Jugend! [Reprint 2021 ed.] 9783112462928, 9783112462911

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Jugend! [Reprint 2021 ed.]
 9783112462928, 9783112462911

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A. Marcus & (S. Webers Verlag (Dr. jur. Albert Ahn) in Bonn

Die Frau als Kamerad Grundsätzliches zum Problem des Geschlechtes Von

Dr. Paul Kusche Zweite unveränderte Auflage.

1920.

Preis einschl. TeuerungSzuschl. M. 7,30 Jede große weltgeschichtliche Erschütterung verursacht in der Entwicklung der Menschengemeinschaft einen deutlichen Einschnitt. In der Frauenfrage kann man geradezu von einem Wendepunkte sprechen, den der Welt­ krieg gebracht hat. Zwar war das Frauenstimmrecht schon vor dem Kriege in Dänemark, Finnland und einigen Staaten der Nordamerikanischen Union eingesührt. Diese Erfolge erscheinen dem für die staatsbürgerliche Freiheit der Frau Eintretenden aber mehr als Dorpostengewinne gegenüber den während des Krieges erfochtenen Siegen, durch welche in England, in allen Staaten der Union und in Rußland die politische Gleichberechtigung der Frau in radikaler oder doch annähernd vollgülttger Form gesetzlich durchgeführt oder, wie in Ungarn, aussichtsvoll angeschnitten wurde. Mittlerweile hat die Revolution in Deutschland das Frauenwahlrecht verfügt. Trotzdem halt der Verfasser eine scharfe Krittk an der Rückständiglett weiter Kreise des deutschen Volkes hin­ sichtlich der Gleichberechtigung der Frau gegenüber anderen Ländern (England, Dänemark, U. S. Amerika usf.) für gerechtfertigt. Diese Schrift soll das Problem des Geschlechts vom Grundsätzlichen aus erfassen und über parteipolitische und sonstige Augenblickserwägungen hinaus die Frage nach der Stellung der Ge­ schlechter auf Grund der neuen biologischen Einsichten behandeln und nach diesen Ergebnissen die sachlichen Folgerungen und Forderungen ziehen. Aus dieser Erfassung der Frage wird, in manchen Puntten abweichend von den bisherigen, nach bestimmten Parteigesichtspuntten, wirtschaftlichen Rücksichten und Geschmacks­ einseitigkeiten getroffenen Entscheidungen, mtt unabweisbarem Zwange eine sehr radikale Auffassung entwickelt. Sie gipfelt in der Erkenntnis, daß nach den biologischen Tatsachen die ganze Grundlage unseres Verhältnisses von Mann und Weib verfehlt ist und deshalb eine schrittweise und behutsame Fortentwicklung des Frauenproblems auf dem bisherigen Wege, den völlig unwissenschaftliche Jrrmeinungen begründet haben, schlechterdings unmöglich ist. Eine durchgreifende Umwälzung, eine völlig bis in die Grundlagen sich erstreckende Neugeburt einer Mann und Weib in ihren Werten ganz umfassenden Richtung hat stattzusinden, und hierbei hat als Ziel für kommende Tage an erster Stelle das Problem zu stehen: Die Frau als Kamerad.

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Jugend!

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Von Paul Krische

„Wir find jung, und daS ist schön 1“

Goethe II

Bonn 1921 A. Marcus & E. Webers Verlag

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Nachdruck verboten.

Alle Rechte, besonder- da- der Übersetzung in fremde Sprachen, behält sich der Verlag vor.

Copyright 1921 by A. Marcus & E. Webers Verlag in Bonn.

Inhaltsübersicht Einleitung.........................................

Seite 5

Zur Lebenskunde (Biologie) der Jugend in der Natur................................. 9 Die Kennzeichen unserer Jugendlichen............................................................... 12 Der Anteil der Jugend am Entwicklungsgänge der Menschheit ...

16

Iugendleistungen bedeutender Menschen......................................................... 29

Jugend und Kindheit..............................................................................................66 Jugend und Alter.................................................................................................. 73

Jüngling und Jungfrau

.

.

............................................................................ 102

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Einleitung.

* ^Deutlich ist zu beobachten, daß, beschleunigt durch die Erlebmsse der schweren Kriegsjahre, die einsichtigen und schaffensstarken Köpfe sich lebhafter als je vorher den Fragen der lebendigen Entfaltung aller schöpferischen Kräfte der Menschen zuwenden, und das scheint mir der verheißungsvollste Lichtstrahl in den trostlos dunklen Noten unserer Zeit. Es muß ein Ende nehmen mit dem gedankenlosen Raubbau, den wir uns als notfremde Luxusmenschen noch überall ge­ leistet haben, und der entscheidende Kampf der Geister in den kommenden Tagen gilt in erster Linie der Beseitigung aller Dinge, die der tätigen Menschenart Hemmnisse schaffen. Darum wird auch mehr als jemals vorher das Jugend­ problem, im Rahmen dieser allgemeinen Förderung und Ent­ faltung aller schöpferischen Werte, die Öffentlichkeit beschäf­ tigen. Bon jeher leidet die Iugendfrage vor allem an dem allgemeinen Vorurteil, daß der jugendliche Mensch ein Un­ fertiger und zum Schaffen bleibender Werte Unfähiger sei. Die vorliegende Arbeit soll in erster Linie den bisher leider immer noch übersehenen Nachweis führen, in welch erheb­ lichem Grade die Jugend die Gebärerin des Neuen in der Menschheit ist. Dieser Nachweis wird in einer Darstellung des Anteils der Jugend am Entwicklungsgänge der Menschheit und in einer Übersicht der Iugendleistungen einzelner bedeutender Menschen erbracht werden und die Grundlage für die For­ derungen ergeben, welche im Sinne einer fruchtbaren Aus­ nutzung der jugendlichen Kräfte zu stellen sind. Früher sind immer nur einzelne, — geniale, tatkräftige Jugendliche zum Schaffen gekommen. Nach Jahrtausenden einer solchen Lage, bei der nur der über seine Umgebung Siegende sich durchringt, sind, nachdem , die hoffnungsvollen Ansätze der deutschen Burschenschaft vor hundert Jahren

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kläglich versickerten, wiederum, und, genau betrachtet, zum erstenmal in Deutschland wirklich das Volk betreffende erste Anzeichen vorhanden, daß auch dieses Problem sich der gesell­ schaftlichen Behandlung zu nähern beginnt: Wir stehen im Beginn von Jugendbewegungen, welche das, was auserlesene Kraftnaturen sich bisher ertrotzten, für die gesamte Ju­ gend erobern wollten. Sie wollen sich Ellbogenfreiheit ertrotzen, und mit ihnen ist nicht.angenehm zu kämpfen. Sie geben neuen Jugend­ bewegungen ihr Gepräge, und jede Art von Gängelband seitens des Alters, der Behörden, irgendwelcher Autorität wird von ihnen abgelehnt. Mit ihnen hat bereits die Jugendbewegung sofort ein anderes Gesicht erhalten und ist über Nacht aus einem wenig beachteten Keimpflänzchen eine von der Öffentlichkeit sehr be­ achtete Bewegung radikaler Richtung geworden. Diese radikale Grundstimmung ist das gemeinsam Kennzeichnende für jede Art heutiger echter Jugendbewegung von der katholischen und deutsch-nationalen bis zur kommunistischen. Denn die Jugend­ zeit ist immer die Zeit des entschiedenen, unbedingten (radi­ kalen) und revolutionären Menschen. Für alle, die sich mit dem Problem einer freien Jugend­ bewegung beschäftigen wollen, — für die Jugend selbst, die sich helläugig zum Kampfe rüstet, für die Alten, die ihnen redlich, ohne Eigennutz, im Nachklingen eigener Iugendstimmen und im Gedächtnis an eigene Iugendbedrängnisse helfen wollen, — auch für die, welche grundsätzlich gegen die Freiheit der Jugend sind, möchte ich mit den folgenden Ausführungen etwas zum Nachdenken und Prüfen geben. Denjenigen aber, welche, wie ich, so voll innerer Gewißheit sind, daß endlich einmal die Zeit des Raubbaus an der strotzenden Iugendkraft ein Ende nehmen und eine neue Zeit pfleglicher, aufmunternder, freimachender, verantwortungermöglichender Iugendbehandlung einsehen muß, denjenigen, welche selbst sich stark genug fühlen, zum Vortrupp der die eigene Welt sich aufbauenden Jugend zu eilen und mit in erster Reihe zu kämpfen, denen möge das Buch zum Geleit dienen. Wieder muß eine Zeit kommen, in der Iugendstimmen aus all der Not ihrer Seele und dem Drang zum eigenen Schaffen rufen: „Und wenn die Welt voll Teufel wär'!“



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Wieder muß vorgeschritten tverden mit der sieghaften Inbrunst dessen, der die Zukunft für sich weiß. Die große Zeit der IugendrevolutioN schickt ihre Strahlen voraus: Für sie soll dies Buch werben, für sie den erwerbenden Ruf erklingen lassen: Jugend heraus!

Zur Lebenskunöe (Biologie) der Jugend z in der Natur. I «in Werk über die Lebenskunde (Biologie) der Jugend in der xy Natur allgemein, besonders beim Wirbelti« und Menschen, besitzen wir nicht. Es ist hier nicht meine Aufgabe, diese leider noch fehlende Arbeit zu liefern, ich kann nur einige für die hier zu erörternden Fragen wesentliche Punkte herausgreifen und kurz berühren. Vor allem möchte ich darauf Hinweisen, daß nach den bis­ herigen Beobachtungen die Aufnahme- und Verarbeitungs­ fähigkeit der Gehirnzellen ihren Höhepunkt mit dem Einsetzen der geschlechtlichen Reifung, also mit der Jugend, erhält. Nach den neuen Forschungen sind es „Hormone" genannte Drüsen­ ausscheidungen bestimmter chemischer Eigenart, welche auf die körperlichen und geistigen Vorgänge des tierischen und mensch­ lichen Lebens einen außerordentlich starken Einfluß ausüben. Dazu gehören vor allem die Geschlechtsdrüsen, die, wie seit langem bekannt, bei ihrer Reifung den gesamten Zustand in einer tief erschütternden Umwälzung ändern und im raschen Entwicklungsgänge das kindliche Dasein in den jeweiligen körperlichen und seelischen Zustand des erwachsenen, reifen Vertreters des betreffenden Lebewesens überführen. Infolge­ dessen pflegt der Mensch seit Jahrtausenden, solange er über­ haupt seßhaft ist, Ackerbau treibt und sich hierzu des Bei­ standes von Haustieren bedient, Tiere, von denen er für seine Zwecke besondere Leistungen verlangt, im jugendlichen Alter abzurichten (zu dressieren). Sowohl im Kindheitsalter wie in den späteren, Vollreifen Jahren sind die Tiere nicht derartig geeignet zur Abrichtung, int ersteren Fall, weil die einfachste Zusammenarbeit der Gehirnzellen auf äußere Sinneseindrücke und deren Verarbeitung noch nicht genügend sicher arbeitet, im letzten Falle, weil die Aufnahmefähigkeit des Gehirnes für neue Eindrücke nicht mehr so geschmeidig ist wie im jugeud-

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lichen Mter. So hat der Mensch bald herausbekommen, daß er sich zu seinem Hausdienst geeignete Tiere nur dann für seine Zwecke erziehen kann, wenn er sie im Alter der einsehenden Geschlechtlichkeit, also als jugendliche, abrichtet. Ebenso pflegt man darum von jeher bei allen Haustieren zu verfahren, von denen man hohe Leistungen verlangt. Das­ selbe gilt von denjenigen, welche sich bemühen, Tiere zu be­ sonders erstaunlichen Kunstfertigkeiten und Beweisen außergewöhnlichcr Klugheit und Anstelligkeit abzurichten. Von jeher wird darum die Tierdressur mit jungen Tieren vorgenommen. Auch beim Menschen bedeutet die Jugend, die Zeit der geschlechtlichen Reifung, zugleich die Zeit der höchsten Auf­ nahme- und Entwicklungsfähigkeit seiner Gehirnzellen. So bewundernswürdig auch schon die Gehirntätigkeit eines wach­ senden Kindes ist, so sind doch die Möglichkeiten der Gehirn­ arbeit noch begrenzt, und namentlich ist die Formung allge­ meiner (abstrakter) Dinge noch ausgeschlossen. Die Seele be­ schäftigt sich noch in einem kleinen Vorgärtchen des Lebens mit den nahen Dingen. Erst mit der Jugend wird der Vorhang vor dem Ausblick ins eigentliche Leben fortgerissen, und nun strömen in flutender Fülle die neuen Bilder ein, deren Ver­ arbeitung das Gehirn mit einer erstaunlichen Emsigkeit voll­ zieht. Auch beim Menschen ist dieser Vorzug des jugendlichen Gehirns vor dem des älteren Menschen bekannt, und man verlegt daher von jeher die Hauptlernzeit des Menschen, na­ mentlich die gesteigerten Ansprüche an die Aufnahmefähigkeit, wie sie die höhere Fortbildung, die fortgeschrittene, geistige, künstlerische und technisch-praktische Schulung verlangt, in die Iugendjahre. Dabei ist man der Ansicht, daß es sich lediglich nur um eine höhere Aufnahmefähigkeit handelt, daß sich das bessere Vermögen der Verarbeitung dieser Eindrücke und der Herstellung neuer Verknüpfungen der verschiedenen Eindrucks­ elemente erst im späteren Alter vollziehe. Diese rein mecha­ nistische Vorstellung, die sich die Eindrücke der lernenden Jugend wie in einem Warenhaus aufgestapelt denkt, pflegt sich gerade dabei auf ähnliche Beobachtungen bei der Tierdressur zu stützen. Nun fehlt es bei dem großen Mangel von zuverlässigen und wissenschaftlich brauchbaren Beobachtungen über die Tier­ seele leider an dem notwendigen Tatsachenstoff, der darüber entscheiden kann, ob bei der Dressur der jugendlichen Tiere

11 nicht zugleich eine Verarbeitung der aufgenommenen Dinge und zugleich Zeichen eigenen Neuformens wahrzunehmen sind und stärker zur Jugendzeit auftreten im reiferen Alter. Dagegen wissen wir ganz genau, daß beim. Menschen die mechanische Auffassung, die lediglich der Jugend eine schnellere und bessere Aufnahmefähigkeit zuspricht, dem reiferen Alter dagegen die ausgesprochenere Fähigkeit der Verarbeitung und Neuschaffung, entschieden verkehrt ist. Den Beweis kann jeder an sich selbst führen, wenn er seine geistige Entwicklung in Tagebuchform verfolgt hat oder auf einigermaßen zuverlässige Erinnerungen der Jugendzeit sich stützen kann. Je tatkräftiger und begabter jemand ist, desto mehr wird er feststellen können, daß gerade an der Schöpfung neuer Dinge, dem Planen besserer Zustände, ehrgeiziger Zukunftsbilder die Jugend in höherem Maße als spätere Jahre beteiligt sind, so daß der Jugend geradezu etwas Neuerungssüchtiges im Vergleich zum reifen und späten Alter anhaftet. Das kommt eben daher, daß die Sturmflut der einströmenden neuen Ein­ drücke nicht bewegungs- und arbeitslosem Gehirn aufgestapelt liegt und erst auf den organisierenden Griff des reifen Men­ schen zu warten hat. Noch Mehr als der Einzelne, bei dem die Selbsterkenntnis und die Zuverlässigkeit der Tagebuchbemerkungen meistens recht mäßig entwickelt ist, liefert die Kulturgeschichte den Be­ weis von der neuschöpferischen Kraft der Jugend. Im übernächsten Abschnitt werde ich das nachweisen, indem ich eine Zusammenstellung von Iugendleistungen aus der Kulturgeschichte gebe und an zahlreichen Beispielen zeige, wie sehr bei bedeutenden, schaffensstarken Menschen die Jugend­ zeit bestimmend und maßgebend für ihr ganzes Lebenswerk war, so daß die Taten des reifen Alters geradezu als eine Aus­ führung von Plänen und Gedanken erscheinen, die in der quellenden, ungestümen Jugend geboren wurden, — so daß im Vergleiche die Jugend geradezu als das Ursprüngliche, Schöpferische» das reife Alter als das lediglich Ausführende und praktisch Durchsetzende erscheint. Es ist ja biologisch ganz naheliegend, daß durch das plötz­ liche Einströmen neuer, mit einem Mal verstandener oder ahnend erfaßter Vorstellungen im Gehirn des Jugendlichen, das im wirbelnden Aberschwang der Dinge ordnet und wertet, jene

12 / besonders, günstige Vorbedingung für die Erfassung neuer Formen entsteht, die keine Lebenszeit später wieder erreichen kann, denn niemals nachher ist der Zustrom neuer Bilder wieder so überwältigend groß. Wie im warmen Frühling die Blüten üppig sich entfalten, so findet in der Jugend ein bild­ reiches, am eigenen Können sich entzückendes Aufblühen neuer Dinge statt. Darum ist in erster Lii^ie die Jugend eines jeden Menschen, wie die der Kulturgeschichte, der Menschheit, die Gebärerin der neuen Dinge, die freilich nicht immer gleich ziel­ bewußt durchgearbeitet und bis auf die letzten Folgerungen erkannt, vielmehr nur als Keim ahnend aufgebaut werden. Das spätere Alter pflegt mit seiner, wenn es gut ausgenützt wird, folgestrengen Durchführung bestimmter Pläne und Ge­ danken, auf einem Keimling aufzubauen» den die Jugend zum Leben brachte. Von dieser neuen, in erster Linie biologisch be­ gründeten Auffassung der Jugend mit ihren vielseitigen Folge­ rungen soll in dieser Arbeit die Rede sein.

Die Kennzeichen unserer Jugendlichen. Ich Muß hier noch näher auf die Lage der Jugend eingehen und den Einfluß, den diese Lage auf das jugendliche Denken ausübt, berühren. Man liebt es allgemein, als Hauptkennzeichen der Jugend die Unfertigkeit, die Unreife zu betonen und sie gegenüber dem klaren, köstlichen, fertigen Wein des reifen Alters mit dem gärenden Most zu vergleichen. Solche eingeführten Begriffe und Bilder mögen noch so anfechtbar sein, — sie sind einmal in millionenfacher Weise in Büchern, Sprüchen und Er­ ziehungsgrundsätzen verbreitet und Allgemeingut der Masse geworden, und darum schwer zu entthronen, zumal, wenn sie durch allerlei beobachtete Tatsachen immer wieder bestätigt zu sein scheinen. Die Begriffe des Unfertigen und Gärenden sind insoweit berechtigt, als in der Tat in der Jugend jene Kraft, welche sie von der Kindheit trennt, welche ihnen erst volle Begriffe vom Lebensgetriebe gibt und sie erst die Vorgänge der Geschichte, die Triebkräfte der Gesellschaft gründlicher begreifen lehrt, in einem heftig bewegten Reifungsvorgang steht und während dieser Zeit dem Körper und der Seele etwas Unbeständiges, Unruhiges verleiht. Diese neue Kraft ist die zur Fort-

12 / besonders, günstige Vorbedingung für die Erfassung neuer Formen entsteht, die keine Lebenszeit später wieder erreichen kann, denn niemals nachher ist der Zustrom neuer Bilder wieder so überwältigend groß. Wie im warmen Frühling die Blüten üppig sich entfalten, so findet in der Jugend ein bild­ reiches, am eigenen Können sich entzückendes Aufblühen neuer Dinge statt. Darum ist in erster Lii^ie die Jugend eines jeden Menschen, wie die der Kulturgeschichte, der Menschheit, die Gebärerin der neuen Dinge, die freilich nicht immer gleich ziel­ bewußt durchgearbeitet und bis auf die letzten Folgerungen erkannt, vielmehr nur als Keim ahnend aufgebaut werden. Das spätere Alter pflegt mit seiner, wenn es gut ausgenützt wird, folgestrengen Durchführung bestimmter Pläne und Ge­ danken, auf einem Keimling aufzubauen» den die Jugend zum Leben brachte. Von dieser neuen, in erster Linie biologisch be­ gründeten Auffassung der Jugend mit ihren vielseitigen Folge­ rungen soll in dieser Arbeit die Rede sein.

Die Kennzeichen unserer Jugendlichen. Ich Muß hier noch näher auf die Lage der Jugend eingehen und den Einfluß, den diese Lage auf das jugendliche Denken ausübt, berühren. Man liebt es allgemein, als Hauptkennzeichen der Jugend die Unfertigkeit, die Unreife zu betonen und sie gegenüber dem klaren, köstlichen, fertigen Wein des reifen Alters mit dem gärenden Most zu vergleichen. Solche eingeführten Begriffe und Bilder mögen noch so anfechtbar sein, — sie sind einmal in millionenfacher Weise in Büchern, Sprüchen und Er­ ziehungsgrundsätzen verbreitet und Allgemeingut der Masse geworden, und darum schwer zu entthronen, zumal, wenn sie durch allerlei beobachtete Tatsachen immer wieder bestätigt zu sein scheinen. Die Begriffe des Unfertigen und Gärenden sind insoweit berechtigt, als in der Tat in der Jugend jene Kraft, welche sie von der Kindheit trennt, welche ihnen erst volle Begriffe vom Lebensgetriebe gibt und sie erst die Vorgänge der Geschichte, die Triebkräfte der Gesellschaft gründlicher begreifen lehrt, in einem heftig bewegten Reifungsvorgang steht und während dieser Zeit dem Körper und der Seele etwas Unbeständiges, Unruhiges verleiht. Diese neue Kraft ist die zur Fort-

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pflanznngsfähigkeit erhobene Geschlechtigkett. Aber nur dem Oberflächlichen kann diese Unruhe als das wesentlich Kenn­ zeichnende der Jugend gelten. Wie bei einem einzelnen Men­ schen kleine Schwächen und Eigenarten, etwa eine unvorteil­ hafte Vertretung seiner Gedanken und Werke, ganz nebensäch­ lich sind gegenüber der Hauptsache, ob er ein schaffender Mensch ist oder nicht, so sind auch diese nachteiligen Eigenschaften der Jugend, ihre Sprunghaftigkeit, Unausgeglichenheit, Gegen­ sätzlichkeit mehr Begleiterscheinungen einer körperlichen und seelischen Verfassung, die nicht den Kern treffen. Das Grund­ legende gibt allein die Frage: Schafft die Jugend überhaupt, und wenn nun einmal mit dem Alter durchaus verglichen werden soll, schafft sie gegenüber den Leistungen des Alters so Unbedeutendes und Unfertiges, daß die geringschätzige Einwertung der Jugend begründet ist? Die biologischen Ausführungen des letzten Abschnittes haben die Antwort bereits gegeben, und die kulturgeschichtliche Über­ sicht des nächsten Abschnittes wird sie noch bekräftigen: Jawohl, die Jugend hat immer etwas Hervorragendes geschaffen, hat einen maßgebenden Anteil am fortschrittlichen Entwicklungs­ gang der Menschheit und kann sich auf schwerwiegende Tat­ sachen stützen, wenn sie eine freiere Entfaltung ihrer Kräfte vertritt. Leider fehlt es bis jetzt an einer derarttgen kritisch-sachlichen Feststellung, denn die Jugend ist immer im Kampfe gegen das Alter, das Alter immer in einer Abwehrstellung gegen die neu anstürmende Jugend. Immer wieder ist man darum aus Selbsterhaltungstrieb, mag man selber als Jugendlicher noch so erbittert gegen das damalige Alter angestürmt haben, ge­ nötigt, die Waffen des Alters, die man früher schmähte, selbst anzuwenden, um sich zu behaupten. Wer auf dem Standpunkt steht, daß der Kampf um Liebe, Macht, Besitz das Wesentliche im Triebwerk der Einzelnen und der Gesellschaft ist, stellt damtt etwas Selbstverständliches und Endgültiges fest, das immer wiederkehren wird und durch den ewig gleichbleibenden Geist der Triebkräfte bedingt ist. Wer dagegen der Ansicht ist, daß mit dieser rein ichsüchtig triebgemäßen Erklärung der Lebensvorgänge diese nicht er­ schöpft sind, daß vielmehr noch anderweitige Triebe und Regun­ gen das Leben mitbestimmen, ist durch solche Auffassungen nicht befriedigt. Und in der Tat sehen wir ja, daß nach der

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französischen Aufklärungszeit dar der großen Revolution, welche unwiderleglich die durch Ichsucht getriebene tierische und mensch­ liche Maschine erkannt und gekennzeichnet zu haben vermeinte, noch viel neue und andersartige Denkarbeit über den Menschen und das Leben vollbracht wurde, und daß wir heute erkennen können, daß niemals wieder eine so banale und einseitige Auf­ fassung vom Menschen auf einen großen Kreis kritisch Forschen­ der Eindruck gewinnen wird. Unsere Verkennung der Jugend stammt aber lediglich aus diesem ichsüchtig bedingten Massengeist, der keine Frage anders als durch den augenblicklichen Anschein des eigenen Vorteils oder Nachteils beurteilen kann. Weil die Alten sich im Grunde mit der Gewißheit der einmal kommenden Niederlage gegen die Jugend zu verteidigen haben, greifen sie Zu den üblichen vergifteten Pfeilen, deren Wirkung es bisher immer fertigbrächte, daß zwar Einzelne der Jugendlichen sich durchsetzten» eine Jugendbewegung aber immer verhütet wurde. Die Erledigung des Iugendproblems ist solch einfache, auf die geschichtliche Abung fußende Kampfstellung natürlich nicht. Die Ursache der jugendlichen Gegnerschaft gegen das Alter steht in engstem Zusammenhang mit der schöpfe­ rischen Kraft der Jugend. Die Jugend soll, obwohl sie ihres eigenen schöpferischen Vermögens sich bewußt ist, etwas anerkennen, das ohne ihr Zutun Gestalt er­ hielt. Es ist der geheime Seelenzug aller Schöpferischen, daß sie nur das annehmen können, zu dem sie in irgendeiner Weise selber mit beigetragen haben. Fälschlich wird dieser Trieb der Schaffenden, der überhaupt erst die Möglichkeit des Neuschaffens gibt, als Selbstsucht und Eitelkeit ausgelegt. Der Schaffende kann seelisch nur Mitschwingen, wenn er selbst mit die Hand am Schwungseil hat. Daran liegt es auch, daß führende Menschen so schwer unter einen Hut zu bringen sind und jeder im letzten Grunde nur nach dem Widerhall der von ihm selbst abgestimmten neuen Töne in den Seelen der Men­ schen lauscht. Verstärkt wird die Gegnerschaft der schaffens­ willigen Jugend gegen das Alter auch dadurch, daß die Welt der Wirklichkeit zu den in Lehren, Gedanken, Dichtungen und religiösen Forderungen ausgesprochenen Zielen in schreiendem Widerspruch steht. Alle diese so oft mit Leidenschaft und Hin­ gabe geschilderten Ideale eines vollkommenen Menschentums

15 wecken gerade bei der Jugend mit ihrem natürlichen Hang zu Aberschwenglichkeiten ein begeistertes Echo. Daß von diesen Dingen so wenig Tatsache wurde, schreiben sie der Unfähigkeit des reifen Alters zu, und alle Hinweise auf Schwierigkeiten, Enttäuschungen, unangenehme Erfahrungen, welche das Alter vorbringt, scheinen ihnen nur dessen Unfähigkeit zu bekräftigen. Um so mehr, wenn wie so oft, der reife Mensch nichts Ge­ scheiteres vorzubringen hat als jenen verlegenen Hinweis: „Wenn du erst einmal so alt bist wie ich, wirst du schon einsehen, daß solche Ideale unerreichbar sind." Ein Mangel an täuschenden und entmutigenden Erfahrun­ gen ist natürlich bestimmend dafür, daß die Jugend ihre Lebens­ ziele unbedenklich sehr weit steckt und eine völlige Umwälzung der fehlerhaften Verhältnisse durch ihre frisch einsetzende Kraft erwartet. Doch die Zielweite der umstürzlerischen Jugend wird nicht allein aus diesem naheliegenden und meistens ausschließ­ lich vom Alter mit dem herablassenden Tone des Besserwissens vertretenen Grunde veranlaßt. Die durch den geschlechtlichen Reifungsprozeß dem Körper wie dem Geist übertragene Un­ ruhe, die eine lebhaftere Schwingungsart aller neu auftreten­ den Begriffe und Gedanken veranlaßt, hat gleichfalls ihren Anteil daran. Es ist, als würde ein schon mit innerer Unruhe vollgeladener Pendel plötzlich aus seiner Ruhelage geschleudert» so schwingt die jugendliche Seele in Aberschwenglichkeit durch tiefste Niedergeschlagenheit zu neuer Höhenluft. Himmelhoch­ jauchzend — zu Tode betrübt, bis zur letzten Faser des Denkens mit Begeisterung erfüllt und wieder in völliger Zerschlagenheit bis zur knirschenden Selbstvernichtung an sich und der Welt verzweifelnd, so schwingt der Lebenszeiger des regen Jugend­ lichen in raschen und erschütternden Bewegungen. Es sind gestaltenreiche Ahnungen, die mit dem neuen Wissen zugleich geboren werden und scharfsinniger, wie spätere Erfahrungen, Leid und Freude des strebenden Menschen vorausfühlen lassen. Wie sie sofort jubelnd erkennen, welcher Gestaltenreichtum, welcher Höhenrausch und welches starke Aberwindertum in den Werken unserer Großen ruht, die sie sich mit Herz und Hirn zu eigen machen, so sehr empfinden sie zugleich, eintretend in das gewaltige Reich der ewigen Weltgeister höchsten mensch­ lichen Wissens, Willens ifitb Vorstellens, wie winzig ihr eigenes kleines Wissen und Erkennen noch ist, und sofort fühlt sich der eben noch sich erhaben dünkende Mitarbeiter der großen

16 Lebenskünder in den dunkelsten Abgrund des Unerreichbaren geschleudert. Und je mehr das menschliche Wissen zunimmt, best» mehr nehmen wir wahr, wie es die Unbedenklichkeit der Jugend lähmt und die tragischen Schatten unterstreicht. Dies alles wird mehr unbestimmt gefühlt, als Kar er­ kannt, ist mehr ein ängstliches Geheimnis, als eine eingestandene und der Besprechung zugängliche Tatsache. Empfindlich wie die Haut eines neugeborenen Kindes sind alle diese unge­ wohnten Erkenntnisse und Ahnungen des Jugendlichen. Ein geringstes Vermuten, daß man daran stößt, macht ihn ver­ legen, und diese tiefgehende Scham äußert sich wie jede selbst­ zerschneidende Einsicht in abweisender Art. Daher die Reiz­ barkeit und Unberechenbarkeit der frühjugendlichen Flegel- und Backfischjahre, in denen die Jugendlichen mit all diesen neuen Einsichten und Erlebnissen noch nicht fertig zu werden ver­ mögen, sich mimosenhaft zusamenziehen und in ihrer Unge­ schicklichkeit dabei grob und verletzend werden. Verstärkt wird diese Empfindlichkeit noch durch die uni­ freie Lage, in welcher sich wirtschaftlich, nach Gesetz und Sitte, die Jugendlichen befinden, so daß die Alten auch bei geschickter Ausnutzung itjrer Macht ihre liebe Not mit der „unbändigen Jugend" haben. Aus allen diesen oberflächlich beobachteten Erscheinungen hat sich von jeher das Alter die Berechttgung zugesprochen, den unfertigen und zu verantwortungsvollem Handeln unfähigen Jugendlichen nach eigenem Ermessen zu „erziehen" und zu einem Menschen seiner Art zu machen.

Der Anteil der Jugend am Entwicklungsgänge der Menschheit. Ehe ich den Entwicklungsgang der menschlichen Kultur­ geschichte auf Iugendleistungen hin durchforsche, möchte ich zwei grundsätzliche Betrachtungen voranstellen. Obwohl ich mir be­ wußt bin, daß für die Entwicklung der Kultur, wie für das jeweilige Kulturganze, sowohl die neuen Gedanken und Wege, wie die langsam und sicher reifende und sich eng mit den Dingen verschmelzende Ausarbeitung der verschiedenen Auf­ gaben von Wert sind, empfinde ich als radikal gerichteter Denker ein lebhafteres Mitschwingen bei den neuen Dingen,

16 Lebenskünder in den dunkelsten Abgrund des Unerreichbaren geschleudert. Und je mehr das menschliche Wissen zunimmt, best» mehr nehmen wir wahr, wie es die Unbedenklichkeit der Jugend lähmt und die tragischen Schatten unterstreicht. Dies alles wird mehr unbestimmt gefühlt, als Kar er­ kannt, ist mehr ein ängstliches Geheimnis, als eine eingestandene und der Besprechung zugängliche Tatsache. Empfindlich wie die Haut eines neugeborenen Kindes sind alle diese unge­ wohnten Erkenntnisse und Ahnungen des Jugendlichen. Ein geringstes Vermuten, daß man daran stößt, macht ihn ver­ legen, und diese tiefgehende Scham äußert sich wie jede selbst­ zerschneidende Einsicht in abweisender Art. Daher die Reiz­ barkeit und Unberechenbarkeit der frühjugendlichen Flegel- und Backfischjahre, in denen die Jugendlichen mit all diesen neuen Einsichten und Erlebnissen noch nicht fertig zu werden ver­ mögen, sich mimosenhaft zusamenziehen und in ihrer Unge­ schicklichkeit dabei grob und verletzend werden. Verstärkt wird diese Empfindlichkeit noch durch die uni­ freie Lage, in welcher sich wirtschaftlich, nach Gesetz und Sitte, die Jugendlichen befinden, so daß die Alten auch bei geschickter Ausnutzung itjrer Macht ihre liebe Not mit der „unbändigen Jugend" haben. Aus allen diesen oberflächlich beobachteten Erscheinungen hat sich von jeher das Alter die Berechttgung zugesprochen, den unfertigen und zu verantwortungsvollem Handeln unfähigen Jugendlichen nach eigenem Ermessen zu „erziehen" und zu einem Menschen seiner Art zu machen.

Der Anteil der Jugend am Entwicklungsgänge der Menschheit. Ehe ich den Entwicklungsgang der menschlichen Kultur­ geschichte auf Iugendleistungen hin durchforsche, möchte ich zwei grundsätzliche Betrachtungen voranstellen. Obwohl ich mir be­ wußt bin, daß für die Entwicklung der Kultur, wie für das jeweilige Kulturganze, sowohl die neuen Gedanken und Wege, wie die langsam und sicher reifende und sich eng mit den Dingen verschmelzende Ausarbeitung der verschiedenen Auf­ gaben von Wert sind, empfinde ich als radikal gerichteter Denker ein lebhafteres Mitschwingen bei den neuen Dingen,

17 eine stärkere Sehnsucht zur Kameradschaft mit ihren Trägern, den Jungen. Anlage und Geschmack spielen fraglos eine Rolle dabei, und es nützt nicht, sich einzubilden, daß alle Menschen zu einer völlig gleichartigen Gemeinschaftsmasse zu vereinen sind. Ich verschmähe darum auch, eine mathematische Sachlich­ keit vorzugeben und zu vertreten, die in allen Lebensfragen das wirkliche Leben nicht kennt. Ich stehe mit dem Herzen bei der Jugend, — und das wird auch in den folgenden Betrach­ tungen- aus dem Ton herausklingen. Trotzdem hoffe ich, nicht zum unsachlichen, Tatsachen aus Anwillen beiseitestoßenden Parteigänger auszuarten. Ferner möchte ich als zweiten grundsätzlichen Punkt heworheben, daß mir bei der Beurteilung von kulturgeschichtlichen Werdegängen, also auch hier bei der Beurtellung des Anteils der Jugend an der Kulturentwicklung, von erstem Wert nicht die Verwirklichung, die Ausarbeitung und Durchsetzung von neuen Errungenschaften erscheint, vielmehr ihre Geburt, ihr erster Eindruck, ihre Keimanlage, — die eigentliche Schöpfung, die schon alle Wesenszüge der kommenden Dinge enthält. Hierdurch wird meine Aufgabe allerdings außerordentlich erschwert, denn bekannt sind ja fast ausschließlich die Ver­ wirklichungen und Ausarbeitungen von Gedanken und Plänen. Von den vielen Mlllionen Plänen, die im Verlauf der Jahr­ tausende aufkeimten, ist ja nur ein ganz, ganz kleiner Bruchteil zur Verwirklichung gelangt. Von all dem Großen und Neuen, was immer und immer wieder nach besserer Zukunft lechzende Seelen planten, wissen wir nichts, — wir können nur aus dem Erlebnis der eigenen Jugend ungefähr ahnen, wie ungeheuer viel neues, bestes Wollen im rauhen Tag der Wirklichreit erstarrte und abstarb. Und doch hat alles, was in der Geschichte einschneidend wirkte und große Erschütterungen verursachte, ein solches an­ fängliches, für die ganze Erscheinung maßgebendes Arsprungs­ und Keimleben gehabt. Wie die ins Tal donnernde, ringsum Leben und Menschenwerk vernichtende Lawine ihren Ursprung an einem Häufchen sich lockernden, zu Tal hüpfenden Schnees gehabt hat, wie dieser harmlos springende Ball in seinem spielerischen Gebaren der Beginn der Katastrophe im Tal ist, ohne den das Unglück nicht geschehen wäre, — so ist auch für die größten Menschheitsereignisse das Keimleben das Maß­ gebende und Ursprüngliche. Und wenn auch neben den weniKrische, Jugend.

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gen durchgedrungenen oder in der Nachfolge der Anhänger sich durchdringenden Gründern Tausende von Erneuerungen ergebnislos wirkten, so nimmt diese bedauerliche Betrachtung nichts von der Tatsache, daß ein unendliches Regen zu neuer Frucht alles Stoffliche und Geistige erfüllt und daß nicht der Erfolg, sondern der Drang zu neuer Form das Wesentliche und für bett Kulturgang Bestim mende ist, wenn auch von Tausenden von Keimlingen und Blüten in der Not und dem Kampf des Daseins nur wenige zur Frucht gelangen. Zumal für die alte Geschichte ist es aus diesem Grunde schon recht schwierig, den Anteil der Jugend am Entwicklungs­ gänge der Menschheit richtig zu würdigen. Dazu kommt ferner, daß in diesen Zeiten die der Jugend feindliche patriarchalische Ordnung, d. h. die alleinige und rücksichtslose Macht des ältesten, männlichen Familienoberhauptes, geradezu lähmend auf dem jugendlichen Schaffen lag. Schließlich ist auch wegen der vorwiegend religiösen Betonung der Zeiten des Altertums und Mittelalters die Rolle der Jugend schwierig zu ermessen. In religiösen Dingen ist gerade das Neue einem besonders heftigen Kampf, nicht nur gegen äußere Hindernisse, sondern auch gegen eigene, innere, feindliche Triebrichtungen ausge­ setzt. Erst durch Selbstüberwindung, die eher dem reifen Alter als der Jugend liegt, ringt sich das religiöse Suchen zu neuen Formen und Gestalten durch. So beansprucht der religiöse Keimvorgang viel Zeit, und es ist hier besonders schwierig, die erst jugendliche Schöpfungsepoche festzustellen. Es wird darum die Aufgabe einer zukünftigen eingehenden Forschung sein, ein zusammenhängendes und vollständiges Bild von der Kulturarbeit der Jugend zu geben. Ich kann hier nur versuchen, an einzelnen Beispielen hervorzuheben, wie sich in den wich­ tigsten Ereignissen des kulturellen Fortschritts deutlich ein be­ deutsamer Anteil der Jugend feststellen läßt. Dom Schöpfer des für viele Hundert Millionen Menschen seit Jahrtausenden maßgebenden Religionssystems der vor­ christlichen Zeit, Buddha (um 550—480 vor Chr. Geb.), ist bekannt, daß er als jugendlicher Ehegatte an der Plattheit seines Alltagslebens litt, bis er sich, neunundzwanzigjährig, voll Ekel von Frau, Kind und Bürgerdasein trennte und seine Sendung in einem ruhelos wandernden Bettlerdasein zu er­ füllen begann. Unter der Jugend zählte er die begeisterten

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Jünger — dieser Ausdruck für den Anhänger ist an sich ja be­ zeichnend —, und kennzeichnend für seine Wertschätzung der Jugend ist auch, daß er für die Mitgliedschaft seiner Mönchs­ gemeinschaften ein Mindestalter von zwanzig Jahren festsetzte. Noch früher als Buddha begann der Reformator Chinas, Konfuzius (551—479 vor Chr. Geb.), sein religiöses Werk, der mit zweiundzwanzig Jahren sein Wanderleben als Lehrer und Prediger anhub. Wir sehen, daß die beiden bedeutsamsten religiösen Er­ scheinungen der großen Völkerwiege Asiens in diel höherem Grade jugendlicher Gestaltungskraft ihre Lebensarbeit verdan­ ken, als sich gerade bei der langwierigen Keimarbeit der reli­ giösen Dinge annehmen läßt. Der geschichtliche Christus be­ wegt sich so sehr immer noch im Zwielicht der Legende und der erregten, nach Wunder lechzenden Phantasie der orientalischen Art, zumal der damaligen, vom Messiasgedanken durchtränk­ ten, int Zwiespalt mit der römischen Herrschaft stehenden Juden­ schaft, daß sich die Frage nach dem Anteil des jugendlichen Christus an seiner Sendung schwer beantworten läßt. Nach den kritischen Forschungen der neueren Zeit entstanden die Evan­ gelien 38—60 nach Christi Tode. (Evangelium des Markus 68 n. Chr.; Evangelium des Johannes 90 n. Chr.) und be­ nutzten ältere, erst nach seinem Tode verfaßte Aufzeichnungen seiner Worte und Taten. Wenn man von der ja gleichfalls wissenschaftlich verfochtenen Ansicht, daß der Christus der Evan­ gelien ungeschichtlich ist, absieht und die dort gebrachten Lebens­ angaben für zutreffend erachtet, bleibt nur jene Erzählung vom frühreifen zwölfjährigen Christus für unseren Gegenstand von Bedeutung, wie er durch seine religiöse Gelehrsamkeit die Schriftgelehrten des Tempels in Erstaunen versetzt. Seine Antwort: „Wisset ihr nicht, daß ich sein muß in dem, das meines Vaters ist?" würde besagen, daß bereits der Zwölfjährige eine Vorstellung seiner religiösen Sendung hatte. Im allgemeinen gilt für das nichtchristliche - Altertum, wie für das christliche Mittelalter, daß der vorherrschende patriarchalische Geist so fest und lähmend auf der Jugend lag, daß deren dem Neuen zugewandten Kräfte nur selten zum Austrag gelangten. Gewöhnlich beobachtet man aber dort, wo ein wahrhaft neuer Gedanke die überlieferte und vom Alter gestützte

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Starrheit durchbricht, das Wehen der jugendlichen Art. Ein Beispiel hierfür gibt in der römischen beschichte das Auftreten der beiden Gracchen (Tiberius Sempronius Gracchus 163—133 v. Chr., Gajus Sempronius Gracchus 153—121 v. Chr.), die mit echt jugendlicher Begeisterung für neue Rechtsgrundsätze gegen die verderbliche Landbereicherung der führenden Kreise auftraten und in den durch ihre neuen Ackergesetze hervorgerufenen Volkswirren, inmitten des ein­ fachen Volkes, für das sie eintraten, ihr Leben liehen. Neben der christlichen Bewegung hat der Islam in die Geschichte des Mittelalters die tiefsten Spuren eingegraben. Gewöhnlich betrachtet man die Begründung des Islams als eine ausgesprochene Tat des gereiften Mannes, da M o h a m m e d (570—632 n. Chr.) ja erst mit vierzig Jahren nach außen seine religiöse Aufgabe begann. Verfolgt man allerdings näher seinen religiösen Werdegang, so wird man auch hier, wie bei Buddha und Konfuzius, das Entscheidende der jugend­ lichen Geburt neuer Gedanken feststellen können. Schon auf den ersten Handelsreisen, nach Syrien im Dienst der Kauf­ mannswitwe Chadidscha gab er sich als Zweiundzwanzigjähri­ ger religiösen Betrachtungen hin und griff begierig jede Be­ obachtung fremder religiöser Art, des Judentums und Christen­ tums, auf, um sie mit der eigenen Stimme der Sehnsucht nach höherem Lebenssinn zur Auseinandersetzung zu bringen. Als er, vierundzwanzigjährig, jene Witwe heiratete, verschwand er bereits öfter mehrere Tage in einer der zahlreichen Höhlen um Mekka, um die im Aufruhr befindlichen Stimmen seines Innern in vollkommener Stille ungestörten Nachdenkens zur Klarheit M bringen. Von den wichtigsten Strömungen und Kräften, die unab­ lässig an der patriarchalischen und religiösen Starrheit des Mittelalters nagten, bis sie vereint die alte Form durchbrachen und jenen gewaltigen bis auf unsere Zeit reichenden kulturellen Aufgang durchsetzten, kann ich hier nur einige der bedeutendsten erwähnen. Ich nenne zunächst die Universitäten. Wenn diese auch anfangs noch vollkommen vom dogmatisch eingeschränkten Geologischen Geiste beherrscht wurden, so veranlaßte doch schon eine Einrichtung gelehrter Arbeit außerhalb der Klöster, welche vorher allein das geistige Leben umschlossen, eine Loslösung von der engsten Fessel. Die ältesten Universitäten sind Bologna

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(gegründet 425), Paris (etwa 450), Paduq (1222), Pavia (800), Oxford (1263), Cambridge (1257), Prag (1348), Wien (1365), Heidelberg (1386), Köln (1388), Erfurt (1392). Trotz aller patriarchalischen Strenge und Aufsicht, trotz der weitgehendsten Bevormundung entwickelten sich diese Hochschulen zu Brut­ stätten neuer Dinge. Es mußte so sein, da hier ja Jugend zu­ sammenkam, gegen deren triebgemäßes, naturgesehliches Drän­ gen nach neuen Dingen kein noch so geschickt errichtetes Ein­ schließungssystem aufzukommen vermochte. So sehen wir durch die Jahrhunderte hindurch bis auf unsere Tage auf den Hoch­ schulen fortdauernd das wundtzrvoll anzuschauende Duell der Jungen gegen die Alten. Immer wieder erheben sich junge, tatkräftige Genies über ihre Lehrer, setzen sich im kecken Sprung neben sie und siegen bald mit ihren neuen Gedanken über die alte Schule, die vor der unaufhaltsamen neuen Kraft sich besiegt erklären muß. Trotz aller geradezu grotesk anmutenden altertümlichen Äußerlichkeiten, trotz der äußerst patriarchalisch das Alter stützenden Einrichtung und Ordnung der Hochschulen siegt auf ihnen in den wissenschaftlichen Dingen immer wieder die yeue Art, und so ist, weil ein bedeutender Teil neuen Wissens von den Hochschulen ausströmte, — die auf ihnen sich durchkämpfende Jugend der Hauptträger des wissenschaftlichen Fortschritts der Menschheit. Es ist viel zu wenig bekannt, wie oft man auf den Universitäten, schon im Mittelalter, bei den bedeutendsten Forschern Jugendliche antrifft, die schon als Jünglinge eine Zierde ihres Lehrstuhls waren, deren Ruhm durch die Länder eilte und denen die wissensdurstige Jugend von fern und nah zuströmte. In der später gebrachten Abersicht über Iugendleistungen von Wissenschaftlern kann man Beispiele 'solcher jugendlicher Hochschullehrer aus den ver­ schiedenen Zeiten finden (Seite 54). Neben den Hochschulen, die trotz des patriarchalischen Zeit­ gepräges ein Tummelplatz stürmender und siegreicher Jugend waren, lief als zweite, neue Dinge immer wieder gegen den Zwang der Aberlieferung durchsetzende Einrichtung die Sitte der Wanderschaft, welche nach vollbrachter, mühevoller Lehr-, zeit und vollendetem Gesellenstück den jungen Handwerks­ burschen in die weite Welt wandern hieß, um sich die zur Meisterschaft nötige Erfahrung zu sammeln. Während der Adel und die Gelehrten ihre strebende Jugend auf die Hoch­ schulen gehen ließen, richtete der Bürger als eine Art praktische

22 Hochschule der Erfahrung die Wanderschaft ein, und die ver­ schiedenen Arten des Handwerks bis zur damals ja noch als Handwerk betrachteten und in Gilden vereinigten Künstler­ schaft, wie die Kaufleute durchwanderten jung die Welt. Leiden­ schaftlich nahmen sie die vielen Eindrücke auf, der in der Jugendzeit besonders rege Wandertrieb führte sie zu immer neuen Erlebnissen und Abenteuern. Aus der Enge dar Heimat, der überlieferten Art und Sitte, der Eigenfarbe ihrer zu­ gehörigen Scholle wurden sie in die bunte Fülle der ver­ schiedensten Gemeinschaftsbilder von Scholle und Mensch ge­ führt. Der Sohn der Ebene erlebte das weite Meer, die kontrastreiche Gebirgswelt, — der behagliche Kleinstädter die schwungvolle Gemeinschaft der Großstädte mit ihrem Massen­ rausch und dem Feuerwerk stürmischer und farbiger Belusti­ gungen. Mit überquellender Freude von allen der Jugend so greifbar lockenden Früchten der Lebensfülle genießend, strotzte ihre Seele von ungeheuren neuen Eindrücken, und sie kamen voller Pläne in die heimatliche Enge zurück, wo nun der heftige Kampf mit dem am Hergebrachten haftenden Alter begann, der je nachdem die Niederlage und den Verzicht und damit die Bei­ behaltung des Alten brachte, oder ein Durchsetzen, den Sieg, und damit die Einführung einer neuen Erscheinung in das sorgfältig abgezirkelte Übliche. Darum, wo man sich auch in Einzelheiten der Kulturgeschichte auf künstlerischem oder wirt­ schaftlichem Gebiete vertieft, immer sind es die von der Wan­ derung zurückkehrenden Jungen, die mit leidenschaftlicher Be­ geisterung dem Neuen Platz erkämpfen. Neben den ständig fließenden Erneuerungsströmen, die durch die Universitäten dem geistigen, und durch die Wander­ schaft, dem künstlerischen und wirtschaftlichen Leben erteilt wur­ den, sind einige Ereignisse von größter Bedeutung zu nennen, die geradezu Werksteine im kulturellen Entwicklungsgang der letzten Jahrhunderte bilden: Renaissance, Reformation, eng­ lischer Parlamentarismus, die große Revolution 1789, die Befreiungskriege, die zweite freiheitliche Bewegung von 1830 bis 1848, die revolutionäre Umwälzung des Zarenreiches und die revolutionierenden Strömungen unserer Zeit., Bei allen diesen maßgebenden Wendepunkten der mensch­ lichen Entwicklung sehen wir Iugendkraft und Iugendgut an vorderste? Stelle wirken. Die großen Künstler des Höhepunktes der Renaissance, Lionardo, Raffael, Michelangelo, Giorgione,

23 auch ihre großen Vorläufer und Borbereiter: Donatello, Giotto und viele andere, sind Künstler, die eine erstaunliche schöpfe­ rische Iugendkraft aufzuweisen huben, wie im Einzelnen spätere Hinweise und die Abersicht 1: „Iugendleistungen von Dichtern und Künstlern" deutlich erkennen lassen. Eine unbeschreibliche Jugendlichkeit erfüllte jene Zeit, welche der im asketischen Christentum verknöcherten Welt wieder die ewige Sonne Griechenlands und die neue Wonne junger Schönheit bewußt machte. An Stelle weißbärtiger Greise, an Stelle der in Kasteiungen und mystischen, seelischen Zermürbungen verheerten, bleichen, frühalten Zelotenzüge übten frische, lockenumwallte Jünglinge mit jauchzendem Lebensruf und siegesfester Hand das neue Priesteramt des Schönen, und aus düsterem mönchischen Grauen flutete die frohlockende Welt in einen neuen lachenden Jugendmorgen. Was der farbenfrohe, sonnige Süden im Kreis des Schönen an Iugendwerk vollführte, brachte der kühle Norden an inner­ licher Erneuerung. Auch Luther fand sich wie Mohammed erst als vollreifer Mann nach jahrelangen Seelenkämpfen auf die große Bühne gestellt, um zur Verwirklichung und Frucht zu bringen, was lange in ihm gekeimt und aufgeblüht war. Das Entscheidende seiner weltgeschichtlichen Sendung kam auch ihm in seiner Jugend. Es ist hier gerade genau festzustellen. Erst die Bekanntschaft des jugendlichen, zweiundzwanzigjährigen Magisters auf der Universität Erfurt mit der Bibel gab den Anstoß der gärenden jungen Seele, in der nun ein unablässiger Kampf mit den neuen Stimmen der wahrheitsuchenden Jugend gegen die Gehorsam beanspruchende Herrschaft des Alters aus­ gefochten wurde. Der junge sich vergeblich kasteiende Mönch, der siebenundzwanzigjährig in Rom die entscheidende Abkehr vom Werkchristentum erlebte, der — ein nie wiederkehrendes Bild merkwürdiger Schicksalswege — in Rom ohne Verständnis an der jungen Schönheit der Renaissance vorüberging, um im Norden das siegende Reich einer neuen, jungen Leidenschaft zur inneren Freiheit und Wahrheit aufzubauen, — ist ganz das Gefäß, das in sich Dinge sammelt und aufbaut, die dem Gesicht der Kulturwelt eine neue Form geben sollten. Nicht nur er selbst, auch was um ihn in der reformatorischen Bewegung arbeitete, war zum großen Teil jugendlicher Art. Ihm wurde der einundzwanzigjährige Magister Melanchthon der vertrauteste Freund, von allen Hochschulen eilten die jun»

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gen Schüler der Gottesgelehrtheit nach Wittenberg, und jene streitbaren jungen Pastöre überfluteten die evangelischen Länder Sachsen, Hessen, Hannover, Braunschweig, nisteten sich in Tal-, Berg- und Flachlanddörfern und in den Städtchen ein und schufen das reiche evangelische Pastorenhaus, aus dem in den letzten Jahrhunderten Ströme befruchtenden, neuen Lebens her­ vorgegangen sind, trotz aller gepflegten patriarchalischen Zucht und Strenge. Auch die beiden Häupter der nichtlutherischen reformierten Bewegung, Calvin und Zwingli, haben als Jugend­ liche-den entscheidenden Weg zum Neuen beschritten. Der in Noyon geborene, starrköpfige, eifernde Pikarde Johann Cal­ vin (1509—1564) war schon als Knabe tief religiös und be­ reits als siebzehnjähriger Schüler von Olivetanus dem evan­ gelischen Denken ergeben. Als Vierundzwanzigjähriger schrieb er 1534 in Basel sein grundlegendes Plerk: „Institutio religionis christianae“, welches die reformierte Richtung des Prote­ stantismus begründete. Durch ihn wurde Genf der Mittelpunkt dieser reformierten Bewegung, die auf Frankreich, die Nieder­ lande, damit auf die nordamerikanischen Kolonien, ihre Einfluß­ kreise ausdehnte, die bis auf die heutigen Tage wirken und mannigfache Kultur-, auch weltpolitische Ausstrahlungen ge­ zeigt haben. Auch der Sohn des toggenburgischen Bergdörfchens Wild­ haus, Ulrich Zwingli, neben Calvin das bedeutendste Haupt der reformierten Bewegung (1484—1531), erfuhr als zwei­ undzwanzigjähriger Pfarrer in Glarus durch die Bekanntschaft mit dem Neuen Testament seine innere Umkehr und schritt seither zielbewußt auf dem neuen Wege. Die Geschichte der „Mutter der Parlamente", des eng­ lischen Parlamentes, dieses Vorbildes der für die politische Entwicklung der letzten Jahrhunderte wichtigen Einrichtung, ist in fast allen bedeutenden Wendepunkten eine Ge­ schichte der Jungen gegen die Alten. Immer sieht man unter den Mitgliedern eine Anzahl führender, die neue Rich­ tung vertretender Köpfe, die noch im Iugendalter stehen, oder ihm kaum entwachsen sind. Mit jungen Jahren war Thomas Morus führendes Parlamentsmitglied, schon als Dreiund­ zwanzigjähriger war das berühmteste und hervorragendste Mitglied des englischen Unterhauses, der jüngere Pitt (1759 bis 1806), der erbitterte Gegner Napoleons und der eigentliche Zerschmetterer der europäischen Herrschaft des französischen

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Kaisers, Schatzkanzler (1782). Sein Hauptgegner, Charles James Fox (1749—1806), der Vorkämpfer des modernen Liberalismus, kam schon mit 19 Jahren 1768 ins Unterhaus, war einundzwanzigjährig Lord der Admiralität, dreiundzwanzig­ jährig Lord des Schatzes. Unter den führenden Männern des weittragendsten ge­ schichtlichen Umsturzes jener großen französischen Revolution 1789, welche durchgreifend und trotz aller erkünstelten Rück­ läufe in vielem bleibend das politische Bild der Kulturwelt bis auf unsere Tage bestimmt, finden wir zwar durchweg solche reiferen Alters, aber bei jedem läßt sich feststellen, daß die Aufnahme der Ideen, die in der Revolution zum Austrag gebracht wurden, in ihrer Jugendzeit stattgefunden hat. Der „Löwe der Versammlungen", George Danton (1759—1794), befaßte sich schon als Student eifrig mit den neuen Gedanken der „Aufklärung" und knüpfte als junger Advokat, teils spielerisch, verliebt und genußsüchtig, teils int lodernden Feuer des Kampfes für die Entrechteten, Verbin­ dungen mit den unteren Schichten. Maximilian Robes­ pierre (1758—1794), die seltsamste und - widerspruchreichste Figur des ungeheueren Pariser Dramas, hatte gleichfalls als junger, juristischer Student die neue Linie beschritten und unent­ wegt daran gearbeitet, so daß ihn seine Geburtsstadt Arras mit einunddreißig Jahren als Abgeordneten in die Nationalver­ sammlung schickte, wo er sofort die Führerschaft der äußersten Radikalen übernahm.

Auch der wildeste Geist jener Zeit, Jean Paul Marat (1744—1793) war als junger Medizinstudent in der neuen Be­ wegung und schrieb, dreißigjährig, seine erste revolutionäre Schrift: „The chains of slavery“ von England aus. Der dritte der Ultraradikalen, Antoine Saint Just (1767—1794), war einer aus der großen Schar der Jungen, die das Gefolge der neuen Volksvertreter ausmachten. Zwei­ undzwanzigjährig beteiligte er sich am Beginn der Revolution und wurde siebenundzwanzigjährig Mitglied des Revolutions­ tribunals. Doch nicht nur unter den Radikalen, auch bei den Gemäßigten der Revolution haben wir ausgeprägte Iugendgestalten, so den prachtvollen Lafayette (1757 bis 1834), diese Idealgestalt des neuzeitlichen Frankreich, der zwanzigjährig als General für die Freiheit der jungen amen-

26 konischen Republik gegen England kämpfte und später einer der Generäle der französischen Revolution war, in seinem ganzen wildbewegten Leben, obwohl Sproß einer alten Adels­ familie, immer auf der'Seite der demokratischen Ideale. Jung ergab sich auch der zwiespältige Graf Mirabeau (1749—1781) den neuen Ideen, der bereits sechsundzwanzigjährig jene Schrift: „Rat an die Hessen und andere an Eng­ land verkaufte Völker" schrieb. In ausgesprochener Weise waren die freiheitlichen Strö­ mungen des neunzehnten Jahrhunderts eine Sache der Jugend, sowohl der Befreiungskriege, wie die revolutionären Bewegun­ gen von 1830 und 1848. Unter der studentischen Jugend Deutschlands flammte in den Jahren der napoleonischen Unter­ drückung der Freiheitsdrang am heftigsten auf. Jugendliche Patrioten sammelten sich insgeheim im Tugendbund, der über­ all hin seine Sendboten schickte, unbedingt zuverlässiges Werk­ zeug in den Händen der tatkräftigen, deutsch gebliebenen Be­ amten und Offiziere, ohne deren Vorarbeit das Feuer der Befreiungskriege niemals so unwiderstehlich. das ganze Volk erfassend, aufgelodert wäre. Der zweiundzwanzigjährige Sänger von „Leher und Schwert", Theodor Körner, wie sein Oberster, der fünfundzwanzigjährige Major und Freischaren­ führer von Lühow mit ihren zweitausend jugendlichen Ide­ alisten sind ein Abbild der zu jener Zeit in Dorf und Stadt allgemein einem neuen, freien Deutschland ergebenen Jugend. Als sich dann wieder die Schatten einer engherzigen, klein­ staatlich begrenzten, den deutschen Einheitsgedanken ertötenden Reaktion niedersenkten, war es in erster Linie die deutsche Jugend, die den Gedanken der Freiheit hegte und sich un­ gebärdig gegen die behördlich-bureaujkatische Rechtsbeschrän­ kung auflehnte. Jugendliche Schwärmer taten sich vor hundert Jahren zur Begründung der deutschen Burschenschaft in Jena zusammen, und in den folgenden Jahren ging durch die ver­ folgte und verfemte Burschenschaft der beste Teil der deutschen Jugend. Und wenn später auch viele die großdeutschen, republi­ kanischen oder zumindest parlamentarischen Ideale verleug­ neten und bei der bismarckischen Neugründung eines PreußenDeutschland unter Abtrennung der österreichischen Deutschen entschlossen mitarbeiteten, — jene große Befreiungs- und Freiheitswelle bedeutet trotz aller Schnittfiguren des nüchternen Alters für das gesamte neudeutsche Leben viel mehr, als der

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oberflächliche Beobachter oder auch der rückhaltlose Vertreter der praktischen Reichsgründung anzuerkennen Pflegt. Die Bürgerliche Revolution von 1830 in Paris warf wie einst die große Revolution, ihre Einflußkreise auch auf die deutsche Jugend. Seither gärte es ununterbrochen, und das Jahr 1848 fand ein durch und durch revolutionäres Deutschland. In den stürmischen Unruhen jener Tage stand die Jugend auf den Barrikaden, in den Versammlungen, den militärischen Organisationen an der Spitze. Auch die Führer mit reiferen Jahren wie Friedrich, Franz Karl Hecker (1811—1883), der seit seiner Studienzeit an der kommenden Revolution arbeitete, und Georg vonStruve (1805—1870), der als fünfund­ zwanzigjähriger oldenburgischer Gesandtschaftssekretär wegen seiner freiheitlichen Gesinnung aus dem Staatsdienst entlassen wurde, vertraten als reife Männer die Gedanken, denen sie sich als Jünglinge stark ergeben hatten und denen sie unentwegt treu geblieben waren. Auch in Österreich und Ungarn war die Jugend, im Vordergrund die studierende Jugend, der Führer der neuen Bewegung. Bezeichnend ist es, daß auf dem ersten konstituierenden Reichstage in Wien 1848 das jüngste Mit­ glied, der Bauernsohn aus Österreich-Schlesien und Mediziner Hans Kudlich (1823—1917), zur Überraschung der An­ wesenden den Antrag stellte, das tzörigkeitsverhältnis mit allen feudalen Rechten und Pflichten (den sogenannten Robot) abzu­ schaffen. Nach wochenlangen Kämpfen wurde der Antrag am 7. September angenommen. Als später viele Bestimmungen der Sturmzeit der wieder folgenden Reaktion zum Opfer fielen, blieb diese wichtige Anordnung zum Segen der folgenden länd­ lichen Entwicklung in Österreich bestehen, und so erlebte der junge Kudlich, der später wegen Empörung „in contumaciam“ zum Tode verurteilt und 1872 zum Ehrenbürger von Wien ernannt wurde, als Jugendlicher den größten Tag seines Lebens, eine weltgeschichtliche Bedeutung, die beim Tode des zweiundneunzigjährigen Greises der schnell vergessenden Welt wieder in Erinnerung gebracht wurde. Auch in der wundervollen ungarischen Erhebung, an die heute noch jeder Ungar ohne Unterschied der Partei mit großem Stolz denkt, waren die Jugendlichen der Vortrupp der neuen Zeit. Die Revolutionsgedichte des vierundzwanzigjährigen un­ garischen Nationaldichters Alexander Petöfi (1822 bis 1849): „Auf Magyare i" trugen die Flamme der Begeisterung

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vom Palast zur Hütte, und nur neunundzwanzig Jahre zählte der ungarische Oberbefehlshaber Görgey (1818—1916), der in mehreren Schlachten die Österreicher besiegte. Ebenso läßt sich von der russischen ersten Revolution 1905 und der zweiten sowie der Bewegung unserer Zeit, deren kulturgeschichtliche Bedeutung noch gar nicht abzumessen ist, fest­ stellen, daß akademische und proletarische Jugend in ihr die Träger der neuen Gedanken sind, daß geradezu ausnahmslos die Führer ihre geistige Umschaltung zur neuen Art in chrer Jugendzeit erlebt haben. Aberblicken wir die letzten Jahrzehnte unserer Kultur­ geschichte, so sehen wir, wie überall, in der Wissenschaft und Technik, der Literatur und Kunst, die schöpferische Jugend einen bedeutenden, wenn nicht maßgebenden Anteil an dem Neuen hat, so daß man ja allgemein die Vorstellung einer „neuen Richtung" mit dem Begriff „die Jungen" zu verschmelzen pflegt. Bei diesem hervorragenden Anteil der Jugend am Ent­ wicklungsgänge der Menschheit ist es geradezu unverständ­ lich, daß nicht schon längst das Iugendproblem aus dem unerquicklichen, selbstmörderischen Zu­ stand des erbitterten Kampfes in den der förder­ lichen Auseinandersetzung gelangt ist. Gewiß, zum Teil ist die Jugend selbst daran schuld. Sie, die so leidenschaftlich den Trank schöpferischer Erlebnisse schlürft, ist kein bequemer Arbeitsgeselle. Ihre neuen Gesichte werden nicht glatt und friedlich, noch nicht einmal klar und in ihrem Werte erkennbar, vertreten, und im Kampfe wird die maßlose und rücksichtsfreie Geste nur zu gern beliebt. Es geht aber nicht an, diese bösen Begleiterscheinungen vom Gesichtswinkel des braven Bürgers zu beurteilen, der den behaglichen Genuß seines Geldes und die ungestörte Ruhe seines Genießerdaseins über alles setzt. Wir dürfen nie ver­ gessen, daß den tzauptteil der Schuld an dem tragischen Ver­ hältnis von Jugend und Alter, wie bei allen Zerwürfnissen zwischen stürmisch Bewegtem und ruhigen Einsichtigem, — das Alter trägt, daß die hochschäumende Welle der jugendlichen Tat nicht zu würdigen, nachzuempfinden und zu verwerten vermag. Davon erst später.

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Iugenöleistungen bedeutender Menschen. Bei dem für diese Schrift bestimmten knappen Raume kann ich den Leistungen einzelner Jugendlicher in der Kulturgeschichte nur einen kurzen Abschnitt widmen. Ich werde aber den Nach­ weis bringen, daß bei einer großen Zahl führender Menschen die erste und maßgebende Gestaltung ihres Lebenswerkes in der Jugendzeit erfolgte. Leider ist unsere Geschichtskunde immer noch derart einseitig belastet mit Kriegsereignissen und den Taten von Feldherren, Fürsten und Staatsmännern, daß die eigentlich kulturellen Leistungen darunter verschwinden und schwer zu ermitteln sind. Das beweist, wie sehr wir uns noch in den bescheidensten Anfängen einer menschlichen Kultur­ geschichte befinden. Erst zukünftigen Zeiten wird es Vorbehalten sein, eine durchgreifende, allgemeine Wertung menschlicher Lei­ stungen vom Standpunkt des Schöpferischen vorzunehmen und die noch nach den primitiven Begriffen des Faustrechtes schmeckenden Vorstellungen endgültig abzutun. Einstweilen stehen wir kulturgeschichtlich noch in den ersten Kapiteln jenes großen Werkes, das dermaleinst eine großzügige Zusammen­ stellung aller dem Fortschritt der Menschheit dienenden schöpfe­ rischen Erscheinungen zusammenstellen wird. Im grundsätzlichen Gegensatz zu der bisher üblichen primi­ tiven Wertung der menschlichen Leistungen werde ich im folgen­ den von den Lebensbildern großer Fürsten und Feldherren ab­ sehen und dagegen die Leistungen berühren, welche mir für die grundsätzliche Frage, ob die Jugend schaffende Werke zeitigt,, wichtig erscheinen: die der Kunst und der Wissen­ schaften. Nur um nachzuweisen, daß aus der Geschichte großer Feld­ herren und Fürsten ebenso leicht wie aus derjenigen großer Künstler und Wissenschaftler bedeutende Iugendleistungen fest­ zustellen sind, sei auf zwei bedeutende Männer des Kriegs­ handwerks hingewiesen: Napoleon I. und Alexander den Großen. In den Gesprächen mit Eckermann kommt der achtundsiebzig­ jährige Goethe, als er sich bewundernd über Napoleons Leistungsfähigkeit jm reiferen Alter wie in der Jugend äußert, zu folgender Ansicht: „. . . Der eigentliche Glanzpunkt seiner Taten fällt in die Zeit seiner Jugend. Und es wollte etwas heißen, daß einer

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aus dunkler Herkunft und in einer Zeit, die alle Kapazitäten in Bewegung setzte, sich so herausmachte, um in seinem sieben­ undzwanzigsten Jahre der Abgott einer Nation von dreißig Millionen zu fein! Ja, ja, mein Guter, man muß jung sein, um große Dinge zu tun. Und Napoleon ist nicht der einzige. — Die Geschichte bietet uns der tüchtigsten Leute zu Hunderten, die sowohl im Kabinett als im Felde in noch jugendlichem Alter den bedeutendsten Dingen mit großem Ruhme Vor­ ständen." Schon als frühreifer vierzehnjähriger Jüngling hatte Na­ poleon ayf der Militärschule zu Brienne die umfassendsten Feldherrnpläne entworfen. Mit vierundzwanzig Jahren zeigte er 1793 vor Toulon zum ersten Male seine Feldherrngaben. Als Sechsundzwanzigjähriger schlug er am 5. Oktober (13. Vendemiaire) 1795, eine seiner kühnsten Handlungen, den Aufstand gegen den Konvent nieder und vollbrachte im folgen­ den Jahre im italienischen Feldzuge mit der im traurigsten Zustande dort vorgefundenen Armee Leistungen, die zu den hervorragendsten seiner beispiellosen Feldherrnlaufbahn ge­ rechnet werden. Ein noch deutlicheres Beispiel des jugendlichen Feldherrn bildet Alexander der Große (356—323 v. Chr. Geb.). Kaum zwanzigjährig folgte er seinem ermordeten Vater Philipp von Mazedonien auf dem Throne, eroberte einundzwanzig­ jährig (335) Thracien und Griechenland und trat zweiund­ zwanzigjährig (334) jenen wunderbaren Welteroberungszug nach Asien an. Dreiundzwanzigjährig besiegte er zum erstenmal den Perserkönig Darius in der Schlacht bei Issus, eroberte vierundzwanzigjährig Syrien, Palästina und Ägypten und brachte 332, als Fünfundzwanzigjähriger, Darius bei Gaugamela die entscheidende Niederlage bei, die ihm die Hauptstädte des persischen Weltreiches, Babylon und Susa, öffnete. Für alle Zeiten ist er das Sinnbild des unerhört siegenden und tat­ gewaltigen Jünglings geworden. Wenden wir uns, mit diesen beiden Beispielen jugendlicher feldherrlicher und staatsmännischer Meisterleistung uns begnü­ gend, der Kunst zu. Da eine Aufzählung der Iugendleistungen bedeutender Künstler und Wissenschaftler zu ermüdend wirken würde, habe ich in zwei Abersichten eine kleine Auswahl solcher Erscheinun­ gen zusammengestellt.

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Die Übersicht 1: Jugendleistungen von Dichtern und Künst­ lern bringt zunächst die Angaben von 6 Vertretern des Alter­ tums, 4 des Mittelalters, 34 der neueren Zeit und 56 der neuesten Zeit, insgesamt also 100 Namen. Natürlich ist dies nur eine recht lückenhafte und bescheidene Auslese. Immerhin dürfte sie doch eine genügende Unterlage dafür geben, daß auch die Kulturgeschichte sich in die von mir gegebenen biologischen Tatsachen der Jugendlichkeit fügt. An einigen besonders eindrucksvollen Beispielen aus der Liste der Übersicht möchte ich noch näher ausführen, in welcher Weise die schöpferische Kraft der Jugend sich offenbart hat. Besonders auffallend für unsere Betrachtung ist wohl die kulturgeschichtliche Tatsache, daß wir sogar Beispiele von Lebens­ bildern bedeutender Künstler besitzen, die nur als Jugendliche wirkten, weil sie im späteren Alter keine weiteren besonderen Leistungen aufweisen. Solch eine jugendliche Kraft ist das größte und fast einzige lyrische Genie Nordamerikas, der wundervoll neuzeitliche, erst in unseren Tagen boll gewürdigte Walt Whitmann (1819 bis 1867), der als Vierundzwanzigjähriger seine im rauschen­ den Naturrhythmus erklingenden Gedichte veröffentlichte, die unter dem Namen „Grashalme" einen Ehrenplatz in der Welt­ literatur errungen haben. Ein Prachtbeispiel eines „nur jugendlichen" Schöpfers lyri­ scher Kunst wird auch immer Robert Burns, der lyrische Liebling der Schotten, bilden (1759—1796), der seine schönsten Hochland-Balladen vom 16. bis zum 25. Jahre sang. Neben solchen Künstlern, die sich als Jugendliche völlig verausgabten, haben wir auch solche, von denen nur jugendliche Leistungen vorliegen, weil sie früh starben. Zu diesen zählt als eine der auffallendsten Offenbarungen genialer, jugend­ licher Schöpfungskraft der berühmteste holländische Tiermaler Paul Potter (1625—1654). Schon mit fünfzehn Jahren war er weltberühmt durch seine vielbewunderten Tierstücke. Sein vollendetes Meisterwerk, der junge Stier in der Galerie im Haag, wurde von ihm im zweiundzwanzigsten Lebensjahre ausgeführt. Auch der früher viel überschätzte Theodor Körner (1791 bis 1813), der jugendliche Sänger der Befreiungskriege, den viele aus Gesinnungsgründen immer noch unter die echten lyrischen Begabungen zu rechnen pflegten, sei hier erwähnt.

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Äbersicht 1. Iugendleistungen von Dichtern und Künstlern. Name und Kunstzweig

Alter

Art der Leistung

a) Altertum. (Bis 476 nach Chr. Geb.)

1. Publius Terentius Afer 20-25 Lustspiele: Andria (Das Mädchen (190—159 vor Chr. Geb), rö­ von Andros); Eunuchus;Leeyra mischer Lustspielschreiber. (Die Schwiegermutter). 2. Gajus Valerius Catullus 20-25 Gedichte. (87—54 vor Ehr. Geb.), rö­ mischer Lyriker. 3. Aristophanes (450—385 vor 23 Erstes Lustspiel. Chr. Geb.), griechischer Lust24 Lustspiel: Die Babylonier (426). spieldichter. 18 4. Euripides (480 -406 vor Erste Tragödie. 25 Chr. Geb.), griechischer TraErste Bühnenaufführung. gödiendichter. 5. Sophokles (496—406 vor 16 Erster Vortänzer beim SiegesChr. Geb.), griechischer Tra­ reigen von Salamis. 25 gödiendichter. Einführung des 3. Schauspielers in die Tragödie. 24 6. Quintus Loratius Flacco Erste Gedichte. (65—8 vor Chr. Geb.), römi­ scher Dichter.

b) Mittelalter. (476—1496.)

20 1. Dante Allighieri (1265 bis Plan seines Lauptwerkes, der 1321), Italiens größter Dichter. Dwina Comedia. 20 2. Giotto di Bondone, Begrün­ Szenen aus dem Leben des heiligen der der großen italienischen Franziscus in der Oberkirche Malerei (1266—1337). zu Assisi. 3. Francesco Petrarca, ita­ 15-20 Erste Gedichte. lienischer Dichter (1304—1374). 20 4. Donatello, italienischerBildMarmorstatuen des Petrus und Hauer (1386—1466). Marcus an der Kirche Or San Michele in Florenz; Statue des St. Georg; ,.Il Zuccone"( Kahl­ kopf) am Glockenturm des Doms in Florenz.

c) Neuere Zeit. (1492-1789.)

1. Lionardo da Vinci, Uni­ versalgenie, italienischerMaler und Bildhauer (1475-1517).

20 25

Selbständiger Maler (1472). Maler- und Bildhauerarbeiten im Atelier Veroechios.

33 Name und Kunstzweig

Atter

2.Michelangelo Buonarotti, großer italienischer Künstler, Maler, Bildhauer, Architekt unh Dichter (1475 bis 1563).

17

3.RaffaelSanti, italienischer Maler (1483-1520).

4. Giorgio ne, venezianischer Maler (1478-1510). 5. Albrecht Dürer, deutscher Maler (1471-1528).

6. Lans Holbein der Jüngere, deutscher Maler (1497-1543). 7. Peter Paul Rubens, flä­ mischer Maler (1577—1640).

S.Rembrandt, holländischer Maler (1606-1669).

9. Adriaen Bro uw er, flämi­ scher Maler (1605 1638). 10. David Teniers der Jüngere, flämischer Maler (1610—1690). 11. Gerard Dou, holländischer Maler (1613-1675). Krtische, Jugend.

Art der Leistung

Marmorrelief der Zentauren­ schlacht (1492). 21 Vollendetes Kunstwerk der PietL in der Peterskirche zu Rom, seine höchste bildhauerische Leistung (1496). 17 Hervorragender Schüler Peruginos. 21 Gemälde der Vermählung Mariae (Sposalizio) in der Brera (Mailand). Grablegung Christi in der Villa 24 Borghese, Rom (1507). Ausmalung der 25—34 Hauptwerk: Stanzen im Vatikan (Beginn 1508). Madonna mit d. Stieglitz, Affizien 23 Florenz (1506). Madonna del Granduea, Galerie 21 Pitti, Florenz (1504). Madonna Tempi, München; Ge­ 24 mälde Julius II. (1507). Schüler des Bellini. 20 Madonna im Dom zu Castel25 franeo (1504). Eigenes Brustbild (Albertina, 13 Wien. 1484). Madonna (485). 14 Bild des Bürgermeisters Jacob 19 Meyer und Frau in Basel (1516). 20-25 Altai bilder (1517—1522). Bild des Erasmus (1523). 25 Erste selbständige Bilder in 22 Mantua. 24 Altarbilder in Sta Croee, Rom. Heilige Dreifaltigkeit, Trans­ 25 figuration, Taufe Christi in der Jesuitenkirche in Rom. 21 Erste datierte Bilder. Darstellung im Tempel (Im Laag 25 1631). Heilige Familie in München. Anatomie (Im Laag, 1631 be­ gonnen). 21-23 Schüler von Franz Hals. Früh weltberühmt. ' 22 Meister der Lukasgilde in Ant­ werpen. Nach Früh berühmt als Schüler Rem­ 20 brandts. Fensterbilder.

3

34

Name und Kunstzweig

Atter

12. Jacob van Ruisdal, holländischer Landschaftsmaler (1629—1682). 13. Gabriel Metsu, holländischer Maler (1630—1667). 14.Jan Vermeer, holländischer Maler. 15. Jacob Jordaens, flämischer Maler (1593-1678). 16.Anton van Dyck (1599 bis 1641), flämischer Maler.

19

17.Velasquez, spanischer Maler (1599—1660).

18. Torquato Tasso, italieni­ scher Dichter (1544—1595).

19.Lope de Vega, spanischer Dichter (1562-1635). 20. Luiz Vaz de CamoeS, Por­ tugals Nationaldichter (1525 bis 1580). 21.1. B. Racine, französischer Dichter (1639—1699).

Art der Leistung

Mitglied der Malergilde Laarlem. Der Sumpf (Eremitage, Peters­ burg). 14 Mitglied der Künstlergilde zu Leiden (1644). 24 Hauptwerk: Trinkszene (Galerie Dresden). 22 Meister der Lukasgilde in Ant­ werpen (1615). 19 Meister der St. Lukasgilde fii Antwerpen (1618). 21 Lofmaler Jakob I. von England. 22 Bild d. Kardinals Bentivoglio; Lalbfiguren der Apostel (1621). Am 20 Volks- und Küchenbilder (Bodegoneillos); Wasserträger (London). 24 Lofmaler; Erste Porträts; Ze­ chende Bauern (Los Barrachos). 17 Epos „Rinaldi" in zwölf Ge­ sängen (1561). 19 Entwurf seines großen Werkes: Befreiung Jerusalems (1563). 13 Erstes Schauspiel: El verdadore amante (1575). 20 Sonette und Elegien. 21

Ode „La nymphe de la Seine“ zu Ludwig XIV. Vermählung (1668). 25 Erstes Trauerspiel „La Thebaide“ (1664). 22.P. Corneille, französischer Lustspiel Melite. 23 Dichter (1606—1648). 25 Clitandre. Lustspiel: Die Witwe. 23. William Shakespeare, Eng­ Erste Schauspiele. 22 lands größter Dichter und 22-34 Kömödie der Irrungen; Verlorene erster Dramatiker der Welt Liebesmüh; Kaufmann v. Ve­ (1564—1616). nedig ; Sommernachtstraum; Ende gut, alles gut; Titus Andronicus, Romeo und Julia. 24. Friedrich Gottlieb Klop15 Plan zum „Messias" (1739). 21 stock, deutscher Dichter (1724 Erste Gesänge des Messias in bis 1803). Prosa. 24 Die drei ersten Gesänge deS Messias in Versform (1748). 25. Gotthold Ephraim Lessing, 17 Erstes Schauspiel: Die junge» Reformator der deutschen Gelehrten; Dramatische Ver­ Dichtung (1729-1781). suche: Die alte Jungfer; Mi­ sogyn.

35

Name und Kunstzweig

Alter

Art der Leistung

Lehrgedicht: „Die Natur der Dinge" (1750); Leldengedicht „Lermann". Der geprüfte Abraham; Lymnen. 20 Fragmente über die neuere deut­ 27.Ioh. Gottfr. Lerder, deut23 sche Literatur (1767). scher Dichter (1744—1803). Kritische Wälder. 25 Lofmusikus in Weimar. 28. Johann Sebastian Bach, deut18 Loforganist in Weimar scher Musiker. 23 Erste poetische Versuche: Joseph 29.Ioh. Wolfgang Goethe, 14 (1749—1832). Belsazar. Die Launen des Verliebten en. Unbemittelten ist es eine schwere Zeit, neben den voll genießenden Kommilitonen muß er darben, im Umkreis der ausgelassenen Freunde mühsam arbeiten, denn ihm sitzt ständig die Not auf den Fersen und drängt zum frühen Examen und der baldigen Anstellung. Darum kann er auch nicht nach Lust und Anlage studieren, sondern hat sich nach den wirtschaftlichen Verhältnissen zu richten, das Studium zu er­ greifen, in dem recht bald eine Anstellung winkt. Er darf auch nicht so selbstbewußt und frei den Professoren gegenüber auf­ treten, denn sie haben als Prüfende, als Gönner, Empfehlende sein künftiges Leben in der Hand. Da ziemt dem armen Schlucker ein bescheiden-sittsames, unjugendlich-stilles Leben mit demütig-dankbaren Verbeugungen, mit klagenden Gesuchen, die den Nachweis der „Dürftigkeit und Würdigkeit" für die

90

notwendigen Stiftungen bilden, die es ja so überreich auf jeder Universität gibt, eine willkommene Beute gerissener Schnorrer und der Notgroschen gequälter Armer. Die Freiheit der Forschung steht erhaben über unseren Universitäten, und im Sinne eines rein technisch gerichteten Geistes besteht sie gewiß zu Recht. Wer aber einmal einen Blick hinter die Kulissen getan hat und sich des versteinerten Gepräges der immer noch halb mittelalterlichen, halb absolutistischen Grundlage der Uni­ versitäten klar geworden ist, wird erkennen, daß sie heute noch ebensowenig wie die Schulen eine sachliche und freie Forschung im strengen Sinne zu geben vermögen. Ich denke nicht daran, die glanzvolle Reihe der positiven Forschungsergebnisse unserer Hochschulen, die vielerlei Fortschritte in der Ausrüstung des Forschungsstoffes zu verkleinern. Technisch und spezialwissenschaftlich wird Ungeheures geleistet, ist hier die Elite-Führer­ schaft vereinigt und ballt sich zu einem verehrungswürdigen Bau menschlicher Leistungskraft zusammen. Es ist aber immer über allem der Geist, den die heutige Jugend verneinen mutz, der Geist der selbstherrlichen Meister­ schaft, der dogmatischen Schule, des Vorrechts und der ab­ solutistischen Tradition. Wie viele wertvolle neue Gedanken haben sich erst gegen die geschlossene Phalanx der Hochschul­ professoren durchsetzen müssen, wie schwer hat es gehalten, diesen und jenen mittelalterlichen und absoluttstischen Zopf abzuschneiden. Wie sehr im Grunde genommen die studenttsche Freiheit ein nachsichtsvoll geduldetes Sichaustobenlassen einer bevor­ rechteten Jugend der herrschenden Stände war und ist ohne wirkliche innere Freiheit, beweist ein Vorgang aus meiner Familiengeschichte, der sich 1818 in der Universitätsstadt Göt° ttngen abspielte. Damals beanspruchte noch — man bedenke: dreitzig Jahre nach der Französischen Revolution und fünf Jahre nach den Befreiungskriegen — jeder junge Student, daß der Bürger, auch der ältere, vor ihm von dem Bürgersteige auf den Fahrdamm auswich. Wie Paul Alpers in der Nr. 7 der Kartell­ zeitung des Sonderhäuser Verbandes deutscher StudentenGesangvereine 1910 Seite 99 über die „Auswanderung der Göttinger Studenten nach Witzenhausen 1818“ berichtet, hat die „Ermordung Kotzebues durch Sand, die darauf folgende Knebelung der akademischen Freiheit und die Vernichtung so

91 vieler blühender, junger Existenzen letzten Endes ihre Ur­ sache in der Ohrfeige, die der Schlachtergeselle Krische am 8. Juli 1818 dem Studiosus Ulrich hinter der Fleischbank auf der Weenderstraße in Göttingen gegeben hat". Dieser Vorgang führte zum Auszug der Studenten nach Witzenhausen und das veranlaßte Kotzebue 1819 zu seinem bekannten öffentlichen Vorstoß gegen die akademische Freiheit, die nur ein Vorrecht zu Liederlichkeit sei. Jener Angehörige meiner Sippe hatte den Studenten Ulrich unhöflich angefahren, weil er bei einem Regenguß einen Jungen mit dem Scheltwort „Schnutjunge" unter dem Vor­ dach eines Schlachterladens beiseite stieß. Der Student ent­ gegnet: „Kerl, dich soll der Teufel holen!" und erhält als Ant­ wort eine Ohrfeige. Deswegen wird Krische zu einem Tag Gefängnis verurteilt. Den Musensöhnen scheint diese Strafe zu gering, sie rotten sich zusammen, stürmen das Krischesche Haus, verwüsten es und nehmen sogar das Dach ab. Militär kommt aus Hannover, die Studentenschaft zieht mit wehenden Fahnen nach Witzenhausen. Nun werden Verhandlungen an­ gebahnt, die Studenten kehren zurück, mein Vorfahr, „der arrogante und hoffärttge Grobian" (so erscheint im studentischen Geist der Bürgerstolz und das starke Rechtsbewußtsein eines Handwerkers), erhält vierzehn Tage Gefängnis bei Wasser und Brot. Der offizielle Bericht von 1818 knüpft an das Urteil die Schlußbemerkung: „Dieses Urteil vereint Weisheit, Güte und Gerechttgkeit in sich." Und das findet man 1910 in einem Kartellblatt deutscher Studentengesangvereine, das sehr viele aus dem Handwerker­ stände stammende Mitglieder enthält, — ohne die geringste kritische Bemerkung über den nach heuttgem Geist geradezu ungeheuerlichen unsozialen Standart jener Zeit!! Dieser Vorgang ist kulturgeschichllich außerordentlich lehr­ reich. Das Mittelalter und die absolutistische Zeit kennen kein Volk, sondern Stände, die sich streng in sich abschließen, nament­ lich die führenden Stände. Von diesem wuchert heute noch viel im Militär, der höheren Beamtenschaft und auch in der studierenden Jugend. Der junge Akademiker hat nach studenttschem, mittelalterlich geleitetem Brauch sich von Eltern und Sippe zu lösen, er ist wie der Soldat, der außerhalb der „Zivilistenblase" steht, von

92 der bürgerlichen Philisterwelt durch sein andersartiges, aka­ demisches Bürgertum geschieden. Unter dem Einfluß dieser Ausschließung vom Volksganzen hat sich immer wieder der viel beklagte akademische Dünkel erhalten, welcher heute noch der Erzielung eines einheitlichen Volksgefühles entgegensteht. Die streberhafte, bevorrechtete und gleichgültige studierende Jugend wird sich der Derbesserungsbedürftigkeit dieser Zu­ stände wenig bewußt. Die große Freiheitswelle der burschenschaftlichen Glanzzeit, die allgemeine Siegesstimmung nach den siebziger Jahren, der romantische Glanz der akademischen Iugendlust wie die ehrwürdige Überlieferung der Hochschulen ließen bei empfänglichen Gemütern, zumal, wenn sie dem ge­ hobenen gesellschaftlichen Kreise entstammten, das Bewußtsein der Volksabschließung und Klassenenge nicht aufkommen. In den letzten Zeiten ist das anders geworden. Dort, wo eine starke Überlieferung wirkt, in den Korps, Burschenschaften und anderen Verbindungen, kommt die neue Zeit mehr in der gemäßigten Form, Beseitigung der Trinkunsitten u. a., zum Ausdruck, — in den traditionell nicht belasteten studentischen Kreisen der freien Studentenschaften, deren Zugehörige in der Aberzahl den unteren, aufsteigenden Schichten entstammen, rührt sich der Geist radikaler Umformung der akademischen Welt. Einen starken Ausdruck hat diesem neuen Geist in dem bekannten Buche „Das Ziel" Leonhard in seinem Beitrag: „Die Sezession der Universität" gegeben, in welchem er be­ sonders das Anrecht der Jugend auf eine bessere Art der wissenschaftlichen Unterweisung betont, als sie heute durch die oft nüchterne und bisweilen gar unfähige oder unsachliche Art der dogmatisch ihre Schule vertretenden Kathederinhaber geboten wird. Jedenfalls macht sich in der heutigen tzochschuljugend in­ folge der Veränderung der gesellschaftlichen Unterlagen eine Gärung geltend, die weder mit den höheren Schulen noch mit den Hochschulen in ihrer jetzigen Form zufrieden ist, — die in der Organisation, im/Verhältnis vom Studenten zum Lehrer, in den Prüfungsordnungen und Zuständen die Kennzeichen der absolutistischen Kulturepoche beseitigt zu sehen wünscht, jede durch Gesinnungswesen und Staatsrücksichten hervorgerufene Einengung verurteilt und die unzeitgemäßen Vorrechte und Standesüberhebungen des „akademischen Bürgers" beseitigt sehen möchte. Wenn ernstlich der Plan angefaßt wird, allen

93 Tüchtigen freie Bahn zu geben, dürfte man allerdings einem weitgehenden Umbau unseres Hochschulwesens nicht aus dem Wege gehen. ■ Wie heftig gerade in den Kreisen der Universitätslehrer infolge des mittelalterlichen Organisationsgepräges der Hoch­ schulen der absolutistische Geist herrscht, haben gerade in den letzten Jahren verschiedene Relegierungen radikal-freiheitlicher und pazifistischer Studenten bewiesen.- Sie haben mit nackter Deutlichkeit hervorgehoben, daß die vielgepriesene akademische Freiheit im Grunde nur ein Palladium mittelalterlichen Ständevorrechts ist, daß die geistige Freiheit auf der Universität so gut wie auf der Schule durch bestimmte Gesinnungsprägun­ gen unerbittlich beherrscht und eingeengt wird. Der führenden Jugend unserer Zeit ist die Aufgabe gestellt» sich wirkliche geistige Freiheit in der wichtigsten, lernenden Lebensepoche' zu erringen. Noch trauriger wie bei der Jugend der „hohen Schule" ist es bei der praktisch tätigen Jugend bestellt. In den tzandarbeiterschichten wühlt der bittere Klassenhaß des sich entrechtet fühlenden Proletariertums, die Kreise mitt­ lerer Berechtigung, die Lehrer, mittleren Beamten schielen neibtfdj auf die unerreichte, akademische Schicht, betonen aber zugleich sehr selbstbewußt ihren höheren kulturellen Standart gegenüber dem tzandarbeitertum. Die akademischen Kreise bil­ den eine geheime Loge des Bildungsdünkels, deren Mitglieder sich den „Halbgebildeten" unendlich überlegen fühlen. Man will dieser allgemein als unheilvoll erkannten Zerklüftung mit der Einheitsschule zu Leibe gehen, in die anfangs alle Kinde* kommen und aus der nur die Begabten zu den höheren Schulen aufiücken sollen. Dieser bürgerlichen Einheitsschule ist neuerdings der Plan der sozialistischen Arbeits- und Einheits­ schule gegenübergestellt, die einen weitgehenden gemeinsamen Unterbau und allgemeinen Schulbesuch bis zum achtzehnten Jahre vorsieht. Dieser Gedanke ist nur erfolgreich, wenn eine vollständige Umwertung der Leistungsbegriffe durchgeführt wird. Heute werden in der allgemeinen Wertmessung nur geistige, künstlerische und besitzende (geldliche) Unterschiede gewürdigt, .wird dagegen nicht die Arbeit ganz allgemein, gleichgültig welcher Art, geadelt und auf die Linie der Entwicklung steigen­ der Güte gebracht. Heute fühlt sich immer der Handwerker

94 und der unvermögende Kaufmann, nun erst der Arbeiter, dem Akademiker gesellschaftlich minderwertig, und letzterer sieht mit dem Blick der selbstverständlichen Hoheit auf jene Bildungs­ armen herab. Nur der große Besitz läßt auch den Mann der höheren Bildung ehrfürchtig werden. Besonders in der Jugend hat er das Gefühl der Auserlesenheit gegenüber der sich ab­ rackernden, unfreien Jugendzeit der Lehrlinge, Unterbeamten und Arbeiter. Man muß beobachtet oder selbst durchgemacht haben, welcher ohnmächtige, fressende Neid, welche hilflose, vergehende Sehnsucht diese Kärrner der lichtarmen Jugend erfüllt, um zu begreifen, welche ungeheure Iugendprobleme in unserer praktisch arbeitenden Jugend der Lösung harren. Viele sind der Ansicht, daß durch die Einführung der Einheitsschule mit vollkommen unparteilicher Auslese der Be­ gabten, sowie durch staatliche Übernahme sämtlicher Unterrichts­ kosten Äne volle, befriedigende Lösung des Erziehungsproblems erreicht werde. So wünschenswert selbstverständlich die Durch­ setzung der Einheitsschule ist, der die überwältigende Mehrheit der neuzeitlichen Erzieher zustimmt, so vermag sie allein doch nicht das Grundproblem zu lösen, das der Beseitigung der kulturellen Vorrechte und Klassengegensätze gewidmet ist. Denn, — bedenken wir doch, daß auf einen Begabten mindestens mehrere Durchschnittsbegabte und stark Unbegabte fallen, wenn man als Begabung die für geistige Dinge ins Auge faßt. Wie geht es aber der Mehrheit der geistig Mittelbegabten und Unbegabten? Auch bei der idealsten Form der allgemeinen Einheitsschule werden sie sich bitter zurückgesetzt fühlen. Die Einheitsschule in dem heutigen System der Arbeitsbewertung kann nur die Bevorrechtung, die heute das Geld und die gesell­ schaftliche Stellung der Eltern schaffen, einseitig auf die Be­ gabung, ein ebenso unverdientes Geschenk wie der reiche Vater, abwälzen, und befriedigt werden kann durch diese Lösung nur der gemütlose Vernunftfanatiker, der mit technischen Verbesse­ rungen das Lebensproblem gelöst sieht. Der Kernpunkt der ganzen Frage, der heute selbst von der fortgeschrittenen Jugend begreiflicherweise noch nicht klar erkannt wird, weil sie zu­ nächst, selber klug, das Aufkommen der Klugen vertritt, ist die radikale Umwertung der Arbeit. Wir müssen endlich aus unserer elenden, auch von der Antike beeinflußten Anschauung heraus, welche die geistige Arbeit der praktischen gegenüber überwertet.

95 Diese Einseitigkeit wird in der Hauptsache dadurch gestützt, daß der übergroßen Mehrzahl der Handarbeiter» Fabrik­ arbeiter, Handwerker, Bauern, — eine zu geringe, lücken­ hafte, sie stumpf und kulturarm lassende Allgemeinbildung ge­ geben wird. Unsere Volksschule gibt ja nur die notwendigsten elemen­ taren Formalien und kann auch nicht mehr geben, da bis zum vierzehnten Jahre das Gehirn nicht aufnahmefähig ist für die eigentlichen Lebensprobleme. Die geistige Iugendausbildung des Handarbeiters beschränkt sich dagegen ganz auf eine spezielle Fachausbildung in den Fortbildungsschulen, in denen oH= gemein belehrende Fragen nur ganz nebensächlich berührt wer­ den. Erst wenn wir allgemein im ganzen Volke ohne Ausnahme eine allen gemeinsame elementare Grundlage des für das neu­ zeitliche Leben Wissenswerten geschaffen haben, wie ich es in meinem Beispiele kürzlich zusammenstellte (S. 80), wenn zu­ gleich ein allgemeiner Adel der Arbeit, ohne Rangordnung nach geistigem- oder praktischem Gehalt, sich durchgesetzt hat, und schließlich, wenn auch das bißchen gesellschaftliche Unter­ weisung, die Kunde des guten Tones, nicht wie bisher einer sogenannten „guten Kinderstube" in übertrieben äußerlicher Form überantwortet wird, sondern als Nebenfach in der all­ gemeinen Iugendbildung in allgemein menschlicher und allen eine Sicherheit des Auftretens verschaffende Form geboten wird, erreichen wir eine beftiedigende Lösung des Problems der Jugenderziehung. Diese letztere Aufgabe ist nicht neben­ sächlich, denn an dem verdrießlichen Proletariergefühl gegen­ über der gesellschaftlich führenden Schicht ist zum erheblichen Teil die gesellschaftliche Unsicherheit schuld. Unser Wissen ist heute schon so ausgebreitet und vielverzweigt, daß eine Uni­ versität, eine allgemeine Beherrschung aller Wissensgebiete keinem Zeitgenossen mehr erreichbar ist. Alles spitzt sich auf Fachwissen zu. Das ist in vielem ein Unglück, weil die ein­ seitigen Fachmenschen immer weniger zu einander finden und sich in die engen Gassen ihres Spezialistentums versammeln, — in einem ein Glück, es schafft nämlich endlich die Möglich­ keiten einer allgemeinen, gleichen Wissensbildung. Unseren Arbeitern und Handwerkern ist es leider viel zu wenig bekannt, wie sehr die von ihnen beneideten Akademiker im allgemeinen Lebenswissen genau so unwissend und unbeholfen sind wie sie selbst. Unser Arbeiter hat eine große Ehrfurcht vor den hohen

96 Schulen, — weil er sie nicht kennt, und brennt danach, wenig­ stens seinem Sohne die höhere Bildung zu geben. Wäre seine Allgemeinbildung nur wenig entwickelt, er würde bald bemerken, wie sein Sohn auf der höheren Schule Sprachfertigkeit mit genau derselben Beziehung zum allgemeinen zeitgenössischen Leben treibt, wie er seine praktische Arbeit verrichtet, — daß er das Wissen vom Leben sich genau wie er selbst suchen muß. Der peinlichste Unterschied unserer heutigen Gesellschafts­ ordnung ist mehr der des Besitzes als der Bildung. Der Kampf um den Ausgleich des Besitzes ist eine politische Angelegenheit des reifen Alters, der Jugend dagegen ist der Kampf um den Ausgleich der Bildung als höchste, eigene, öffentliche Auf­ gabe zugewiesen, er betrifft ihr wichtigstes Lebensbedürfnis, und der erbitterte Zug der vorkämpfenden Jugend wird nicht eher verschwinden, bis hier endlich Gerechtigkeit herrscht. Man täusche sich nicht, die Grundfragen des Lebens sind auf einfache Darstellung zu bringen und so allen zuteil zu machen. Vor allem ist es ein Irrtum, der Sinn für Schönheit, das Gefühl für die Form, sei nur im verfeinerten Leben der be­ mittelten Gesellschaftsschichten möglich. Banausen und Men­ schen ohne jeglichen Formensinn, ohne Verständnis für ästhe­ tische Werte gibt es ebensogut wie solche, die niemals die geheiligten Bezirke echter kosmisch bewegter Mystik betreten. Ein verstehendes Auge für alle großen Lebensworte werden immer nur einige Auserwählte besitzen. Wohl aber ist es möglich, durch eine für alle Jugend gemeinsame Form des Unterrichts in allen dem zeitgenössischen Leben wichtigen Dingen eine allen gemeinsame Plattform der Kultur zu schaffen und daneben in geistigen oder praktischen Dingen, in Kopf- und Handarbeit ein Spezialwissen und eine Entwicklung auf fachliche Qualitätsarbeit zu treiben, die es jedem ermöglicht, in seiner Arbeit Befriedigung zu finden. Per Sprachkundige muß sich dann nur nicht einbilden, daß er im Kulturganzen höher steht wie der, welcher mit vollendeter Sorgfalt einen Eisenbahn­ waggon lackiert oder an einer Schiffswelle poliert. Erst wenn diese Regelung erreicht ist, werden wir ein einiges, in sich geschlossenes Volk, voll lebendiger Quellen natürlich sprudelnder Daterlandsart, in dem jeder seinen ihn befriedigenden Platz findet, ein Volk voll emsigen Schaffens aller Tüchtigen, — dann erst das große deutsche Volk.

97 Derr Kernpunkt des Problems: Jugend und Mer habe ich damit berührt. Es ließe sich noch vielerlei über diesen un­ erschöpflichen Gegenstand sagen, ich will nur an einen wichtigen» besonderen Fall noch anknüpfen, der gerade in Deutschland eine große Rolle spielt und mit der Iugendentwicklung ein bitteres Hemmnis bildet, das ist das Berechtigungswesen und der eng mit ihm verknüpfte Bureaukratismus. Beide haben wohl noch nie so deutlich wie in diesem Kriege ihre innere Unzulänglichkeit enthüllt. Das schon von Wilhelm Ostwald beißend kritisierte Berechtigungswesen ist dadurch so außerordentlich jugendfeindlich, weil es erst nach einer, dem mittleren Leistungsdurchschnitt zugemessenen Zeit­ dauer die Berechtigung zu einer leitenden Aufgabe erteilt. Unter Berechtigungswesen versteht man picht etwa, daß nur der einen verantwortungsvollen Beruf, wie Arzt, Apo­ theker, Lokomotivführer, ausüben darf, der durch eine Prüfung und praktische Nachweise sich fähig für seine Aufgabe erwiesen hat, sondern das System unserer Bureaukratie. Im Grunde vertritt sie ein soziales Ideal, sie will allen Arbeitsgenossen das am Millimetermaß genau bemessene, gleiche Recht zustellen, allen ein Beredlungsbad langer Prüfung und gewissenhafter Pflichterprobung geben. Weil sie dabei an der Verschiedenheit der Leistungsfähigkeit, dem Problem der höchsten Schaffensmöglichkeit achtlos vorbeisieht, wird sie eine Mißgeburt, die durch die Schwächen der niemals sach­ lichen Menschennatur, durch Gönnerwirtschaft, Strebertum, In­ trigen, den Neid, der unter der Tünche der Kollegenschaft wuchert, geradezu unerträglich für jede schöpferische Natur wird. Die viel verschrieene „Ochsentour" gilt nicht nur für die oberen Regierungsbeamten, vielmehr für das gesamte Beamtentum. Bei der Entwicklung unserer gesellschaftlichen Zustände zu Kar­ tellen, Trusten, Großunternehmungen unter allmählicher Auf­ saugung der selbständigen Kleinbetriebe kommen wir in ab­ sehbarer Zeit dahin, daß die Mehrzahl der Berufstätigen als Beamter, Staats-, Gemeinde- oder Privatbeamter tätig ist. So stehen wir vor der riesengroßen Gefahr, daß immer mehr ein lähmender Bureaukratismus den Schaffenstrieb zurückdrängt und immer mehr die Jugend sich abstumpst in der Bewältigung der Klein- und Schmutzarbeit und erst zu höheren Aufgaben aufrückt, wenn dem Gealterten der innere Antrieb zu neuen Dingen ertötet ist. Krisch e, Jugend

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98 Von den Vertretern des Berechtigungswesens wird betont, daß ein tzerausheben der Tüchtigen Neid und Verdrossenheit bei den übrigen erregt und so die Gesamtleistung herabdrückt, daß es bei den großen Unternehmungen unserer Zeit, Eisen­ bahn, Post, Verwaltung, Kartelle, Industriewerke uff., auch weniger auf neue Gedanken als auf gewissenhafte Pflicht­ erfüllung und zuverlässige Ausführung aufgetragener Arbeiten ankommt. Man muß zugeben, daß viel Wahres darin steckt. Dem läßt sich aber entgegenhalten, daß bei der heutigen Wirtschafts­ ordnung die Kinder der Wohlhabenden bereits so gewaltige Vorrechte und Vergünstigungen haben, daß sich mit dem Neid und der Verdrossenheit, welche diese Zustände in tzunderttausendcn junger Seelen einnisten lassen, die mißgünstige Be­ urteilung der Förderung erwiesen Tüchtiger durch Mittel­ mäßige mit falscher Selbsterkenntnis nicht vergleichen läßt. Grundlegend ist doch bei dem ständigen Fluß des Ent­ wicklungsganges aller Dinge in unserem schnellebigen, neu­ zeitlichen Kulturbilde die möglichste Höhe des Schaffens, die Vermeidung des Einrostens, das schnelle Erfassen und Aus­ nutzen aller neuen, zur Mehrerzeugung der Werte geeigneten Verhältnisse. Der Krieg hat es bewiesen, wie unfähig die Bureaukratie und die ObrioLeit mit der heutigen Gliederung nach dem Berechtigungswesen dafür ist. Daß alles Geschaffene nicht in neuerungssüchtigen Experimenten verpufft werden darf, sondern bei der Ausarbeitung und Durchführung gewissenhafter Klein­ arbeit treuer Menschenmassen bedarf» ist gewiß und bleibt be­ stehen bei noch so freier Entfaltung der jungen Tüchtigen. Von ungeheurer Bedeutung wird es sein, wenn die tüchtigen Jugendlichen nicht mehr dem zermürbenden, bureaukratischen Gang überantwortet werden, sondern in voller Iugendfrische große Aufgaben ausführen fönnett. Wie der achtundsiebzig­ jährige Goethe in seiner wunderbaren Klarsicht bekennt: „Junge Männer wollte ich haben, wenn ich ein Fürst wäre, da wäre es eine Lust, zu herrschen und sein Volk vorwärts zu bringen." Wir beobachten die gewaltigen wirtschaftlichen Schöpfungen der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie sind nicht nur wegen der unbegrenzten Fülle von Rohstoffen entstanden. Ver­ folgt man das Leben der erfolgreichen Männer dort, so sieht man, wie sie jung die Flügel regen konnten. Das auffallendste

99 Beispiel des wirtschaftlichen Erfolges neuester Zeit ist der größte Automobilfabrikant der Welt, Henry Ford, dessen Werke mit fünfzigtausend Arbeitern 1917 dreiviertel Millionen Auto­ mobile herstellten. Mit siebzehn Jahren lief er seinen Eltern auf dem Lande fort in die Stadt, um ein technisches Problem zu lösen, und in den zwanziger Jahren war er bereits an der Schwelle seines märchenhaft schnellen Aufstieges. Deutschland mit seinem außerordentlich reichen Vorrat an tüchtigen Köpfen würde ein Mehrfaches wirtschaftlich, technisch, wissenschaftlich leisten, wenn seiner Jugend die Ellbogen frei gemacht würden, wenn sie nicht überall an den Einzwängungen bureaukratischer, obrigkeitlicher, veralteter Art und Ordnung sich zermürben und die edelsten Kräfte vergeuden und abstumpfen müßte. Wer vermag es zu leugnen, daß die kommenden Tage endlich, endlich die Befreiung der Jugend für ein besseres Deutschland bringen müssen? Auf ein Mittel, das hei dem Wege zu diesem Ziele von besonderem Wert sein wird, soll kurz hingewiesen werden, da es einen kräftigen Hebel ansetzen wird, um die jetzt einseitig gefärbte Auseinandersetzung von Jugend und Alter völlig zu ändern: auf die Einführung einer sachlich arbeitenden Jugend­ kunde. Professor Dr. William Stern-Hamburg hat diesen Gedanken in einer Schrift: „Die Iugendkunde als Kulturforderung" (Leipzig, Verlag Quelle & Meyer) vertreten. Diese Iugend-kunde soll „die seelischen Erscheinungen, Fähigkeiten, Ent­ wicklungen, individuellen Verschiedenheiten in Kindheit und Jugend mit den Hilfsmitteln moderner Forschung studieren, chre Abhängigkeit von Vererbung und Umwelt, von Geschlecht und Altersstufe» die Wirkung erziehlicher, unterrichtlicher, sozi­ aler und gesundheitlicher Einflüsse auf die Iugendpsyche im einzelnen untersuchen und auf diese vertiefte Kenntnis dann die praktischen Maßnahmen der pädagogischen Behandlung, der Erziehungsreformen, der Vorkehrungen in Jugendpflege, Für­ sorge, Berufsberatung aufbauen". Me Grundlage dieser seelenkundlichen Behandlung soll das „lebendige Verstehen der anderen Seelen" bilden, kein theoretisierendes Experimentieren. Am Schlüsse seiner Pro­ grammschrift stellt Professor Stern drei Forderungen: Forschungsinstitute für Iugendkunde, jugendkundliche Fach­ männer als beratende Mitglieder der Schulbehörden, die Be7*

100 / rücksichtigung der Iugendkunde bei der Vorbildung der Lehrer­ schaft. Sosehr diese Gedanken auch noch nach der einseitig vom Gesichtswinkel des wohlmeinenden Alters aus gesehenen „Jugendfürsorge" schmecken, auch die radikale Jugendbewegung kann den ersten Teil des Programmes, die Errichtung von Instituten für sachliche Jugendkunde, nur begrüßen. Sie werden das zeitigen, was diese Schrift nur als ein erster, unzulänglicher Versuch anbahnen kann: eine völlige Umänderung der allgemeinen Begriffe von der Jugend, die unverständigerweise bisher einen dunklen, unentdeckten Erdteil in der Welt unseres Wissens bildete. Das neue, viel belächelte Schlagwort von der neuzeitigen „Entdeckung der Jugend" wird eine sehr folgenreiche Betätigung finden. Sache der Jugendbewegung wird es sein, dafür zu sorgen, daß die jetzt anhebende, grundlegende Wissenschaft von der Jugend nicht im einseitigen Gleise des niemals die Jugend­ seelen ganz erfassenden reifen Alters verläuft. Jugendliche selber müssen in die erste Reihe der Forschenden treten. Der Ausbau dieser Institute als wissenschaftlich durchgeführte „Jugendfürsorge" würde schließlich nur eine andere Auf­ machung der bisherigen Jugendfremdheit trotz aller „wissen­ schaftlich betonten Untersuchungsform" Hervorrufen. Diese In­ stitute Müßten auch der Jugend Gelegenheit geben, ihre Welt­ verbesserungsgedanken im Kleinen durchzuproben und dem Ge­ stalt zu geben, was die Iugendseele als Lebensaufgabe in neuer, kühner Prägung aus sich herausholt. Eins kann jedenfalls unsere Jugend, wenn sie den neuen Geist, der hier vertreten wird, als den ihrigen zu bezeichnen vermag, durch Zusammen­ schluß erreichen, daß sie mehr und mehr, anfangs gewiß nur in kleinen Dingen, dann aufsteigend in immer wichtigeren An­ gelegenheiten aus einem Gegenstand der Jugendfürsorge zu einem Mitgestalter der Iugendform emporwächst und als solcher trotz aller Widerstände herangezogen werden muß. Erst dann , wird es nicht mehr in so häßlicher Form wie bisher und heute noch einen erbitterten Kampf, zwischen dem Iugendtrieb der Neuschöpfung und der anerzogenen Kultur des Alters geben. Erst dann können an die Stelle der zer­ störenden Gewalten des Hasses, der Aberhebung, Aberkennung, der inneren Ablehnung die aufbauenden Kräfte gegenseitiger Würdigung und Achtung treten. Bleiben wird bei noch so stolzer

101 Hochsehring der Jugend ihre Bescheidung in Fragen des reifen Alters, da sie freimütig bekennen wird: Wir kennen es ja nicht. Erstehen wird dagegen eine Bescheidung des Alters gegenüber der Jugend: Ihr die Entwicklung in ihrem selbst­ gewollten Sinne freizumachen, nur zu raten und zu warnen vor Dingen, deren furchtbarer Folgewirkuttg sie ins Antlitz blickten, — nicht aber die Jugend aus noch so wohlmeinender Art heraus zu knechten und in die Bahnen ihrer fremden Art zu zwängen. Gewiß wird das Alter immer bereit sein, zu helfen, beim Versagen und Verirren, — wird auch heißes Ringen einsetzen mit demjenigen, der im besinnungslosen Jugendblust ins wilde Verderben rennen will. Doch nur für die Zeit der triebheißen Verblendung, der getrübten Bewußtheit, wie er das ebensogut einem vorübergehend geblendeten Altersgenossen gegenüber tun würde. In allem soll sich zeigen das Suchen und Festigen der Kameradschaftlichkeit, 3n der es immer Geschenke auf beiden Seiten gibt, um deren Wert nicht gefeilscht wird: Hier steht die Jugend mit ihrer Tatkraft, Lebenslust und Lebensbejahung, — dort das erfahrungsreiche Mter mit zahlreichen Einblicken in die verschlungenen Pfade bitterer Lebensprüfungen. Aber allem aber steht das Kopfbeugen des Alters vor der Jugend als dem Leben auf dem Höhepunkt im Sinne der Freude, des Schönheitsrausches: „Wir sind jung, und das ist schön!", stehe die Dankbarkeit für jeden Strahl froher Jugendseligkeit, der verjüngend und wärmend in das eigene, kühler werdende Herz dringt. Aber allem stehe des Jugendlichen Kopfbeugung vor dem, der reich und lebensklug ist und doch nicht protzend gebieten will, vielmehr der Jugend mit der Gebärde des Suchenden naht bei aller Fülle an Rat und Hilfe. Dann wird die Jugend die ersehnte warme Hand der Kameradschaft für den Alteren haben, der nicht mehr vergebens heimlich und schamhaft, unter der rauhen Schale des Ge­ bieters, um Kameradschaft zu werben braucht, wenn seinen Blick vorgeahnte Todesschatten zu trüben beginnen. Dann steigt die wehquellende, hingebende Liebe zum Alter auf, das so reich an der Fähigkeit der Mitfreude ist, daß es aus junger Hand neue Gaben nimmt, sich selbst überwindet und das junge Schöpferische entsagend krönt, — die Liebe und

102 letzten Endes doch die freie, innerliche, ganze Verneigung vor dieser höchsten Seelengröße, die sie nur ahnen als ein spätes Ziel, die sie umweht wie ein heiliger Hauch aus ewigen Gründen.

Jüngling und Jungfrau. Dieser Abschnitt wird nur einige kurze Andeutungen bringen können, denn die grundsätzlichen Dinge des Geschlechtsproblems sind so verwickelt und schwerwiegend, daß sie der Behandlung durch eine besondere Arbeit bedürfen. Es gab eine Zeit, sie liegt knapp hinter uns, in welcher der Begriff des Jünglings» des geschlechtlich ausreifenden, enthaltsamen jungen Mannes, geradezu eine lächerliche Unmöglichkeit war. Es gibt einen zweifelnden Spott, der auch die Auffassung der Jungfräulichkeit anätzt. Viele sind der Ansicht, daß Jugend ohne Austragung nichtehelicher, geschlecht­ licher Wünsche auf beiden Seiten nicht möglich ist. Eine Art Fatalismus ergriff diejenigen, die zu scharfsinnig waren, um sich durch das übliche Versteckspiel der Dinge täuschen zu lassen. Erst ganz neuerdings beobachten wir kraftvolles Vorgehen gegen diese zweifelsüchtige, verneinende Art des Urteils.

Nicht ernst zu nehmen ist natürlich jeder noch so gut ge­ meinte Sittlichkeitsprediger aus einseitig ethischen und über­ lieferten religiösen Erwägungen. Nur, wer mit der Rüstung des Wissens von körperlichen und seelischen Dingen, sachlich wertend und beobachtend, ohne Ballast irgendwelcher Vor­ schriften, welche sein wissenschaftliches Gewissen lenken wollen, vorgeht, erhält die zutreffende Grundlage. Es gibt nicht nur Glaubensknebelungen, mystifizierende Verblendungskünste, — es gibt auch Scheuklappen der Wissenschaftlichkeit, kritikloses Nachbeten eines Meisters, eines Systems, einer Richtung. Eine solche Richtung vertritt auch jener Fatalismus: die Geschlechtlichkeit der Jugend sei so stark, daß das Problem ihrer ausschließlichen Einmündung in die aus sozialen und ethischen Gründen gebotene Ehe unmöglich sei. Für den triebkräfttgen Jugendlichen gebe es nur die Auslösung des Triebes (Verhältnis, Dirnenverkehr) oder die unnatürliche Befriedi­ gung, die man mit dem alttestamenllichen Geiste heute Noch Selbstbefleckung zu nennen pflegt.

102 letzten Endes doch die freie, innerliche, ganze Verneigung vor dieser höchsten Seelengröße, die sie nur ahnen als ein spätes Ziel, die sie umweht wie ein heiliger Hauch aus ewigen Gründen.

Jüngling und Jungfrau. Dieser Abschnitt wird nur einige kurze Andeutungen bringen können, denn die grundsätzlichen Dinge des Geschlechtsproblems sind so verwickelt und schwerwiegend, daß sie der Behandlung durch eine besondere Arbeit bedürfen. Es gab eine Zeit, sie liegt knapp hinter uns, in welcher der Begriff des Jünglings» des geschlechtlich ausreifenden, enthaltsamen jungen Mannes, geradezu eine lächerliche Unmöglichkeit war. Es gibt einen zweifelnden Spott, der auch die Auffassung der Jungfräulichkeit anätzt. Viele sind der Ansicht, daß Jugend ohne Austragung nichtehelicher, geschlecht­ licher Wünsche auf beiden Seiten nicht möglich ist. Eine Art Fatalismus ergriff diejenigen, die zu scharfsinnig waren, um sich durch das übliche Versteckspiel der Dinge täuschen zu lassen. Erst ganz neuerdings beobachten wir kraftvolles Vorgehen gegen diese zweifelsüchtige, verneinende Art des Urteils.

Nicht ernst zu nehmen ist natürlich jeder noch so gut ge­ meinte Sittlichkeitsprediger aus einseitig ethischen und über­ lieferten religiösen Erwägungen. Nur, wer mit der Rüstung des Wissens von körperlichen und seelischen Dingen, sachlich wertend und beobachtend, ohne Ballast irgendwelcher Vor­ schriften, welche sein wissenschaftliches Gewissen lenken wollen, vorgeht, erhält die zutreffende Grundlage. Es gibt nicht nur Glaubensknebelungen, mystifizierende Verblendungskünste, — es gibt auch Scheuklappen der Wissenschaftlichkeit, kritikloses Nachbeten eines Meisters, eines Systems, einer Richtung. Eine solche Richtung vertritt auch jener Fatalismus: die Geschlechtlichkeit der Jugend sei so stark, daß das Problem ihrer ausschließlichen Einmündung in die aus sozialen und ethischen Gründen gebotene Ehe unmöglich sei. Für den triebkräfttgen Jugendlichen gebe es nur die Auslösung des Triebes (Verhältnis, Dirnenverkehr) oder die unnatürliche Befriedi­ gung, die man mit dem alttestamenllichen Geiste heute Noch Selbstbefleckung zu nennen pflegt.

103 Verdienstvoll ist die Tätigkeit einer Reihe sachkundiger Forscher, namhafter Mediziner und Pädagogen, welche sich gegen diesen Fatalismus wenden und die Lösbarkeit des Pro­ blems vertreten. Ich nenne da nur die Arbeit von Dr. tz. tzinzelittotin: Zur Sozialethik des gebildeten jungen Mannes. (Bonn, Verlag Friedrich Cohen 1917.) Rach ihm sind die „Aussichten der Bestrebungen, die allein von einer Vertiefung des reli­ giösen oder des philosophischen Lebens das Heil erwarten, als düster zu bezeichnen". Um so mehr ist zu erwarten von einer „systematischen, umfassenden und sorgfältig aufgebauten Ge­ schlechtskunde". Ihre Durchführung wird erhebliche Verände­ rungen in der gegenseitigen Stellung von Jüngling und Iungfrau'zur Folge haben. Das Ideal der früheren Zeit, die alles geschlechtliche Wissen der Jugend möglichst lange vorenthielt, war ein wechselseitig verstiegenes Wesen: für die jungen Mädchen der „keusche Held", für die jungen.Männer jenes „Gebild aus Himmels­ höhen", das Schiller in seiner „Glocke" schildert. Inzwischen braute sich aus dem heftigen eigenen neuen Triebe, der Be­ obachtung der Tierwelt, dem durch geheime, schmutzige Kanäle zugeführten Teilwissen etwas Peinliches zusammen, mit dem die erschütterte feinfühlige Seele schwer zu ringen hatte. Die von der neuzeitlichen Erziehungskunde vertretene ziel­ bewußte, klare Einführung in die Geschlechtsfragen wird an Stelle der alten, katastrophalen, verwüstenden oder vom Leben asketisch fortführenden Art einen ruhigen Entwicklungsweg zeitigen. Fehlen wird die Blasiertheit und Abgelebtheit moderner junger Männer, die schon „alles hinter sich haben" und durch die Erniedrigung ihres Geschlechtslebens, durch frühzeitige Aberspannung ihrer Nerven, durch vorzeitige Entgötterung aller jugendlichen Ideale sich der besten Gaben ihrer Jugendlichkeit entäußert haben. Fehlen wird auch der junge Mensch, der verwirrt mit den unverstandenen neuen Kräften seines Trieb­ lebens ringt, der im alkoholischen Rausch oder im Aberfall einer drängenden Stimmung nicht die Hemmungen hat» welche allein die klare Einsicht in die Verantwortlichkeiten und Fol­ gen, eine eingehende Beschäftigung mit den vielerlei Fragen der Geschlechtskunde verschafft. Diese wird eine neue Form der innerlich Erregten erstehen bissen: eine das Geschlechtliche gegenseitig in feinsten seelischen und triebhaften Schwingungen

104 auslösende Befangenheit der wissend Unerfahrenen, ein zag­ haftes Zutasten und ängstliches Abwehren mit all beip süßen Zauber, das junge Liebe im guten Sinne erfüllt und zum köstlichsten Erlebnis gestaltet. Jene oberflächlichen Stimmen, die früher, namentlich bei den jungen Mädchen, das Nichtwissen verlangten, um den „Zauber der Unberührtheit und Ahnungslosigkeit" zu erhalten, sind ja schon mundtot gemacht. Es bedarf hier darum nicht längerer Beweisführung über die Grobschlächtigkeit einer An­ schauung, welche mit der Zunahme des menschlichen Wissens ein Verschwinden ethischer und ästhetischer Werte befürchtet. Allerdings ist die Lösung des Problems einer geschlechts­ reinen Jugend nicht lösbar mit der heutigen Jugend, d. h. der Jugend der einseitigen Männerkultur, auch nicht sogleich lösbar, weil es unendlicher aufbauender Arbeit bedarf, und lösbar auch nur dann, wenn an die Stelle der Spätehe des Mannes die Iugendehe tritt. Bedenken wir doch, was hinsichtlich des Geschlechtslebens der Jugend die bisherige Männerkultur bedeutet. In ihr sind die Männer allein diejenigen, welche die Ordnungen und Gesetze schaffen. Unter den tonangebenden Kulturnationen hat der Vaterschaftsgedanke gesiegt, welcher ursprünglich von der biologisch unhaltbaren Vorstellung ausgeht, daß der männ­ liche Same der ausschlaggebende, alleinige Lebenskeim sei, der im Schoß der Frau, wie in einem Gefäß, aufwachse. Die Frau ist im Grunde nur ein schönes Tier, geistig ein weiches Stück Wachs für die formende Hand des kraftvollen Mannes, ihm »zugegeben" und „untertan" als Spielzeug, Zeitvertreib, Lust­ auslöser, Fruchtträger und Arbeitstier. Dieses Grundlegende der Vaterschaftsvölker, anfänglich in brutaler Form ausgedrückt, blieb bis auf den heutigen Tag erhalten» und ihre Träger sind die fortschreitenden Völker geworden. Aus dieser oberflächlich beobachteten Tatsache haben die Verfechter der Männerkultur immer deren Berechtigung hergeleitet und tun es noch heute. Es ist hier nicht der Platz, diese schwierige kulturgeschichtliche Frage ausführlich zu behandeln. Beide Anschauungen, sowohl die des Vaterschaftsrechtes wie das bisweilen ältere des Mutterschaftsrechtes sind aus den Anschauungen uralter, primi­ tiver, naturkundlich auf einfacher Erkenntnisstufe stehenden Zeiten entstanden. Die Mutterschaftsanschauung, die vom weib­ lichen Ei des Menschen nichts wußte, betrachtete bei der all-

105 gemeinen Permischung in geschlechtlichen Dingen und der daraus folgernden Unsicherheit der Vaterschaft den Schoß der Mutter als das ausschlaggebende Keimbett neuen Lebens. Die Mutter stand darum in nächster Verbindung zum Kinde, und Kinder gleichen Mutterschoßes, echte Geschwister, bildeten nähere Verwandtschaft wie Vater und Sohn. Man sprach von Blutsverwandtschaft, zurückgehend auf das gemeinsame Blut einer Mutter, das jede ihrer Leibesfrüchte durchströmte. Auch das Vaterschaftsrecht weiß noch nichts vom Ei des Weibes. Durch festere Geschlechtsverhältnisse hat der stärkere Vater seine Verwandtschaft geschützt, und in seinem siegenden Gedankenkreise ist unter den veränderten Geschlechtsverhält­ nissen der Same des Vaters das Ausschlaggebende.' Wegen des Fortschritts im Geschlechtlichen, in der veränderten Ord­ nung der Gesellschaft, die sich nicht mehr um eine Stamm­ mutter, sondern um den Stammvater scharte, konnte die Kultur sich besser entwickeln als in der Mutterschaftsordnung. Aber auch der Vaterschaftsbegriff, aufgebaut auf der sachlich unzutteffenden Aberwertung des männlichen Samens, erweitert in ständiger einseitiger Männerkultur, kann nur eine Vorstufe primitiver Art gegenüber der biologisch einzig begründeten Auffassung der gleichmäßigen Bewertung vom Männlichen und Weiblichen sein, die beide in gleicher Stärke vereint das Keim­ wesen eines neuen Lebens ergeben, welches vorberettet alle Dinge enthält, die beim Wachstum nach und nach zutage treten. Man sieht, wie ungeheuer weitttagend für Grundanschauun­ gen neue, naturwissenschaftliche Einsichten sind, und es er­ scheint mir immer rätselhaft, daß aus übertriebener Bedenklich­ keit und Ängstlichkeit, aus Mangel an Kraft und Mut zu durchgreifenden Folgerungen so wenig kulturelle und ethische Forderungen aus neuen wissenschaftlichen Einsichten gezogen werden und immer noch die in primitiven Zeiten, auf un­ zulässigem Wissen begründete Ethik künstlich aufrecht erhalten wird, immer noch unser öffentliches Leben beherrscht und daher mehr und mehr die Wissenden den großen Strömungen der Kultur und Ethik entzieht und sich gegen die Mitwelt ver­ kapseln läßt. So ist die Frau seelisch verkettet im jahrtausendealten Geist des Nießbrauchwesens, der sklavischen Unterwerfung, die Ausflüchte sucht nach Art aller Dienenden. Das echt Wei^

liche wird bezeichnenderweise mit Vorliebe „Hingabe" genannt,

106 und wirklich ist die weibliche Seele im Laufe der Zeit, gefördert durch die duldende Geschlechtslage der Weibchenart, mit dem Geist dieser im Erobertsein Lust empfindenden Hingabe erfüllt. Es gab immer nur eine Art Meyschen, den Mann, und ein ihm ähnliches Wesen zweitklassiger Art, das Weib. Der niedrigste Mann mußte sich stark überwinden, ehe er einem Weibe gehorchte. Selbst die männliche Spielerei des Minne­ dienstes, bisweilen eine echte Flamme mystischer Erotik, war in der Regel mehr eine Art geschlechtlicher Äberekstase oder Verirrung masochistischer Art, denn sie war nur eine Unter­ werfung in erotischen Dingen. Auch die dem Minnedienst Beflissenen blieben sonst die üblichen Herren und Männer gegenüber dem weiblichen Gesinde und der freien Weiblichkeit» die mit ihrer standesgemäßen Erotik nichts zu tun hatte.

An den Jüngling und die Jungfrau unserer Zeit, die im Geiste der neuen Einsichten und Kenntnisse ihr Leben zimmern wollen, tritt die große Aufgabe heran, die Kulturwelt aus der primittven Stufe des Vaterschaftsrechtes in die biologisch be­ gründete Ara der Bollmenschlichkett von männlichem und weib­ lichem gleich starkem und gleich gewertetem Einschlag überzu­ führen und so endlich das gesamte Kulturempfinden aus dem bisherigen unzeitgemäßen Zwang der Männereinseittgkeit zu erlösen. Diese Aufgabe umschließt ein geschlechttiches, wirt­ schaftliches, geisttges und seelisches (Gemeinschafts-) Problem.

Das geschlechtliche Problem fordert vor allen Dingen eine Befreiung von der Schmutzerei der sinnlichen Kasteiung, wie sie asketische Religionsforderungen enthalten, sowie von der Zwangsvorstellung, daß eine geschlechtliche Enthaltung, mög­ lichst bis zur Ehe, jedenfalls bis zur vollen geschlechtlichen Ausreifung des Körpers nicht möglich sei. Dazu brauchen wir eine Loslösung von der weder durch die Völkerkunde noch durch die Tierkunde gestützten Auffassung vom „ewigen Magdtum des Weibes", wie es Dichterblick so oft mit scheinbarer Er-, lauschung der tiefsten Lebens triebe geschildert hat. Wir brauchen die Loslösung von dieser primittven Auf­ fassung, die nur durch das Aufsteigen der Menschen aus Horden entstanden ist, in welchen die rohe Kraft des stärksten Männchens sich besondere Geschlechtsherrschaft schuf, wie sie in der Natur die gleich gesellschaftlich gegliederten Herdenttere haben. Wir brauchen die Loslösung von diesem geschlechtlich

107 entarteten Herdentiertum zu dem der zweiköpfigen Kamerad­ schaft, wie wir sie bei vielen besonders hoch entwickelten Tieren, zahlreichen Vögeln z. B. finden, die paarweise leben und nichts von Magdtum des Weibchens wissen.

Wir brauchen ferner die Vertiefung des geschlechtlichen Problems durch die kosmisch-mystische Vertiefung des Lebens, wie sie Dr. Verwehen einmal treffend in folgenden Worten kennzeichnet: „Das Leben und Weben im All, die lebendige Versenkung in die Wunderwelten des Größten und Kleinsten, das Sichhinein-Fühlen in den Organismus 'des Kosmos, dazu die innigste, seelische Zwiesprache mit einem geliebten Menschen­ wesen, die höchstmögliche Verschmelzung mit ihm bietet auch dem modernen Menschen Kraft- und Glücksquellen, aus denen er nur in gesunder Weise zu schöpfen verstehen muß." Das Aufblühen des Geheimnisses und größten Wunders aus dem Keimleben zum Menschen eigenen Fleisches und eigener Seele und die seelische Vermählung mit einem treuen Lebenskameraden sind die beiden Höhepunkte eines vor dem Mysterium dieses Höchsten sich still verneigenden Menschen, um die er alle großen Dinge des Lebens gern hingibt. Die zu solcher Tiefe des Erlebnisses geleitete Geschlechtlich­ keit kennt kein Wegwerfen und scheut innerlich vor dem Be­ schmutzen zurück, kennt auch nicht die leichte Art der erotischen Anknüpfung und sucht in deutlichem Bewußtsein dieser höchsten Lebensaufgabe mit ihrer Verantwortlichkeit für Lebenszeit und über das eigene Leben im Erbgut von Kind und Kindeskind hinaus den bewährten, sicheren Kameraden, sucht und prüft und sucht.

So drängend, namentlich in der Jugend, der Trieb sein mag, der Mensch mit den Kenntnissen der Geschlechtskunde und einem inneren Ideal zur Kameradschaft kann nicht wie das in der Brunst vom Trieb gepeinigte Tier über jedes andersgeschlechtliche Tier herfallen, sich ihm kritiklos ergeben. Ihm ist das Geschlechtliche nur in Höhepunkten des Lebens die starke Note, — die er weder zur Gasse erniedrigt noch zum Alltag herabwürdigt, — sowohl aus vernunftgemäß hygienischen und wirtschaftlichen Gründen wie aus den tieferen Bedürfnisen des Gemüts. Denn das außerhalb der erotischen Ekstase

108 verlaufende Leben ist nur erträglich, wenn es nicht geschlechts­ betont ist. Das wirtschaftliche Problem der Gleichstellung der Frau hat durch den Weltkrieg Fortschritte gemacht, die man vor ihm nicht für möglich gehalten hätte. Obwohl manche, die von den eingestellten Schaffnerinnen, Postaushelferinnen, Munitions­ arbeiterinnen und all den weiblichen Kriegshelfern genau die­ selbe Art der Berufsführung wie von den eingearbeiteten, durch Sitte, Art der Männerkultur u. a. begünstigten Männern verlangten, sich über jedes Versehen, jedes „unzünftige" Benehmen aufregten, hat doch eine sachliche Beurteilung an­ erkannt, daß sich das frühere Vorurteil von der Minderwertig­ keit der Frau nicht aufrecht erhalten läßt. Allerdings gab es immer schon große politische Parteien, wie die Sozialdemo­ kratie, die theoretisch den Standpunkt der Gleichberechtigung der Frau vertraten. Die Praxis litt allerdings auch in diesen Kreisen oft infolge wirtschaftlicher Bedenken, welche in der Frau die Lohndrückerin sahen. Das allmähliche Eindringen der Frauen in die früher allein vom Manne getätigte Berufs­ arbeit brachte zudem viel Gegnerschaft gegen die Frauen­ bewegung infolge der Konkurrenzgefahr und der Steigerung des Angebotes. Namentlich in den Kreisen der Angestellten, der Handlungsgehilfen, der Staats-, Gemeinde-, Bank- und Privatbeamten, eines in Deutschland Millionen Köpfe umfassendeir Heeres, findet man allgemein eine Abneigung gegen die Mitarbeit der Frau. Sehr richtig kennzeichnet C. Emont, einer der Führer der Bankbeamtenbewegung, die Engherzig­ keit und Kurzsichtigkeit dieser Auffassung im Organ des All­ gemeinen Verbandes der Deutschen Bankbeamten, indem er am Schluß seiner Ausführungen sagt: „Nicht die Konkurrenz der Geschlechter ist die Losung der kommenden Zeit, sondern der organisatorische Zusammenschluß beider zur solidarisch han­ delnden Einheit." Die nächste Zeit bringt soviel wirtschaftliche Aufgaben, daß wir die hauswirtschaftliche Beschränkung der Frauen, die Energieverschleuderung ihrer Arbeitskraft in umständlichen und überflüssigen Hauswirtschäftsangelegenheiten nicht mehr, ge­ statten können. Wir werden nicht genug wirtschaftlich tätige Arbeitsgenossen bekommen können bei dem gewaltigen» Jahr­ zehnte umfassenden Wiederaufbau der durch den Weltkrieg zerstörten Werke, dem Wiederaufbau und der Erweiterung

109 und Verbesserung dessen, das vor dem Kriege blühte. Dazu regt es sich überall an neuem Wollen und Planen. Das Volk mit dem arbeitsfreudigsten Heer zielbewußter Hand- und Kopf­ werker wird die beste Zukunst haben. Notwendig ist vor allem eine ungeheure Zunahme der heute, namentlich in Deutsch­ land, noch winzig kleinen wirtschaftlichen und politischen Organi­ sationen der Frauen. Endgültig verschwinden muß die Harems­ stau mit ihren Ränken und kleinlichen Behandlungskünsten gegenüber dem männlichen Gebieter. Die Jugend wird am ehesten sich in die neue Einstellung finden und daraus ein neues Verhältnis von Jüngling und Jungfrau aufbauen. Im Banne der MLnnerkultur zeigt die Seele der Frau, ihre geistige Regsamkeit den Typus der versklavten Psyche, verstärkt durch Naturanlage des geschlechtlichen Erobertseinwollens. Deshalb die weibliche Kunst der Andeutung der Dinge, des tzerumredens um peinliche Offenheiten, des öffent­ lichen Sichfügens und geheimen Durchsetzens eigener Wünsche auf Umwegen, durch geschickte Ausnutzung männlicher Launen und Wünsche, geeigneter Stimmungen des Gebieters. Darum das Geheimhalten der inneren Trieb- und Wunschwelt unter der lächelnden Maske der Dienenden. Daher aber auch alle die bissigen Beobachtungen männlicher Denker über das kurz­ beinige, langhaarige Geschlecht minderwertigen Geistes, zu dem der richtige Mann mit der Peitsche - geht (Schopenhauer, Möbius, Nietzsche, Strindberg), — Beobachtungen, die einsame Männer an Beispielen besonders ausgeprägter Opfer unserer Männerkultur (Dirnen- und oberflächlicher Weibchennaturen) genossen haben, und die manchen Mann, selbst mancher Frau bestärkt erscheinen durch die Kulturgeschichte, die auf hundert hervorragende Männer kaum eine bedeutende Frau zählt.

Jetzt endlich wird eine neue Zeit, beim Ausklingen jener heftigsten Weltdurchschüttelung, die der große Krieg brachte, sich durchsetzen. Allerdings wird in den nächsten Jahrzehnten der die Kame­ radin suchende junge Mann noch viel unter dem aufgenötigten Magdtum des Weibes leiden, das nicht von heute auf morgen beseitigt werden kann. Doch überraschend schnell werden, wie das bisher jede steiheitliche Erschütterung zeigt, die echten Kameradinnen in der nächsten Zeit an Zahl zunehmen. Sache

110 der Jugend, unserer zielbewußten Jünglinge und Jungfrauen, ist es, der Vorkämpfer solcher Kameradschaft, solchen neuen freien Weibtums zu sein, das endlich ledig der männlichen Zwangsrichtung all die Gaben entfalten kann, die ihre weib­ liche Art aufzubieten vermag. Auch Reaktionen, wie der jetzt gerade bei einigen neugeistigen männlichen Jugendlichen in Mode befindliche „Antifeminismus", werden überwunden wer­ den. Solche und ähnliche Rückläufe der Enttäuschung und einer einseitigen Einstellung männlich-handelnder Geschlechts- und Tätigkeitsart wird es in dieser und ähnlicher Form noch öfter geben. Sie werden auch sehr wissenschaftlich, sehr geistreich an­ muten und trotzdem den Ursprung enttäuschter Liebe, geknickten Zuvielwollens dem kundigen Beobachter nicht verschließen können. Siegen wird letzten Endes doch die Gläubigkeit, die aus unbefangen beobachteten Tatsachen des Lebens aufsteigt. Es werden nicht mehr die jungen Männer allein die Neu­ schöpfer der großen 'Dinge sein, — die große Zeit des schöpfe­ rischen Weibes muß kommen, die schöpferische Zeit, die an Stelle großer einsamer Dinge die Gemeinschaft setzt, denn alles Bedeutende dieses neuen Weibtums wird das Natürliche, ewig Mütterliche, die Liebe bleiben. Da werden es die großen neuen Offenbarungen einer naturverwachsenen, darum nicht nur allmenschlichen, sondern alle Wesen umfassenden Liebe sein, die aus dem geöffneten Born der Urmutterschaft des Weibes quellen und das schaffende Leben aus der kriegerischen tzeldenfanfare des Mannes zum brausenden Orgelakkord dröh­ nenden Erdstampfens, lieblichen, blumengeschmückten Kinder­ spiels und besinnlicher und jauchzender Menschenstimme er­ weitert. Und nicht nur bei den Wenigen, deren Leben begnadet ist wie das eines Goethe, wird es, mit einem schwingenden Nach­ hall durchs ganze Leben, aus übervoll glücklichem Herzen heißen: „Wir sind jung, und das ist schön!" In der letzten Höhe ist es dann das hohe Lied der Gemein­ schaft von Jüngling und Jungfrau. Sie unterliegen dem elemen­ taren Zug des Zwanges zueinander, der nicht nur dem Ge­ schlechtlichtriebhaften, sondern auch dem seelischen Einssein zu­ strebt. Ihnen können die zermürbenden eigenwilligen Kleinlich­ keiten des Alltags noch nicht die gläubige Stimme zerstören,



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die nach dem harmonischen Einsmenschen der kameradschaft­ lichen Ehe ruft. Die Iugendehe der nach reiflichster Prüfung zur Kamerad­ schaft Geeigneten wird das höchste Ziel der neuen Jugend sein, die sich' mit heiliger Inbrunst in den großen Kampf um neue, schöne Lebensformen stürzt.

Don

Paul

Arische

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Worte, Werte, Werke.

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