ThPQ 144, 1996, 326 – 328. A. von Campenhausen, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Kirchenrechtliche Stellungnahmen 1984 – 1989, in: ThPQ 143, 1995, 323. G. Wiessner, Kirchenrecht – Religionswissenschaft, in: ThPQ 143, 1995, 322 f. G. Lachner, Die Kirchen und die Wiederheirat Geschiedener, in: ThPQ 141, 1993, 318 – 319. L. Gerosa, Kirchliches Recht und Pastoral, in: ThPQ 141, 1993, 98. C.G. Fürst, Canones-Synopse zum CIC und CCEO, in: ThPQ 141, 1993, 94 – 95. R. Althaus u. a. (Hg.), Aktuelle Beiträge zum Kirchenrecht. FS für Heinrich J. F. Reinhardt (AIC 24), Frankfurt 2002, in: Studia canonica (Ottawa) 37, 2003, 257 – 259 (engl.); und dt. Fassung in: ThPQ 152, 2004, 206 – 208. J. Budin/G. Ludwig, Synopsis Iuris Canonici. Vergleichendes Normregister der vier Gesetzbücher des katholischen Rechts, Regensburg 2001, in: ThPQ 150, 2002, 430 – 432.

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Übersetzungen (absteigend) Übersetzung der Lateinisch/Englischen Konstitutionen und Statuten (samt Appendices) des Prämonstratenser Chorherrenordens ins Deutsche (gedruckt: 2020). R. Spiazzi, Die Spiritualität der Prämonstratenser und der Orden des Hl. Dominikus (orig. ital.: L’Osservatore Romano vom 17. 1. 1998, 4), in: Schlägl intern 24, 1998, 224 – 233. A. Bujatti, Wertvolle Manuskripte und prächtige Fresken in der friedvollen „Wache“ von Prag (orig. ital.: L’Osservatore Romano vom 27. 4. 1997, 3), in: Schlägl intern 23, 1997, 199 – 204. J. Wouters, Die Bestimmungen hinsichtlich des Apostolates der Prämonstratenser im gesatzten Recht des Ordens von 1134 bis 1290 (aus dem Niederländischen, Ms.), in: Schlägl intern 16, 1990, 241 – 275. Geschichte des Prämonstratenserordens (orig. ital.: J. B. Valvekens, F. Petit, „Premostratensi“, in: G. Pelliccia/G. Rocca [Hg.], Dizionario degli istituti di perfezione, Bd. VII, Rom 1983, Sp. 720 – 740/745), in: Schlägl intern 16, 1990, 81 – 119.

Mitarbeit bei Projekten/Arbeitsgruppen Österreichische Bischofskonferenz (Hg.), Die Wahrheit wird euch frei machen. Rahmenordnung für die katholische Kirche in Österreich, Wien 2010. Österreichische Bischofskonferenz (Hg.), Die Wahrheit wird euch frei machen. Neufassung Wien 2016. Generalsekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz (Hg.), Wegweiser zur Führung der Pfarrmatriken, Wien 2010 (AG Tauungsprotokoll und Gesprächsleitfaden). Evangelisch-Katholische Theologische Kommission 2017 (Hg.), Gemeinsames Wort für die Evangelische und Katholische Kirche Oberösterreichs zum Reformationsgedenken 2017, Linz 2017. Religionsbeirat des Landes Oberösterreich (Hg.), Glaube & Religion. Gesetzlich anerkannte Kirchen, Religions- und Bekenntnisgemeinschaften in Oberösterreich, Linz 2017. Religionsbeirat des Landes Oberösterreich (Hg.), Glaube & Religion. Informationsbroschüre für Schulen und Kindergärten. Gesetzlich anerkannte Kirchen, Religions- und Bekenntnisgemeinschaften in Oberösterreich, Linz 2017. Religionsbeirat des Landes Oberösterreich (Hg.), Richtlinien für die Berücksichtigung religiöser Bedürfnisse in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen in Oberösterreich, Linz 2017. Mitarbeit am „Handbuch zum Strukturmodell“ (Schlussredaktion mit S. Dadas; verfasst von Arbeitsgruppe „Option zeitgemäße Strukturen“), hg. von Katholischer Kirche in OÖ., Ms. Linz 2020. Österreichische Bischofskonferenz (Hg.), Die Wahrheit wird euch frei machen. Revidierung Wien 2021.

Bibliographie

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Ordensrechtliche Beratung (Konstitutionen/Statuten/Satzungen) Konstitutionen und Statuten des Regulierten Chorherrenordens der Prämonstratenser (Englisch/Latein – deutsche Übersetzung) Satzungen der Österreichischen Benediktinerkongregation Konstitutionen der Kongregation der Benediktinerinnen vom Unbefleckten Herzen Mariens (Benediktinerinnen Steinerkirchen) Konstitutionen der Kongregation der Schwestern der heiligen Elisabeth des Regulierten III. Ordens des Hl. Franziskus (Elisabethinen – Linz, Wien) Konstitutionen der Kongregation der Franziskusschwestern vom Regulierten Dritten Orden des heiligen Franziskus von Assisi (Franciscus-Seraficus-Schwestern – Linz) Konstitutionen (Lebensregel) der Kongregation der Marienschwestern vom Karmel (Linz) Konstitutionen der Kongregation der Schulschwestern vom Dritten Orden des Hl. Franziskus in Amstetten Konstitutionen (Lebensregel)/Direktorium der Kongregation der Dienerinnen des heiligsten Herzens Jesu (Herz Jesu Schwestern – Wien) Konstitutionen der Kongregation des Regulierten III. Ordens des Hl. Franziskus – Franziskanerinnen von der christlichen Liebe (Hartmannschwestern – Wien)

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Althaus, Rüdiger, Dr. theol. habil., Lic. iur. can., Professor für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Paderborn, Kamp 6, 33098 Paderborn, Deutschland Anuth, Bernhard Sven, Prof. Dr. theol. habil., Lic. iur. can., Professor für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen, Liebermeisterstraße 12, 72076 Tübingen Berkmann, Burkhard Josef, Dr. theol. habil., Dr. iur., Lic. iur. can., Mag. phil., Inhaber des Lehrstuhls für Kirchenrecht, insbesondere für Theologische Grundlegung des Kirchenrechts, Allgemeine Normen und Verfassungsrecht sowie für Orientalisches Kirchenrecht am Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik, Ludwig-Maximilians-Universität München, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München, Deutschland Daneels, Frans, OPraem, Dr. iur. can., Arcivescovo titolare di Bita, Giudice del Supremo Tribunale della Segnatura Apostolica, Segretario emerito del Supremo Tribunale della Segnatura Apostolica, Viale Giotto 27, 00153 Roma, Italien Demel, Sabine, Prof. Dr. theol. habil., Professorin für Kirchenrecht an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg, Universitätsstraße 31, 93055 Regensburg, Deutschland, derzeit in beruflicher Freistellung Eder, Manfred, Prof. em. Dr. theol. habil., bis 2022 Inhaber des Lehrstuhls für Kirchengeschichte am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück Graßmann, Andreas E., Dr. theol. habil., Lic. iur. can., Priv.-Doz., Universitätsdozent für das Fach Kirchenrecht am Fachbereich Praktische Theologie der Universität Salzburg, Universitätsplatz 1, 5020 Salzburg, Austria Hallermann, Heribert, Prof. Dr. theol. habil., em. Professor für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Sterntalerweg 22 A, 97084 Würzburg Handgrätinger, Thomas P., OPraem, em. Generalabt, Prämonstratenserabtei Windberg, Pfarrplatz 22, 94336 Windberg, Deutschland Kalb, Herbert, Universitätsprofessor, DDr., Vorstand des Instituts für Kanonistik, Europäische Rechtsgeschichte und Religionsrecht und Leiter der Abteilung für Politikwissenschaft, Rechtsethik und Rechtsphilosophie der Johannes Kepler Universität Linz

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Katzinger, Gerlinde, Dr. theol., Mag. iur., Hochschullehrerin an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Edith Stein und Religionslehrerin, Gaisbergstraße 7, 5020 Salzburg Kingata, Yves, Prof. Dr. iur. can. habil., Professor für Kirchenrecht an der Universität Regensburg, Universitätsstraße 31, 93040 Regensburg, Deutschland Konrad, Sabine, Prof. Dr. theol., Lic. iur. can., Leiterin des Instituts für Kanonisches Recht an der Universität Graz, Heinrichstraße 78, 8010 Graz, Austria Kowatsch, Andreas, Univ.-Prof. Dr. theol., Dr. iur., Lic. iur. can., LL.M., Professor für Kirchenrecht und Religionsrecht und Vorstand des Instituts für Kirchenrecht und Religionsrecht der Universität Wien, Schenkenstraße 9 – 10, 1010 Wien, Austria Krutzler, Martin P., OCist, Dr. theol., LL.M., Mönch der Zisterzienserabtei Stift Heiligenkreuz im Wienerwald, Dozent an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz für das Fach Kirchenrecht Lauermann, Christoph, Mag. iur., Mag. theol., M.A. in diritto canonico ed ecclesiastico comparato FTL, Kanzler der Diözese Linz, Herrenstraße 19, 4020 Linz Neumann, Thomas, Dr. theol., Lic. iur. can., Akademischer Rat am Institut für Kanonisches Recht, Katholisch-Theologische Fakultät, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Domplatz 23, 48143 Münster, Deutschland Potz, Richard, Prof. Dr. iur., em. Professor für Religionsrecht am Institut für Rechtsphilosophie der Universität Wien, Schenkenstraße 8 – 10, 1010 Wien, Austria Pucher, Ernst, Mag., Lic., Dr., Offizial der Erzdiözese Wien, Dompropst zu St. Stephan, Stephansplatz 5, 1010 Wien Pulte, Matthias, Dr. phil. habil., Lic. iur. can., Dipl. Theol., Univ.-Professor für Kirchenrecht, Kirchliche Rechtsgeschichte und Staatkirchenrecht sowie Vorstand des Zentrums für interdisziplinäre Studien zu Religion und Recht (ZiRR) an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Rees, Wilhelm, o. Univ.-Prof. Dr. theol. habil., Professor für Kirchenrecht am Institut für Praktische Theologie der Universität Innsbruck, Karl-Rahner-Platz 1, 6020 Innsbruck, Austria Rehak, Martin, Prof. Dr. iur. can. habil., Ass. Iur., Professor für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Bibrastraße 14, 97074 Würzburg, Deutschland Schinkele, Brigitte, Dr. iur., Honorarprofessorin für Religionsrecht am Institut für Rechtsphilosophie der Universität Wien, Schenkenstraße 8 – 10, 1010 Wien, Austria Schüller, Thomas, Prof. Dr. theol., Lic. iur. can., Professor für Kirchenrecht und kirchliche Rechtsgeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät und zugleich Direktor des Instituts für Kanonisches Recht der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Domplatz 23, 48143 Münster, Deutschland

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Selge, Karl-Heinz, Dr. theol. habil., Lic. iur. can., Privatdozent, Richter am Erzbischöflichen Offizialat Paderborn, Domplatz 26, 33098 Paderborn, Deutschland Szuromi, Anzelm Szabolcs, O. Praem, Prof., DSc., Center Director, Head of Department, President of OKK, Rector Emeritus, Pázmány Péter Catholic University, Budapest, Ungarn Volgger, Ewald, Prof. Dr. theol., Professor für Liturgiewissenschaft am Institut für Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie der Privatuniversität Linz, Bethlehemstraße 20, 4010 Linz, Austria und an der PTH Brixen (Italy)