Freiheit, Rechtsstaat und Sozialstaat in Europa: Forschungssymposium anlässlich der Emeritierung von Universitätsprofessor Dr. jur. Dr. rer. pol. Detlef Merten [1 ed.] 9783428525843, 9783428125845

Freiheit, Rechtsstaat und Sozialstaat bilden Kernthemen der rechtswissenschaftlichen Forschung von Detlef Merten, denen

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Freiheit, Rechtsstaat und Sozialstaat in Europa: Forschungssymposium anlässlich der Emeritierung von Universitätsprofessor Dr. jur. Dr. rer. pol. Detlef Merten [1 ed.]
 9783428525843, 9783428125845

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Schriften zum Europäischen Recht Band 131

Freiheit, Rechtsstaat und Sozialstaat in Europa Herausgegeben von Siegfried Magiera Karl-Peter Sommermann

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

MAGIERA / SOMMERMANN (Hrsg.)

Freiheit, Rechtsstaat und Sozialstaat in Europa

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 131

Freiheit, Rechtsstaat und Sozialstaat in Europa Forschungssymposium anlässlich der Emeritierung von Universitätsprofessor Dr. iur. Dr. rer. pol. Detlef Merten

Herausgegeben von Siegfried Magiera Karl-Peter Sommermann

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-12584-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Der vorliegende Band der „Schriften zum Europäischen Recht“ enthält die Vorträge und Podiumsbeiträge anlässlich des Symposiums, das das Deutsche Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer unter der wissenschaftlichen Leitung der Herausgeber anlässlich der Emeritierung von Herrn Universitätsprofessor Dr. iur. Dr. rer. pol. Detlef Merten am 15. September 2006 veranstaltet hat. Das Rahmenthema „Freiheit, Rechtsstaat und Sozialstaat in Europa“ umfasst die Kernbereiche in Forschung und Lehre, denen sich der Geehrte als Inhaber des Lehrstuhls für „Öffentliches Recht, insbesondere Wirtschaftsverwaltungsrecht und Sozialrecht“ während seiner langjährigen Tätigkeit an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und dem ihr verbundenen Forschungsinstitut gewidmet hat und sicherlich auch nach seiner „Entpflichtung“ im Rahmen seiner weiteren Institutsmitgliedschaft mit unverminderter Schaffenskraft zuwenden wird. Speyer, im Mai 2007 Siegfried Magiera

Karl-Peter Sommermann

Inhaltsverzeichnis Vom Wert der Form: Zum Wirken Detlef Mertens Jan Ziekow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Entwicklungsperspektiven des Rechtsstaates Entwicklungsperspektiven des Rechtsstaates Heinz Schäffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Entwicklungsperspektiven des Rechtsstaates: Europäisierung und Internationalisierung eines staatsrechtlichen Leitbegriffs Karl-Peter Sommermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Leistungsgrenzen und Finanzierung des Sozialstaats Leistungsgrenzen und Finanzierung des Sozialstaats Hans-Jürgen Papier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Leistungsgrenzen und Finanzierung des Sozialstaats Ferdinand Kirchhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Durchsetzung der Grundrechte Durchsetzung der Grundrechte Klaus Stern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Auf dem Weg zu einer effektiveren Durchsetzung der Grundrechte María Jesús Montoro Chiner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Besonderheiten der Grundrechtsdurchsetzung in Österreich Kirsten Schmalenbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

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Inhaltsverzeichnis

Durchsetzung der Grundrechte: Zur Freizügigkeit der Unionsbürger Siegfried Magiera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Herausforderungen an die Gerichtsbarkeit in Europa Herausforderungen an die Gerichtsbarkeit in Europa Karl Korinek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Die Herausforderungen an die Gerichtsbarkeit in Europa – Bosnien und Herzegowina Constance Grewe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Herausforderungen für die demokratische Ordnung – die verfassungsrechtlichen Schranken der „moralischen Revolution“ Mirosław Wyrzykowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Schlusswort Rudolf Fisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Worte des Dankes Detlef Merten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Verzeichnis der Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Vom Wert der Form: Zum Wirken Detlef Mertens Jan Ziekow Dass das Forschungsinstitut Detlef Merten aus Anlass seines Ausscheidens aus dem aktiven Universitätsdienst ehrt, ist durchaus hintersinnig, ist doch mit dieser Ehrung die Hoffnung verbunden, dass der Geehrte dem Institut weiterhin verbunden bleibt. Wenn man sich das Arbeitsprogramm ansieht, das sich Merten für die nächsten Jahre vorgenommen hat – man denke nur an das gewaltige Handbuch der Grundrechte –, so bestätigt das die Berechtigung der intensiver geführten Diskussion um die Sinnhaftigkeit der Altersgrenzen für Hochschullehrer in Deutschland. „Freiheit, Rechtsstaat und Sozialstaat“ – damit sind wesentliche Marksteine des Werkes von Detlef Merten bezeichnet – aber natürlich beileibe nicht alle. Vielmehr steht man bei dem Versuch einer Würdigung fast schon verzweifelt vor dem nahezu unglaublichen Oeuvre Mertens, das derzeit rund 270 Titel umfasst, davon allein 180 Aufsätze. Das ist ein Maßstab, an dem sich nur sehr Wenige der wissenschaftlichen Zunft messen lassen können und der Achtung einflößt. Ein weiteres Problem für den „Mertenologen“ besteht darin, dass es sich natürlich nicht nur um „Masse“, sondern vielmehr noch um „Klasse“ handelt – um durchweg dicke Bretter, kein wissenschaftliches Fast Food, sondern eher ein mit Zeit zu würdigendes Festmahl. Glücklicherweise hat Detlef Merten es allen Unverständigen leicht gemacht und eine schöne kleine Fibel verfasst, die man „Merten für Anfänger“ nennen könnte, die er aber als herrliche Aphorismensammlung unter dem Titel „Kurzum – Punktum“1 veröffentlicht hat. Da dort vieles treffend – wenngleich nicht immer unter Wahrung der political correctness – zusammengefasst wird, was man sonst nur viel komplizierter umschreiben könnte, stammen die folgenden Zitate – soweit nicht anders gekennzeichnet – aus diesem Werk. Zwei der Eigenschaften, die man Berlinern so nachsagt, sind nach meinem Eindruck auch bei dem gebürtigen Berliner Merten feststellbar: zum einen der Spaß an der Zuspitzung und zum anderen eine gewisse Nüchternheit. Was ihm allerdings fehlt – und das ist wirklich kein Manko –, ist die zuweilen vorhandene Berliner Neigung zum Großsprechertum. Wie hat Detlef Merten doch so 1 Detlef Merten, Kurzum  Punktum. Aphorismen zu Staat und Recht, Individuum und Gemeinschaft, 1997.

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treffend geschrieben: „Lautstärke ist kein Zeichen von Stärke“ und „Format gründet auf Form“. Deshalb ist es kein Wunder, dass es für ihn nie ein Problem war, in noch so verwinkelten Diskussionen der akademischen Selbstverwaltung die Form zu wahren. Doch liegt das möglicherweise auch an seinen Speyerer Kollegen, denen er ein indirektes Lob ausgesprochen hat: „Nur in schlechter Gesellschaft muss man schreien, um gehört zu werden.“ Dass er später gerade in Speyer mit dessen multidisziplinär zusammengesetzten Lehrkörper wissenschaftlich sesshaft wurde, war schon früh angelegt. Schon in seinen Studien beschränkte er sich nicht auf die Juristerei, sondern studierte auch die Staats- und Wirtschaftswissenschaften, nämlich in Berlin und Graz. In Graz wurde er dann auch 1963 mit einer Arbeit zum Thema „Die Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre nach deutschem und österreichischem Verfassungsrecht“ zum Dr. rer. pol. promoviert. Damit war früh ein zentraler Interessengegenstand formuliert, nämlich die Beschäftigung mit den Grundrechten. Kein Wunder also, dass die 1969 angenommene, unter der Betreuung von Karl August Bettermann an der Freien Universität Berlin entstandene juristische Dissertation ebenfalls diesem Themenfeld entstammt und den „Inhalt des Freizügigkeitsrechts“2 zum Gegenstand hat. An der Freien Universität erfolgte 1971 unter der Betreuung von Helmut Quaritsch auch die Habilitation mit einer Arbeit zu „Negativen Grundrechten“. Bleiben wir inhaltlich ein wenig beim Thema „Detlef Merten und die Grundrechte“. Eine zentrale Rolle spielt dabei sicherlich das Verständnis von Grundrechten als Verhaltensgarantien auf das er immer wieder zurückkommt. Wichtig dabei ist, dass Merten die strikte Komplementarität von geschütztem Tun und geschütztem Unterlassen betont. Die Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG schützt deshalb auch das Recht, keinen Beruf zu ergreifen, gewährleistet aber nicht etwa, dass durch eine staatliche Absicherung des Lebensunterhalts dieses Recht tatsächlich wahrgenommen werden kann.3 Selbst auf der Grundlage eines stabilen Weltbildes stehend, ist Detlef Merten Transformationen weltanschaulicher Kategorien abhold. Als unzulässige Vermischung von Beglückung und methodischer Strenge müssen ihm da die von ihm als „schriller Akkord“ bezeichneten4 sog. Leistungsrechte anmuten: „Mit Hilfe der ,Teilhaberechte‘ wird man eines Tages aus der Verfassung noch für jeden Elefanten einen Porzellanladen ableiten.“ Endpunkt eines solchen haben 2 Detlef Merten, Der Inhalt des Freizügigkeitsrechts (Artikel 11 des Grundgesetzes), 1970. 3 Detlef Merten, Die negative Garantiefunktion der verfassungsrechtlichen Berufsund Ausbildungsfreiheit, in: Mensch und Arbeitswelt. Festschrift für Josef Stingl zum 65. Geburtstag, 1984, S. 285 ff. 4 Detlef Merten, Grundrechtsorientiertheit des Verwaltungshandelns, in: Perspektiven der Verwaltungsforschung, 2002, S. 211 (213).

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wollenden Verfassungsdenkens ist ihm dann das „Grundrecht auf Sonne“ – obwohl das aus der Feder eines in der sonnigen Pfalz Wohnenden vielleicht etwas ungerecht ist. Dass es auch nach bald 60 Jahren Grundgesetz noch viel für die Grundrechtsdogmatik zu tun gibt, hat Merten in seiner Speyerer Abschiedsvorlesung „Zum Begriff der Grundrechte“ angedeutet, die denn auch weniger Abschied als vielmehr Programm sein dürfte, das es mit Hilfe des von ihm gemeinsam mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, herausgegebenen Handbuchs der Grundrechte5 zu verwirklichen gilt. Seine Überlegungen „Zum Begriff der Grundrechte“ haben im Übrigen noch einmal ein Charakteristikum seiner Argumentationsweise deutlich gemacht, nämlich die intensive Fruchtbarmachung von historischen Erkenntnissen: „Wer auf die Vergangenheit nichts gibt, kann auch der Zukunft nichts geben.“ Auswirkungen hat das insbesondere für Mertens Verständnis des Rechtsstaats. Unter anderem tiefgehende Studien zur Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in Preußen – erinnert sei hier nur an die bekannte Schrift zum Katte-Prozess6 oder den Beitrag zur Rechtsstaatsidee im Allgemeinen Landrecht7 – haben ihn zu der Einsicht geführt, dass das Rechtsstaatsprinzip rein formell zu verstehen ist8. Auch hier ist ihm eine materielle, eine wertgebundene Aufladung wieder Verwischung. Der Rechtsstaat konstituiert die bürgerliche Freiheit eben durch die gesetzliche Ordnung, oder – wie Merten es auf den Punkt bringt: „Schlechte Ordnungen sind besser als keine.“ Das hat beträchtliche Folgen beispielsweise für das Gewaltmonopol des Staates oder staatliche Schutzpflichten. Dass auch ein formell verstandenes Rechtsstaatsprinzip keinen Zwang zur Verrechtlichung impliziert, hat Merten in seiner Schrift zu „Rechtsstaatlichkeit und Gnade“ nachgewiesen9. In den Zeiten des unter dem Druck von Evaluationen stehenden Publizierens ist eine solche über Jahrzehnte bewiesene Konsequenz leider nicht mehr selbstverständlich. Detlef Merten hat sich solchen Kurzfristigkeiten zu Recht verweigert und seine Systemüberlegungen durchgehalten. Neben der Föderalismusforschung sind das Recht des öffentlichen Dienstes und das Sozialrecht weitere Schwerpunkte. Immer neuen Angriffen auf das Berufsbeamtentum ist Merten immer wieder beherzt entgegengetreten. Nicht zuletzt ist er Mitherausgeber ei5 Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa; Bd. I: Entwicklung und Grundlagen, 2004; Bd. II: Grundrechte in Deutschland – Allgemeine Lehren I, 2006. 6 Detlef Merten, Der Katte-Prozeß, 1980. 7 Detlef Merten, Die Rechtsstaatsidee im Allgemeinen Landrecht, in: Friedrich Ebel (Hrsg.), Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft – Rechtsstaat, 1995, S. 109 ff. 8 Detlef Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 10 ff. 9 Detlef Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, 1978, S. 74 ff.

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ner der renommiertesten Schriftenreihen zum Beamtenrecht, der „Beiträge zum Beamtenrecht“. Detlef Merten hat aber nicht nur durch seine Schriften auf die Staats- und Rechtsentwicklung Einfluss genommen, sondern auch durch exponierte praktische Tätigkeiten. So war er in den Jahren 1995 bis 1997 Mitglied der Reformkommission zur Größe des Bundestages. Einer nebenamtlichen Tätigkeit am Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz schloss sich 1983 die Wahl zum Mitglied des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz an, nunmehr schon über den beachtlichen Zeitraum von 23 Jahren. Diese lange richterliche Tätigkeit führte zu Einsichten wie „Zwei falsche Urteile, und eine ständige Rechtsprechung ist geboren“, die zwar salopp daherkommt, aber völlig zu Recht vor einer zunehmenden Rechtsprechungsgläubigkeit der Rechtswissenschaft warnt, sowie zu einer kritischen Distanz gegenüber der eigenen Tätigkeit als Verfassungsrichter: „Es gibt Richter, Laienrichter und Verfassungsrichter“ – man beachte die Reihenfolge! Der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer ist Detlef Merten seit seiner Berufung im Jahre 1972 zum Ordinarius für öffentliches Recht, insbesondere Wirtschaftsverwaltungsrecht und Sozialrecht, treu geblieben. Von 1977 bis 1979 war er als Rektor für die Geschicke der Hochschule tätig und hat über die Jahre zahlreiche weitere wichtige akademische Selbstverwaltungsämter bekleidet. Für eine Sondereinrichtung, wie sie die Speyerer Hochschule ist, ist es von existenzieller Bedeutung, dass der Anschluss an die Entwicklungen der Universitäten mit grundständigen Studiengängen im Auge behalten wird. Das ist nicht immer ganz einfach, wenn man beispielsweise die Reformen der juristischen Ausbildung in der neueren Zeit in den Blick nimmt. Merten hat sich als Senatsbeauftragter für das juristische Studium dieser Aufgabe über Jahrzehnte in für die Hochschule äußerst erfolgreicher Weise gewidmet. Die typisch Mertensche Zuspitzung „Früher war man dumm, heute hat man schlechte Professoren“ ändert nichts daran, dass Merten ein leidenschaftlicher Hochschullehrer ist, dem nicht nur die Ausbildung, sondern mindestens gleichgewichtig die Bildung seiner Hörer am Herzen liegt. Er hat sich deshalb nie gescheut, auch scheinbar am Rande des Geschehens liegende Themen als Lehrveranstaltungen aufzubereiten, und der Erfolg gibt ihm recht. Dem Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer gehört Detlef Merten seit der Gründung des FÖV im Jahre 1976 als Mitglied an. Das FÖV verdankt ihm die erfolgreiche Leitung vieler Forschungsprojekte – genannt seien hier nur die Projekte „Bestandsaufnahme und ,Messung‘ von Rechtsvorschriften“, „Die Wiedereinführung des Berufsbeamtentums in den neuen Ländern“ und „Prozessgrundrechte im europäischen Vergleich“. Dem Umbau des Instituts und der Gliederung in die drei Sektionen „Modernisierung

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von Staat und Verwaltung“, „Verwaltung in der Mehrebenenpolitik“ und „Verwaltungshandeln zwischen staatlichen und privaten Akteuren“ hat er sich nicht entzogen, sondern engagiert das Programm der Sektion III mitbestimmt. „Viele Glückwünsche sind gewundener Neid“ hat Detlef Merten so hübsch formuliert. Wenn dies auf das Symposium zu seinen Ehren zutreffen sollte, dann nur im besten Sinne, denn wer beneidet wird, hat ja etwas zu bieten.

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Entwicklungsperspektiven des Rechtsstaates Heinz Schäffer Einleitung/Vorbemerkung – Der Mensch und Wissenschafter Detlef Merten Hochverehrter Kollege! Lieber Freund Detlef Merten! Zu allererst die besten Wünsche für einen guten – will sagen: gesunden und tätigen – „(Un-)Ruhestand“ als Emeritus! Meine verehrten Damen und Herren! Wie kennen wir den Menschen und Wissenschafter Detlef Merten? Der gebürtige Berliner – mit Verwandtschaft und erster Schulzeit in Österreich, österreichischer Dr. rer. pol. (der Universität Graz) – wurde nach den Berliner Lehrjahren (Studien- und Assistentenzeit) und kurzer Lehrtätigkeit in Hamburg sehr jung nach Speyer berufen und blieb der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer treu bis heute (auch nach dem Ende der aktiven Dienstzeit). Er ist Deutscher „bis in die Knochen“ und doch zugleich stets weltläufiger Europäer! Ich selbst lernte ihn schon in jungen Jahren kennen: Zuerst ergab sich aus den Kontakten unserer beiderseitigen Lehrer Bettermann und Melichar zwischen uns ein indirekter brieflicher Kontakt, später persönliche Bekanntschaft und kollegiale Verbundenheit, aus der dann schließlich eine nun schon viele Jahre währende echte Lebensfreundschaft erwuchs. Ein Blick in sein Schriftenverzeichnis zeigt: Die Grundrechte, der Rechts- und Sozialstaat sowie die Verfassungsgerichtsbarkeit bilden die zentralen wissenschaftlichen Lebensthemen Detlef Mertens seit seinen jungen Jahren. So wie wahrscheinlich Sie alle habe ich Detlef Merten über all’ die Jahre erfahren und kennen gelernt: ein glänzender, scharfsinniger (wohl manchmal auch scharfzüngig formulierender) Wissenschafter, ein aufrechter, gesinnungsfester Mann, von unverbrüchlicher Freundschaft und strenger Rechtlichkeit – Maßstäbe, die er auch von anderen erwartet, vor allem aber an sich selbst anlegt.

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Damit sind wir schon bei der gedanklichen Brücke, die zum ersten Thema des heutigen Tages führt. Detlef Merten ist ein großer Theoretiker des Rechtsstaates, den er in allen seinen Dimensionen (historisch, rechtsdogmatisch und verfassungspolitisch) erforscht und stets auch praktisch vertreten hat. Darum haben wir als ersten Themenkreis dieses Symposiums „Entwicklungsperspektiven des Rechtsstaats“ gewählt. Mir wurde das Auftakt-Referat anvertraut, und so möchte ich es aus den Verbindungslinien deutscher und österreichischer Staatsrechtslehre entwickeln, zumal die Entwicklung des Rechtsstaats in unseren benachbarten Rechtsordnungen bei aller Verwandtschaft auf unterschiedlichen Wegen und durchaus nicht synchron erfolgte. I. Zum Begriff des Rechtsstaats Was ist der Rechtsstaat? Der österreichische Verwaltungsgerichtshof hat es vor vielen Jahren auf die knappste nur denkbare Formel gebracht: . . . ein Staat in dem „kein Mensch über dem Recht, aber auch kein Mensch außerhalb des Rechts steht.“1 Mit anderen Worten hat es Detlef Merten klassisch so ausgedrückt: „Der Rechtsstaat ist ein Staat, der sich nicht über, sondern in das Recht stellt. Er ist vor allem ein Gemeinwesen, dass sich zum Gesetz als der festen und dauernden Regel bekennt und vom flüchtigen und variablen Befehl oder Machtspruch im Einzelfall abrückt.“2 Ein Staat, der durch seine Strukturen, formgebundenen Verfahren und Institutionen diese grundlegenden Anliegen sichert, ist Rechtsstaat im formellen Sinn, und davon soll im Folgenden die Rede sein – nicht von materialen Gerechtigkeitsvorstellungen, die allzu diffus sind und nicht selten argumentativ dazu verwendet werden, um die Verlässlichkeit und Sicherheit des Rechts zu überspielen, um eines erwünschten Ergebnisses willen zu überspielen.3 Nach heute gefestigtem Verständnis entfaltet sich dieser Rechtsstaatsbegriff auf dreifache Weise: als Gesetzesstaat, Verfassungsstaat und Rechtsschutzstaat. 1. Gesetzesstaat

Im Rechtsstaat muss das Gesetz unverbrüchliche Grundlage allen staatlichen Handelns sein (Legalitätsprinzip, „Totalvorbehalt“ des Gesetzes). Einzelfallent1 So in der berühmten Entscheidung zur (Aufhebung der) Landesverweisung von Otto Habsburg (VwSlg 6035 A/1963). 2 Detlef Merten, Rule of Law am Scheideweg von der nationalen zur internationalen Ebene, ZÖR 58 (2003), S. 1 (3). 3 Treffend daher die Warnung davor, dass „materiale Kriterien zum Trojanischen Pferd für den Rechtsstaat“ werden können, bei Merten, (FN 2), S. 5 m.w. N. (dortselbst FN 9).

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scheidungen sind Sache der Vollziehung und dürfen grundsätzlich nicht vom Gesetzgebungsorgan getroffen werden. Dass die Gerichte dem Gesetz verpflichtet sind, war im Grunde nie strittig; das historische Rechtsstaatspostulat zielte vor allem auf einen „Staat mit einer dem Justizrecht ebenbürtig entwickelten Verwaltungsrechtsordnung, die . . . der schöpferischen Natur der Verwaltung Zügel anlegt.“4 Gesetzesherrschaft bedeutet zu allererst „Vorhersehbarkeit, Berechenbarkeit und Messbarkeit des Gesetzes“.5 Im Rechtsstaat darf es kein Geheimrecht geben; daher bedürfen allgemein bindende Rechtsvorschriften zwingend der Publikation – mag sich etwa auch die Form der Publikation mit den Zeitläufen und dem Stand der Technik ändern.6 Gesetze bedürfen ferner einer ausreichenden Bestimmtheit und einer – zumindest relativen – Beständigkeit. Vor allem ist gefordert, dass der Bürger ein bestimmtes Maß an Orientierungssicherheit hat und dass er der Vollziehung grundsätzlich als Subjekt (Träger von Rechten) gegenübertritt, nicht bloß als Objekt behandelt wird. Natürlich können und müssen Gesetze erforderlichenfalls auch geändert werden, aber – wie Detlef Merten präzis formuliert hat – „nicht beliebig, grundlos oder selbstherrlich“,7 und sie dürfen daher im Allgemeinen auch nicht rückwirkend sein. 2. Verfassungsstaat

Moderne Verfassungen binden freilich nicht nur die Vollziehung an das Gesetz, sondern alle Staatsfunktionen – auch die Gesetzgebung an die Verfassung (so z. B. insbesondere Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz). Wirksame Bindung der Gesetzgebung an ein höherrangiges Verfassungsrecht schafft nicht nur Rechtsklarheit und Rechtssicherheit hinsichtlich des Weges der Gesetzgebung, sondern bildet zugleich die Voraussetzung für eine inhaltliche Begrenzung der Gesetzge4 Adolf Julius Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1927, S. 1977; ebenso Walter Antoniolli, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1954, S. 51. 5 Detlef Merten, Rule of Law am Scheideweg von der nationalen zur internationalen Ebene, ZÖR 58 (2003), S. 3. 6 In Österreich herrscht seit 1848 das Prinzip der formellen Publikation (RGBl, StGBl, BGBl). Allerdings brachte das Kundmachungsreformgesetz 2004 (öBGBl I 2003/100) eine radikale technische Modernisierung: Seit dem 1.1.2004 erfolgt die offizielle Verlautbarung der Rechtsvorschriften des Bundes gleichsam „papierlos (digital)“; authentisch ist nämlich seit dem genannten Zeitpunkt nur mehr die elektronische Kundmachung via Internet im Rechtsinformationssystem des Bundes (RIS). 7 Detlef Merten, Rule of Law am Scheideweg von der nationalen zur internationalen Ebene, ZÖR 58 (2003), S. 3. Eine rückwirkende Regelung ist übrigens nach der neueren Rechtsprechung des VfGH (ständige Rechtsprechung seit VfSlg 11.309/1987 und 12.186/1989) nur innerhalb enger Grenzen zulässig, die nach dem Vertrauen des Bürgers gegen plötzliche und schwerwiegende Eingriffe bemessen werden. Auch dieser Vertrauensschutz, welcher aus dem Rechtsstaatsprinzip oder aus den Grundrechten, insbesondere aus dem Gleichheitssatz immanenten Sachlichkeitserfordernis ableitbar ist, ist dogmatisch umstritten. Vgl. Rudolf Thienel, Vertrauensschutz und Verfassungsrecht, 1990.

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bung, insbesondere gegen staatliche Willkür auch auf der Ebene der Gesetzgebung. In diesem weiteren Sinn (einer der Stufenbautheorie des Rechts gemäßen Deutung) gipfelt – wie es der VfGH8 ausgedrückt hat – der Sinn des rechtsstaatlichen Prinzips darin, dass alle Akte staatlicher Organe im Gesetz und mittelbar letzten Endes in der Verfassung begründet sind. Dies bedeutet eine Absage an die traditionellen (englischen und französischen) Vorstellungen von einer „Parlamentssouveränität“ und damit an die Phantasien von Allmachtsansprüchen der Politik; Detlef Merten hat dazu die plastische Formulierung geprägt: „Oberstes Gebot für eine demokratische Legislative ist daher Verfassungsdemut.“9 Der entwickelte Verfassungsstaat begnügt sich auch nicht mit einer proklamierten „Gewähr der Verfassung“ oder bloß politischen Kontrollen (sei es durch die checks and balances zwischen Legislative und Exekutive oder durch die bremsende Wirkung einer zweiten Kammer), sondern schafft mit einer zur Wahrung des Verfassungsrechts eingerichteten zentralen Verfassungsgerichtsbarkeit eine Gewaltenbalance neuer Art.10 Die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit, vor allem in der Ausprägung des österreichisch/deutschen Modells (von manchen als europäisches Modell schlechthin apostrophiert),11 hat inzwischen in der Staatenwelt einen Siegeszug angetreten und allerorten Wesentliches zur Festigung dieses verfassungsstaatlichen Gedankens beigetragen. 3. Rechtsschutzstaat

Der Rechtsstaat muss aber auch und vor allem Rechtsschutzstaat sein. Verfassungsstaat und Gesetzesstaat müssen eine Absicherung durch entsprechende verfahrensrechtliche und organisationsrechtliche Vorkehrungen aufweisen.12 Von

8 In seiner inzwischen zu einer Standardformel gewordenen verfestigten Rechtsprechung (z. B. VfSlg 11.196/1986, 12.409/1990, 13.223/1992, 14.702/1996, 15.581/1999, 15.816/2000, 16.245/2001). 9 Detlef Merten, Rule of Law am Scheideweg von der nationalen zur internationalen Ebene, ZÖR 58 (2003), S. 4. 10 Heinz Schäffer, Verfassungsgericht und Gesetzgebung, in: FS Friedrich Koja, 1998, S. 101 ff. 11 Pedro Cruz Villalón, La formación del sistema europeo de control constitucional (1918–1939), 1981, S. 23 ff.; Heinz Schäffer, Das österreichische/europäische Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit und Spanien, in: Francisco Fernández Segado (Hrsg.), The Spanish Constitution in the European Constitutional Context/La Constitución española en el contexto constitucional europeo, 2003, S. 1119 ff. 12 Nach den zuvor zitierten Deutungen des Rechtsstaatsprinzips in der Judikatur des VfGH müssen nicht nur alle Akte staatlicher Organe im Gesetz und mittelbar letzten Endes in der Verfassung begründet sein, sondern es muss auch „ein System von Rechtsschutzeinrichtungen Gewähr dafür [bieten], dass nur Akte in ihrer rechtlichen Existenz als dauernd gesichert erscheinen, die in Übereinstimmung mit den sie bedingenden Akten höherer Stufe erlassen wurden“.

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allem Anfang an (im 19. Jhdt.) war es ein Grundanliegen der Rechtsstaatsbewegung, für den Einzelnen durchsetzbare Rechte und wirksamen Rechtsschutz zu erringen. Jeder soll die Übereinstimmung der an ihn gerichteten Rechtsakte mit den Gesetzen einfordern und vor allem bei unabhängigen Gerichten geltend machen können. Der Rechtsunterworfene sollte eben nicht nur im Bereich der Gesetzgebung als Aktivbürger handeln können, sondern auch im Bereich der Vollziehung vom bloßen Objekt staatlicher Tätigkeit zum aktiven handelnden Subjekt werden. Eine entsprechende umfassende Ausgestaltung des individuellen Rechtsschutzes wurde daher zu Recht als „Vollendung und Krönung“ des Rechtsstaatsprinzips bezeichnet.13 Dass der Rechtsschutzstaat nicht auf einen Schlag errungen wurde, dass es vieler Schritte und Etappen bis zum heutigen Rechtsschutzstandard bedurfte, dass es Rückschläge gab und auch heute noch manche Unvollkommenheiten gibt, kann nicht in allen Einzelheiten nachgezeichnet werden. Wenige Andeutungen müssen genügen. Einige markante Stationen der Entwicklung seien dennoch in Erinnerung gerufen. Dies soll mit Blick auf Österreich (unter gleichzeitiger Bedachtnahme auf die deutsche Perspektive) geschehen, weil sich gerade am Beispiel Österreichs alte und neue Entwicklungen wie in einem Brennglas fokussieren lassen. II. Der Rechtsstaat und seine Institutionen 1. Entwicklung

Wenngleich aus außenpolitischer Schwäche und innenpolitischen Kompromissen geboren, war die österreichische Dezemberverfassung 1867 im deutschen Sprachraum ein Markstein der Entwicklung zum Rechtsschutzstaat.14 Sie brachte zugleich mit dem positivrechtlichen Grundrechtskatalog der österreichischen Reichshälfte („Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger“)15 die Einrichtung eines Reichsgerichts, das als erstes Verfassungsgericht Europas16 unter anderem über Verfassungsbeschwerden der Staatsbürger („wegen Verletzung der . . . durch die Verfassung gewährleisteten politischen Rechte“) zu befinden hatte: Damit waren erstmals justiziable Grundrechte verankert.17 Den bahnbrechenden Ausbau zu einer vollentwickelten Verfassungsgerichtsbarkeit mit Normenkontrolle brachte – unter maßgeblichem Einfluss Hans 13 So bereits Ludwig Adamovich (sen.), Grundriss des österreichischen Verfassungsrechts, 4. Aufl. 1947, S. 71. 14 Vgl. dazu die durchaus treffende Schilderung und Einschätzung bei Jörg-Detlef Kühne, Von der bürgerlichen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg, in: Merten/Papier, HGR I § 3 Rn 93 ff. 15 öRGBl 1867/142. 16 Georg Jellinek, Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich, 1885.

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Kelsens – die österreichische Bundesverfassung von 1920; auch in dieser Beziehung war also Österreichs Rechtsentwicklung pionierhaft.18 Ein grundsätzlich umfassender Verwaltungsrechtsschutz entstand aber schon ab 1876 mit der Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, nahezu zeitgleich in Preußen,19 in Österreich mit dem in Wien zentralisierten Verwaltungsgerichtshof, wodurch der Einzelne Rechtsschutz im Fall der Verletzung (einfach-) gesetzlich gewährleisteter Rechte erlangen konnte. In Österreich hat der Verwaltungsgerichtshof in Wien schon im 19. Jhdt. unschätzbare Leistungen zur praktischen Umsetzung und lückenlosen Verwirklichung des Rechtsstaatsprinzips in der Verwaltung erbracht. Besonders bedeutsam waren vor allem die Erarbeitung rechtsstaatlicher Grundsätze des Verwaltungsverfahrens und der Parteirechte (Rechte der Parteien des Verwaltungsverfahrens), was später die Grundlage der Kodifikation in den Verwaltungsverfahrensgesetzen des Jahres 1925 bildete.20 Die nachfolgende Entwicklung in Österreich war21 (sowohl auf Verfassungsebene als auch auf der Ebene des einfachen Gesetzesrechts) von einer Verfeinerung der Grundgedanken und einem Ausbau der rechtsstaatlichen Institutionen (vor allem in der Verwaltung) geprägt.22 Im Ergebnis verfügen wir heute über ein hoch differenziertes Rechtsschutzsystem, das gleichwohl – oder gerade deshalb – Defizite und Lücken erkennen lässt (davon näher unten II. 2.). 17 Wenngleich das Reichsgericht die Verletzung eines Grundrechts nur feststellen und keine Aufhebung des bekämpften Verwaltungsakts aussprechen konnte, genossen seine Urteile hohe Autorität und wurden nahezu ausnahmslos befolgt. Siehe dazu insbesondere Erwin Melichar, Die Freiheitsrechte der Dezember-Verfassung 1867 und ihre Entwicklung in der reichsgerichtlichen Judikatur, ÖZÖR 16 (1966), S. 256 ff. Die erst ein Jahrzehnt später (1876) eingerichtete Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde mit kassatorischer Entscheidungsbefugnis ausgestattet. 18 Kelsen hatte gerade die „Gerichtsbarkeit öffentlichen Rechts“ als juristischen Kern der Verfassung betrachtet und vor allem an der Formulierung des einschlägigen 6. Hauptstückes der österreichischen Bundesverfassung maßgeblichen Anteil. Siehe dazu Aladar Métall, Hans Kelsen, Leben und Werk, 1969, S. 35. 19 Nach dem Vorläufer in Baden 1863. 20 Vgl. zur Entwicklung im Detail vor allem Friedrich Tezner, Die rechtsbildende Funktion der österreichischen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, 4 Teile, 2. Aufl. 1925. Zur rechtsstaatlichen Funktion des Verwaltungsverfahrens Heinz Schäffer, Das österreichische Verwaltungsverfahren. Eine Kodifikation für Rechtsstaat und moderne Verwaltungsführung, in: Attila Rácz (Hrsg.), Problems of Constitutional Development. Essays in Memory of Prof. István Kovács, 1993, S. 189 ff. sowie jüngst wieder die Übersicht bei Heinz Schäffer, 80 Jahre Kodifikation des Verwaltungsverfahrens in Österreich, ZÖR 59 (2004), S. 285 ff. 21 Abgesehen von den Einschränkungen bzw. der Ausschaltung des Rechtsschutzes in den Perioden 1934 bis 1938 (ständisch-autoritäre „Verfassung 1934“) und 1938 bis 1945 (Zeit des „Anschlusses“ Österreichs an Deutschland). 22 Z. B. Einführung der Säumnisbeschwerde in der Verwaltungsgerichtsbarkeit (erstmals 1934 bzw. neuerlich ab 1946) und Ausbau der Normenkontrolle des VfGH in mehreren Schritten.

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Demgegenüber verlief die Entwicklung in Deutschland ganz anders:23 Ein systematisch und umfassend konzipierter Rechtsschutz gelang mit dem staatlichen Neuanfang unter dem deutschen Grundgesetz 1949. Tragende Säulen bildeten die umfassende Neukodifikation der Grundrechte (einschließlich einer allgemeinen Rechtswegegarantie) in Verbindung mit einem Bundesverfassungsgericht, welchem weit gespannte Prüfungsaufträge und Wirkungsmöglichkeiten eingeräumt sind; dieses bildet zugleich die Krone der Gerichtsbarkeit über den anderen Gerichtszweigen, auch über der modernen mehrstufig-reformatorischen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Und die vergleichsweise spätere Kodifikation des Verwaltungsverfahrens erlaubte Deutschland einen moderneren Zugriff. All dies bescherte Deutschland ein europaweit und weltweit beachtetes Rechtsschutzsystem, das dem österreichischen in Bezug auf die faktische Effizienz des Rechtsschutzes heute in mancher Hinsicht überlegen ist.

2. Zustand – Fortschritte – Defizite

Was wurde erreicht, welche Fortschritte gab es, und wo werden Defizite, „Lücken“ und Problemzonen des Rechtsschutzes sichtbar?24 Blicken wir nochmals auf das österreichische Rechtsschutzsystem, so kann man gewiss sagen, dass es im Laufe einer jahrzehntelangen Entwicklung ausdifferenziert und hoch entwickelt ist. Gleichwohl muss der Rechtsschutz in seiner praktischen Bewährung täglich neu errungen werden, und das System stets angesichts neuer Anforderungen auf seine Tauglichkeit und Vollständigkeit hinterfragt werden. a) Individueller Rechtsschutz Bezüglich des individuellen Rechtsschutzes sind die Institutionen so ausgestaltet, dass grundsätzlich jeder Adressat eines Hoheitsaktes dessen Kontrolle durch ein unabhängiges Gericht erreichen kann. Im Zentrum des öffentlich-rechtlichen Rechtsschutzes stehen nach wie vor die Individualbeschwerden gegen Bescheide der Verwaltungsbehörden, über die – nach einer gewiss subtilen Arbeitsteilung – der Verwaltungsgerichtshof und (in verfassungsrechtlichen Fragen) der Verfassungsgerichtshof zu erkennen ha23 Zur unterschiedlichen Ausgangslage und den unterschiedlichen Wegen zur Reetablierung des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg: Heinz Schäffer, Deutschlands Grundgesetz – Vom Verfassungsprovisorium zur Musterverfassung. Reflexionen aus dem Nachbarstaat Österreich, DÖV 1999, S. 485 ff. 24 Eine vergleichbare problemorientierte Übersicht bei Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Rechtsschutz und Verfassung, in: Bundesministerium für Inneres (Hrsg.), Der Rechtsschutzbeauftragte, 2004, S. 27 ff.

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ben.25 Die dem VwGH nach dem gewiss rechtsschutzfreundlichen System der Generalklausel übertragene Kontrolle der gesamten öffentlichen Verwaltung ist freilich angesichts verschiedener formeller Beschränkungen nicht so umfassend wie es erscheinen möchte.26 Der formalisierte Bescheidbegriff erfasst nicht die unmittelbaren Befehls- und Zwangsakte. Über diese entscheiden jedoch mit den „Unabhängigen Verwaltungssenaten“ inzwischen gerichtsähnlich organisierte Verwaltungsbehörden und zwar unter der nachprüfenden Kontrolle der beiden Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts.27 Überdies können Verordnungen, die für den Einzelnen (ohne Dazwischentreten eines individuellen Vollzugsaktes) unmittelbar wirksam werden, von diesem mit Individualantrag beim VfGH direkt angefochten werden.28 Schließlich darf nicht übersehen werden: Auf der Ebene eines „sekundären Rechtsschutzes“ haftet der Staat bei allen hoheitlichen Akten der Vollziehung (Urteilen, Bescheiden usw.) überdies zivilrechtlich für rechtswidriges schuldhaftes Verhalten seiner Organe. Der dadurch gestiftete Schaden kann aus dem Titel der „Amtshaftung“ vor den ordentlichen Gerichten eingeklagt werden.29 b) Normenkontrolle Auch auf der Ebene der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle gab es einen Ausbau und eine Weiterentwicklung. Mit der erwähnten Rechtsschutznovelle 1975 wurden Fälle der Gesetzesprüfung (auf Regierungsantrag oder Gerichtsantrag) erweitert; hinzu kamen noch die Gesetzesanfechtung durch eine qualifizierte parlamentarische Minderheit (ein Drittel der Abgeordneten eines parlamentarischen Vertretungskörpers ist antragsbefugt; sogenannte „Drittelanfechtung“) und der Individualantrag auf Normenkontrolle auch im Bereich der Gesetzesprüfung. Damit kann der Einzelne ein „Maßnahmengesetz“, das direkt in seine Rechtssphäre eingreift oder sie nachteilig gestaltet,30 selbst vor dem Verfassungsgerichtshof anfechten. Die Regelung ist für die wenigen, aber im25 Art. 131 ff. bzw. 144 B-VG. Zu der erwähnten „Arbeitsteilung“ (Kompetenzabgrenzung zwischen VfGH und VwGH) Heinz Peter Rill/Heinz Schäffer, Vorbemerkung zum 6. Hauptstück, in: Rill/Schäffer, Bundesverfassungsrecht. Kommentar (2001 ff., 2006), Rz 13 ff. 26 Peter Oberndorfer, Die österreichische Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1983, S. 21 ff., 61 ff. 27 Art. 129a und 129b B-VG (eingeführt durch die B-VG Novelle öBGBl 1998/ 685). 28 Art. 139 Abs. 1 letzter Satz B-VG (eingeführt mit der sog „Rechtsschutznovelle“ B-VG öBGBl 1975/302). 29 Art. 23 B-VG (programmatisch eingeführt in der 1. Republik, erst in der 2. Republik anwendbar gemacht durch das Ausführungsgesetz: Amtshaftungsgesetz 1949 öBGBl 1949/20.) 30 Unter strengen Zulässigkeitsvoraussetzungen (vor allem „Unzumutbarkeit“ eines anderen Rechtsweges)! Siehe dazu Martin Hiesel, Die Rechtsprechung des Verfas-

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merhin denkbaren und leider immer wieder vorkommenden Fälle gedacht, in denen die Beeinträchtigung der Rechtsposition entweder unmittelbar durch das Gesetz bewirkt wird und ein anfechtbarer Vollzugsakt entweder gar nicht oder erst so spät erlassen werden kann, dass seine Bekämpfung für den Betroffenen keinen effektiven Rechtsschutz mehr bedeutet; auch muss man sich nicht erst einer Bestrafung aussetzen, um einen bekämpfbaren Vollzugsakt und damit letzten Endes Rechtsschutz zu erlangen. Aus dem Bereich der Normenkontrolle ist schließlich noch über eine bemerkenswerte judikative Weiterentwicklung zu berichten. Die Theorie vom Stufenbau der Rechtsordnung führte in der österreichischen Dogmatik schon vor längerem zu dem Gedanken, dass nicht nur der Gesetzgeber die Verfassung zu respektieren hat, sondern dass auch der Verfassungsgesetzgeber Schranken zu beachten hat – nämlich jene, die sich aus den Grundprinzipien der Verfassung ergeben (aus den „Baugesetzen“ der verfassungsrechtlichen Grundordnung). Hatte der VfGH jahrelang auch die gehäufte Durchbrechung von Verfassungsrecht durch punktuelle Verfassungsbestimmungen (sogenannte „Verfassungsdurchlöcherung“) und nicht selten die Paralysierung seiner Rechtsprechung hingenommen,31 so hat er vor einigen Jahren in einer vielbeachteten Entscheidung (VfSlg 16.327/2001) mit seiner Kernfunktion als Hüter des Rechtsschutzsystems so ernst gemacht, dass er erstmals „verfassungswidriges Verfassungsrecht“ konstatierte und auch aufhob. Die Entscheidung betraf eine Verfassungsbestimmung, die – wenn auch zum Zwecke einer Gesetzesreparatur nach europarechtlichen Vorgaben – den Rechtsschutz im Bereich des Vergabewesens für eine nicht unerhebliche Zeitspanne (11/2 Jahre!) völlig suspendiert hatte.32 Trotz mancher Zweifel33 an dieser Entscheidung hat das Verfassungsgericht damit den Allmachtsphantasien der Politik eine sichtbare Grenze gezogen. sungsgerichtshofes zur Zulässigkeit von Individualanträgen, ÖJZ 1998, S. 841; Heinz Schäffer, in: Rill/Schäffer, Kommentar, Kommentierung zu Art. 140 B-VG, Rz 59. 31 Dazu Heinz Peter Rill/Heinz Schäffer, in: Rill/Schäffer, Kommentar, Kommentierung zu Art. 44 B-VG, Rz 9 und Rz 35; zur Grundrechte-Durchbrechung insbesondere Rz 37. 32 Aufgehoben wurde § 126a BVergG 1997 (i. d. F. öBGBl I 2000/125) wegen Verstoß gegen das rechtsstaatliche und demokratische Prinzip. 33 (Methodische) Kritik an der Begründung bei Rill/Schäffer, (FN 31), Kommentierung zu Art. 44 B-VG, Rz 10. Deutlich positiver gesehen von Peter Pernthaler, Entscheidungsbesprechung, JBl 2002, S. 98 ff. Freilich äußerte auch Pernthaler wenig später Bedenken zur Systemverträglichkeit einer solchen richterlichen Strategie. Er bezeichnete die neueste Judikatur zur illegalen Gesamtänderung der Bundesverfassung als „zweifelhaft“, weil „diese schärfste Waffe der Verfassungskontrolle nur schwerwiegende und offenkundige Fehlanwendungen der Verfassungsnorm verhindern kann, ohne in schwerste systembedrohende Konflikte mit dem Parlament als Verfassungsgesetzgeber zu geraten.“ Jedenfalls bedürfte die rechtliche Vernichtung von Verfassungsrecht der größten richterlichen Sorgfalt in Begründung und Abwägung aller rationes decidendi. Siehe Peter Pernthaler, Sind Demokratie und Rechtsstaat wirklich „an der Wurzel eins“?, in: FS Ludwig Adamovich (70.), 2002, S. 631 (650 f.).

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c) Ordentliche Gerichtsbarkeit Nicht zu unterschätzen bleibt im Rechtsstaat die Rolle der ordentlichen Gerichte in Zivil- und Strafsachen. Zwar führt im österreichischen System einer von der ordentlichen Justiz getrennten Gerichtsbarkeit öffentlichen Rechts (somit trialistische Höchstgerichtsbarkeit: OGH, VwGH, VfGH)34 keine Urteilverfassungsbeschwerde zum VfGH. Doch stellen die möglichen Gerichtsanträge auf Verordnungs- oder Gesetzesprüfung an den VfGH eine im Allgemeinen genügende Verbindungslinie her. Im Übrigen haben in Österreich die Gerichte „in Vollziehung der Gesetze“ dafür zu sorgen, dass keine unmittelbaren Verfassungsverletzungen durch Justizakte stattfinden. Im strafrechtlichen Bereich hat dieser Schutz für das besonders sensible Grundrecht der persönlichen Freiheit durch das „Grundrechtsbeschwerde-Gesetz“ mit der an den OGH zu richtenden Grundrechtsbeschwerde eine spezifische Ausgestaltung gefunden.35 Wesentlich ist aber36 vor allem, dass die (Zivil-)Gerichte – sei es im Wege verfassungskonformer Interpretation oder durch Direktanwendung der Grundrechte – im Einzelfall auch den in Formen des Privatrechts handelnden Staat zu rechtmäßigem Verhalten zwingen können oder ihm eine Haftung auferlegen können. Dies zeigte sich in neuester Zeit besonders spektakulär, als der OGH – am Beispiel des Bundesbetreuungsgesetzes – den fiskalisch handelnden Staat unter Direktanwendung des Gleichheitssatzes (und dem zufolge unter Außer-

34 In Österreich ist der OGH als oberste Rechtsschutzinstanz in Zivil- und Strafsachen verfassungsrechtlich verankert (Art. 91 Abs. 1 B-VG). Dies wird allgemein als Bestand- und Funktionsschutznorm gesehen; der OGH darf in dieser Funktion weder abgeschafft noch grundsätzlich ausgeschaltet werden (sachlich begründete Rechtsmittelbeschränkungen sind jedoch zulässig). 35 GRBG (öBGBl 1992/864). Nach diesem Gesetz steht dem Betroffenen wegen Verletzung des Freiheitsgrundrechtes durch strafgerichtliche Entscheidungen oder Verfügungen (ausgenommen Verhängung oder Vollzug von Freiheitsstrafen und vorbeugenden Maßnahmen wegen gerichtlich strafbarer Handlungen) nach Erschöpfung des Instanzenzuges das Recht der Grundrechtsbeschwerde an den OGH zu. Dieser hat festzustellen, ob eine Grundrechtsverletzung stattgefunden hat und, sofern die Freiheitsbeschränkung andauert, den bekämpften Akt aufzuheben. Über die Anwendung des § 10 GRBG ist es dem OGH auch möglich, anlässlich einer Grundrechtsbeschwerde bei materiell gesetzwidriger Beurteilung oder erheblichen Bedenken gegen die Sachverhaltsgrundlagen des dringenden Tatverdachts von Amts wegen zugunsten eines Bfr. einzuschreiten. Der OGH meint nämlich – in sinngemäßer Anwendung des § 362 StPO – sich aus aktenkundigen Umständen ergebende erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der die Verdachtsintensität tragenden Sachverhaltsprämissen auch dann wahrnehmen zu sollen, wenn sie in der Grundrechtsbeschwerde nicht aufgezeigt werden (OGH 6.4.2006, 11 Os 31/06b = EvBl 2006/125 m.w. N.). 36 Abgesehen von der schon oben erwähnten „Amtshaftung“. – Sekundärer Rechtsschutz durch Staatshaftung bleibt freilich immer nur eine letzte Remedur, weil sie letztlich auf dem Gedanken des „Dulde und Liquidiere“ beruht.

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achtlassung sachwidrig einschränkender Regelungen einer internen Verwaltungsverordnung) zur Erbringung von Betreuungsleistungen für Asylwerber verhielt bzw. dem Bund eine entsprechende Haftung gegenüber Betreuungsorganisationen auferlegte.37 3. Präventiver und objektiver Rechtsschutz

Der Rechtsschutz als System der Beseitigung fehlerhafter Staatsakte ist angesichts der Anfechtbarkeit bei einer Mehrzahl unabhängiger Einrichtungen in formaler Hinsicht weitgehend lückenlos und perfekt ausgestaltet. Gleichwohl resultieren gerade aus der Anknüpfung an einzelne Rechtssatzformen und Akttypen („akttypenbezogener Rechtsschutz“)38 im Laufe der Entwicklung neue Rechtsschutzdefizite, wie z. B. die mangelnde Bekämpfbarkeit fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, die einen Dritten begünstigen; so kann insbesondere mangels „Konkurrentenklage“ eine rechtswidrig vergebene Subvention in Privatrechtsform ebenso wenig bekämpft werden, wie die zufällig oder willkürlich unterlassene Bestrafung eines anderen Täters im Verwaltungsstrafrecht („keine Gleichheit im Unrecht“). Oder die Unbekämpfbarkeit von Verwaltungshandlungen, die nicht oder nicht ohne weiters unter bestimmten Akttypen erfasst werden können (mag es sich um planende und vorbereitende Vorstufen von Verwaltungsakten handeln, die Ergebnisse präjudizieren, mag es um bestimmte Zustände in der Verwaltung gehen oder um Realakte, die nicht durch Rechtsmittel aus der Welt geschafft werden können und von denen Betroffene oft gar nichts wissen). Jedenfalls empfindet der Bürger den noch so perfekt entwickelten Rechtswegestaat nicht mehr als voll befriedigend, insoweit er nur Akt-Kontrolle und 37 OGH 24.2.2003, 1 Ob 272/02k und ebenso 27.8.2003, 9 Ob 71/03m: „Hat sich . . . eine Gebietskörperschaft in einem Selbstbindungsgesetz zur Leistung unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet, so ist sie von Gesetzes wegen angehalten, diese Leistung jedermann, der diese Voraussetzungen erfüllt, zu erbringen, wenn sie eine solche Leistung in anderen Einzelfällen bereits erbracht hat. Auf eine solche Leistung besteht daher ein klagbarer Anspruch.“ Der Gesetzgeber kann sich also nicht etwa mit der Formel „auf die Leistung besteht kein Rechtsanspruch“ freizeichnen. 38 Diesen Wesenszug des österreichischen Rechtschutzsystems betonen (kritischanalytisch) Heinz Peter Rill/Heinz Schäffer, in: Rill/Schäffer, Bundesverfassungsrecht. Kommentar (2001 ff., Lfg. 2006), Vorbemerkungen zum 6. Hauptstück des B-VG, Rz 12 und Kommentierung zu Art. 129 B-VG, Rz 4. Ganz ähnlich spricht Bernhard Raschauer, in: ders. (Hrsg.), Grundriss des österreichischen Wirtschaftsrechts, 2. Aufl. 2003, Rz 144 von „akt-akzessorischen Gewährleistungen“. Ferner hat schon Peter Oberndorfer, Die österreichische Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1983, S. 35 f. zutreffend konstatiert, dass die „Generalklausel . . ., die ursprünglich als besonders rechtsstaatadäquat und rechtsschutzfreundlich galt . . . auf Grund der Entwicklung des Verwaltungsrechts und der Judikatur sowie der dadurch bewirkten Begrenzung anfechtbarer Verwaltungshandlungen im Ergebnis den Kontrollbereich der umfassend gedachten Verwaltungsgerichtsbarkeit“ einschränkte.

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nicht Verhaltens-Kontrolle bedeutet, und nicht auch bestimmte Standards zu garantieren vermag. In der österreichischen Rechtsordnung hat man darauf teils mit neuartigen Rechtsschutz-Einrichtungen, teils mit der judikativen Entwicklung erhöhter Rechtsschutz-Standards reagiert. Besonders vorzustellen sind hier zunächst neue Wege eines indirekten Rechtsschutzes durch soft law und präventiven (kommissarischen) Rechtsschutz.39 a) Die österreichische „Volksanwaltschaft“ Schon 1977 wurde zunächst einfachgesetzlich40 und nach mehrjähriger Bewährung durch Einbau in der Verfassungsordnung41 eine Volksanwaltschaft geschaffen, die nicht bloß psychologisch die Funktion einer „Klagemauer“ erfüllt, sondern tatsächlich das Rechtsschutzsystem wirksam ergänzt. Diese Ombudsman-ähnliche Institution kann unabhängig vom formellen Rechtsschutzsystem – d.h. gleichzeitig mit dessen Inanspruchnahme oder auch nach dessen Erschöpfung42 – vom Einzelnen wegen beliebiger „Missstände“ in der Verwaltung mit Beschwerde angerufen werden. Die Missstandskontrolle erstreckt sich, wie der Begriff schon anzeigt, auf alle Arten und Stufen staatlichen Verwaltungshandelns ungeachtet ihrer Form (hoheitlich, privatwirtschaftlich) und ihres Reifegrades (Vorhaben, Planungen, Realakte usw.). Die Volksanwaltschaft ihrerseits kann jede Art von „Missstand“ auch von Amts wegen aufgreifen und Empfehlungen aussprechen. Die Feststellung eines Missstandes seitens der Volksanwaltschaft und ihre Empfehlungen schaffen zwar nur „soft law“, welches gleichwohl – zusammengefasst in den an das Parlament erstatteten Tätigkeitsbe39 Bei der Systematisierung des Grundrechtsschutzes wird darauf hingewiesen, dass heute auch auf nationaler Ebene neben dem gerichtlichen Rechtsschutz alternative Methoden eingesetzt werden. I.d.R. handelt es sich um unabhängige Institutionen, denen weniger echte Rechtswege eingeräumt sind, als vielmehr alternative Mittel mit meist geringerer (rechtlicher) Durchsetzbarkeit; vgl. Heinz Schäffer/Dietmar Jahnel, Der Schutz der Grundrechte, ZÖR 55 (1999), S. 71 ff.: „. . . fehlt ihnen auch die Ansprüchlichkeit oder strikte Rechtsverbindlichkeit, so sagt das noch nichts über ihre politische oder faktische Wirksamkeit aus.“ So Karl Korinek/Elisabeth Dujmovits, Grundrechtsdurchsetzung und Grundrechtsverwirklichung, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR I § 23 Rn 44 ff. 40 öBGBl 1977/121 (wvb 1982/433; heute i. d. F. öBGBl I 1997/64 und I 1998/ 158). 41 7. Hauptstück der österreichischen Bundesverfassung (Art. 148a bis 148i B-VG, eingefügt durch BVG öBGBl 1981/350). Vgl. dazu insbes. Fritz Schönherr, Volksanwaltschaft, 1977, und Franz Matscher, L’Ombudsman et la protection des droits de l’Homme, in: ders. (Hrsg.), Ombudsmann in Europa – institutioneller Vergleich, Schriften des ÖIMR, Band 5, 1994, S. 15 ff. 42 Hervorzuheben ist, dass die Anrufung der Volksanwaltschaft auch möglich ist, wenn die formellen Wege des Rechtsschutzes durch Fehler oder Säumnis eines Betroffenen erschöpft sein mögen!

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richten und in Verbindung mit Auftritten der Volksanwaltschaft in den Medien – einen öffentlichkeitswirksamen Druck erzeugt und so eine erhebliche, i. d. R. effektive Motivation zur Behebung der Missstände und zur Änderung einer Verwaltungspraxis bewirken kann. b) Neue Wege eines vorbeugenden Rechtsschutzes – Präventive Kontrolle und objektiver Rechtsschutz Weiters führte die Sensibilisierung für mögliche Grundrechtsverletzungen in Österreich schon Ende der 90er Jahre des 20. Jhdts. zur Einrichtung präventiv wirkender und verfahrensbegleitender Organe. Derartige Institutionen wirken zumeist durch eine regelmäßige, dauernde Überwachung und Beobachtung, gelegentlich auch durch besonders verfügte vorbeugende Maßnahmen. Es fehlt somit das Sanktionselement des klassischen Rechtsschutzes (i. e. S.), dafür wird die gebotene Einhaltung rechtlicher Standards, insbesondere die Wahrung und Effektuierung der Grundrechte schon früher und nicht erst im regelwidrigen Fall wirksam. Parallel zum bestehenden Rechtsschutzsystem werden verschiedene Instrumente zur Beobachtung grundrechtskonformen Staatsverhaltens bzw. zum Monitoring bestimmter Bereich eingesetzt. Dies erfolgt derzeit i. d. R. durch bestimmte, für einen Bereich spezialisierte und sachverständige Organe, denen Unabhängigkeit zugesichert ist. Die österreichische Rechtsordnung hat – innovativ und international viel beachtet – einen „Menschenrechtsbeirat“ und die Figur des Rechtsschutzbeauftragten entwickelt (gegenwärtig gibt es in Österreich Rechtsschutzbeauftragte für drei verschiedene Bereiche). Nicht zu vergessen ist: Die Überwachung gebotener Schutzstandards im Arbeits- und Betriebsanlagenrecht ist seit langem den Arbeitsinspektoraten anvertraut; als eine spezifisch grundrechtssichernde Organtype werden ferner kraft ihrer verfahrensrechtlichen Stellung auch die Gleichbehandlungskommissionen im Arbeitsleben tätig. Hier seien nun als eine spezifisch österreichische Neuentwicklung vor allem der Menschenrechtsbeirat und die Figur der Rechtsschutzbeauftragten kurz näher dargestellt. aa) Menschenrechtsbeirat Ein präventives Rechtsschutzorgan wurde bereits 1999 mit dem Menschenrechtsbeirat beim Bundesministerium für Inneres (MRB) geschaffen. Vorgeschichte: Überlegungen zur Schaffung eines besonderen Organs nach dem Muster des europäischen CPT-[Anti-Folter]-Komitees bestanden bereits im Rahmen der damals in Vorbereitung befindlichen Überarbeitung des Sicherheitspolizeirechts. Letzter Auslöser zur Gründung der Institution MRB war der „Fall

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Omofuma“. (Am 1.5.1999 kam ein nigerianischer Staatsangehöriger im Zuge seiner Abschiebung durch österreichische Polizeibeamte in einem Flugzeug ums Leben; die gegen sein Randalieren eingesetzten Maßnahmen – Fesselung und Verkleben des Mundes – führten infolge unglückseliger Verkettung mit dem äußerlich nicht ersichtlichen körperlichen Zustand zu seinem Tode). Angesichts der Empörung in der Öffentlichkeit ersuchte der Nationalrat den BMI bereits wenige Tage später (am 10.5.1999), „den Menschenrechtsbeirat, wie er nach dem Sicherheitspolizeigesetz geplant ist, provisorisch einzurichten und ihn mit der Überprüfung des Falles unter dem Blickwinkel der Wahrung der Menschenrechte zu beauftragen.“ Dementsprechend erließ der BMI zunächst eine – auf § 8 Bundesministeriengesetz gestützte – Menschenrechtsbeirat-Verordnung (öBGBl II 1999/202). Gleichzeitig legte der Innenausschuss des Nationalrats einen Initiativantrag43 vor, der den MRB teilweise anders konzipierte als die mit Regierungsvorlage geplante SPG-Novelle.44 (Schon die Regierungsvorlage hatte den geplanten MRB nicht bloß als „Haftbeirat“ konzipieren wollen, sondern bereits an eine begleitende Beobachtung der gesamten Tätigkeit der Sicherheitsbehörden gedacht.) Die definitive Regelung erfolgte in den §§ 15a– 15c Sicherheitspolizeigesetz (eingefügt mit Novelle öBGBl I 1999/146; dabei wurde der Menschenrechtsbeirat beim BMI in § 15a Abs. 1 SPG mit Verfassungsbestimmung eingerichtet).45 Dieser Beirat ist grundsätzlich dazu bestimmt, den BMI „in Fragen der Wahrung der Menschenrechte“ zu beraten. Hiezu obliegt es – nach dem Wortlaut des Gesetzes – dem MRB, die Tätigkeit der Sicherheitsbehörden, der sonst dem BMI nachgeordneten Behörden und der zur Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt ermächtigten Organe unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Menschenrechte zu beobachten und begleitend zu überprüfen. Dem MRB sind – gleichsam als „Augen und Ohren“ – sechs regional zuständige multidisziplinär zusammengesetzte Kommissionen beigege43 Ausschussbericht: 2023 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrats 20. Gesetzgebungsperiode. 44 Regierungsvorlage: 1479 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrats 20. Gesetzgebungsperiode. 45 Es mag daher allenfalls für eine politische Optik zweckmäßig erschienen sein, war aber aus verfassungsrechtlicher Sicht überflüssig, wenn das Gesetz (kraft der genannten Verfassungsbestimmung) normiert, dass die Mitglieder des Beirats „bei Besorgung ihrer Aufgaben an keine Weisungen gebunden“ sind. Letzte Klarheit über die Gründe der Wahl der Verfassungsform sind nicht zu gewinnen. Im Motivenbericht zur Regierungsvorlage (1479 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrats 20. GP) wurde davon gesprochen, dass der Verfassungsrang diesem Gremium eine „maximale institutionelle Garantie“ verschaffe. Im Schrifttum wurden auch verschiedene Überlegungen angestellt, ob der Verfassungsrang nicht auch im Hinblick auf den Bestellungsmodus der Mitglieder des MRB erforderlich (gewesen) sei, möglicherweise auch im Hinblick auf die umstrittene Frage, ob Beiratsmitglieder weisungsbindbar sind. Vgl. dazu Pöschl, Der Menschrechtsbeirat, Journal für Rechtspolitik 2001, S. 47 (49 ff.).

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ben, deren Besuchstätigkeit eine nicht unerhebliche Präventivwirkung entfaltet (vorbeugender Menschenrechtsschutz). Seine Prüfungstätigkeit kann der MRB aus eigener Initiative oder auf Ersuchen des BMI entfalten, jedenfalls hat der Beirat – auf Grund der Ergebnisse seiner Ermittlungen oder Beobachtungen – Verbesserungen vorzuschlagen. Der MRB ist daher sowohl ein Beratungs- als auch ein Kontrollorgan: Er ist zur begleitenden Kontrolle bestimmt und soll zur objektiven Rechtswahrung beitragen. Seine Tätigkeit ist jedoch nicht „Führung“ der Verwaltung. Er ist ein konsultatives Verwaltungsorgan. Inzwischen gibt es noch weitergehende rechtspolitische Vorstellungen und Wünsche. Negative Erfahrungen in Alters- und Pflegeheimen, psychiatrischen Kliniken sowie in der Praxis des Strafvollzugs haben die Forderung aufkommen lassen, die Zuständigkeit des MRB auch auf diese Bereiche auszudehnen. In organisatorischer Hinsicht wird zur Stärkung der faktischen Unabhängigkeit vorgeschlagen, den MRB mit verändertem Bestellungsmodus seiner Mitglieder als Hilfsorgan der Legislative (ähnlich dem Rechnungshof und der Volksanwaltschaft) neu zu errichten und nur dem Nationalrat gegenüber verantwortlich zu stellen.46 bb) Rechtsschutzbeauftragte Seit einigen Jahren bestehen in Österreich – vom Ausland vielbeachtet – als ein Novum des Rechtsschutzes mehrere Rechtsschutzbeauftragte (RSB). Die Figur des Rechtsschutzbeauftragten wurde teilweise in Parallele zu der eines Ombudsmanns gestellt, aber mit einem solchen doch wieder nicht vergleichbar bezeichnet, weil „seine Rechte weitreichender und spezifischer“ seien.47 Derzeit kennt die österreichische Rechtsordnung drei Rechtsschutzbeauftragte, deren Aufgaben ähnlich, aber nicht völlig deckungsgleich sind. Mit der Einrichtung der RSB sollte erklärtermaßen einem Manko an Rechtsschutz entgegengewirkt werden, das angesichts der Bekämpfung der sogenannten „organisierten Kriminalität“ und im Rahmen der „nachrichtendienstlichen Aufklärung“ auftritt. Die dabei zum Einsatz gelangenden neuartigen Mittel der Informationsbeschaffung werden ihrem Zweck entsprechend verdeckt eingesetzt (Stichworte „Lauschangriff“ und „Rasterfahndung“)48 und können – besonders 46 So z. B. Hannes Tretter, Kontrollierbare Menschenwürde?, Die Presse 23.8.2005, S. 26. 47 Rudolf Machacek, Die Reform des StPO-Vorverfahrens aus der Sicht des Rechtsschutzbeauftragten, Anwaltsblatt 2002/2, S. 76 f. 48 Vgl. dazu Roland Miklau/Christian Pilnacek, Optische und akustische Überwachungsmaßnahmen zur Bekämpfung schwerer und organisierter Kriminalität („Lauschangriff“). Paradigmenwechsel im Verfahrensrecht, Journal für Rechtspolitik 1997, S. 286; Rudolf Machacek, Die Bekämpfung der organisierten Kriminalität in

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weil der Betroffene i. d. R. davon keine Kenntnis hat – massiv in die Grundrechtssphäre des Einzelnen eingreifen. Die RSB sollen daher im Wesentlichen die Rechtmäßigkeit des staatlichen Vorgehens begleitend kontrollieren und anderseits anstelle des Betroffenen Rechtsbehelfe ergreifen können. Rechtspolitisch ging es vor allem darum, die Beeinträchtigung der Rechte von observierten Personen hintan zu halten und so eine „faktische Rechtsschutzlücke“ zu schließen. Die ersten Kommentare sahen den RSB „als interimistische Verfahrenspartei zur Rechtsschutzwahrung während der Dauer einer Observation an Stelle des von den schwebenden Ermittlungen uninformierten Observierten“49 und hielten die Neuregelungen für verfassungskonform. Offen blieb zunächst die Frage, ob derartige Organe einer besonderen verfassungsrechtlichen Verankerung, insbesondere in dem dem Rechtsschutz im Bereich des öffentlichen Rechts gewidmeten 6. Hauptstück der Bundesverfassung, bedürfen. In der Literatur ist zum Teil für die Einfügung eines eigenen neuen Hauptstückes in die österreichische Bundesverfassung plädiert worden, welches für kommissarische Rechtsschutzvarianten, und zwar auch für künftige, derzeit noch nicht absehbare Entwicklungen, eine verfassungsrechtliche Grundlage abgeben soll.50 Der VfGH hat dann 2004 in einer Entscheidung zum Militärbefugnisgesetz (MBG)51 die Funktion von Rechtsschutzbeauftragten in den größeren Zusammenhang einer insbesondere im 6. Hauptstück zum Ausdruck kommenden bundesverfassungsrechtlichen Systematik des Rechtsschutzes gestellt und zwar darauf nicht die Verfassungswidrigkeit des Rechtsinstituts insgesamt, sondern die Aufhebung der Weisungsfreistellung darauf gegründet.

Österreich, ÖJZ 1998, S. 553; Michael Lepuschitz, „Lauschangriff“. Technische Bekämpfung organisierter Kriminalität, 2000; Clemens Jabloner, Verfassungsrechtliche Probleme um die Rechtsschutzbeauftragten, in: FS Herbert Steininger, 2003, S. 23 ff. 49 Rudolf Machacek, Der Rechtsschutz und seine Feinde, in: FS Öhlinger, 2004, S. 621 (628 f.). Vgl. ferner Rechtsgutachten Bernd-Christian Funk/Theo Öhlinger, Strafprozessreform und Verfassungsrecht [Verfassungsrechtliche Beurteilung des Entwurfes eines Strafprozessreformgesetzes (Neugestaltung des Vorverfahrens)], Schriftenreihe des BMJ, 2002. Anders offenbar Mathias Vogl, Der Rechtsschutzbeauftragte in Österreich, 2004, S. 44 ff., welcher die RSB ihrer Organqualität nach weder der Gesetzgebung noch der Gerichtsbarkeit oder Verwaltung zuordnet, sondern als staatsfunktionsübergreifende Einrichtung sui generis deutet. 50 Mathias Vogl, Der Rechtsschutzbeauftragte (FN 49); ihm grundsätzlich zustimmend Manfred Burgstaller (Rezension zu Vogl), Juristische Blätter 2005, S. 272. 51 VfSlg 17.102/2004. (Vgl. dazu ferner die Kundmachung des Bundeskanzlers über die Aufhebung von Bestimmungen im MBG durch den VfGH öBGBl I 2004/16. Die Aufhebung der im zuvor erwähnten Urteil aufgehobenen Bestimmung sollte mit 31.12.2004 in Kraft treten. Das MBG ist jedoch in den einschlägigen Punkten schon früher novelliert worden: öBGBl I 2004/133.)

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(1) Der Rechtsschutzbeauftragte im Rahmen der Strafprozessordnung Die erste derartige Einrichtung, nach deren Vorbild später die anderen in situationsangepasster Form nachgebildet wurden, ist unter der Abschnittsüberschrift „Besonderer Rechtsschutz“ in der StPO verankert worden (vgl. insb. § 149n, 149o StPO).52, 53 Aufgaben und Stellung: – Dem RSB (nach der StPO) obliegt gegenwärtig die „Prüfung und Kontrolle der Anordnung und Durchführung“ bestimmter optischer und akustischer Überwachungen,54 der Überwachung einer Telekommunikation55 und von Maßnahmen eines automationsunterstützten Datenabgleichs.56 – Eine ähnliche, noch weiterreichende Regelung wird in Bälde (nach dem StrafprozessreformG öBGBl I 2004/19) ab 1.1.2008 gelten.57 Der Kontrolle eines unabhängigen RSB werden künftig (auf Grund einfachgesetzlicher Bestimmungen – §§ 146, 147 StPO künftige Fassung) folgende Handlungen unterliegen: systematische und längerfristige verdeckte Ermittlung, Abschluss 52 Eingefügt durch BG öBGBl I 1997/105, inzwischen mehrfach novelliert, zuletzt I 2006/102. 53 Und zwar ohne Verfassungsbestimmungen, da die hiefür erforderlichen parlamentarischen Mehrheiten im Hinblick auf die unterschiedlichen politischen Auffassungen nicht erzielbar waren und auch nicht notwendig erschienen. Rudolf Machacek, Der Rechtsschutz und seine Feinde, in: FS Öhlinger, 2004, S. 621 ff. berichtet dies und führt begründend aus: „(. . .) da es sich um eine Amtspartei zur Wahrung von Grundrechtsschutz für Betroffene einer Observation in einem Strafverfahren, also um ein Justizorgan und nicht um ein Verwaltungsorgan zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsverfahrens handelte.“ Nur Lepuschitz, „Lauschangriff“. Technische Bekämpfung organisierter Kriminalität, 2000, hielt die „vom einfachen Gesetzgeber gewählte Form der Einrichtung und konkreten Aufgabenstellung“ des RSB für verfassungswidrig, weil im Widerspruch zu der verfassungsrechtlichen Differenzierung zwischen richterlichen Organen und Verwaltungsorganen stehend. Das Rechtsgutachten Funk/Öhlinger, Strafprozessreform und Verfassungsrecht [Verfassungsrechtliche Beurteilung des Entwurfes eines Strafprozessreformgesetzes (Neugestaltung des Vorverfahrens)], Schriftenreihe des BMJ, 2002, S. 82 f. betrachtet den RSB im Rahmen der StPO „nicht als Einrichtung der Justizverwaltung . . ., sondern als Verfahrensanwalt zur Wahrung objektiven Rechts und zum kommissarischen Schutz von Rechten und Interessen von Parteien im Ermittlungsverfahren.“ Auch der RSB stehe – wie die Staatsanwaltschaft und die Kriminalpolizei – in einer spezifischen Nähe zur Justiz und könne so gesehen als eine „systemkonforme Innovation einer in der Strafrechtsprechung tätigen Verwaltungseinrichtung qualifiziert werden, deren besondere Rechtsstellung durch die Grundsätze und das System des Strafverfahrens-Verfassungsrechts legitimiert“ werde. 54 VI. Abschnitt des XII. Hauptstückes (§§ 149d–149h) StPO. 55 VI. Abschnitt des XII. Hauptstückes (§§ 149a–149c) StPO. 56 VII. Abschnitt des XII. Hauptstückes (§§ 149i–149l) StPO. 57 Vgl. dazu Christian Pilnacek/Werner Pleischl, Das neue Vorverfahren, 2005, S. 126, 229 ff.

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eines Scheingeschäftes, optische und akustische Überwachung von Personen, automationsunterstützter Datenabgleich sowie bestimmte Ermittlungsmaßnahmen gegen Berufsgeheimnisträger. – Zur Wahrnehmung dieser Kontrollaufgaben ist dem RSB jederzeit Akteneinsicht zu gewähren und Gelegenheit zu geben, die Durchführung der Ermittlungsarbeiten zu überwachen und alle Räume zu betreten, in denen Aufnahmen und sonstige Überwachungsergebnisse aufbewahrt werden oder ein Datenabgleich durchgeführt wird. Jeder Antrag des Staatsanwalts auf Durchführung der zu überwachenden Maßnahmen ist dem RSB zur Kenntnis zu bringen. Betrifft der Antrag die optische oder akustische Überwachung von ausschließlich der Berufsausübung gewidmeten Räumlichkeiten jenes Personenkreises, welcher in § 152 Abs. 1 Z. 458 und 559 StPO und § 31 Abs. 1 MedienG60 erfasst ist, so bedarf der Antrag des Staatsanwaltes überdies einer Ermächtigung durch den RSB zu einer derartigen Antragstellung. Der RSB darf nur ermächtigen, „wenn besonders schwerwiegende Gründe vorliegen, die diesen Eingriff verhältnismäßig erscheinen lassen.“ Beschwerde- und Antragsrecht des RSB: Der über seinen Antrag ergehende Beschluss der Ratskammer ist samt allen wesentlichen Unterlagen dem RSB zu übermitteln, der gegen den Beschluss noch Beschwerde an den Gerichtshof 2. Instanz erheben kann. Außerdem gibt das Gesetz dem RSB das Recht, die Vernichtung von Überwachungsergebnissen und Datenabgleichen beim Untersuchungsrichter zu beantragen (§ 149o Abs. 4 StPO). Ferner besteht eine Berichtspflicht (alljährlich hat der RSB bis 31. März dem BM für Justiz und dem BM für Inneres einen Bericht über seine Tätigkeit und seine Wahrnehmungen in Bezug auf die besonderen Ermittlungsmaßnahmen im vorangegangen Jahr zu übermitteln; § 149o Abs. 5 StPO). Dieser RSB ist vom BM für Justiz auf Grund eines „gemeinsamen Vorschlags“ bestimmter Stellen (es muss sich um einen Zweier-Vorschlag handeln; die Vorschläge sind vom Präsidenten des VfGH, vom Vorsitzenden der Volksanwaltschaft und vom Präsidenten des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages einzuholen) für die Dauer von drei Jahren zu bestellen; Wiederbestellung ist zulässig.61 58

Verteidiger, Rechtsanwälte, Notare, Wirtschaftstreuhänder. Psychiater, Psychotherapeuten, Psychologen, Bewährungshelfer, eingetragene Mediatoren, Mitarbeiter anerkannter psychosozialer Hilfsdienste. 60 Diese Bestimmung betrifft das sog. „Redaktionsgeheimnis“. Nach dieser Bestimmung haben Medieninhaber (Verleger), Herausgeber, Medienmitarbeiter und Arbeitnehmer eines Medienunternehmens oder Mediendienstes das Recht, in einem Verfahren vor Gericht oder einer Verwaltungsbehörde als Zeugen die Beantwortung von Fragen zu verweigern, die die Person des Verfassers, Einsenders oder Gewährsmannes von Beiträgen und Unterlagen oder die ihnen im Hinblick auf ihre Tätigkeit gemachten Mitteilungen betreffen. 61 Das gleiche gilt für die Bestellung der „erforderliche[n] Stellvertreter“. 59

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Dieser RSB ist gemäß (der einfachgesetzlichen Vorschrift des) § 149n Abs. 4 StPO „in Ausübung seines Amtes unabhängig und an keine Weisungen gebunden“.62 (2) Der Rechtsschutzbeauftragte nach dem Sicherheitspolizeigesetz („Rechtsschutz bei erweiterter Gefahrenforschung“ in der Sicherheitspolizei) Eine im Grunde gleichartige Einrichtung sieht das Sicherheitspolizeigesetz vor, um einen „Besonderen Rechtsschutz im Ermittlungsdienst“ zu gewähren (ursprünglich einfachgesetzlich: § 62a SPG63 seit dem Jahre 2000, mittlerweile ab 2006 mit Verfassungsbestimmung: § 91a SPG64). Diesem RSB kommen folgende Funktionen zu: Der RSB nach dem SPG ist zur rechtlichen Kontrolle verdeckter Ermittlungen und der erweiterten Gefahrenerforschung (i. S. des § 21 Abs. 3 SPG) berufen. Den Sicherheitsbehörden obliegt nach § 21 Abs. 3 „die Beobachtung von Gruppierungen, wenn im Hinblick auf deren bestehende Strukturen und auf zu gewärtigende Entwicklungen in deren Umfeld damit zu rechnen ist, dass es zu mit schwerer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verbundener Kriminalität, insbesondere zu weltanschaulich oder religiös motivierter Gewalt, kommt (erweiterte Gefahrenforschung).“65 Im Sinne einer begleitenden Kontrolle hat der RSB Einblick in die Tätigkeit der Sicherheitsbehörden (insb. Recht auf Einsicht, Ausfolgung von Kopien, Auskunftserteilung, Recht zur Betretung von Räumen – § 91d Abs. 1 und 2 SPG). Vor jeder Ermittlung personenbezogener Daten – durch verdeckte Ermittlung (§ 54 Abs. 3), durch den verdeckten Einsatz von Bild- oder Tonaufzeichnungsgeräten (§ 54 Abs. 4) oder durch Verarbeitung von Daten, die andere Personen durch Bild- und Tonaufzeichnungsgeräte66 ermittelt oder übermittelt haben (§ 53 62

Rudolf Machacek, Der Rechtsschutz und seine Feinde, in: FS Öhlinger, S. 629 hält die Weisungsfreiheit im Rahmen des kommissarischen Rechtsschutzes für einen Verfahrensbetroffenen als „vorgegeben“, die im Gesetz enthaltene Aussage über die Weisungsfreistellung sei insofern „deklarativ“. Ein Weisungsrecht für Anklage und Rechtsschutz in einer Hand wäre nach seiner Ansicht auch mit dem Gebot des „fair trial“ (Art. 6 EMRK) unvereinbar. 63 Die RV zu der SPGNov öBGBl I 2000/85, die dieses Rechtsinstitut erstmals neu einführte (81 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates 21. Gesetzgebungsperiode), sprach noch von „Besonderem Rechtsschutz bei erweiterter Gefahrenerforschung“. 64 I. d. F. der SPG-Novelle 2006 öBGBl I 2006/158. 65 Näher dazu Franz Matscher, Die erweiterte Gefahrenerforschung aus der Sicht des Rechtsschutzbeauftragten im BMI, in: Bundesministerium für Inneres (Hrsg.), Terror – Prävention – Rechtsschutz. 2. Rechtsschutztag des Bundesministeriums für Inneres, 2005, S. 59 ff. 66 Auch die Aufzeichnungen Privater (z. B. mittels Video) können in Anspruch genommen werden!

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Abs. 5) – müssen die Sicherheitsbehörden den RSB unter Angabe der wesentlichen Gründe informieren. Soweit sich den Sicherheitsbehörden eine Aufgabe der erweiterten Gefahrenforschung stellt (§ 21 Abs. 3), haben sie vor der Durchführung – im Wege des BMI – die „Ermächtigung“ des RSB einzuholen (§ 91c Abs. 3).67 Auch der RSB nach dem SPG hat einen jährlichen Wahrnehmungsbericht an den BMI zu erstatten, welchen dieser seinerseits dem ständigen Unterausschuss (des Ausschusses für innere Angelegenheiten) „zur Überprüfung von Maßnahmen zum Schutz der verfassungsmäßigen Einrichtungen und ihrer Handlungsfähigkeit“ nach Art. 52a B-VG zugänglich zu machen hat (§ 91d Abs. 4 SPG). Schließlich kann der RSB, falls er die Verletzung datenschutzrechtlicher Bestimmungen wahrnimmt, den Betroffenen informieren, oder falls eine solche Information wegen der im § 26 Abs. 2 DSG genannten öffentlichen Interessen nicht erfolgen kann, Beschwerde an die Datenschutzkommission erheben. Damit „wird dem Umstand Rechnung getragen, dass ein von geheim geführten Ermittlungen Betroffener mangels Kenntnis von seiner Betroffenheit selbst nicht die Möglichkeit hat, eine Überprüfung der behördlichen Eingriffe in sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung herbeizuführen.“68 Hier hat der Bundespräsident auf Vorschlag der Bundesregierung (nach Anhörung der Präsidenten des Nationalrates sowie der Präsidenten des VfGH und VwGH) einen RSB und zwei Stellvertreter für die Dauer von fünf Jahren zu bestellen; Wiederbestellungen sind zulässig. Auch dieser RSB war bereits ursprünglich kraft ausdrücklicher Anordnung des (einfachen) Gesetzes „in Ausübung seines Amtes unabhängig und an keine Weisungen gebunden“ (§ 62a Abs. 4 Satz 1 SPG), der RSB und seine Stellvertreter sind nunmehr kraft Verfassungsbestimmung bei der Besorgung der ihnen nach dem SPG zukommenden Aufgaben „unabhängig und weisungsfrei“ (§ 91a Abs. 1 SPG)69. (3) Der Rechtsschutzbeauftragte nach dem Militärbefugnisgesetz (Rechtsschutz im Bereich militärischer Nachrichtendienste) Eine weitgehend ähnliche Regelung findet sich auch im Militärbefugnisgesetz hinsichtlich der militärischen Nachrichtendienste. Derzeit bestehen in Österreich das Heeres-Nachrichtenamt (es dient der nachrichtendienstlichen Aufklärung

67 Neu seit SPG-Novelle 2006. Vor dieser Novelle war dem RSB (auf sein Verlangen) vom BMI nur Gelegenheit zur Äußerung zu geben; insoweit war die Äußerung des RSB bloß tatbestandliche Voraussetzung für die Tätigkeit der Sicherheitsbehörden und beruhte nicht auf einer einschlägigen „Ermächtigung“. 68 Wie es die erwähnte Regierungsvorlage formulierte. 69 I. d. F. der SPG-Novelle 2006 öBGBl I 2006/158.

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gegenüber Bedrohungen aus dem Ausland) und das Abwehramt (zuständig für „nachrichtendienstliche Abwehr“ und Observation „nach innen“). Dieser RSB nach dem MBG ist zur Prüfung der Rechtmäßigkeit von Maßnahmen der nachrichtendienstlichen Aufklärung und Abwehr beim Bundesminister für Landesverteidigung eingerichtet. Der RSB und seine Stellvertreter werden vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung, und zwar nach Anhörung der (drei) Präsidenten des Nationalrates sowie der Präsidenten des VfGH und des VwGH auf fünf Jahre bestellt; Wiederbestellungen sind zulässig (§ 57 Abs. 1 Satz 3 und 4 MBG, Verfassungsbestimmung seit 2006). Der RSB (und seine Stellvertreter) sind in Besorgung der ihnen nach diesem Bundesgesetz zukommenden Aufgaben „unabhängig und weisungsfrei“ (§ 57 Abs. 1 Satz 1 MBG, Verfassungsbestimmung seit 2006). Im Rahmen des MBG sind militärische Organe und Dienststellen, welche mit Aufgaben der nachrichtendienstlichen Aufklärung und Abwehr betraut sind, allgemein zu Auskunftsverlangen (§ 21 und § 22 Abs. 2a MBG), und darüber hinaus zur Observation, zur verdeckten Ermittlung sowie zur Datenermittlung mit Ton- und Bildaufzeichnungsgeräten (auch in verdeckter Form) unter den in § 22 Abs. 3 bis 7 MBG näher umschriebenen Voraussetzungen befugt. Vor einer Datenermittlung nach § 22 Abs. 3 bis 7 MBG ist der RSB unter Bekanntgabe der wesentlichen Gründe in Kenntnis zu setzen und der Bundesminister für Landesverteidigung hiervon zu verständigen. Die Ermittlung darf – außer bei Gefahr im Verzug (für die nationale Sicherheit, insbesondere die Einsatzbereitschaft des Bundesheeres, oder für die Sicherheit von Menschen) – erst nach einer entsprechenden „Zustimmung“ des RSB gegenüber den militärischen Organen oder Dienststellen begonnen werden. Und eine solche Ermittlung ist unverzüglich zu beenden, wenn der RSB dagegen „Einspruch“ erhoben hat (§ 22 Abs. 8 MBG, Verfassungsbestimmung!). Eine ausdrückliche Weisungsfreistellung des RSB nach dem MBG war zwar anfangs im Stammgesetz – einfachgesetzlich – enthalten,70 die diesbezügliche Bestimmung wurde aber vom VfGH Anfang 2004 als verfassungswidrig aufgehoben (VfSlg 17.102/2004).71 Ein danach von der Bundesregierung unterbreite70 Ursprünglich war sogar eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Weisungsfreistellung durch eine Spezialbestimmung in der Bundesverfassung (in einem Art. 52a Abs. 5 B-VG) und eine unmittelbare Berichtspflicht der RSB nach dem SPG und MBG an den besonderen Unterausschuss des Nationalrats geplant (vgl. 176 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates 20. Gesetzgebungsperiode). Dies ist dann freilich aus politischen Gründen nicht realisiert worden. 71 Der VfGH hat in seinem Urteil die Funktion von Rechtsschutzbeauftragten in den größeren Zusammenhang einer bundesverfassungsrechtlichen Systematik des Rechtsschutzes gestellt. Er hat darauf zwar nicht die Verfassungswidrigkeit des Rechtsinstituts RSB insgesamt, sondern die (nur) Aufhebung der die Weisungsfreistellung einfachgesetzlich normierenden Bestimmung gegründet. Soweit man die Entscheidung nachvollziehen kann, scheint der VfGH aus den – im Laufe der Zeit mehr-

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ter Vorschlag, die Weisungsfreistellung mit Verfassungsbestimmung in das MBG aufzunehmen, blieb zunächst erfolglos. Seither erfolgte jedoch eine neuerliche Novellierung des MBG,72 die diese Frage im Sinne des VfGH-Urteils in Form einer Verfassungsbestimmung regelte.73 Zusammenfassend kann man über die vorgestellten neuen Formen begleitender Kontrolle und „kommissarischen“ Rechtsschutzes (in Österreich) sagen: Die im Überblick dargestellten Organe unterscheiden sich wesentlich von jenen Rechtsschutzeinrichtungen, die nach der Verfassung traditionell das Rechtsschutzsystem tragen. Die klassischen Rechtsschutzeinrichtungen (wie sie im 6. Hauptstück der österreichischen Bundesverfassung verankert sind und damit das Kernstück des öffentlich-rechtlichen Rechtsschutzes bilden) sind durchwegs zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit staatlicher Rechtsakte – von Verwaltungsakten bis hin zum Gesetz – berufen. Der MRB und die RSB sind Organe einer begleitenden Kontrolle,74 ohne im Allgemeinen einen entscheidungswesentlichen Anteil an der Willensbildung und damit an der Verwaltungsführung zu haben. Sie üben diese Tätigkeit vor allem im Interesse der Allgemeinheit aus und wirken damit im Dienste des objektiven Rechtsschutzes.75 Darüber hinaus sind sie allerdings auch zum Teil zur Unterfach veränderten – Bestimmungen des 6. Hauptstückes eine Systementscheidung der österreichischen Bundesverfassung zu extrapolieren, wonach Rechtsschutzeinrichtungen des öffentlichen Rechts im Range formellen Bundesverfassungsrechts unabhängig gestellt sein müssten. Der Grund dafür scheint für ihn jedoch eher in einer Durchbrechung der Leitungsgewalt der verantwortlichen obersten Organe der Vollziehung zu liegen und nicht so sehr im Gerichtscharakter (bzw. dem gerichtsähnlichen Charakter) der derzeit im 6. Hauptstück verankerten Kontrollinstitutionen. 72 BG öBGBl I 2006/115. 73 Die zuvor skizzierte Rechtsauffassung des VfGH hat zwar erwägenswerte Gründe für sich. Es kann nicht geleugnet werden, dass eine systemkonforme Einordnung denkbarer oder bisher bereits vorgeschlagener besonderer Rechtsschutzeinrichtungen verfassungsrechtliche Probleme aufwirft. Sieht man den wesentlichen Akzent der im 6. Hauptstück der österreichischen Bundesverfassung verankerten Rechtsschutzorgane freilich in deren Gerichtscharakter oder gerichtsähnlichen Charakter, so vermag der Begründungsweg des verfassungsgerichtlichen Urteils hinsichtlich der neuartigen Institutionen des präventiven Rechtsschutzes letztlich nicht zu überzeugen. 74 Sie sind auch nur insoweit in das Geschehen der Vollziehung einbezogen, als sie diese beobachtend begleiten. Sie üben damit ähnliche Funktionen aus, wie sie – freilich mit anderer Zielsetzung – im Rahmen der Verwaltung auch ohne gesetzliche Regelung vorgesehen und ausgeübt werden können, insofern nämlich Organwalter der verschiedenen Ämter und Behörden zur kritischen Beobachtung des Verwaltungshandelns berufen werden können. Dazu gehören z. B. die auch der Verwaltung schon länger bekannte Einrichtung einer „internen Revision“ (nunmehr für Bundesministerien ausdrücklich vorgesehen in § 7 Abs. 4 BMG) oder das aus der Betriebswirtschaftslehre in die öffentliche Verwaltung übernommene „Controlling“ (vgl. §§ 15a, 15b Bundeshaushaltsgesetz). 75 Interessanterweise stimmt die Legalterminologie und Systematik des SPG nicht mit der hier vorgenommenen dogmatischen Einordnung überein. Der 6. Teil des SPG

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stützung oder Supplierung der Wahrnehmung subjektiver Rechte76 der durch Überwachungsmaßnahmen betroffenen Personen berufen, welche diese mangels Kenntnis von der Eingriffssituation nicht selbst ausüben können (sog. „kommissarischer“ Rechtsschutz). Die Regelungen betreffend die RSB werden in der Literatur im Allgemeinen als Fortschritt gewürdigt. Sie unterliegen aber (so vor allem die dem RSB nach StPO nachgebildeten RSB nach SPG und MBG)77 auch mancher Kritik im Einzelnen hinsichtlich der aus den Detailregelungen resultierenden RechtsschutzDefizite.78 Rechtspolitisch wurde außerdem für einen weiteren Ausbau durch die Einführung eines RSB im Bereich des ZollrechtsdurchführungsG plädiert, wo nämlich weitreichende verdeckte Ermittlungsmaßnahmen durch Zollbehörden und Zollorgane ebenfalls einer rechtlichen Kontrolle bedürften. Ferner wurde die Schaffung einer ganz allgemeinen verfassungsrechtlichen Ermächtigungsgrundlage für RSB auch in den Arbeiten des „Österreich-Konvents“ erwogen.79 (§§ 87–91d) gliedert sich in drei Abschnitte: „Subjektiver Rechtsschutz“, „Objektiver Rechtsschutz“ und – als ein aliud, keinem der beiden zugeordnet – „Rechtsschutzbeauftragter“. Als objektiver Rechtsschutz firmiert nur die Amtsbeschwerde-Möglichkeit des BM für Inneres gegen bestimmte Entscheidungen der Unabhängigen Verwaltungssenate bzw. der Datenschutzkommission. Der im Sicherheitspolizeirecht besonders geregelte subjektive Rechtsschutz umfasst anderseits: das Recht auf Gesetzmäßigkeit sicherheitspolizeilicher Maßnahmen, Beschwerden wegen Verletzung subjektiver Rechte (an die UVS), die „Richtlinienbeschwerde“ (Beschwerde wegen Verletzung von Richtlinien für das Einschreiten) sowie Beschwerden wegen Verletzung der Bestimmungen über den Datenschutz. 76 Und seien es auch nur Verfahrensrechte! 77 Es scheint daher, als würde dem RSB nach StPO mehr Vertrauen entgegengebracht als den anderen RSB. 78 Hingewiesen wird insbesondere auf folgende Aspekte: Die „organisatorische Eingebundenheit“ in die jeweiligen Bundesministerien führt zu Zweifeln am Anschein der Unabhängigkeit, da es an der objektivitätsfördernden Distanz fehlt. Den RSB nach SPG und MBG müssen keine Auskünfte über Tatsachen oder Quellen weitergegeben werden, deren Bekanntwerden die nationale Sicherheit oder die Sicherheit von Menschen gefährden würden. Diese RSB haben keine Möglichkeit, eine derartige Auskunftsverweigerung von einer dritten objektiven Instanz überprüfen zu lassen. Nach dem SPG und MBG ist auch keine nachträgliche Verständigung des Betroffenen vorgesehen, wenn die RSB eine Ermittlung als legitim ansehen. Dass ein Betroffener in einem solchen Fall nie davon erfährt und folglich derartige Maßnahmen nicht einmal im Nachhinein auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen lassen kann, ist insofern schwer verständlich, als auch nach der StPO eine nachträgliche Information des Betroffenen verpflichtend vorgesehen ist; im Anwendungsbereich von SPG und MBG hingegen fehlt ein gerichtlicher Rechtsschutz gegenüber Aktivitäten der Verwaltung schlechthin. Im Gegensatz zur StPO wird hier keine derMaßnahmen gerichtlich angeordnet, und die RSB haben auch nicht die Möglichkeit, eine Überwachungsmaßnahme wirksam zu verhindern. 79 Vgl. Mathias Vogl, Der Rechtsschutzbeauftragte in Österreich, 2004, S. 122. Siehe auch www.konvent.gv.at/pls/portal/docs/page/K/DE/PRVOR-K/PRVOR-K_000 37/frame_026183.pdf, 69.

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cc) Objektiver Rechtsschutz durch einen Anwalt des öffentlichen Rechts? Ein ganz andersartiger, auf die Wahrung objektiven Rechts abzielender Vorschlag wäre die Einrichtung einer Anwaltschaft (zur Wahrung) des öffentlichen Rechts. Ein solcher rechtspolitischer Vorschlag ist bekanntlich (schon 1928) von Hans Kelsen erstattet worden. Seine Idee war, im Dienste der Steigerung der Effizienz bzw. der Perfektionierung der verfassungsgerichtlichen Gesetzesprüfung einen unabhängigen „Anwalt des öffentlichen Rechts“ einzurichten. Dieser sollte berufen sein, aus eigener Initiative die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung zu prüfen und erforderlichenfalls Antrag auf Gesetzesaufhebung beim Verfassungsgericht zu stellen.80 Fraglich wäre dabei, wie ein solches neuartiges Organ ins Gefüge der Staatsfunktionen verfassungsmäßig eingeordnet werden könnte. Dies könnte im gewaltenteiligen Rechtsstaat wohl nur im Wege einer Verfassungsänderung (Verfassungsergänzung) geschehen, zumal sich ein derartiges Staatsorgan in der Tat nicht in die klassische Trias „Gesetzgebung/Verwaltung/Gerichtsbarkeit“ einfügen ließe. Geht es um die Schaffung einer spezifischen Institution, die schlechthin Verfahren zur Wahrung des objektiven Rechts auslösen könnte, so wäre es auch systemgerecht, ein solches Organ als eigene Verfassungsinstitution zu verankern. Eine Konstruktion als Hilfsorgan der Gesetzgebung, wie sie für die Kontrollinstitutionen Rechnungshof und Volksanwaltschaft vorgesehen ist, kommt – soll ein solcher Anwalt des öffentlichen Rechts wirklich unabhängig sein – wohl nicht in Betracht, weil es ja gerade um die Kontrolle der Akte der Gesetzgebung geht. Gegen eine Einordnung im Bereich der Vollziehung (sei es im Bereich der Verwaltung oder der Gerichtsbarkeit) spricht hingegen der Umstand, dass es sich bei dieser Kontrollaufgabe weder um eine konkrete Vollziehungstätigkeit handelt noch die Funktionserfüllung auf eine Vollziehungstätigkeit bezogen wäre. 4. Judikative Entwicklung – Intensivierung des Rechtsschutzes

Weitere Impulse zur Verfeinerung des Rechtsschutzes gingen in rechtschöpferischer und effektivitätsorientierter Weise sowohl von Straßburg (EGMR) als auch von Luxemburg (EuGH) aus. 80 Diese Idee wurde auf der Wiener Tagung der Deutschen Staatsrechtlehrer (1928) vorgetragen von Hans Kelsen, Das Wesen und die Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, Mitbericht, VVDStRL 5 (1929), S. 30 (75): „Eine völlig neue, aber ernstester Prüfung durchaus würdige Institution wäre die Aufstellung eines Anwaltes der Verfassung (Verfassungsanwalts) beim Verfassungsgericht, der – nach Analogie des Staatsanwalts im Strafverfahren – von Amts wegen das Verfahren zur Überprüfung jener Akte einzuleiten hätte, die, der Kontrolle des Verfassungsgerichts unterworfen, vom Verfassungsanwalt für rechtswidrig erachtet werden. Daß die Stellung eines solchen Verfassungsanwaltes mit allen nur denkbaren Garantien der Unabhängigkeit gegenüber der Regierung wie dem Parlament auszustatten wäre, versteht sich von selbst.“

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In Orientierung an der europäischen Rechtsprechung, aber zugleich auch in eigenständiger vertiefter Ausdeutung der rechtsstaatlichen Anforderungen hat auch die österreichische Rechtsprechung (vor allem des VfGH) die Verfahrensgrundrechte weiterentwickelt und die „faktische Effizienz“ des Rechtsschutzes vertieft. a) Rechtsstaatlichkeit als Vorgabe im Sinne europäischer Identität und Homogenität – die Rechtsprechung der europäischen Gerichtshöfe Das rechtsstaatliche Prinzip ist heute nicht nur ein genuin nationales Verfassungsprinzip, sondern auch eines jener europäischen Grundprinzipien, das in der Europäischen Union Identität stiftet und Legitimität verleiht. Es wurde (auf der Basis der „gemeinsamen europäischen Rechtstradition“) – in der Rechtsprechung des EuGH ebenso wie das Bekenntnis zu den Grundrechten – als „allgemeiner Rechtsgrundsatz“ anerkannt. Seit dem Vertrag von Amsterdam ist das rechtsstaatliche Prinzip ausdrücklich als einer jener Grundsätze verankert, auf denen die Europäische Union beruht. Der EUV besagt in seiner Homogenitätsklausel (Art. 6): „. . . diese Grundsätze sind allen Mitgliedern gemeinsam.“ Gesichert wird diese Homogenität einerseits durch den Umstand, dass der Beitritt neuer Mitglieder von der Achtung der erwähnten Grundsätze abhängig ist (Art. 49 EUV), und anderseits auf die Dauer durch das Erfordernis der ständigen Einhaltung seitens der Mitgliedstaaten, zumal Art. 7 EUV eine Verletzung dieser Grundsätze mit Sanktionen bedroht. aa) Rechtsprechung des EuGH Innerhalb der Europäischen Union findet der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit seine ständige Konkretisierung durch den EuGH, dem ja die „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung“ des Gemeinschaftsrechts (Art. 220 EGV) anvertraut ist. Durch seine Rechtsprechung entwickelt der EuGH allmählich näher ausformulierte Standards und Rahmenbedingungen einheitlicher Art für die nationalen Rechtsschutzsysteme. Seine Rechtsprechung anerkennt zwar den Grundsatz der „institutionellen und prozeduralen Autonomie“ der Mitgliedstaaten als ein immanentes Prinzip des Gemeinschaftsrechts,81 gleichwohl fol81 Soweit nämlich das Gemeinschaftsrecht (einschließlich der allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze) keine Vorschriften enthält, gehen die nationalen Behörden bei der Durchführung der Gemeinschaftsregelungen nach den formellen und materiellen Bestimmungen ihres nationalen Rechts vor. In zahlreichen Aussagen hat der EuGH jedoch bekräftigt, dass bei der Vollziehung von Gemeinschaftsrecht im innerstaatlichen Recht ein Rechtsschutz durch „Gerichte“ einzuräumen ist. Daher obliegt es den innerstaatlichen Gerichten, den sich aus der unmittelbaren Wirkung von Gemein-

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gen für den EuGH aus dem gemeinschaftlichen Rechtssystem europarechtliche Vorgaben für die nationalen Systeme. Diese vom EuGH entwickelten allgemeinen Grundsätze können stichwortartig folgendermaßen zusammengefasst werden: – Beim indirekten Vollzug des Gemeinschaftsrechts muss ein gleichwertiger Rechtsschutz gewährt werden wie bei rein innerstaatlichen Sachverhalten (Äquivalenzgebot). – Ferner darf die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden (Effizienzgebot). – Letztlich muss ein „Gericht“ (i. S. des Art. 234 EGV) anrufbar sein, welches effektiven gerichtlichen Rechtsschutz bietet und zur Einholung einer Vorabentscheidung berufen ist.82 – Ein zentrales Element des europäischen Rechtsstaatverständnisses bildet das Grundrecht auf einen fairen Prozess.83 Entsprechend seiner allgemeinen Rechtsprechung zu den Grundrechten84 hat der EuGH ausdrücklich auch den gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz anerkannt, dass jedermann Anspruch auf einen fairen Prozess hat. Dieses Gemeinschaftsgrundrecht gilt von vornherein für alle Verfahrensarten und hat (im Gegensatz zum unterschiedlichen Rang der EMRK in den EU-Mitgliedstaaten) Vorrang vor dem nationalen Recht. Die Bedeutung dieses Grundrechts kommt ferner darin zum Ausdruck, dass es in der Europäischen Grundrechte-Charta eine detaillierte Regelung fand (vgl. Art. 47: Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht; eine entsprechende Regelung ist auch in Art. II-107 der EU-Verfassung „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ geplant). schaftsvorschriften ergebenen Rechtsschutz zu gewährleisten, und zwar sowohl wenn diese Vorschriften für die Einzelnen Verpflichtungen einräumen als auch wenn sie ihnen Rechte verleihen. Die innerstaatlichen Behörden haben dabei den Anwendungsvorrang zu beachten, das Äquivalenz- und Effizienzprinzip zu wahren und effektiven – auch vorläufigen – Rechtsschutz zur Wahrung gemeinschaftsrechtlicher Rechtspositionen zu sichern. 82 Dazu z. B. Michael Potacs, 14. ÖJT I/1, S. 9 ff.; Theo Öhlinger/Michael Potacs, Gemeinschaftsrecht und staatliches Recht, 3. Aufl. 2006, S. 128 ff. (m.w. N.). 83 Eckhard Pache, Das europäische Grundrecht auf einen fairen Prozess, NVwZ 2001, S. 1342 ff.; Thorsten Kingreen, Art. 6 EUV, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EUV und EGV, 2. Aufl. 2002, Rn 198; Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Band II: Europarecht, 2003, S. 360 ff. 84 Im Gemeinschaftsrecht gehören die Grundrechte nach ständiger Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die vom EuGH in einer langen Serie von Entscheidungen herausgearbeitet wurden. Dabei ließ er sich von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten ebenso leiten wie von Hinweisen, die sich aus völkerrechtlichen Verträgen zum Menschenrechtsschutz ergeben, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie später beigetreten sind. Besondere Bedeutung wird der EMRK zugemessen. Diese Rechtsprechung des EuGH zu den Grundrechten wurde später durch Art. F Abs. 2 (jetzt Art. 6 Abs. 2) EUV bekräftigt.

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bb) Rechtsprechung des EGMR Im weiter gespannten Rahmen der Europaratsstaaten trägt vor allem die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofes Wesentliches zur europäischen Identität und Homogenität bei. In seiner Rechtsprechung haben im Laufe der Jahre die „Verfahrensgrundrechte“ immer größere Bedeutung erlangt. Es war vor allem die zunehmend effektivitätsorientierte Sicht, die vom EGMR in einer teilweise rechtsschöpferischen Rechtsprechung immer weiter entwickelt und ausdifferenziert wurde. Eine Zentralnorm bildet hier das Gebot eines „fair trial“ nach Art. 6 EMRK. Damit ist eben nicht bloß die Gesetzmäßigkeit des Verfahrens gemeint, sondern die Beachtung einer breiten Palette von in der Judikatur näher entwickelten Fairness-Regeln. Dazu gehört vor allem eine „ausreichende, angemessene und gleiche Gelegenheit zur Stellungnahme“ in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht“. Ob diesen Anforderungen entsprochen ist, wird in einer Gesamtwertung des Verfahrens und nach den Umständen des Falles streng beurteilt. Der Gewährleistungsinhalt des Art. 6 EMRK lässt sich nach drei Aspekten gliedern: eine sehr allgemein gehaltene Organisationsgarantie, ein Recht auf Zugang zu Gericht sowie die Verfahrensgarantien im engeren Sinne. Letztere bilden den Kern eines fairen Verfahrens und umfassen eine Reihe von Teilgewährleistungen, wie insbesondere den Grundsatz der Waffengleichheit, das Recht auf Akteneinsicht, den Anspruch auf rechtliches Gehör, und damit verbunden das Recht auf Begründung der Entscheidung.85 In staatsorganisatorischer (gerichtsorganisatorischer) Hinsicht haben sich die aus Art. 6 EMRK ableitbaren Anforderungen an das zur Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche bzw. strafrechtliche Anklagen berufene Organ (Tribunal) letztlich als weniger streng erwiesen, als man auf Grund der frühen Rechtsprechung der Straßburger Instanzen annehmen bzw. befürchten konnte. Die Rechtsprechung des EGMR (insb. zur Auslegung des Ausdrucks „civil rights“)86 hat in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts beim VfGH die Sorge ausgelöst, dass der EGMR Österreich zu einer umstürzenden Veränderung seines verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzsystems zwingen könnte. Eine solche Veränderung wäre nämlich notwendig geworden, wenn in Konsequenz dieser Rechtsprechung wirklich zu fordern wäre, dass über alle Streitigkeiten, die – 85 Siehe dazu im Einzelnen Christoph Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2005, § 24 Rn 27 ff. 86 Der Begriff „civil rights“ hat nach seinem ursprünglichen Sinn einen viel engeren Inhalt als ihm die Rsp. des EGMR unterstellt. Diese Rsp. erweist sich mithin als offene Rechtsfortbildung. Siehe in diesem Zusammenhang auch die ausdrücklich abweichende Meinung des Richters Franz Matscher zum Urteil im Fall König (EuGRZ 1978, S. 422 f.).

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wenngleich im öffentlichen Recht wurzelnd – auf die Bedingungen der Ausübung des Eigentumsrechts Einfluss haben, nur von Gerichten (tribunals) entschieden werden dürfe.87 In der Rechtsprechung des EGMR ist inzwischen klargestellt, dass Entscheidungen über zivilrechtliche Ansprüche nicht in allen Instanzen einem „tribunal“ vorbehalten bleiben müssen. Überhaupt verpflichtet die EMRK mit ihrem „Recht auf Zugang zu einem Gericht“ die Konventionsstaaten nicht dazu, Rechtsstreitigkeiten einem Verfahren zu unterstellen, das in jeder Phase von einem Gericht i. S. d. Art. 6 Abs. 1 geführt wird. Unter Bedachtnahme auf die Erfordernisse der Flexibilität und Effizienz kann es nach Ansicht des EGMR gerechtfertigt sein, dass in erster Instanz eine Verwaltungsbehörde (oder a fortiori eventuell auch ein Tribunal, das nicht in jeder Hinsicht den Anforderungen des Art. 6 EMRK entspricht) entscheidet, wenn nur eine ausreichende nachprüfende Kontrolle vorhanden ist.88 Gleichartiges wurde für den strafrechtlichen Aspekt des Art. 6 EMRK angenommen. So hat es der EGMR für zulässig angesehen, dass die Verfolgung von Bagatelldelikten auch Verwaltungsbehörden übertragen werden kann,89 sofern nur

87 Der VfGH meinte (in VfSlg 11.500/1987, Fall Miltner) – verkürzt wiedergegeben –, er habe den Folgen ins Auge zu sehen, die sich aus dieser in ihrem Fortgang nicht vorhersehbaren Entwicklung der EGMR-Rsp. für die österreichische Rechtsordnung insgesamt ergeben würden. Stellte Art. 6 Abs. 1 EMRK tatsächlich solche Anforderungen, könnte der einfache Gesetzgeber sie nämlich nicht mehr erfüllen. Müsste alles durch ein Gericht (Tribunal) in der Sache selbst entschieden werden, was die private Sphäre im weiten Sinn dieser Rsp. berührt, so müssten in zahllosen Verwaltungsrechtsmaterien ausnahmslos Gerichte zur Entscheidung von Streitigkeiten berufen werden. Eine Zuweisung aller in Betracht kommender Verwaltungsangelegenheiten in die Kompetenz der ordentlichen Gerichte würde aber der verfassungsrechtlichen Stellung der Verwaltung widersprechen. Der Einrichtung von in der Sache neu entscheidenden Verwaltungsgerichten stünde weiters (nach Ansicht des VfGH) die öBV gleichfalls entgegen: Die unter Leitung der obersten Organe geführte Verwaltung unterliegt nur der Kontrolle durch den Verwaltungsgerichthof, der aber nicht in wesentlichen Teilen seiner Tätigkeit durch Tribunale ersetzt werden dürfe. Dem einfachen Gesetzgeber wäre es wohl möglich, den VwGH stärker als bisher zur meritorischen Entscheidung zu berufen. Die Verfassung beschränkt diesen nicht auf bloße Kassation (vgl. VfSlg 8202/1977). Aber es wäre verfassungsrechtlich ausgeschlossen, das System der nachprüfenden Kontrolle selbst zu verlassen und dem VwGH (auf Begehren einer Partei) in sämtlichen Verwaltungsmaterien die Entscheidung in der Sache auf Grund abermaliger vollständiger Ermittlung des Sachverhalts bindend aufzutragen, wenn nur irgendwelche private Rechtsstellungen beeinträchtigt sein könnten. 88 So schon EGMR 23.6.1996, Le Compte ua, Serie A 43 = EuGRZ 1981, S. 551 (Z 51 a). Vgl. näher Christoph Grabenwarter, Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1997, S. 359 ff. 89 Bei sonstigen Entscheidungen strafrechtlicher Natur (z. B. bei der Verhängung schwerer Disziplinarstrafen) muss hingegen das entscheidende Organ als Tribunal eingerichtet sein. Die bloß nachprüfende Kontrolle durch den VwGH wird in solchen

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der Beschuldigte die Möglichkeit hat, die entsprechende Entscheidung durch ein „Gericht“ (tribunal) i. S. des Art. 6 EMRK überprüfen zu lassen. Als unbedenklich erachtet wurde daher z. B. das im deutschen Recht für minder wichtige Delikte bestehende verwaltungsrechtliche Bußgeldverfahren, bei dem die volle Garantie der gebotenen verfahrensrechtlichen Standards durch die Anrufung und Kontrolle eines Gerichtes gewährleistet ist (Fall Öztürk).90 Auch hinsichtlich der erforderlichen Entscheidungsbefugnisse eines Tribunals hat der EGMR nicht jenen rigorosen Standpunkt eingenommen, nach welchem das Tribunal unter allen Umständen zur vollen Sachverhaltsprüfung zuständig sein müsse.91 Vielmehr beurteilt der EGMR lediglich, ob die maßgeblichen Rechts- und Sachverhaltsfragen ausreichend geprüft wurden.92 Auf die Straßburger Rechtsprechung hat man in Österreich auf verfassungsrechtlicher Ebene reagiert, wenngleich nicht mit einer völligen Umgestaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Mit der Einführung der „Unabhängigen Verwaltungssenate“ wurde 1988 Vorsorge dafür getroffen, dass das österreichische Rechtsschutzsystem im Bereich des Verwaltungsstrafrechts und der civil rights vor den Anforderungen der EMRK bestehen kann, sofern der EGMR in seiner Rechtsprechung nicht so weit geht, Strafrechtsangelegenheiten und civil rights ausschließlich Tribunalen vorzubehalten.93 Fällen als keineswegs ausreichend erachtet (so auch die österreichische Rsp.; vgl. VfSlg 11.933, 12.162). 90 EGMR 21.2.1984, Öztürk, Serie A 73 = EuGRZ 1985, S. 62 (Z 56); ferner 2.9.1998, Lauko, RJD 1998-VI (Z 64); 2.9.1998, Kadubec, RJD 1998-VI (Z 57). Dazu Christoph Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2005, S. 309 Rz 58 ff. 91 In Österreich kann der VwGH nach § 41 VwGG einen angefochtenen Bescheid nur auf Grund des von der belangten Behörde angenommenen Sachverhaltes prüfen. Er nimmt allerdings in seiner stRsp. auf Grund des § 42 Abs. 1 Z 3 VwGG eine weitreichende Kontrolle der verwaltungsbehördlichen Sachverhaltsermittlung vor, und zwar unter den Aspekten der Aktenwidrigkeit der Annahmen, der erforderlichen Vollständigkeit der Ermittlung sowie der Schlüssigkeit und Denkmöglichkeit der Würdigung der Beweisergebnisse. 92 Der EGMR hat die Kognitionsbefugnis des VwGH in den bisher zur Beurteilung gelangten Einzelfällen für ausreichend erachtet. EGMR 21.9.1993, Zumtobel = ÖJZ 1993, S. 782; 25.11.1994, Ortenberg = ÖJZ 1995, S. 225; 26.4.1995, Fischer = ÖJZ 1995, S. 663. Dazu allerdings Berka, Die Grundrechte, 1999, Rz 822 mit dem Hinweis, dass der EGMR diese Frage bisher nicht grundsätzlich entschieden hat. 93 In der Rsp. ist mittlerweile klargestellt, dass die UVS Tribunale i. S. des Art. 6 EMRK sind (EGMR 20.12.2001, Nr. 32381/96, Baischer ./. Österreich). Insoweit es um Verwaltungsstrafverfahren geht, meint der EGMR, der VwGH könne sich nicht als „Tribunal“ qualifizieren, weil er nicht über den verlangten Umfang an Überprüfungsbefugnis verfügt (z. B. EGMR 23.10.1995, A/328-A, Schmautzer ./. Österreich). Jüngst wurde freilich entschieden, dass das Fehlen einer mündlichen Verhandlung vor dem VwGH in Verwaltungsstrafsachen nicht EMRK-widrig ist, wenn (weil) der UVS eine mündliche Verhandlung durchgeführt hat (EGMR 3.2.2005, 31655/02, Blum ./. Österreich = ÖJZ 2005, S. 766).

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Darüber hinaus wird in der neueren Rechtsprechung das – früher eher grundrechtsakzessorisch94 gesehene – Recht auf eine wirksame Beschwerde vor einer nationalen Instanz immer wichtiger. Es wird mittlerweile so gedeutet, dass es den nationalen Gesetzgeber verpflichtet, Rechtswege zur Effektuierung von Grundrechten zu schaffen. Da es inzwischen – zumindest der Auslegung nach – Grundrechte (wenn auch einschränkbare) für nahezu alle Lebenslagen gibt, läuft dies auf eine umfassende Rechtswege-Garantie hinaus! Durch Art. 13 EMRK wird nicht vorgeschrieben, wie die Beschwerde ausgestaltet werden muss, sie muss nur effektiv sein. Nach der Rechtsprechung des EGMR ist ein Zugang zu einem effektiven Rechtsmittel dann gegeben, wenn dieses grundsätzlich geeignet ist, eine konventionswidrige Situation zu beseitigen und rechtskonformen Zustand (wieder) herzustellen (Anrufung der Volksanwaltschaft oder Dienstaufsichtsbeschwerde bei der zuständigen Behörde genügen nicht). Ferner muss es sich bei der Beschwerdeinstanz um eine unabhängige und unparteiische Einrichtung handeln, die von jener Behörde verschieden ist, die das in Beschwerde gezogene Verfahren geführt hat. Außerdem muss der Beschwerdeführer einen Anspruch auf inhaltliche Behandlung seiner Beschwerde haben, und es muss ihm in einem förmlichen Verfahren rechtliches Gehör eingeräumt sein. Die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit ist dem gefolgt. So hat der VfGH in den letzten Jahren – übrigens abweichend von seiner früher vertretenen Auffassung, ein Instanzenzug sei verfassungsrechtlich nicht geboten – aus Art. 13 EMRK verschiedene konkrete Anforderungen an die Verfahrensgesetzgebung abgeleitet: so z. B. das Gebot der Wiederaufnahme von Strafverfahren (VfSlg 16.245/2001) und ein Gebot der Anfechtbarkeit von Auslieferungsentscheidungen (VfSlg 16.772/2002; vgl. auch schon VfSlg 14.769/1997). Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, dass diese ganz allgemein gehaltene Rechtsschutzgarantie – angesichts ihrer umfassenden Formulierung und unmittelbaren Wirkung – noch beträchtliches Entwicklungspotenzial in sich birgt. Dies kann in der Zukunft in den Bereichen der nichthoheitlichen Verwaltung, der Gesetzgebung oder ganz allgemein bei pflichtwidrigem staatlichem Unterlassen eine Rolle spielen.

94 Nach der Rsp. genügt es, dass die Behauptung der Konventionsverletzung nicht völlig unbegründet sein darf, m. a. W. nur vertretbar sein muss (EGMR 19.12.1994, Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs = ÖJZ 1995, S. 314).

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b) Die neuere österreichische Rechtsprechung zur praktischen Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips Bei einem der traditionellen Verfahrensgrundrechte – dem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter – hat der VfGH seit jeher eine extensive und effektivitätsorientierte Rechtsprechung gepflegt. Im direkten Anschluss an das alte österreichische Reichsgericht (Slg Hye 13)95 wird unter dem „gesetzlichen Richter“ keineswegs nur ein „Richter“, sondern jede entscheidungsbefugte Behörde verstanden – also auch Verwaltungsbehörden, womit praktisch ein Verfahrensgrundrecht auf Einhaltung der Zuständigkeitsordnung und auf Sachentscheidung durch die zuständige Behörde etabliert wurde. Dieser Gedanke wurde schon in der älteren Judikatur dahingehend ausgedehnt, dass dieses Recht im Fall der Entscheidung durch Kollegialbehörden auch deren richtige Zusammensetzung garantiert. In nochmaliger Erweiterung dieses Gedankens sieht man hierdurch auch die Unparteilichkeit von Mitgliedern der Unabhängigen Verwaltungssenate96 und der „Kollegialbehörden mit richterlichem Einschlag“97 in nicht dem Art. 6 EMRK unterliegenden Verfahren gewährleistet.98 Als gesetzlichen Richter sieht die nationale verfassungsgerichtliche Rechtsprechung übrigens auch den EuGH – dieses Verfahrensgrundrecht dient somit auch zur Gewährleistung der Einhaltung der Vorlagepflicht. (Würde ein innerstaatliches Organ eine vorlagepflichtige Frage der Interpretation des Gemeinschaftsrechts nicht dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen, so verletzte dieses Organ die gesetzliche Zuständigkeitsordnung, zu der auch Art. 234 EGV gehört, und entzöge den Parteien des bei ihm anhängigen Verfahrens insofern den gesetzlichen Richter, als eine dem EuGH zur Entscheidung vorbehaltene Frage nicht durch diesen gelöst werden könnte.)99 Seit vielen Jahren wird ferner der als umfassende Sachlichkeitsgarantie verstandene Gleichheitssatz auch im rechtsstaatlichen Sinne nutzbar gemacht. Im Verfahrensrecht bedeutet Sachlichkeit ganz allgemein Ausschluss von und 95 Siehe dazu schon Erwin Melichar, Die Freiheitsrechte der Dezember-Verfassung 1867 und ihre Entwicklung in der reichsgerichtlichen Judikatur, ZÖR 1966, S. 256 (269 f.); vgl. ferner Gerhart Holzinger, in: Korinek/Holoubek (Hrsg.), Kommentar zum B-VG, Rz 4 f., 7 f. zu Art. 83 Abs. 2 B-VG m.w. N. 96 Art. 129a–129c B-VG. 97 Im Sinne des Art. 133 Z.4 B-VG. 98 VfSlg 15.439/1999, 16.012/2000. 99 Vgl. für Österreich z. B. VfSlg 14.390/1995, 14.607/1996, 14.889/1997, 15.138/ 1998, 15.507, 15.657/1999, 16.055/2000, 16.118, 16.157, 16.183, 16.391/2001. Eine gleichartige Auffassung hatte schon früher das deutsche BVerfG ab 1986 entwickelt (vgl. den Beschluss BVerfGE 73, 339 – Solange II).

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Schutz vor „Willkür“ – sowohl in der gesetzlichen Ausgestaltung des Verfahrensrechts als auch in der praktischen Handhabung. In diesem Sinne einer (vom nationalen Gleichheitssatz für Staatsbürger gelösten) gleichsam zur eigenständigen Verfassungsdirektive verfestigten Bedeutung meint Sachlichkeit also ein allgemeines – auch für Fremde geltendes100 – Willkürverbot (darunter fallen nach langjähriger Rechtsprechung so schwere Verstöße wie Gesetzlosigkeit, Scheinanwendung des Gesetzes oder „denkunmögliche“ Gesetzesanwendung). Im Rahmen der Verfahrensgestaltung leitet man daraus die Gebotenheit eines umfassenden Parteiengehörs,101 einer angemessenen Bescheidbegründung102 und in diesem Zusammenhang auch eine entsprechende Auseinandersetzung mit den Umständen des Einzelfalles ab.103 Die Außerachtlassung derart grundlegender Anforderungen verletzt eben nicht nur einfaches Gesetzesrecht, sondern die Grundrechtssphäre. Ausdrücklich hat sich der VfGH (bereits mit VfSlg 9535/1982) dem EGMR angeschlossen, wonach „die Konvention nicht bestimmt ist, theoretische oder illusorische Rechte zu garantieren, sondern Rechte zu gewährleisten, die konkret sind und Wirksamkeit entfalten.“ Diese partiellen Entwicklungslinien fügen sich mittlerweile in ein größeres Rechtsstaatspanorama, für welches der VfGH nun schon seit Jahren das Gebot eines „Mindestmaßes an faktischer Effizienz“ des Rechtsschutzes proklamiert hat (VfSlg 11.196/1986). D.h. die Rechtsschutzeinrichtungen müssen ihrer Zweckbestimmung nach ein bestimmtes Maß an Effizienz für den Rechtsschutzbewerber aufweisen. Der VfGH hat damit gemeint, dass der Betroffene sowohl die Möglichkeit haben muss, eine Entscheidung rechtsrichtigen Inhalts zu erlangen, wie auch deren Umsetzung in den Tatsachenbereich zu bewirken. Schon damals hielt der Gerichtshof allerdings auch fest, dass Einschränkungen dieser Grundstruktur „nur aus sachlich gebotenen, triftigen Gründen zulässig“ seien. (Dieses rechte Maß zu beurteilen, liegt zweifellos in seinem „wohlerwogenen Ermessen“ und unterliegt damit einem Wertungsvorbehalt des Verfassungsgerichts!) Die große Formel von der „faktischen Effizienz“ wurde zunächst als Reaktion auf Fehlgriffe des Gesetzgebers im Abgaben(verfahrens)recht entwickelt; aus ihr wurden jedoch – je nach den an den VfGH herangetragenen Fallkonstellationen – eine ganze Reihe von konkreteren Anforderungen an die Ausgestal-

100 VfSlg 14.191, 14.369, 14.393/1995, 14.448, 14.680, 14.646/1996, 15.074/1998, 15.814/2000, 16.080/2001. 101 VfSlg 14.107/1995. 102 VfSlg 15.826/2000, 16.431/2002, 16.797/2003. 103 VfSlg 14.389/1995, 16.211/2001, 15.698/1999, 16.877, 16.882/2003.

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tung der (Verwaltungs-)Verfahren abgleitet, vor allem wo diese Grundrechtseingriffe konkretisieren. Einige Beispiele: Als verfassungswidrig betrachtet die Rechtsprechung den generellen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung des ordentlichen Rechtsmittels (der „Berufung“),104 was vor allem in Rechtsbereichen eine besondere Rolle spielt, wo es auf zügige Entscheidungen ankommt (wie eben im Abgabenrecht und auch im Fremdenrecht). In diesem Sinn als rechtsstaatswidrig erachtet wurde auch die Bestrafung eines Fremden wegen unerlaubten Aufenthalts im Inland noch vor Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung.105 Als verfassungswidrig erkannt wurde eine Vervierfachung der einer Behörde zugebilligten Entscheidungsfrist (nach § 73 AVG), weil dies zu einer unangemessenen Verlängerung des Verfahrens für den Einzelnen führt.106 Inzwischen hält der VfGH ganz allgemein eine angemessene, dem Einzelfall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht adäquate Dauer der Rechtsmittelfrist für geboten.107 Verschiedentlich hat der VfGH – entgegen einer früheren Rechtsprechung, die dem Gesetzgeber diesbezüglich weitestgehende Gestaltungsfreiheit beließ und zu der Auffassung führte, das Verfassungsrecht enthalte kein Gebot, eine „Parteistellung“ einzuräumen – in der neueren Rechtsprechung eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Einräumung von Parteirechten bei faktischer Betroffenheit individueller Interessen anerkannt und eine übermäßige Verkürzung der Verfahren, insbesondere unter Ausschluss von Parteirechten aus Gründen der Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung für unsachlich befunden.108 In einer positiven Formulierung des VfGH verlangt der Rechtsstaat, dass Verwaltungsakte mit erheblichen Rechtswirkungen als rechtlich und faktisch be104 VfSlg 11.196/1986, 12.409/1990, 12.683/1991, 13.003, 13.182, 13.305, 13.493/ 1993, 14.374/1995, 14.548, 14.671/1996, 14.765/1997, 15.218/1998, 15.511/1999, 15.529, 16.245/2001, 16.460/2002. 105 VfSlg 15.508/1999. 106 VfSlg 16.751/2002 (zur Wiener Abgabenordnung). 107 VfSlg 15.218, 15.369/1998, 15.529/1999, 15.786/2000. Auch der Verwaltungsgerichtshof spricht ganz allgemein vom Erfordernis einer „faktisch effizienten Überprüfungsinstanz“; VwSlg 15.520/2000; VwGH 17.10.2002, 99/20/0408 = ZfVB 2002/ 469. Für die im Asylrecht vorzunehmende Bewertung der Rechtsmittelfristen des Asylverfahrens in einem Drittstaat geht der VwGH von den Anforderungen aus, die der VfGH ganz allgemein an die Ausgestaltung eines Rechtsmittels gestellt hat, um von einem effektiven Rechtsschutz sprechen zu können: Mindestfrist 1 Woche! 108 So vor allem bei übers Ziel schießender Deregulierung im Baupolizei- und Gewerberecht. Siehe VfSlg 14.512/1996, 15.360/1998, 15.417, 15.581/1999, 16.103, 16.253, 16.259/2001, 16.772/2002, 16.982/2003, 22.6.2005, G 152/04. – Detaillierte Überlegungen zu den verfassungsrechtlichen Grenzen für die Einräumung subjektiver Rechte und damit verbunden der Zuerkennung von Parteistellung jüngst bei Christoph Grabenwarter, Subjektive Rechte und Verwaltungsrecht, 16. ÖJT 2006, I/1, S. 95 ff., 105 ff. und 120 ff.

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kämpfbare Akte konstruiert werden müssen.109 Die inzwischen vielerorts im Rahmen des New Public Management modern gewordenen „Zielvereinbarungen“ verursachen gravierende rechtsstaatliche Probleme, weil sie keiner bestimmten Rechtssatzform zugeordnet werden können. Da sie die erforderliche Klarheit der Regelung und jeglichen Rechtsschutz in den Entscheidungsprozessen vermissen ließen, hat der VfGH einschlägige Bestimmungen (im Universitätsrecht und im Sozialrecht) als verfassungswidrig aufgehoben.110 Mit dem Gebot „faktischer Effizienz“ des Rechtsschutzes werden so dem Gesetzgeber Grenzen für die Realisierung allgemeiner Effizienzüberlegungen und verfahrensökonomischer Ziele gesetzt. III. Neue Herausforderungen und Entwicklungsperspektiven des Rechtsstaats Vor welchen neuen Herausforderungen steht der Rechtsstaat? Welche Problemzonen und Entwicklungsperspektiven zeigen sich heute in unseren durchaus entwickelten Rechtsschutzsystemen? Auch hier kann kein vollständiges Panorama entworfen werden, sondern es sollen schlaglichtartig die wichtigsten ins Auge fallenden Probleme beleuchtet werden. 1. Zeitfaktor und Massenverfahren

a) Zeitfaktor Da ist zunächst einmal der Zeitfaktor. Rechtsschutz kostet bekanntermaßen nicht nur Geld, sondern vor allem auch Zeit.111 „Die jahrelange Dauer gerichtlicher Verfahren kann den Grundrechtsschutz für den Bürgen faktisch stark entwerten. Beschwerden wegen Verletzung der angemessenen Verfahrensdauer nach Art. 6 EMRK können nur ex post erhoben werden und dieses Problem daher nicht befriedigend lösen; der Betroffene bleibt auf einen allfälligen amtshaftungsrechtlichen Anspruch beschränkt. Reformen können hier nur bei einer Straffung der Gerichts- und Verwaltungsorganisation bzw. einer Reduzierung zu zahlreicher Instanzen ansetzen.“ Umgekehrt sind Verfahrensökonomie und kurze Verfahren kein Wert an sich. Die pauschale Anordnung kurzer Entscheidungsfristen kann – selbst wenn sie bereichsspezifisch (z. B. im Fremdenrecht) vorge-

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VfSlg 13.699, 13.837/1994, 14.702/1996. VfSlg 17.101, 17.172/2004. 111 Vgl. dazu die treffenden Ausführungen von Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Rechtsschutz und Verfassung, in: Bundesministerium für Inneres (Hrsg.), Der Rechtsschutzbeauftragte, 2004, S. 40, die im Folgenden der Einfachheit halber wörtlich wiedergegeben werden. 110

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sehen wird – durchaus auf Kosten der notwendigen Qualität des Rechtsschutzes gehen. b) Massenverfahren Die Überlastung der Höchstgerichte ist in Europa auf nationaler und internationaler Ebene inzwischen ein chronisches Problem. Verschiedene Maßnahmen wie Elemente zur Verfahrensbeschleunigung und Zugangsbeschränkungen bzw. Vorprüfungen der Zulässigkeit sind probate Mittel, helfen aber nicht grundsätzlich, wenn Rechtsschutzprobleme großflächig durch eine unkontrollierbare Vielzahl von Parallelbeschwerden schlagend werden. Es bedarf vielmehr spezifischer Vorkehrungen für die in neuerer Zeit immer öfter auftretenden Massenverfahren. Während der Supreme Court der USA mit seinem sogenannten certiorariVerfahren112 selbst darüber befinden kann, in welchen Verfahren er ein Urteil fällt, also gewissermaßen ein freies „Aufgriffsrecht“ hat, das er nach seiner Einschätzung von der grundsätzlichen Bedeutung des Falles ausübt, existiert eine derartige Befugnis – soweit ich sehe – bisher bei keinem Höchstgericht in Europa, und würde sich ohne feste Regeln auch mit dem europäischen Verständnis der Rechtsstaatlichkeit nicht ohne Weiteres vertragen. Keine verallgemeinerungsfähige Lösung ist daher auch die Vorgangsweise der Menschenrechtskammer für Bosnien-Herzegowina, die im Falle der ca. 1900 Verfahren wegen der Massaker in und um Srebrenica eine bestimmte Anzahl von Verfahren herausgegriffen hat, über die entschieden wurde, während die restlichen Fälle ohne Sachurteil aus dem Register gestrichen wurden.113 aa) Der österreichische VwGH In Österreich wurde 1995 in der Verwaltungsgerichtsbarkeit (nach deutschem Vorbild) eine besondere Regelung für derartige Massenverfahren eingeführt und inzwischen einige Male gehandhabt. § 38a VwGG114 erlaubt dem VwGH bei „gleichartigen Rechtsfragen in einer erheblichen Anzahl“ von Bescheidbeschwerdeverfahren einen Beschluss zu fassen, mit dem das allgemeine Rechtsproblem umschrieben und eine Auswahl einiger Testfälle getroffen wird. Ein derartiger Beschluss ist im einschlägigen Gesetzblatt (je nach Rechtsproblem 112 Siehe dazu Zoller, Revue Universelle des Droits de l’homme (RUDH) 2002, S. 278 ff. und Benoît-Rohmer, RUDH 2002, S. 313 ff. 113 Vgl. die Entscheidungen im Fall Selimovic u. a., CH/01/8365 vom 7.3.2003 (Zulässigkeit und Begründetheit) einerseits und Ibisevic und 1804 andere, CH/01/7604 vom 3.6.2003 (Streichung aus dem Register); abrufbar unter www.hrz.ba. 114 In das VwGG eingefügt mit BG öBGBl 1995/470 und neugefasst durch BG öBGBl I 2004/89.

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im BGBl bzw. LGBl) zu verlautbaren und hat nach Kundmachung die Wirkung, dass in anderen gleichgelagerten Fällen Beschwerdefristen gehemmt sind und dass (auch in den beim VwGH schon anhängigen Parallelfällen) weder vorläufige noch endgültige Anordnungen getroffen werden dürfen, die dem Erkenntnis des VwGH vorgreifen.115 In seiner Entscheidung im Muster-Fall fasst der VwGH seine Rechtsanschauung in einem oder mehreren „Rechtssätzen“ zusammen, die ihrerseits wieder im Gesetzblatt kundzumachen sind. Erst danach enden die zuvor beschriebenen Hemmungswirkungen und beginnen Beschwerdefristen neu zu laufen. bb) Der österreichische VfGH Eine vergleichbare Regelung ist dem VfGH, obwohl der Bedarf vielleicht noch größer wäre, in seinem Verfahrensgesetz bisher versagt geblieben. Diesbezügliche Appelle des VfGH an den Gesetzgeber (seit dem Tätigkeitsbericht für 1996) blieben bisher erfolglos. Es geht um das Problem, bereits den Anfall tausender gleichgelagerter Beschwerden entbehrlich zu machen, ohne den Rechtsschutz zu beeinträchtigen. Schon im Jahre 1990 hatte es der VfGH mit mehr als 2000 gleichartigen Fällen (Klagen von Gemeinden wegen behaupteter Verfassungswidrigkeit des Finanzausgleichs) zu tun, und im Jahre 1995 hatte der VfGH ca 1.000 Individualanträge auf Gesetzesprüfung zu bewältigen. (Als noch schwerwiegender erweisen sich Massenbeschwerden, die – sobald Gesetze angewendet wurden und der administrative Instanzenzug durchlaufen ist – u. U. auf breiter Front organisiert werden, um die Vorteile der Anlassfallwirkung zu erlangen.) Den vorläufigen Höhepunkt bildeten mehr als 11.000 Beschwerdefälle mit der Anregung auf Gesetzesprüfung im Jahr 1996. Den konkreten Anlass bildete eine vom Gesetzgeber (aus Gründen der Budgetsanierung) angeordnete Mindest-Körperschaftssteuer, die offensichtlich außer Verhältnis zu vielen betroffenen Rechtssubjekten stand. Die Folge war eine Anfechtungsserie von 11.122 Beschwerden. Um die Prozesslawine zu bewältigen, wählte der VfGH gleichsam „stellvertretend“ nur einige wenige Fälle aus, die er dann als „Anlassfälle“ (im engeren Sinn) entschied.116 Diese wenigen Beschwerdeführer wurden der sogenannten „Ergreifer-Prämie“ (Rückwirkung der Aufhebung im konkreten Einzelfall) teil115 „Es dürfen nur solche Handlungen vorgenommen oder Entscheidungen und Verfügung getroffen werden, die durch das Erkenntnis des VwGH nicht beeinflusst werden können oder die die Frage nicht abschließend regeln und keinen Aufschub gestatten.“ (§ 38a Abs. 3 Z. 1 lit. a und Z. 2 VwGG i.d.g.F.) 116 „Körperschaftssteuererkenntnis“ des VfGH vom 24.1.1997, G 388 – 391/96 = VfSlg 14.723/1997.

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haftig und bekamen auch die Prozesskosten erstattet. Alle anderen Beschwerden wurden nicht behandelt (und erhielten dementsprechend keinen Kostenersatz und keine direkte Ergreiferprämie). Das Problem der Gleichbehandlung der Beschwerdeführer war dem VfGH durchaus klar, er sah jedoch keinen anderen Weg, um seine eigene, im Rechtsstaat essentielle Kontrollfunktion aufrechtzuerhalten. Einen Ausgleich versuchte der VfGH damals durch eine (bis anhin nicht gekannte, großzügige) Handhabung seiner Dispositionsbefugnis nach Art. 140 Abs. 7 B-VG und somit durch eine praktische Ausdehnung der Anlassfallwirkung117 zu bewältigen. Nach der genannten Verfassungsbestimmung kann der VfGH – ausnahmsweise – anders als die normalen Urteilswirkungen Gesetzesaufhebung pro futuro anordnen. Im besprochenen Fall ordnete er nach Art. 140 Abs. 7 B-VG an, dass die Anlassfallwirkung auf sämtliche Fälle ausgedehnt werde, die im Verwaltungsverfahren nach der geprüften Norm entschieden worden waren. Dieser Ausspruch über die Rückwirkung der Aufhebung (zurück bis zum Tag des Inkrafttretens der als verfassungswidrig erkannten Bestimmung) verlieh dem VfGH-Erkenntnis de facto den Charakter einer Nichtigerklärung.118 Dieses Urteil hat in der Juristenwelt vielfach Kritik erfahren, vor allem wegen des unterschiedlichen Grades von Rechtsschutz für die einzelnen Antragsteller. Auch vermochte dieses Urteil das Problem nur ad hoc, und nicht im Grundsätzlichen zukunftsorientiert zu lösen. Eine nähere gesetzliche Regelung zur Bewältigung von Massenverfahren wäre dringend notwendig. Der VfGH hat daher, wie erwähnt, mehrmals in seinen Tätigkeitsberichten auf die Gefahr seiner Überlastung und Lahmlegung hingewiesen und selbst ein Lösungsmodell angedeutet. Die Anregung des VfGH wurde zwar aufgenommen, aber bisher nicht realisiert. Mehrere, nicht verwirklichte Entwürfe119 beruhen – ähnlich wie beim VwGH – auf folgendem Grundkonzept: Wenn zu einer bestimmten Rechtsvorschrift ein Massenverfahren zu erwarten ist,120 solle dies der VfGH unter Bezeichnung der Rechtsvorschrift im öBGBl verlautbaren. Dies 117 Auf alle jene mehr als 11.000 schon rechtskräftigen Bescheide, mit denen eine verfassungswidrige Körperschaftssteuer-Vorauszahlung festgesetzt worden war. 118 Ihren Wirkungen nach könnte diese Entscheidung des VfGH durchaus den Prototyp einer neuen Art von sozusagen „gesetzesvernichtenden Erkenntnissen“ darstellen, wie sie bisher in Österreich nicht bekannt war. 119 Vgl. die Initiativanträge 150/A, 234/A, 306/A, 318/A der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates 21. Gesetzgebungsperiode. Diese Initiativen wurden dann zu einem Ausschussantrag des Verfassungsausschusses (gemäß § 27 GOGNR) zusammengefasst und einem sog. „Ausschuss-Begutachtungsverfahren“ (gemäß § 40 Abs. 1 GOGNR) unterzogen (Parlamentsdirektion 1.3.2001, Zl. 13440.0060/ 1–L 1.3/2001). Weder in der 21. noch in der eben zu Ende gehenden 22. Gesetzgebungsperiode kam eine entsprechende gesetzliche Regelung zustande. 120 Rechtspolitisch ist – freilich unter Beachtung des aus dem Gleichheitssatz folgenden Sachlichkeitserfordernisses – zu entscheiden, ob dies für alle Rechtsvorschriften oder für ausgewählte Rechtsbereiche (z. B. nur für abgabenrechtliche Bereiche) gelten soll.

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hätte die Wirkung, dass letztinstanzliche Verwaltungsverfahren und Verfahren vor dem VwGH, in denen die betreffende Norm anzuwenden ist, unterbrochen werden. Auszujudizieren wäre dann nur ein „Testfall“. Alle übrigen Verfahren kämen, ohne dass ein Verfahren vor dem VfGH eingeleitet werden müsste, generell in den Genuss der Anlassfallwirkung. Mit anderen Worten: In diesen Fällen wäre dann auf Grundlage der allenfalls durch den VfGH bereinigten Rechtslage zu entscheiden. Für eine so weitreichende Wirkung wird in den Entwürfen eine verfassungsrechtliche Ermächtigung (eingefügt in Art. 140 Abs. 7) und gleichzeitig die nähere Ausgestaltung im VerfGG (eingefügt als § 19a) vorgesehen. cc) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Mit der Gefahr der Überlastung durch Parallelverfahren (sog. repetitive cases)121 sieht sich auch der EGMR schon länger konfrontiert. Eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit des Konventionssystems resultiert insbesondere aus der Ausweitung des Europarates (= Anzahl der Mitglieder der EMRK) auf 45 Mitgliedstaaten, und zwar nicht nur wegen der Vervielfachung der Beschwerden, sondern vor allem auch wegen „struktureller Probleme“ in manchen Mitgliedstaaten. Seit dem 50. Jahrestag der Konvention (im Jahre 2000) gab es einen intensiven Diskussionsprozess zur Reform des Konventionssystems, in welchem die Möglichkeiten eines summarischen Verfahrens122 bzw. der Auswahl von Testfällen123 im Gespräch waren. Nach dem inzwischen ausformulierten 14. ZPEMRK (mangels ausreichender Zahl von Ratifikationen noch nicht in Kraft)124 sollen künftig (Art. 28 Abs. 1 lit. b EMRK künftige Fassung) die Zulässigkeits- und die Sachentscheidung von einem Drei-Richter-Ausschuss getroffen werden (können), wenn in dem betreffenden Fall bereits eine gefestigte Rechtsprechung des Gerichtshofes vorliegt („if the underlying question in the 121 In denen zwar die zu beurteilende Rechtsfrage identisch ist, Bfr. und Sachverhalt im strengen Sinn jedoch nicht übereinstimmen. Die repetitive cases werden gelegentlich auch als „clone cases“ bezeichnet. Im deutschen Sprachraum hat sich noch keine einheitliche Sprachregelung gebildet, manchmal wird von „Wiederholungsfällen“ gesprochen (z. B. Wolf Okresek, Die Umsetzung der EGMR-Urteile und ihre Überwachung, EuGRZ 2000, S. 168 ff.). Mit Breuer ist (auch wegen der Verwechslungsgefahr mit der Fallgruppe des Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK) der Begriff „Parallelverfahren“ vorzuziehen. 122 Offenbar bevorzugt von der sog. „Reflexionsgruppe“, die vom Lenkungsausschuss für Menschenrechte (CDDH) eingesetzt wurde. 123 Vorschlag der sog. „Evaluierungsgruppe“ (bestehend aus dem ständigen Vertreter Irlands [Harmann], dem EGMR-Präsidenten [Wildhaber] und dem Stv. Generalsekretär des Europarates [Krüger]). Offenbar wurde dieser Lösungsvorschlag auch vom EGMR selbst befürwortet. 124 Stand der Ratifikationen per 28.03.2007 (http://conventions.coe.int/): 45 Staaten (es fehlt nur noch Russland).

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case, concerning the interpretation or application of the Convention or the Protocols thereto, is already the subject of well-established case-law of the Court“). Für Fälle, die aus strukturellen Problemen einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung resultieren, waren hingegen bisher im Europarat nur politische Empfehlungen zu erreichen, in denen der EGMR zur Identifizierung derartiger Probleme aufgefordert wird.125 Aber schon vor dem In-Kraft-Treten des Prot. Nr. 14 hat der EGMR mit der Technik der sog. Piloturteile einen innovativen Weg eingeschlagen. Erstmals 2004 im Urteil Broniowski ./. Polen126 stellte der EGMR die aus einem strukturellen Problem resultierende Rechtsverletzung fest und bezeichnete Maßnahmen, die vom verurteilten Staat zur Beendigung der fortdauernden Konventionsverletzung zu ergreifen sind – bemerkenswerterweise beides im Urteilstenor. Für beides gibt es keine ausdrückliche Rechtsgrundlage, weder in der EMRK selbst noch in der Verfahrensordnung des EGMR.127 Nun könnte man dogmatisch darüber rechten, ob es für das Piloturteilsverfahren gar keiner Konventionsänderung bedürfe128 oder ob hier echte richterliche Rechtsfortbildung vorliegt. Wahrscheinlich kann man die ausdrückliche Anordnung von Abhilfe125 Mit seiner Empfehlung Res (2004) 6 vom 12.5.2004 hat das Ministerkomitee den Weg für den künftigen Umgang mit Piloturteilen vorgezeichnet: Das MK sprach sich für eine einzelfallabhängige Vorgehensweise aus, und nannte z. B. den Gebrauch vorhandener bzw. die Einführung neuer innerstaatlicher Rechtsmittel, wodurch es dem EGMR ermöglicht würde, anhängige Parallelbeschwerden als unzulässig abzuweisen. Die rückwirkende Umsetzung wurde empfohlen, aber nicht für unbedingt zwingend erachtet. In einer am selben Tag verabschiedeten Resolution Res (2004) 3 wurde der EGMR aufgefordert, in seinen Urteilen strukturelle Probleme zu „identifizieren“ und derartige Urteile nicht nur dem betroffenen Staat und dem MK, sondern auch der parlamentarischen Versammlung, dem GenSekr. und dem Menschenrechtskommissar zu notifizieren. 126 EGMR (GK), Broniowski ./. Polen, Urteil vom 22.6.2004. Ursprünglich war der Broniowski (nach dem In-Kraft-Treten des 11. ZPEMRK) einer Kammer der 4. Sektion des EGMR zugewiesen, die jedoch den Fall nach Art. 30 EMRK der Großen Kammer abgab. Zugleich war die Entscheidung über Parallelverfahren bis zur Verkündung des Urteils der GK ausgesetzt worden. Im Urteil des Falles Broniowski hat die GK (allerdings an keineswegs prominenter Stelle, Urteil Z. 198) entschieden, die Überprüfung der inzwischen 167 anhängigen Parallelverfahren – in Erwartung genereller Maßnahmen des belangten Staates – abermals zu vertagen. Ob dies Milde oder Druck gegenüber dem belangten Staat bedeutet, kann je nach Blickwinkel umstritten sein. 127 Als Grundlage kommt wohl auch nicht Art. 31 der VerfO in Betracht, der dem EGMR – nach Anhörung der Verfahrensparteien – ganz allgemein „Abweichungen im Einzelfall“ ermöglicht. 128 So Standpunkt des erwähnten Lenkungsausschusses für Menschenrechte; vgl. CDDH (2003) 026 Addendum I final, Z. 20 f. Der EGMR hat diese Haltung bedauert und an seinem Wunsch nach einer konventionsrechtlichen Festschreibung des Piloturteilsverfahrens festgehalten; vgl. CDDH-GDR (2004) 001, Z. 24. Dazu eingehend Marten Breuer, Urteilsfolgen bei strukturellen Problemen, Das erste „Piloturteil“ des EGMR, EuGRZ 2004, S. 445 ff.

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Maßnahmen mit guten Gründen aus einer „Annex-Kompetenz“ des EGMR129 herleiten, um eine Konventionsverletzung als solche festzustellen – und zwar insbesondere wenn es sich um eine Dauerverletzung handelt (vor allem wenn diese in der Rechtslage des Konventionsstaates begründet ist bzw. wenn im nationalen System keine geeigneten Rechtsmittel zur Verfügung stehen, oder wenn sich die Exekutive weigert, einem rechtskräftigen Gerichtsurteil Folge zu leisten). Schon früher hatte der ursprünglich sehr zurückhaltende EGMR130 begonnen, über die Formen möglicher Wiedergutmachung im Falle einer festgestellten Konventionsverletzung konkretere Aussagen zu machen, zunächst sehr vorsichtig und regelmäßig nur in der Urteilsbegründung. Einen Schritt weiter ging der Gerichtshof schon, als er erstmals die Rückgabe eines konventionswidrig enteigneten Grundstückes ausdrücklich im Urteilstenor anordnete (Urteil Papamichalopoulos ./. Griechenland, A/330-B). Und noch pointierter und verallgemeinert formulierte der Gerichtshof im Urteil Scozzari und Giunta ./. Italien:131 „[Aus Art. 46] folgt, dass durch ein Urteil, in dem der Gerichtshof eine Verletzung festgestellt hat, dem belangten Staat nicht bloß eine rechtliche Verpflichtung auferlegt wird, den zugesprochenen Geldbetrag zu leisten, sondern auch unter der Überwachung durch das Ministerkomitee die generellen und/oder gegebenenfalls die individuellen Maßnahmen auszuwählen, die in seiner innerstaatlichen Rechtsordnung ergriffen werden müssen, um der vom Gerichtshof festgestellten Verletzung ein Ende zu setzen und soweit als möglich Wiedergutmachung für die Auswirkungen zu leisten.“132

Wenngleich der EGMR auch weiterhin häufig Appell-Entscheidungen fällt – und diese Vorgangsweise unter bestimmten Umständen sogar bei Feststellung struktureller Defizite (wie z. B. jüngst im Fall Scordino ./. Italien wegen überlanger Verfahrensdauer und angesichts anhaltender „Versäumnisse in der italienischen Rechtsordnung“)133 –, hat er die einmal eingeschlagene Linie der Pilot129 So Marten Breuer, EuGRZ 2004, S. 445 (449) und unter Bezugnahme auf seine dogmatische Aufarbeitung des Vorläuferfalles Asanidse ./. Georgien; siehe dazu Marten Breuer, Zur Anordnung von konkreten Abhilfemaßnahmen durch den EGMR, EuGRZ 2004, S. 257 ff. (261). 130 Vor allem im Urteil Marckx ./. Belgien, Serie A 25 hat der EGMR betont, seine Entscheidung habe „im wesentlichen Feststellungscharakter und [überlasse] dem Staat die Wahl der Mittel in seiner innerstaatlichen Rechtsordnung, um . . . die ihm obliegende Verpflichtung zu erfüllen.“ Unter Berufung auf diese grundsätzliche Aussage hat der EGMR – wohl zutreffend – die manchmal vom Bfr. beantragte Aufhebung eines letztinstanzlichen (nationalen) Gerichtsurteils abgelehnt. Er hat aber auch betont, er verfüge nicht über die Kompetenz, eine Änderung der nationalen Gesetzgebung anzuordnen. (Nachweise bei Breuer, EuGRZ 2004, S. 257 [258 FN 9].) Nur in seltenen Ausnahmefällen hat der EGMR dem verurteilten Mitgliedstaat in einem obiter dictum Hinweise gegeben, wie seines Erachtens die Konventionsverletzung behoben werden könnte. 131 Wiedergeben in ÖJZ 2002, S. 74. 132 Hervorhebung von mir.

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Verfahren konsequent fortgesetzt. Er stützt diese Vorgangsweise mittlerweile argumentativ ständig auf Art. 46 EMRK, welcher die Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile betrifft. Vor allem in weiteren Urteilen gegen das Mitgliedsland Polen (Hutten-Czapska ./. Polen) stellte der EGMR „arge Mängel im polnischen Rechtssystem“ fest, „von denen eine große Anzahl von Personen . . . betroffen sind.“ (Der Gerichtshof spricht von mehr als 100.000 Vermietern und zwischen 600.000 bis 900.000 Mietern.)134 Der Gerichtshof hält ausdrücklich fest, dass die Durchführung des „Pilot-Verfahrens“ eine Beurteilung des Falles über die Situation der Beschwerdeführer hinaus, nämlich hinsichtlich der Ergreifung notwendiger – allgemeiner – Maßnahmen zum Schutz von ähnlich betroffenen Personen, notwendig macht. Die Fälle betrafen den Konflikt zwischen staatlich kontrollierter Miete und dem Eigentumsrecht. Nach der politischen Wende war in Polen ein neues Wohnraumgesetz erlassen worden, bei dem vor allem der Schutz der Mieter vor finanziellen Belastungen während der Übergangsphase zur freien Marktwirtschaft im Vordergrund stand. Spätere Änderungen der Rechtslagen haben – auch nach Aufhebung mancher Gesetzesbestimmungen durch das polnische Verfassungsgericht – weder die gesetzlichen Einschränkungen hinsichtlich der Beendigung der Miete beseitigt, noch ein gesetzliches System etabliert, mit der Vermieter einen gänzlichen oder wenigstens teilweisen Ersatz für die durch Instandhaltungskosten verursachten Einbußen erhalten könnten. Nach Auffassung des EGMR konnte daher auch das Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofes die konventionswidrige Situation nicht beseitigen. Bei der Prüfung unter dem Gesichtspunkt des Art. 1 des 1. ZPEMRK (Achtung des Eigentums) anerkannte der Gerichtshof, dass „Polen angesichts der prekären Wohnsituation mit extrem sensiblen Fragen konfrontiert“ war. Er kommt aber zu einer anderen Einschätzung der Lage als der nationale Gesetzgeber; wörtlich: „In einer solchen Situation hätte das Interesse der Gemeinschaft eine gerechte Verteilung der sozialen und finanziellen Last während der Reform des staatlichen Systems der Verteilung von Wohnressourcen verlangt. Diese Last durfte nicht einer bestimmten sozialen Gruppe aufgebürdet werden, mochten die Interessen der anderen Gruppe oder der Gemeinschaft als solche noch so gewichtig sein.“ Als Ergebnis gelangte der EGMR (im Endurteil) hier unter der Abschnittsüberschrift „Empfehlung allgemeiner Maßnahmen“ (wörtlich) zu folgender Aussage:

133 EGMR (GK), Urteil vom 29.3.3006, Scordino ./. Italien (Nr. 1), Beschwerde Nr. 36813/97 (= Newsletter 2006/2, S. 83 ff.). 134 EGMR (IV. Kammer), Urteil vom 22.2.2005 (= Newsletter 2005, S. 32 ff.) und im gleichen Sinn EGMR (GK), Urteil vom 19.6.2006 (= Newsletter 2006, S. 144 ff.).

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„Polen ist verpflichtet,135 im Wege der Ergreifung geeigneter gesetzgeberischer oder anderer Maßnahmen einen Mechanismus zur Verfügung zu stellen, mit dem ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den Interessen der Vermieter einschließlich ihres Rechtes auf Erzielung von Gewinn durch Mieteneinnahmen und jenen der Gemeinschaft an der Zurverfügungstellung von ausreichendem Wohnraum für finanziell Schwache hergestellt werden kann.“ Die vom polnischen VfGH abgegebenen Empfehlungen werden als geeignete Optionen zur Abstellung der konventionswidrigen Situation betrachtet. Die Piloturteile zeigen bei aller Behutsamkeit eine unausweichliche Konsequenz: Der EGMR entwickelt ausgehend vom Einzelfall eine systematische (generelle) Kontrolle der nationalen Gesetzgebung am Maßstab der Konvention und befindet sich damit auf dem Weg zur Rolle eines europäischen Verfassungsgerichts! Wie immer man die bisher entschiedenen Fälle im Einzelnen beurteilen mag,136 eines steht fest: Das seit dem Fall Broniowski praktizierte Piloturteilsverfahren ermöglicht einen schonenden Ausgleich zwischen dem Recht des einzelnen Beschwerdeführers auf Sachentscheidung und der Gefahr der Paralysierung des EGMR durch Massenverfahren.137 2. Umbau des Rechtsschutzsystems

Ein zweiter Punkt betrifft speziell die österreichische Situation hinsichtlich Behördenaufbau und Rechtsschutzsystem. Was sich hier als Notwendigkeit abzeichnet und schon seit Jahren zwischen Wissenschaft und Praxis konstruktiv diskutiert wird – obgleich es in der Verfassungspolitik bisher keine Folgen hatte –, wäre eine sinnvolle Vereinfachung und zugleich Vervollständigung des Systems. Die verschiedenen Anliegen können hier nur stichwortartig berührt werden (zumal sie eigentlich jeweils einen eigenständigen Themenkreis bilden). a) Landesverwaltungsgerichte Ein grundsätzliches Anliegen – seit 1990 diskutiert und letztlich mit der Bundesstaatsreform gescheitert – wäre die Umwandlung der „Unabhängigen Ver135

Hervorhebung von mir. Dass die offene Berufung auf die wachsende Verfahrenslast keine tauglich rechtliche Begründung hergibt, betonen auch einzelne Richter des EGMR selbst in ihren Sondervoten: so Zupancˇ icˇ im Fall Broniowski ./. Polen (siehe EuGRZ 2004, S. 483 f.) und Casadevall im Fall Kudła ./. Polen (siehe EuGRZ 2004, S. 488). 137 Dieselbe Einschätzung, wenngleich verbunden mit Kritik an einer zu wenig selbstbewussten Haltung des EGMR, bei Breuer, EuGRZ 2004, S. 445 (451). 136

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waltungssenate“ in den Ländern in echte (Landes-)Verwaltungsgerichte. Ein Sonderproblem bildet die Frage, ob der Unabhängige Bundesasylsenat (UBAS) in ein zentrales erstinstanzliches Verwaltungsgericht (des Bundes) verwandelt werden soll. Aus einer solchen Reform würde im Ergebnis eine für die Größenordnung Österreichs durchaus wünschenswerte zweistufige Verwaltungsgerichtsbarkeit resultieren, in deren Rahmen der VwGH in Wien – auch zwecks Rationalisierung und Entlastung – nur mehr als Kassationshof und vor allem in grundsätzlichen Fragen der Rechtseinheit anzurufen wäre. Ein weitgehend ausgereiftes Modell zu diesem Fragenkreis ergab sich übrigens aus den Arbeiten des „Österreich-Konvents“,138 aus denen allerdings die erhoffte grundsätzliche Verfassungsreform Österreichs mangels Einigung der politischen Kräfte bisher nicht hervorgegangen ist. b) Verbesserungen im Zusammenspiel der Höchstgerichte Eine Rangerhöhung des VfGH (nach dem Muster von Karlsruhe) und damit eine Änderung der trialistischen Struktur der Höchstgerichtsbarkeit wird in Österreich nicht zu verwirklichen sein. Andererseits führt die Parallelzuständigkeit von VwGH und VfGH bei Bescheidbeschwerden (gegen letztinstanzliche Verwaltungsakte) zu „hohem Verfahrensaufwand, verbessert oft nicht den Rechtsschutz und führt zu Inkonsistenzen in der Judikatur beider Gerichtshöfe.139 Dieses System wäre jedenfalls im Zusammenhang mit der Einführung einer Landesverwaltungsgerichtsbarkeit zu überdenken. Um eine lückenlose Normenkontrolle zu sichern, und in diesem Bereich die Garantien der Verfassung zu stärken, wurde in den letzten Jahren die allgemeine Einführung einer Urteilsverfassungsbeschwerde (auch in Österreich) rechtspolitisch erörtert. Dagegen wurde aber ins Treffen geführt, dass dann der VfGH unter Anwendung der verfassungskonformen Interpretation „im Ergebnis die gesamte Judikatur des OGH und des VwGH zur Verfügung“ hätte.140 Als Alternative wurde daher vorgeschlagen, den Prozessparteien zumindest dort, wo letztinstanzliche Gerichte deren Normbedenken nicht teilen, dem Einzelnen eine spezielle Anfechtungsmöglichkeit zu eröffnen: Subsidiarantrag141 der Prozess-

138

Website http://www.konvent.gv.at. Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Rechtsschutz und Verfassung, in: Bundesministerium für Inneres (Hrsg.), Der Rechtsschutzbeauftragte, 2004, S. 38 f. 140 Clemens Jabloner, Perspektiven der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Holoubek/ Lang (Hrsg.), Das verwaltungsgerichtliche Verfahren in Steuersachen, 1999, S. 377 (387 ff.). 141 So schon Clemens Jabloner, Strukturfragen der Gerichtsbarkeit öffentlichen Rechts, ÖJZ 1998, S. 168. Ein weiter reichendes Vorlage-Modell erwog hingegen Karl Korinek, Für eine umfassende Reform der Gerichtsbarkeit öffentlichen Rechts, in: FS Koja, 1998, S. 289. 139

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partei zur Normenkontrolle.142 (Auch dieser Fragenkreis war Gegenstand von Beratungen im Österreich-Konvent.)143 c) Vorläufiger Rechtsschutz Nur erwähnt werden kann, dass der vorläufige Rechtsschutz sowohl auf Grund europarechtlicher Anforderungen als auch ganz allgemein angesichts erhöhter Risiken und Sensibilitäten in der heutigen Risiko-Gesellschaft144 neuer Abwägungen sowie klarerer detailliert ausformulierter Regelungen in nahezu allen Verfahrensarten bedürfte (Vergaberecht, Fremdenrecht, etc. bis hin zur Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit). d) Grundrechtseffektuierung Zum Zwecke einer stärkeren Grundrechtseffektuierung bestehen verschiedene Vorschläge, das auf nachträglicher Kontrolle typisierter Akte aufbauende System rechtlicher Kontrollen durch einen weiteren Ausbau begleitenden Rechtsschutzes zu ergänzen und solchen neuen Systemelementen des Rechtsschutzes

142 Es stellt ja eine bekannte verfassungspolitische Lücke dar, dass Bedenken des Einzelnen gegen eine generelle Norm nicht immer an den VfGH herangetragen werden können, wenn nämlich der OGH (oder der VwGH) die Bedenken der Prozesspartei gegen die angewendeten Rechtsvorschriften nicht teilt und deshalb – u. U. mit ausführlichen Überlegungen und Begründungen – eine Antragstellung an den VfGH ablehnt. Dieses Problem konstatierte und beschrieb schon Schäffer, Verfassungsinterpretation, 1971, S. 178 ff.; ähnlich konstatiert Jabloner, (FN 140), S. 388, dass sich auf diese Weise eine Art „Kryptoverfassungsgerichtsbarkeit“ des VwGH und der ordentlichen Gerichte entwickeln kann. Jabloner möchte übrigens im Falle der Einführung eines derartigen Subsidiarantrags den VfGH an die Auslegung, die das Ausgangsgericht der anzuwendenden Norm gibt, gebunden sehen. Bedenken dagegen bei Korinek, Überlegungen zu einer Reform der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts, in: Holoubek/Lang (Hrsg.), Das verwaltungsgerichtliche Verfahren in Steuersachen, 1999, S. 413 (425). 143 In den Beratungen des Ausschusses 9 des Österreich-Konvents wurde die sog. „Normenbeschwerde“ (gegen die einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegende Norm) im Wesentlichen, wenn auch nicht vollständig konsentiert. In den Beratungen sei auch die „Urteilsbeschwerde“ (gegen die gerichtliche Entscheidung selbst) gefordert worden, doch hätten im Ausschuss weit mehr und weit gewichtigere Gründe gegen die Einführung einer Urteilsbeschwerde als für eine solche gesprochen (angeführt werden: Schaffung einer 4. Instanz, Ausweitung der Rechtswege, beträchtliche Verlängerung der Verfahrensdauer, erhebliche zusätzliche Verfahrenskosten, neue Rechtsunsicherheit, verfahrensrechtliche Unstimmigkeiten, enorme Mehrbelastung des VfGH, empfindliche Beeinträchtigung der bestehenden Balance zwischen den drei Höchstgerichten). 144 Damit sind nicht nur die heute jedermann gegenwärtigen technischen Risiken, sondern auch die Probleme angesprochen, die aus der persönlichen Bewegungsfreiheit im europäischen Binnenmarkt und aus den Migrationsströmen resultieren.

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durch geeignete, nicht nur punktuelle verfassungsrechtliche Grundlagen eine umfassende Garantie für Bestand und unabhängiges Funktionieren zu sichern. Ein eigenständiges, über die Rechtswissenschaft hinausgehendes und in die Verwaltungswissenschaft hinüberreichendes Kapitel wäre die Entwicklung einer besonderen „Grundrechts-Kultur“ durch entsprechend verbesserte Schulung der Vollziehungsorgane. Manchmal zeigt sich, insbesondere an aktuell auftretenden Problemlagen und Spannungen, dass eine nachträgliche rechtliche Kontrolle im Rechts- und Verfassungsstaat nur theoretisch perfekt funktioniert, auf faktisch eingetretene Situationen und Verwerfungen aber nicht (oder nicht mehr) adäquat reagieren kann. Ein schlagendes Beispiel bot die in diesem Sommer gelaufene hitzige Debatte über die nach einer Parteispaltung (FPÖ/BZÖ) strittigen Fragen nach Zusammensetzung der Bundeswahlbehörde sowie über Namensverwendung und Listenplätze politischer Parteien bei den Nationalratswahlen Oktober 2006. Die Gefahr von Fehlentscheidungen und die Konsequenzen einer Wahlaufhebung mit unausweichlicher Wiederholungswahl machen deutlich, dass zumindest in solchen Fällen eine vorgängige Prüfung bestimmter Schritte des Wahlverfahrens durch das Verfassungsgericht der Vermeidung von Rechtsunsicherheit und politischer Spannungen gewiss förderlich wäre. Noch eine Nebenbemerkung: Vielleicht kann man es in diesem Zusammenhang als weise bezeichnen, dass die österreichische Bundesverfassung – anders als das deutsche Grundgesetz – kein allgemeines Organstreitverfahren vor dem Verfassungsgericht kennt. Damit werden viele Dinge im politischen Prozess belassen und nicht dem Verfassungsgericht ein „letztes Wort“ zugemutet. Aber das sind Unterschiede, die nicht unbedingt mit der Qualität des Rechtsstaates, sondern mit der politischen Geschichte und politischen Kultur eines Gemeinwesen zu tun haben. e) Staatshaftung Ein Desiderat zur Vervollständigung des Rechtsschutzsystems wäre auch eine klare verfassungsrechtliche Regelung zur „Staatshaftung“145 für legislatives Unrecht, die zwar ihre Wurzel und ihren Rechtsgrund unmittelbar im Gemeinschaftsrecht hat, zur Durchsetzung aber auf das nationale Recht angewiesen ist. Hier klare und zweckmäßige, vor allem zweifelsfreie Rechtsgrundlagen für die

145 Zu diesem Postulat Gerhart Holzinger, Subsidiäre Verfassungsbeschwerde und neue Instrumente des Rechtschutzes im Lichte des österreichischen Konvents, in: Bundesministerium für Inneres (Hrsg.), Terror – Prävention – Rechtsschutz, 2005, S. 103 ff.

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Zuständigkeit und das einschlägige Verfahren zu schaffen, ist schon seit langem ein rechtspolitisches Anliegen im Rechtsstaat. f) „Enthoheitlichung“ Eine weitere Problemzone des Rechtsstaats resultiert aus der fortschreitenden Tendenz zur „Deregulierung“ und „Privatisierung“. Die zunehmende „Enthoheitlichung“ staatlichen Handelns und die Überantwortung früher öffentlicher Aufgaben an den Markt (im wirtschaftswissenschaftlichen Sinne) lässt vielfach das hoheitliche Rechtsschutz-System und die rechtlichen sowie die politischen Kontrollen überhaupt leer laufen. Im Fall der Organisationsprivatisierung staatsnaher Betriebe entfallen die traditionellen parlamentarischen Kontrollrechte, und der Staat tritt dem Einzelnen im Gewande des Privaten gleichwohl übermächtig gegenüber. Dem kann mit der zivilrechtlichen Judikatur zum Kontrahierungszwang und zur unmittelbaren Wirkung von Grundrechten nur teilweise wirksam begegnet werden. Wo für Daseinsvorsorge-Tätigkeiten tatsächlich neue Märkte etabliert wurden, resultieren oft Oligopole, was für die Bürger als Nutzer von Leistungen vielfache neue Regulierungsprobleme hervorruft. Kommen die Vertragspartner nicht zu der erforderlichen Einigung, muss unter Umständen mit einem vertragsersetzenden Bescheid letzten Endes doch wieder hoheitlich entschieden und ein Interessenausgleich getroffen werden. Ob man diese Bereiche nicht von vornherein generell dem öffentlichen Recht und der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterstellen sollte, wie dies im spanischen Recht geschehen ist, kann hier nur als eine Frage in den Raum gestellt werden. Immerhin zeigt das vom europäischen Gemeinschaftsrecht geprägte Vergaberecht zwingende und strenge Vorgaben für einen effizienteren Rechtsschutz in mehreren Phasen des Entscheidungsverfahrens und nicht nur für öffentlich-rechtliche Auftraggeber, sondern eben auch ganz allgemein für „Sektorenauftraggeber“ ungeachtet des Umstandes, ob sie die öffentliche Hand, öffentlich beherrschte Unternehmen oder private Unternehmen sind.146 IV. Entwicklungsperspektiven des Rechtsstaats in Europa Es ist schon eingangs gesagt worden, dass die Rechtsstaatsidee zu den verbindlichen Grundsätzen gehört, die die Homogenität Europas tragen, und dass sie zugleich eine der wesentlichen Quellen der Legitimation Europas als politische Einheit und Rechtsgemeinschaft darstellt. Gleichwohl treten, wie seinerzeit

146 Zum Begriff der Sektorentätigkeit und der Sektorenauftraggeber vgl. jetzt §§ 163 bis 173 des österreichischen Bundesvergabegesetzes 2006 sowie die Sektorenrechtsmittel-RL und die anderen einschlägigen vergaberechtlichen RL und Entscheidungen des Gemeinschaftsrechts (zitiert in § 351 des öBVergG 2006).

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im Nationalstaat, ähnliche Probleme auf höherer Ebene auf, und hier müsste der Rechtsstaatsgedanke seine Stoßkraft weiterentwickeln und neu bewähren. 1. Probleme der Rechtsquellen

Auf europäischer Ebene begegnen uns altbekannte Rechtsprobleme in erhöhter Quantität und Qualität. Nur zu bekannt ist die Normenflut, die trotz aller Zugänglichkeit der Rechtsvorschriften über elektronische Hilfen nach einer radikalen Vereinfachung und Konsolidierung „schreit“. Das Problem liegt aber tiefer, und zwar in der Vielfalt und besonders in der Unübersichtlichkeit der Rechtsquellen. An die Unterschiede zwischen Richtlinie und Verordnung (mit aller Subtilität in den Wirkungen) hat man sich ja über Jahrzehnte schon gewöhnt – wenngleich es aus vielen Gründen besser wäre, mit dem Verfassungsvertrag zum System von „Europagesetz“ und „Europäischem Rahmengesetz“ überzugehen. Daneben gibt es Kommissionsbeschlüsse und Assoziationsratsbeschlüsse, die gesetzesgleich wirken. Ferner gibt es – vor allem im Unionsrecht – völkerrechtliche Übereinkommen, die zum Teil im Amtsblatt der EU, zum Teil im nationalen Gesetzblatt (BGBl), zum Teil aber überhaupt nicht veröffentlicht sind. Aus der Praxis ist bekannt, dass es überdies „Leitlinien“ und „Interpretationen“ der EU-Kommission gibt, die nicht im Amtsblatt verlautbart sind, sowie auch Ministerratsbeschlüsse, die nirgendwo kundgemacht sind, aber gleichwohl vollzugsrelevant sind. Einen zweiten Problemkreis bildet 2. Die Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt in Europa

Rechtsstaatliche Probleme resultieren hier aus Rang und Rechtsnatur der Grundrechte in Europa. Gab es lange Zeit keinerlei Ansatz für derartige Rechte im Vertragstext, so war es der EuGH, der seit 1969 in einer bahnbrechenden Rechtsprechung die Existenz von Gemeinschaftsgrundrechten der Person aus den (ungeschriebenen) allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung hergeleitet hat.147 Die Grundlage für die mittlerweile weitgehend akzeptierte offene Rechtsfortbildung findet der Gerichtshof in den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und in der Anwendung der Methode einer wertenden 147 Vgl. insb. EuGH Rs 29/69, Stauder, Slg 1969, 419 Rn 7; Rs 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg 1970, 1125 Rn 3; Rs 4/73, Nold, Slg 1974, 491 Rn 12 ff.; Rs 44/79, Hauer, Slg 1979, 3727 Rn 15; Rs 265/87, Schräder, Slg 1989, 2237 Rn 14.

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Rechtsvergleichung. Neben den gemeinsamen Verfassungstraditionen hat der EuGH auch verschiedene Abkommen (darunter vor allem die EMRK) als „Inspirationsquelle“ verwendet. Mittlerweile hat der EUV (ursprünglich Art. F Abs. 2 = jetzt Art. 6 Abs. 2 neu EUV) mit seinem ausdrücklichen Verweis auf die EMRK und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen diese Rechtsprechung vertragsrechtlich „unterfüttert“ und legitimiert, sodass man umfassend von Grundrechten der Person im EG-Recht sprechen kann.148 Im Übrigen spielen die EMRK-Grundrechte auch im Gemeinschaftsrecht eine bedeutende Rolle. Aus der Rechtsprechung des EuGH selbst lässt sich ein umfassender Katalog anerkannter Grundrechte im Gemeinschaftsrecht zusammenstellen:149 Menschenwürde, Achtung der Privatsphäre, der Wohnung und des Briefverkehrs, Gleichheitsgrundsatz (als Grundsatz der Chancengleichheit), Verbot von Diskriminierungen auf Grund des Geschlechts, Allgemeiner Gleichheitssatz, Religionsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Handelsfreiheit, Berufsfreiheit (Erwerbsfreiheit), Eigentum, Meinungs- und Veröffentlichungsfreiheit, Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen, Grundrechte im gerichtlichen Verfahren (Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und auf einen fairen Prozess). Im Rahmen der rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien hat der EuGH insbesondere anerkannt: Anspruch auf rechtliches Gehör, ne bis in idem, überhaupt den Grundsatz eines fairen Verwaltungsverfahrens ganz allgemein, die rechtsstaatlichen Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts, Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes (insb. beim Widerruf von Verwaltungsakten), Verhältnismäßigkeitsprinzip, Begründungspflicht bei Einzelfallentscheidungen, Beschränkung rückwirkender Gesetze aus Gründen des Vertrauensschutzes. Dass der Rechtsschutz durch Grundrechte auf Grund der ausgebauten Judikatur selbst gegenüber Gemeinschaftsakten nicht unbedingt greift und Probleme aufwirft, sei an einem kurzen und aktuellen Beispiel erläutert. Jüngst wurden die der Europäischen Kommission zustehenden Ermittlungsbefugnisse in Kartellverfahren mit der VO (EG) Nr. 1/2003 erheblich erweitert. Zusätzlich zu Auskunftsverlangen kann die Kommission nun auch Betriebsräume, Bücher und Unterlagen versiegeln, umfassende Auskünfte verlangen und Durchsuchungen nicht nur in Betriebsräumen, sondern auch in Privatwohnungen von Mitarbeitern durchführen. Diese erweiterten Ermittlungsbefugnisse stehen in einem Spannungsverhältnis zur Einhaltung fundamentaler Verfahrensgarantien und Verteidigungsrechte der Betroffenen. 148 Jürgen Schwarze, Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, EuGRZ 1986, S. 293 ff.; Gil Carlos Rodríguez Iglesisas, Gedanken zum Entstehen einer europäischen Rechtsordnung, NJW 1999, S. 1 ff.; Jürgen Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar (2000), Art. 220 EGV, Rn 17. 149 Siehe z. B. Rudolf Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rz 773 und 776 m.w. N.

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Umstritten ist im Gemeinschaftsrecht die Frage, an welchem grundrechtlichen Maßstab derartige Nachprüfungen der Kommission zu messen sind. Bisher hat nämlich der EuGH die Formulierung eines speziellen Gemeinschaftsgrundrechtes der Unverletzlichkeit von Geschäftsräumen juristischer Personen vermieden. Für Nachprüfungen wurde lediglich eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage gefordert und sie wurden den allgemeinen Verfahrensgrundsätzen, insbesondere einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterworfen. Dementsprechend dürfen Nachprüfungen keinesfalls willkürlich oder exzessiv sein; in der Praxis verfügt die Kommission jedoch bei ihrer Entscheidung darüber, ob und wann sie eine Nachprüfung vornimmt, über einen erheblichen Ermessensspielraum. Wie steht es mit dem Rechtsschutz? Ein Unternehmen kann gegen die Entscheidung zur Anordnung einer Nachprüfung zwar Klage erheben; dies bedeutet jedoch nicht automatisch eine Aussetzung der Entscheidung, sodass die Nachprüfung sehr wohl durchgeführt werden kann. Die Gemeinschaftsgerichte können dann die Rechtmäßigkeit der Entscheidung überprüfen. Somit ist effektiver Rechtsschutz im Grunde nur nachträglich zu erreichen, zumal einstweiliger Rechtsschutz vor Durchführung der Nachprüfung nicht möglich ist.150 Die vom EuGH im Wege allgemeiner Rechtsgrundsätze entwickelten und anerkannten (europäischen) Grundrechte stehen im Rang dem übrigen primären Gemeinschaftsrecht gleich. Das hat zunächst Folgen für die Rechtsprechung des EuGH selbst. Nicht selten gibt der Gerichtshof in Abwägung zwischen den wirtschaftlichen Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts und den Grundrechten der Wirtschaftsfreiheit den praktischen Vorzug.151 Man muss wohl anerkennen, dass die meisten grundrechtsrelevanten Fälle, die zum EuGH gelangen, schon von der ganzen Fallkonstellation und Problemstellung her einen wesentlichen Bezugspunkt in den Grundfreiheiten des Primärrechts haben. Die Berufung auf die Grundrechte (nationalen Grundrechte oder auch die Ausübung von Grundrechten der EMRK) bewirkt vielfach Kollisionen mit den gemeinschaftlichen „Grundfreiheiten“, die nur über die Begrenzungsvorbehalte der letzteren gelöst werden können. Es ist daher keineswegs abwegig, wenn der EuGH dort seinen argumentativen Ausgangspunkt nimmt und zwangsläufig zu einer Abwägung zwischen wirtschaftsrelevanten Grundfreiheiten und den erwähnten Grundrechten kommt. Dass der EuGH in dem komplizierten Abwä150 Vgl. dazu Jürgen Schwarze/Andreas Weitbrecht, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2004, § 4 Rn 23; Karl Weinhäupl, Ermittlungsbefugnisse nach Europäischen Kartellrecht, Wirtschaftsrechtliche Blätter 2006, S. 297 (302). 151 Dies erwähnt auch Theo Öhlinger, Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa: Das Zusammenspiel von EGMR, EuGH und VfGH im Lichte des Verfassungsentwurfs der Europäischen Union, in: Karl (Hrsg.), Internationale Gerichtshöfe und nationale Rechtsordnung, 2005, S. 123 (138).

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gungsvorgang152 durchaus auch einmal den Grundrechten den Vorzug gibt und dies entsprechend begründet, ist etwa in den erst in jüngster Zeit entschiedenen Fällen Schmidberger und Omega deutlich geworden.153 Einen Schritt in Richtung Kodifikation bedeutete schon die Erarbeitung einer Grundrechte-Charta im ersten Konvent (feierlich proklamiert in Nizza am 7.12. 2000).154 Sie blieb freilich bisher unverbindliche Deklaration. Inhaltlich verbindet sie in ihren Formulierungen die klassischen Grundrechte der EMRK mit den Grundfreiheiten des EGV, ferner mit weit gespannten Zielbestimmungen (z. B. Vielfalt der Kulturen, Umweltschutz und Verbraucherschutz) sowie Programmsätzen (so insb. Recht auf gute Verwaltung, Arbeitnehmerrechte, soziale Sicherheit, Gesundheitsschutz). Das Nebeneinander von echten Rechten (durchsetzbaren Ansprüchen) und Gewährleistungsaufträgen gibt der Grundrechte-Charta einerseits eine gewisse rechtstechnische Inhomogenität, die Einbeziehung der erwähnten sozialen und kulturellen Rechte mit der bewussten Konzeption als Gesetzgebungsprogramme gibt dem Katalog jedoch andererseits einen umfassenden und modernen Zug. Er speist sich ja insoweit besonders aus den Verfassungstraditionen jener Mitgliedstaaten, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich neue Verfassungen gegeben haben. Den entscheidenden Fortschritt sollte der „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ (EVV) bewirken. Er will die Charta mit einigen Modifikationen als Teil II übernehmen: Art. II-61 bis II-114 EVV. Die Grundrechtsbestimmungen würden dadurch rechtsverbindlich und erhielten Verfassungsrang. Daneben sollen aber wie bisher die Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts gelten. Ausdrücklich wollte schon die Grundrechte-Charta und will der EVV eine Harmonisierung der Auslegung herbeiführen, indem Rechten, 152 Zum Abwägungsproblem jüngst Alina Lengauer, Zum Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten im EG-Recht: Ein Aperçu, in: FS Peter Fischer, 2004, S. 315 ff. Diese Autorin zieht aus der Rsp. den Schluss, der EuGH sehe Grundrechte und Grundfreiheiten prinzipiell gleichgeordnet (Grundrechte als „immanente Schranken“ der Grundfreiheiten). 153 Im erstgenannten, Österreich betreffenden Fall (kurzfristige Brenner-Blockade als Demonstration gegen übermäßigen Alpentransit), wurde letztlich der Versammlungs- und Meinungsäußerungsfreiheit der Vorzug vor der Warenverkehrsfreiheit gegeben. Im zweitgenannten deutschen Fall hat der EuGH zwar ausgehend von der Dienstleistungsfreiheit geprüft, aber letzten Endes der Menschenwürde den Vorzug gegeben. Ein deutscher Spielhallenbetrieb in Bonn hatte ein aus Großbritannien importiertes Computerspiel mit virtuellen Tötungshandlungen angeboten und verwendet. Dies wurde – letztlich gestützt auf Verletzung der Menschenwürde – ordnungspolizeilich verboten, dagegen hat das Unternehmen Beschwerde bis zum Bundesverwaltungsgericht in Berlin geführt, welches seinerseits Vorabentscheidung beim EuGH beantragte. Siehe EuGH 14.10.2004, Rs C-36/02, Omega, Slg 2004, I-9609 = auszugsweise abgedruckt in: Gewerbearchiv 2004, S. 473 ff.; vollständig in EuGRZ 2004, S. 639 ff. und in EuZW 2004, S. 53 (mit Anm. von Jürgen Bröhmer). 154 ABl 2000 C 364/1.

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die den in der EMRK garantierten Rechten entsprechen, „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie in der Konvention zugemessen wird. Lediglich ein weitergehender Schutz soll im Sinne eines Günstigkeitsprinzips möglich sein (Art. II112 Abs. 3 EVV). Vorgesehen ist ferner, dass die EU der EMRK beitreten soll. Dies würde den Grundrechtsschutz der Unionsbürger inhaltlich zwar nicht wesentlich verbreitern. Es würde aber bedeuten, dass dann auch die Rechtsschutzmöglichkeiten der EMRK (insb. eben die Individualbeschwerde an den EGMR in Straßburg) auch gegenüber Akten der EU (einschließlich des primären Unionsrechts) offen stehen.155 Praktisch würde damit auch der EuGH verhalten, die EMRK nicht mehr autonom auszulegen, sondern sich an der Judikatur des EGMR auszurichten.156 Die derzeit noch geltende Grundrechte-Situation in der EU hat ferner zur Folge, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber gegenwärtig keine wirksame Schranke in den Grundrechten vorfindet und ohne weiters auch Grundrechtsdurchbrechungen statuieren kann. All diese Probleme der Grundrechtswirkung und -interpretation im Gemeinschaftsrecht wären leichter zu lösen, wenn es gelänge den Verfassungsvertrag für Europa zu einer Ratifikation zu bringen. Die Grundrechte-Charta würde dadurch verbindliches Recht. Sie wäre Bestandteil des Primärrechts und damit Erzeugungsbedingung und -begrenzung, damit aber auch Kontrollmaßstab für das künftig zu erzeugende Sekundärrecht. Dann könnte der EuGH Verordnungen und Richtlinien (künftig: Europagesetze bzw. Europäische Rahmengesetze) durchaus am Maßstab der Grundrechte messen und damit den Grundrechten im Rahmen des Europarechts zum Durchbruch verhelfen. Daraus ergäbe sich auch eine Art natürliche Arbeitsteilung zwischen Straßburg und Luxemburg. Grosso modo gesprochen, wäre dann der EGMR das Grundrechtsgericht157, der EuGH gleichsam das Normenkontrollgericht.

155 Gegenüber Akten der staatlichen Organe (und zwar auch im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts) steht die Möglichkeit der Beschwerde an den EGMR schon derzeit offen. 156 Judikaturdivergenzen zwischen den beiden Gerichtshöfen würde damit vorgebeugt. Dazu Krüger/Polakiewicz, Vorschläge für ein kohärentes System des Menschenrechtsschutzes in Europa, EuGRZ 2001, S. 92 (97 f.). 157 Theo Öhlinger, Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa: Das Zusammenspiel von EGMR, EuGH und VfGH im Lichte des Verfassungsentwurfs der Europäischen Union, in: Karl (Hrsg.), Internationale Gerichtshöfe und nationale Rechtsordnung, 2005, S. 123 (142) formuliert das so: „Der EGMR wird dann zwar nicht oberstes Gericht der Union, aber in Grundrechtsfragen doch so etwas wie eine letzte Instanz sein.“

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Heinz Schäffer 3. Sicherheit vs. Freiheit in Europa

Wenn man von der Rechtsstaatlichkeit Europas spricht, sind auch einige Anmerkungen zur Entwicklung eines „Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ in Europa vonnöten. Gerade im zusammenwachsenden Europa wird durch die größere Dimension das ewige Spannungsverhältnis Sicherheit versus Freiheit wieder deutlich sichtbar.158 Die Gewährleistung von Sicherheit (im Inneren) ist Voraussetzung für den Genuss und die Ausübung aller anderen Rechte (auch der Grundrechte) in einer funktionierenden Rechtsordnung. Der Wegfall der Personenkontrollen an den EG-Binnengrenzen liegt als wesentliche praktische Erleichterung in der Logik des freien Personenverkehrs im Binnenmarkt (Art. 14 Abs. 2 EGV). Für die Kriminalitätsbekämpfung und im Hinblick auf den Aufenthalt einer großen Anzahl von Drittstaats-Angehörigen innerhalb der Mitgliedstaaten der EU werden hierdurch elementare nationale Sicherheitsinteressen berührt. Diese Probleme sind angesichts der jüngsten Terror-Attentate (Madrid 2004, London 2005, Verhinderung von terroristischen Anschlägen auf Transatlantikflüge in London 2006) und angesichts des Drucks der Migrantenströme für jeden europäischen Bürger unmittelbar einsichtig. Der Verzicht auf polizeiliche Kontrollen an den Binnengrenzen muss konsequenterweise durch eine verstärkte Kooperation der Polizeibehörden zwischen den Mitgliedstaaten kompensiert werden.159 Die Gebiete Justiz und Inneres waren ursprünglich nur punktuell Gegenstand einer Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ). Maßgebliche Impulse für die vertragliche Vereinbarung einer weitreichenden Zusammenarbeit auf diesen Gebieten gingen vom Binnenmarktprogramm aus. Während der MaastrichtVertrag 1992 nur für die Visa-Politik eine Gemeinschaftskompetenz festlegte, hat dann der Vertrag von Amsterdam 1997 konsequenterweise auch die Bereiche Asyl und Einwanderung sowie andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr (als Titel IV) in den EGV transferiert und mit dieser Verlagerung in die „Erste Säule“ vergemeinschaftet. Schon im Vertrag von Amsterdam wurde die Weiterentwicklung der Union zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ausdrücklich in den Katalog der Ziele aufgenommen.160 Zwar fehlt eine Definition dieses Raumes; aus der Zielformulierung in Art. 29 Abs. 1 EUV erkennt man aber klar, dass die EU – unbeschadet der Befugnisse der EG – den Bürgern in diesem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein hohes Maß an Sicherheit bieten will, 158 Dazu insbes. Hans-Heiner Kühne, Bürgerfreiheit und Verbrecherfreiheit. Der Staat zwischen Leviathan und Nachtwächter, in: FS Burgstaller, 2004, S. 527 ff. 159 Thomas Oppermann, Europarecht, 2. Aufl., 1999, Rz 1554 ff. 160 Detaillierte Darstellung bei Oppermann, (FN 159), Rz 1567 bis 1579.

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indem sie ein gemeinsames Vorgehen der Mitgliedstaaten im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZ) entwickelt (sowie ferner Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verhütet und bekämpft). Erreicht werden soll dieses Ziel (Art. 29 Abs. 2 EUV) durch die Verhütung und Bekämpfung der – organisierten und nicht organisierten – Kriminalität, insbesondere des Terrorismus, des Menschenhandels und der Straftaten gegenüber Kindern, des illegalen Drogen- und Waffenhandels, der Bestechung und Bestechlichkeit sowie des Betrugs, und zwar im Wege einer engeren Zusammenarbeit der Polizei-, Zoll- und anderer zuständiger Behörden in den Mitgliedstaaten (sowohl unmittelbar als auch unter Einschaltung von Europol [Europäisches Polizeiamt])161; einer engeren Zusammenarbeit der Justizbehörden sowie anderer zuständiger Behörden der Mitgliedstaaten (auch unter Einschaltung der Europäischen Stelle für justizielle Zusammenarbeit [Eurojust])162; und durch Annäherung der Strafvorschriften der Mitgliedstaaten, soweit dies erforderlich ist. Primärrechtlich beruht der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts also sowohl auf den eine intergouvernementale Zusammenarbeit regelnden Bestimmungen des EUV als auch auf den bereits vergemeinschafteten Bestimmungen (über Visa, Asyl und Einwanderung) im EGV.163 Eine Evolutivklausel (Art. 42 EUV) würde erlauben, weitere Maßnahmen aus dem Bereich der PJZ zu vergemeinschaften, eine Flexibilitätsregelung (Art. 43 bis 45 EUV) ermöglicht auch eine engere Zusammenarbeit einzelner Mitgliedstaaten in der PJZ. Zugleich mit dem Amsterdamer Vertrag wurde der ursprünglich neben der EU entwickelte „Schengen-Besitzstand“ mit einem eigenen Protokoll in den Rechtsrahmen der EU einbezogen.164 Die PJZ vollzieht sich im Rat (Art. 34 EUV), wobei abweichend vom Normalfall die Initiative entweder von der Kommission oder von einem Mitgliedstaat ausgehen kann. Als Handlungsformen sind gemeinsame Standpunkte, Rahmenbeschlüsse und andere Beschlüsse und Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten vorgesehen. Ungeachtet der Bezeichnung als Beschlüsse handelt es sich aber nicht um Gemeinschaftsrecht. Rahmenbeschlüsse und andere Beschlüsse sind nämlich (nach Art. 34 EUV) nicht unmittelbar wirksam. Während Rahmenbeschlüsse 161 Europol ist keine Gemeinschaftseinrichtung, sondern ein mit Rechtspersönlichkeit ausgestattetes Instrument der intergouvernementalen Kooperation. Siehe dazu das Übereinkommen über ein Europäisches Polizeiamt, ABl 1995, C 316/1. Dazu Zieschang, ZRP 1996, S. 427 ff. 162 Die mit Rechtspersönlichkeit ausgestattete Stelle Eurojust wurde geschaffen mit Beschl. des Rates 2002/187/JI, ABl L 63/1 vom 6.3.2002. 163 Eine Mischung von völkerrechtlichen und supranationalen Elementen konstatieren auch Thomas Oppermann, Europarecht, 2. Aufl., 1999, Rz 1576, 3. Aufl., 2005, Rz 21, 39 ff. zu § 24 und Rudolf Streinz, Europarecht, 7. Aufl., 2005, Rz 959. 164 ABl 1997, C 340/93.

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ähnlich wie Richtlinien zur Umsetzung verpflichten, kann der Rat zu den „anderen Beschlüssen“ mit qualifizierter Mehrheit zur Durchführung „auf Unionsebene“ weitere Beschlüsse fassen. Unter bestimmten Voraussetzungen (Anerkennung durch einen Mitgliedstaat) ist der EuGH auch zur Vorabentscheidung über die Auslegung der genannten Rechtsakte zuständig; ebenso ist er zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieser Akte berufen. Tatsächlich hat der EuGH bereits zu einem solchen Rechtsakt Stellung genommen und die Anwendung der rahmenbeschlusskonformen Auslegung als geboten bezeichnet (analog zur richtlinienkonformen Auslegung).165 Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird im europarechtlichen Schrifttum als eine komplexe und halbherzige Konstruktion bezeich165 In der neuesten Entwicklung seiner Rechtsprechung hat der EuGH den Gedanken der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts auch auf die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen erstreckt (also einen Bereich des Unionsrechts, der gegenwärtig noch nicht voll vergemeinschaftet ist), insoweit es um die Rechtswirkungen der in diesem Bereich möglichen „Rahmenbeschlüsse“ geht. Gemäß Art. 35 EUV ist der EuGH berufen, auch in solchen Fällen über Vorabentscheidungsersuchen zu urteilen. Nach Art. 34 Abs. 2 lit. b EUV haben Rahmenbeschlüsse insofern zwingenden Charakter, als sie für die Mitgliedstaaten „hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich [sind], . . . jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel [überlassen].“ In einem jüngst ergangenen Urteil hat der EuGH festgehalten: Der zwingende Charakter von Rahmenbeschlüssen, der mit den gleichen Worten wie in Art. 249 Abs. 3 EGV zum Ausdruck gebracht wird, hat für die nationalen Behörden eine Verpflichtung zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung des nationalen Rechts zur Folge. EuGH (GK) 16. 6. 2005, Rs C-105/03, Slg. 2005, I-5285 [Urteil nach Art. 35 EUV zum Vorabentscheidungsersuchen des Ermittlungsrichters beim Tribunale Florenz (Italien) . . . in dem Strafverfahren gegen Maria Pupino] Rn 33, 34. Der Gerichtshof hat damit die schon in der Lehre vertretene Argumentationslinie übernommen, wonach dem EUV eine Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung innerstaatlichen Rechts inhärent sei. [Vgl. dazu Wasmeier, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar, 6. Aufl., 2003, Art. 34 EUV Rz 8 (m.w. N.); Brechmann, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., 2002, Art. 34 Rz 8; de Kerchove, in: Moore (ed), Police and Judicial Co-operation in the European Union, 2004, S. 335 (353). Ferner jüngst eingehend (das Urteil des EuGH noch nicht berücksichtigen könnend) Killmann, Die rahmenbeschlusskonforme Auslegung im Strafrecht vor dem EuGH, Juristische Blätter 2005, S. 566 ff.] Wenngleich der EUV keine dem Art. 10 EGV vergleichbare Klausel enthält, stellt der Unionsvertrag doch auf „eine immer engere Union der Völker Europas“ ab; die Union könnte ihre Aufgabe kaum erfüllen, wenn der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nicht auch im Bereich der PJZ gälte. Die Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften seines nationalen (Straf)Rechts den Inhalt des Rahmenbeschlusses heranzuziehen, wird jedoch auch hier durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze, insb. durch den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt. Auch die rahmenbeschlusskonforme Interpretation darf daher nicht dazu führen, dass auf der Grundlage eines RB unabhängig von einem zu seiner Durchführung erlassenen Gesetz die strafrechtliche Verantwortlichkeit desjenigen, der gegen die Vorschriften des RB verstößt, festgelegt oder verschärft wird. (Vgl. zu den RL der Gemeinschaft EuGH 3.5.2005, Rs C-387/02, C-391/02 und C-403/02, Berlusconi ua, Slg. 2005, I-3565, Rz 74; zu den RB der Union nunmehr ebenso EuGH 16.6.2005, Rs C-105/03, Strafverfahren gegen Pupino, Slg. 2005, I-5285, Rz 44 f.)

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net166, was seine Ursache darin hat, dass die Mitgliedstaaten sich vor einer wirklichen Vergemeinschaftung der Polizei und der Gerichtsbarkeitsgewalt scheuen. Die gesamte Materie ist von Anfang an so konzipiert worden, dass es einer politischen Ausfüllung durch die Gemeinschaftsorgane bedarf. Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sollte binnen fünf Jahren (nach In-Kraft-Treten des Amsterdamer Vertrages) durch Maßnahmen des Rates schrittweise aufgebaut werden (Art. 61 EGV in der Fassung des Amsterdamer Vertrages). Ein diesbezügliches Handlungsprogramm wurde vom Europäischen Rat in Tampere (15./16. Oktober 1999) aufgestellt.167 In einer Bilanz dieses Programms hielt die Kommission im Jahre 2003 fest, dass zwar wichtige Fortschritte gemacht worden seien, dass die institutionelle Struktur des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts jedoch weiterhin zu Schwierigkeiten führen werde.168 Danach hat der Europäische Rat in Brüssel (4./5. November 2004) zur Fortführung des Tampere-Prozesses ein neues Mehrjahresprogramm angenommen („Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der EU“). Dieses sollte schon auf das In-Kraft-Treten des EVV vorbereiten. Zugleich wurde die Kommission um einen Aktionsplan ersucht sowie auch um einen jährlichen Bericht über die Umsetzung des Programms (sogenannter „Fortschrittsanzeiger“).169 Im EVV wäre – was hier besonders interessiert – eine Verschmelzung der bisherigen drei Säulen in eine einzige Union vorgesehen, was zur Ausdehnung der Gemeinschaftsmethode auf das bisherige (intergouvernementale) Unionsrecht führen soll. Ungeachtet einer salvatorischen Klausel zugunsten der Kompetenz der Mitgliedstaaten für die öffentliche Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit finden sich die Bestimmungen über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Wesentlichen gleichartig im Kapitel IV des EVV (Art. III-257 ff.). Uneingeschränkt gelten würden dann die allgemeinen Rechtssatzformen (Europäisches Gesetz und Rahmengesetz) sowie die Prinzipien des Gemeinschaftsrechts (vor allem Anwendungsvorrang und Überprüfung der Rechtsakte der Union durch den EuGH). Im Rahmen des schon existierenden Konzepts für einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts will der EVV der Union angemessene Mittel an die Hand geben, Lösungen für die Herausforderungen der Gegenwart zu finden (Gewährleistung der Freizügigkeit bei gleichzeitiger Bekämpfung des Terrorismus und der Schwerverbrechen sowie Steuerung der Migration). 166

Thomas Oppermann, Europarecht, 2. Aufl., 1999, Rz 1567, 1579. Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Ziffer 9; siehe EU-Bulletin 10/1999, Nr. 1.6.1. 168 Dazu später die Empfehlung des EP vom 14.10.2004, A6-0010/2004, man sollte in diesem Bereich zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit und zum Mitentscheidungsverfahren übergehen. 169 Siehe Bericht in ZER 13 (2004), S. 148 f. 167

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Zunächst bestätigt der EVV für jene Mitgliedstaaten, die zum „SchengenRaum“ gehören, dass keine Kontrollen an den Binnengrenzen dieser Mitgliedstaaten vorgenommen werden. Daneben zielt der EVV darauf ab, unter Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention ein gemeinsames europäisches Asylsystem einzurichten, das insbesondere einen einheitlichen Flüchtlingsstatus und gemeinsame Asylverfahren umfassen soll. Außerdem soll auf Grundlage des EVV eine Gemeinsame Einwanderungspolitik aufgebaut werden. Bereits im EVV sind Leitlinien dieser gemeinsamen Politik festgelegt, was im bisherigen Vertragsrecht nicht der Fall war. Hier geht es darum, die Migrationsströme wirksam zu steuern und eine angemessene Behandlung der Einwanderer zu gewährleisten, die sich rechtmäßig in der Union aufhalten, sowie andererseits illegale Einwanderung und Menschenhandel zu bekämpfen. Wie schon bisher wird die EU auch im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen weiterhin tätig sein, sofern es sich um grenzüberschreitende Angelegenheiten handelt. Mit Europäischen Gesetzen oder Rahmengesetzen soll ein erleichterter Zugang zu den nationalen Gerichten gewährleistet werden. Für den Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen – bisher Bestandteil der „Dritten Säule“ und damit den Regeln der intergouvernementalen Zusammenarbeit unterworfen – sieht der EVV eine Überführung in die allgemeine Struktur der vergemeinschafteten Politiken vor. Damit wäre die PJZ den allgemeinen Integrationsregeln unterstellt. Hervorzuheben ist, dass die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – nach wie vor – auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen beruhen soll. Und im Übrigen auf eine „Angleichung“ der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in den vom EVV näher umschriebenen Bereichen durch Europäisches Gesetz oder Rahmengesetz abzielt. Als Besonderheit ist hier hervorzuheben, dass neben der Kommission auch eine Gruppe von einem Viertel der Mitgliedstaaten das Recht der Gesetzesinitiative haben soll. Europäisches Parlament und Rat (als Mitgesetzgeber) könnten nach dem Konzept des EVV Definitionen und gemeinsame Strafen für schwerwiegende Formen der internationalen Kriminalität festlegen, die in der Verfassung angeführt sind. Derartige Kriminalitätsbereiche sind: Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität. Je nach Entwicklung der Kriminalität soll der Rat durch Europäischen Beschluss (einstimmig nach Zustimmung des Europäischen Parlaments) auch andere Kriminalitätsbereiche bestimmen können, die den Kriterien der europäischen Zuständigkeit („besonders schwere Kriminalität“ und „grenzüberschreitende Dimension“) entsprechen (Art. III-271 EVV). Auch Rahmengesetze im Strafprozessrecht sollen zulässig sein (z. B. betreffend Rechte der Opfer von Straftaten und Rechte des Einzelnen im Strafverfahren sowie Zulässigkeit von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis zwischen den Mitgliedstaaten). Die be-

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reits bestehende Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, insbesondere im Rahmen von Eurojust soll verstärkt und durch Einführung einer „Europäischen Staatsanwaltschaft“ erweitert werden. Letztere wäre zuständig für die Fahndung und strafrechtliche Verfolgung von Personen, die als Täter oder Teilnehmer schwere Straftaten mit grenzüberschreitendem Bezug begangen haben. (Dies bedürfte allerdings eines einstimmigen Beschlusses des Europäischen Rates und der Zustimmung des Europäischen Parlaments.) Auf dem Gebiet der polizeilichen Zusammenarbeit will die Verfassung das Polizeiamt Europol, welches die Mitgliedstaaten bei der Verhütung und Bekämpfung der schweren Formen international organisierter Kriminalität unterstützen soll, einer Kontrolle durch das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente unterstellen. Was nun die PJZ anbelangt, ist man in den letzten Jahren zwar von der traditionellen Regierungszusammenarbeit durch Übereinkommen allmählich zu Rahmenbeschlüssen und Beschlüssen übergegangen, die Methode blieb jedoch naturgemäß vom guten Willen der Mitgliedstaaten abhängig. Der Wegfall der Säulenstruktur würde schwierige rechtstechnische Fragen beseitigen, wie z. B. die Frage in welcher Rechtsatzform strafrechtliche Sanktionen zuständigkeitshalber untergebracht werden müssen. Die mangelhafte Umsetzung könnte im neuen Rechtsregime durch das Vertragsverletzungsverfahren sanktioniert werden.170 Der EVV hat für den Bereich der PJZ überdies eine Art intergouvernementale Prüfung vorgesehen. Das ist ein „Monitoring“ nach Art einer „peer evaluation“: Die Mitgliedstaaten sollen in Zusammenarbeit mit der Kommission eine objektive und unparteiische Bewertung der Durchführung der strafrechtlichen Unionspolitik durch die Behörden der Mitgliedstaaten vornehmen (Art. III-260 EVV), insbesondere „um die umfassende Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zu fördern“. 4. Rechtsschutzprobleme in der europäischen Kooperationsverwaltung

Als Rechtsstaatsproblem der Zukunft in Europa zeigt sich – das gilt jetzt schon für existierende Formen der Verwaltungskooperation in verschiedenen Rechtsmaterien und wird sich in Zukunft verschärft bei der polizeilichen Zusammenarbeit manifestieren – das Fehlen wirksamer Kontrollen und Rechts170 Dies wäre in der Tat wichtig, weil die Praxis zeigt, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Rahmenbeschlüsse besonders zögerlich sind bzw. dass das Verfahren doch auch sehr schwerfällig und zeitaufwändig ist. So wird berichtet, dass etwa der Rahmenbeschluss über den „europäischen Haftbefehl“ nur von acht Mitgliedstaaten zeitgerecht umgesetzt wurde und nur fünf Mitgliedstaaten sind ihren Verpflichtungen aus dem Rahmenbeschluss zur „Terrorismusbekämpfung“ zeitgerecht nachgekommen. Dazu grundsätzlich und mit weiteren Einzelheiten Wolfgang Bogensberger, Die EU-Verfassung nimmt das Strafrecht in die Pflicht, Journal für Strafrecht 2005/3, S. 73 ff.

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schutzeinrichtungen gegenüber der Vollziehung bei unzähligen grenzüberschreitenden Lebens- und Wirtschaftsaktivitäten. Hier geht es nicht nur um die Aufsicht gegenüber den europäischen Agenturen, sondern vor allem um Rechtsschutz gegenüber den grenzüberschreitend agierenden und kooperierenden nationalen Verwaltungen, nehmen doch die Fälle europäischer Behördenkooperation rapide zu. Hier geht es nicht um Probleme der Sicherheitsverwaltung (wie z. B. die Zurverfügungstellung von Informationen aus Hooligan-Dateien u. ä.). Teilweise haben nationale Behörden auch Befugnisse im EU-Ausland (wie z. B. die nationale Finanzmarktaufsicht gegenüber einer ausländischen Filiale einer inländischen Bank), die erforderlichenfalls mit Amtshilfe der dortigen Behörden durchgesetzt werden. Das rasch wachsende europäische Amtshilferecht – zumeist nur geregelt in unmittelbaren Behördenübereinkommen, sogenannte Memoranda of Understanding – regelt zwar Zuständigkeiten und Modalitäten, zeigt aber keine parallele Entwicklung eines ausreichenden europäischen Rechtsschutzes. Notwendig wäre daher eine Art neues „Internationales Verwaltungsrecht“ (im Sinne eines interlokalen Verwaltungsrechts im Rahmen der EU), das klar besagt, gegenüber welchen Handlungsformen und wo Rechtsschutz gesucht werden kann. Ein großer Fächer von Problemen konnte nur im Überblick aufgezeigt werden. Aber eines konnte damit gewiss gezeigt werden: Der Rechtsstaat steht immer auf der Probe.

Entwicklungsperspektiven des Rechtsstaates: Europäisierung und Internationalisierung eines staatsrechtlichen Leitbegriffs Karl-Peter Sommermann I. Die wachsende Diffusion der Begriffe „Rechtsstaat“ und „rule of law“ „Der Begriff der Rule of Law dient als Schlagwort in der internationalen juristischen Diskussion. Er wird leichter verwendet als verstanden.“ So lautet die zugespitzte Lagebeschreibung von Detlef Merten in seinem im Jahr 2003 in der österreichischen Zeitschrift für Öffentliches Recht erschienenen Aufsatz „Rule of Law am Scheideweg von der nationalen zur internationalen Ebene?“1, der deutschen Fassung seines im Jahr 2001 auf dem 25. Internationalen Kongress der Verwaltungswissenschaften gehaltenen Vortrags „The Rule of Law at the crossroads of the national to the international level“. Die wachsende Verbreitung oder Diffusion2 der Begriffe rule of law bzw. Rechtsstaat seit Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts, also in den letzten 15 Jahren, ist in der Tat frappierend. Nachdem der Rechtsstaat als Begriff und Rechtsprinzip in den siebziger Jahren auch in die Verfassungen der iberischen Staaten Eingang gefunden hatte (Estado de direito bzw. Estado de Derecho),3 anschließend in die Verfassunggebung in anderen Erdteilen, insbesondere der lateinamerikanischen Staaten,4 war es Anfang der neunziger Jahre für die ehemals sozialistischen Transformationsländer Mittel- und Osteuropas bereits eine Selbstverständlichkeit, ihr Bekenntnis zum freiheitlichen Verfas1 Detlef Merten, Rule of Law am Scheideweg von der nationalen zur internationalen Ebene, in: ZÖR 58 (2003), S. 1, 2. 2 Zum Diffusionsbegriff in der Rechtsvergleichung näher Christoph Knill/Florian Becker, Divergenz trotz Diffusion? Rechtsvergleichende Aspekte des Verhältnismäßigkeitsprinzips in Deutschland, Großbritannien und der Europäischen Union, in: Die Verwaltung 36 (2003), S. 447 ff. 3 Vgl. Art. 2 der portugiesischen Verfassung von 1976 und Art. 1 Abs. 1 der spanischen Verfassung von 1978; deutsche Übersetzung der beiden Verfassungen bei A. u. C. Kimmel (Hrsg.), Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl., München 2005, S. 593 ff. und 789 ff. 4 Vgl. die Nachweise bei Karl-Peter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997, S. 206.

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sungsstaat auch durch die Aufnahme einer Rechtsstaatsklausel in ihren Verfassungen zum Ausdruck zu bringen.5 Vor allem aber haben die Begriffe rule of law und Rechtsstaat seit den neunziger Jahren einen erheblichen Bedeutungszuwachs in der internationalen Diskussion erfahren, und zwar nicht nur in Bezug auf Vorgaben für die nationalen Rechtsordnungen, sondern auch im Hinblick auf die innere Ordnung der internationalen bzw. supranationalen Organisationen sowie die Gestaltung der internationalen Beziehungen als solcher.6 Fast scheint es, dass jedes neu geschaffene Rechtsregime, dem nicht nur technische Bedeutung beigelegt wird, durch das Attribut der Rechtsstaatlichkeit geadelt werden müsse. In der französischen Staatsrechtslehre, die in den letzten Jahren mehrere größere Veröffentlichungen zum État de droit hervorgebracht hat,7 wird von einem Rechtsstaatskult, „culte de l’État de droit“ gesprochen, der für Politiker eine willkommene Legitimations- und Autoritätsressource bilde.8 Und Luc Heuschling schreibt in seiner im Jahr 2002 erschienenen Monographie „État de droit – Rechtsstaat – Rule of law“ zum Begriff des Rechtsstaats:9 „Volatil – il est dans l’air du temps et sur toutes les lèvres –, le vocable se fait fuyant et insaisissable.“ Eine genauere Betrachtung der Diffusion der Begriffe Rechtsstaat bzw. rule of law muss sich zunächst mit der Frage der Kongruenz bzw. Inkongruenz der in unterschiedlichen historischen Kontexten gewachsenen Begriffe „rule of law“, „Rechtsstaat“ bzw. „État de droit“ befassen (II.), ehe nach der Bedeutung der synonymen Verwendung in der internationalen Rechtspraxis und im internationalen Diskurs gefragt wird (III.), um schließlich die Rückwirkungen der Internationalisierung des Konzepts auf die nationale Verfassungsordnung zu erörtern (IV.).

5 Nachweise ebd., S. 206 f. Detlef Merten hat in diesem Sinne festgestellt, dass der Rechtsstaat „heute als staatliches Strukturprinzip und normative Verfassungsaussage beinahe zum ,Pflichtteil‘ moderner Konstitutionen“ gehöre; siehe ders., Zum Rechtsstaat des Grundgesetzes, in: P. Haungs/K. M. Graß/H. Maier/H.-J. Veen (Hrsg.), CIVITAS – Widmungen für Bernhard Vogel zum 60. Geburtstag, Paderborn u. a. 1992, S. 255. 6 Vgl. etwa René Foqué, Global Governance and the Rule of Law. Human Rights and General Principles of Good Global Governance, in: K. Wellens (Hrsg.), International Law: Theory and Practice. Essays in Honour of Eric Suy, The Hague u. a. 1998, S. 25 ff. 7 Vgl. insbesondere Marie-Joëlle Redor, De l’État légal à l’État de droit, Paris 1992; Marc Loiselle, Le concept d’État de droit dans la doctrine juridique française, Diss. Paris 2, 2000; Olivier Jouanjan (Hrsg.), Figures de l’État de droit, Strasbourg 2001 (mit historischen Analysen zum deutschen Rechtsstaatsverständnis); Luc Heuschling, État de droit, Rechtsstaat, rule of law, Paris 2002; Eric Caprano, État de droit et droits européens, Paris 2005. 8 Jacques Chevallier, L’État de droit, 2. Aufl., Paris 1994, S. 7. 9 Heuschling (Anm. 7), S. 1.

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II. Die Fusion von Rechtsstaat und Rule of Law Die Unterschiede zwischen rule of law und Rechtsstaat sind in der Vergangenheit immer wieder betont worden. Nicht zu bestreiten ist, dass beide Konzepte sich in sehr unterschiedlichen kulturellen und politischen Kontexten entwickelt haben und schon daher die ihnen gemeinsamen Gegenstände unterschiedlich akzentuieren. Der materielle Fluchtpunkt ist in beiden Fällen der Schutz der individuellen Freiheit, gleich ob man diese als zentrales Element des Konzeptes selbst oder als äußeren funktionalen Parameter der organisatorischen, prozeduralen und sonstigen formellen Komponenten versteht.10 In der angelsächsischen Tradition ist bis heute das Verständnis von Albert Venn Dicey maßgebend. In seinem im Jahre 1885 in erster Auflage erschienenen Werk zum britischen Verfassungsrecht hob er zum einen wie kein anderer Autor vor ihm die Sovereignty of Parliament als Hauptcharakteristikum der englischen Verfassungsordnung hervor11, zum anderen identifizierte er drei Bedeutungsschichten der rule of law:12 Erstens bedeute sie den absoluten Vorrang des ordentlichen Rechts vor Rechtsakten der Verwaltung und schließe Willkür, Vorrechte und weite Ermessungsspielräume der staatlichen Gewalt aus; ein Engländer dürfe allein wegen einer durch ein ordentliches Gericht festgestellten Verletzung des Rechts bestraft werden.13 Zweitens bedeute sie die Gleichheit vor dem Recht, d. h. die gleiche Unterwerfung aller Bürger, einschließlich der Staatsdiener, unter das ordentliche Recht, dessen Anwendung durch ordentliche Gerichte überwacht werde. Drittens schließlich bezeichne die rule of law die Tatsache, dass in England „das Verfassungsrecht, d. h. die Regeln, die in anderen Ländern üblicherweise in einer geschriebenen Verfassung enthalten sind,

10 Auch Detlef Merten, der einen rein formellen Rechtsstaatsbegriff vertritt (vgl. insbesondere dens., Rechtsstaat und Gewaltmonopol, Tübingen 1975, S. 10 ff.), erblickt in der Freiheit ein die Strukturprinzipien prägendes „Staatsfundamentalprinzip“, vgl. dens., Freiheit als Staatsfundamentalprinzip, in: R. Jacobs/H.-J. Papier/P.-K. Schuster (Hrsg.), Festschrift für Peter Raue zum 65. Geburtstag, Köln u. a. 2006, S. 233– 245. Sein formelles Rechtsstaatsverständnis ist vor allem von der Sorge getragen, dass „[m]aterielle Kriterien . . . zum Trojanischen Pferd für den Rechtsstaat werden“ (Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 19). Diese Gefahr besteht freilich nicht, wenn man die materielle Komponente des Rechtsstaates in Übereinstimmung mit der Ideengeschichte in dem Schutz der Menschenwürde und der individuellen Freiheit erblickt. Vgl. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen (Anm. 4), S. 211 ff.; ders., Art. 20 GG, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/Ch. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., München 2005, S. 94 ff. (Rdnrn. 231 ff.). 11 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 8. Aufl., London 1915. Der erste Satz des Buches (S. 3) lautet: „The sovereignty of Parliament is (from a legal point of view) the dominant characteristic of our political institutions.“ 12 Ebd., S. 120 f. 13 Vgl. auch ebd., S. 110.

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nicht die Quelle, sondern die Folge der Individualrechte sind, wie sie von den Gerichten definiert und durchgesetzt werden“. Die starke Betonung der prozeduralen Dimension, der die Durchsetzung der Rechte des Einzelnen sichernden Instrumente, kommt in der Feststellung zum Ausdruck:14 „The Habeas Corpus Acts declare no principles and define no rights, but they are for practical purposes, worth a hundred constitutional articles guaranteeing individual liberty.“ Die dadurch vorgenommene Abgrenzung gegenüber den kontinentalen Verfassungsordnungen besitzt freilich – unabhängig von der bereits damals unterschätzten Jurisdiktionalisierung des Rechtsstaates auf dem Kontinent – spätestens seit der Verabschiedung des Human Rights Act im Jahre 199815 durch das englische Parlament keine Gültigkeit mehr. Durch dieses Gesetz wurde zugleich eine Verfassungsdebatte beendet, in der die Bedeutung kodifizierter Rechte für einen effektiven Grundrechtsschutz lange in Zweifel gezogen worden war. Der Human Rights Act, durch den die wesentlichen Teile der Europäischen Menschenrechtskonvention in nationales Recht gegossen wurden,16 ist freilich auch als Reaktion auf immer wieder aufgetretene Verurteilungen des Vereinigten Königreichs durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu sehen.17 An der längst auch auf dem Kontinent verbreiteten Einsicht, dass die Bereitstellung effektiver Schutzinstrumente für die Verwirklichung der Grundrechte entscheidend ist, ändert dies nichts. Im Gegenteil: die Europäische Menschenrechtskonvention selbst statuiert justizielle Garantien, die im Sinne einer Interpretation der Konvention als instrument vivant18 immer wieder dynamisch auf Perfektionierung der nationalen Justizsysteme drängen. Genannt sei aus jüngerer Zeit nur das Urteil „Kudla“19 und des-

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Ebd., S. 118. Human Rights Act 1998 vom 9.11.1998, Acts of Parliament 1998 Chapter 42; das Gesetz trat in allen Teilen am 2.10.2000 in Kraft. 16 Zum Human Rights Act näher Rainer Grote, Die Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, in: ZaöRV 58 (1998), S. 309–352; Ian Loveland, Incorporating the European Convention on Human Rights into UK Law, in: Parliamentary Affairs: Journal of Comparative Politics 52 (1999), S. 113–127; Dawn Oliver, Constitutional Reform in the UK, Oxford 2003, S. 112 ff.; John Wadham/Helen Mountfield/Anna Edmundson, The Human Rights Act 1998, Oxford 2003; Nevil Johnson, Reshaping the British Constitution. Essays in Political Interpretation, Houndmills u. a. 2004, S. 237–260. 17 Vgl. A. W. Bradley/K. D. Ewing, Constitutional and Administrative Law, 14. Aufl., Harlow u. a. 2007, S. 429 ff.; siehe auch Karl-Peter Sommermann, Der Schutz der Menschenrechte im Rahmen des Europarates, Speyer 1990, S. 29 f. 18 Vgl. bereits das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 25.4.1978 im Fall „Tyrer“, Series A Nr. 26, § 31. 19 „Kudla gegen Polen“, Urteil vom 26.10.2000 (30210/96), ECHR 512, in deutscher Übersetzung abgedruckt in: NJW 2001, S. 2694 ff. Von den nachfolgenden Urteilen vgl. insbesondere das Urteil „Sürmeli gegen Deutschland“ vom 8.6.2006 (75529/01), in deutscher Übersetzung abgedruckt in: NJW 2006, S. 2389 ff. 15

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sen Konsequenzen für das nationale Prozessrecht.20 Im Übrigen hat sich auch die Justiz des Vereinigten Königreichs keineswegs als über jeden Zweifel der Konventionskonformität erhaben gezeigt. Anders als in England, wo – wie Julius Hatschek in seinem vor hundert Jahren erschienenen „Englischen Staatsrecht“21 schreibt – die Glorious Revolution „im Interesse der Freiheit des Individuums“ den zentralen Verwaltungsapparat niedergerissen habe, war die Rechtsstaatsidee in Deutschland im Ausgangspunkt auf eine Weiterentwicklung, nicht auf eine Zerschlagung der bestehenden staatlichen Ordnung gerichtet. In seiner zuerst 1832/34 erschienenen „Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates“ schrieb Robert von Mohl allerdings durchaus mit transformativem, nicht zuletzt auf die Beseitigung der verbliebenen standesrechtlichen Hindernisse gerichteten Impetus, ein Rechtsstaat könne keinen anderen Zweck haben, als den: „das Zusammenleben des Volkes so zu ordnen, dass jedes Mitglied desselben in der möglichst freien und allseitigen Übung seiner sämtlichen Kräfte unterstützt und gefördert werde“22. Aus diesem Freiheitsziel, welches – wie das Zitat zeigt – jedenfalls bei Robert von Mohl keineswegs auf die Schaffung eines bloßen Nachtwächterstaates gerichtet war, sondern bereits Anklänge an einen sozialen Rechtsstaat im Sinne eines „Enabling State“ (nicht „Welfare State“) aufweist,23 ergeben sich Konsequenzen für die Staatsorganisation und für die Modalitäten des Staatshandelns. Die notwendige Neugestaltung der Staatsordnung konnte dabei auf Ansätze im aufgeklärten Absolutismus, wie sie insbesondere im Allgemeinen Preußischen Landrecht in einer Kodifikation Gestalt gewonnen hatten, aufbauen.24 Insbesondere wurde schrittweise der Vorbehalt des Gesetzes zum Vorbehalt des Parlamentsgesetzes ausgebaut. Detlef Merten hat treffend von der Parlamentarisierung des Rechtsstaats gesprochen.25 Die dogmatische Ausgestaltung des Rechtsstaatsprinzips übte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit auf die liberale 20 Vgl. dazu Gabriele Britz/Denise Pfeifer, Rechtsbehelf gegen unangemessene Verfahrensdauer im Verwaltungsprozeß, in: DÖV 2004, S. 245 ff.; Volker Vorwerk, Kudla gegen Polen – Was kommt danach?, in: JZ 2004, S. 553 ff. 21 Julius Hatschek, Englisches Staatsrecht mit Berücksichtigung der für Schottland und Irland geltenden Sonderheiten, Bd. 1, Tübingen 1905, S. 1. 22 Robert von Mohl, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, 2. Aufl., Bd. 1, Tübingen 1844, § 2 (auf S. 8). 23 Zum Begriff des „Enabling State“ siehe Neil Gilbert/Barbara Gilbert, The Enabling State. Modern Welfare Capitalism in America, New York/Oxford 1989. Vgl. im Übrigen Sommermann, Art. 20 GG (Anm. 10), S. 50 f. (Rdnr. 113). 24 Vgl. Detlef Merten, Friedrich der Große und Montesquieu. Zu den Anfängen des Rechtsstaats im 18. Jahrhundert, in: W. Blümel/D. Merten/H. Quaritsch (Hrsg.), Verwaltung im Rechtsstaat. Festschrift für Carl Hermann Ule, Köln u. a. 1987, S. 187– 208; ders., Zum Rechtsstaat des Grundgesetzes (Anm. 5), S. 260 ff. 25 Detlef Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, Berlin 1978, S. 13: „. . . Entwicklung des Rechtsstaats zum parlamentarischen Rechtsstaat . . .“

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Verfassungsrechtslehre anderer Länder, insbesondere Frankreichs, eine große Anziehungskraft aus. Vor allem aber war es schließlich die als Gegenentwurf zum Totalitarismus konzipierte rechtsstaatliche Verfassungsordnung der Bundesrepublik und ihre Konkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht, die Vorbildwirkung entfaltete. Die starke Assimilation, aber auch die eigenständige Tradition des Rechtsstaatskonzepts in Frankreich, anknüpfend an die konzeptionellen Debatten der Dritten Republik, die namentlich durch die teilweise gegenläufigen Konzepte von Léon Duguit, Maurice Hauriou und Raymond Carré de Malberg26 geprägt waren,27 zeigt sich an der Tatsache, dass man seit geraumer Zeit die Urheberschaft der verfassungsrechtlichen Minimaldefinition des Rechtsstaates für den französischen Konstitutionalismus reklamiert.28 Ohne den Begriff „Rechtsstaat“ gebraucht zu haben, statuiere Artikel 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 178929, die bekanntlich heute noch geltendes Verfassungsrecht ist,30 die entscheidenden Begriffsmerkmale: „Eine Gesellschaft, in der weder die Gewährleistung der Rechte gesichert, noch die Gewaltenteilung festgelegt ist, hat keine Verfassung.“31 Die Garantie der Grundrechte und die Gewaltenteilung, d.h. die Verhinderung von Machtkonzentration, bilden in der Tat den Kern der materiellen und formellen Rechtsstaatlichkeit.32 Weitere Grundsätze, die funktional auf die Frei26 Raymond Carré de Malberg, Contribution à la Théorie générale de l’État, Bd. 1, Paris 1920, S. 488 ff., stellte dem Rechtsstaat (État de droit), der aus seiner Sicht vor allem durch wirksamen Individualrechtsschutz gekennzeichnet ist, den Gesetzesstaat (État légal) gegenüber, der die französische Verfassungsordnung präge. 27 Vgl. Heuschling (Anm. 7), S. 376 ff.; Philippe Raynaud, Des droits de l’homme à l’État de droit, in: Droits – Revue française de Théorie juridique 1985, Nr. 2, S. 61– 73; vgl. auch Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen (Anm. 4), S. 47 f. (mit Fn. 128), 85 ff., 209 f. (mit Fn. 549). 28 Vgl. Constance Grewe/Hélène Ruiz Fabri, Droits constitutionnels, Paris 1995, S. 22 ff., insbesondere S. 25 ff.; Olivier Duhamel, Droit constitutionnel et politique, Paris 1994, S. 69; vgl. bereits Carré de Malberg (Anm. 26), S. 489 (mit Fn. 5). 29 Abgedruckt z. B. bei Jacques Godechot, Les Constitutions de la France depuis 1789, Paris 1979, S. 33 ff.; deutsche Übersetzung der Erklärung von 1789 bei Kimmel (Anm. 3), S. 191 ff. 30 Mit seiner Grundsatzentscheidung vom 16.7.1971 (Liberté d’association), Journal Officiel vom 18.7.1971, S. 7114, erkennt der Conseil Constitutionnel den Text der Präambel und damit auch die dort in Bezug genommene Erklärung von 1789 als bindendes Verfassungsrecht an. 31 „Toute société dans laquelle la garantie des droits n’est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n’a point de constitution.“ 32 Vgl. Hans-Jürgen Papier, Gewaltentrennung im Rechtsstaat, in: D. Merten (Hrsg.), Gewaltentrennung im Rechtsstaat. Zum 300. Geburtstag von Charles de Montesquieu, Berlin 1989, S. 95; näher Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl., Heidelberg 2004, § 26, S. 541, 565 ff.; Sommermann, Art. 20 GG (Anm. 10), S. 81 ff. (Rdnr. 197 ff.); zur zentralen Bedeutung der Gewaltentrennung für das Konzept der rule of law vgl. nur Ian Loveland, Constitutional Law, Administrative Law, and Human Rights, 4. Aufl., Oxford 2006, S. 56 ff.

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heitssicherung und Rechtswahrung bezogen sind, treten hinzu, so die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Erfordernisse der Rechtssicherheit, das Willkürverbot, die Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns und wirksamer Rechtsschutz. Folgerichtig hat auch der Conseil constitutionnel schließlich vor zehn Jahren – mangels einer ausdrücklichen Verfassungsgarantie – aus dem zitierten Artikel 16 der Erklärung von 1789 ein Recht auf effektiven Rechtsschutz hergeleitet.33 Mit den genannten Prinzipien nähert man sich auch dem weithin konsensfähigen Inhalt dessen, was in der internationalen Debatte mit Bezug auf die nationalen Verfassungsordnungen als Rechtsstaat oder eben auch als rule of law verstanden wird.34 Dieser Befund ist nicht allein aus der prägenden Dogmatik der europäischen, insbesondere deutschen Staatsrechtslehre zu erklären, sondern auch aus dem, was man die „Funktionslogik“ freiheitlicher Staatswesen bezeichnet hat.35 Prinzipien wie die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Rechtssicherheit, effektive Kontrolle durch unabhängige Gerichte und ein faires Verfahren sind – jedenfalls nach heutigen Erkenntnissen – für ein auf Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit aufbauendes Gemeinwesen unverzichtbar.36 Für die Verständigung über die Prinzipien des Freiheitsschutzes bedarf es in einer Welt, die durch die Integration von Staaten und ein dichtes Netz transnationaler Rechtsbeziehungen geprägt ist, gemeinsamer Begriffe, die über Sprachund Kulturgrenzen Brücken schlagen.37 Die Begriffe rule of law und Rechtsstaat standen in der Rechtssprache und in der Rechtswissenschaft lange nur in 33 Vgl. die Entscheidungen des Conseil Constitutionnel Nr. 96-373 DC vom 9.4.1996 (dort heißt es in Erwägungsgrund 83 hinsichtlich Art. 16 der Erklärung, „qu’il résulte de cette disposition qu’en principe il ne doit pas être porté d’atteintes substantielles au droit des personnes intéressées d’exercer un recours effectif devant une juridiction“), Nr. 99-416 DC vom 23.7.1999 und Nr. 2000-437 DC vom 19.12.2000. Siehe aus der jüngsten Rechtsprechung insbesondere die Entscheidung Nr. 2006-540 DC vom 27.7.2006, wo es in den Erwägungsgründen heißt: „. . . Considérant qu’aux termes de l’article 16 de la Déclaration de 1789: ,Toute société dans laquelle la garantie des droits n’est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n’a point de Constitution‘, que sont garantis par cette disposition le droit des personnes intéressées à exercer un recours juridictionnel effectif, le droit à un procès équitable, ainsi que les droits de la défense lorsqu’est en cause une sanction ayant le caractère d’une punition . . .“ 34 Vgl. etwa die Zusammenfassung bei Thomas Carothers, The Rule of Law Revival, in: Foreign Affairs 77 (1998), Nr. 2, S. 95, 96, sowie Rachel Kleinfeld, Competing Definitions of the Rule of Law, in: T. Carothers (Hrsg.), Promoting the Rule of Law Abroad, Washington (D.C.) 2006, S. 31 ff. 35 Erhard Denninger, Recht in globaler Unordnung, Berlin 2005, S. 115. 36 Vgl. zu einer entsprechenden funktionalen Rekonstruktion des Rechtsstaates Karl-Peter Sommermann, Verwaltung im Rechtsstaat, in: K. König (Hrsg.), Deutsche Verwaltung an der Wende zum 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2002, S. 97, 101 ff. 37 Vgl. dazu aus methodologisch-rechtsvergleichender Sicht Constance Grewe, Entre la tour de Babel et l’Esperanto: Les problèmes du (des) langage(s) du droit comparé, in: M. Baudrez/T. Di Manno (Coord.), Liber Amicorum Jean-Claude Escarras. La communicabilité entre les systèmes juridiques, Bruxelles 2005, S. 115, 119 ff.

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einem Verhältnis friedlicher Koexistenz, bis der Druck zur Schaffung anschlussfähiger, verbindender Grundkonzepte zu einer Verschmelzung beider Begriffe in der internationalen Rechtssprache führte. Zu den frühen Zeugnissen einer Gleichsetzung der Begriffe gehört das Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofes vom 4. Dezember 1935 über die Vereinbarkeit bestimmter Danziger Verordnungen mit der Verfassung der Freien Stadt Danzig. In dem Gutachten wird der Begriff „Rechtsstaat“ im Englischen mit „State governed by the Rule of Law“ und im Französischen, semantisch übereinstimmend, mit „État de Droit“ übersetzt.38 In den völkerrechtlichen Rechtsinstrumenten der Nachkriegszeit wurde der Begriff der rule of law, wie er in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte39, aber auch in der Satzung des Europarats40 und in der Präambel der Europäischen Menschenrechtskonvention41 verwandt wurde, jedoch nicht mit Rechtsstaat oder „État de droit“, sondern mit „Vorherrschaft des Rechts“ bzw. „Vorherrschaft des Gesetzes“, mit „prééminence du droit“ übersetzt. Die Fusion der Begriffe zu einem im internationalen Sprachgebrauch einheitlichen Konzept wurde maßgeblich durch die Internationale Juristenkommission befördert,42 die seit der Erklärung von Athen im Jahr 195543 die Begriffe synonym verwendet. In dieser Erklärung bekennen sich Juristen aus 48 Ländern der Welt zur „Rechtsstaatlichkeit, die auf den Grundrechten des Menschen beruht, die sich im Laufe der Geschichte im ständigen Kampf der Menschheit um die Freiheit herausgebildet haben“. Schließlich hat sich seit Anfang der 90er Jahre die synonyme Verwendung der Begriffe in völkerrechtlichen Rechtsinstrumenten und internationalen Dokumenten durchgesetzt, nicht zuletzt in Europa. Der Maastrichter Unionsvertrag von 199244 verwendet in der Präambel und in seinem operativen Teil die Begriffe gleichbedeutend. Im Text des Verfassungsvertrages45 hat die Normierung des Leitbegriffs „Rechtsstaat/rule of 38 „Compatibilité de certains décrets-lois Dantzikois avec la constitution de la ville libre“, Avis consultatif du 4 décembre 1935, série A/B, fasc. nº 65, S. 39, 54. 39 Resolution 217 (III) A, GAOR 3rd session, Resolutions, S. 71, und Yearbook of the United Nations 1948–89, S. 535. 40 Satzung des Europarats vom 5.5.1949 (BGBl. 1950, S. 263), neu bekannt gemacht am 30.11.1954 (BGBl. 1954 II, S. 1126, 1128). 41 BGBl. 1952 II, S. 686. 42 Vgl. Karl-Peter Sommermann, The Rule of Law and Public Administration in a Global Setting, in: The International Institute of Administrative Sciences (Ed.), Governance and Public Administration in the 24th Century: New Trends and New Technics, Brüssel 2002, S. 67, 70 f. 43 Die Erklärung ist abgedruckt in: International Commission of Jurists, The Rule of Law and Human Rights – Principles and Definitions, Genf 1966, S. 65 f.; in deutscher Fassung in: Internationale Juristenkommission, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte – Grundsätze und Definitionen, Genf 1967, S. 87. 44 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft i. d. F. des Vertrags über die Europäische Union vom 7.2.1992, BGBl. 1992 II, S. 1253, 1256, zuletzt geändert durch den Vertrag von Nizza vom 21.2.2001, BGBl. 2001 II, S. 1667, 1671. 45 Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl. C 310 vom 16.12.2004, S. 1.

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law“ bereits Normalität erlangt. Allerdings wirft die Einordnung der „Rechtsstaatlichkeit“ in den Katalog der „Werte der Union“ (Art. I-2), und zwar neben der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und der Wahrung der Menschenrechte, Fragen auf. Finden doch die vom EuGH anerkannten rechtsstaatlichen Prinzipien wie beispielsweise die Grundsätze der Bestimmtheit,46 des Vertrauensschutzes47 oder der Verhältnismäßigkeit48 ihre Sinndeutung durch den Schutz von Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit, ohne dass sie sich damit selbst zu Werten wandelten. Nur soweit die genannten Werte im Sinne eines materiellen Rechtsstaatsverständnisses zu den integrierenden Bestandteilen eines Rechtsstaats selbst gerechnet werden, erscheint die Einordnung als „Wert“ nachvollziehbar. Der Sinn der in Art. I-2 vorgenommenen Differenzierung ließe sich dann freilich nur mit dem zweifelhaften Gesichtspunkt verstärkender Redundanz erklären.

46 Dazu Eva Hammer-Strnad, Das Bestimmtheitsgebot als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Europäischen Gemeinschaftsrechts, Hamburg 1999, S. 59 ff. 47 Vgl. dazu etwa die Urteile des EuGH vom 5.7.1973, Rs. 1/73, Slg. 1973, 723, 731, und vom 24.2.1987, Rs. 310/85, Slg. 1987, 901, 927 f. Zur Rechtsprechung des EuGH näher Klaus-Dieter Borchardt, Vertrauensschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: EuGRZ 1988, S. 309 ff.; Kyrill-Alexander Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip: eine Analyse des nationalen Rechts, des Gemeinschaftsrechts und der Beziehungen zwischen beiden Rechtskreisen, Baden-Baden 2002, S. 376 ff.; Sabine Altmeyer, Vertrauensschutz im Recht der Europäischen Union und im deutschen Recht: Analyse und Vergleich anhand der Rechtsprechung des EuGH und der deutschen Fachgerichte, Baden-Baden 2003, S. 11 ff.; rechtsvergleichend Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en droits allemand, communautaire et français, Paris 2001; zum Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die deutschen Vertrauensschutzregelungen näher Hermann-Josef Blanke, Vertrauensschutz im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, Tübingen 2000, S. 445 ff. 48 Vgl. aus der Rechtsprechung des EuGH etwa das Urteil vom 5.5.1998, Rs. C180/96, Slg. 1998 I-2265, 2297 (Ziff. 96): „Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört, dürfen Handlungen der Gemeinschaftsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen die verursachten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen . . .“. Zur Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung des EuGH vgl. im Übrigen Diana-Urania Galetta, El principio de proporcionalidad en el Derecho comunitario, in: Cuadernos de Derecho Publico 5 (1998), S. 75 ff.; Eckhard Pache, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften, in: NVwZ 1999, S. 1033 ff.; Oliver Koch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Berlin 2003. Zur Ausformung der rechtsstaatlichen Prinzipien im Gemeinschaftsrecht vgl. im Übrigen Rainer Hofmann, Rechtsstaatsprinzip und Europäisches Gemeinschaftsrecht, in: ders./J. Marko/F. Merli/E. Wiederin (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit in Europa, Heidelberg 1996, S. 321 ff.; Delf Buchwald, Zur Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Union, in: Der Staat 37 (1998), S. 189 ff.; María Luisa Fernández Esteban, The Rule of Law in the European Constitution, Den Haag u. a. 1999, S. 153 ff.

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III. Inhalte und Anwendungsbereiche einer internationalisierten Rule of Law Trotz der festgestellten Fusion der Begriffe im völkerrechtlichen Sprachgebrauch sowie im Rahmen der Europäischen Union darf somit auch heute – was die einleitend zitierte Bemerkung von Detlef Merten zu Recht hervorhebt – keineswegs von einer feststehenden Verwendung der Begriffe im internationalen Sprachgebrauch ausgegangen werden. Immer noch sind die Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und rule of law stark von nationalen Vorverständnissen geprägt;49 ein so ausgefeiltes oder hypertrophes Rechtsstaatsverständnis wie das deutsche, für das eine Analyse der Rechtsprechung und des Schrifttums 142 Subprinzipien bzw. Elemente ergeben hat,50 findet man dabei bislang in keiner Rechtskultur. Zu unterscheiden ist zudem zwischen dem rechtlichen und dem staatstheoretischen oder auch politischen Gebrauch der Begriffe sowie nach dem fachlichen Kontext. Wenn beispielsweise die Bundesregierung seit einigen Jahren mit der Volksrepublik China einen „Rechtsstaatsdialog“ pflegt, so sollte mit dem Thema „Rechtsstaat“ ein weiter Rahmen umrissen werden, in dem sowohl Fragen wie die Reform des Handels- und Wirtschaftsrechts, das Sozialrecht als auch die Korruptionsbekämpfung oder die Justizreform Platz haben.51 Mit der Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses von Rechtsstaatlichkeit hat dies nur sehr entfernt zu tun, zumal an eine wechselseitige Annäherung rechtsstaatlicher Standards naturgemäß nicht gedacht sein kann und aus deutscher verfassungsrechtlicher Perspektive nicht gedacht werden dürfte. Der Dialog kann sich indes auf die Vermittlung der Vorstellungen und Erwartungen, die mit rechtsstaatlichen Grundsätzen der freiheitlichen Verfassungsstaaten verbunden werden, beziehen, nicht zuletzt mit Blick auf die Schaffung rechtsstaatlicher Rahmenbedingungen für Investoren.52 Soweit der Begriff rule of law bzw. Rechtsstaat in Rechtstexten gebraucht wird, liegt ihm häufig ein entsprechend enges Verständnis zugrunde. Im Rahmen der Weltbank etwa stehen gemäß der Zielsetzung dieser Organisation Grundsätze wie die Rechtssicherheit und das Funktionieren der öffentlichen Institutionen im Vordergrund.53 Rechtsstaatlichkeit ist hier ein wesentliches Ele-

49 Vgl. nur die Beiträge in R. Hofmann (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit in Europa, Heidelberg 1996. Teilweise herrscht eine verengte Wahrnehmung des Rechtsstaatskonzepts vor; vgl. etwa Csaba Varga, Transition to Rule of Law. On the Democratic Transformation in Hungary, Budapest 1995, S. 159 ff. 50 Katharina Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, Tübingen 1997, S. 254 ff. 51 Vgl. Pressemitteilung des Bundesministeriums der Justiz vom 27.09.2005: Deutsch-Chinesischer Rechtsstaatsdialog: Neues Zweijahresprogramm unterzeichnet. 52 Zur Frage, ob die wirtschaftliche Zusammenarbeit in diesem Sinne notwendig zu einer politischen Liberalisierung führt, vgl. Gordon Silverstein, Globalization and the Rule of Law: „A Machine that Runs of Itself?“, in: I.CON 1 (2003), S. 427 ff.

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ment von Good Governance im Sinne der Institutionenökonomik.54 Im Rahmen der Systeme des internationalen Menschenrechtsschutzes und in der Europäischen Union werden die rechtsstaatlichen Grundsätze hingegen als Voraussetzungen eines wirksamen Grundrechtsschutzes betrachtet, so dass bei der weiteren Konkretisierung die Funktionslogik freiheitlicher Staaten leitend ist. Nicht ohne weiteres sind die Grundsätze des Rechtsstaats bzw. der rule of law auf das Handeln der internationalen bzw. supranationalen Organisationen selbst zu übertragen. Zunächst wirft die Interpretation des Wortes „Rechtsstaatlichkeit“, anders als die des Begriffs „rule of law“, deshalb ein Problem auf, weil Rechtsstaatlichkeit dem Wortlaut nach, aber auch konzeptionell einem Staat zugeordnet ist, so dass jenseits des Staates allenfalls funktionale Äquivalente zu den rechtsstaatlichen Prinzipien anzuerkennen wären. Dieser semantische Einwand lässt sich freilich durch den Verweis auf die jeweils autonome Interpretation des Rechtsstaatsbegriffs im internationalen Kontext zurückweisen.55 Denkbar wäre auch die Schaffung eines Parallelbegriffes für internationale Sachverhalte. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs deutet sich dazu ein Ansatz an, der namentlich über die englische Sprachfassung zu erschließen ist. So heißt es beispielsweise in dem Urteil des Gerichtshofes vom 25. Juli 2002 in der Rechtssache „Unión de Pequeños Agricultores“:56 „The European Community is, however, a community based on the rule of law in which its institutions are subject to judicial review of the compatibility of their acts with the Treaty and with the general principles of law which include fundamental rights.“ Wenn in der deutschen Fassung des Urteils davon die Rede ist, dass die Europäische Gemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft sei, in der die Handlungen ihrer Organe daraufhin kontrolliert werden, ob sie dem EG-Vertrag und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, zu denen auch die Grundrechte gehören, vereinbar sind, so assoziiert der Leser das Rechtsstaatsparadigma sehr viel schwächer. Immerhin kann man mit Blick auf die englische Fassung vermuten, dass das Gericht für die Gemeinschaft bzw. Union parallel zu dem national geprägten Begriff des Rechtsstaats den der Rechtsgemeinschaft verwenden will und mit diesem mehr als die Kohärenz der Gemeinschaft durch eine auf gemeinsamen grundlegenden Rechtsprinzipien beruhende Ordnung zum Ausdruck

53 Siehe vor allem World Bank, The State in a Changing World – World Development Report 1997. Zur Ausdifferenzierung der inhaltlichen Diskussion zur rule of law im Rahmen der Weltbank vgl. aber Gordon Barron, The World Bank and Rule of Law Reforms, LSE working Paper Series No. 05-70, London 2005, S. 11 ff. 54 Vgl. dazu Christian Theobald, Zur Ökonomik des Staates. Good Governance und die Perzeption der Weltbank, Baden-Baden 2000, S. 114 ff. 55 Vgl. entsprechend zur „autonomen Interpretation“ der Bestimmungen der EMRK Christoph Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl., München 2005, S. 37 ff. 56 Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677, 6734 (Rdnr. 38).

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bringen will.57 Unabhängig davon gehört zum acquis communautaire in der Sache bereits ein ausdifferenziertes System rechtstaatlicher Grundsätze, das in seinem Anwendungsbereich den rechtsstaatlichen Sicherungen der deutschen Verfassungsordnung durchaus vergleichbar ist; dennoch sind Konflikte im Einzelfall nicht ausgeschlossen. In den übrigen internationalen Institutionen sind die rechtsstaatlichen Strukturen und Leitprinzipien sehr viel geringer entwickelt. Zwar reicht ihre Kompetenzsphäre in keinem Falle an die der Europäischen Gemeinschaft heran, doch wirken sie immer stärker auf transnationale Rechtsbeziehungen ein. Sobald sie Befugnisse besitzen, mit denen sie unmittelbar oder für die zur Ausführung verpflichteten Staaten ohne Abweichungsmöglichkeit auf die Rechtssphäre der Bürger einwirken können, stellt sich die Frage nach rechtsstaatlichen Sicherungen besonders dringlich. In diesem Sinne musste bei der Ausgestaltung des Internationalen Strafgerichtshofs in besonderem Maße auf die Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien geachtet werden, sollte das Statut für rechtsstaatlich verfasste Staaten ratifizierungsfähig sein.58 Im Übrigen wird bei internationalen Organisationen, in „postnationalen Konstellationen“, wie ein Politikwissenschaftler unter Außerachtlassung der nach wie vor tragenden Rolle der Staaten formuliert hat,59 ein Gewinn an Rechtsstaatlichkeit vor allem in der Bereitstellung effektiver justizförmiger Verfahren zur Streitschlichtung gesehen. Die „Judizialisierung“ der Welthandelsorganisation im Hinblick auf internationale Handelsstreitigkeiten sowie auf die Genehmigung von Handelssanktionen wird in diesem Sinne als rechtsstaatlicher Fortschritt gewertet.60 IV. Internationalisierung der Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der nationalen rechtsstaatlichen Standards Der europäische und der internationale Rechtsstaatsdiskurs lassen das nationale Rechtsstaatsverständnis nicht unberührt. Auch die deutsche Rechtsordnung, 57 In diesem Sinne auch die Betrachtung des Gemeinschaftsrechts bei Karen J. Alter, Establishing the Supremacy of European Law. The Making of an International Rule of Law in Europe, Oxford 2001. 58 Vgl. insbesondere die allgemeinen strafrechtlichen Prinzipien der Art. 22 ff. des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17.7.1998, BGBl. 2000 II, S. 1393, sowie die ebenda in Art. 62 ff. niedergelegten Verfahrensprinzipien und Verfahrensrechte des Angeklagten. Die Rolle des Internationalen Strafgerichtshofs für die Förderung der Rechtsstaatlichkeit betonte der Rat der Europäischen Union in seinen Schlussfolgerungen zum Internationalen Strafgerichtshof vom 30.9.2002, Doc. 12488/1/02 Rev. 1, abgedruckt in: EuGRZ 2002, S. 665. 59 Bernhard Zangl, Die Internationalisierung der Rechtsstaatlichkeit. Streitbeilegung in Gatt und WTO, Frankfurt/New York 2006, S. 11, 237 ff., passim. 60 Vgl. Zangl (vorige Anm.), sowie ders., Das Entstehen internationaler Rechtsstaatlichkeit?, in: S. Leibfried/M. Zürn (Hrsg.), Transformation des Staates?, Frankfurt a. M. 2006, S. 123–150.

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deren Grundsätze sich in diesem Diskurs als besonders einflussreich erwiesen haben, hat sich unter dem Einfluss des Völkerrechts und des Europarechts weiterentwickelt. Dies lässt sich deutlich an der verfassungsgerichtlichen Auslegung des Rechtsstaatsprinzips im Lichte der justiziellen Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention zeigen,61 oder auch an einer Stärkung des Transparenzprinzips durch das europäische Gemeinschaftsrecht.62 Ein Absinken der rechtsstaatlichen Standards hat der verfassungsändernde Gesetzgeber in Deutschland durch die ausdrückliche Verpflichtung der auswärtigen Gewalt auf die Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze zu verhindern gesucht.63 Darauf ist insbesondere beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge zu achten, die interoder supranationalen Organen unmittelbare oder mittelbare Einwirkungsmöglichkeiten auf die Rechtspositionen des Einzelnen eröffnen. Nach den maßgeblichen Klauseln der Art. 23 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG muss, so das Bundesverfassungsgericht, die Zusammenarbeit mit der begründeten „Erwartung im Sinne einer Strukturentsprechung“ verbunden sein.64 Dass die derzeitige internationale Ordnung ein erhebliches rechtsstaatliches Risikopotential birgt, führen die vor dem Europäischen Gericht erster Instanz verhandelten Fälle „Yusuf“, „Kadi“ und „Ayadi“ vor Augen. In Ausführung einer Resolution des Sicherheitsrates aus dem Jahr 1999,65 die im Rahmen der Bekämpfung des internationalen Terrorismus verabschiedet worden war, hatte der Rat der Europäischen Union eine Verordnung erlassen, durch die Gelder und andere Finanzmittel, die den afghanischen Taliban gehören oder direkt oder indirekt ihrer Verfügungsgewalt unterstehen, eingefroren wurden.66 In seinen Urteilen vom 21. September 200567 bzw. 12. Juli 200668 betonte das Gericht 61

Vgl. BVerfGE 35, 311, 320; 74, 358, 370 ff.; 82, 106, 120, 125 f.; 110, 339,

342. 62 Vgl. Carsten Nowak, Informations- und Dokumentenzugangsfreiheit in der EU, in: DVBl. 2004, S. 272 ff.; Jürgen Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, Tübingen 2004, S. 319–370. 63 Vgl. das Erfordernis der Einhaltung „rechtsstaatlicher Grundsätze“ in Art. 23 Abs. 1 und 16 Abs. 2 Satz 2 GG. Art. 23 GG wurde durch Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21.12.1992 (BGBl. 1992 I, S. 2086) eingefügt, Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG durch Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 29.11.2000 (2000 I, S. 1633). 64 BVerfGE 113, 273, 299. 65 Resolution 1267 (1999) vom 15.10.1999, in deutscher Sprache abgedruckt in: Vereinte Nationen, Resolutionen und Beschlüsse des Sicherheitsrats 1999, New York 2001 (= S/INF/55), S. 162. 66 Verordnung (EG) Nr. 337/2000 vom 14.2.2000 (ABl. Nr. L 43, S. 1) mit nachfolgenden Verordnungen, insbesondere den Verordnungen (EG) Nr. 467/2001 vom 6.3.2001 (ABl. Nr. L 67, S. 1) und Nr. 881/2002 vom 27. Mai 2002 (ABl. Nr. L 139, S. 9). 67 Rs. T-306/01 (Ahmed Ali Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat) und Rs. T-315/01 (Yassin Abdullah Kadi/Rat). 68 Rs. T-253/02 (Chafiq Ayadi/Rat).

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den Vorrang der aus der Charta der Vereinten Nationen folgenden Verpflichtungen vor allen anderen Verpflichtungen des innerstaatlichen Rechts und des Völkerrechts und damit auch des Gemeinschaftsrechts. Daher unterlägen die Resolutionen des Sicherheitsrates grundsätzlich auch nicht der Kontrolle des Gerichts. Überprüfen könne es aber inzident die Rechtmäßigkeit der Sicherheitsratsresolutionen im Hinblick auf ius cogens, verstanden als internationaler Ordre public, der für alle Völkerrechtssubjekte einschließlich der Organe der Vereinten Nationen gelte und von dem nicht abgewichen werden dürfe.69 Die bestehende Rechtsschutzlücke verstoße vorliegend jedoch nicht gegen zwingendes Völkerrecht.70 Hat die Bundesrepublik Deutschland auf die Beschlüsse des Sicherheitsrats derzeit nur bedingt Einfluss, so kann sie die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Europäischen Union maßgeblich mitgestalten. Hier hat sie sich im Hinblick auf die in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union erreichten rechtsstaatlichen Standards mit der Zustimmung zum Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten71 für eine begrenzte Öffnung und damit eine Einschränkung des Verbots der Auslieferung entschieden. Doch liegt darin bislang nicht eine umfassende Anerkennung der Gleichwertigkeit oder Austauschbarkeit der nationalen Rechtsordnungen in Sachen Rechtsstaatlichkeit. Dies würfe zugleich ein Demokratieproblem auf. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts stellte in seinem Urteil vom 18. Juli 2005 über eine Verfassungsbeschwerde, mit der sich der sowohl die deutsche als auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzende Beschwerdeführer gegen eine drohende Auslieferung nach Spanien wandte, zunächst fest, dass die durch die Grundgesetzänderung erfolgte Öffnung72 nicht gegen die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG änderungsfesten Verfassungsprinzipien verstoßen habe.73 Es erklärte jedoch 69 Zur Anwendung der in Art. 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention für völkerrechtliche Verträge verankerten Regel auf Resolutionen des Sicherheitsrates vgl. aus dem früheren Schrifttum etwa Hans Köchler, Democracy and the International Rule of Law. Propositions for an Alternative World Order, Wien/New York 1995, S. 130 ff. 70 Wegen einer näheren Analyse der Entscheidungen vgl. Christian Tomuschat, Case Law – Court of Justice Case T 306/01, Ahmed Ali Yusuf and Al Barakaat International Foundation v. Council and Commission, in: Common Market Law Review 2006, S. 537 ff.; Markus Kotzur, Eine Bewährungsprobe für die Europäische Grundrechtsgemeinschaft. Zur Entscheidung des EuG in der Rs. Yusuf u. a. gegen Rat, in: EuGRZ 2006, S. 19 ff.; Kirsten Schmalenbach, Normentheorie vs. Terrorismus: Der Vorrang des UN-Rechts vor EU-Recht, in: JZ 2006, S. 349 ff.; Mehrdad Pajandeh, Rechtskontrolle des UN-Sicherheitsrates durch staatliche und überstaatliche Gerichte, in: ZaöRV 66 (2006), S. 41 ff. 71 ABl. Nr. L 190 vom 18.7.2002, S. 1. 72 Der Gesetzesvorbehalt zum Auslieferungsverbot in Art. 16 Abs. 2 GG wurde durch Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 29.11.2000 (BGBl. 2000 I, S. 1633) eingefügt. 73 BVerfGE 113, 273, 295 f.

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das Europäische Haftbefehlsgesetz74 für verfassungswidrig und nichtig, da der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses den den Mitgliedstaaten eingeräumten Regelungsspielraum nicht zur gebotenen Schonung der Grundrechte, insbesondere des Grundrechts auf Auslieferungsfreiheit sowie der Rechtsschutzgarantie, ausgeschöpft habe.75 Das Urteil ist eine deutliche Ermahnung an das Parlament, seine Kontrollfunktion und Umsetzungsverantwortung gerade im grundrechtsrelevanten Bereich weiter ernst zu nehmen.76, 77 V. Ausblick Die Europäisierung und Internationalisierung des Rechtsstaatsprinzips ist notwendiges Korrelat zur Internationalisierung vormals rein staatlicher Aufgaben und der daraus folgenden Internationalisierung des Verwaltungshandelns.78 Dieser Prozess fordert vor allem die freiheitlichen Verfassungsstaaten zu einer aktiven Mitwirkung an dem Rechtsstaatsdiskurs heraus. Als Staaten, die sich der internationalen Zusammenarbeit geöffnet haben, müssen sie im Interesse ihrer Bürger die rechtsstaatlichen Grundsätze nicht nur einsichtig machen und einer verkürzenden Banalisierung im internationalen Verständnis entgegenwirken, sondern in den von ihnen mit getragenen Rechtsregimen funktional äquivalent verankern und gemeinsam durchsetzen. Nur ein wirksamer Rechtsstaatsverbund kann letztlich eine Staatenintegration, die die Rechtsstellung der Bürger verändert, rechtfertigen. Nur so können die rechtsstaatlichen Errungenschaften, zu deren Verteidigung, Verdeutlichung und Schärfung der durch dieses Symposium Geehrte durch zahlreiche Veröffentlichungen maßgeblich beigetragen hat, auch auf überstaatlicher Ebene zur Geltung kommen.

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Europäisches Haftbefehlsgesetz vom 21.7.2004, BGBl. 2004 I, S. 1748. BVerfGE 113, 273, 299 ff. 76 Vgl. auch Christian Tomuschat, Ungereimtes – Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2005 über den Europäischen Haftbefehl, in: EuGRZ 2005, S. 453, 459, der eine über die Beanstandungen des Bundesverfassungsgerichts hinausgehende Überprüfung des Gesetzes fordert, und überdies das Fehlen parlamentarischer Kontrolle in dem zum Rahmenbeschluss führenden Entscheidungsverfahren kritisiert (ebd., S. 456: „Ganz offensichtlich haben aber in allen damals 15 Mitgliedstaaten die nationalen Parlamente versagt.“). 77 Mittlerweile wurde ein neues Haftbefehlsgesetz verabschiedet, das am 2.8.2006 in Kraft trat: Europäisches Haftbefehlsgesetz vom 20.7.2006, BGBl. 2006 I, S. 1721. 78 Dazu grundlegend Christian Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln, Berlin 2001. Vgl. aus jüngster Zeit Eberhard Schmidt-Aßmann, Die Herausforderung der Verwaltungsrechtswissenschaft durch die Internationalisierung der Verwaltungsbeziehungen, in: Der Staat Bd. 45 (2006), S. 315–338. 75

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Leistungsgrenzen und Finanzierung des Sozialstaats Hans-Jürgen Papier I. Einleitung Nach Jahrzehnten wachsender wirtschaftlicher Prosperität und einem damit einhergehenden stetigen Ausbau des Sozialstaats stößt unser Staatswesen heute an Finanzierungs- und Leistungsgrenzen. Der Sozialstaat befindet sich in einer Zeit des Umbruchs. Einem Umbruch, der den Gesetzgeber sowie Regierung und Verwaltung vor besondere Herausforderungen stellt. Der größte und wichtigste Teil der in Deutschland anstehenden Reformaufgaben betrifft zentrale Fragen der Sozialpolitik und der sozialstaatlichen Gesetzgebung. Auch um des Überlebens des Sozialstaates willen geht es um die Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit; es geht um die Anpassung der Altersversorgungssysteme an veränderte Erwerbsbiographien und an die demographische Entwicklung; und nicht zuletzt geht es um die Bewältigung akuter und zukünftiger Finanzierungsprobleme in fast allen Zweigen der Sozialversicherung und im gesamten Bereich des Gesundheitswesens. II. Das Sozialstaatsprinzip in der Verfassungsordnung Lassen Sie uns, bevor wir versuchen, den Problemen des Sozialstaats auf den Grund zu gehen, jedoch zunächst einmal fragen, was den deutschen Sozialstaat eigentlich ausmacht. Ich will dies aus der Perspektive des Verfassungsrechtlers tun und mit einem Blick auf den Begriff des „Sozialstaats“ beginnen. Insoweit möchte ich in Erinnerung rufen, dass das Grundgesetz an keiner Stelle die – ansonsten ja allgemein gebräuchliche – Wortverbindung „Sozialstaat“ verwendet. Das Adjektiv „sozial“ tritt vielmehr in Verbindung mit anderen Staatsstrukturprinzipien auf. So definiert Art. 20 Abs. 1 GG die Bundesrepublik Deutschland als einen „demokratischen und sozialen Bundesstaat“. Eine andere Bestimmung – Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG – spricht von den „Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates“. Der sogenannte Europa-Artikel 23 GG schließlich ermächtigt die Bundesrepublik dazu, an der Entwicklung der Europäischen Union mitzuwirken, die „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen“ verpflichtet ist. Dieser Zusammenhang zwischen dem sozialen Staatsziel und den übrigen

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Grundprinzipien ist kein Zufall. Er macht deutlich, dass das Sozialstaatsprinzip eingebunden ist in das System der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie, in die bundesstaatliche Verteilung der Aufgaben und Befugnisse und in die Formen und Verfahren der Rechtsstaatlichkeit. Nicht der „totale“ Sozialstaat, sondern die soziale Demokratie in den Formen des Rechtsstaats entspricht also unserer grundgesetzlichen Ordnung. Dieser Befund wird bestätigt und ergänzt durch einen zweiten Punkt: Das Grundgesetz verzichtet auf eine ausdrückliche nähere Präzisierung des Begriffes „sozial“. Das Grundgesetz enthält – anders als die Weimarer Reichsverfassung von 1919 – auch kein ausdrückliches soziales Programm, keine materielle Sozialverfassung. Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes zeichnet sich vielmehr durch eine relative inhaltliche Unbestimmtheit und Offenheit aus. Der Gesetzgeber verfügt also, wie das Bundesverfassungsgericht stets betont hat, über einen weiten Spielraum der Gestaltung und der Abwägung. Nichts anderes ergibt sich, wenn man den Blick auf die Grundrechtsbestimmungen der Verfassung richtet. Denn das Grundgesetz enthält keine sozialen Grundrechte im Sinne von unmittelbar in der Verfassung begründeten, für den Einzelnen einklagbaren Ansprüchen auf bestimmte staatliche Leistungen. Die rechtliche Konstruktion sozialer Grundrechte, etwa eines einklagbaren Anspruchs auf Arbeit, ginge auch – lassen Sie mich das am Rande bemerken – nur in einem bestimmten, letztlich sozialistischen Gesellschaftsmodell mit einer Zentralverwaltungswirtschaft auf, das sich das Grundgesetz gerade nicht zu Eigen gemacht hat. III. Sozialstaat und Abgabenstaat Geht es – wie heute – vor allem um die Leistungsgrenzen und um die Finanzierung des Sozialstaats, richtet sich mein Blick rasch auf den immer wieder verdrängten Zusammenhang zwischen dem gerne gesehenen Sozialstaat und seinem ungeliebten Bruder, nämlich dem Abgabenstaat. Das in den über fünfeinhalb Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland erreichte Niveau der sozialen Sicherung beruht auf einem lange Zeit stetig wachsenden Wohlstand des Landes. Aktuell auftretende oder jedenfalls geltend gemachte Wünsche und Bedürfnisse konnten hierbei stets aktuell befriedigt werden, weil und solange das wirtschaftliche Wachstum immer neue Finanzmittel zur Verteilung und Umverteilung nachschob. Dieser Expansion insbesondere auch des Sozialstaats ist allerdings schon seit einiger Zeit die finanzielle Grundlage entzogen. Auch der – ohnehin bedenkliche – Weg über eine zunehmende Kreditfinanzierung staatlicher Aufgaben kann dies nicht länger verdecken. Damit tritt in aller Nüchternheit ein im Grunde trivialer Zusammenhang hervor: Der Sozialstaat kann nur geben, was der Abgabenstaat zuvor genommen hat,

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sei es über Steuern oder sei es über Sozialversicherungsbeiträge. Die Gewährleistung einer sozialen Rechtsordnung hat also ihren Preis. Zwar ist der Glaube, dass jede Geldeinheit dadurch quasi „veredelt“ wird, dass sie den privaten Haushalten entzogen, durch öffentliche Kassen geleitet und dann wieder ver- bzw. umverteilt wird, schon seit längerem erschüttert. Praktische Konsequenzen aus dieser Einsicht sind jedoch bisher eher nur punktuell gezogen worden. Ein Gegensteuern, insbesondere im Bereich der Sozialversicherung, ist allerdings nicht nur eine Frage des gesetzgeberischen Willens und der Kraft zur politischen Gestaltung, sondern wirft – zum Teil – auch schwierige verfassungsrechtliche Fragen auf.

IV. Gesetzliche Rentenversicherung Lassen Sie mich das am Beispiel der gesetzlichen Rentenversicherung etwas erläutern. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genießen – wie Sie wissen – (unter anderem) Versichertenrenten und Anwartschaften auf Versichertenrenten in der gesetzlichen Rentenversicherung den Schutz der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG, da diese Rentenpositionen nicht allein auf einseitiger staatlicher Gewährung, sondern maßgeblich auf den Versicherungsbeiträgen, also auf Eigenleistungen der Bürger beruhen. Der Eigentumsschutz ist besonders stringent in dem Bereich, in dem der jeweiligen Rentenposition solche Eigenleistungen des Berechtigten gegenüberstehen. Dieser Gedanke eines grundsätzlich umfassenden, in seiner Intensität jedoch abgestuften Eigentumsschutzes hat auf den ersten Blick viel für sich. Eine in der rechtlichen Konstruktion nicht ohne weiteres erkennbare Brisanz kommt allerdings zum Vorschein, wenn man die tatsächliche Entwicklung der Eigenfinanzierungsquote der Renten betrachtet. Während nämlich der Eigenanteil der Versicherten an ihrer Rente im Jahre 1980 – das ist das Jahr, aus dem die Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Eigentumsschutz rentenrechtlicher Positionen stammt – mit rund 20 bis 30% beziffert wurde, war dieser Anteil bis zum Jahre 1997 bereits auf rund 85% angestiegen, mit seitdem weiter steigender Tendenz. Grob vereinfacht bedeutet das: Früher, als man die Renten noch als „sicher“ ansah, hätte die Politik einen großzügigen Gestaltungsspielraum bei einer zukunftsorientierten Reform der Alterssicherung gehabt. Heute dagegen, da man sich ernsthafte Sorgen über den Erhalt der Funktionsund Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung machen muss, ist dieser Spielraum möglicherweise geringer, weil sich wegen der höheren Eigenfinanzierungsquote auch der Eigentumsschutz der Renten- und Anwartschaftsberechtigten verstärkt haben könnte. Und auch eine weitere Hintertür, über die bisher immer wieder ein Ausweg gesucht wurde, beginnt sich zunehmend zu schließen. Ich meine die Möglich-

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keit, den Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung zu erhöhen. Auch diese Möglichkeit stößt nicht nur auf politische und ökonomische, sondern letztlich auch auf verfassungsrechtliche Grenzen. Denn die Auferlegung öffentlichrechtlicher Abgaben stellt einen Eingriff in Freiheitsgrundrechte dar, für den die rechtsstaatliche Eingriffsschranke des Verhältnismäßigkeitsprinzips gilt. Für die Beurteilung der Beitragspflichten zur Rentenversicherung bedeutet dies im Hinblick auf das Solidarprinzip zwar nicht, dass eine Individualäquivalenz zwischen Beitragsleistung und Versicherungsleistung bestehen muss. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip verbietet jedoch eine offenkundige Disproportionalität von Beitrags- und Versicherungsleistungen, wobei auf der Seite der Versicherungsleistungen allerdings nicht allein die Alterssicherung, sondern etwa auch die Versicherung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrisiken zu berücksichtigen ist. Für heutige Beitragszahler muss die Rendite der Beitragsleistungen also zwar nicht unbedingt das bisherige Niveau halten. Im Hinblick auf das Solidarprinzip, das einen gewissen sozialen Ausgleich verlangt, muss auch keine Individualäquivalenz zwischen Beitragsleistung und Versicherungsleistung bestehen. Dauerhafte Minuswerte dergestalt, dass regelhaft die Rentenzahlungen bei weitem nicht mehr ausreichen, um das vom betreffenden Beitragszahler „investierte Kapital“ zu verbrauchen, würden jedoch die Frage aufwerfen, ob nicht die Grenze der verfassungsrechtlich unzulässigen, evidenten Disproportionalität von Leistung und Gegenleistung irgendwann erreicht oder überschritten wird. Nimmt man Leistungs- und Beitragsseite zusammen, so wird die dramatische Situation deutlich, die sich insbesondere aus der demographischen Entwicklung, der drastischen Verlängerung der Rentenlaufzeiten und den Problemen und Umbrüchen auf dem Arbeitsmarkt für das Umlagesystem der Rentenversicherung ergeben hat und weiter zuspitzt. Im Zentrum steht dabei der sozialstaatliche Ausgleich zwischen Grundrechtspositionen sowohl auf der Leistungs- als auch auf der Beitragsseite. Eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung wird sich deshalb vor allem unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit zu legitimieren haben. Ein grundlegender Systemwechsel, hin etwa zu einer steuerfinanzierten Grundversorgung der Bevölkerung, wie er immer wieder einmal in der sozialpolitischen Diskussion gefordert wird, wäre wohl jedenfalls nur für künftige Generationen möglich, die noch keine oder keine nennenswerten Beiträge in die Rentenversicherung eingezahlt und folglich keine entsprechenden Anwartschaften aufgebaut haben. Ein Systemwechsel dürfte jedenfalls nicht so funktionieren, dass die jetzt Erwerbstätigen ein auslaufendes, an der Lohnersatzfunktion ausgerichtetes Rentenmodell zu finanzieren hätten, an dem sie selber gar nicht mehr teilhaben werden.

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V. Dimensionen des Sozialstaatsprinzips Lassen Sie mich nach diesen Hinweisen am Beispiel der Rentenversicherung noch auf zwei grundlegende – und wie ich meine allzu oft vernachlässigte – Aspekte oder Dimensionen des Sozialstaatsprinzips zu sprechen kommen, die zum Teil bereits angeklungen sind und die sowohl mit der Frage nach den Leistungsgrenzen als auch mit der Frage nach der Finanzierbarkeit des Sozialstaats eng zusammenhängen. 1. Die zeitliche Dimension des Sozialstaatsprinzips

Der erste Punkt lässt sich unmittelbar an das bereits genannte Stichwort der „Generationengerechtigkeit“ anschließen. Man könnte auch – allgemeiner – von der zeitlichen Dimension des Sozialstaatsprinzips sprechen. Bislang wurden Fragen der sozialen Gerechtigkeit vor allem – oder gar ausschließlich – als Fragen des sozialen Ausgleichs in der Gegenwart angesehen; aktuelle Sicherungsbedürfnisse wurden aktuell befriedigt. Damit einher ging über Jahrzehnte ein gewaltiger Ausbau des Sozialstaats. Unsere Gesellschaft und mit ihr der Sozialstaat haben dabei aber schon seit längerem über ihre Verhältnisse gelebt. Wenn deshalb heute die Erhaltung und die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme zu einer erheblichen Last für unser Gemeinwesen geworden sind, so ist das nur die eine Seite des Problems. Die andere Seite ist, dass diese Last zunehmend den jüngeren Menschen aufgebürdet oder auf nachkommende Generationen verschoben wird. Der Sozialstaat wird sich deshalb künftig nicht mehr nur um einen sozialen Ausgleich in der Gegenwart bemühen müssen, sondern auch um eine angemessene Lastenverteilung zwischen den Generationen. Zur bisweilen so bezeichneten „Generation der Erben“ zu gehören, wird andernfalls zu einer schwer zu schulternden Belastung. Für die Haushaltswirtschaft des Staates schreibt das Grundgesetz vor, dass die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen grundsätzlich nicht überschreiten dürfen (Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG). Dahinter steht der richtige Gedanke, dass künftige Generationen nur in dem Maße mit Kreditverpflichtungen belastet werden dürfen, als sie auch mittelbar von den heutigen zukunftswirksamen Investitionen profitieren. Wenn es jedoch darüber hinausgehend an Haushaltsmitteln fehlt – etwa für laufende Aufwendungen –, so darf die Deckungslücke nicht in die Zukunft verschoben werden, sondern es müssen – will man die Einnahmen des Staates aus Steuern und Abgaben nicht ins Unermessliche erhöhen – nachhaltig die Ausgaben des Staates gesenkt werden. Ohne eine umfassende und substantielle Staatsaufgabenkritik wird dies allerdings nicht zu bewerkstelligen sein. Die derzeitige Fassung des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG allein ist – ich kann das nur feststellen – jedenfalls nicht in der

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Lage, den laufenden Anstieg der Staatsverschuldung – die wohl größte Hypothek auf die Zukunft unserer Gesellschaft – aufzuhalten. Neben einer konsequenten Staatsaufgabenkritik und Staatsaufgabenreduktion könnte deshalb auch eine präzisere und stringentere Fassung der normativen Grenzen der Staatsverschuldung ein weiterführender Ansatz für eine nachhaltige Sanierung der öffentlichen Kassen sein. Die diesbezüglich unterbreiteten Vorschläge reichen von einer Eingrenzung des derzeit gebräuchlichen Investitionsbegriffs bis hin zu einem grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Verbot der Finanzierung staatlicher Ausgaben durch Kredite. 2. Die freiheitliche Dimension des Sozialstaatsprinzips

Der zweite Punkt betrifft einen Aspekt, den ich als die freiheitliche Dimension des Sozialstaatsprinzips bezeichnen möchte. Das Grundgesetz geht – ich habe das bereits dargestellt – von der Eigenverantwortung und von der Selbstbestimmung des Menschen aus, sowohl als Grundlage seiner persönlichen Entfaltung als auch als Grundlage seiner sozialen Beziehungen. An der Spitze der Verfassung stehen deshalb das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen und der Grundrechtekatalog mit seinen Gewährleistungen von Freiheits- und Menschenrechten. Auch die Funktion des Sozialstaats darf nicht losgelöst von dieser freiheitlichen Grundlage und Ausrichtung der Verfassung gesehen werden. Der Sozialstaat kann – und sollte – schon deshalb keine Vollversicherung und keinen Lebensplan bieten, weder für den Einzelnen noch für die Gesellschaft insgesamt. Der Sozialstaat muss den Menschen vielmehr diejenigen elementaren Risiken abnehmen, die er allein nicht tragen kann. Aber der Sozialstaat muss – zum Wohle des Einzelnen wie des Ganzen – auch seine Grenzen erkennen und den Bogen staatlicher Intervention nicht überspannen. VI. Schluss Meine Damen und Herren, wie Sie wissen, blickt der deutsche Sozialstaat zurück auf eine nahezu ungebrochene Kontinuität bis in das ausgehende 19. Jahrhundert, über Weltkriege, staatliche und wirtschaftliche Zusammenbrüche und Währungsreformen hinweg. Diese Kontinuität des deutschen Sozialstaats ist zugleich Erbe und Verpflichtung. Die Sozialstaatlichkeit stellt auch einen wesentlichen Teil der nationalen Identität Deutschlands dar, so dass man ihre Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt und die innere Einheit des Landes nie aus den Augen verlieren darf. Dies gilt auch und gerade heute, wo der deutsche Sozialstaat vor seiner vielleicht größten Belastungs- und Bewährungsprobe steht und wo die Werte unseres Sozialstaats nur durch die Bereitschaft zur Veränderung bewahrt werden können. Einer Veränderung, bei der wohl das Verhältnis von Solidarität einer-

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seits und Subsidiarität und Eigenverantwortung andererseits neu justiert werden muss; einer Veränderung, bei der man nicht die Augen vor der begrenzten Leistungsfähigkeit unseres Staatswesens verschließen darf; und einer Veränderung, die sich nicht zuletzt auch eine gerechte Verteilung der öffentlichen Lasten über die Generationen hinweg zur Aufgabe macht.

Leistungsgrenzen und Finanzierung des Sozialstaats Ferdinand Kirchhof I. Die Leistungsgrenzen und ihre Ursachen Die Veranstalter haben das Thema meines Beitrags klug mit den Leistungsgrenzen zuerst und vor der Finanzierung vorgegeben, denn hier liegt das drängende Problem. Die Kritik, dass der Sozialstaat an seine Grenzen stößt, ist weit verbreitet. In der Sozialversicherung sorgen steigende Preise bei weniger Leistung für Verdruss. Die sozialstaatliche Versorgung bildet mittlerweile den größten Posten im Bundesetat; die sozialen Hilfen haben an Umfang so stark zugenommen, dass sie die Kommunen – vor allem die Kreise – finanziell geradezu erdrücken und die kommunale Selbstverwaltung gefährden. Das gesamte Sozialbudget beträgt etwa das Dreifache des Volumens des Bundeshaushalts. Der Befund fällt klar aus. Der Sozialstaat ist an seine Grenze gestoßen, teilweise hat er sie schon überschritten. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber ebenso evident: Das demographische Problem einer alternden Bevölkerung, die Fortschritte in der medizinischen Technik, das größere Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung, bis hin zu Breitensport und wellness, steigende Kosten des Personals für Therapie und Betreuung, die Einbeziehung beitragsloser Fremdfälle in den Versicherungsschutz und die hohe Erwartung der Bevölkerung an das Niveau von Renten und Ersatzleistungen.

II. Die unzureichenden Antworten der Politik Die Politik ist sich dieses Zustandes eines ziellos dahindümpelnden und unzureichend finanzierten Sozialstaats bewusst, bleibt aber dennoch wenig entscheidungsfreudig. Die im Alltag auftretenden Probleme stören sie eher; sie werden nicht als Chancen der politischen Gestaltung angenommen und bewältigt. Deshalb trifft sie nur zaghafte, teilweise sogar offensichtlich verfehlte Lösungen. Zum einen unterstützt sie die Tendenz, größere Versorgungseinheiten mit riesigen Haushalts-„Töpfen“ zu bilden. Die Planung von bundesweiten Einheitskassen, eines alles umfassenden Gesundheitsfonds, von zahlreichen Finanzausgleichssystemen, riesigen Rentenkassen mit zufälligen, mitunter sogar ausgelosten Mitgliedschaften bieten dafür Belege. Sie können im Binnenbereich Fi-

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nanzmittel verschieben und Löcher stopfen. Letztlich verstecken und verschieben sie aber nur Probleme statt sie zu lösen. Hinzu treten zahlreiche tagespolitische Entscheidungen zur Antwort auf Einzelfragen, die wegen ihrer Konzentration auf ein spezielles Problem auf die Dauer tragfähige Strukturen zerstören und nur kurzfristige Lösungen bieten. Beispiele bilden die Aussteuerbeträge der Bundesagentur für Arbeit bei langfristig nicht vermittelbaren Arbeitslosen, die Diskussion um die Verwendung einmalig erzielter Finanzmittel von Sozialversicherungsträgern oder das Vorziehen von Rentenversicherungsbeiträgen an den Anfang des Monats, das diesem Zweig singulär ein „dreizehntes Monatsgehalt“ bietet, aber strukturell nichts ändert. Die entscheidende Frage dauerhaft unzureichenden Beitragsaufkommens bleibt dabei unberücksichtigt; um sie zu beantworten, müsste man Arbeitsmärkte verbessern und Sozialabgaben vom Lohn entkoppeln. Stattdessen ändert die Politik Organisation und Strukturen oder verschiebt kurzfristig Finanzmassen, obwohl diese Therapien wegen ihres falschen Ansatzes nicht anschlagen können.

III. Das Ziel einer einfachen, dauerhaften Sozialversicherung mit rechtssicherer Finanzstruktur Was ist zu tun, um den Sozialstaat wieder leistungsfähig zu gestalten und seine Grenzen einzuhalten? Gefragt sind langfristige, strukturelle Lösungen, die politisch vom Versicherten und vom Wähler akzeptiert werden können und die finanziell solide auch auf Dauer berechnete, soziale Risiken abdecken. Für das Finanzsystem des Sozialstaats verlangen diese Ziele eine klare und konsistente Organisation der sozialstaatlichen Leistungsträger, die strikte Einhaltung der verfassungsrechtlichen Grenzen und Lösungen, die sich innerhalb des historisch gewachsenen und grundsätzlich bewährten Systems der körperschaftlichen Sozialversicherung halten. Solche klaren und dauerhaften, rechtlich abgesicherten Strukturen und diese Systemgerechtigkeit im Sozialstaat sind nicht aus wissenschaftlichem Interesse oder aus Freude an einer sauberen Rechtsdogmatik des Sozialrechts gefordert, sondern als notwendige, innere Voraussetzung für ein effektives Sozialrecht. Nur ein einfaches, klares und rechtssicheres System schafft die notwendige Akzeptanz – deutlicher gesprochen: das unbedingt erforderliche Vertrauen in den Sozialstaat. Allein ein derartiges System kann Berechenbarkeit für Sozialleistungen in Alter und Krankheit liefern und eine Planbarkeit des Sozialrechts für den öffentlichen Haushalt gewährleisten. Aktuell zeigen sich bedrohliche Strukturfehler primär bei der Sozialversicherung. Die soziale Entschädigung und die sozialen Hilfen werden meist aus dem Staatshaushalt finanziert und bieten in dieser Hinsicht weniger Probleme; sie leiden allerdings ebenfalls an ihrem zu groß geratenen Volumen.

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IV. Die längst fällige Grundentscheidung: Körperschaftliche, beitragsfinanzierte Sozialversicherung oder Versorgung aus dem Staatshaushalt mit Steuermitteln? In der Sozialversicherung ist vorrangig eine im Grunde schon lange anstehende Entscheidung zu treffen: Bleiben wir bei der körperschaftlich organisierten Versicherung mit Mitgliedern, gesonderten Haushalten und Beitragsfinanzierung oder gehen wir zu einer staatlichen Versorgung aus dem jährlichen Budget des Bundes und damit zu einer Steuerfinanzierung über? Bevor der Sozialstaat sich auf den Weg macht zu Reformen, muss er dieses Ziel klären. Zur Zeit haben wir ein unentschiedenes, widersprüchliches Gemisch aus Versicherungsideen und Versorgungszielen, das nur Konflikte bringt. Trotz der Bewährung der historischen Gliederung der Sozialversicherung in Sparten von Sozialversicherungsträgern und der herkömmlichen Beitragsfinanzierung liebäugelt die Politik mit großen Einheitskassen. Der Drang zur Einheitskasse ist deshalb besonders verwunderlich, weil man mit derartigen Organisationsmonstern bisher nur schlechte Erfahrungen gemacht hat. Die frühere Bundesanstalt für Angestellte und die heutige Bundesagentur für Arbeit führen einen Kampf mit ihren Strukturen und Personalapparaten im Binnenbereich. Ihnen wurde – nicht zu Unrecht – die „Unregierbarkeit“ im Innern vorgeworfen. Trotz dieser schlechten Erfahrungen gründen wir munter eine Deutsche Rentenversicherung Bund und träumen von einer Einwohnerversicherung im Gesundheitsbereich. Man darf auch einmal aus der Geschichte lernen und einen Holzweg wieder verlassen. Eine Bundesagentur für Arbeit, eine Deutsche Rentenversicherung Bund, Allgemeine Ortskrankenkassen für jeweils ein gesamtes Land und vor allem kassen- und verbändeübergreifende Finanzverbünde, welche Ausgleichsysteme betreiben, Aufgaben als Gesamtlast finanzieren oder gegenseitige Haftungsansprüche begründen, bereiten die Einheitskassen vor. Hinzu tritt die weitgehend durch Bundesgesetz vorgenommene Regelung von Beitragssätzen und Leistungen, welche für Einheitlichkeit im gesamten Bundesgebiet sorgen. Alle drei Elemente – Einheitskassen, körperschaftsübergreifende Finanzierung und bundesgesetzliche Regelung der Beiträge und der Leistungen – führen letzten Endes in eine Einheitsversicherung. Diese Tendenz wird bei der für die Krankenversicherung diskutierten Bürgeroder exakter Einwohnerversicherung besonders deutlich. Wenn alle Einwohner in einer einzigen bundesweiten Krankenkasse versichert sind, wird zwar noch die gesonderte Organisation und die Beitragsfinanzierung der Krankenversicherung beibehalten; im Ergebnis entsteht aber ein zweiter, bundesweiter Haushalt neben dem Staatshaushalt, der vor einer Zwecksteuer gesponsert wird. Eine gesonderte Organisation und eine spezielle Abgabe für die Krankenversicherung

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werden dann überflüssig und zu aufwendig. Die Einwohnerversicherung ließe sich – wenn man sie denn wollte – billiger und einfacher unmittelbar über den Staatshaushalt und durch Steuern finanzieren. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Befugnis zur Beitragserhebung, Art. 87 Abs. 2 GG als Vorgabe für eigenständige Selbstverwaltungseinheiten würden obsolet; Steuern nach Art. 105 GG und das Finanzamt nach Art. 108 GG müssten ihre Aufgaben übernehmen. Diese versteckte Wanderung in die Staatsversorgung durch Einheitskassen sollte man nicht unbesehen zulassen. Ehrlicher und klarer wäre es, zuvor die Frage nach beitragsfinanzierter Versicherung oder steuerfinanzierter Staatsversorgung offen zu diskutieren und zu beantworten und nach deren Entscheidung entweder wieder konsequent den Körperschaftsgedanken zu verfolgen oder die Sozialleistungen gezielt in den Staatshaushalt zu überführen. V. Die Präferenz für die Sozialversicherung herkömmlichen Stils Dabei ist eine Entscheidung für die Sozialversicherung des herkömmlichen Stils mit eigenen Trägern und Beitragsfinanzierung vorzuziehen, weil zum einen das Grundgesetz in Art. 74 und Art. 87 GG dieses Modell deutlich angelegt hat und vor allem, weil es sich im Grunde genommen bewährt hat. Es ist in erster Linie der defekte Arbeitsmarkt, der den Sozialstaat an seine Grenzen führt, viel weniger die Sozialpolitik selbst. Wenn das Aufkommen an Sozialversicherungsbeiträgen steigen würde, hätten die Sozialversicherungsträger kaum noch Probleme. Warum ein historisch bewährtes System niederreißen, wenn seine Ziele und seine Organisation allenfalls kleinere Fehler aufweisen und ihr nur Finanzmittel fehlen? Die Entscheidung sollte für eine Versicherung fallen, weil kleine Körperschaften ihren Finanzbedarf exakter formulieren, leichter der Verschwendung vorbeugen und ihre Kosten deutlicher nachweisen können. Auch ist eine Kontrolle über das Abgaben- und Leistungsgeschehen besser möglich. Die tiefe Gliederung in einzelne Körperschaften verhindert ferner die berüchtigten finanziellen „Verschiebebahnhöfe“, bei denen ein an sich zweckgebundenes Beitragsaufkommen zu anderen Sozialversicherungsträgern oder -zweigen transferiert wird, nur um dort plötzlich auftretende Finanzierungslücken zu schließen. Eine beitragsfinanzierte Versicherung in Sonderhaushalten macht überdies die Leistung unabhängig vom jährlichen Willen des Budgetgesetzgebers, weil es sich um zweckgebundene, selbstgesteuerte Finanzierungssysteme handelt; sie stehen mit ihren Mitteln nicht bei der Verteilung in Konkurrenz zu anderen Staatsaufgaben.

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VI. Fragwürdige Erweiterungen des Sozialversicherungsbeitrags Wenn man den von mir bevorzugten Weg in eine deutlichere Konturierung zur Sozialversicherung mit eigenen Trägern und Beiträgen geht, ist ihr aktuelles Finanzierungssystem dort zu korrigieren, wo es systemwidrig aus dem Ruder gelaufen ist. An den drei Hauptfinanzierungsinstrumenten der Sozialversicherung werden die Fehlentscheidungen besonders deutlich, die zu beseitigen sind, nämlich bei den Beiträgen, den Staatszuschüssen und den Transfers zwischen den Sozialversicherungsträgern. 1. Verfassungsrechtlich zulässige und bewährte Beitragslegitimationen

Sozialversicherungsbeiträge sind nach der Grundkonzeption der Art. 74 und 87 GG und nach allgemeinem Finanzrecht Sonderlasten, die als zusätzlicher Zugriff neben der Gemeinlast der Steuer vor dem Grundsatz der Belastungsgleichheit einer besonderen, historisch vorgefundenen Rechtfertigung bedürfen. Wir finden diese Rechtfertigung grundsätzlich im Versichertenprinzip, nach dem der Versicherte für sein eigenes Risiko zahlt, im Prinzip der sozialen Verantwortung, wenn Dritte für das Risiko anderer zahlen, z. B. in der Rentenversicherung für nichtgewerblich Tätige oder für Pflegepersonen, sowie im Prinzip des Sozialausgleiches, z. B. bei der Familienversicherung in der Krankenversicherung. 2. Zur Beitragsrechtfertigung untaugliche Schlagworte

a) Leistungsfähigkeit Auf der Suche nach neuen Geldmitteln hat der Staat für diese Beiträge in letzter Zeit allerdings einige weitere, angebliche Rechtfertigungsgründe gefunden, von denen man sich schnell wieder verabschieden sollte. Eine Beitragserhebung nach der Leistungsfähigkeit des Versicherten wendet die Versicherungsprämie materiell vom Risiko des Versicherten ab und bewegt sie auf die Einkommensteuer zu. Das ist verfehlt, denn Beitrags- oder Gesundheitsrisiken haben nichts mit dem Einkommen des Versicherten zu tun. Allenfalls wo die Versicherung Lohnersatzleistungen erbringt, kann man sie am Einkommen orientieren, weil es das Volumen des individuellen Risikos bestimmt; die Ersatzleistungen dürften dann allerdings nur in dem Maße nach oben begrenzt werden wie die Bemessungsgrundlage für den korrespondierenden Betrag. b) Konturenlose Solidarität Als zweiter, neu gefundener und angeblicher Rechtfertigungsgrund dient heutzutage der Grundsatz der Solidarität. Unter Hinweis auf dieses Prinzip wer-

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den Beiträge erhöht, teilweise sogar nicht Versicherungsbedürftige zwangsversichert. Der Grundsatz der Solidarität klingt sprachlich sympathisch; wer möchte schon unsolidarisch sein? Fraglich ist aber dessen Inhalt: Mit wem, für was, auf welche Weise und in welchem Umfang soll finanziell Solidarität geübt werden? Wenn mit dem Grundsatz der Solidarität nur die bisherigen Versicherungsprinzipien der sozialen Verantwortung und des sozialen Ausgleichs erfasst werden sollen, ist er als Belastungsgrund angebracht; man fragt sich nur, warum diese längst anerkannten Legitimationsgründe plötzlich einen weiteren Namen benötigen. Wenn sich darunter aber neue Belastungsziele verstecken sollten, müsste man diese zuvor sachlich definieren und auf ihre verfassungsrechtliche Eignung zur finanziellen Belastung von Versicherten prüfen. Solidarität in der hauptsächlichen Verwendung des politischen Alltagsgebrauchs üben auch die Hausratsund Kfz-Versicherung. Auch hat die Entwicklungshilfe aus Staatsmitteln etwas mit Solidarität zu tun. Dasselbe gilt für die Devise der Raiffeisen-Genossenschaften „Einer für alle, alle für Einen!“. Man darf aber nicht aus einer materiell in ihrem eventuellen Zusatzinhalt nicht näher definierten Solidarität einen neuen Legitimationsgrund behaupten, schon gar nicht einen Freibrief zur Ausweitung von Abgabenlasten schaffen.

c) Finanzierbarkeit und Stabilität der Sozialversicherung Die Finanzierbarkeit und Stabilität der Sozialversicherung wird von der Rechtsprechung als hohes Verfassungsgut bezeichnet und zur Rechtfertigung von Beitragserhöhungen eingesetzt. Es ist selbstverständlich, dass eine Sozialversicherung solide finanziert werden muss, weil sie Leistungen in Alter und Krankheit erbringen soll, wenn die Bürger besonders bedürftig sind. Aber warum diese Überhöhung der Finanzierbarkeit und Stabilität der Sozialversicherung zum Verfassungstopos und zur Eingriffsberechtigung? Es ist selbstverständlich, dass die wesentlichen Staatsaufgaben, also auch die des Sozialstaats, stabil finanziert sein müssen. Das gilt aber ebenso für Bildung, für Sicherheit, für unsere Infrastruktur im Transportwesen und in der Kommunikation; jedoch macht niemand wegen der Bedeutung solcher Aufgaben über den topos ihrer Finanzierbarkeit und Stabilität Schulen, Universitäten oder Polizei verfassungsfest oder stattet sie mit einem Finanzierungsvorrang aus. Bei Lichte besehen, meldet die Politik mit dem topos der Finanzierbarkeit letztlich nur aktuellen Finanzbedarf an. Sie tabuisiert dabei den monetären Bedarf eines Sozialversicherungsträgers gegen Fragen nach der Notwendigkeit und Angemessenheit der finanziellen Belastung, weil sie sich nur auf sein Defizit und seine Einnahme konzentriert. Zudem wird überhaupt nicht begründet, warum ein erhöhter Finanzbedarf gerade durch Beitragssteigerungen abgedeckt werden muss statt aus Steuern, Vermögenserträgen oder Zuschüssen. Mit der Erfindung dieser angeblichen Rechtfertigungsgründe für höhere Beitragslasten befindet sich der Staat

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auf dem Holzweg; er sollte es bei den Prinzipien der Versicherung, der sozialen Verantwortung und des sozialen Ausgleichs belassen. VII. Der Bundeszuschuss nach Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG 1. Bundeszuschuss contra Versicherungsidee?

Das zweite Hauptfinanzierungsmittel bildet der Staatszuschuss, der nach Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG vom Bund geleistet werden muss. Er ist verfassungsrechtlich und systematisch meist unproblematisch, weil er unmittelbar aus dem Staatshaushalt gezahlt und letztlich aus Steuermitteln gespeist wird. Die Frage ist allerdings, ob ein Zuschuss aus Steuern nicht an der Sozialversicherungsidee der beitragsfinanzierten Körperschaften Verrat übt. Soweit er an sich notwendige Beiträge ersetzen soll, wird diese Idee tatsächlich konterkariert. Wenn man damit aber Fremdlasten finanziert, also Versicherungsleistungen, denen keine Beiträge gegenüber stehen, oder Leistungen, die nicht zum Aufgabenkreis der Versicherung zählen, ist ein Staatszuschuss angebracht. Ein für diese Zwecke geleisteter Bundeszuschuss erhält sogar das Versicherungsprinzip aufrecht, denn er vermeidet eine Umwidmung von Beitragsaufkommen zur Deckung von Fremdlasten. 2. Zusammenspiel von belastungsgerechtem Beitrag und Bundeszuschuss für Fremdlasten

Aus dieser Perspektive muss man sogar die Frage stellen, ob Art. 3 und 120 GG nicht ein korrespondierendes System bilden, in dem der Gleichheitssatz risikogerechte und sozial ausgleichende Versicherungsprämien legitimiert und Art. 120 GG den Bund objektiv zum Zuschuss zwingt, wenn versicherungsfremde Leistungen vorliegen. Eine derartige Zwei-Säulen-Finanzierung bewahrt das Versicherungsprinzip als Abdeckung des Risikos einer Versichertengemeinschaft durch eigene, finanzielle Leistungen und fügt ein Versorgungsprinzip der Staatsfinanzierung von Fremdlasten hinzu. Sie führt überdies zu größerer Transparenz im Finanzwesen der Sozialversicherungsträger. Die Gerichte greifen dieses Zusammenspiel von Art. 3 und Art. 120 GG in der Finanzierung indessen nicht auf und stellen keine Verbindung zwischen beiden Vorschriften her. Diese Verweigerung gründet vermutlich in der Befürchtung, dass auf diese Weise Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG zum Titel unterfinanzierter Sozialversicherungsträger gegen den Bund erstarken würde. Diese Schlussfolgerung ist aber nicht zwingend, denn diese Norm des Staatsorganisationsrechts kann sich durchaus im Bereich des objektiven Rechts halten, ohne subjektive Ansprüche zu begründen. Über diese Frage sollte man noch einmal intensiver nachdenken, weil Art. 3 GG und Art. 120 GG ein geschlossenes System der sozialversicherungsrechtlichen Finanzierung bieten können, das im Grundgesetz verankert ist.

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Ferdinand Kirchhof 3. Ökonomisches Problem einer Zuschussfinanzierung aus Zwecksteueraufkommen

Zuschüsse werfen ein Problem ökonomischer Art auf, wenn sie aus dem Aufkommen bestimmter Zwecksteuern finanziert werden. Diese Technik erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Die Politik geht geschickt vor. Sie erhöht eine bestimmte Steuer, z. B. die Tabaksteuer, mit dem guten Motiv des Gesundheitsschutzes, wenn sie die Krankenkassen finanzieren will. In den Augen der Öffentlichkeit heilt der positive Zweck das – vielleicht fragwürdige – Mittel. Ökonomisch problematisch wird das Verfahren, wenn man den Zuschuss strikt an das jährliche aktuelle Aufkommen aus der Zwecksteuer bindet, wie es z. B. in § 213 SGB VI geschehen ist, nach dem die Rentenversicherungen einen Zuschuss aus dem jeweiligen jährlichen Aufkommen an Energie- und Umsatzsteuer erhalten. Die strenge Bindung an das aktuelle jährliche Aufkommen verfehlt häufig den Bedarf der Sozialversicherungsträger. Das Aufkommen an Verbrauchsteuern und der Finanzbedarf von Sozialversicherungsträgern korrespondieren nicht. Sprudeln die Steuern reichlich, wird eventuell die Rentenkasse überfinanziert. Kommen sie nur spärlich herein, bleibt ihr vielleicht immer noch ein Defizit.

VIII. Die Gefahr von überbordenden Finanztransfers zwischen Versicherungsträgern 1. Versteckte Auswirkungen von Transfers zwischen Kassen

Das größte Ärgernis für ein konsequentes, beitragsfinanziertes Sozialversicherungssystem bilden aber die zunehmenden Transfers zwischen Sozialversicherungsträgern. Sie sind in Mode gekommen und mittlerweile zur dritten Haupteinkommensquelle dauernden Charakters gewachsen. Sie begründen einen versteckten Systembruch, der die Selbstverwaltungs- und Körperschaftsidee sowie auch die Grundlage einer Versicherung aus Beiträgen auflöst. In der Außenansicht verändern sich organisatorische Gliederung und Beitragsfinanzierung nicht. Im Binnenbereich werden aber Finanzmittel zusammengelegt und Aufgaben aus einem „Topf“ bedient. Das verwischt Verantwortungen; es ermöglicht die Verschiebung und Verschleierung von Defiziten. Das Ganze geschieht durch apokryphe Transfers, die die Bevölkerung gar nicht bemerkt. Dass bereits der Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenkassen dazu führt, dass bis zu 70 Cent von einem Beitragseuro gar nicht in die eigene, sondern in eine fremde Krankenkasse fließen, hat die Öffentlichkeit noch nicht wahrgenommen; wenn sie darauf aufmerksam wird, ist die Idee der Sozialversicherung als Risikoabdeckung durch Eigenleistungen in Versichertengemeinschaften desavouiert. Mit Transfers werden nur Defizite vertuscht und Beitragsmittel sachwidrig umge-

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widmet. Die Sozialversicherungsträger werden durch derartige Transfers finanziell schon zur Einheitskasse umgestaltet.

2. Methoden der Finanztransfers

Diese Transfers werden im Sozialversicherungsrecht nach drei Methoden verwirklicht. Im Gemeinlastverbund werden gleichgeartete Aufgaben verschiedener Sozialversicherungsträger gemeinsam bestritten. Organisation und Beitragswesen bleiben getrennt, die Finanzierung erfolgt jedoch kollektiv. Die Gemeinlastsysteme der Renten-, Unfall- und Pflegeversicherung, die Finanzierung besonders aufwendiger Leistungsfälle in der Krankenversicherung oder der Rentenlastenausgleich bei Berufsgenossenschaften für aussterbende Berufszweige negieren letzten Endes die körperschaftlich individuelle Aufgabe des einzelnen Sozialversicherungsträgers. In einem zweiten Ansatz werden Finanztransfers unmittelbar im Wege des Finanzausgleichs durchgeführt. Auch hier bleiben die Organisation und die Beitragsfinanzierung getrennt, es werden aber Haushaltsdefizite gemeinsam getragen. So wird, was an der Vordertür als reich gegliederte Sozialversicherungslandschaft erscheint, an der Hintertür des Finanzwesens wieder zusammengeführt. Damit werden schlechte und gute Wirtschaftsergebnisse einzelner Kassen nivelliert, Kostenkontrollen vermieden, notwendige Anreize zum guten Wirtschaften unterlassen. Dabei darf man sich nicht über die Bedeutung dieser Finanzausgleichssysteme täuschen. Sie haben mittlerweile gigantischen Umfang erreicht. Der Risikostrukturausgleich bewegt mittlerweile etwa 16 Mrd. Euro, d.h. er übersteigt im Volumen den horizontalen Finanzausgleich zwischen den Ländern nach Art. 107 Abs. 2 GG bei weitem. Eine neue Form des Eventualtransfers ist neuerdings durch den Haftungsverbund zwischen BKK-Verbänden geschaffen worden. Die Verbände haften für die Liquidität ihrer Mitglieder und füllen bei drohender Insolvenz deren Haushalte auf. Die dafür notwendigen Finanzmittel beschaffen sie sich durch Umlagen von den anderen Verbandsmitgliedern. So wird nach Art einer Rückversicherung ebenfalls das Risiko kollektiv getragen; die finanzielle Eigenverantwortung der einzelnen Kasse bleibt auf der Strecke. Diese Finanztransfers zwischen Sozialversicherungsträgern sind mittlerweile zur Dauereinrichtung geworden. Sie gefährden die Sozialversicherungsidee wegen ihres Umfangs und wegen der Vernebelung der Finanzverantwortung der individuellen Kasse. Sie verstecken eine fehlerhafte Primärallokation von Beitragsmitteln, indem sie erst im Binnenbereich der Haushalte finanzielle Mängel reparieren, statt gegenüber Versicherten oder dem Bund auf monetäre Missstände zu reagieren. Sie führen in der Praxis sogar dazu, dass die Haushalte einzelner Sozialversicherungsträger nicht mehr planbar sind, weil ein kollekti-

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ves Transfersystem ihnen nachträglich – teilweise bis zu 10 Jahre nachgezogen – erhebliche Transferlasten auferlegt. Überdies widmen sie Beitragsmittel sachwidrig um, weil sie anderen Versichertengemeinschaften zur Verfügung gestellt werden. IX. Resümee Man kann also feststellen, dass die Finanzierung des Sozialstaats im Versicherungsbereich nicht den Weg in die Versorgung aus dem Staatshaushalt beschreiten sondern system- und gleichheitsgerecht weiterhin durch Beiträge nach den Belastungsprinzipien der Versicherung, der sozialen Verantwortung und des sozialen Ausgleichs durchgeführt werden sollte. Ein Bundeszuschuss muss Fremdlasten abdecken, ohne in den Beitragsbereich einzudringen. Transfers zwischen den Sozialversicherungen sollte man weitgehend zurückschneiden. Auf diesem Wege wäre die Finanzierung des Sozialstaats ohne Überschreitung seiner Leistungsgrenzen möglich.

Durchsetzung der Grundrechte

Durchsetzung der Grundrechte Klaus Stern In dem von Detlef Merten zusammen mit Hans-Jürgen Papier herausgegebenen Handbuch der Grundrechte findet sich im 1. Band ein Paragraph über „Grundrechtsdurchsetzung und Grundrechtsverwirklichung“ aus der Feder von Karl Korinek und Elisabeth Dujmovits. Dort ist eine vorbildliche Typologie der Durchsetzungsmechanismen der Grundrechte entwickelt.1 Sie knüpft an einer zentralen Komponente der ganzen Grundrechtslehre an, die sich darin manifestiert, dass die Rechtsverbindlichkeit, die Positivität der Grundrechte entscheidend von ihrer effektiven Durchsetzbarkeit abhängt.2 Noch unter der Weimarer Reichsverfassung war die Durchsetzbarkeit der Grundrechte gegenüber dem Gesetzgeber – von Ausnahmen abgesehen – nicht gewährleistet.3 Die Grundrechtsjudikatur in der Weimarer Republik war denn auch schwach ausgebildet, obwohl das Reichsgericht von den Grundrechten „als Heiligtum des deutschen Volkes“ sprach.4 Im internationalen Recht ist, wie die aktuelle Diskussion um die Kompetenzen und die Effizienz des neuen „Menschenrechtsrates“ zeigt, die Durchsetzung der Menschenrechte auch heute noch – um es gelinde auszudrücken – deplorabel. Ein internationaler Menschenrechtsgerichtshof nach Art des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs ist in weite Ferne gerückt. Die Geschichte der Menschen- und Grundrechte erweist, will man sie auf einen kurzen Nenner bringen, dass die gerichtliche Sicherung eine rechtsstaatliche Grundvoraussetzung ist, um die Durchsetzung der Grundrechte effektiv zu machen. Fehlt sie, so mangelt den Grundrechten ein entscheidendes Kriterium ihrer Wirksamkeit. Es ist die rechtsprechende Gewalt, die sowohl die subjektivrechtliche Seite der Grundrechte als auch die objektiv-rechtlichen Gehalte sichern muss. Selbstverständlich wird damit nicht verkannt, dass es auch andere Instrumentarien zur Durchsetzung der Grundrechte gibt.5 Sie haben aber nicht das Gewicht und die Kraft, die Grundrechte nachhaltig zu effektuieren.

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HGR I, 2004, § 23 Rdn. 11 ff. Ebd. unter Berufung auf K. Stern, HStR V, 2. Aufl. 2000, § 109 Rdn. 71. Näher Ch. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 280 f. RGZ 102, 161 (165). Vgl. ausführlich K. Stern, Staatsrecht III/2, 1994, § 90.

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In unserer mittlerweile feinziselierten Grundrechtsdogmatik ist es gut, sich daran zu erinnern, dass es vor knapp 80 Jahren noch die „Prinzipienfrage“ der Grundrechte war, ob sie Programm- oder Normencharakter haben,6 und dass Hermann von Mangoldt vor mehr als 50 Jahren in der 1. Auflage seines Kommentars noch Zweifel anmeldete, ob die Grundrechte „allgemein“ auch „klagbare subjektive Rechte für die Staatsbürger begründen“.7 Die grundrechtliche Schlüsselnorm des Art. 1 Abs. 3 GG hat diese Frage nach heutigem Verständnis unzweideutig in Richtung auf unmittelbare Rechtsgeltung im verfassungsrechtlichen Rang beantwortet. Nach einer frühen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts soll diese Vorschrift zugleich den Willen des Verfassungsgebers zum Ausdruck bringen, dass der Einzelne sich der öffentlichen Gewalt gegenüber auf diese Normen als auf „Grundrechte im Zweifel soll berufen können“.8 Diese Aussage dürfte den Schluss auf die Klagbarkeit der Grundrechte erlauben. Aber sicherer ist es, zusätzlich das Rechtsstaatsprinzip, Art. 19 Abs. 4 und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG heranzuziehen. Die Entwicklung in Deutschland ging daher sehr rasch dahin, dass die Gerichtsbarkeit zur grundrechtsdurchsetzenden Gewalt par excellence avancierte. Die justitielle Garantie des Rechts ist dem Rechtsstaatsprinzip immanent. Die rechtsprechende Gewalt ist im Rechtsstaat dazu berufen, über das geltende Recht mit Letztverbindlichkeit zu entscheiden. Sie ist die kontrollierende Gewalt schlechthin. Darum war es logisch, mit der Positivierung der Grundrechte der Gerichtsbarkeit auch den Schutz der Grundrechte anzuvertrauen. So bemerkte etwa Albert Hensel in der Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50-jährigen Bestehen des Reichsgerichts 1929: „Mehr noch als für jeden anderen Komplex von Rechtssätzen bedeutet für die Grundrechte eine aktualisierende Rechtsprechung Lebensnotwendigkeit“.9 Diese These wurde aber in der Weimarer Republik nur in bescheidenen Formen gegenüber der Verwaltung in der Verwaltungsgerichtsbarkeit verwirklicht. In der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit waren lediglich minimale Ansätze sichtbar. Der Gesetzgeber blieb praktisch unkontrolliert, da das richterliche Prüfungsrecht gegen Reichsgesetze nach der damals herrschenden Rechtsauffassung in der Rechtsprechung trotz einiger theoretisierender Verbalakte nicht griff – entgegen vielen Stimmen in der Literatur.10

6 So R. Thoma, in: H. C. Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. I, 1929, S. 5. 7 H. von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1. Aufl. 1953, S. 36. 8 BVerfGE 6, 386 (387). 9 Bd. I, 1929, S. 1. 10 Vgl. K. Stern, Staatsrecht V, § 129 IV 6 g a) aa); ausführlich und mit Nachweisen Ch. Gusy (Fn. 3), S. 216 ff.

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Die Rechtslage änderte sich erst unter der Herrschaft des Grundgesetzes – dann aber grundlegend. Nicht nur die öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten, sondern auch die Zivil- und Strafgerichte kümmerten sich um die Durchsetzung der Grundrechte. Signifikant sind in den 50er Jahren die Beiträge von Christian-Friedrich Menger, Karl August Bettermann und Walter Sax im „alten“ Handbuch der Grundrechte über den Schutz der Grundrechte in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Strafrechtspflege.11 Diese Linie wird im „neuen“ Handbuch der Grundrechte fortgesetzt. Unser Jubilar hat darum Beiträge aus der Feder von Hans-Jürgen Papier für den Grundrechtsschutz durch die Fachgerichtsbarkeiten in dem in Bälde erscheinenden dritten Band vorgesehen. Seit fünf Jahrzehnten erleben wir darum eine reichhaltige Rechtsprechung aller Gerichtszweige zur Durchsetzung der Grundrechte. Vor allem und neuartig wurde das Privatrecht in vielfältiger Weise von der bisweilen „Drittwirkung“, besser aber „Ausstrahlungswirkung“ benannten Grundrechtsdurchdringung erfasst.12 Die dadurch eröffnete Grundrechtsjudikatur nahm ein Ausmaß an, das manche zu harter Kritik veranlasste. Von „Hypertrophie der Grundrechte“ sprach Karl August Bettermann.13 Aber der Zug fuhr unter Volldampf weiter. Schub gab ihm vor allem das Bundesverfassungsgericht. Es verstand sich als „Hüter der Grundrechte“. Dabei baute es auf einigen vorgrundgesetzlichen Landesverfassungsgerichtsbarkeiten auf, die allerdings später in dessen Schatten gerieten, aus dem sie erst langsam wieder heraustreten, um sich mittlerweile ein eigenes Terrain zur Durchsetzung der Grundrechte zu erobern. Das gilt vor allem für den Bayerischen und Hessischen sowie für den Berliner und Brandenburger Verfassungsgerichtshof. Gleichwohl bestimmte die große Linie Karlsruhe. Lassen Sie mich einige Grundlinien dieser neuen Grundrechtsentwicklung aufzeigen, für die als Maxime kennzeichnend ist: „Expansion der Grundrechte“. Ansatzpunkt hierfür war die Erkenntnis, dass – um mit Hans Huber zu sprechen – die „Sinnermittlung der Grundrechte . . . eine über Interpretation hinausreichende, rechtsschöpferische Konkretisierung, mehr Sinngebung als Sinndeutung“ sei.14 Andere sprechen den Grundrechten „Multifunktionalität“ zu.15 Quintessenz dieser Entwicklung war die Mehrdimensionalität der Grundrechte, 11

HGrR, Bd. III/2, 1959, S. 717 ff. Vgl. näher K. Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 m.w. N. 13 In: Staatsrecht – Verfahrensrecht – Zivilrecht, hrsg. von D. Merten u. a., 1988, S. 49 ff. 14 Hans Huber, Die Verfassungsbeschwerde, in: ders., Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht. Ausgewählte Aufsätze 1950–1970, 1971, S. 131 f. 15 Wohl erstmals N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 80, 134. Näher K. Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, § 69 m.w. N. 12

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durch die ihnen eine vielfältige Durchsetzungskraft verliehen wurde. Das Bundesverfassungsgericht hat dies nach Vorläuferentscheidungen, die mit den Stichworten Ehegattensplitting,16 Lüth17 und Mitbestimmung18 gekennzeichnet sind, im ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch auf folgenden Nenner gebracht: „Nach der ständigen Rechtsprechung [des Gerichts] enthalten die Grundrechtsnormen nicht nur subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat, sondern sie verkörpern zugleich eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt und Richtlinien und Impulse für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung gibt“.19 Wegen vielfacher Einwendungen gegen den Wertbegriff verwandte man später vorwiegend die Bezeichnung „objektiv-rechtliche Gehalte“.20 Allerdings gebietet es die historische Wahrheit klarzustellen, dass das Bundesverfassungsgericht nicht Erfinder dieser objektiv-rechtlichen Gehalte ist. Sie hängen mit dem früheren deutschen Grundrechtsverständnis zusammen. Demgegenüber ist die subjektiv-rechtliche Komponente vor allem mit den englischen, amerikanischen und französischen Rechteerklärungen verbunden. Diese Genese unserer heutigen so fortschrittlichen Grundrechtsdogmatik darf nicht unterdrückt werden. Während die subjektiv-rechtliche Bedeutungsschicht der Grundrechte also in der Tradition der menschenrechtlichen Abkunft wurzelt und insbesondere den abwehrrechtlichen, gelegentlich auch den leistungsrechtlichen Charakter hervorgebracht hat, werden die objektiv-rechtlichen Gehalte in den Dienst unterschiedlicher Grundrechtswirkungen gestellt, die teils älteren Datums sind, teils jedoch auf ganz neuen Überlegungen beruhen. Älteren Datums sind namentlich die Einrichtungs-(Instituts-)garantien wie Eigentum und Erbrecht, Ehe und Familie, Wissenschaft und Kunst, Schulwesen, deutsche Staatsangehörigkeit, Presse, Rundfunk, Film, Vereine und Gesellschaften, Vertragsfreiheit und Tarifvertragssystem, um alle denkbaren Institute zu nennen. Neuere Entwicklungen der Grundrechtsdogmatik haben vor allem die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf die gesamte Rechtsordnung, in Grenzen Organisations-, Verfahrens- und Leistungsgehalte sowie insonderheit staatliche Schutzpflichten erschlossen. Die „Entdeckung“ der Schutzpflichten ist für die 16

BVerfGE 6, 55 BVerfGE 7, 198. 18 BVerfGE 50, 290. 19 BVerfGE 39, 1 (41). 20 So ständig ab BVerfGE 53, 30 (57); 56, 54 (73); 62, 230 (242); 89, 214 (228); 92, 365 (394 f.); 97, 169 (178); 98, 365 (395). Vereinzelt auch schon früher, z. B. BVerfGE 20, 162 (175); 21, 362 (371 f.); 49, 89 (141 f.). Ausführlich H. D. Jarass, Die Grundrechte als Abwehrrechte und objektive Grundrechtsnorm, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, S. 35 ff. 17

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Durchsetzung der Grundrechte in neuerer Zeit von größter Bedeutung geworden. Ihnen wird die Rechtsfolge zugesprochen, dass, aus Grundrechtsnormen abgeleitet, aktives Handeln des Staates zum Schutze grundrechtlicher Rechtsgüter geboten sein kann. Ideengeschichtlich steckt hinter dieser Grundrechtswirkung die alte Rechtfertigungslehre des Staates aus Staatszwecken. Wichtigster Ansatzpunkt für diese Schutzpflichtenlehre ist Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG. Schutzpflichten werden mittlerweile nahezu allen Grundrechten entnommen, wenngleich Art. 2 Abs. 2 GG, Schutz von Leben und Gesundheit, häufig in Verbindung mit der Menschenwürde, im Vordergrund steht; daneben werden aber auch besonders Art. 5, 6 und 7 GG herangezogen sowie ein allgemeiner (diplomatischer) Schutzanspruch aller Deutschen angenommen.21 Inzwischen hat sich die Lehre von den staatlichen Schutzpflichten aus Grundrechtsnormen allgemein durchgesetzt,22 ohne dass jedoch alle Zweifelsfragen geklärt wären. Streitfragen bestehen namentlich darüber, ob die Schutzpflichten gegenüber dem Gesetzgeber durchgesetzt werden können. Das Kernproblem konzentriert sich dabei auf die Frage, inwieweit es gerichtlich einklagbare subjektive Rechte auf die Implementierung der staatlichen Schutzpflicht gibt. Das Bundesverfassungsgericht hat bislang ein subjektives Recht auf ein bestimmtes Handeln des Gesetzgebers verneint.23 Das Schrifttum ist in dieser Frage nicht ganz so stringent; tendenziell wird ein subjektives Recht, wenn auch nicht auf eine bestimmte Maßnahme, bejaht.24 Gesichert scheint zu sein, dass dem Gesetzgeber ein Spielraum des Handelns zur Verfügung steht, der zwischen einem Über- und Untermaßverbot angesiedelt ist.25 Trotz offener Fragen läßt sich festhalten, dass die Entdeckung der objektivrechtlichen Gehalte einen wesentlichen Beitrag zur Durchsetzung der Grundrechte geleistet hat. Sie ist eine Fortentwicklung und Ausdehnung der Grundrechtsgeltung, die noch einiges erwarten lässt. Die gegenwärtige und zukünftige Grundrechtsdogmatik dürfte in den objektiv-rechtlichen Gehalten noch ein reichhaltiges Betätigungsfeld finden. Detlef Merten, zu dessen Ehrung wir hier

21 Vgl. BVerfGE 39, 1 – Abtreibung; 46, 160 – Hanns-Martin Schleyer; 49, 89 – Kalkar; 53, 30 – Mülheim-Kärlich; 56, 54 – Fluglärm; 66, 39 – Pershing; 72, 66 – Fluglärm; 75, 40 – Privatschulfinanzierung; 77, 170 – Chemiewaffen; 88, 203 – Abtreibung; BVerfG, JZ 2006, S. 408 mit Anmerkung von Ch. Starck – Luftsicherheitsgesetz. 22 Vgl. zuletzt J. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl. 2005; G. Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003; P. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002. 23 Vgl. BVerfGE 39, 1 (46 f.); 46, 160 (164 f.); 56, 54 (73); 77, 170 (214); 88, 203 (254 f.); 92, 26 (46); 96, 56 (64 f.). 24 Vgl. K. Stern, HStR V, § 109 Rdn. 43. 25 Vgl. K. Stern, Staatsrecht III/2, § 84 III 10 m.w. N.

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Klaus Stern

und heute zusammengekommen sind, hat sich mit Herausgabe und Redaktion des Handbuchs der Grundrechte unendlichen Mühen unterzogen, für die ihm unser aller Dank gebührt. Dieses große Grundrechtswerk harrt noch der Vollendung. Ist es abgeschlossen, so haben sich gewiss die Grundrechte auch wissenschaftlich dank des nimmermüden Einsatzes vieler Autoren durchgesetzt. Was bleibt dann noch für die künftigen Generationen übrig? Sie können das Ganze online umsetzen.

Auf dem Weg zu einer effektiveren Durchsetzung der Grundrechte Evolutive Interpretation der Rechte auf Schutz der Privatsphäre (Intimsphäre) und der Unverletzlichkeit der Wohnung María Jesús Montoro Chiner I. Begriffliche Abgrenzung Kapitel 2 des Titels I der Spanischen Verfassung 1978* trägt die Überschrift „Rechte und Freiheiten“. Die „Grundrechte und öffentlichen Freiheiten“ sind im 1. Abschnitt dieses Kapitels proklamiert, wohingegen der 2. Abschnitt die „Rechte und Pflichten der Bürger“ behandelt. Ich werde mich nur auf Grundrechte im engeren Sinn beziehen, d.h. auf die Grundrechte der Art. 15–29 CE und das Gleichheitsprinzip (Art. 14 CE). Die Rechte des 2. Abschnittes wurden zwar als „derechos constitucionales“ (verfassungsrechtlich verankerte Rechte) verstanden, aber nicht als Grundrechte im engeren Sinn. Diese Terminologie wurde, obwohl in der Lehre umstritten, vom Verfassungsgericht angewendet. Die Unterscheidung ist gleichwohl im System der Gewährleistung der Rechte begründet (Art. 53 und 54 CE). Gemäß Art. 53 binden die Grundrechte alle öffentlichen Gewalten und dürfen nur durch Gesetz näher geregelt werden, wobei das Gesetz den Wesensgehalt des Grundrechts zu respektieren hat. Art. 10 CE bestimmt, dass alle auf die in der Verfassung anerkannten Grundrechte und Freiheiten bezüglichen Normen in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und mit jenen dieselben Materien betreffenden internationalen Verträgen zu interpretieren sind, die Spanien ratifiziert hat (vgl. insbesondere die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950). Aus Art. 10 (der erwähnten Konformitätsklausel) – in Verbindung mit Art. 96 (der Regelung * Die spanische Verfassung (Constitución Española vom 27.12.1978 [BOE Num. 311, 29 de diciembre, RCL 1978, 2836]) wird im Folgenden abgekürzt zitiert: CE. Urteile des spanischen Verfassungsgerichts (Tribunal Constitucional) werden im Folgenden abgekürzt zitiert als STC (Sentencia del Tribunal Constitucional) mit Nummer und Jahrgang.

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über internationale Verträge) – der Spanischen Verfassung wird auch abgeleitet, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) für die nationalen Gerichte bei der Grundrechtsauslegung des nationalen Rechts bindend ist. Diese Bindung der nationalen Gerichte an die Straßburger Rechtsprechung ist paradigmatisch für die Interpretation des Inhalts des Art. 18 CE, der u. a. die persönliche und familiäre Intimsphäre sowie die Unverletzlichkeit der Wohnung schützt. Aus Zeitgründen werde ich mich hier auf die expansive Deutung beschränken, die diesen beiden Rechten in der Rechtsprechung gegeben wurde und mich dementsprechend auf die effektive Durchsetzung dieser Rechte auf Schutz der Privatsphäre und Unverletzlichkeit der Wohnung beziehen, soweit es um die Abwehr von Umwelteingriffen, wie insbesondere durch „Lärmverschmutzung“ (akustische Kontamination), Lichtimmissionen und Ähnliches geht. Zum besseren Verständnis ist es vielleicht zweckmäßig, Folgendes vorauszuschicken bzw. in Erinnerung zu rufen: Der Schutz der Grundrechte ist in der spanischen Verfassung vor allem im Wege der Verfassungsbeschwerde (amparoVerfahren) verankert. Zur Einleitung dieser Beschwerde muss der gerichtliche Instanzenzug erschöpft sein (Art. 161 Abs. 1 lit. b und Art. 162 Abs. 2 lit. b CE sowie Art. 41 bis 58 des Organgesetzes 2/1979 über das Verfassungsgericht i.V. m. Art. 53 CE). Zweitens sind die Grundrechte auch geschützt durch ein Sonderverfahren im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit (Art. 114 bis 122 CE und das Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit 29/1998). Zu erwähnen sind ferner: Der Ombudsman auf staatlicher Ebene (Defensor del Pueblo, Art. 54 CE) und die gleichartigen Organe, welche in der Mehrzahl der Autonomen Gemeinschaften gemäß ihren Autonomiestatuten eingerichtet sind, haben die Aufgabe, die Verwaltungstätigkeit zu überwachen, eingereichte Beschwerden zu untersuchen und den Parlamenten die erforderlichen Vorschläge zu erstatten. In diesem Zusammenhang ist der Ombudsman auf staatlicher Ebene befugt, Verfassungsbeschwerde zu erheben und Gesetzesprüfungen zu beantragen. Schon hier ist hervorzuheben, dass gerade der Defensor del Pueblo und die anderen Ombudsman-ähnlichen Einrichtungen in den Autonomen Gemeinschaften eine wesentliche Rolle gespielt haben und immer noch haben, soweit die Rechte aus Art. 18 CE gegen Eingriffe durch Lärmverschmutzung und sonstige allgemeine Umweltbelastungen bzw. -belästigungen mobilisiert wurden. Das Verfassungsgericht, welches in der Vergangenheit die Lärmverschmutzung mangels eines verfassungsrechtlichen Bezugspunktes nicht als Verletzung eines Verfassungsrechts anerkannt hatte, hält inzwischen Beeinträchtigungen des Rechts aus Art. 18 Abs. 2 CE bei bestimmten Lärmexpositionen für möglich. Für diese entscheidende Wende war – wie noch zu zeigen sein wird – der Fall López Ostra bestimmend, obwohl sich dieser Fall nicht auf Lärmverschmutzung bezog.

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II. Die Interpretation der Grundrechte gemäß Art. 10 Abs. 2 CE Das spanische Verfassungsgericht hatte naturgemäß in zahllosen Grundrechtsbeschwerdeverfahren Gelegenheit, die Grundrechte unmittelbar zu definieren und zu interpretieren. Was die übrigen sogenannten Verfassungsrechte anbelangt, die nicht dem amparo-Verfahren zugänglich sind, war die interpretative Funktion des Verfassungsgerichts auf jene Fälle beschränkt, in denen es einen Anknüpfungspunkt zu den Grundrechten gab. Bei der Interpretation der Grundrechte sind folgende Elemente hervorzuheben: Anerkannt ist die Lehre vom Wesensgehalt der Grundrechte, wenn der Gesetzgeber Grundrechte „entwickelt“ (STC 11/1981). Betont wird ferner auch die bindende Kraft der Grundrechte oder die Pflicht zur Direktanwendung derselben; das erlaubte z. B. die Anerkennung der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen, bevor noch der Gesetzgeber eine entsprechende Regelung traf (STC 15/1982) bzw. die Anerkennung der unmittelbaren Garantie des Schutzes personenbezogener Daten in der Informatik (STC 254/1993). Ein weiteres interpretatives Kriterium war die möglichst große Ausstrahlungskraft der Grundrechte und die Wahl einer Interpretation, die die Ausübung der Grundrechte am meisten begünstigt bzw. den Grundrechten Effektivität verleiht (STC 23/1988, 110/1988, 183/2000). Das Verfassungsgericht hat nicht nur die negative Pflicht der öffentlichen Gewalten, Eingriffe in die Grundrechtssphäre zu unterlassen, sondern auch die positive Pflicht anerkannt, die Wirksamkeit der Grundrechte zu schaffen bzw. zu dieser Wirksamkeit beizutragen oder sie zu begünstigen (STC 129/1989, 181/2000). Das Verfassungsgericht hat somit den Grundrechten nicht nur die Eigenschaft subjektiver Rechte, sondern auch den Charakter als objektive Werte zuerkannt. Was die Eigenschaft als objektive Werte anbelangt, bezeichnet es sie – wörtlich – als „wesentliche Elemente einer objektiven Rechtsordnung in einer Nationalgemeinschaft, und soweit sich diese als Rahmen für ein humanes, menschliches, gerechtes, friedfertiges – nach der Formulierung unserer Verfassung – historisch im demokratischen und sozialen Rechtsstaat verankertes Gewissen gestaltet hat“ (STC 11/1981). Die subjektivrechtliche Natur der Grundrechte der Einzelnen hat das Verfassungsgericht nicht nur als Recht der Bürger im engeren Sinn gesehen, sondern als jene Rechte bezeichnet, die „einen rechtlichen Status oder einen Status der Freiheit in einem bestimmten Lebensbereich garantieren“ (STC 25/1981). Das Verfassungsgericht hat ferner auch die Drittwirkung (inter privatos) anerkannt, wenngleich man aus prozessualen Gründen die Grundrechtsverletzung jenem richterlichen Organ zugerechnet hat, welches in dem dem verfassungsgerichtlichen Verfahren vorangehenden Anlassfall die Rechtsverletzung nicht erkannt und dem Rechtsanspruch des Klägers folglich nicht stattgegeben hatte (STC 47/ 1985).

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Seit Ende der 90er Jahre übernimmt das Verfassungsgericht die Rechtsprechung des EGMR, wenn diese eine günstigere Auslegung erlaubt als die Texte jener (schon erwähnten) Verträge, auf die sich Art. 10 Abs. 2 CE bezieht (so z. B. STC 123/197, 147/1999 und insbesondere STC 119/2001). Im zuletzt genannten Urteil hat das Verfassungsgericht theoretische Überlegungen über die Beeinträchtigung der Grundrechte auf „körperliche und moralische Unversehrtheit“, auf persönliche Intimsphäre und Unverletzlichkeit der Wohnung der Beschwerdeführerin angestellt, eine tatsächliche Verletzung dieser Grundrechte jedoch aus Mangel an Beweisen im konkreten Fall verneint. Später freilich hat der EGMR genau diese Beschwerdeführerin in seinem Urteil vom 16.11.2004 in ihrem Recht aus Art. 8 EMRK für verletzt erachtet. Darauf wird noch zurückzukommen sein. In der spanischen Rechtsprechung bildete sich jedoch auf Grund dessen alsbald eine neue Linie der Interpretation heraus, wonach es möglich ist, das jemand, der über längere Zeit und konstant eine Lärmexposition erleiden muss, in seinen Rechten auf Unverletzlichkeit der Wohnung und Intimsphäre verletzt sein kann, ohne dass die Beeinträchtigung so extrem sein muss, dass die Gesundheit und physische Integrität des Betroffenen gefährdet wäre. So interpretiert man es nämlich inzwischen in der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Oberster Gerichtshof, Verwaltungsrechtlicher Senat, Urteil vom 29.5.2003). Schließlich ist darauf aufmerksam zu machen, dass sich das Verfassungsgericht im Laufe der Zeit auch immer mehr auf die Rechtsprechung des EuGH in Luxemburg bezieht und stützt, soweit es sich um Grundrechte handelt (so z. B. in STC 265/1994, 130/1995, 292/2000). III. Zur rechtlichen Methodik, die das Verfassungsgericht zum Schutz der in Art. 18 CE anerkannten Rechte gegenüber Eingriffen durch sogenannte Lärmverschmutzung anwendet Wie die Wissenschaft und das Verfassungsgericht selbst erklärt haben, gewährleistet Art. 18 CE offensichtlich verschieden ausformulierte Rechte, die auf einem gemeinsamen Grundgedanken beruhen, nämlich dem Schutz der persönlichen und privaten Sphäre des Individuums. Dementsprechend hat die Rechtsprechung das Bestehen von Unterschieden zwischen den Rechten anerkannt, wenngleich diese Rechte alle in Art. 18 CE verankert sind und miteinander in Verbindung stehen (STC 117/1994). Von den übrigen Rechten des Art. 18 CE soll im Folgenden nur ein kurzer Überblick gegeben werden, bevor wir uns auf das Thema Lärmbeeinträchtigung konzentrieren. Das Recht auf Ehre (Art. 18 Abs. 1 CE) wird als authentisches Grundrecht mit eigenständigem verfassungsrechtlichen Gehalt und mit einem von den anderen in demselben Verfassungsartikel garantierten Rechten deutlich unterscheidbaren Inhalt angesehen. Man versteht das „Rechte auf Ehre“ im Sinne von

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„Ruf“, „soziale Reputation“, Ansehen des Einzelnen oder berufliches Ansehen (STC 180/1999), naturgemäß je nach dem Erscheinungsbild gemäß der Stellung im öffentlichen oder privaten Leben (STC 21/2000). Das Recht am eigenen Bild (Art. 18 Abs. 1 CE) ist eine Form des persönlichen Selbstbestimmungsrechts und deshalb vom Verfassungsgericht als eine Erscheinungsform des Rechts auf persönliche Intimsphäre qualifiziert worden (STC 170/1987), wonach der Gebrauch und die Verbreitung des Bildes nur mit Zustimmung des Trägers dieses Rechts erlaubt ist. Der Art. 18 Abs. 3 CE gewährleistet die Kommunikation und ihre Unantastbarkeit gegenüber öffentlichen Behörden, Privaten oder Dritten ungeachtet des Inhalts der Information. Unter Bezugnahme auf den EGMR werden in einem Urteil des Verfassungsgerichts (STC 85/1994) als gerechtfertigte Eingriffe nur solche betrachtet, bei denen es sich um durch eine richterliche Entscheidung autorisierte Eingriffe handelt, wobei insbesondere die Gesetzmäßigkeit zu prüfen und die Verhältnismäßigkeit abzuwägen ist. Art. 18 Abs. 4 CE gewährleistet die sogenannte „libertad informática“ gegenüber möglichen Verletzungen, die durch rechtswidrigen Gebrauch von personenbezogenen Daten in der Datenanwendung (früher: Datenverarbeitung) in Bezug auf Würde und Freiheit verursacht werden (STC 290/2000). Schließlich kommen wir zu jenem Inhalt des Art. 18 Abs. 2 CE, bei welchem bestimmte Rechte durch „Lärmverschmutzung“ verletzt sein können. Art. 18 Abs. 2 CE schützt die persönliche und familiäre Intimsphäre als direkte Ableitung der Menschenwürde und Grundlage der politischen Ordnung sowie des sozialen Friedens gemäß Art. 10 Abs. 1 CE. Art. 18 Abs. 2 CE schützt auch die Unverletzlichkeit der Wohnung. Ich werde mich nicht auf die – möglichen – physischen Eingriffe in das Recht auf Wohnung beziehen und auch nicht auf solche Eingriffe, die mittels technischer Vorkehrungen oder elektronischer Hilfen bewirkt werden, auch wenn diese die hauptsächlich vorkommenden Grundrechtsverletzungen und Beschwerdepunkte sind. Es soll die Rede sein von den neuen immateriellen Immissionen, insbesondere vom Lärm. Die akustische Kontamination („Lärmverschmutzung“) kann die in Art. 15 und 18 Abs. 1 und 2 CE proklamierten Rechte verletzen. Was die körperliche und seelische („moralische“) Integrität anbelangt, schützt Art. 15 die „Unverletzlichkeit der Person“ nicht nur gegen Angriffe, die darauf abzielen, Körper oder Geist einer Person zu verletzen, sondern auch gegen jede Art von Eingriffen in diese geschützten Rechtsgüter ohne Zustimmung des Betroffenen (STC 207/1996). Das Recht auf persönliche und familiäre Intimsphäre hat den Schutz des privaten Lebens vor der Kenntnis und Einsicht Dritter zum Gegenstand, mögen

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diese Dritten öffentliche Gewalten oder Privatpersonen sein. Auch hier dient das Recht dem Schutz gegen Einblick Dritter ohne Einwilligung des Trägers dieses Rechts (STC 144/1999). Dieses Recht versteht sich als strikt mit der eigenen Persönlichkeit verbunden und leitet sich aus der Würde der Person ab, die Art. 10 Abs. 1 CE anerkennt. Es bedeutet „die Existenz eines eigenen Bereichs, der – nach den Regeln unserer Kultur – notwendigerweise vor Tätigkeit und Kenntnis anderer geschützt bzw. ausgenommen ist, um zumindest eine minimale Qualität des menschlichen Lebens aufrecht zu erhalten“ (STC 186/ 2000). Als unverletzliche Wohnung wurde jener Bereich verstanden, „in welchem der Einzelne lebt, ohne notwendigerweise den Gebräuchen und Konventionen der Gesellschaft unterworfen zu sein und wo er seine intimste Freiheit ausübt“ (STC 171/1999). Im vollen Bewusstsein des Erkenntniswertes der Rechtsprechung des EGMR, womit interpretative Kriterien der verfassungsrechtlichen Schutznormen der Grundrechte im Wege der Doktrin des EGMR angesprochen sind, gelangte das spanische Verfassungsgericht zu der Schlussfolgerung, dass eine kontinuierliche Lärmexposition auf intensivem Lärmniveau die Gesundheit von Personen in schwere Gefahr bringen kann, und dass eine solche Situation eine Verletzung des Rechts auf körperliche und seelische Integrität (Unversehrtheit) mit sich bringen kann – freilich nur dann, wenn das Niveau der Lärmbelastung, welche eine Person als Folge von Tätigkeit oder Untätigkeit der öffentlichen Gewalten zu ertragen hat, einen Grad erreicht, ab dem die Gesundheit schwerwiegend und unmittelbar gefährdet wird, könne das in Art. 15 CE garantierte Recht betroffen sein. In gleicher Weise wie die EMRK in ihrem Art. 8 Abs. 1 jedermanns Recht auf „Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs“ anerkennt, versteht das spanische Verfassungsgericht den Art. 18 CE dahin, dass er auf eigenständige und im Rahmen der nationalen Grundrechte auf differenzierte Weise die persönliche und familiäre Intimsphäre (Art. 18 Abs. 1 CE) und die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 18 Abs. 2 CE) gewährleistet. In Übereinstimmung mit der Deutung, dass die erwähnten Lebensbereiche von der Kenntnismöglichkeit fremder Personen und Beeinträchtigungen seitens Dritter ausgenommen sind, steht daher die Deutung, dass eine Situation dann, wenn sie „eine länger dauernde Lärmexposition auf bestimmtem Niveau bewirkt, welche – objektiv betrachtet – als vermeidbar und zugleich unerträglich zu qualifizieren ist, einen aus dem Grundrecht auf persönliche und familiäre Intimsphäre im häuslichen Bereich hergeleiteten Schutz verdienen muss“. Dies ist freilich in dem Sinne zu verstehen, dass der Lärm ein bestimmtes Ausmaß erreichen und eine Gesundheitsbeeinträchtigung darstellen muss, damit eine derartige Lärmbelastung als Verletzung des Rechts der Intimsphäre verstanden werden kann. In seinem Urteil STC 119/2001 hat das spanische

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Verfassungsgericht allerdings gemeint, die Beschwerdeführerin habe weder die Verletzung noch die Gefährdung ihrer Gesundheit dargetan, und es hat daher die Beschwerde aus Mangel an überzeugenden Beweisen zurückgewiesen. Das Verfassungsgericht hat jedoch dem Grunde nach zu verstehen gegeben, dass Lärm durchaus ein pathogener Faktor sein kann, und dabei insbesondere den (möglichen) Zusammenhang zwischen Lärm und Gesundheit anerkannt. Die Beschwerdeführerin, deren Grundrechtsbeschwerde in Spanien nicht stattgegeben worden war, erhob Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der darüber in seinem Urteil vom 16.11.2004 entschied (Moreno Gómez ./. Spanien). Der EGMR verwarf das Argument fehlender Beweisführung für eingetretenen Schaden, zumal die Beschwerdeführerin in einer Zone wohnte, in der nächtlicher Lärm unbestreitbar gegeben war, und zwar in einem Ausmaß, dass sogar die Stadtverwaltung von Valencia dieses Gebiet zur „zona acústicamente saturada“ (lärmüberlastete Zone) erklärt hatte, was im Sinne des Lokalverwaltungsrechts bedeutet, dass dieses Gebiet unter einer so erhöhten Lärmbelastung leidet, dass dies für die Einwohner die Quelle einer bedeutenden Beeinträchtigung konstituiert. Im Anschluss an sein Urteil im Fall López Ostra, welcher sich im Wesentlichen auf Geruchsbelästigung durch eine Kläranlage bezogen hatte, und in welchem der EGMR gemeint hatte, dass „schwerwiegende Umwelteingriffe das Wohlbefinden einer Person betreffen und sie am „Genuss“ (d.h. wohl: am normalen Gebrauch) ihrer Wohnung hindern können, und zwar in einer Weise, dass dies ihr Privat- und Familienleben beeinträchtigt, selbst wenn dies (noch) nicht eine schwere Gefahr für die Gesundheit der betroffenen Person bedeuten mag“, ist der EGMR in diesem Fall zu folgendem Schluss gelangt: Unter Bedachtnahme auf die Abwägung, die zwischen den Interessen der Einzelnen und der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit vorzunehmen ist, einschließlich der positiven Verpflichtungen, die die öffentlichen Gewalten übernehmen müssen, um die in Art. 8 EMRK garantierten Rechte zu gewährleisten, hat der Gerichtshof eine Verletzung des Art. 8 EMRK festgestellt, weil unter Verantwortung des Staates keine angemessenen und adäquaten Maßnahmen ergriffen worden waren, die in Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Rechte zu schützen, nämlich das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung von Wohnung und Privatleben. Dementsprechend wurde das Königreich Spanien verurteilt. Die gleiche Formulierung wie im Fall Moreno Gómez findet sich jüngst auch in einem die Schweiz betreffenden Fall, bei dem es allerdings um eine behauptete Gesundheitsbeeinträchtigung durch Mobilfunk ging (EGMR, 17.1.2006 [Kammer IV], Luginbühl ./. Schweiz). Unter Überprüfung der gesamten Schweizerischen Staatspraxis, nämlich Berücksichtigung der Bemühung der Behörden, gegenwärtig bestehende Grenzwerte periodisch zu überprüfen und gegebenenfalls an den Stand der Wissenschaft anzupassen, sowie unter Berücksichtung der Gesetzgebung, welche Maßnahmen zum speziellen Schutz von besonders

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elektrosensiblen Personen grundsätzlich ermöglicht, gelangte der EGMR in diesem Fall allerdings zum Ergebnis, dass den Staat Schweiz keine Verpflichtung zur Setzung weiterer Maßnahmen treffe, um die Rechte der Beschwerdeführerin auf angemessene und adäquate Weise zu schützen. Als Zwischenergebnis kann man festhalten: Das spanische Verfassungsgericht hat – schon seit seinem Urteil STC 199/1996, besonders dann in STC 119/2001 und jüngst wieder in STC 16/2004 – den Einfluss anerkannt, den der Lärm tatsächlich auf die Integrität der Person und der erwähnten Grundrechte haben kann. Das Verfassungsgericht hat auch einen genauen Unterschied gemacht zwischen den im strikten Sinne im Wege des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens (amparo) schützbaren Grundrechten und jenen anderen Verfassungsrechten, deren Schutz auf anderen Wegen vorgesehen ist. Zugleich hat das Verfassungsgericht große Vorsicht walten lassen, um nur ja keine „sklavische Nachahmung“ der Ausführungen des EGMR vorzunehmen, zumal dies – wie man ausdrücklich festhielt – „jene normativen Unterschiede ignorieren würde, die zwischen der spanischen Verfassung und der EMRK bestehen“. Insbesondere in seinem jüngsten Urteil STC 16/2004 (Entscheidungsbegründung Pkt. 3) betont das Verfassungsgericht, dass „die Rechte auf körperliche und seelische Integrität, auf Schutz der persönlichen und familiären Intimsphäre und auf Unverletzlichkeit der Wohnung auch eine positive Dimension in Bezug auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit gewonnen haben, die sich an der vollen Wirksamkeit dieser Grundrechte orientiert“. Unter Bedachtnahme darauf, dass unser Verfassungstext nicht bloß theoretische oder illusorische Rechte proklamiert, sondern reale und effektive Rechte (so ausdrücklich STC 12/1994), erweist es sich als unverzichtbar, ihren wirksamen Schutz zu sichern, und zwar nicht nur gegenüber traditionellen Eingriffen, sondern auch gegenüber Risiken, die in einer technologisch avancierten Gesellschaft entstehen können. Für diese neue Realität hat sich das neue Lärmschutzgesetz 37/2003 als aufgeschlossen gezeigt; in seiner Präambel wird anerkannt, dass „der Lärm in seinen Auswirkungen auf die Umwelt traditionell nicht geradezu Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit in der Umweltschutzgesetzgebung gewesen ist. Lärm wird hier in einem weiten und umfassenden Sinn behandelt, und darin liegt der Fortschritt dieses Gesetzes“. Dann wird vom Verfassungsgericht erläuternd ausgeführt, dass „in der spanischen Gesetzgebung der Verfassungsauftrag, die Gesundheit (Art. 43 CE) und die Umwelt (Art. 45 CE) zu schützen, in seinem Bedeutungsumfang auch den Schutz gegenüber akustischer Kontamination (Lärmverschmutzung) einschließt. Der verfassungsrechtliche Schutz gegen diese Form der Kontamination findet auch eine Stütze in einigen von der Verfassung anerkannten Grundrechten, u. a. im Recht auf persönliche und familiäre Intimsphäre, wie es in Art. 18 Abs. 1 verankert ist“ (es folgen in dieser Entscheidungsbegründung des Verfassungsgerichts dann auch noch Zitate aus der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR, nämlich Hinweise auf die Urteile Powell und Ray-

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ner ./. UK vom 21.2.1990; López Ostra ./. Königreich Spanien vom 9.12.1994; Guerra ./. Italien vom 19.2.1998; Hatton ./. UK vom 8.3.2003).

IV. Andere präventive und repressive Wege, um den durch „Lärmverschmutzung“ verletzten Grundrechten Effektivität zu verleihen 1. Ombudsman-Einrichtungen

Seit etwa 1996 finden sich in den Jahresberichten sowohl des Defensor del Pueblo (Ombudsman auf staatlicher Ebene) als auch der äquivalenten Organe der Autonomen Gemeinschaften Berichte über Beschwerden und Empfehlungen hinsichtlich der Lärmverschmutzung. Die Beschwerden betrafen i. d. R. Lärm, der von Flughäfen oder durch den Verkehr verursacht wird; im Bereich des Verkehrslärms vor allem durch die Einrichtung zur Geschwindigkeitsbegrenzung wie die sogenannten bandas rugosas („Rumpelstreifen“); ferner jenen Lärm, der vom Publikum im Rahmen der Freizeitgestaltung verursacht wird (z. B. von Bars, Festen im Freien, Karnevalsveranstaltungen etc.) sowie auch das Schlagen der Kirchturmglocken (nicht nur der Stundenschlag, sondern auch das Läuten zu anderen Gelegenheiten wie bei Messen, Begräbnissen usw.). Der Ombudsman hat den öffentlichen Verwaltungen verschiedene Systeme der Mäßigung vorgeschlagen, z. B. die Zahlung von Entschädigungen und auch Schallisolierung von Wohnungen, so vor allem hinsichtlich des von Flugzeugen bei Start und Landung verursachten Lärms bzw. für den Verkehrslärm von Straßen; diese Maßnahmen haben sich besonders im Fall der Flughäfen als effektiv erwiesen. Hinsichtlich des Läutens der Kirchenglocken wurde darauf hingewiesen, es müsse notwendigerweise auch auf andere Religionen Bedacht genommen werden, und es wurde dementsprechend eine Mäßigung empfohlen. 2. Verwaltungsgerichtliche Verfahren

In zahlreichen Fällen haben die Verwaltungsgerichte die Verwaltung dazu verurteilt, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Lärmbelastungssituationen zu lösen bzw. zu entschärfen und die Erfüllung jener kommunalen Rechtsvorschriften zu gewährleisten, die sich auf das zulässige Lärmniveau (Schallpegel) in den Wohnungen der Betroffenen beziehen. Als konkretes Beispiel sei das Urteil des Obergerichts von Rioja (Tribunal Superior de Justicia de la Rioja) vom 18.2.2005 erwähnt, das die Verwaltung dazu verpflichtete, bestimmte Geschwindigkeitsbegrenzer wieder zu entfernen, weil sich herausgestellt hatte, dass der davon ausgehende Verkehrslärm in dem Bereich, in dem sie angebracht waren, höher war als die kommunalen Satzungen erlaubten. Bemerkenswert ist auch ein Urteil des verwaltungsrechtlichen Senats des Obersten Gerichtshofs (Tribu-

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nal Supremo, Sala de lo Contencioso-Administrativo) vom 18.11.2002, welches eine Stadtverwaltung wegen anhaltender Untätigkeit beim Schutz der Einwohner gegen hohes Lärmniveau verurteilte. Damit wurden die verletzten Grundrechte direkt geschützt und den Klägern der Weg des amparo-Verfahrens erspart. In einem Kassationsurteil vom 29.5.2003 erkannte der Oberste Gerichtshof, dass die Stadtverwaltung von Sevilla das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 18 Abs. 2 CE) verletzt hat und ordnete an, dass diese die Schließung bzw. Betriebssperre der streitgegenständlichen Diskothek aufrecht erhalten müsse, bis bewiesen sei, dass wirksame Maßnahmen zur Verhinderung des von dieser ausgehenden Lärmes ergriffen wurden. Der Senat begründete seine Entscheidung unter Bezugnahme der Verfassungsrechtsprechung und insbesondere auch der Rechtsprechung des EGMR, wobei wiederum das Argument angeführt wurde, dass das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (im Hinblick auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit und in Orientierung an seiner vollen Wirksamkeit) eine positive Dimension gewonnen habe. Die Begründung enthält auch den Gedanken, dass bestimmte schwere Umweltschäden, selbst wenn sie die Gesundheit von Personen (noch) nicht gefährden, gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verstoßen, soweit sie diese Personen des „Genusses“ (normalen Gebrauchs) ihrer Wohnung berauben. Die zuletzt genannte Nuancierung stellt einen bemerkenswerten Fortschritt in der Rechtsprechung dar, zumal nach dieser Formulierung – im Gegensatz zu der ursprünglich vom Verfassungsgericht eingenommenen Position – der Lärm als pathogener Faktor die Unverletzlichkeit der Wohnung beeinträchtigen kann, auch wenn dies noch nicht so weit geht, die körperliche oder seelische Integrität im Sinn des Art. 15 CE zu verletzen. Diese Position ist auch insofern als besonders fortschrittlich anzusehen, als der EGMR in Straßburg erst drei Jahre später (nämlich jüngst im schon zitierten Fall Luginbühl) das Problem des Elektrosmogs ausschließlich unter Art. 8 EMRK abgehandelt hat und eine Beurteilung unter dem Gesichtspunkt der Lebensschutzgarantie des Art. 2 EMRK für überflüssig erachtete. Interessant ist ferner das Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 23.6.2003 über einen Kassationsrekurs, in welchem sich die Nuancierung findet, dass die Verletzung der kommunalen Satzungen gegen Lärmverschmutzung nicht von der Stadtverwaltung begangen wurden, sondern von Betreibern der verschiedenen Vergnügungsstätten, die die ihnen anlässlich der entsprechenden Bewilligung seitens der Stadtverwaltung erteilten Beschränkungen und Auflagen nicht eingehalten haben (Fall „Semana negra de Gijón“). Hervorzuheben ist auch ein Urteil des Einzelrichters des Verwaltungsgerichts Gerona, mit welchem er der Gemeinde Palamós aufträgt, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Verletzung von Grundrechten zu beenden, und

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unmittelbar anordnet, dass die Ladetätigkeit zwischen 20 Uhr abends und 8 Uhr früh einzustellen ist. Damit wurde einem besonderen in der Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgesehenen Rechtsbehelf („proceso de protección de derechos fundamentales“, wie er eingangs erwähnt wurde) stattgegeben, und zwar ausdrücklich wegen Verletzung der in den Art. 15 und 18 CE anerkannten Rechte. 3. Strafgerichtlicher Schutz

Immer häufiger kommen auch Verurteilungen wegen des in Art. 325 des Strafgesetzbuchs vertypten Deliktes der „contaminación acústica“ (Lärmverschmutzung) vor. So z. B. durch das Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 24.2.2003, in welchem es als erwiesen angesehen wurde, dass ein Lärmniveau (Schallpegel) für das Delikt konstitutiv war, welches bei Kindern und Erwachsenen in nahe gelegenen Wohnungen Schlafstörungen, Veränderungen im Charakter, Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit verursachte. Gleichermaßen sprach ein Urteil des Strafgerichts Nr. 1 von Badajoz (Juzgado Penal No1 de Badajoz) vom 15.11.2004 die Verurteilung wegen eines Umweltdeliktes (in Form der Lärmverschmutzung) aus. Verhängt wurden Gefängnisstrafe und Geldstrafe sowie ein spezielles Berufs(ausübungs)verbot, weil der ständige Lärm und die Belästigungen in den Wohnungen oberhalb der in Rede stehenden Bar infolge ihrer lang anhaltenden Dauer psychische Störungen hervorgerufen hatten. Der erwähnte Art. 325 des spanischen Strafgesetzbuchs (i. d. F. der Novellierung durch das Organgesetz 15/2003) regelt das sogenannte „delito de contaminación acústica“ („Delikt der Lärmverschmutzung“). Der Straftatbestand findet sich im Kapitel III des Titels 16 des Strafgesetzbuchs. Er sieht die Bestrafung jener Personen vor, „die unter Verstoß gegen Gesetze und andere Rechtsvorschriften allgemein verbindlichen Charakters, welche zum Schutz der Umwelt erlassen sind, auf direkte oder indirekte Weise Immissionen, das Verbringen von festen und flüssigen Abfällen in die Umwelt, Strahlungen, Ausgrabungen und unzulässige Entnahme von mineralischen Rohstoffen, die Verbringung von Erdmaterial, Lärm und Erschütterungen . . . verursachen oder bewirken.“ Das Strafgesetzbuch berücksichtigt allerdings nicht, dass jene Verhaltensweisen, welche unzulässige Lärmimmissionen verursachen, auch bloße Übertretungen sein können. Angesichts dieser Situation hat die Rechtsprechung diese normative Unterlassung des Gesetzgebers dadurch angeglichen, dass solche Handlungen, falls sie nicht schwerwiegend sind, auch Übertretungen darstellen können, die in anderen Straftatbeständen erfasst sind.

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María Jesús Montoro Chiner 4. Verwaltungsrecht: Die komplizierte Welt der verwaltungsrechtlichen Genehmigungen und Bewilligungen

Im Bereich des Verwaltungsrechts sieht die Gesetzgebung zahlreiche Normen zur Vorbeugung gegen Lärm vor. Sie reichen vom Organgesetz 6/1992 über den Schutz der Sicherheit der Bürger über die allgemeinen Normen betreffend die behördliche Genehmigung von öffentlichen Veranstaltungen, Aufführungen und Belustigungen bis hin speziell zum Lärmschutzgesetz 37/2003, das schon erwähnt wurde. Dieses hat die Kontrolle und Reduktion von akustischer Kontamination zum Gegenstand, um Schäden für Gesundheit und Umwelt hintanzuhalten. In der Präambel des Gesetzes vernimmt man förmlich ein Echo der gemeinschaftsrechtlichen Richtlinie über Umweltlärm. Die Präambel spricht auch den Verfassungsauftrag für Gesundheit und Umweltschutz an und unterstreicht insbesondere den verfassungsrechtlichen Schutz gegenüber der Lärmverschmutzung, den die in Art. 18 Abs. 1 CE verankerten Rechte der persönlichen und familiären Intimsphäre bewirken und gewähren. Das Gesetz regelt ferner die Rechte der Bürger auf Information in dieser Materie, die Fixierung der Lärmschutzgrenzwerte, die Erfassung des bestehenden Lärms in Form von „Lärmkarten“ und die Planung von Maßnahmen gegen die Lärmverschmutzung. Natürlich finden sich auch entsprechende Ermächtigungen für ein beachtliches Repertoire von Verwaltungssanktionen. Auch die Mehrzahl der Autonomen Gemeinschaften hat Gesetze zum Schutz vor Lärmverschmutzung erlassen. Pionier war in dieser Hinsicht das Gesetz von Galizien 7/1997. Auf lokaler Ebene haben zahlreiche Kommunen ihre lokale Rechtsetzungsbefugnis ausgeübt und entwickelt, indem sie vor allem die Bereiche Lärm und Erschütterungen einer Regelung zuführten. Außerdem wurden in den meisten autonomen Gemeinschaften Muster-Satzungen für Lärm und Erschütterungen ausgearbeitet, die unter Beachtung der vorgeschriebenen Verfahrensvorschriften von der jeweiligen Gemeindeverwaltung angenommen und erlassen werden können, wobei sie entweder „eins zu eins“ umgesetzt oder – an die örtlichen Besonderheiten und Notwendigkeiten angepasst – übernommen werden können. Vor kurzem ist in der Form eines sogenannten „Codigo Técnico de la Edificación“ eine neue Regelung für die Isolierung von Wohnungen in Kraft getreten, die verpflichtend für jeden neuen Wohnbau ist. Diese Verordnung erging in Ausführung und Entwicklung des staatlichen Baugesetzes (Ley de la Edificación). Es ist klar, dass alle auf die Lärmverschmutzung bezüglichen Normen gemeinsam mit anderen Typen von Normen einen Beitrag leisten zu der höchst komplizierten Welt der umweltrechtlichen Bewilligungen, welche ihrerseits – mit oder ohne Umweltverträglichkeitsprüfung – alle möglichen Arten von Aktivitäten betreffen. Die Schwäche der gesamten Konstruktion beruht für die Ver-

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waltungen in Bezug auf den Schutz der Grundrechte darin, alle daraus resultierenden Verpflichtungen der Adressaten korrekt durchzusetzen. Dies hat letztlich zur Folge, dass in zahlreichen Fällen – bei voller Ausschöpfung der Verfahren – Verurteilungen der öffentlichen Verwaltungen erfolgen, sei es wegen deren übermäßiger Toleranz, sei es wegen deren anhaltender Untätigkeit, was wiederum den Gerichten Gelegenheit zur Intervention gibt, um einen effektiven Schutz der gefährdeten Grundrechte zu bewirken. 5. Zivilrechtlicher Schutz und Schutz gegen Lärm im Arbeitsleben

Zwar hat das Zivilgesetzbuch kaum spezifische Normen für das Nachbarrecht enthalten, wenn man von den Art. 590, 1902 und 1908 absieht. Doch hat die neuere Gesetzgebung, und zwar sowohl die Gesetzgebung über horizontales Eigentum als auch die Baugesetzgebung, die Anforderungen für die Bewohnbarkeit der Gebäude näher geregelt. Der gesetzlich zulässige Lärm darf die Gesundheit der Personen nicht gefährden und die dadurch entstehende Situation muss ihnen gleichwohl gestatten, ihre Aktivitäten in zufriedenstellender Weise ausführen zu können. Es würde zu weit führen, über die zahllosen Normen für den Lärmschutz im Bereich des Arbeitslebens im Einzelnen zu berichten. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass die Gerichte angenommen haben, dass bestimmte Lärmniveaus die Gesundheit und (körperliche) Integrität der Arbeitnehmer gefährden können, wobei auch Art. 316 des Strafgesetzbuchs ins Spiel kam, und dass im Rahmen der Berufskrankheiten im System der Sozialversicherung die durch Lärm verursachte Taubheit berücksichtigt wird. Diese Auffassung liegt auch der modernen Gesetzgebung zur Vermeidung von Arbeitsgefahren zu Grunde. Das Gesetz 31/ 1995 ermächtigt die Regierung dazu, nähere Normen in dieser Materie zu erlassen, in denen Pflichten der Unternehmer und Arbeitnehmer sowie der Erzeuger, Importeure und Lieferanten von Maschinen, technischen Einrichtungen und Produkten festgelegten werden. V. Schlussbemerkung Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die verschiedenen Umweltsektoren in Erfüllung des Verfassungsauftrags des Art. 45 CE sowohl im Bereich der öffentlichrechtlichen als auch der privatrechtlichen Gesetzgebung eine Regelung gefunden haben, welche die Vermeidung verschiedener Formen der Kontamination zum Gegenstand haben. Besonders hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang das jüngst verabschiedete neue Statut der autonomen Gemeinschaft Katalonien (Organgesetz 6/2006 vom 19.6.2006 über die Reform des Estatuto de Autonomía de Cata-

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luña). In dessen Art. 46, der seinen Standort im Kapitel V über die leitenden Prinzipien hat, findet sich die Verpflichtung zur Umweltvorsorge festgeschrieben, die durch die Fixierung von Mindeststandards und Mindestniveaus die diversen Formen der Umweltverschmutzung zu reduzieren helfen soll. Bestimmungen mit ähnlicher Tendenz und Tragweite sind übrigens für die Statuten jener Autonomen Gemeinschaften vorgesehen, die gegenwärtig ebenfalls einem grundlegenden Reformprozess unterzogen werden. Sicherlich sind die mit der Verschmutzung durch Lärm, Gerüche und elektromagnetische Strahlung verbundenen Probleme und ihr Einfluss auf die Grundrechte bis zum Anfang der 90er Jahre praktisch ignoriert worden; doch kann man andererseits als Gewissheit festhalten, dass der Gesetzgeber in den letzten Jahren deutliche Forschritte gemacht und für alle öffentlichen Gewalten verbindliche Normen zum Schutz jener Grundrechte geschaffen hat, die durch derartige Umwelteingriffe betroffen sein können. Auch die öffentliche Verwaltung ist sich im verstärkten Maße bewusst geworden, dass in dieser Beziehung eine strenge und positive Haltung notwendig ist, und sie versucht heute, die früher oft geübte Toleranz gegenüber Umweltsünden zu vermeiden. Zu guter Letzt hat die richterliche Gewalt, und hier vor allem die ordentliche Gerichtsbarkeit, die Grundrechtsschutz-Doktrin des EGMR übernommen. Dies beruht auf der – in Art. 8 des Organgesetzes für die Rechtsprechung begründeten – Verpflichtung zur Interpretation in Konformität mit der Rechtsprechung des spanischen Verfassungsgerichts, von dem man sagen kann, dass es seinerseits selbst aus den erwähnten Quellen des zitierten Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte „geschöpft“ hat.

Auswahlbibliographie Alba Catoira, Ana, La limitación de los derechos en la jurisprudencia del Tribunal Constitucional Español, Valencia 1999. Bacigalupo, Mariano, La aplicación de la doctrina de los límites inmanentes a los derechos fundamentales sometidos a reserva legal, Revista Española de Derecho Constitucional 38 (1993), 297 ff. Baño León, José María, Los derechos fundamentales en la Comunidad Europea y la competencia del juez nacional, Revista Española de Derecho Administrativo 54 (1987), 277 ff. Carrillo, Marc, El derecho a no ser molestado (Información y vida privada), Barcelona 2003. Jiménez Campo, Javier, Derechos fundamentales. Concepto y garantía, Madrid 1999. López Díaz, Elvira, El derecho al honor y el derecho a la intimidad: jurisprudencia y doctrina, Madrid 1996.

Auf dem Weg zu einer effektiveren Durchsetzung der Grundrechte

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Besonderheiten der Grundrechtsdurchsetzung in Österreich Kirsten Schmalenbach I. Einleitung Innerhalb eines Staates können die Grundrechte auf die unterschiedlichste Art und Weise durchgesetzt werden, sei es gerichtsförmig oder außergerichtlich, präventiv oder repressiv, speziell oder im Wege der allgemeinen Rechtskontrolle.1 Die genannten Wege der Grundrechtsdurchsetzung können parallel nebeneinander stehen oder sich ergänzen. Jeder Staat kann diesbezüglich seinem eigenen, verfassungsrechtlich vorgezeichneten Weg folgen, solange nicht völkerrechtliche Pflichten bestimmte verfahrensrechtliche Mindeststandards des Grundrechtsschutzes gebieten (z. B. durch Art. 13 EMRK2). Auch das System der Grundrechtsdurchsetzung in Österreich zeichnet sich – im Vergleich zum deutschen System – durch einige Besonderheiten aus. Es ist hier freilich nicht der Ort, die einzelnen Facetten der österreichischen Grundrechtsdurchsetzung in ihrer Komplexität darzustellen. Insofern sollen im Folgenden zwei Schwerpunkte gesetzt werden, die gerade für den Rechtsvergleich zwischen Österreich und Deutschland fruchtbringend sind. Der erste Schwerpunkt betrifft die gerichtliche Grundrechtsdurchsetzung in Österreich – genauer: die Durchsetzung der Grundrechte gegen Entscheidungen der Judikative. Der zweite Themenschwerpunkt betrachtet die außergerichtliche Grundrechtsdurchsetzung in Österreich durch die verhältnismäßig neue Institution des Menschenrechtsbeirats. II. Urteilsverfassungsbeschwerde Im weiten Feld der gerichtlichen Grundrechtsdurchsetzung sollte unterschieden werden zwischen dem speziellen Grundrechtsschutz durch ein mit dieser Aufgabe betrautes Gericht und dem generellen Grundrechtsschutz im Wege der

1 Siehe die Typologie in K. Korinek/E. Dujmovits, Grundrechtsdurchsetzung und -verwirklichung, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte Bd. 1, 2004, S. 912 ff., Rn. 10. 2 Zur dynamischen Entwicklung des Art. 6 EMRK s. A. Kley-Struller, Der gerichtliche Schutz der Grundrechte durch Art. 6 EMRK, in: Grundrechtsschutz im gerichtlichen Verfahren, 1994, S. 59 ff.

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allgemeinen gerichtlichen Rechtskontrolle.3 Nicht alle Staaten dieser Welt besitzen ein System der speziellen Grundrechtskontrolle durch besondere Gerichte, wohl aber Deutschland mit seinem Bundesverfassungsgericht und Österreich mit seinem Verfassungsgerichtshof.4 1. Grundrechtsschutz in Österreich

Vergleicht man nun die Kompetenzen dieser beiden Gerichte, dann fällt eine Besonderheit des österreichischen Grundrechtsschutzes im Vergleich zum deutschen auf. Es fehlt die individuelle Verfassungsbeschwerde gegen grundrechtsverletzende Gerichtsurteile. Das beschwerte Individuum kann sich mit der Behauptung der Grundrechtswidrigkeit gegen Verwaltungsbescheide (Art. 144 Abs. 1 BV-G) und – unter erschwerten Bedingungen – gegen Gesetze wehren (Art. 140 Abs. 1 Satz 4 BV-G). In beiden Fällen ist der Weg vor den Verfassungsgerichtshof offen.5 Eine individuelle Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile gibt es dagegen grundsätzlich nicht. Vielmehr stehen die drei Höchstgerichte Verfassungsgerichtshof (VfGH), Verwaltungsgerichtshof (VwGH) und Oberster Gerichtshof (OGH) in arbeitsteiliger Koexistenz nebeneinander. Weder sind VwGH und OGH an die Grundrechtsanschauung des VfGH gebunden, noch können ihre Urteile durch den VfGH am Maßstab der Grundrechte überprüft werden.6 Der Grundsatz, dass Gerichtsurteile in Österreich keiner spezifischen Grundrechtskontrolle ausgesetzt sind, kennt eine kleine aber praktisch bedeutsame Ausnahme. Gegen Urteile der Strafjustiz in Untersuchungshaftsachen gibt es seit 1993 eine Individualbeschwerde, und zwar vor dem OGH – nicht vor dem VfGH! Diese Beschwerdemöglichkeit war der EMRK geschuldet und wurde durch das Grundrechtsbeschwerde-Gesetz von 1992 eingeführt.7 Der OGH wird hier im Dienste des speziellen Grundrechtsschutzes tätig, da er ausschließlich die Verletzung des Menschenrechts auf persönliche Freiheit durch die U-Haft überprüft (§ 7 Abs. 1 GRBG).

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K. Korinek/E. Dujmovits (Fn. 1) Rn. 17. Siehe den Überblick über die europäischen Verfassungsgerichtshöfe bei G. Brunner, Der Zugang des Einzelnen zur Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Raum, JöR n. F. 50 (2002), S. 191 ff. 5 Umstritten ist, ob der Verwaltungsgerichtshof bei einer Zurückweisung der Beschwerde durch den Verfassungsgerichtshof gem. Art. 144 Abs. 2 B-VG Grundrechtsverstöße überprüfen darf. Nach der Judikatur fehlt es dem VwGH an einer derartigen Überprüfungskompetenz, s. VfGH, Erkenntnis vom 10.06.1999, VfSlg. 15.512. 6 Die Frage der Bindewirkung von Erkenntnissen des VwGH für den VfGH und vice versa gibt immer wieder Anlass zu Kontroversen, auch zwischen den Gerichten s. J. Azizi, Allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit und Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit, in: Ermacora/Winkler (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 1979, S. 567, 593 ff. 7 BGBl. Nr. 864/1992. 4

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2. Verwaltungsgerichtshof und Verfassungsgerichtshof

Sieht man einmal von dieser Ausnahme ab, gibt es in Österreich keine Urteilsverfassungsbeschwerde. Dieser Mangel ist im Rahmen des administrativen Instanzenzuges für den Betroffenen nicht allzu spürbar. Er kann ja – wie gesagt – eine Verfassungsbeschwerde gegen den Verwaltungsbescheid vor dem VfGH einlegen, und zwar mit der Behauptung, durch den Bescheid in den Grundrechten verletzt zu sein (Art. 144 B-VG). Konzentriert sich die Beschwerdebehauptung auf die Grundrechtswidrigkeit des Bescheides, dann ist der VwGH von vornherein unzuständig (Art. 133 Ziff. 1 B-VG);8 macht der Beschwerdeführer dagegen (auch) die Gesetzeswidrigkeit des Bescheides geltend, dann ist die Prüfungskompetenz des VwGH (u. U. neben dem VfGH) in diesem Bereich eröffnet. Im Rahmen der so herbeigeführten allgemeinen Rechtskontrolle ist der VwGH zur grundgesetzkonformen Auslegung der anzuwendenden Gesetze befugt, und zwar ohne an die entsprechende Judikatur des VfGH gebunden zu sein.9 Allerdings ist auch der VfGH nicht an die Interpretationsansätze des VwGH gebunden. Wendet sich also der Beschwerdeführer gegen das vom VwGH im Lichte der Grundrechte interpretierte Gesetz, indem er vor dem VfGH ein Normenkontrollverfahren nach Art. 140 Abs. 1 Satz 4 B-VG anstrengt, dann kann sich der VfGH mit seinem Grundrechtsverständnis durchsetzen.10 Allerdings: Die hohen prozessualen Hürden des Normenkontrollverfahrens lassen eine derartige indirekte Urteilskontrolle selten zu. Die Urteile des VwGH sind also nur vereinzelt mittelbar, niemals aber unmittelbar einer Grundrechtskontrolle durch den VfGH ausgesetzt. 3. Oberster Gerichtshof und Verfassungsgerichtshof

Wegen der dargestellten Arbeitsteiligkeit von VfGH und VwGH bei der Kontrolle von Verwaltungsbescheiden (Art. 133 Ziff. 1 B-VG) fände eine Urteilsverfassungsbeschwerde im öffentlich-rechtlichen Gerichtszweig nur wenig Anwendungsfälle. Dagegen schlüge ihre Einführung im zivil- oder strafgerichtlichen Verfahren höher zu Buche. Zivil- und Strafurteile stehen in vielerlei Hinsicht auf dem Kontrollstand der Grundrechte, nicht nur wenn ein Angeklagter in Abwesenheit verurteilt wird oder ein Bürger vor dem falschen Richter steht.11 Die Grundrechte wirken bekanntlich auch auf die Rechtsverhältnisse 8

VwGH, Erkenntnis vom 17.3.1992, Gz. 92/11/0065. S. hierzu J. Azizi, Zur verfassungsgerichtlichen Prüfbefugnis gegenüber Ersatzbescheiden, ZfV 1980, S. 305 ff. 10 VfGH, Erkenntnis vom 29.9.1982, VfSlg. 9514; kritisch J. Azizi (Fn. 9), S. 307 ff. 11 S. R. Soyer, Die Grundrechte in der Rechtsprechung der Strafgerichte, in: Österreichische Juristenkommission (Hrsg.), Aktuelle Fragen des Grundrechtsschutzes, 2005, S. 89 ff.; I. Griss, Die Grundrechte in der zivilrechtlichen Rechtsprechung, in: ebd., S. 54 ff. 9

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zwischen Privaten ein und müssen insofern von den Zivilgerichten angewendet werden.12 Ob sie dies in einer gehörigen Weise tun, überprüft der OGH als letzte Instanz der ordentlichen Gerichtsbarkeit, nicht aber der VfGH. Bedenkt man, wie viele Verfahren gegen Zivil- und Strafurteile vor dem BVerfG jedes Jahr anhängig gemacht werden,13 stellt sich zwangsläufig die Frage, ob Österreich in diesem Punkt eine Schwachstelle bei der Durchsetzung der Grundrechte aufweist. Natürlich wäre es falsch zu behaupten, es gäbe in Österreich keine Grundrechtsdurchsetzung bei Zivil- und Strafurteilen. Allein, es gibt gegen Urteile keine spezielle Grundrechtsdurchsetzung seitens des VfGH, sondern nur eine allgemeine Rechtskontrolle durch den OGH. Der OGH – der im Vergleich zum VfGH einen durchaus eigenen interpretatorischen Zugang zu den Grundrechten pflegt14 – ist im Zivil- und Strafverfahren also die letzte Instanz in Grundrechtsfragen, über ihm wölbt sich sozusagen der blaue Himmel. 4. Normenkontrollverfahren

Nach dem bisher Gesagten ist der Eindruck zu gewinnen, VfGH, VwGH und OGH stünden in Fragen der Grundrechtsverwirklichung recht beziehungslos nebeneinander. Diese Vorstellung entspricht in ihrer Absolutheit natürlich nicht der Realität. Vor allem gibt es eine schmale Verbindungsbrücke zwischen den Höchstgerichten, die für den speziellen Grundrechtsschutz des Einzelnen bedeutungsvoll werden kann. Bei Bedenken gegen die Grundrechtskonformität eines anzuwendenden Gesetzes müssen der OGH und der VwGH beim VfGH einen Antrag auf Aufhebung des Gesetzes stellen (Art. 89 Abs. 2, 135 Abs. 4 B-VG). Ein entsprechender Verdacht kann durch eine Prozesspartei „geweckt“ werden, indem sie z. B. beim OGH eine entsprechende Prüfung anregt. Diese Anregungen haben allerdings in der Praxis nicht immer Erfolg gezeitigt. So hat beispielsweise der OGH § 12a des Familienlastenausgleichsgesetzes für verfassungskonform erachtet, ebenso § 25 der Konkursordnung.15 Trotz Anregung kam es zu keiner Vorlage, weil der OGH die „Bedenken“ i. S. d. Art. 89 Abs. 2 B-VG nicht teilte und die Partei keinen Anspruch auf Vorlage hat.16 Dennoch

12 R. Novak, Zur Drittwirkung der Grundrechte – Die österreichische Lage aus rechtsvergleichender Sicht, EuGRZ 1984, S. 133 ff.; H. Mayer, Der „Rechtserzeugniszusammenhang“ und die sogenannte „Drittwirkung“ der Grundrechte, JBl. 1990, S. 768 ff.; St. Griller, Der Schutz der Grundrechte vor Verletzungen durch Private, JBl. 1992, S. 205 ff. (Teil 1) und S. 289 ff. (Teil II). 13 Verfassungsbeschwerden im Geschäftsjahr 2005 gegen Zivilgerichtsurteile: 1859, gegen Strafgerichtsurteile: 1277. 14 Siehe für das Beispiel der Versammlungsfreiheit Th. Öhlinger, Verfassungsrecht, 2005, Rn. 909. 15 Vgl. B. Schilcher, Gedanken zum Ausbau des Grundrechtsschutzes in Österreich, in: Österreichische Juristenkommission (Fn. 11), S. 169, 172 m.w. N. 16 OGH, Urt. vom 9.5.1990, 4 Ob 37/95.

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hob der VfGH beide Bestimmungen wegen Grundrechtswidrigkeit auf. Verfahrensrechtlich war dies nur möglich, weil Individualbeschwerden gegen die Gesetze – nicht gegen die OGH-Urteile – zulässig waren. Die Durchsetzung der Grundrechte war also in den konkreten Fällen nur deshalb erfolgreich, weil die Beschwerdeführer den steinigen Weg des Normenkontrollverfahrens (Art. 140 Abs. 1 Satz 4 B-VG) genommen haben. Sollte dieser Weg aus prozessualen Gründen verschlossen sein, und verweigert der OGH oder der VwGH die Vorlage vor den VfGH, bleibt die Frage zu klären, ob der Beschwerdeführer durch die unterlassene Vorlage in seinem grundrechtlich verbürgten Anspruch auf seinen gesetzlichen Richter (Art. 83 Abs. 2 B-VG) verletzt ist. Ein derartiger Schluss wäre durchaus begründbar. Da OGH und VwGH die verfassungsrechtliche Pflicht17 haben, bei Bedenken vorzulegen, könnte eine Verweigerung der Vorlage dann gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (d.h. den VfGH) verstoßen, wenn z. B. die Judikatur des VfGH auf die Grundrechtswidrigkeit eines Gesetzes hindeutet und damit objektive Gesichtspunkte18 für „Bedenken“ i. S. d. Art. 89 Abs. 2 B-VG streiten.19 Dass der VfGH diese Schlussfolgerung bislang noch nicht gezogen hat, liegt u. a. in dem Umstand begründet, dass er nicht befugt ist, Gerichtsurteile von VwGH und OGH mit Blick auf die Vorlagepflicht nach Art. 89 Abs. 2, 135 Abs. 4 B-VG auf ihre Grundrechtskonformität zu überprüfen.20 5. Zwischenergebnis

Das System der Aufgabenteilung zwischen OGH, VwGH and VfGH wird in der Lehre oft kritisiert.21 Sicherlich lässt sich anführen, dass es der VfGH ist, der auf die Auslegung und Anwendung der Grundrechte spezialisiert ist und dahingehend das letzte Wort haben sollte. Dass er dieses letzte Wort nicht hat, führt zu Abweichungen in der Rechtsprechung von OGH, VwGH und VfGH, die das Bild der einheitlichen Grundrechtsinterpretation und -anwendung in Österreich trüben. Dennoch muss nicht notwendiger Weise daraus geschlossen werden, dass die Einführung einer Urteilsverfassungsbeschwerde dringend geboten sei.22 Denn letztlich ist demjenigen, der sich durch ein österreichisches Ur17 Wortlaut des Art. 89 Abs. 2 B-VG „. . . so hat es den Antrag . . . zu stellen“; VfGH, Erkenntnis vom 12.12.2003, VfSlg. 17.095. 18 OGH, Urt. vom 12.8.1997, 10 ObS 229/97t. 19 Sozusagen in Anlehnung an die Judikatur des VerfG, dass die Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EGV zu einer Verletzung des Art. 83 Abs. 2 B-VG führt, VfGH, Erkenntnis vom 11.12.1995, VfSlg. 14.390. 20 Th. Öhlinger, Verfassungsrecht, 2005, Rn. 952. 21 H. Spanner, Rechtliche und politische Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1. Österreichischer Juristentag, 1961, Bd. I/2, S. 60. 22 Gegen eine Einführung: C. Jabloner, Strukturfragen der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts, ÖJZ 1998, S. 161, 168 f.; ders., Stufung und „Entstufung“ des

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teil in seinen Grundrechten beschwert fühlt, der Weg vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) offen! Da die EMRK in Österreich mit Verfassungsrang ausgestattet ist, also vom VfGH in gleicher Weise ausgelegt und angewendet wird wie vom EGMR,23 hat der EGMR im Rahmen der Urteilsbeschwerde für Österreich im wahrsten Sinne eine Lückenschließungsfunktion. Man kann dies durchaus als österreichisches out-sourcing der speziellen Grundrechtsdurchsetzung bezeichnen. III. Nichtgerichtliche Grundrechtsdurchsetzung: Der Menschenrechtsbeirat Das Thema „Grundrechtsdurchsetzung in Österreich“ lädt dazu ein, sich auch dem Grundrechtsschutz durch nichtjustizielle Organe zu widmen. Der Menschenrechtsbeirat ist nicht die einzige, wohl aber eine der innovativsten Institutionen, die in Österreich für die institutionalisierte außergerichtliche Grundrechtsdurchsetzung steht. Die Schaffung des Menschenrechtsbeirates war schon 1994 auf der politischen Agenda, angeregt vom European Committee for the Prevention of Torture (CPT) des Europarates. Realisiert wurden die Pläne allerdings erst, als der Tod eines nigerianischen Staatsangehörigen bei der Abschiebung die Öffentlichkeit für das Thema „Menschenrechte in Österreich“ sensibilisierte. Der Menschenrechtsbeirat konstitutionalisierte sich 1999, damals noch auf Basis einer Verordnung des Bundesministers für Inneres.24 Kurze Zeit später erfolgte die Novelle des Sicherheitspolizeigesetzes (SPG)25, sodass heute der Menschenrechtsbeirat auf einer gesetzlichen Grundlage agiert (§ 15a–c SPG), die in Teilbereichen mit Verfassungsrang ausgestattet ist (§ 15a SPG). 1. Organisation und Aufgabe

Der Menschenrechtsbeirat besteht aus 11 Mitgliedern (und 11 Ersatzmitgliedern), die zur Hälfte vom Staat, zur anderen Hälfte von der Zivilgesellschaft für Rechts, ZÖR 60 (2005), S. 163, 183; G. Schernthanner, Die „Tante Jolesch“ und der Österreich-Konvent, RZ 2005, S. 154, 162; G. Kuras, Gedanken zum Ausbau des Grundrechtsschutzes, in: Österreichische Juristenkommission (Fn. 11), S. 179, 191– 203; dafür B. Schilcher, Gedanken zum Ausbau des Grundrechtsschutzes in Österreich, in: ebd., S. 169, 177; F. Kopp/N. Pressinger, Entlastung des VfGH und Abgrenzung der Kompetenzen von VfGH und VwGH, JBl 1978, S. 617, 624; L. Adamovich/B.-Ch. Funke/G. Holzinger, Österreichisches Staatsrecht Bd. 2, 1998, Rn. 39.037. Der Verfassungskonvent hat die Einführung einer Urteilsverfassungsbeschwerde letztlich nicht empfohlen, Bericht des Österreich Konvents, 2005, Teil 3, Beratungsergebnisse, S. 207–209. 23 K. Schmalenbach, Die rechtliche Wirkung der Vertragsauslegung durch IGH, EuGH und EGMR, ZÖR 59 (2004), S. 213, 227 f. 24 BGBl. II 1999/202. 25 BGBl. I 1999/146.

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drei Jahre bestimmt werden.26 Das Gremium, seine Aufgabe und Zusammensetzung haben Verfassungsrang (§ 15a Abs. 1 SPG). Diese institutionelle Bestandsgarantie wird flankiert von einer verfassungsrechtlich abgesicherten Weisungsfreiheit der Mitglieder (§ 15a Abs. 2 SPG). Der Menschenrechtsbeirat tagt im Durchschnitt einmal im Monat.27 Der Beirat trägt zur Durchsetzung der Grundrechte in einem sehr grundrechtssensiblen Bereich bei. Er berät das Bundesministerium des Inneren vor allem – aber nicht nur28 – in Fragen des Grundrechtsschutzes in polizeilichen Haft- und Abschiebezentren (§ 15c Abs. 1 SPG). Die unverbindlichen Stellungnahmen des Menschenrechtsbeirates sind zum Teil sehr einzelfallbezogen, können also zu Gunsten oder auch zu Lasten von konkreten Individuen gehen. Abstrakt generelle Empfehlungen werden im Sicherheitsbericht veröffentlicht, sind also samt der Reaktion des Bundesministeriums des Inneren der Öffentlichkeit zugänglich. Um überhaupt effektiv beraten zu können, hat der Menschenrechtsbeirat begleitende Überprüfungs- und Beobachtungskompetenzen, um Kenntnisse von den faktischen Gegebenheiten in den polizeilichen Dienststellen zu erlangen. Es ist allerdings nicht der Beirat selbst, der die Feldforschung betreibt, sondern die ihm zugeordneten Delegationen und Kommissionen. Während die Delegationen ad hoc zur Vorbereitung, Begutachtung oder Bearbeitung einzelner Angelegenheiten vom Beirat betraut werden (§ 14 Abs. 1 GO des MRB), sind die insgesamt sechs Kommissionen ständige Einrichtungen. Sie beobachten im Auftrag des Beirates vor Ort die Situation, statten Überraschungsbesuche ab und führen Interviews. Und genau hier liegt das Besondere an der Institution „Menschenrechtsbeirat“. Die Kommissionen sind als Augen und Ohren des Beirates dort, wo es menschenrechtlich heikel wird. Sie sind dazu berufen, die Situation in den Dienststellen der Sicherheitsexekutive „begleitend zu überprüfen“ (§ 15c SPG). Sie besuchen die Dienststellen mit Hafträumen, sie beobachten Großveranstaltungen, Demonstrationen und Razzien, sind also in all jenen Situationen präsent, in denen die Polizei Befehls- und Zwangsgewalt ausüben kann. 2. Kritik

Der Menschenrechtsbeirat wird grundsätzlich als eine positive Einrichtung wahrgenommen, als ein „Zeichen des Aufbruchs in die Richtung einer Zivilgesellschaft“29. Allerdings sind auch die Kritiker nicht weit.30 Zu den Prominen-

26 Näher zur Organisation und Aufgaben M. Pöschl, Der Menschenrechtsbeirat, JRP 9 (2001), S. 47; B.-Ch. Funk, Der Menschenrechtsbeirat, ZfV 2001, S. 570 ff. 27 Funk (Fn. 26), S. 572. 28 Pöschl (Fn. 26), S. 58. 29 Funk (Fn. 26), S. 574.

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testen gehört das CPT, das – wie bereits erwähnt – in den Jahren 1990 und 1995 die Einrichtung eines Menschenrechtsbeirates nachdrücklich empfohlen hatte. Im Bericht von 200431 hat sich das CPT das Produkt seiner Bemühungen, den österreichischen Menschenrechtsbeirat, näher angeschaut und konstatiert, es bestünden Bedenken an seiner Unabhängigkeit. Als Grund wurde angeführt, dass der Beirat nicht nur vom Bundesministerium des Inneren finanziert wird, sondern das Ministerium darüber hinaus Einfluss auf die Besetzung des Beirates und die Abberufung der Kommissionsmitglieder hat. Vor allem die Abberufung trifft den Nerv der Institution. Die Mitglieder des Menschenrechtsbeirates können vom Ministerium gem. § 12b SPG abberufen werden, wobei das Gesetz zwar formal eine Begründungspflicht verlangt, materiell allerdings keinerlei Begründungen verpönt. Die Norm gibt also dem Ministerium ein durchaus missbrauchsanfälliges Kontrollinstrument an die Hand, das mit der verfassungsrechtlich gewährleisteten Unabhängigkeit des Beirates konfligiert.32 Denn Unabhängigkeit ist nicht selbstverständlich, wenn zugleich eine „Rute“33 im Fenster des Ministeriums stehen darf. Eine gleichsam scharfe Waffe hat das Ministerium gegen unliebsame Kommissionsmitglieder zur Hand, die durch ihre Arbeit vor Ort als störender empfunden werden können als die Beiratsmitglieder selbst. Die Kommissionsmitglieder arbeiten auf Basis eines Werkvertrages, der nicht nur mit dem Menschenrechtsbeirat, sondern auch mit dem Bundesministerium abgeschlossen wird. Dies gibt dem Ministerium die Möglichkeit, das Vertragsverhältnis zu kündigen oder nicht zu verlängern; die Nutzung der letzten Variante als Mittel der politischen Einflussnahme hat bereits für entsprechenden Sprengstoff gesorgt. Und schließlich hat das CPT in seinem Bericht angemerkt, dass die Untersuchungsrechte des Menschenrechtsbeirats bei Untersuchungsund Strafhaft aufhören, weil die Gefängnisse nicht dem Bundesministerium des Inneren unterstehen, sondern dem Bundesministerium der Justiz. Das CPT empfiehlt also eine Überdenkung der bisherigen Konzeption des Menschenrechtsbeirates. Die Mahnung wurde vernommen, allein, es fehlt der politische Wille, die entsprechenden Änderungen vorzunehmen.

30 In der Regel werden der Konzeption des Menschenrechtsbeirates positive wie negative Aspekte abgewonnen; s. z. B. Pöschl (Fn. 26), S. 62 ff. 31 Report to the Austrian Government on the visit to Austria carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) from 14 to 23 april 2004, S. 14 f.; abrufbar unter . 32 Funk (Fn. 26) erachtet deshalb § 12b SPG wegen Verstoßes gegen das Bestimmtheitserfordernis und das Legalitätsprinzip (§ 18 Abs. 1 B-VG) als verfassungswidrig, dort Fn. 12. 33 Funk (Fn. 26), S. 572.

Besonderheiten der Grundrechtsdurchsetzung in Österreich

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IV. Resümee Die Ausführungen zur Grundrechtsdurchsetzung in Österreich konnten lediglich zwei Schlaglichter auf das komplexe und dicht gewebte Netz des Grundrechtsschutzes in Österreich werfen. Das Fehlen einer Urteilsverfassungsbeschwerde ist ein ständiger Diskussionspunkt in Österreich, der polarisiert. Ihre Einführung ist nicht durch die EMRK geboten; sie ist noch nicht einmal eine Standardkompetenz aller anderen europäischen Verfassungsgerichtshöfe. Unter dem Gesichtspunkt der einheitlichen Grundrechtsdurchsetzung favorisiert allerdings ein Teil der österreichischen Lehre die Einführung der Urteilsverfassungsbeschwerde – ein Wunsch, der so bald nicht in Erfüllung gehen wird. Dagegen hat Österreich mit der Errichtung des Menschenrechtsbeirates einen durchaus innovativen Schritt in die Richtung einer Optimierung der Grundrechtsdurchsetzung getan. Die vielen Kritiker der Institution wenden allerdings zu Recht ein, dass der Schritt nur ein halbherziger war, weil sich der Staat nicht die Kontrolle aus der Hand hat nehmen lassen. Insofern bleibt zu resümieren, dass die Grundrechtsdurchsetzung in Österreich zumindest in Teilaspekten ein politisch wie wissenschaftlich kontrovers behandeltes Thema bleibt.

Durchsetzung der Grundrechte: Zur Freizügigkeit der Unionsbürger Siegfried Magiera Aus dem weit gespannten Themenbereich der Grundrechte und ihrer Durchsetzung soll hier ein Aspekt näher beleuchtet werden, der von Detlef Merten in seiner rechtswissenschaftlichen Dissertation wegweisend für das deutsche Grundgesetz behandelt wurde1 und der in letzter Zeit für das Recht der Europäischen Union unerwartet aktuell und kontrovers geworden ist.2 Es geht um das Recht auf Freizügigkeit, dessen Inhalt und Verwirklichung auf europäischer Ebene klärungsbedürftig erscheint. I. Wirtschaftliche Freizügigkeit Der Begriff „Freizügigkeit“ findet sich von Anfang an im Vertragstext der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft – ausdrücklich für Arbeitnehmer, als Niederlassungsfreiheit für selbständig Erwerbstätige und mittelbar für Beteiligte am Dienstleistungsverkehr (Art. 48 ff. EWG-Vertrag). Begünstigt sind insoweit alle Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, jedoch nur, wenn sie wirtschaftlich tätig sind. Dennoch ist diese wirtschaftsbezogene Freizügigkeit ebenfalls von Anfang an nicht auf die Wirtschaftstätigkeit als solche begrenzt, sind die daran Beteiligten nicht lediglich Objekte oder Instrumente bei der Errichtung des Gemeinsamen Marktes gewesen, sondern aktive Wirtschaftssubjekte mit eigenen Rechten und Pflichten, Marktbürger mit dem vertraglich begründeten Entwicklungspotential zu vollkommenen Gemeinschafts- und Unionsbürgern.3 1

D. Merten, Der Inhalt des Freizügigkeitsrechts, 1969. Vgl. dazu aus dem neueren Schrifttum D. Scheuing, Freizügigkeit als Unionsbürgerrecht, EuR 2003, 744 ff.; J. Ziekow, Die Freizügigkeit der Unionsbürger, in: Symposium für A. Randelzhofer, 2004, S. 101 ff.; K. Hailbronner, Neue Richtlinie zur Freizügigkeit der Unionsbürger, ZAR 2004, 259 ff.; R. White, Free movement, equal treatment, and citizenship of the Union, ICLQ 2005, 885 ff.; P. Rodière, Libre circulation des personnes et citoyenneté européenne dans la jurisprudence de la Cour de justice, RTDeur 2006, 163 ff.; J. Kokott, Die Freizügigkeit der Unionsbürger als neue Grundfreiheit, in: Festschrift für Ch. Tomuschat, 2006, S. 207 ff.; ferner S. Magiera, Der Rechtsstatus der Unionsbürger, in: Liber amicorum J. Delbrück, 2005, S. 429 ff. m.w. N. 3 Vgl. dazu näher S. Magiera, Die Europäische Gemeinschaft auf dem Wege zu einem Europa der Bürger, DÖV 1987, 221 ff. 2

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Angelegt war dieses Ziel schon im EGKS-Vertrag von 1951, der in seiner Präambel die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft lediglich als den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft der europäischen Völker bezeichnete. Der EWG-Vertrag von 1957 sprach sodann im Zusammenhang mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer ausdrücklich von deren Recht, sich zur Stellenbewerbung im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen sowie dort eine Beschäftigung auszuüben und im Anschluss daran zu verbleiben (Art. 48 EWG-Vertrag). Näher konkretisierend bezeichnete der Rat die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Ausführungsverordnung 1612/68 als ein Grundrecht der Arbeitnehmer und ihrer Familien.4 Dieses solle es dem Arbeitnehmer ermöglichen, seine Arbeitsund seine Lebensbedingungen zu verbessern sowie seinen sozialen Aufstieg zu erleichtern. Damit das Recht in Freiheit und Menschenwürde wahrgenommen werden könne, müsse sich die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer rechtlich und tatsächlich auf alles erstrecken, was mit der eigentlichen Beschäftigung des Arbeitnehmers, aber auch mit den sonstigen Bedingungen seiner Mobilität zusammenhänge, insbesondere mit dem Nachzug seiner Familie und der Integration im Aufenthaltsstaat. Damit war zum Ende der Übergangszeit für die Errichtung des Gemeinsamen Marktes klargestellt, dass die Freizügigkeit die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten nicht lediglich als Wirtschaftsfaktoren erfasst, sondern in deren gesamter Persönlichkeit mit Anspruch auf Grundrechtsschutz und Achtung der Menschenwürde. Als Folge der über den engeren Wirtschaftssektor hinausreichenden Bedeutung der Freizügigkeit waren die Bestimmungen über ihren Anwendungsbereich weit auszulegen.5 Dies wirkte sich auf die Abgrenzung des Kreises der Begünstigten ebenso aus wie auf den Umfang der ihnen gewährleisteten Rechte. So erfasst der Begriff des Arbeitnehmers auch Tätigkeiten auf Teilzeitbasis, zur Berufsausbildung oder von kurzer Dauer und selbst dann, wenn das Entgelt unter dem allgemeinen Existenzminimum liegt.6 Damit die Freizügigkeit „in Freiheit und Menschenwürde“ wahrgenommen werden kann, erstrecken sich die mit ihr verbundenen Rechte auf Gleichbehandlung auch auf die allgemeinen Lebensumstände der Arbeitnehmer, insbesondere auf die Begleitung durch Fa4 VO (EWG) Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl.EG 1968 L 257/2; vgl. auch EuGH, Rs. 222/86, Heylens, Slg. 1987, 4097 Rn. 14. 5 EuGH, Rs. 53/81, Levin, Slg. 1982, 1035 Rn. 13; Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703 Rn. 26; std. Rspr. 6 EuGH, Rs. 53/81, Levin, Slg. 1982, 1035 Rn. 16; Rs. 66/85, Lawrie-Blum, Slg. 1986, 2121 Rn. 19; Rs. 139/85, Kempf, Slg. 1986, 1741 Rn. 14; Rs. 197/86, Brown, Slg. 1988, 3205 Rn. 22; Rs. C-317/93, Nolte, Slg. 1995, I-4625 Rn. 16, 19; Rs. C-413/01, Ninni-Orasche, Slg. 2003, I-13187 Rn. 25.

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milienangehörige, die Möglichkeit der Anmietung oder des Erwerbs von Wohnraum sowie die Inanspruchnahme von steuerlichen und sozialen Vergünstigungen.7 Zu den steuerlichen Vergünstigungen gehören u. a. die Abzugsfähigkeit von Ausgaben, Steuerrückerstattungen und das Ehegattensplitting.8 Unter sozialen Vergünstigungen sind alle Vergünstigungen zu verstehen, die den inländischen Arbeitnehmern hauptsächlich wegen ihrer Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnorts im Inland gewährt werden.9 Im Einzelnen fallen darunter Geld- und Sachleistungen, wie Familien- und Ausbildungsbeihilfen sowie Hilfen zum Lebensunterhalt,10 aber auch immaterielle Werte, wie der Gebrauch einer bestimmten Sprache vor Gericht oder die Begleitung durch den nichtehelichen Partner.11 Die genannten Rechte gelten allgemein für Arbeitnehmer, solange diese in einem Arbeitsverhältnis stehen und grundsätzlich auch nach dessen Beendigung im Rahmen ihres Verbleiberechts.12 Im Unterschied dazu haben diejenigen, die sich zur Arbeitssuche in einen anderen Mitgliedstaat begeben, aufgrund allein der wirtschaftlichen Freizügigkeit nur das Recht auf gleichen Zugang zur Beschäftigung, nicht jedoch auf die gleichen steuerlichen und sozialen Vergünstigungen im Aufenthaltsstaat.13 Parallel zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer hat auch die Niederlassungsfreiheit der selbständig Erwerbstätigen eine weite Auslegung ihres Anwendungsbereichs erfahren.14 Gleiches gilt für die Freizügigkeit im Rahmen des Dienstleistungsverkehrs, insbesondere durch Einbeziehung der Empfänger von Dienstleistungen. Diese sog. passive Dienstleistungsfreiheit ermöglicht es den Empfängern, sich zur Entgegennahme von Dienstleistungen in andere Mitgliedstaaten zu begeben und dort aufzuhalten. Damit eröffnet sich ein personell weiter, wenn auch zeitlich begrenzter, Anwendungsbereich für die damit verbun7

Präambel Abs. 5, Art. 7 Abs. 2 ff. VO (EWG) 1612/68 (Fn. 4). EuGH, Rs. C-204/90, Bachmann, Slg. 1992, I-249 Rn. 8 ff.; Rs. C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 59; Rs. C-87/99, Zurstrassen, Slg. 2000, I-2337 Rn. 26. 9 EuGH, Rs. 32/75, Cristini, Slg. 1975, 1085 Rn. 19; Rs. C-258/04, Ioannidis, Slg. 2005, I-8275 Rn. 35; std. Rspr. 10 EuGH, Rs. 32/75, Cristini, Slg. 1975, 1085 Rn. 10/13; Rs. C-3/90, Bernini, Slg. 1992, I-1071 Rn. 29; Rs. 316/85, Lebon, Slg. 1987, 2811 Rn. 12. 11 EuGH, Rs. 137/84, Mutsch, Slg. 1985, 2681 Rn. 16 f.; Rs. 59/85, Reed, Slg. 1986, 1283 Rn. 28 f. 12 EuGH, Rs. 39/86, Lair, Slg. 1988, 3161 Rn. 31; Rs. C-85/96, Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691 Rn. 32; Rs. C-413/01, Ninni-Orasche, Slg. 2003, I-13187 Rn. 34. 13 EuGH, Rs. 316/85, Lebon, Slg. 1987, 2811 Rn. 26; Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703 Rn. 29 ff., 58; vgl. dazu aber auch unten im Text, zu und nach Fn. 39. 14 Vgl. z. B. EuGH, Rs. C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165 Rn. 25; Rs. C-3/95, Broede, Slg. 1996, I-6511 Rn. 20. 8

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dene Freizügigkeit, u. a. zu Geschäfts- und Studienreisen, medizinischer Behandlung oder allgemein als Tourist.15 Auch insoweit ergeben sich Rechte auf Inländergleichbehandlung etwa bei öffentlichen Entschädigungsleistungen für Opfer von Straftaten oder bei dem Gebrauch einer bestimmten Sprache vor Gericht.16 Dennoch vermochte die weite Auslegung des Anwendungsbereichs der wirtschaftlichen Freizügigkeitsrechte nicht alle Schwierigkeiten bei der Beseitigung der Hindernisse für den freien Personenverkehr in der Gemeinschaft zu überwinden. Dies zeigte sich etwa bei der Einbeziehung der Arbeitssuchenden in die Freizügigkeit der Arbeitnehmer oder bei der Bestimmung der zulässigen Aufenthaltsdauer von Dienstleistungsempfängern, wenn sie sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben.17 II. Allgemeine Freizügigkeit Die Verengung der Freizügigkeit auf den wirtschaftlichen Bereich wurde Anfang der 1990er Jahre überwunden durch drei Richtlinien für nicht wirtschaftlich tätige Personen18 und das im EG-Vertrag verankerte allgemeine Freizügigkeitsrecht,19 das für die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten als Unionsbürger ohne weitere Differenzierung gilt. Auch diese erweiterte Freizügigkeit war schon ursprünglich im EWG-Vertrag angelegt, wonach die Tätigkeit der Gemeinschaft auch den freien – nicht näher qualifizierten oder begrenzten – Personenverkehr umfasste.20 Ebenso wie die wirtschaftliche ist die nicht wirtschaftsbezogene Freizügigkeit weit auszulegen.21 Die allgemeine Freizügigkeit gewährleistet den Unionsbürgern nicht nur das schlichte Recht, sich in einen 15 EuGH, Rs. 286/82, Luisi, Slg. 1984, 377 Rn. 16; Rs. C-158/96, Kohll, Slg. 1998, I-1931 Rn. 54; Rs. C-385/99, Müller-Fauré, Slg. 2003, I-4509 Rn. 38 ff. 16 EuGH, Rs. 186/87, Cowan, Slg. 1989, 195 Rn. 17; vgl. dazu nunmehr die allgemeine – auf die subsidiäre Ermächtigungsnorm des Art. 308 EGV gestützte – Richtlinie 2004/80/EG des Rates v. 29.4.2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten, ABl.EU 2004 L 261/15; Rs. C-274/96, Bickel, Slg. 1998, I-7637 Rn. 13 ff. 17 Vgl. EuGH, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703 Rn. 29 ff. (Arbeitssuchende); Rs. 215/01, Schnitzer, Slg. 2003, I-14847 Rn. 31 ff. (Dienstleistungserbringer). 18 RL 90/364/EWG des Rates v. 28.6.1990 über das Aufenthaltsrecht, ABl.EG 1990 L 180/26; RL 90/365/EWG des Rates v. 28.6.1990 über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen, ABl.EG 1990 L 180/28; RL 93/96/EWG des Rates v. 29.10.1993 über das Aufenthaltsrecht der Studenten, ABl.EG 1993 L 317/59. – Diese Richtlinien wurden ersetzt durch die RL 2004/38 (unten, Fn. 32). 19 Art. 18 (zuvor Art. 8a) EG-Vertrag. 20 Art. 3 lit. c EWG-Vertrag. 21 EuGH, Rs. C-482/01, Orfanopoulos, Slg. 2004, I-5257 Rn. 65, wonach die Unionsbürgerschaft „eine besonders enge Auslegung der Ausnahmen“ erfordert; Rs. C408/03, Kommission/Belgien, Slg. 2006, I-2647 Rn. 40.

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anderen Mitgliedstaat zu begeben und dort aufzuhalten. Auch sie fällt in den sachlichen Anwendungsbereich des Vertragsrechts und verbietet damit jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EG-Vertrag).22 Die mit ihr geschaffene Unionsbürgerschaft soll den Schutz der Rechte und Interessen der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten stärken (Art. 2 EU-Vertrag) und damit den erreichten Stand des Gemeinschaftsrechts voranbringen, nicht nur erhalten oder gar vermindern. Letzteres wäre jedoch der Fall, wenn der im Rahmen der wirtschaftlichen Freizügigkeit erreichte gemeinschaftsrechtliche Besitzstand, der über die wirtschaftliche Betätigung hinausgeht, nicht auch im Rahmen der allgemeinen Freizügigkeit zur Verfügung stände. Dementsprechend können den Unionsbürgern auch bei der Ausübung ihres allgemeinen Freizügigkeitsrechts, um dieses „in Freiheit und Menschenwürde“ wahrzunehmen, vielfältige Ansprüche auf Gleichbehandlung immaterieller wie materieller Art zustehen, etwa im Hinblick auf Ausweispflichten oder die Bestimmung des Familiennamens, auf Erziehungsgeld, Studienbeihilfen oder sonstige soziale Leistungen.23 Der erforderliche Bezug zum Gemeinschaftsrecht entfällt nicht dadurch, dass der Regelungsbereich zur Zuständigkeit der Mitgliedstaaten gehört. Die Mitgliedstaaten müssen vielmehr bei der Ausübung ihrer Zuständigkeiten das Gemeinschaftsrecht, insbesondere auch die Freizügigkeitsrechte, beachten.24 Im Verhältnis der Freizügigkeitsrechte untereinander sind die wirtschaftlichen Freizügigkeitsrechte die spezielleren Ausprägungen, so dass das allgemeine Freizügigkeitsrecht nur, aber auch immer – subsidiär – als Hauptfreizügigkeitsrecht zur Anwendung gelangt, wenn ein wirtschaftliches Freizügigkeitsrecht nicht oder nur begrenzt eingreift.25 Dies kann etwa bei aus dem Berufsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmern oder bei Arbeitssuchenden der Fall sein.26 Im Verhältnis der Freizügigkeitsrechte zum allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EG-Vertrag) stellen die Freizügigkeitsrechte, da sie in den sachlichen Anwendungsbereich des Vertragsrechts fal-

22 EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 31 f.; Rs. C-403/03, Schempp, Slg. 2005, I-6421 Rn. 15; std. Rspr. 23 EuGH, Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I-6207 Rn. 42 (Ausweispflicht); Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 45 (Familienname); Rs. C-85/96, Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691 Rn. 57 (Erziehungsgeld); Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 30 ff. (Studienbeihilfen); Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 46 (Sozialhilfe). 24 EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 25. 25 EuGH, Rs. C-193/94, Skanavi, Slg. 1996, I-929 Rn. 22; Rs. C-258/04, Ioannidis, Slg. 2005, I-8275 Rn. 37; std. Rspr. 26 EuGH, Rs. C-413/99, Baumbast, Slg. 2002, I-7091 Rn. 49 ff.; Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703 Rn. 51 ff.

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len, grundsätzlich besondere Vertragsbestimmungen dar, die dem allgemeinen Diskriminierungsverbot in dessen Anwendungsbereich vorgehen.27 Damit ist jedoch nur der Grundsatz des Anspruchs auf Gleichbehandlung der Unionsbürger bei der Ausübung ihrer Freizügigkeitsrechte festgestellt, nicht hingegen, welchen Schranken diese Rechte unterliegen. III. Schranken der Freizügigkeit Eine allgemeine Schranke für die Freizügigkeit in der Union folgt aus dem Ziel der damit verbundenen Rechte, die Hindernisse für den grenzüberschreitenden Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen (Art. 3 lit. c EG-Vertrag), nicht jedoch die unterschiedlichen Rechtsordnungen insgesamt zu vereinheitlichen. Dementsprechend erstreckt sich der sachliche Anwendungsbereich der Freizügigkeitsrechte auf zwischenstaatlich grenzüberschreitende, nicht auf rein innerstaatliche Sachverhalte, die keinerlei Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufweisen.28 Darüber hinaus enthält das Gemeinschaftsrecht ausdrücklich verschiedene spezifische Schranken für die einzelnen Freizügigkeitsrechte. Im Bereich der wirtschaftlichen Freizügigkeit bestehen Ausnahmen für Arbeitnehmer in der öffentlichen Verwaltung sowie für selbständig Erwerbstätige und im Dienstleistungsverkehr bei Ausübung öffentlicher Gewalt.29 Vorbehalten bleiben ferner mitgliedstaatliche Regelungen für Ausländer, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind.30 Die allgemeine Freizügigkeit gilt nur vorbehaltlich der im EG-Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen.31 Neben Einschränkungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit sind dies grundsätzlich das Erfordernis ausreichender Existenzmittel und einer umfassenden Krankenversicherung sowie der Ausschluss von Sozialhilfeleistungen und Studienbeihilfen.32

27 EuGH, Rs. 8/77, Sagulo, Slg. 1977, 1495 Rn. 11; Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 23 f., 29; Rs. C-387/01, Weigel, Slg. 2004, I-4981 Rn. 59; Rs. C-456/02, Trojani, Slg. 2004, I-7573 Rn. 39 ff. 28 EuGH, Rs. 175/78, Saunders, Slg. 1979, 1129 Rn. 11; Rs. C-332/90, Steen, Slg. 1992, I-341 Rn. 9; Rs. C-64/96, Uecker, Slg. 1997, I-3171 Rn. 23; Rs. C-403/03, Schempp, Slg. 2005, I-6421 Rn. 20. 29 Art. 39 Abs. 4, Art. 45, Art. 55 EG-Vertrag. 30 Art. 39 Abs. 3, Art. 46, Art. 55 EG-Vertrag. 31 Art. 18 Abs. 1 EG-Vertrag. 32 Art. 7 Abs. 1 lit. b und c, Art. 14, Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familien, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ABl.EU 2004 L 229/35, die die entsprechenden Bestimmungen der drei Freizügigkeitsricht-

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Schranken für die Freizügigkeit können sich ferner aus dem allgemeinen Zusammenhang des Vertragsrechts ergeben, insbesondere aus den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Der den Mitgliedstaaten zustehende Gestaltungsspielraum wird nicht über die Erfordernisse der vertraglich gewährleisteten Freizügigkeitsrechte hinaus begrenzt. Zulässig bleiben danach freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen der Mitgliedstaaten, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen des Allgemeininteresses beruhen, die in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht rechtmäßigerweise verfolgten Zweck stehen.33 Dieses zwischen wirtschaftlicher und allgemeiner Freizügigkeit differenzierende Schrankensystem ist durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und die neue Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38,34 die das bisherige Sekundärrecht konsolidiert und modifiziert hat,35 näher angeglichen, wenn auch nicht völlig vereinheitlicht worden. Rudimentär erhalten geblieben sind vor allem die besonderen Anforderungen an die allgemeine Freizügigkeit, die sicherstellen sollen, dass die davon begünstigten Personen die öffentlichen Finanzen des Aufenthaltsstaats nicht unangemessen belasten,36 was bei den wirtschaftlich Freizügigkeitsberechtigten dadurch gewährleistet erscheint, dass sie die für ihren Lebensunterhalt und ihren Gesundheitsschutz erforderlichen Mittel aus ihrer Berufstätigkeit erzielen oder im Dienstleistungsverkehr zur Verfügung haben.37 Hervorzuheben sind insoweit das Recht auf Daueraufenthalt, das jedem Unionsbürger nach einem fünfjährigen, rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat zusteht,38 sowie die gestärkte Rechtsstellung von Arbeitssuchenden und von Studierenden. Im Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft steht Arbeitssuchenden ein Recht auf Gleichbehandlung in einem anderen Mitgliedstaat nicht mehr nur im Hinblick auf den Zugang zur Beschäftigung zu, sondern auch im Hinblick auf finanzielle Leistungen, die ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, wenn zwischen ihnen und dem Arbeitsmarkt eine tatsächliche Verbindung, linien von 1990/1993 (oben, Fn. 18) modifiziert haben; vgl. dazu näher unten im Text, zu und nach Fn. 34. 33 EuGH, Rs. C-224/98, d’Hoop, Slg. 2002, I-6191 Rn. 36; Rs. C-406/04, De Cuyper, Urt. vom 18.7.2006 Rn. 40, noch nicht in der amtl. Slg. 34 Vgl. oben, Fn. 32. 35 Neben den drei Richtlinien für nicht-erwerbstätige Unionsbürger (oben, Fn. 18) wurden sechs weitere EWG-Richtlinien (64/221, 68/360, 72/194, 73/148, 75/34, 75/ 35) für wirtschaftlich Tätige aufgehoben sowie die VO 1612/68 (oben, Fn. 4) geändert. 36 Vgl. die Nachweise oben, Fn. 32, sowie die dazugehörigen Erwägungsgründe 10 und 16 RL 2004/38, zuvor 4 bzw. 6 RL 90/364, 90/365 und 93/96. 37 EuGH, Rs. 456/02, Trojani, Schlussanträge des GA Geelhoed, Slg. 2004, I-7573 Nr. 9 ff. 38 Art. 16 ff. RL 2004/38 (oben, Fn. 32).

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etwa durch Wohnsitznahme, besteht.39 Bei vertragskonformer Auslegung muss Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38, der den Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, Arbeitssuchenden vor Erwerb eines Daueraufenthaltrechts Sozialhilfe zu gewähren, dahin verstanden werden, dass sich dieser Ausschluss nicht auf finanzielle Leistungen bezieht, die den Arbeitssuchenden den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen. Studierende, die gemäß Art. 3 RL 93/9640 von Unterhaltsstipendien ausgeschlossen werden konnten, wenn sie sich zur Studienaufnahme in einen anderen Mitgliedstaat begaben, haben nunmehr aufgrund ihrer Unionsbürgerschaft einen Anspruch auf Gleichbehandlung bei der Stipendienvergabe, wenn sie sich zuvor im Rahmen ihrer allgemeinen Freizügigkeit in dem anderen Mitgliedstaat für eine gewisse Zeit aufgehalten und zu einem gewissen Grad in dessen Gesellschaft integriert haben.41 Nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 sind die Mitgliedstaaten demgegenüber allgemein nicht verpflichtet, Studierenden aus anderen Mitgliedstaaten vor Erwerb des Daueraufenthaltsrechts Studienbeihilfen zu gewähren. Art. 18 EG-Vertrag lässt Ausführungsvorschriften nur zur Erleichterung der allgemeinen Freizügigkeit zu. Deshalb ist Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 im Hinblick auf Studierende, die sich nicht unmittelbar zur Studienaufnahme, sondern im Rahmen ihres allgemeinen Freizügigkeitsrechts in einen anderen Mitgliedstaat begeben und dort integriert haben, nicht unproblematisch,42 wenn er dahin zu verstehen sein müsste, dass die für den Daueraufenthalt erforderliche starre Mindestfrist von fünf Jahren ausschließlich als Maßstab für das Integrationserfordernis in jedem Einzelfall gelten soll. IV. Ergebnis Abschließend lässt sich feststellen, dass auch die neue Freizügigkeitsrichtlinie nicht alle Rechtsfragen, insbesondere im Hinblick auf Studienbeihilfen oder die Unterstützung von Arbeitssuchenden, geklärt haben mag. Jedoch gilt dies im Wesentlichen nur für den fünfjährigen Zeitraum bis zum Erwerb des neu eingeführten Daueraufenthaltsrechts. Danach besteht ein allgemeines Recht auf Gleichbehandlung. Eine Ausweisung kann und darf nur noch aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erfolgen und auch dann nicht zu wirtschaftlichen Zwecken.

39 EuGH, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703 Rn. 63 ff.; Rs. C-258/04, Ioannidis, Slg. 2005, I-8275 Rn. 22 ff. 40 Oben, Fn. 18. 41 EuGH, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 44 ff., 56 ff. 42 Vgl. auch M. Niedobitek, Studienbeihilfen und Unionsbürgerschaft, RdJB 2006, 105 ff. (110 f.).

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Insgesamt bleibt festzustellen, dass sich die wirtschaftliche und die allgemeine Freizügigkeit der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union weitgehend angeglichen haben. Dies gilt nahezu ausnahmslos für Unionsbürger nach einem rechtmäßigen Aufenthalt von fünf Jahren in einem anderen Mitgliedstaat. Im Übrigen beschränken sich die Unterschiede im Wesentlichen auf die Notwendigkeit, in dem Aufenthaltsstaat entweder einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen oder längerfristig über ausreichende Existenzmittel und eine entsprechende Krankenversicherung zu verfügen.

Herausforderungen an die Gerichtsbarkeit in Europa

Herausforderungen an die Gerichtsbarkeit in Europa Karl Korinek Ich meine, die größte Herausforderung für die Gerichtsbarkeit, im Besonderen für die Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa ist es, den richtigen Weg des Zusammenspiels des Grundrechtsschutzes durch die nationalen und die europäischen Grundrechtsgerichte zu finden. Hier gilt es Lücken des Grundrechtsschutzes zu füllen, doppelten Grundrechtsschutz zu vermeiden und Reibungsflächen so gering wie möglich zu halten. Es ist sicher gut, wenn wir einmal im kollegialen Kreis von Wissenschaft und Praxis gemeinsam darüber nachdenken und sprechen, wo denn die Wurzeln der Probleme liegen und was man tun könnte, sie wenn schon nicht zu lösen, so doch zu entschärfen. I. Grundrechtsschutz durch nationale Verfassungsgerichte und den EGMR Der Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist in Deutschland wie auch in Österreich durch einen nationalen Grundrechtskatalog gewährleistet, den die Verfassungsgerichte in reicher Judikatur entfaltet und ausdifferenziert haben und der in dieser Ausgestaltung durch die verfassungsgerichtliche Judikatur effektiv geworden ist. In Österreich ist – anders als in der Bundesrepublik Deutschland – dieser Grundrechtskatalog kein einheitlicher: Seinen Kern bildet das noch immer geltende Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger aus 1867, das zum einen durch bilaterale und multinationale Abkommen, wie insbesondere die EMRK, die Österreich als formelles Verfassungsrecht rezipiert hat, und zum anderen durch Grundrechtsverbürgungen jüngeren Datums ergänzt worden ist. Diese Zersplitterung ist zwar unschön und brachte für die Entwicklung der Judikatur mitunter Probleme mit sich; im Ergebnis gewährleistet das österreichische Verfassungsrecht aber Grundrechtsverbürgungen auf international gesehen höchstem Standard. Der Grundrechtsschutz ist also in Deutschland und in Österreich durch die nationalen Grundrechtskataloge umfassend gewährleistet, und alle Staatsorgane sind in ihren Tätigkeiten grundrechtsgebunden. Erachtet sich ein Grundrechtsträger durch einen Akt eines Gerichts oder einer Verwaltungsbehörde in seinen Grundrechtspositionen als verletzt, so verheißt ihm die Verfassung und die

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EMRK Schutz. Dieser wird hinsichtlich des nationalen Grundrechtskatalogs in Deutschland umfassend durch das BVerfG und hinsichtlich der EMRK durch den EGMR gewährt; in Österreich gewährleisten die nationalen Höchstgerichte die Einhaltung sowohl der nationalen Grundrechtsverbürgungen wie auch der EMRK, wobei die entscheidende Rolle dem VfGH zukommt, der zum einen gegenüber behaupteten Grundrechtsverletzungen durch die hoheitlich tätige Verwaltung angerufen werden kann, zum anderen aber auch über Grundrechtsverletzungen durch den Gesetzgeber zu entscheiden berufen ist. Grundrechtsschutz vermitteln aber auch die für Zivil- und Strafrechtssachen eingerichteten ordentlichen Gerichte, die über behauptete Grundrechtsverletzungen teilweise (im Vollzugsbereich) selbst zu entscheiden haben und dann, wenn sie Bedenken ob der Grundrechtskonformität einer generellen Norm haben, auf die eine gerichtliche Entscheidung gegründet ist, diese Frage dem VfGH vorzulegen verpflichtet sind. Den Schutz der durch die EMRK eingeräumten Grundrechtspositionen gewährleistet überdies umfassend der EGMR. Die Möglichkeit der Anrufung des EGMR stellt in gewisser Weise eine Verdoppelung des Grundrechtschutzes dar. Hiedurch ist in den letzten Jahren ein Konfliktpotenzial sichtbar geworden. Das ergibt sich daraus, dass der EGMR und die jeweils nationalen Grundrechtsgerichte dafür zuständig sind, ein und dieselbe Frage nach materiell gesehen gleichen Kriterien des Grundrechtsschutzes zu beurteilen – in Österreich ist es angesichts des Verfassungsranges der Menschenrechtskonvention sogar formal derselbe Prüfungsmaßstab. Das darin liegende Konfliktpotenzial wurde sichtbar, seit sich der EGMR zunehmend wie ein nationales Grundrechtsgericht geriert. Er kontrolliert immer häufiger nicht bloß, ob von einem nationalen Gericht die entsprechende Grundrechtsposition gewürdigt worden ist, ob über sie in einem ordentlichen Verfahren entschieden wurde, ob schwere Abwägungsfehler bei der Anwendung der Grundrechtsbestimmung gemacht wurden oder ähnliches; er stellt selbst Wertungen an und setzt diese häufig an die Stelle der Wertungen des nationalen Höchstgerichts. Insbesondere bei der Interpretation der Grundrechte der Privatheit und des Familienlebens sowie der Meinungsäußerungsfreiheit merken wir das in zunehmendem Maß. Darf ich es am Beispiel eines Aufenthaltsverbots erläutern: Ob einem Fremden, der sich nicht rechtsgetreu verhält, angesichts des Art. 8 EMRK der Aufenthalt im Aufenthaltsstaat verboten werden darf und für wie lange, hängt von einer Reihe von Umständen ab, insbesondere von der Intensität und Dauer der familiären Beziehungen im Aufenthaltsstaat, der Häufigkeit und Qualität der Verletzungen der Rechtsordnung, der Prognose über das weitere Verhalten des vom Aufenthaltsverbot Betroffenen und ähnlichem. Das alles wird das nationale Grundrechtsgericht, wenn es zu beurteilen hat, ob der Betroffene in seinem Grundrecht nach Art. 8 EMRK oder dem entsprechenden nationalen Grundrecht verletzt worden ist, abzuwägen und zu bedenken haben. Und Sache der Straß-

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burger Organe wäre es – das ergibt sich aus einer systematischen Sicht der Summe der Grundrechtsverbürgungen und der Grundrechtsschutzmöglichkeiten im nationalen und internationalen Bereich – zu prüfen, ob diese Abwägung in seriöser Weise stattgefunden hat oder ob bei der Abwägung nicht schwere Fehler unterlaufen sind – die natürlich auch einmal einem Verfassungsgericht unterlaufen können. Aber der EGMR geht über diese Funktion zunehmend hinaus. Er agiert in der Art einer Rechtsmittelinstanz und das Ergebnis kennen sie. Überlastung und enorme Rückstände des EGMR, die letztlich dazu führen müssen, dass er für den Menschenrechtsschutz ganz zentrale Aufgaben nicht entsprechend wahrnehmen kann. Aber dafür wird ein nationales Verfassungsgericht etwa belehrt – ich nenne jetzt bewusst keinen konkreten Fall –, dass ein zehnjähriges Aufenthaltsverbot für jemanden der zwei Beziehungspersonen im Inland und andere Beziehungspersonen im Ausland hat und nur drei Mal straffällig geworden ist oder eine Tat verübt hat, deren Unrechtsgehalt nach Ansicht des EGMR das nationale Gericht überschätzt hat, unzulässig ist. Ich möchte ganz entschieden sagen, dass das nicht die Aufgabe des EGMR sein kann und dass unter einer solchen Grenzüberschreitung auch das Ansehen der nationalen Verfassungsgerichte leidet, was präventiv gesehen keine gute Konsequenz für den Grundrechtsschutz insgesamt ist.

II. Grundrechtsschutz durch nationale Verfassungsgerichte und den EuGH Ich möchte mich jetzt der zweiten Herausforderung zuwenden, der Relation der nationalen Grundrechtsgerichtsbarkeit zum Grundrechtsschutz durch den EuGH oder besser gesagt: der Ergänzung des nationalen Grundrechtsschutzes durch den EuGH. Das bestehende System des Grundrechtsschutzes sichert weitgehend die Effektivität der Grundrechtsverbürgungen durch die nationalen Grundrechtskataloge und die EMRK. Eine Lücke zeigte sich freilich dort, wo sich ein Vollzugsakt (einer Verwaltungsbehörde oder eines Gerichts) unmittelbar auf EG-Recht stützt und die behauptete Grundrechtswidrigkeit in einer unmittelbar anwendbaren gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift zu orten ist. In diesen Konstellationen können – Österreich – oder wollen – Deutschland – die Verfassungsgerichte nicht tätig werden. Als Korrektiv wirkt in diesem Bereich freilich der EGMR, da er Verletzungen der durch die EMRK gewährleisteten Grundrechte durch Staatsorgane naturgemäß auch dann aufzugreifen hat, wenn die Grundlage des Handelns der staatlichen Organe keine genuin innerstaatlichen Gesetzesvorschriften, sondern Gesetzesvorschriften des Gemeinschaftsrechts sind; auch dieses Korrektiv nützt freilich dann nichts, wenn die behauptete Grundrechtsverlet-

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zung Vollzugsakten anzulasten sind, die von Organen der EG im Wege des unmittelbaren Vollzugs von Gemeinschaftsrecht gesetzt wurden. Insofern bestand in der Tat eine Lücke im Grundrechtsschutz und der EuGH hat sie dankenswerter Weise geschlossen. Er hat klargestellt, dass Akte des Sekundärrechtsgesetzgebers, wenn sie den Grundrechten widersprechen, – um in der Terminologie des Art. 234 EGV zu sprechen – „ungültig“ sind, dass die grundrechtlichen Gewährleistungen eine grundrechtskonforme Interpretation und Anwendung des Sekundärrechts gebieten und dass die Anwendung des zum unmittelbaren Vollzug vorgesehenen Sekundärrechts in diesem Sinn grundrechtsgebunden ist. Im Gesamtsystem des Grundrechtsschutzes bestand insoweit ein Handlungsbedarf für den EuGH. Und es ist einsichtig, dass der EuGH diesem Bedarf in seiner Rechtsprechung entsprach. Soweit aber Gemeinschaftsrecht in nationales Recht umgesetzt wird und auch im Bereich des mittelbaren Vollzugs gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften besteht ein solcher Bedarf in dieser Form nicht: Alle Mitgliedstaaten haben einen entwickelten nationalen Grundrechtsschutz und alle Mitgliedstaaten sind Mitglieder der EMRK; dieser nationale Grundrechtsschutz und der Grundrechtsschutz der EMRK binden die Mitgliedstaaten auch bei der Umsetzung und mittelbaren Anwendung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften. Die in Österreich herrschende Dogmatik und Judikatur verwenden hiefür das plastische Bild von der doppelten Bindung des Gesetzgebers bei der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht. Der Gesetzgeber ist einerseits an das Gemeinschaftsrecht und andererseits an die verfassungsrechtlichen Vorgaben gebunden. Der Gesetzgeber hat bei der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht also auch die Vorgaben der Verfassung und damit jene der nationalen Grundrechtsordnung zu beachten, die in Österreich auch die EMRK mit einschließt. Was soll in einer solchen Situation ein zusätzlicher „gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz“ noch bringen, noch dazu, wenn dieser Grundrechtsschutz vom Standard der nationalen Grundrechtskataloge und der EMRK abgeleitet wird? Natürlich nichts. Aber, kann man dem entgegnen: Schadet ein zusätzlicher Grundrechtsschutz? Soll man ihn nicht dennoch einführen, etwa nach dem Motto des Theaterdirektors im Vorspiel auf dem Theater, den Goethe sagen lässt: „Ich sag Euch, gebt nur mehr und immer, immer mehr; wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, und jeder geht zufrieden aus dem Haus.“ Eine solche Argumentation übersieht, dass eine Hypertrophie des Grundrechtsschutzes einen Rückschritt in der Realisierung eines effektiven Schutzstandards bedeuten würde; das wird deutlich, wenn man die prozessuale Dimension des Problems mit in die Betrachtung einbezieht. Man kann sich unschwer

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Verfahrenskonstellationen vorstellen, in denen dann das nationale Grundrechtsgericht, im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens der EuGH und schließlich noch der EGMR in ein und derselben Sache tätig zu werden haben. Das ist kontraproduktiv, weil es zu Doppelgleisigkeiten und zeitlichen Verzögerungen führen muss. Das muss Goethe vorausgesehen haben, als er den Dichter auf die Aufforderung des Theaterdirektors hin sagen lässt: „Ihr fühlet nicht, wie schlecht ein solches Handwerk sei.“ Der EuGH hat mit seiner Judikatur die Grundrechtsbindung der Gemeinschaftsorgane und die Grundrechtsbindung der unmittelbaren Vollziehung von Gemeinschaftsrecht durch mitgliedstaatliche Organe entwickelt und damit eine Lücke im Grundrechtsschutz geschlossen. Dort aber, wo die Mitgliedstaaten aufgrund der Delegation zur Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts berufen sind, besteht diese Lücke nicht, denn hier bewirken die nationalen Grundrechtsstandards und die Garantien der EMRK einen effektiven Grundrechtsschutz. Das betrifft insbesondere die Akte gesetzlicher Umsetzung und die Anwendung des nationalen Rechts, das in Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben geschaffen wurde. Die Struktur dieses Zusammenspiels wird deutlich, wenn wir uns der von Adolf Merkl vermittelten Einsicht erinnern, dass jeder Staatsakt durch eine heteronome Determinante und durch eine autonome Gestaltungsbefugnis bestimmt ist. Soweit das Organ des Mitgliedstaates (sei es der Gesetzgeber, sei es ein Vollzugsorgan) an das Gemeinschaftsrecht gebunden ist, hat es die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift seinem Akt in jenem Gehalt zugrunde zu legen, der ihm in gemeinschaftsgrundrechtskonformer Weise zukommt – die Frage, welcher Gehalt das ist und in welcher Weise die Gemeinschaftsgrundrechte auf diese heteronome Determinante des Aktes einwirken, hat der EuGH zu entscheiden. Aber auch der verbleibende autonome Gestaltungsspielraum ist grundrechtsgebunden, freilich nicht an die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts, sondern an die des Mitgliedstaates; insoweit ist also der nationale Grundrechtskatalog und seine Anwendung durch die nationalen Verfassungsgerichte maßgeblich – das ist eine notwendige Konsequenz der doppelten Bindung, der Organe eines Mitgliedstaates unterliegen, wenn sie im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts Rechtsakte setzen. Es traf also den Kern, als Eckart Klein auf der Zürcher Staatsrechtslehrertagung 1990 formulierte: „Was die nationalen Umsetzungsakte angeht . . ., so handelt es sich um Akte deutscher Staatsgewalt, die grundsätzlich der Verfassungsbindung unterliegen. Allerdings wirkt diese Bindung nur so weit, als der deutsche Gesetzgeber ,frei‘ ist, sie erfaßt nicht den von der Richtlinie vorgeschriebenen Inhalt“. Auch für diesen Bereich (den Bereich der autonomen Gestaltungsbefugnis) eine vom EuGH wahrzunehmende gemeinschaftsrechtliche

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Grundrechtsprüfung zu postulieren, bedeutet Doppelgleisigkeiten zu verlangen und das mit der Konsequenz, dass der Grundrechtsschutz an Effektivität verlieren müsste. Im skizzierten System des Zusammenspiels von nationaler und europäischer Grundrechtsbindung ist weder Platz dafür, dass sich die nationalen Verfassungsgerichte ihrer Aufgabe enthalten, für die Einhaltung des nationalen Grundrechtskatalogs (der in Österreich auch den Grundrechtsschutz nach der EMRK inkludiert) zu sorgen, noch dafür, dass sich der EuGH diesen Bereich des Grundrechtsschutzes arrogiert. Und nichts anderes gilt nach meiner Ansicht auch auf Grund der Geltungsbereichsbestimmungen der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“, sollte diese einmal verbindlich werden. Der Hinweis auf das Subsidiaritätsprinzip im ersten Satz des Art. 51 Abs. 1, der Vorbehalt zugunsten eines höherwertigen Grundrechtsschutzes in nationalen Verfassungsordnungen und der EMRK in Art. 53 der Charta und die Bedachtnahme auf die vorhin dargelegte doppelte Bedingtheit von staatlichen Akten, die im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts gesetzt werden, führen zu diesem Ergebnis. Eine solche Sicht der Dinge führt keineswegs zu einer „Renationalisierung des Europäischen Grundrechtsschutzes“, sondern zur Realisierung der verbal immer wieder beschworenen „Kooperation“ zwischen den zur Sicherung von Grundrechtspositionen berufenen europäischen und den nationalen Gerichten im Interesse eines effektiven Grundrechtsschutzes.

Die Herausforderungen an die Gerichtsbarkeit in Europa – Bosnien und Herzegowina Constance Grewe I. Einführung: Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen Obwohl Bosnien und Herzegowina mitten im Herzen Europas liegt, sind die Herausforderungen an die Gerichtsbarkeit doch besonders hoch und schwierig. Der bosnische Staat, ein Teil von Ex-Jugoslawien, zählt 4.122.205 Einwohner, die sich hauptsächlich aus drei Bevölkerungsgruppen zusammensetzen: Die bosnischen Serben, die in der Mehrheit der orthodoxen Religion angehören, die weitgehend katholischen bosnischen Kroaten und die meist islamischen Bosnier. Der von 1992 bis 1995 dauernde Krieg hat schwere Spuren hinterlassen. Zahlreich sind noch immer die Ruinen in den Städten, vor allem in Mostar und Sarajevo, nur wenige Flüchtlinge sind in ihre früheren Wohngebiete zurückgekehrt, die Arbeitslosigkeit erreicht bis zu 50% der aktiven Bevölkerung und die Staatsverschuldung ist beträchtlich, da 60% des Bruttosozialprodukts für die sechzehn bestehenden Regierungen ausgegeben wird. Diese negative Bilanz resultiert nicht zuletzt aus der Struktur des politischen Systems. Der Friedensvertrag von Dayton, der in Paris am 14. Dezember 1995 unterzeichnet wurde, setzte zwar dem Krieg ein Ende, schrieb jedoch die damalige Situation der ethnischen Säuberung fest, indem er in Bosnien und Herzegowina einen föderalistischen Staat gründete. Das Dayton Abkommen besteht aus einem recht kurzen Text und vor allem aus 11 Anhängen, die den Friedensherstellungsprozess näher bestimmen. Dabei sind besonders Anhang 4 – die Verfassung von Bosnien und Herzegowina –, Anhang 6 – die in Bosnien geltenden Menschenrechte –, Anhang 7 über Flüchtlinge und Vertriebene und Anhang 10, der den Hohen Repräsentanten (OHR) als Vertreter sowohl der internationalen Gemeinschaft als auch der Europäischen Union einsetzt und ihm in dieser Eigenschaft die Vollmacht erteilt (Bonner Ermächtigungen), Beamte abzuberufen, verdächtige Personen festzunehmen oder Gesetze anstelle des Parlaments einzubringen, hervorzuheben. Das Dayton Abkommen stellt demnach den problematischen Versuch dar, in einem einzigen Text einen Waffenstillstand, einen Friedensvertrag und außerdem die normalerweise für eine gewisse Dauer gedachte nationale Verfassung

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zu vereinigen. Als Anhang eines internationalen Vertrags ist diese Verfassung allerdings in englischer Sprache abgefasst, für die es bis heute keine offizielle lokale Übersetzung gibt. Wenn man bedenkt, wie wenige bosnische Bürger Englisch sprechen, ist dies besonders bedenklich im Hinblick auf eine mögliche Identifizierung der Bosnier mit ihrer Verfassung. Aufgrund der Verfassung besteht dieser föderalistische Staat aus zwei Einheiten (entities), die Republika Srbska und die bosnisch-kroatische Föderation, die ihrerseits in Kantone und Gemeinden aufgegliedert ist. Trotz der äußerst schwachen Stellung des Zentralstaates, der weder eine Armee noch eine Polizei besitzt, wird den beiden Gliedern jede Eigenstaatlichkeit verwehrt; sie werden deswegen nicht als Gliedstaaten, sondern nur als Einheiten oder Entities bezeichnet. Im Zentralstaat ist eine kollegiale Präsidentschaft (ein Kroate, ein Serbe und ein Bosnier) eingerichtet, wobei jeder ethnische Repräsentant über ein Vetorecht verfügt, wenn das „vitale Interesse“ seiner Bevölkerungsgruppe berührt ist. Daneben besteht eine von dem Ministerratspräsidenten angeführte Regierung, die das Vertrauen des Parlaments besitzen muss. Das Parlament besteht aus zwei Kammern, das Haus der Repräsentanten und das Haus der Völker. Die Wahlen zu den beiden Kammern sowie zur Präsidentschaft finden aufgrund sehr komplizierter Regelungen, die das ethnische Gleichgewicht bewahren sollen, statt. II. Das Gerichtssystem, insbesondere das Verfassungsgericht Um das System der checks and balances und die Effektivität der Menschenrechte zu gewähren, fügt die Verfassung den in den Einheiten bestehenden Gerichten ein auf zentraler Ebene errichtetes Verfassungsgericht hinzu. Dieses besteht aus neun Richtern, sechs lokalen und drei internationalen. Erstere werden vom Parlament bestellt, letztere vom Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Das Gericht tagt in sogenannten Pannels (die sechs lokalen Richter) und in der Großen Kammer (alle neun Richter). In der Großen Kammer werden die Entscheidungen mehrheitlich (fünf Richter) getroffen; individuelle und Sondervoten sind erlaubt. Die allgemeine Funktion des Gerichts besteht in der Bewahrung der Verfassung. Konkret hat es vor allem drei Zuständigkeitsbereiche: • Die Entscheidung über verfassungsrechtliche Streitigkeiten zwischen den Staatsorganen, die einer abstrakten Normenkontrolle gleichkommt. In diesem Fall sind zur Anrufung des Gerichts ausschließlich politische Organe ermächtigt, d.h. die Präsidenten, der Ministerratspräsident, ein Viertel der parlamentarischen Kammern des Zentralstaates oder der Einheiten. • Die Entscheidung über Individualbeschwerden, die in einem Zeitraum von 60 Tagen gegen endgültige Gerichtsurteile erhoben werden, soweit diese Ge-

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richtsentscheidungen verfassungsrechtliche Fragen aufwerfen. In gewisser Weise ist diese Kompetenz mit der deutschen Verfassungsbeschwerde vergleichbar. • Die Entscheidung über die Vereinbarkeit von Gesetzen oder Verfassungen der Einheiten oder von zentralstaatlichen Gesetzen mit der Verfassung oder der EMRK auf Anrufung durch die Fachgerichte, demnach eine konkrete Normenkontrolle. Politisch ist der erste Kompetenzbereich von großer Bedeutung, auch wenn die Anträge nicht sehr zahlreich sind; quantitativ machen die Individualbeschwerden bei weitem den größten Teil der Fälle aus, während die konkrete Normenkontrolle äußerst selten ist.

III. Die Herausforderungen: Rechtsstaat und effektive Durchsetzung der Menschenrechte Rechtsstaat und effektive Durchsetzung der Menschenrechte gehören zu den Grundwerten der Verfassung, die nicht nur erklärt, dass in Bosnien und Herzegowina ein hoher Menschenrechtsstandard zu gewährleisten ist, sondern zu diesem Zweck auch die EMRK als direkt anwendbares Recht bezeichnet, welches Vorrang vor jedem anderen Gesetz haben soll. Diesen Herausforderungen in einem von Immobilismus und Widersprüchlichkeiten gekennzeichneten Staat gerecht zu werden, stellt eine schwierige Aufgabe für das Verfassungsgericht dar. Mit viel Energie und einigem Erfolg hat das Gericht dieses Ziel angestrebt. Es ist ihm gelungen, in den wenigen Jahren seines Bestehens eine angesehene Institution zu werden. Es hat sich nicht gescheut, die Verfassung manchmal recht dynamisch zu interpretieren, um die Widersprüchlichkeiten des Dayton Abkommens zwischen Akzeptanz ethnischer Säuberung einerseits und dem Willen, die Vertriebenen zur Rückkehr zu veranlassen andererseits, abzuschwächen oder gar zu überwinden. Die in dieser Hinsicht wichtigen Entscheidungen sollen kurz aufgelistet werden. Es handelt sich zunächst um die im Jahre 2000 ergangene Entscheidung U 5/98, die in mehrere Teilurteile aufgefächert wurde und die sogenannten „konstituierenden Völker“ betrifft. In dieser Entscheidung hat das Verfassungsgericht die grundsätzliche Gleichheit der drei Bevölkerungsgruppen in beiden Einheiten statuiert, so dass von da an der Föderalismus eher ein Hindernis auf dem Weg zur Völkerversöhnung wurde als eine nützliche Staatsfunktion. Im Rahmen dieser ethnisch-kollektiven Gleichheit wurden dann im Jahre 2004 (U 44/01) die serbisch klingenden Namen vieler Städte in der Republika Srbska als verfassungswidrig erklärt, wurde 2005 (U 10/05) das „vitale Interesse“, d.h. der Grund des Vetorechts der Völkergruppen, zum ersten Mal juristisch umschrieben sowie 2006 (U 4/04) in mehreren Teilentscheidungen das Wappen

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und andere Symbole der Republika Srbska für verfassungswidrig erachtet. Die Entscheidung U 24/03 aus dem Jahr 2004 über den Umfang der Immunitäten ist hier ebenfalls zu erwähnen, weil sie den Weg für viele Verfahren gegen noch immer führende Politiker wegen Kriegsverbrechen öffnete. Auch quantitativ ist die Arbeit des Verfassungsgerichts beträchtlich. Von drei Anträgen im Jahr 1996 ist deren Anzahl im Jahre 2004 auf 1169 und auf 2462 im Jahr 2005 gestiegen. 2004 hat das Gericht 975 Fälle erledigt und 1381 im Jahr 2005. Am 31. Dezember 2005 blieben 1993 nicht erledigte Anträge. Im Durchschnitt werden die Beschwerden in 12 Monaten entschieden. Zur Durchsetzung von nicht ausgeführten Entscheidungen des Verfassungsgerichts kann eine neue Entscheidung herbeigeführt werden und sodann ein Vollzug durch die staatliche Gewalt angeordnet werden. Jedoch haben diese Anstrengungen ihre Grenzen. So ist es dem Verfassungsgericht kaum möglich, aus eigenen Kräften von der ethnisch-kollektiven Gleichheit zu einer bürgerlich-individuellen Gleichheit zu gelangen. Die ethnischen Strukturen der Verfassung, die sich nicht nur in der territorialen Gliederung, sondern auch in der kollegialen Präsidentschaft, in der Zusammensetzung und Wahl vor allem der zweiten parlamentarischen Kammer und im Vetorecht aller Institutionen widerspiegeln, stellen ein kaum überwindbares Hindernis dar. Zudem bleiben die politischen Parteien weitgehend territorial gegliedert, was sowohl die föderalistische Struktur als auch die ethnische Trennung fördert. So ist es nicht verwunderlich, dass ein solches Parteiensystem mehr oder weniger zum Immobilismus verdammt ist, was das kürzliche Scheitern einer Verfassungsänderung gezeigt hat. Die Wahlen im Oktober 2006 haben die politische Landschaft zwar verändert, doch ist es fraglich, ob diese Veränderung irgendeine Bewegung ermöglicht. Die Unabhängigkeit von Montenegro und wohl auf die Dauer auch des Kosovo können nur die separatistischen Neigungen der Republika Srbska bestärken. So wird möglicherweise das Problem einer Verfassungsänderung gleich unlösbar bleiben. Ohne einen solchen Beitrag der Politik kann jedoch die Gerichtsbarkeit den ihr gestellten Herausforderungen auf die Dauer nicht gerecht werden.

Herausforderungen für die demokratische Ordnung – die verfassungsrechtlichen Schranken der „moralischen Revolution“ Mirosław Wyrzykowski Das zu Ehren von Professor Detlef Merten, einem großen Freund Polens und der Polen, vorbereitete Symposium hat eine besondere Bedeutung für jeden, der sich mit der Problematik der Demokratie, des Rechtsstaats, der Freiheit und der Stellung des Einzelnen im modernen Verfassungsstaat beschäftigt. Das außergewöhnlich vielseitige Forschungsinteresse des Jubilars, die von ihm angewandten Forschungsmethoden, die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Arbeiten sowie ihre Bedeutung für die Theorie des europäischen Konstitutionalismus und für Reflexionen über die Freiheiten und Rechte der Menschen im gegenwärtigen Europa wurden exzellent in den einleitenden Bemerkungen von Professor Magiera und Professor Sommermann hervorgehoben. Ich schließe mich den Worten der Anerkennung mit höchster Ehrfurcht vor dem Intellekt an sowie mit dem Ausdruck der Sympathie und ehrlicher Herzlichkeit, die ich Professor Merten, seiner Ehegattin, seinen Nächsten – Assistenten, Bekannten und Freunden, auch aus dem Ausland – entgegenbringe. Der Problemkreis, der abgesteckt wurde durch die Thematik, die von den Organisatoren vorgeschlagen wurde, lässt eine vielseitige Reflexion über die Herausforderungen zu, vor denen die Demokratien in den einzelnen Staaten stehen. Mit diesen Herausforderungen werden alle modernen europäischen Demokratien konfrontiert, jedoch im besonderen Maße diejenigen, die gerade Grundsteine für die neue gesellschaftliche, politische und kulturrechtliche Ordnung legen. Ich spreche vor allem über die demokratischen Staaten, die fünfzehn Jahre nach dem „annus mirabilis“ 1989 in den Mitgliederkreis der Europäischen Union aufgenommen wurden. Der Prozess der Grundlagenlegung für Demokratie, der Gestaltung des politischen Pluralismus, das Entstehen der Bürgergesellschaft, die Konsolidierung der sozialen Marktwirtschaft sowie die Stabilisierung der Verfassungsordnung sind dermaßen fortgeschritten, dass man schon jetzt sagen kann, sie erfüllen die Voraussetzungen des Art. 6 des Vertrags über die Europäische Union. Dies bedeutet, dass in den jungen Demokratien ähnliche (oder gleiche) Probleme existieren wie in den Demokratien der Gründungsstaaten der Europäischen Gemeinschaften sowie der späteren Mitglieder der Gemeinschaften, jetzt der Europäischen

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Union. Gleichzeitig können wir uns darüber Gedanken machen, ob es besondere Situationen oder Ereignisse gibt, die einer Reflexion bedürfen, die über die schematischen Beschreibungen und Analysen der Phänomene der Verfassung und Politik hinausgehen. Mit anderen Worten: ob in den sich in einer schwierigen Umwandlungsphase vom totalitären Staatsmodell zur konstitutionellen Demokratie, insbesondere zur liberalen konstitutionellen Demokratie, befindenden Staaten alle Hindernisse ausgeräumt wurden, und ob der Prozess konfliktlos abläuft. Ich nehme nämlich an, dass die liberale Demokratie einen Maßstab für die heutige, im Rahmen der Europäischen Union verstandene und praktizierte Demokratie bildet. Ich stelle hier keine These auf über die Demokratiegefahren in einem neuen – nach der Erweiterung 2004 – Mitgliedstaat der Europäischen Union. Ich möchte eher fragen, ob die liberale Demokratie ausreichend stark ist, um sich vor einer Deformation zu schützen. Kann es zu einer Krise der demokratischen Ordnung kommen? Wenn ja, über welche effektiven Mittel können diejenigen verfügen, die die liberale Demokratie vor einer Pathologie schützen wollen? Anders gefragt – wie stark ist die Idee liberaler Demokratie verwurzelt und geben die funktionierenden Einrichtungen, Mechanismen, Prozeduren und Umstände eine Garantie, dass das Modell liberaler Demokratie unumkehrbar ist? Analysieren wir jetzt eine Situation, die eine gewisse Synthese vielfältiger Phänomene darstellt, die in den letzten Jahren in verschiedenen Staaten Mittelund Osteuropas aufgetreten sind. Es gibt einen gemeinsamen Kern – die Parlaments-, Lokal- und Präsidentschaftswahlen finden gemäß den verfassungsmäßigen Regeln statt, also gemäß den gesetzlichen (oder verfassungsmäßigen) Anforderungen, und erfüllen (formell) alle Voraussetzungen des europäischen Maßstabs für Wahlverfahren. Stellen wir uns also vor, dass infolge eines demokratischen, freien Wahlprozesses eine Partei (oder eine Koalition politischer Parteien) an die Macht kommt, die revolutionäre Parolen verbreitet, wenn auch die Revolution nur auf dem Gebiet der Moral erfolgen soll. Es muss als eine Voraussetzung angenommen werden, dass die Moral als öffentliche Moral behandelt wird. Man muss darüber hinaus auch einen weiteren Vorbehalt machen – der Begriff „öffentliche Moral“ lässt sich nur schwer erklären, insbesondere während einer Wahlkampagne, wo das Programm einen allgemeinen Charakter hat und gesetzgeberische Initiativen allenfalls vage formuliert werden. Der Sieg einer die Parole der moralischen Revolution verbreitenden politischen Partei ist durch – bekannte – Voraussetzungen eingeschränkt, deren Erfüllung die erste Bedingung eines Sieges darstellt. Es muss eine ziemlich große Gruppe von mit der Realität unzufriedenen, verlorenen, frustrierten, Menschen vorhanden sein. Entscheidend sind die situativen Bedingungen. Der Revolutionsaufruf muss überzeugend erscheinen, um die meist passiven Wähler zur

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aktiven Teilnahme an den Wahlen zu mobilisieren; er muss auch eine ausreichende Unterstützung finden, um eine Parlamentsmehrheit zu erreichen, die seine Durchführung ermöglicht. Die relative (manchmal absolute) Mehrheit der an den Parlamentswahlen teilnehmenden Wähler muss sich folglich gegen die, in der Gesellschaft und dem Staat herrschende Ordnung aussprechen. Sie muss sich zwischen Evolution und Revolution entscheiden. Der Grund für eine positive Antwort auf den revolutionären Aufruf durch Stimmabgabe für die „revolutionäre“ Partei kann in der gesellschaftlichen Unzufriedenheit mit dem Lebensstandard liegen. Im Falle Mittel- und Osteuropas kann es sich vor allem um die Enttäuschung über die Ergebnisse der wirtschaftlichen Transformation und die hohen Kosten der Umwandlung von einer zentral gesteuerten zur Marktwirtschaft handeln. Dazu kommt noch das sichtbar pathologische Funktionieren der Staatsorgane, insbesondere das Phänomen der Bestechung sowohl in der Wirtschafts- wie in der Politiksphäre, insbesondere im Berührungspunkt von Staat und Privatwirtschaft. Mehr noch: die Kompliziertheit der ersten Etappe der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwandlung bedarf einfacher und klarer Antworten auf schwierige Fragen. Ein Mangel solcher Antworten, der sich naturgemäß aus dem komplizierten Charakter der Phänomene ergibt, führt zu wachsender Frustration und Verdruss großer Wählergruppen. Revolutionäre Parteien können sich auch des Misstrauens der Bürger gegen die Möglichkeiten der Bürgergesellschaft als einer Alternative zu der zentralisierten, ineffektiven Staatsmaschinerie bedienen, um Stimmen zu gewinnen. Damit hängt ferner die Unfähigkeit zusammen, das moderne, nicht auf Hierarchie oder Personifikation beruhende, sondern auf Zusammenwirken und Achtung vor den Regeln gründende Gewaltmodell (die Macht des Rechts, nicht der Menschen) zu verstehen. Die Revolution, wenn auch nur eine moralische, setzt eine Veränderung des bisherigen Status quo voraus. Paradox – die Wahl einer politischen Partei, die revolutionäre Fahnen hochhält, erfolgt im Rahmen eines demokratischen Prozesses, der von Natur aus im Gegensatz zur Revolution steht. Die Parlamentswahlen als der demokratische Wahlakt werden zu einem Zweck benutzt, der mit der liberalen Demokratie kaum etwas gemein hat. Theoretisch betrachtet entsteht hier ein Widerspruch in sich: die Demokratie als die Antinomie zur Revolution (nicht selten als das Ergebnis einer Revolution) ermöglicht die Durchführung einer Revolution mit Hilfe ihrer Mechanismen. Eine solche Situation ist allerdings nur in Gesellschaften möglich, die keine ausreichend langen, stabilen demokratischen Erfahrungen haben. Die Revolution setzt eine totale Herrschaft voraus. Dies bedeutet eine Herrschaft über Staatseinrichtungen, Elemente demokratischer Gesellschaft, Medien, Justiz. Die Revolution beansprucht für sich ausschließliches Rechthaben, aus-

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schließliche Richtigkeit des Ziels und der Durchführungsmethoden. Sie verlangt blinden Gehorsam und duldet keinen Widerspruch. Sie bedient sich des bekannten Mechanismus des Ausschließens: wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Sie schafft Situationen, in denen sogar diejenigen, die gar nichts mit Politik zu tun haben, gezwungen werden, sich zu entscheiden. Die Entscheidung muss einen Charakter der moralischen Wahl haben, einer Wahl zwischen dem bisherigen Übel und der versprochenen Güte. Die revolutionäre Gewalt wird zur Verkörperung der Güte, wie es manche Revolutionäre sagen, „der reinen Güte“. Die ethische Wahl (Güte oder Übel) wird noch stärker motiviert – die Entscheidung für die Revolution bedeutet das „Ja“ zum allgemeinen Besten. Auf diese Weise versteht die revolutionäre Gewalt ihre Berufung, aber nicht nur als ihre Berufung, sondern als die Regierenden erfassende Aufgabe, als ihre sich aus der Verfassung ergebende Pflicht gegenüber dem so definierten Allgemeinwohl. Dies bedeutet, dass jede Entscheidung, weil sie auf der Basis der demokratischen, in allgemeinen Wahlen gewonnenen Legitimation (was immer unterstrichen wird) getroffen wird, auf diese Weise eine verfassungsmäßige Begründung gewinnt. Die Verfassung bürgt für allerlei Maßnahmen der Gewalt, weil sie als Realisierung der Ergebnisse der allgemeinen Wahlen verstanden wird. Jedoch stößt jede Revolution auf Hindernisse. Insbesondere eine in den Strukturen der liberalen Demokratie durchgeführte Revolution. Welche Schlüsse sollen daraus die Revolutionäre ziehen? – Die Hindernisse sind zu beheben. Wir sollten daher überlegen, welche Hindernisse in der liberalen Demokratie auf dem politischen Weg zur moralischen Revolution stehen. Die erste und wichtigste Hürde ist die Verfassung. Die Verfassung ist ein Normativakt mit erhöhter Bestandskraft. Ihre Veränderung ist schwieriger als ein Sieg bei Parlamentswahlen. Die Anforderungen an die erhöhte Verfassungsbestandskraft (eine qualifizierte Parlamentsmehrheit, Genehmigungsreferendum usw.) verlangen Verbündete, um die qualifizierte parlamentarische Mehrheit zu erreichen. Diese Aufgabe wird erschwert durch die Akte politischer Revolte, die nicht darin bestehen, gesellschaftliche Gruppen, Bürger, ihre Organisationen unter einem gemeinsamen, allgemein akzeptierten Zweck zu vereinigen, sondern ganz im Gegenteil – es geht darum, die Gesellschaft zu teilen, gegenseitiges Misstrauen, oft sogar Feindschaft, zu schüren. Diejenigen, die die Idee der Verfassungsänderungen, die neuen Prozessrahmen für die Revolution, schaffen sollen, sind durch die Revolutionäre angeprangert, insbesondere in moralischen Kategorien. Es entsteht ein Teufelskreis: der Widerspruch gegen die Revolutionäre verstärkt den revolutionären Eifer, der seinerseits die Konfliktmechanismen untermauert und die Chancen mindert, sich auf einen gemeinsamen Nenner zu verständigen, was für das Zusammenwirken der politischen in einem demokra-

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tischen Staat funktionierenden Kräfte unentbehrlich ist. Die Gegner der moralischen Revolution werden noch stärker als Feinde der ethisch hohen Werte angeprangert, was ihnen somit die Motivation zur Zusammenarbeit mit der parlamentarischen Mehrheit in immer größerem Maße nimmt. Die wichtigen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Angelegenheiten, die von Belang für das soziale Fortdauern und die Entwicklung sind, treten weit in den Hintergrund. Die Energie wird zunehmend in taktische politisch-parteimäßige Siege gegossen. Der Parteienkonflikt findet seinen Niederschlag auf einem niedrigeren Niveau der sozialen Ordnung: in territorialen Selbstverwaltungen, Berufsumgebungen, Gesellschaften, und informellen Gruppen. Der ständige Zwang, zwischen der ethisch vollkommenen Revolution und der moralisch diskreditierten, revolutionäre Veränderungen benötigenden Wirklichkeit zu wählen, führt zu einer sich immer weiter vertiefenden sozialen Kluft. Die Revolutionäre wollen eine möglichst volle, am liebsten totale Kontrolle über das Verhalten der Gesellschaft und des Einzelnen. Insbesondere geht es hier um die Verhaltensphäre, die mit der von den Revolutionären definierten Moral verbunden ist. Daher kommen die Tendenzen zu einem Wiederaufbau des bekannten Modells der Einwirkung des Staates auf die Mechanismen des Schaffens und Funktionierens gesellschaftlicher Organisationen und zu einer verstärkten Kontrolle der Finanzierungsmechanismen dieser Organisationen und ihres Organisationsmetabolismus. Das stark empfundene Verlangen, den NGOs einheitliche Kriterien ihres Aktivitätenkerns aufzuerlegen, geht mit der Umkehrung des Subsidiaritätsprinzips des Staates Hand in Hand. Ein totales Verlangen nach Einflussnahme des Staates auf das gesellschaftliche Leben wird zur Regel. Es kommt zu einem Missmut gegenüber den Funktionen und Strukturen des Staates. Dann ist es auch nicht mehr weit bis zum Verschwinden der bürgerlichen Aktivitäten. Soziale Organisationen werden immer mehr abhängig von der Regierungsgewalt. Damit verschwindet zugleich eine wichtige Funktion der NGOs, nämlich die effizientere Einbeziehung der Staatsmacht bei der Realisierung von Aufgaben, die für die Gesellschaft wichtig sind. Die Revolutionäre, die nicht imstande sind, eine Verfassungsänderung durchzuführen, da keine qualifizierte Mehrheit, die eine solche Änderung voraussetzt, erreicht werden kann, versuchen diese Änderung auf dem Wege der gewöhnlichen, parlamentarischen Gesetzgebung zu schaffen. Ihre Versuche nehmen verschiedene Formen an. Es könnte sich um eine Änderung der Gesetzgebung im Bereich der Regulierung des Verfassungsstatus des Staatsorgans handeln, wodurch das bisherige System der Wahl des Vorsitzenden des kollegialen Staatsorgans zu Gunsten des Staatspräsidenten, der diesen Vorsitzenden ernennen sollte, modifiziert werden könnte. Aber der Kern einer solchen Änderung bestünde dann in dem Versuch, das verfassungsmäßige Staatsmodell durch die Erweiterung der verfassungsgarantierten Rechte des Präsidenten mittels eines par-

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lamentarischen Gesetzes, und nicht durch eine Verfassungsänderung, zu erreichen. Dies wäre ein Versuch, zum Beispiel vom Modell der parlamentarischkabinetten Demokratie in Richtung eines quasi-präsidentiellen Systems abzuweichen. Eine erfolgreiche erste Probe könnte dann wiederholt und auch in anderen Situationen angewandt werden. Eine Änderung des verfassungsmäßigen Status des Staatsoberhauptes, wenn auch nur stufenweise, würde leicht zu einer Modifizierung des politischen Systems des Staates führen. Ein anderes Beispiel ist der Versuch einer Änderung der Verfassungsordnung nicht mittels eines Gesetzes, sondern durch Beschluss des Parlaments verbunden mit – so wie es 2006 in Polen der Fall war – der Errichtung einer parlamentarischen Prüfungskommission bezüglich Unregelmäßigkeiten von Kapital- und Eigentumsumwandlungen im Bankensektor 1989–2006. Aufgrund des parlamentarischen Beschlusses wurden die Aktivitäten der polnischen Nationalbank kontrolliert, welche laut Verfassung unabhängig ist und nicht der Kontrolle des Parlaments unterliegt. Die Prüfungskommission sollte ferner den „unrechtmäßigen“ Einfluss der Bürger und juristischen Personen auf die Aktivitäten der Staatsorgane kontrollieren. Dies sollte nicht die Kontrolle der dem Parlament verantwortlichen Staatsorgane, also etwa des Ministerpräsidenten, zum Ziel haben, sondern der Bürger, über die das Parlament keine Kontrollrechte hat und haben darf. Die Grenzen der Parlamentsaktivitäten überwacht das Verfassungsgericht. So kommen wir zu einem ernsten Konflikt, welcher zwischen einer Regierung, die die moralische Revolution realisiert, und dem Verfassungsgericht entstehen kann und auch entsteht. Dieser Gerichtshof wird von den Revolutionären als letztes und wichtigstes Hindernis auf dem Weg zur Realisierung der Ziele der moralischen Revolution angesehen. Er stellt oft eine so große Hürde dar, dass er von den Politikern als Quelle des staatlichen „Impossibilismus“ behandelt wird. Es ist wahr, ein Beschluss, der ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt, eliminiert die gegebene Norm aus der Rechtsordnung und macht somit die Realisierung des in ihr enthaltenen Ziels unmöglich. Aber dies ist eine Erinnerung daran, dass die Verfassung die Grenzen der gesetzgeberischen Freiheit bestimmt, und zwar im Hinblick auf den Inhalt wie auf das Zustandekommen der Regelung. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes, insbesondere wenn die Regelung eine Schlüsselrolle für die Realisierung eines politischen Konzeptes der (moralischen) Revolution spielt, ruft eine verständliche negative Reaktion des Gesetzgebers hervor. Diese natürliche Reaktion kann aber in für die liberale Demokratie unnatürlichen Formen auftreten. Niemand bezweifelt das Recht der Kritikausübung an einem Verfassungsgerichtsbeschluss. Das Problem, welches im Hintergrund der praktischen Kritikübung am Verfassungsgericht entsteht, betrifft die Bedingungen, unter welchen eine kritische Diskussion als zulässig erklärt werden könnte.

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Zum ersten sollte die Kritik – auch die von Regierungs- oder Parlamentsvertretern geäußerte – den Beschluss selbst betreffen. Ähnlich sollten Aussagen seitens der Politiker die Resultate der Aktivitäten des Verfassungsgerichts und nicht die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit an sich betreffen. Weitere Bedingungen sind – zweitens: für eine Bewertung eines Verfassungsgerichtsbeschlusses die genaue Kenntnis von dessen Inhalt, und nicht nur die Kenntnis einiger Informationen darüber (z. B. aus den Medien); drittens: die Kenntnis der Verfassung im Hinblick auf ihren Wortlaut, den Inhalt der Beschlüsse des Verfassungsgerichts sowie die weitgehend akzeptierten Ansichten der Verfassungsdoktrin (der opinio communis doctorum); viertens: die Kenntnis der Unterschiede zwischen den Funktionen des Parlaments und denen des Verfassungsgerichts als Mechanismus zum Schutze der Bürger und des Staates vor gesetzgeberischem Missbrauch als Folge einer Verfassungsverletzung; fünftens: die Kenntnis der Unterschiede zwischen der Zeitperspektive des Parlaments oder der Regierung und des Verfassungsgerichts; die Perspektive eines Politikers ist die der nächsten Parlamentswahlen, die des Verfassungsgerichtes die der zeitlichen und formellen Stabilität der Verfassung als Rahmen für politische Aktivitäten; sechstens: das Bewusstsein, dass trotz der Emotionen der Politiker jeder Beschluss des Verfassungsgerichtes die Aktivitäten des Parlaments oder der Regierung legitimiert; die Legitimität wird auf natürliche Weise bestätigt und zwar durch einen Beschluss, der die Verfassungsmäßigkeit der gegebenen Norm beglaubigt; siebtens: das Bewusstsein, dass die Missachtung der staatlichen Verfassungsorgane eine Missachtung des Staates ist; achtens: das Bewusstsein von den Besonderheiten der Sprache, die in den inhaltlichen Aussagen des Verfassungsgerichtsbeschlusses verwendet wird. Die Übertragung eines politischen Konfliktes auf die Ebene der Verfassung führt zu einer Diskussion über das Problem in der Sprache der Verfassung und nicht des politischen Diskurses. Die Verrechtlichung der Politik ist eine natürliche Konsequenz der Annahme des Modells der Verfassungsdemokratie, in der das Verfassungsgericht die Rolle eines Wächters über das Verfassungssystem und die Freiheiten und Rechte des Einzelnen übernimmt. Wenn wir von der Sprache des politischen Diskurses sprechen, sind kurz die Regeln zu erwähnen, die diesen Diskurs bestimmen sollten. Die Sprache der Politik hat ihre Eigenheiten, die verschieden sind von denen der Juristen- oder Rechtssprache. Dieser Unterschied ist unter anderem durch die Problemstellungen, die von den Politikern beschrieben werden, sowie die Art des Empfängers der Aussage, vor allen Dingen des Endadressaten, welcher fast immer der Wähler ist, zu erklären. Kritisieren Politiker einen Beschluss des Verfassungsgerichts, so liegt der Akzent der Aussage vor allen Dingen darauf, das Gericht als Feind eines gewissen Konzeptes darzustellen, welches für die jeweilige politische Partei und damit auch für die Wähler dieser Partei wichtig ist. Die Meinung zu diesem Beschluss sollte einfach, kurz und so gestaltet sein, dass sie die

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Enttäuschung über die Behinderung der Realisierung der revolutionären Ziele hervorhebt. Die Sprache des Politikers muss konfrontierend sein, um von dem Hauptadressaten der Aussage, dem reellen und potentiellen Wähler, verstanden zu werden. Das bringt das Verfassungsgericht in eine schwierige Lage. Die Sprache des Gerichtes ist die Sprache der Verfassung. Diese ist weitgehend hermetisch und vor allen Dingen verständlich für gut ausgebildete Juristen. Außerdem muss es eine Sprache sein, mit Hilfe derer das Gericht weder seine Position in einer bestimmten Angelegenheit noch die angegriffenen Richter verteidigt. Das Verfassungsgericht verteidigt die Verfassung, die Demokratie und die Menschenrechte. Die Argumente der Verfassung haben im politischen Diskurs, welcher im Rahmen der moralischen Revolution geführt wird, eine außerordentlich schwache Überzeugungskraft. Die Attraktivität der Argumente des Gerichtsbeschlusses ist begrenzt auf die Wahrung der Verfassungsordnung. Der Richter ist auf seine Kommunikationsfunktion nicht nur durch die Sprache, sondern auch den geringen Zugang zur öffentlichen Meinung begrenzt. Außerdem ist der Richter sich seiner Rolle und der damit verbundenen Begrenzungen, welche der revolutionäre Politiker nicht hat, bewusst. Deshalb ist das öffentliche Vertrauen in die Gerichtsbeschlüsse, darunter auch die des Verfassungsgerichts, wichtig. Deshalb ist es für die moralischen Revolutionäre von so großer Bedeutung, das Vertrauen in die Rechtsausübung anzuzweifeln. Der Richter braucht das Vertrauen der Gesellschaft, denn darauf basiert im Grunde die Funktion der Rechtsausübung. Daraus bestehen die Demokratie und der Rechtsstaat. Der Rest kann nur der Schein einer Verfassungsordnung sein. Die Geschichte kennt solche Beispiele. Wenn die anderen Mechanismen versagen, sollte deshalb die europäische Öffentlichkeit die entscheidende Rolle spielen.

Schlusswort Rudolf Fisch Bei Tagungen des Forschungsinstituts wie der heutigen zu Ehren von Herrn Kollegen Dr. Dr. Merten geht es natürlich um neues Wissen, um neue Erkenntnisse oder neue Einsichten. Ja! Doch es geht um mehr. Es geht auch darum, Abstand zu gewinnen vom täglichen Klein-Klein, und um einen erweiterten Überblick zu gewinnen, um die Modifikation vorhandener orientierender Bezugssysteme, in die man sein immer wieder zu aktualisierendes Denken, Fühlen und Tun einordnen kann. Im besten Fall erfolgt das unter ganzheitlichen Gesichtspunkten. Insofern sind die Abschiedkolloquien des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung eine gute Gelegenheit, den Geist zu beflügeln und überdies interessante Kollegen zusammenzuführen und befruchtende wissenschaftliche Dialoge zu führen. Im wechselseitigen Austausch gewinnt man neue Perspektiven und neue Einsichten und vielleicht auch Hinweise für erfolgreiches Handeln. Es wird nicht ausbleiben, dass unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen: Dies wird dann zu hilfreichen Schlüssen führen, wenn die Gesprächspartner bereit sind, in Offenheit und Wahrheitssuche den anderen zu respektieren. Dies ist ein besonderes Merkmal wissenschaftlich geprägter Diskurse, anders als bei politisch geprägten Kampfdiskussionen. In Zeiten wie diesen, in denen wieder Erschütterungen durchs Land, durch die Welt gehen, bewegen die gesellschaftlichen Verhältnisse wie auch das Agieren von Politik und Verwaltung unsere Gemüter. Was wir benötigen, ist Klarheit in fundamentalen ethischen Fragen, zum Beispiel ethisch vertretbares Verwaltungshandeln zum Beispiel in Fragen der Gefahrenabwehr und inneren Sicherheit oder im Bereich der staatlichen Daseinsfürsorge. Für verantwortliches Führen und Handeln in diesem Sinne genügen natürlich Tagungen, Symposien und Kongresse allein nicht. Nur durch offene Begegnungen zwischen Personen gleichen Rangs und ähnlicher Gesinnung, und dies in relativer Muße wird sich etwas Bedeutendes bewegen lassen. Veranstaltungen wie diese sind eine wunderbare Gelegenheit dazu. Nutzen wir weiterhin die Gelegenheit für Gespräche am Rande, für unerwartete Begegnungen, heute Abend, wenn wir noch beisammen sind. Und ich hoffe, dass die neuen oder die alten, heute bestätigten Vorstellungen und handlungsleitenden Gedanken fortan in Ihre tägliche, verantwortliche Arbeit Eingang finden werden.

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Lieber Herr Kollege Merten: Meine Laudatio auf Sie habe ich anlässlich Ihrer eindrucksvollen Abschiedsvorlesung im vergangenen Sommersemester gehalten. Ich will mich nicht wiederholen. Gern aber erwähne ich für diejenigen, die seinerzeit nicht dabei sein konnten: Für alle Kollegen waren und sind Sie ein allzeit hoch geschätzter Kollege, fachlich wie menschlich. Sie waren in manchen Bereichen der Hochschularbeit stilprägend; das habe ich immer sehr geschätzt, auch in der Zeit vor meinem Rektorat. Vor allem in Stilfragen und ethischen Fragen habe ich immer gern Ihren Rat eingeholt und von Ihnen erhalten. Sie sind ein kluger Stratege und geschickter Taktiker in jeder Beziehung. Besonders schätzte ich diese Begabung bei internen Auseinandersetzungen, die bekanntlich unter Wissenschaftlern mitunter recht hart ausgefochten werden. Ich habe Sie, lieber Herr Kollege Merten, bei aller Härte der Argumentation nie als verletzend erlebt, auch dann nicht, wenn Sie Anlass dazu gehabt hätten – im Sinne der Reziprozität sozialen Handelns. Sie blieben immer der beherrschte Gentleman. Doch, Sie waren kritisch und hatten – und haben heute immer noch – stets einen provokanten Kommentar auf den Lippen – quasi im Vorrat. Und der kommt immer so prompt! Da habe ich stets gern gelauscht; denn Sie sind ein Seismograph für Stimmungen, sei es bezüglich der Vorgänge in der großen Welt, sei es in unserem Mikrokosmos der DHV Speyer. Das alles, lieber Herr Merten, würden wir sehr vermissen, wenn Sie nicht regelmäßig von St. Martin nach Speyer kämen. Ich hoffe, die Umstände erlauben es, dass wir Sie noch viel hier unter uns haben. Und ich sage Ihnen nochmals, nun von dieser Stelle, herzlichen und aufrichtigen Dank für alles, was Sie für die Wissenschaft und für unsere Hochschule getan haben. In diesen Dank schließ ich gern Ihre Frau Gemahlin ein. Sie hat viel dazu beigetragen, dass Sie zusammen so weit gekommen sind, und dass Sie als fachlich ausgewiesenes Paar Wertschätzung erlangt haben, zum Nutzen und Reputationsgewinn für die Wissenschaft und nicht zuletzt für unsere Institution. Danke! Danke auch den beiden Organisatoren der Tagung, den Herren Kollegen Magiera und Sommermann, für die fachliche Vorbereitung und die wissenschaftliche Leitung. Danke allen Referenten und Diskutanten des heutigen Tages. Ich bin in Anbetracht der hochkarätigen Referenten sicher, er wird noch lange nachhallen. Danke schließlich dem Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung für die Ausrichtung der Tagung. Behalten Sie uns und die Tagung in guter Erinnerung. Lassen Sie sich wieder einmal einladen nach Speyer, an unser Kleinod in der vielfältigen Wissenschaftslandschaft Deutschlands.

Worte des Dankes Detlef Merten Meine Damen und Herren, zunächst darf ich meinen beiden Kollegen, Herrn Magiera und Herrn Sommermann, sehr herzlich dafür danken, dass sie die Mühe dieser Veranstaltung auf sich genommen haben. Ich darf dann natürlich auch den hochrangigen Referenten mit – was nicht anders zu erwarten war – hochkarätigen Referaten meinen besten Dank dafür sagen, dass sie doch von teilweise sehr weit her zu uns nach Speyer gekommen sind. Auf irgendeiner Tagung hat irgendein Kollege das Programm des heutigen Tages gesehen und nicht nur die Exzellenz der Referenten bewundert, sondern auch das Problem der Finanzierung erwähnt. Ich habe – hoffentlich wahrheitsgemäß – geantwortet, die Frage sei wohl nicht angesprochen worden. Ich habe mich sehr gefreut, dass neben so vielen Kollegen aus der Hochschule Wissenschaftler gekommen sind, mit denen ich zusammen hier gelehrt habe, Herr Kollege Schiwy, Herr Kollege Oschatz. Ich bin ferner sehr froh, dass Wissenschaftler, mit denen ich zusammengearbeitet habe, wie Frau Montoro, collega et amica, und Herr Kirchhof an der Tagung mitwirken und dass auch meine ehemaligen Assistenten bis hin zu den jetzigen Mitarbeitern sowie Referenten aus dem Deidesheimer Kreis anwesend sind und zum Gelingen des heutigen Tages beigetragen haben. Es tut mir nur leid, dass meine Frau nicht all das Schöne, was über mich gesagt wurde, hören konnte. Ich hätte dann einen wesentlich besseren Stand. Es wurde über drei große Gebiete gesprochen, denen ich Publikationen gewidmet habe, wobei sicherlich der Rechtsstaat am Anfang steht. Ich verstehe zwar den Rechtsstaat als formellen Rechtsstaat, bin aber insbesondere, was die Absage an den Verwaltungsstaat angeht, von den Vertretern der materiellen Rechtsstaatstheorie nicht weit entfernt. Die Formel „Das Beste in der Welt ist ein Befehl“ wurde heute schon zitiert. Sie wird zwar immer Carl Schmitt zugeschrieben, wurde aber in Wahrheit von dem Dichter Hermann Burte in seinem Schauspiel „Katte“ erstmals verwandt. Ich bin darauf bei meinen Arbeiten über den „Katte-Prozeß“ gestoßen. Bei einem hochinteressanten Gespräch in Plettenberg habe ich Carl Schmitt darauf angesprochen. Er erwiderte sinngemäß: Das stimmt schon, ich habe das von Burte, aber wissen Sie, in meiner Generation war man so gebildet, dass jeder wusste, dass es ein Fremdzitat war.

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Der Rechtsstaat hat die Epoche des Verwaltens, das ad-hoc-Entscheiden, durch feste Regeln, durch die Bindung an Normen und natürlich auch durch den gerichtlichen Schutz abgelöst. Ich habe immer die Worte von Kleist gerne zitiert: „Verstoßen . . . nenne ich den, dem der Schutz der Gesetze versagt ist! Denn dieses Schutzes, zum Gedeihen meines friedlichen Gewerbes, bedarf ich; ja, er ist es, dessenhalb ich mich, mit dem Kreis dessen, was ich erworben, in diese Gemeinschaft flüchte“. Michael Kohlhaas war immer eine Figur, die ich insbesondere in meiner Jugend wegen seines unbedingten Einsatzes für die Rechtlichkeit als sehr sympathisch empfunden habe. Meine Frau hat dann verhindert, dass ich ihm allzu weit nachgeeifert habe. Im 19. Jahrhundert hat dieser Schutz im Rechtsstaat mitunter biedermeierliche Züge angenommen. Der ehemalige Bundespräsident Heinemann hat einmal darauf hingewiesen, dass bei dem Besuch eines Landesherrn ein Schneidermeister eine Tafel anbrachte, auf der stand: „Unter Deinen Flügeln kann ich ruhig bügeln“. Zu der These, dass der Rechtsstaat auch Gerechtigkeit verbürge, kann ich mich nicht bekennen. Das ist für mich eine Formel, die nicht handhabbar ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz nur deshalb aufhebt, weil es gegen die „Gerechtigkeit“ verstößt. Wir haben Subprinzipien (Gleichheit, Verhältnismäßigkeit, Vertrauensschutz), an denen man Gerechtigkeit festmachen kann. Dieses große Wort „Gerechtigkeit“ gibt mir zu wenig, und deshalb meine ich, dass man auch mit dem formellen Rechtstaat, wenn man ihn richtig interpretiert, weiterkommt. Das nächste große Thema: Die Grundrechte, die Freiheit und ihre Durchsetzung, haben die Veranstalter sehr sinnvoll formuliert: Die Durchsetzung der Grundrechte. Wer gestern Abend nicht mit der Vorbereitung seines Referates beschäftigt war, konnte ein Interview mit dem chinesischen Ministerpräsidenten sehen, der, auf die Menschenrechte angesprochen, sagte, dass sei gar kein Problem, denn die Menschenrechte seien ja in der chinesischen Verfassung geschützt. Das ist diese Art von semantischen Grundrechten, die wir auch aus der DDR kannten. Darauf habe ich einmal einen ehemaligen DDR-Kollegen angesprochen, der mir sagte, das haben wir doch nur für die westdeutschen Linksintellektuellen hineingeschrieben. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass der zweite Teil des Tages sich eindringlich mit den Fragen der Durchsetzung beschäftigt hat, wobei man sicherlich nicht so weit gehen darf, dass man ausnahmslos eine gerichtliche Durchsetzung verlangt. Es gibt auch andere Formen, aber in irgendeiner Weise müssen Grundrechte durchsetzbar sein, wenn man sie als solche anerkennen will. Reine Proklamationen, mit denen wir uns vielleicht früher begnügt haben, reichen nicht aus, und das gilt insbesondere auch für die sozialen Grundrechte, die ein großes Problem darstellen. Ich freue mich, dass wir dann auch im letzten Teil des Tages so anschauliche Beispiele von anderen Gerichtshöfen, insbesondere den Bericht über Sarajewo

Worte des Dankes

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gehört haben, den ich außerordentlich aufschlussreich fand. Mit den Grundrechten schließt sich der Kreis, und das Thema der heutigen Veranstaltung wurde vielleicht auch in Anlehnung an den Titel des von Herrn Präsidenten Papier und mir herausgegebenen Handbuchs der Grundrechte in Deutschland und Europa gewählt. Dass wir so viele Teilnehmer auch aus benachbarten befreundeten Staaten bei diesem Kolloquium begrüßen durften, hat mich sehr gefreut.

Verzeichnis der Teilnehmer Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Rainer Arnold, Universität Regensburg Priv.-Doz. Dr. Albrecht Bettermann, Hamburg Prof. Dr. Carl Böhret, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Christian Calliess, Universität Göttingen Anca Coman, Ass. iur., wiss. Mitarbeiterin, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Dieter Duwendag, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Rudolf Fisch, Rektor der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Stefan Fisch, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Ricardo García Macho, Universität Jaume I, Castellón Prof. Dr. Constance Grewe, Universität Straßburg Prof. Dr. Evelyn Haas, Richterin des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, Universität Tübingen Prof. Dr. Hans Hugo Klein, Universität Göttingen, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D. Prof. Dr. Andreas Knorr, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Priv.-Doz. Dr. Christian Koch, Rechtsanwalt, Forschungsreferent, Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer Prof. Dr. Dr. Klaus König, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Karl Korinek, Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Wien Clemens Kurzidem, Regierungsrat, wiss. Mitarbeiter, Bundesverfassungsgericht, Karlsruhe Prof. Dr. Siegfried Magiera, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Dr. Detlef Merten, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Karl-Friedrich Meyer, Präsident des Oberverwaltungsgerichts RheinlandPfalz und des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz, Koblenz

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Verzeichnis der Teilnehmer

Prof. Dr. María Jesús Montoro Chiner, Universität Barcelona, Korrespondierendes Mitglied, Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer Prof. Dr. Dr. h.c. Rudolf Morsey, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Priv.-Doz. Dr. Stefan Mückl, Universität Freiburg Prof. Dr. Jörg Paul Müller, Universität Bern Prof. Dr. Matthias Niedobitek, Technische Universität Chemnitz Prof. Georg-Berndt Oschatz, Direktor des Bundesrates a.D., Minister a.D., KasbachOhlenberg Prof. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe Prof. Dr. Rainer Pitschas, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Dr. Horst Risse, Ministerialdirigent, Bundesrat, Berlin Prof. Dr. Walter Rudolf, Universität Mainz, Landesbeauftragter für den Datenschutz Rheinland-Pfalz, Mainz Prof. Dr. Heinz Schäffer, Universität Salzburg, Ersatzmitglied des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, Präsident der österreichischen Gesellschaft für Gesetzgebungslehre, Ordentliches Mitglied, Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer Dr. Stephanie Schiedermair, Wiss. Mitarbeiterin, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Peter Schiwy, Rechtsanwalt, Intendant a.D., Berlin Prof. Dr. Kirsten Schmalenbach, Universität Graz Dr. Wito Schwanengel, Wiss. Assistent, Universität Erfurt Dr. Margit Seckelmann, M.A., Geschäftsführerin des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung Speyer Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Siedentopf, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Vassilios Skouris, Präsident des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg Prof. Dr. Karl-Peter Sommermann, Prorektor der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, stellvertr. Direktor des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung Speyer Wolfgang Steppling, Vizepräsident des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz und ständiger Vertreter des Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz, Koblenz Dr. Helga Stern, Rechtsanwältin, Kürten Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Klaus Stern, Universität zu Köln Prof. Dr. Jürgen Strube, Vorsitzender des Aufsichtsrats der BASF, Ludwigshafen

Verzeichnis der Teilnehmer

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Prof. Dr. Dr. h.c. Daniel Thürer, Universität Zürich Prof. Dr. Hellmut Wagner, Rechtsanwalt, Geschäftsführender Vorstand, Zentrum für Wissenschaftsmanagement Speyer, Karlsruhe Dr. Stefan Werres, Mag. rer. publ., Regierungsrat, stellvertr. Referatsleiter, Bundesamt für Zentrale Dienste, Bonn Prof. Dr. Mirosław Wyrzykowski, Universität Warschau, Richter am Verfassungsgerichtshof, Warschau Prof. Dr. Jan Ziekow, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, 1 Direktor des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung Speyer