Die Jugend der Literatur: Literarische Entwürfe von Jugend 1830–1950 [1 ed.]
 9783737015646, 9783847115649

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Jugendbewegung und Jugendkulturen Schriften

herausgegeben von Meike Sophia Baader, Karl Braun, Wolfgang Braungart, Eckart Conze, Carola Dietze, Gudrun Fiedler, Alfons Kenkmann, Michael Philipp, Dirk Schumann, Detlef Siegfried für die »Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung«

Band 20

Rainer Kolk

Die Jugend der Literatur Literarische Entwürfe von Jugend 1830–1950

V&R unipress

Finanziert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst

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Inhalt

1. Jugend als Schlagzeile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Die Jugend der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Junges Leiden. Anfänge im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Rousseaus »Émile« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Goethes »Werther« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Neue Ufer? Lebenslauf und Jugend 1830–1890 . . . . 4.1 »Junges Deutschland« . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Gegenrede: Droste-Hülshoffs »Die Judenbuche« . 4.3 Lebensläufe. Die Grimms, Heine, Gutzkow . . . . 4.4 Realismus: Ordnung statt Krise . . . . . . . . . .

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5. Konjunkturen um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Emphase und Kommentar: Hermann Hesses »Unterm Rad« und Robert Walsers »Jakob von Gunten« . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Erziehung – welche? George und Rilke . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Wechsel der Blickrichtung. Heinrich Manns »Professor Unrat« . 5.4 Einspruch gegen die Jugend. Musils »Törleß« . . . . . . . . . . .

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7. Jugend und/als Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Disziplinierung und Neustart: 1920–1950 . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die 1920er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 »Dieses junge siegreiche Deutschland«. Traditionen und Aspekte des nationalsozialistischen Jugendkonzepts . . . . . . . . . . . . 6.3 Alles auf Anfang? ›Jugend‹ in literarischen Texten nach 1945 . . 6.3.1 Jugend als Freiheit. Alfred Andersch . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.

Jugend als Schlagzeile

»Die Generation Corona, die ja auch die Generation Klimakrise ist, muss lernen, ohne Kompass auszukommen«, so ZEIT.de am 1. November 2020 unter dem Titel »Jugendliche in der Corona-Krise: Jungsein ohne jung zu sein«.1 Neben der beliebten Erfindung immer neuer Generationen, von der »Generation X« über die »Generation XTC«, die »Generation 1989«, die »Generation Praktikum« bis zur »Generation fridays for future« 2019 hat sich nun die Generation für 2020 gefunden, die mit der vom Vorjahr allerdings identisch ist. Und mit gleicher Geschwindigkeit finden sich die passenden ›Krisen‹, deren Ausrufung sich nach der »9/11-Krise«, der Banken- und Finanzkrise 2008, der »Flüchtlingskrise« 2015 und der »Klimakrise« mit der »Corona-Krise« des Jahres 2020 zu einem medialen Dauerbrenner entwickelt. »Generation Corona«2 also nunmehr als Bezeichnung für die jungen Erwachsenen, die sich nicht in geplanter Weise im Arbeitsmarkt etablieren können: »Ich muss mich komplett neu sortieren«, so ein Interviewpartner. Die Krise ist unsere ständige Begleiterin. Die Kulturwissenschaften haben sich der Krisendiagnosen angenommen und auf ihre historische Konjunkturen aufmerksam gemacht.3 In der Literaturwissenschaft ist der Verweis auf die »Sprachkrise« am Beginn des 20. Jahrhunderts, die ihren bekanntesten Text in Hofmannsthals »Ein Brief« hat, ebenso selbstverständlich wie der auf die »Krise des Romans«, die Otto Flake 1922 konstatiert, 1 https://www.zeit.de/campus/2020-10/jugendliche-corona-krise-feiernabiturstudium-berufsein stieg/komplettansicht. [28. 03. 2022] Im Untertitel heißt es dann: »Dabei verzichtet in der Pandemie eine ganze Generation gerade auf ihre Jugend.« 2 »Generation Corona. Jung, motiviert – abgehängt?«, in: spiegel-online vom 22. 05. 2020 https:// www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/generation-coronajungmotiviert-abgehaengt-a-00000000 -0002-0001-0000-000171037308 [28. 03. 2022]. 3 Exemplarisch: Carla Meyer, Katja Patzel-Mattern, Gerrit Jasper Schenk (Hg.): Krisengeschichte(n). »Krise« als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart 2013; Laura Kohlrausch, Marie Schoeß, Marko Zejnelovic: Krise. Mediale, sprachliche und literarische Horizonte eines viel zitierten Begriffs, Würzburg 2018; Klaus Kempter, Martina Engelbrecht (Hg.): Krise(n) der Moderne. Über Literatur und Zeitdiagnostik, Heidelberg 2021.

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Jugend als Schlagzeile

um sie dann mit Döblin, Musil und anderen Vertretern der klassischen Moderne als Signatur der Epoche zu verstehen, die rapiden gesellschaftlichen Wandel, großstädtische Reizüberflutung, Modernität und politische Polarisierung ebenso umfasst wie den Verlust bislang selbstverständlicher Weltdeutungsmodelle und Schreibweisen. Es ist kein Zufall, dass im eingangs zitierten Artikel Krisenfolgen am Beispiel von Jugendlichen demonstriert werden. Jugend und Jugendlichkeit avancieren im 20. Jahrhundert zu zentralen Elementen gesellschaftlicher Selbstreflexion jenseits biologischer, medizinischer, pädagogischer oder psychologischer Befunde. In den folgenden Überlegungen soll sich zeigen, dass die Rede über Jugend in literarischen Texten einen prominenten Ort hat, an dem es nicht nur um die Erfindung für die Lektüre interessanter Lebensläufe geht. Vielmehr thematisieren diese narrativen Konstruktionen Prozesse gesellschaftlicher Veränderung, die über die literarischen Protagonisten und ihre fiktiven Biographien hinaus Relevanz aufweisen. Die einzelnen Kapitel konzentrieren sich in den Analysen ausgewählter Texte auf den Zeitraum zwischen 1830 und 1950. Dabei soll es nicht um eine gleichmäßige Erschließung und Darstellung möglichst vieler ›Jugend-Texte‹ gehen, sondern darum, markante Konstellationen der literarischen Rede über diese Lebensphase zu benennen. Sie wird um 1900 bereits zu einem Kardinalthema verschiedener Disziplinen, um dann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in ihren jeweiligen Zuschreibungen geradezu zu einer Leitsemantik für gesellschaftliche Selbstbeschreibungen zu avancieren. Und hierin trifft sie sich mit den mäandrierenden Krisendiskursen, wie im Schlusskapitel gezeigt werden soll: Jugend in ihrer Verfasstheit als liminoide Phase (Victor Turner), als Zeit der Infragestellung des Überkommenen und seiner Repräsentationen, als Übergang, als Zwischenstadium, als Transgression, Potenzial und Risiko zugleich. Bei Wolfgang Braungart möchte ich mich für die freundschaftliche Anregung zu diesem Buch sehr herzlich bedanken. Ein großer Dank gilt auch dem Wissenschaftlichen Beirat für die Aufnahme in die Buchreihe des Archivs der deutschen Jugendbewegung und besonders Dr. Susanne Rappe-Weber, der Leiterin des Archivs, für die kompetente Betreuung. Grundlage des Buchs sind Passagen aus Aufsätzen der letzten beiden Jahrzehnte,4 die durchgesehen, gelegentlich modifiziert und ergänzt wurden.

4 Die Nachweise der Erstpublikationen finden sich am Schluss des Textes.

2.

Die Jugend der Wissenschaft

Die Literatur hat sich des Themas Jugend seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts immer wieder angenommen. Es liegt deshalb nahe, die Frage nach dem Verhältnis der Generationen und den Bedingungen von Aufwachsen und Erziehung mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, aber auch mit Prozessen im Kunstsystem in Verbindung zu bringen. Nicht nur der ›deutsche Sonderweg‹ des Bildungsromans, sondern auch Autobiographisches, Biographien oder das gelegentlich vernachlässigte Genre der Literatur für Kinder und Jugendliche bieten hier Auskunft. Das lässt Ränder und Grenzen einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung unscharf werden. Und erst die Kontexte, in denen literarische Texte Jugend thematisieren, erlauben Unterscheidungen in Hinsicht auf ihre kommunikativen Prämissen, Rahmungen und Folgen. Beschrieben werden im Folgenden also exemplarische Formen literarischen Umgangs mit Jugend, die nicht stellvertretend für eine sektorale (Literatur-)Geschichte zu verstehen sind. Gefragt wird danach, was ›Jugend‹ als literarisches Thema heißen kann: für die Gesellschaft, in deren Subsystem Kunst diese Texte entstehen, und für die Faktur der Texte, die sich unterscheiden, innovativ sein müssen, wenn sie wahrgenommen werden sollen. Das literaturwissenschaftliche Interesse an Texten über Lebensphasen, Generationen, Erziehung muss sich um kulturelle Kontextualisierungen bemühen. In den Sozialwissenschaften ließ sich zwar zunächst eine Aufwertung des ›klassischen‹ Kulturbegriffs aus der Ethnologie am Ende des 19. Jahrhunderts beobachten; ihr war es um die Anerkennung einer jeden kulturellen Formation als einer unverwechselbaren Einheit gegangen, einer historisch stabilen und integrierten Ganzheit.5 Nicht nur die politischen Folgelasten einer solchen Konzeptualisierung des Kulturbegriffs, sondern auch disziplinäre Einwände haben inzwischen jedoch solche kulturalistischen Optionen weitgehend verdrängt. Ausgegrenzt wurden von ihnen Fragen nach Segmentierungen und internen Differenzen von Kulturen, nach dem Einfluss von Macht5 Vgl. Andreas Wimmer: Kultur. Zur Reformulierung eines sozialanthropologischen Grundbegriffs, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1996, 48. Jg., S. 401–425.

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beziehungen auf kulturelle Sinngebung, nach möglichen Widersprüchen von individuellem Handeln und kulturellen Regeln, nach der Eigendynamik und Wandelbarkeit von Kulturen. Mit der Verabschiedung national definierter Kulturmuster6 sind auch die Einheits- und Ganzheitspostulate der »Geisteswissenschaft« durch pluralistische Optionen kulturwissenschaftlicher Observanz abgelöst worden.7 Gleichwohl macht es einen Unterschied, ob man Kulturelles mit dem späten Foucault vom Erscheinen und Verschwinden differenter, den sozialen Körper mit netzartigen Machtrelationen überziehenden Diskursströmen geprägt sieht oder mit Max Weber vom Menschen erzeugte sinnhafte Ausschnitte in einem ansonsten sinnlos-unendlichen Weltgeschehen zugesteht.8 Wichtig für literaturwissenschaftliche Adaptionen sozialwissenschaftlicher Kulturbegriffe ist deshalb weniger, ob man eine Ethnologisierung oder Anthropologisierung des Fachs oder eine Literarisierung der Anthropologie am Werke sieht.9 Wichtig ist vielmehr ein Ansatz, der »zwischen Textimmanenz und Texttranszendenz systematisch zu vermitteln« imstande ist, kulturelles Wissen und Literarizität systematisch aufeinander bezieht.10 Grundsätzlich soll unter Kultur ein Komplex von Kodes und Medien, Objekten und Institutionen verstanden werden, innerhalb dessen Bedeutungen generiert und eliminiert werden.11 Diese Prozesse der Bedeutungszuweisung, Kanonisierung und Definition sind nie konfliktfrei. Im Gegenteil 6 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Kulturgeschichte, europäisch, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 1999, 46. Jg., S. 486–494. 7 Vgl. Gerhart von Graevenitz: Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Eine Erwiderung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1999, 73. Jg., S. 94–115, bes. S. 98; Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006. 8 Vgl. als Übersicht Klaus Hansen: Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung, Tübingen, Basel 1995. Auf die Germanistik fokussiert Bettina Gruber: Kulturwissenschaften, in: Jost Schneider (Hg.): Methodengeschichte der Germanistik, Berlin u. a. 2009, S. 289–308. 9 Vgl. schon die Bedenken von Walter Haug, der tendenziell den Verlust von Geschichte und Werkautonomie befürchtet, der interpretativen Ethnologie eines Clifford Geertz aber eine heimliche Übernahme literaturwissenschaftlicher Verfahren bescheinigt; Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1999, 73. Jg., S. 69–93, S. 82; vgl. hierzu die genannte Erwiderung von Graevenitz: Literaturwissenschaft. Vgl. insgesamt Alexander Kosˇenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008, S. 17ff.; zur wissenspoetologischen Perspektivierung vgl. Nicola Gess, Sandra Janßen (Hg.): Wissens-Ordnungen. Zu einer historischen Epistemologie der Literatur, Berlin, Boston 2014. 10 Claus-Michael Ort: Was leistet der Kulturbegriff für die Literaturwissenschaft?, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 1999, 46. Jg., S. 534–545, S. 543. Vgl. die Ortsbestimmung von Wilhelm Voßkamp: Die Gegenstände der Literaturwissenschaft und ihre Einbindung in die Kulturwissenschaften, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 1998, 42. Jg., S. 503–507. 11 Vgl. Aleida Assmann: Kultur als Lebenswelt und Monument, in: Aleida Assmann, Dietrich Harth (Hg.): Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt a. M. 1991, S. 11–25, hier S. 17.

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wird man in der Konkurrenz um die Benennungsmacht einen wichtigen Faktor gesellschaftlicher Dynamik sehen können, in dem sich Machtbeziehungen ebenso zeigen wie Bildungstraditionen, Sprachkonventionen und soziale Differenzierungen. Die sprichwörtlich gewordenen »feinen Unterschiede« der empirischen Untersuchungen Bourdieus verdeutlichen das. Die Geltung von Normen verdankt sich nicht dem Bezug auf universale Rationalitätsstandards, auch nicht in der Wissenschaft, sondern ist das fragile und jederzeit reversible Ergebnis konflikthaften sozialen Aushandelns: durch kulturelle Heterogenität auch kulturimmanent kritisierbar.12 Während der klassische Kulturbegriff einen relativ festen Kanon von Werten, Normen und Traditionen vorsah, liegt jetzt der Akzent auf der Modifizierbarkeit und relativen Instabilität historischer, normativer und sozialstruktureller Vorgaben für individuelle Handlungsspielräume. Die Benennung von Lebensphasen mit bestimmten Eigenschaften, Rechten und Pflichten moralischer, juristischer, religiöser, pädagogischer Provenienz, hat hier ihren Bezugspunkt, den literarische und literaturwissenschaftliche Darstellungen zur Kenntnis nehmen müssen. Im Folgenden werden die Bereiche der »Wissenschaftskulturen« und der »Historischen Anthropologie«13 in besonderem Maße berücksichtigt. Die literarische Darstellung von Jugend wird als ein prominenter Schnittpunkt von Kunst, Wissenschaft und Erziehung verstanden. Knapp sollen zunächst einige grundsätzliche Prämissen erläutert werden, die dann in der Untersuchung einzelner Texte zu spezifizieren sind. Die Frage nach dem Verhältnis von literarischem und wissenschaftlichem Wissen ist nicht zuletzt von der Wissenschaftsforschung stimuliert worden, die sich von der Vorstellung eines unaufhaltsamen, stetigen Wissensfortschritts in den einzelnen Disziplinen gelöst hat. Der Blick auf die eben auch kulturellen Rahmenbedingungen geschuldeten Brüche und Weichenstellungen wissenschaftlicher Entwicklung, die Beschreibung wissenschaftlicher Zäsuren als Ergebnisse sozialer Prozesse, die Hinweise auf Interdependenzen mit Alltagswissen und Liebhabermilieus haben das Bild differenziert. Diese Kontextualisierung fragt nicht nur nach internen Fortschritten einzelner Wissensgebiete oder Disziplinen, sondern nach der »Kulturbedeutung« (Max Weber) dessen, was epochal unterschiedlich als Wissenschaft und wissenschaftliches Faktum gilt, begreift »Wissenschaft als kulturelle Praxis«.14 Interessant werden Interferenzen mit nicht-wissenschaftlichen Wissensformen, Popularisierungen wissenschaftlichen 12 Vgl. Wimmer: Kultur, S. 410, 414ff. 13 So die Bezeichnung von Hartmut Böhme, Peter Matussek und Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek 2000, S. 108–118; vgl. oben zur »Literarischen Anthropologie«, der es um das Verständnis literarischer Texte durch den Rekurs auf anthropologisches Wissen zu tun ist (vgl. Kosˇenina: Anthropologie, S. 17ff.). 14 Vgl. schon vor der Konjunktur soziologischer Praxistheorien: Hans Erich Bödeker u. a. (Hg.): Wissenschaft als kulturelle Praxis 1750–1900, Göttingen 1999.

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Wissens, ›Leistungen‹ von Wissenschaft für andere Subsysteme wie Erziehung, die Techniken wissenschaftlicher Texte: ihre Rhetorik und Literarizität.15 Folgt man einer pragmatischen Definition,16 so kann Literatur als eine Form der Vermittlung und Integration etwa auch wissenschaftlicher Diskurse gelten, die als soziale Praxis kulturelles Wissen produzieren. Das in einer historischen Phase jeweils als wissenschaftliches identifizierte Wissen partizipiert immer auch an nicht-wissenschaftlichen Wissensformen: des Alltags, der Religion, der Kunst. Für spezifische Zeiträume muss jeweils geklärt werden, welches kulturelle Wissen literarische Texte über ›Jugend‹ integrieren oder antizipieren und warum diese Thematik mit solcher Konstanz in den letzten 250 Jahren zu beobachten ist. Es kann dabei nicht um eine rezeptionsorientierte Perspektive gehen, die Literatur allein als formbares Medium der Speicherung von Vorhandenem ansähe; literarische Texte können kulturelles Wissen ebenso ablehnen wie kritisieren.17 Dem ist nachzugehen im Themenkreis von Jugend, Erziehung, Bildung und damit auch der Wissenschaftsgeschichte der Kulturwissenschaften, wobei es sich nicht um autorzentrierte (›Goethes Rousseau-Rezeption‹, ›Rilke und die Reformpädagogik‹) und kanon- bzw. didaktikgeschichtliche (›Literatur und Deutschunterricht‹) Untersuchungen handeln soll, sondern um systematische Analysen zur Relation von Literatur und Bildungs- und Wissenschaftssystem.18 Aus heutiger Perspektive ist die geläufige bevorzugte Berücksichtigung natur- und technikwissenschaftlicher Entwicklungen für die Literaturgeschichtsschreibung nur scheinbar unmittelbar plausibel. Bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein aber sind die Bildungswissenschaften der Philosophischen Fakultät von mindestens gleichwertiger Relevanz für kulturelle Selbstreflexionsdebatten, die facettenreichen Debatten in lebensreformerischen Milieus, für bildungsbürgerliches Selbstverständnis; an Texten Heinrich Manns, Joseph Roths und Alfred 15 Vgl. zum letzten Punkt bes. Walter Erhart: Medizingeschichte und Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Scientia poetica, 1997, Nr. 1, S. 224–267. Grundsätzlich: Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen, Berlin u. a. 2008. Zur Topik von Lebensalterkonzeptionen vgl. Dorothee Elm, Thorsten Fitzon, Kathrin Liess, Sandra Linden (Hg.): Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin u. a. 2009, bes. die Einleitung S. 1–19. 16 Vgl. hierzu und zum Folgenden Karl Richter, Jörg Schönert, Michael Titzmann: Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation, in: dies. (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930, Stuttgart 1997, S. 9–36. 17 Vgl. ebd., S. 30 zu den »prinzipiellen Konstellationen«. 18 Vgl. die Bemerkungen von Gerhard Rupp: Die Literatur im pädagogischen System, in: Gerhard Plumpe, Niels Werber (Hg.): Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft, Opladen 1995, S. 65–99; Hans-Christoph Koller, Markus Rieder-Ladich (Hg. dreier Bände): Grenzgänge. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane, Bielefeld 2005; Figurationen von Adoleszenz. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane II, Bielefeld 2009; Vom Scheitern. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane III, Bielefeld 2013.

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Anderschs ist das abzulesen. Verbindungen zur Historischen Bildungsforschung, zur Sozialgeschichte der Disziplin(en) und zur historischen Spezifizierung von Macht/Wissen-Verteilungen liegen auf der Hand.19 Eine Historische Kulturwissenschaft zeigt sich ›un-diszipliniert‹, wenn sie Problemstellungen wie ›Jugend‹ quer durch die zeitgenössisch fixierten Fächer und Wissensformen untersucht, zugleich aber ›diszipliniert‹, wenn sie nicht die Nivellierung unterschiedlicher Profile anstrebt, sondern den Aufweis je unterschiedlicher, aber komplementärer Vermögen.20 Problemstellungen der Historischen Anthropologie sind insofern berührt, als neben Geschlechterdifferenzen, kulturellen Zuschreibungen für Weiblichkeit und Männlichkeit, der Kulturgeschichte von Körper, Gefühlen und Sinnlichkeit21 auch Lebensphasen als historisch variabel anzusehen sind. Ebenso wenig wie Körperlichkeit als unvorgreifliche Natur gegeben ist, sind es Lebensphasen: Kindheit, Jugend oder Alter sind keine nur biologisch fixierbaren Perioden, sondern sind zu verstehen als »kulturell definiertes Feld von Umkodierungen, Umgruppierungen, Umbesetzungen, Auf- und Abwertungen«.22 Ob Jugend als Potential für die geistige Erneuerung des deutschen Volkes oder als labil und orientierungsschwach anzusehen ist, ob Alter das Stadium definitiver menschlicher Weisheit oder Erstarrung und Zukunftsblindheit bedeutet: Das sind Entscheidungen, die nicht von Medizinern getroffen werden können. Solche Alternativen durchziehen die behandelten literarischen Texte über Jugend, verbinden sie mit kulturellen Konstellationen, ihren diffusen Machtbeziehungen und den »Subjektkulturen« der Moderne.23 Wie die Differenzierung von biologischem und sozialem Geschlecht »auf komplexe Weise mit anderen Kategorien der Hierarchisierung« verzahnt ist,24 so die kulturellen Zuweisungen für Jugend: 19 Vgl. Suzanne Marchand: Foucault, die moderne Individualität und die Geschichte der humanistischen Bildung, in: Thomas Mergel, Thomas Welskopp (Hg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 323–366. 20 Vgl. hierzu Otto Gerhard Oexle: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996, bes. die Einleitung, S. 9–15. 21 Vgl. Böhme, Müller, Matussek: Orientierung, S. 131–147. 22 Ebd., S. 139 zur »Geschichte der Sinne«. 23 Andreas Reckwitz: Doing subjects. Die praxeologische Analyse von Subjektivierungsformen, in: ders.: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2016, S. 67–81. Kennzeichen und unterscheidende Merkmale der gesellschaftlichen Moderne werden in ausgedehnten Spezialdiskussionen verschiedener Disziplinen behandelt; auch hierzu äußern sich Reckwitz und Hartmut Rosa, s. dazu unten. Davon unterschieden werden müssen Definitionen einer ästhetischen Moderne/ Modernität, wie sie Texten der Frühromantik und der historischen Avantgarden zugerechnet wird. Vgl. hierzu die Forschungsdiskussion im Internationalen Archiv für die Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 2009, 34 Jg. ff. 24 Claudia Breger, Dorothea Dornhof und Dagmar von Hoff: Gender Studies/ Gender Trouble. Tendenzen und Perspektiven der deutschsprachigen Forschung, in: Zeitschrift für Germanistik, 1999, Neue Folge 9, S. 72–113, S. 77.

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Definition und Hierarchisierung von Lebensphasen sind sozial konstruierte symbolische Ordnungen, sind Deutungsmuster und Ordnungsversuche.25 Zugleich ist damit Skepsis signalisiert gegenüber einer umstandslosen Verwertung literarischer Texte als bildungs- und sozialhistorischer Quellen, aus denen über die Realitäten kindlicher und jugendlicher Lebenswelten vergangener Epochen unmittelbar zu lernen wäre. Generationen als Konstruktionen zu verstehen heißt, die ›Bilder‹ von Kindern und Jugendlichen zu analysieren, die sich Erwachsene von ihnen machen,26 die im sechsten Kapitel erwähnte Proklamation der »Jungen Generation« nach 1945 ist hierfür ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit. Schließlich ist grundsätzlich die Spezifik der Thematisierung von Jugend im literarischen Feld bedenkenswert. Theorien der Moderne, ob von Bourdieu, Habermas, Parsons oder Luhmann ausgearbeitet, verweisen auf die Koexistenz gesellschaftlicher Sektoren wie Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und anderer, die nicht hierarchisiert sind, sich nicht gegenseitig dominieren oder ersetzen können. Diesen Subsystemen oder Feldern27 werden spezielle Funktionen und selbstorganisierende Mechanismen zugeschrieben, die intern stabilisierend, nach ›außen‹, zur Gesellschaft und anderen Sektoren hin, Differenz markierend wirken. Es kann dann mit Rücksicht auf diese Eigenlogik von einer relativen Autonomie die Rede sein, die aber nicht vollständige Abschottung meint, sondern die Annahme, dass Subsysteme/Felder Umweltanforderungen nach eigenen Standards reformulieren, adaptieren, bearbeiten. Die Funktion der Kunst, so hat Karl Eibl in systemtheoretischer Perspektive herausgestellt, liegt, etwa seit der literarischen Epoche des Sturm und Drang, in ihrem Potential als Reflexionsraum: Der Prozess der funktionalen Differenzierung verweist die Individuen in eine Außenstellung zur Gesellschaft. Die mo25 Und dies auch in der Wissenschaft; dazu Uwe Sander, Ralf Vollbrecht (Hg.): Jugend im 20. Jahrhundert. Sichtweisen – Orientierungen – Risiken, Neuwied 2000. Vgl. die an Bourdieu orientierten Beiträge des Bandes: Irene Dölling, Beate Krais (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt a. M. 1997. Die hier fundamentale praxeologische Perspektive bestimmt Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, überarb. Neuaufl. Frankfurt a. M. 2020, S. 46ff. 26 Hierzu grundlegend und mit einlässlicher Beurteilung älterer Forschungsansätze in den Sozialwissenschaften bereits Dieter Lenzen: Mythologie der Kindheit. Die Verewigung des Kindlichen in der Erwachsenenkultur. Versteckte Bilder und vergessene Geschichten, Reinbek 1985; vgl. aus geschichtswissenschaftlicher Sicht: Kirsten Gerland, Benjamin Möckel, Daniel Ristau: Die Erwartung. Neue Perspektiven der Generationenforschung, in: Kirsten Gerland, Benjamin Möckel, Daniel Ristau (Hg.): Generation und Erwartung. Konstruktionen zwischen Vergangenheit und Zukunft, Göttingen 2013, S. 9–26. 27 Zu Kongruenzen und Differenzen von Bourdieuscher Feldtheorie und Luhmannscher Systemtheorie vgl. einführend Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt 1995, S. 85f.; Armin Nassehi, Gerd Nollmann (Hg.): Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich, Frankfurt a. M. 2004.

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derne Gesellschaft kennt Identität nur als Problem, als je neu zu bewältigende, futurisierte Anforderung. Die Individuen müssen sich als Teilnehmer in den verschiedenen Subsystemen definieren, stehen ihren Rollenensembles gegenüber. Freiheit meint so immer Wahlmöglichkeiten, aber auch Risiken durch die Abwesenheit homogener, normativ vorstrukturierter Handlungsräume. Die ausdifferenzierte »Poesie« (im Unterschied zu einer primär subsidiären: Werte vermittelnden, ›nützlichen‹ Dichtung) wird in der Moderne zum Ort der Reflexion von Problemen, mit denen jede Gesellschaft konfrontiert ist. Poesie in diesem historisch spezifizierten Sinn ist die Spezialistin fürs Allgemeine, fürs Ganze, das doch immer auch anders sein könnte, verweist auf die Reversibilität von Sinnstiftungen und Lebensentwürfen.28 Diese Funktionsbeschreibung beansprucht keine unbedingte Originalität. Dass Kunst Alterität demonstriert, auf Nichtwelt verweist, auf Unabgegoltenes und Ungelöstes, ist allemal konsensfähig.29 Beachtenswert und ausbaufähig ist diese Konzeption, weil sie anthropologisch und gesellschaftsgeschichtlich plausibel begründbar ist, und weil sie konkrete Textanalysen nicht ersetzt, sondern fordert. Literaturhistorische Phänomene wie der Geniebegriff oder die Empfindsamkeit werden nicht aus vorfindlichen gesellschaftlichen Bedingungen abgeleitet, sondern als eigenständige Faktoren in der Herausbildung gesellschaftlicher Strukturen angesehen. Im vorliegenden Zusammenhang: Die Spannungen zwischen Individualitäts-, Jugend- und Generationskonzeptionen und kulturellen Ordnungen, wie sie in praxeologischer Perspektive als »Subjektkulturen« beschreibbar sind, werden in symbolischen Generalisierungen verarbeitet, die als literarische Texte selbst in ihrer narrativen Faktur Muster für die Repräsentation von Individualität und Identität liefern.30 Schließlich: Legt man mit Bourdieu den Akzent auf die Konkurrenzsituationen des literarischen 28 Vgl. Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie, Frankfurt a. M. u. a. 1995, bes. S. 42ff. zu Luhmanns Konzept der modernen Exklusionsindividualität. Das bestreitet nicht, dass es in früheren historischen Epochen Individualität gegeben habe; vermutlich lassen sich immer relativ feste Partial-Identitäten annehmen. Vielmehr soll die neue Herausforderung markiert werden, dass der Funktionsprimat von Subsystemen eine ständige Provokation für in sie eintretende Personen impliziert; sie müssen Rollenanforderungen gerecht werden und sie von Selbstkonzepten unterscheiden – für sich und andere. 29 Vgl. allerdings eine unterschiedliche Annahme für die Funktion von Kunst – Unterhaltung statt Alterität – bei Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen 1995. In kultursemiotischer Sicht kann Literatur verstanden werden als »kultureller Raum semiotischen Probehandelns«; vgl. Gustav Frank, Wolfgang Lukas: ›Grenzüberschreitungen‹ als Wege der Forschung, in: Gustav Frank, Wolfgang Lukas (Hg.): Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Michael Titzmann zum 60. Geburtstag, Passau 2004, S. 19–27, S. 20. 30 So Reckwitz: Analyse, S. 71, S. 81. Zur soziologischen Perspektive auf die sich hier anschließende Problematik des modernen Lebenslaufs vgl. Michael Corsten: Lebenslauf und Sozialisation, Wiesbaden 2020, bes. S. 61ff., S. 362ff.

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Die Jugend der Wissenschaft

Feldes, stellt sich über die grundsätzliche Frage nach der Funktion von Kunst in modernen Gesellschaften hinaus die nach der jeweiligen Option einer literarischen Inszenierung von Jugend. Welchen Positionsgewinn ermöglicht dieses Thema, welche seiner Bearbeitungen kann sich unter feldeigenen Bedingungen durchsetzen und prototypische Lösungen anbieten: für andere professionelle Autoren, für den pädagogischen Experten, für den Unterhaltung suchenden Leser? Wissensformen, Wissensordnungen, kulturelle Ordnungen, die dann auch die Relation von Generationen und Lebensphasen umfassen, sind, mit einem zentralen Terminus Bourdieus, die Voraussetzungen für Praktiken, die ›Jugend‹ regulieren, geradezu erst erzeugen: doing youth.31 Gegen die großrahmige Unterscheidung von Vormoderne (stratifikatorischer Aufbau) und Moderne (funktional differenziert) in systemtheoretischen Gesellschaftstheorien setzt Reckwitz die Nahsicht auf Ensembles von Praktiken, die auf der Körperlichkeit und der Mentalität von Akteuren aufruhen.32 ›Jugend‹ meint ebendies: eine Haltung, einen Lebensstil, der Differenz markiert, eine Subjektkultur, die Dispositionen generiert.33 Allerdings nicht im Sinne der von Rahel Jaeggi beschriebenen »Lebensformen« als Ensembles von Praktiken und Orientierungen, zu deren Kriterien auch Verallgemeinerbarkeit, Sachbezogenheit und Dauerhaftigkeit gehören sollen.34 ›Jugend‹ steht demgegenüber für das Transitorische, letztlich Flüchtige, Nicht-Feststellbare, immer wieder sich Wandelnde, das eben hieraus Faszination zieht. Um die literarischen Facetten der literarischen Rede hierüber, nicht um einen Abgleich mit Ergebnissen Historischer Bildungsforschung, nicht um die Feststellung empirischer Angemessenheit, soll es im Folgenden gehen.35

31 Die prozessuale Komponente der Sozialisation betont auch der Begriff der »Identitätsarbeit«; vgl. Helga Theunert (Hg.): Jugend, Medien, Identität. Identitätsarbeit Jugendlicher mit und in Medien, München 2009. 32 Vgl. Andreas Reckwitz: Gesellschaftstheorie als Werkzeug, in: ders., Hartmut Rosa: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? Frankfurt a. M. 2021, S. 23–150, hier S. 53ff. Auf soziale Praxen heben auch militärgeschichtlich-sozialpsychologische Untersuchungen zum »Referenzrahmen« des Militärs und des Krieges ab, die im vorletzten Kapitel angesprochen werden; vgl. Sönke Neitzel, Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a. M. 52012, bes. S. 16–82. 33 Vgl. Reckwitz: Subjekt, S. 47 und S. 51ff.: »Das Subjekt als Dispositionsbündel«. 34 Vgl. Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen, Frankfurt a. M. 32020; S. 82ff. 35 Vgl. ergänzend die einleitenden Bemerkungen zum fünften Kapitel.

3.

Junges Leiden. Anfänge im 18. Jahrhundert

Jugend und Jugendlichkeit sind am Beginn des 21. Jahrhunderts selbstverständliche Bezugsgrößen öffentlicher Debatten, die Zitate der Einleitung verdeutlichen es erneut. Ob es um die Einschätzungen demographischer Entwicklungen oder die Postulate eines mobilen, allseitig flexibilisierten Bewohners der globalisierten Welt geht, es finden sich die geläufigen Attribute jugendlichen Lebensstils: Ungebundenheit, Misstrauen gegen Konventionelles und Veraltetes, Autoritäten zumal, Offenheit gegenüber der Zukunft, gegenüber alternativen Lebensmodellen etwa. Auffällig, gelegentlich penetrant ist die Selbstverständlichkeit, mit der die derart stereotypisierte Jugendlichkeit zum Maßstab der allein noch zeitgemäßen Existenz stilisiert wird. Es kommt hinzu, dass traditionelle Grenzziehungen und Zäsuren fragil werden. Zwischen Jugend und Kindheit, zwischen biologisch definierter Jugend und Jugendlichkeit als Habitus eröffnen sich Übergänge und Grauzonen, ebendieses ›Zwischen‹ ist interessant für Erzieher, Werbestrategen, Jugendforscher, Bildungspolitiker. Altersphasen sind soziale Konstruktionen und damit in historisch variable Kontexte eingebettet.36 Die literarische Rede über Jugend und Jugendlichkeit hat einen doppelten Beginn. Goethes Ruhm als europäischer Autor gründet in einem Buch, das schon im Titel eine signifikante Spezifizierung ankündigt: Um die »Leiden« des »jungen« Werther eben handelt es sich. Nimmt man dieses Attribut ernst, dann wird man den Protagonisten des Textes nicht umstandslos als den Duodezadel und seine bornierten Konventionen in emanzipatorischer Absicht kritisierendes bürgerliches Subjekt begreifen dürfen, wie es sozialgeschichtlich orientierte

36 Eine Übersicht bietet: Klaus Neumann-Braun, Birgit Richard (Hg.): Coolhunters. Jugendkulturen zwischen Medien und Markt, Frankfurt a. M. 2005, bes. die Beiträge von Gabriele Klein zur sozialen Konstruiertheit von Jugend und von Jürgen Zinnecker zu empirischen Befunden.

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Junges Leiden. Anfänge im 18. Jahrhundert

Untersuchungen nahelegen.37 Vielmehr muss sich das Interesse auf die signalisierte Generationenproblematik richten: Werther agiert ›zwischen‹ den Erwartungen der Erwachsenengesellschaft und – im moderne Sinne – ›Jugend‹status, und um dieses prekäre ›Zwischen‹ geht es auch schon im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Seine explizite Thematisierung erklärt ›Jugend‹ als literaturfähig.

3.1

Rousseaus »Émile«

Es ist kein Zufall, dass ein literarischer Text die vielfältigen Diskussionen der Aufklärer über eine zeitgemäße Erziehung irritiert. Ein Jahrzehnt vor Goethes Skandaltext fixiert Rousseaus »Émile« jene Ambivalenz der Kindheits- und Jugendphase, die sich als Axiom der wissenschaftlichen wie literarischen Rede über sie bis ins 21. Jahrhundert halten wird. Und er tut dies in narrativer Form, kulturelles Wissen über die Objekte der nachmaligen erziehungswissenschaftlichen Gegenstände, aber auch Visionen, Hoffnungen, Ängste – sie liegen in Geschichten vor, in Romanen, Dramen, nicht als disziplinäre Diskurse, nicht in fachterminologisch geprägten Abhandlungen, die nicht mit der Belletristik verwechselt werden wollen. Gegen die aufklärerische Hoffnung von der Allmacht erzieherischer Einwirkung innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen und familiären Strukturen setzt Rousseau das Szenario der bis ins Mark verdorbenen Zustände. Soziale Differenzierung äußere sich in wachsender Arbeitsteilung, Konkurrenzneid, Ungleichheit und gegenseitiger Missgunst der Bürger. Ideelle und soziale Traditionen seien in Auflösung begriffen, Tugenden als Garanten sozialer Harmonie verlören ihr Ansehen. Solche markanten Sätze haben Rousseau, der bekanntlich mehrfach den Aufenthaltsort wechseln musste, nicht nur Freunde gemacht. Wichtig ist, dass die Tendenz solcher Urteile in die Konzeption seiner Erziehungsvorstellungen eingeht: Rousseau begründet die Tradition der Verbindung von Kulturkritik und Reformpädagogik.38 Jede moderne Pädagogik

37 Über biographische Details und die Entstehungsgeschichte sowie die ältere Forschung unterrichtet Horst Flaschka: Goethes Werther. Werkkontextuelle Deskription und Analyse, München 1987. 38 Grundlegend zum »Reflexionsmodus« (S. 7) der Kulturkritik in der Moderne ist die Studie von Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J.J. Rousseau bis Günther Anders, München 2007, zu Rousseau S. 22ff. Auch Bollenbeck überprüft nicht die empirische Korrektheit kulturkritischer Einlassungen, etwa vor dem Horizont gegenwärtiger geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse, deren »Wertungs- und Ordnungsschemata gegenüber den Zumutungen der Moderne sensibilisieren« (S. 11). Nicht um Wissen, sondern um eine spezifische Form seiner Verarbeitung geht es, um Problemidentifizierungen, Weltanschauungsansprüche, Welterklärung.

Rousseaus »Émile«

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ist Reformpädagogik.39 Sie muss das sein, weil sich eine Pädagogik, die sich zum Anwalt des zu Erziehenden macht, nie mit dem Erreichten zufrieden geben kann. Sie ist immer unabschließbares Projekt, sie benötigt geradezu Defizite, an denen sie sich positiv abarbeiten kann. Und diese Defizite, das ist schon bei Rousseau zu sehen, werden einem stark kritikwürdigen, verbesserungsbedürftigen Zustand der je gegenwärtigen Kultur zugeschrieben; in den Debatten um 1900 wird die Reformpädagogik gegen die mechanische Lernschule im Kaiserreich polemisieren, zugleich aber Sexualfeindschaft, materialistische Gesinnung und Obrigkeitsdenken der Zeitgenossen anprangern. Auch für die Geschichte der Erziehung in Deutschland ist Rousseaus »Émile« 1762 eine Zäsur.40 Der erste Absatz nach dem Vorwort lautet: »Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen. Der Mensch zwingt ein Land, die Erzeugnisse eines anderen hervorzubringen, einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen. Er vermengt und vertauscht das Wetter, die Elemente und die Jahreszeiten. Er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seine Sklaven. Alles dreht er um, alles entstellt er. Er liebt die Mißgeburt, die Ungeheuer. Nichts will er haben, wie es die Natur gemacht hat, selbst den Menschen nicht. Man muß ihn, wie ein Schulpferd, für ihn dressieren; man muß ihn nach seiner Absicht stutzen wie einen Baum seines Gartens.«41

Hier geht es nicht mehr um Details, um Reformen, um Diskussionsanregungen, hier geht es ums Ganze, Rousseau spricht über den Menschen schlechthin, seinen gegenwärtigen Zustand der Verderbnis. Diesem Gestus der Kompromisslosigkeit wird sich Werther verpflichtet fühlen, wird den missliebigen Baumfäller im mit Lotte besuchten Pfarrhof mit dem Tod bedrohen. Noch die jungen Wilden des Rock in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts werden, jedenfalls im Song, den Tod dem Leben im Mief der Wohlstandsgesellschaft vorziehen: » Things they do look awful cold / I hope I die before I get old«, so Pete Townshend von »The Who« in »My Generation« (1965). Die unbedingte und riskante Existenz verachtet die bornierte Gegenwart. Der Mensch ist nach Rousseau von Natur aus gut, degeneriert aber unter den Händen des Menschen – jedenfalls unter den bislang herrschenden Bedingungen. Wenn man einen Menschen nicht für sich, sondern für andere, gleichsam 39 Vgl. Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine Dogmengeschichte, 3. Aufl. Weinheim 1996, S. 15f. 40 Vgl. allgemein: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption, Berlin, New York 1995, bes. die Einleitung des Herausgebers: Rousseau in Deutschland. Forschungsgeschichte und Perspektiven (S. 1–22) und den Beitrag ´ von Wilhelm Vosskamp: »Un livre Paradoxal«. J.-J. Rousseaus Eˆmile in der deutschen Diskussion um 1800 (S. 101–113). 41 Jean-Jaques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Vollständige Ausgabe. In neuer deutscher Fassung besorgt v. Ludwig Schmidts, 3. Aufl. Paderborn 1975, S. 9.

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Junges Leiden. Anfänge im 18. Jahrhundert

fremdbestimmt, erziehe, dann sei Übereinstimmung mit der Natur nicht möglich. Erziehung zum Bürger und Erziehung zum Menschen schließen sich aus. Das ist nichts weniger als ein Frontalangriff auf die geläufigen Programme der aufgeklärten Zeitgenossen. Rousseau stellt eine grundsätzliche Diskrepanz her von Natur und Gesellschaft, von Mensch und Bürger, von privater/individueller und allgemeiner/gesellschaftlicher Glückseligkeit.42 Die heftigen Reaktionen, die solche Passagen unter den Zeitgenossen hervorgerufen haben, verdanken sich auch der Rhetorik Rousseaus, der keine versöhnlichen Töne anschlägt, sondern strikt polarisiert: entweder Mensch oder Bürger. Da ist keine diskursive Verständigung möglich, da sollen keine anderen Vorschläge mehr zu Gehör gebracht werden, da ist nicht mehr von Eingliederung in bestehende Gemeinwesen die Rede. Schon den Prinzipien aufklärerischer Rede wird eine Absage erteilt.43 Diese Einleitung des »Émile« ist mithin »von größter ideenpolitischer Bedeutung«, denn unter dem Titel »Natur« stellt Rousseau seine zentrale Abweichung vor: »Man kann nicht zugleich den Menschen und den Bürger erziehen, oder genauer: Man kann das Kind nicht zugleich gemäß seiner Natur zum Menschen werden lassen und aus ihm einen Bürger machen, der die gesellschaftlichen Normen erfüllt und dabei immer nur partikular leben kann.«44 Die Gesellschaft richtet unvermeidlich die Natur des Kindes zu, weil sie Bürger braucht und nicht Menschen. »Mit anderen Worten, die Gesellschaft sorgt für die Entfremdung des Menschen von seiner Natur, weil und soweit die Erziehung dem Bürger und nur ihm gilt.« Entscheidend für dieses Argument ist nun allerdings die Prämisse: Die Natur des Menschen ist gut. Die menschliche Natur ist nicht moralisch indifferent wie die äußere Natur, sondern trägt den Keim des Guten in sich, weil sie selbst gut ist; sie ist darin also nicht von der aufklärerisch für unverzichtbar erklärten Moralerziehung abhängig. Rousseau dagegen unterstellt, dass das Gute dem Menschen nicht von außen beigebracht werden muss. Seine Natur ist gut, sofern ihre Kräfte entsprechend zur Geltung gebracht werden.45 Es steht so immer eine ›positive‹ Anlage im Menschen gegen die ›negative‹, eben: amoralische Gesellschaft. Rousseau erhebt deshalb die »paradoxe Forderung, das Kind auf die Gesellschaft vorzubereiten, ohne es ihr auszusetzen.«46 Man könne nicht in einer 42 Dazu Vosskamp: »Un livre Paradoxal«, S. 104. 43 Vgl. Jaumann: Rousseau, S. 19: Das dialogische Sich-Einlassen wird als aussichtslos betrachtet. 44 Ich folge der einschlägigen Darstellung von Jürgen Oelkers: Die grosse Aspiration. Zur Herausbildung der Erziehungswissenschaft im 19. Jahrhundert, Darmstadt 1989, S. 18ff., dort auch die Zitate. 45 Vgl. ebd., S. 16ff. zu den Facetten von »Natur«. 46 Ebd., S. 20. Andrea Albrecht konstatiert das paradoxe Milieu eines »künstlichen Naturzustandes«; Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800, Berlin, New York 2005, S. 69.

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schlechten Welt das Gute befördern, sondern werde es ihr opfern, konfrontiere man das Kind zu früh mit Gesellschaftlichem, das Kind soll ihm nach Rousseaus Ansicht erst nach der Stabilisierung der eigenen Vermögen ausgesetzt sein. Damit wird Kindheit und Jugend ein neuer Inhalt zugesprochen: Sie werden nicht mehr in Beziehung zu einem historisch gewordenen Zustand der Gesellschaft gesetzt, existierende Sittlichkeit kann keine Vorbilder mehr liefern. Wo Gellert noch annahm, der Heranwachsende, der »hoffnungsvolle Jüngling«, sei an der Hand des erfahrenen Mitmenschen am besten aufgehoben,47 da dramatisiert Rousseau den Schritt in die Welt. Erzieher darf keiner der alten Hofmeister sein, die bestehende Gesellschaft repräsentieren, um ihre Normen zu vermitteln. Notwendig wird also ein Schutzraum. Rousseau lässt seinen Zögling Emil deshalb isoliert von den Erwachsenen mit einem Mentor, einem Erzieher, aufwachsen. Seine einzige Aufgabe besteht darin, für das Wohl des jungen Menschen zu sorgen, der durch die Gesellschaft gefährdet ist, zu der auch die mit vielfältigen gesellschaftlichen Pflichten ausgestatteten Eltern gehören; sie gelten Rousseau als stärkste Elemente des Gesellschaftlichen.48 Der Erzieher vermittelt nicht anerkannte Wahrheiten, sondern will Emil zur Reflexion anleiten, zur Prüfung der Tradition, er will, gut aufklärerisch, zur Eigentätigkeit der Vernunft verhelfen, Wahrheit soll selbst gefunden, nicht übernommen werden. Damit bereitet Rousseau das Auftreten von Jugendgenerationen vor, die auf Distinktion setzen, die sich auf einen neuen Lebensstil verpflichten und seine Imperative gegen die insinuierte Erstarrung der Elterngeneration durchsetzen wollen, beispielsweise im Sturm und Drang.49 Entsprechend werden sich professionelle Pädagogen des 47 Vgl. bereits Walter Hornstein: Vom »jungen Herrn« zum »hoffnungsvollen Jüngling«. Wandlungen des Jugendlebens im 18. Jahrhundert, Heidelberg 1965, S. 73ff., S. 102ff. 48 Vgl. ebd., S. 103; dort auch die einschlägigen Zitate zum Krisencharakter der Pubertät. 49 Vgl. ebd., S. 127ff.; dort auch zur Absetzung der Position Rousseaus von der Gellerts als einem exemplarischen Vertreter der etablierten Pädagogik. Ausführlich im Blick auf die Protagonisten literarischer Texte Richard Quabius: Generationenverhältnisse im Sturm und Drang, Köln, Wien 1976; prononciert bereits im Titel argumentiert Thomas Clasen: Die Entdeckung der Jugend im Drama des Sturm und Drang, in: Günter Oesterle (Hg.): Jugend – ein romantisches Konzept?, Würzburg 1997, S. 277–295. Kontinuitäten in der folgenden Literaturepoche betonen Matthias Buschmeier und Kai Kauffmann: Einführung in die Literatur des Sturm und Drang und der Weimarer Klassik, Darmstadt 2010, bes. Kap IV und V. Ein halbes Jahrhundert vor dem Erscheinen des »Werther« bereits setzt Wolfram Mauser »Konturen eines neuen Verständnisses von ›Jugend‹« an: Naturell. Die Erfindung des Konzepts ›Jugend‹ aus dem Geist der Frühaufklärung, in: Klaus-Michael Bogdal, Ortrud Gutjahr, Joachim Pfeiffer (Hg.): Jugend. Psychologie – Literatur – Geschichte. Festschrift für Carl Pietzcker, Würzburg 2001, S. 105–123, S. 109: Autoren der »Moralischen Wochenschriften« binden bürgerliche Leistungsethik und die aufgewertete individuelle Disposition in eine praktische Ethik ein, zweifellos eine »entschiedene Abkehr von den überkommenen Sozialisierungsmustern« (S. 122). Moderne Jugendkonzepte allerdings werden genau dies verweigern, tendenziell die Seite der Individualität radikalisieren und gegen die Maximen des Gemeinwohls in Stellung bringen.

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19. und 20. Jahrhunderts gern auf Rousseau berufen. Die Radikalität einiger literarischer Darstellungen des Jugendlichen um 1900 wird es ausmachen, dass dann auch der erwachsene Mentor noch verloren geht, an seine Stelle tritt der gleichaltrige Freund. Die Jugendphase sieht Rousseau, anders als die Tradition erzieherischen Denkens im 18. Jahrhundert, nicht als noch defizitäres Erwachsensein, sondern als größte Zäsur des Menschenlebens: als Krise, eine bis heute wirkmächtige Denkfigur. Gefährdungen von außen, durch die Verlockungen der Gesellschaft, entsprechen solche des Innenlebens, zumal durch die Sexualität. Die auf Emotionen gründende Ehe, die Intimisierung intrafamilialer Kommunikation und die Akzentuierung der Individualitäten von Eltern und Kindern deuten sich an: Familie wird als Gegenwelt zum feindlichen Außen denkbar. Als Ort der Privatheit kann sie Schutzraum werden und Aufgaben der Regeneration zugewiesen bekommen. Und mit dieser Funktionsbestimmung verbunden ist die Formierung von Geschlechtscharakteren: Muss der Mann ins feindliche Draußen, um die materiellen Grundlagen der Familie zu erhalten, so entfaltet die Frau, ihrer ›natürlichen Bestimmung‹ gemäß, Wirkung nach innen.50 Die Merkmale, mit denen Rousseau die Jugendphase ausstattet, können bis in die Gegenwart als Grundlage für die europäische Reflexion auf Jugend gelten und werden zumal in der wissenschaftlichen (sozialisationstheoretischen, sozialpsychologischen, psychohistorischen) Expertise dominant:51 Zunächst einmal wird Jugend aus der pragmatischen Abfolge der Generationen herausgenommen und positiv akzentuiert. Jugend avanciert zum emphatischen Begriff, an den sich kulturkritische und geschichtsphilosophische Hoffnungen anlagern. Die Jugendphase wird damit gegen soziale Verortung indifferent konzipiert, stand-, schicht- oder klassenbezogene Konzeptionen sind obsolet, allenfalls von sekundärer Bedeutung. Jugend ist somit als pädagogische Provinz eingerichtet, auf ein eigenes Erziehungsmilieu ausgerichtet. Die »zweite Geburt«, wie Rousseau formuliert, anzuleiten, wird zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion und zum Metier professioneller Eliten, die sich nicht als Mittler gesellschaftlicher Imperative verstehen, sondern als Anwalt des Zöglings. Jugend wird zur Phase der von Rollenzumutungen möglichst entlasteten 50 Vgl. zur Genese von Geschlechterordnungen in literaturwissenschaftlicher Perspektive Birgit Dahlke: Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit um 1900, Köln 2006, S. 10ff., S. 77ff. 51 Vgl. die folgende Zusammenfassung bei Jürgen Zinnecker: Jugend der Gegenwart – Beginn oder Ende einer historischen Epoche?, in: Dieter Baacke, Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Neue Widersprüche. Jugendliche in den 80er Jahren, Weinheim, München 1985, S. 24–45, hier S. 27ff. Vgl. auch unten den Abschnitt zum »Jungen Deutschland«. Den aktuellen Stand der Jugendforschung dokumentieren Klaus Hurrelmann und Gudrun Quenzel: Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung, 13. Aufl. Weinheim, Basel 2012; dort S. 37 mit Hinweis auf ›Krisen‹ des Heranwachsens.

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Selbstfindung ernannt. Noch Erik Erikson und Margret Mead werden die Stabilisierung von Identität mit diesem Aufschub, mit einem Stadium psychosozialer Experimente, korrelieren. Schließlich wird Jugend als Entwicklungsprozess gesehen, der krisenhaften Charakter zeigt, Reifungsprozesse erzeugen Orientierungsprobleme; nicht ihr Ausbleiben verweist auf eine stabile psychische Disposition, sondern der reflektierte Umgang mit ihnen und die Fähigkeit zu distanzierter Selbstbeobachtung. Bezeichnet sind damit epochale Trends: Diese emphatische Jugendkonzeption darf mit den realhistorischen Bedingungen von Aufwachsen und Lernen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht gleichgesetzt werden. Gerade auch in dieser Argumentation Rousseaus und im Folgenden dann in den literarischen Texten ist zu sehen: Die literarischen Thematisierungen von Jugend sind Konstruktionen, kulturelle Deutungsmuster. Das ›Sprechen für alle‹ ist Element einer rhetorischen Strategie, mit der Positionen in Kunst und kulturellen Debatten markiert werden.

3.2

Goethes »Werther«

»Wie froh bin ich, dass ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu sein! Ich weiß, du verzeihst mir’s.«52 Der andere Beginn der modernen Rede über Jugend führt sich über Distanz ein: zur vom Geschäft bestimmten Stadt, in der die Mutter den Bericht über finanzielle Querelen erwartet, zur Welt der bornierten Ästhetikkenner, die nichts von wahrer Kunst, und der braven Ehemänner, die nichts von wahrer Liebe wissen. Sie tritt in doppelter Form auf: als existentiell bedeutsame Liebe zu Lotte, aber eben auch als Freundschaft, die alles versteht, alles verzeiht – ein Motiv, das im Adoleszenzroman um 1900 die Distanzierungsversuche jugendlicher Protagonisten begleitet, gelegentlich erst ermöglicht. Schon im literarischen Sturm und Drang, etwa in den Postulaten der Göttinger Hainbündler, wird beschworen, was den professionellen Jugendbeobachtern des 20. Jahrhunderts als ein zentrales Charakteristikum jugendlicher Lebenswelten gelten wird: die Bedeutung von Gleichaltrigen, von peer-groups, für Lebensstile, die sich auf die Wertordnung der Erwachsenen beziehen, um durch ihre Negation Unterschiede markieren zu können. Nur ist Werthers emphatisches Bekenntnis zur Freundschaft mit dem Adressaten seiner Briefe für den Leser des Briefromans bloß rhetorisch präsent, Behauptung des Sprechen52 Zitate nach der ersten Fassung von 1774 in der Berliner Ausgabe: Goethe. Poetische Werke. Romane und Erzählungen I: Die Leiden des jungen Werther. Wilhelm Meisters theatralische Sendung, Berlin 1976, S. 7.

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Junges Leiden. Anfänge im 18. Jahrhundert

den, bleibt narrativ unbestätigt. Von den Konventionen des europäischen Briefromans als einer dialogischen (Selbst-)Verständigung unter Abwesenden, die in der brieflichen Aussprache Anwesenheit simulieren, setzen sich die Monologe Werthers ab – ungeachtet seiner immer wieder geäußerten Hoffnung auf ›echte‹ Kommunikation jenseits gesellschaftlicher Disziplinierung bleibt der Leser allein Beobachter der Asozialität Werthers: »O mir war das Herz so voll – Und wir gingen auseinander, ohne einander verstanden zu haben. Wie denn auf dieser Welt keiner leicht den andern versteht.«53 Schon die Form des Textes verweist so auf jene narzisstische Disposition,54 die seine oft beschriebene Radikalität ambivalent erscheinen lässt. Zum einen meint sie die Absage an die zeitgenössischen Normen des Umgangs mit Sexualität, an die Konventionen für Geselligkeit und pädagogisch reflektierten Umgang mit Kindern; die Geschwister Lottes bieten Werther jene ›Natürlichkeit‹, die er als Kennzeichen wahren Menschseins bei den »dogmatische[n] Drahtpuppe[n]« vom Schlage des Dorfmedikus vermisst: »Ja, lieber Wilhelm, meinem Herzen sind die Kinder am nächsten auf der Erde. Wenn ich so zusehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller Tugenden aller Kräfte sehe, […] alles so unverdorben, so ganz! Immer, immer wiederhol ich die goldenen Worte des Lehrers der Menschen: Wenn ihr nicht werdet wie eines von diesen!«55

Solche Bekenntnisse implizieren Kritik an aufklärerischer Erziehungsexpertise ebenso wie eine regressive Tendenz, die Werther selbst mit Affinität zum Status des Kindes, seiner unterstellten ›Ganzheit‹ anstelle der ubiquitären ›Zerrissenheit‹,56 und nicht in der kulturell erwünschten Rolle des zukünftigen Familienvaters zeigt.57 Sie wird eingenommen vom Rivalen Albert, dem Gegenbild zum Protagonisten: beruflich engagiert, manierlich in Gesellschaft, nicht in jener ständigen Selbstreflexion auf eigene Befindlichkeit gefangen, die zwischen Ge-

53 Ebd., S. 51. 54 Vgl. Reinhart Meyer-Kalkus: Werthers Krankheit zum Tode. Pathologie und Familie in der Empfindsamkeit, in: Friedrich A. Kittler, Horst Turk (Hg.): Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt a. M. 1977, S. 76–138, hier S. 90ff.; Wolfgang Hottner: Ungeschicktheit. Überlegungen zur Formgeschichte des deutschsprachigen Briefromans, in: Sprache im technischen Zeitalter H. 242 (2022), S. 213–233, S. 220ff. 55 Goethe: Werther, S. 30. 56 Vgl. zu dieser Opposition Rüdiger Steinlein: »Die Kindheit ist der Augenblick Gottes«. Faszinationsgeschichte der Kindheit um 1800 als kulturwissenschaftlicher Diskurs, in: PeterUwe Hohendahl, Rüdiger Steinlein (Hg.): Kulturwissenschaft – Cultural Studies. Beiträge zu einem umstrittenen literaturwissenschaftlichen Paradigma, Berlin 2001, S. 115–131. 57 Vgl. Stephan K. Schindler: Das Subjekt als Kind. Die Erfindung der Kindheit im Roman des 18. Jahrhunderts, Berlin 1994, S. 193–225; Meike Sophia Baader: Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld, Neuwied 1996, S. 52– 60; Peter Eikenloff: Der verlassene Sohn. Generationenkonflikt und Bindungsverluste in den Leiden des jungen Werthers (1774), in: Wirkendes Wort H.2 (2003), S. 181–199.

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nieanspruch und suizidaler Anfälligkeit oszilliert: »Und so taumele ich beängstet! […] Ich hab keine Vorstellungskraft, kein Gefühl an der Natur, und die Bücher speien mich alle an. Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles.«58 Werthers Oppositionen, die »Bücher« als bloß papierner Ballast stehen gegen die nachmals so bezeichneten ›Kultautoren‹ wie Klopstock und Ossian als Elementen einer Lebensform, der Rekurs aufs eigene »Herz«59 gegen die Bornierungen der Vernunft, die unbedingte Liebe gegen die kalkulierte Verheiratung, gehören zu einer »Provokationssemantik«, die ihre Leitdifferenz in der »hochdramatisierte[n] Unterscheidung von Individualität und Gesellschaft« hat.60 Die irritierten Reaktionen vieler Zeitgenossen wie die enthusiastische Aufnahme in einer jüngeren Leserschaft (›Wertherfieber‹) zeigen, dass Goethes Text die Konventionen literarischer Kommunikation verletzt, zumal in den Passagen über Selbstzerstörung als Freiheitsmoment und die Unmöglichkeit authentischen Lebens und Liebens innerhalb der bestehenden Gesellschaft nicht jene moraldidaktischen Rücksichten kennt, die dem aufgeklärten Kunstverständnis wie der zeitgenössischen Pädagogik unabdingbar waren.61 Als »Kultbuch«,62 »Sinnbild der ersten literarisch vermittelten Jugendbewegung«63 und »Modelltext«64 der Adoleszenzliteratur kann dieser Text gelten, weil seine dichotomische Struktur der des Generationenkonflikts zu gleichen scheint. Werthers Oppositionen entsprechen denen zwischen ›alt‹ und ›jung‹, Vergangenem und Gegenwärtigem/Zukünftigem, die sich mit der Operationalisierung 58 Goethe: Werther, S. 54. 59 Vgl. ebd., S. 10: »braust dieses Herz doch genug aus sich selbst«; S. 76: »Ach was ich weiß, kann jeder wissen. – Mein Herz hab ich allein.« 60 Gerhard Plumpe: Kein Mitleid mit Werther, in: Henk de Berg, Matthias Prangel (Hg.): Systemtheorie und Hermeneutik, Tübingen 1997, S. 215–231, hier S. 216, 225; vgl. Elisabeth Böhm: Kommunikative Umwege. Liebeskonzeptionen in Goethes »Werther« und Kellers »Die mißbrauchten Liebesbriefe«, in: Der Deutschunterricht, 2013, Nr. 65, S. 24–32, S. 27f. 61 Vgl. Georg Jäger: Die Wertherwirkung. Ein rezeptionsästhetischer Modellfall. Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972, in Verb. mit Hans Fromm u. Karl Richter hg. v. Walter Müller-Seidel, München 1974, S. 393–399. Vgl. zu bildungshistorischen Aspekten Christa Kersting: Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes »Allgemeine Revision« im Kontext neuzeitlicher Wissenschaft, Weinheim 1992, bes. S. 203ff. zu den »Erziehungsgeschichten«. 62 Christian Klein: Kultbücher. Theoretische Zugänge und exemplarische Analysen, Göttingen 2014, S. 29ff. 63 Gert Sautermeister: Vom Werther zum Wanderer zwischen beiden Welten. Über die metaphysische Obdachlosigkeit bürgerlicher Jugend, in: Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz, Frank Trommler (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1985, S. 438–478, hier S. 447; vgl. literaturgeschichtlich ausgreifend, vom Sturm und Drang bis zur Pop-Literatur der 1990er Jahre, Clarissa Dommermuth: Wir sind dagegen – denn ihr seid dafür. Zur Tradition literarischer Jugendbewegungen im deutschsprachigen Raum, Würzburg 2018; der Jugendbegriff selbst wird nicht problematisiert. 64 Rüdiger Steinlein: Adoleszenzliteratur, in: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge, 2004, Nr. 14, S. 8–18, hier S. 8.

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Junges Leiden. Anfänge im 18. Jahrhundert

durch liberal-progressive Autoren des Vormärz als Begleitsemantik für die Dynamisierung des Gesellschaftlichen als eines historisch Variablen etablieren werden. Werthers Lebenslauf präformiert in dieser Sicht die literarischen Biographien jugendlicher Helden der Hesse, Torberg und Salinger bis hin zur PopLiteratur, liefert die Vorlagen für die Manifeste jugendlichen Rechts auf (auch sexuelle) Selbsterforschung, Spontaneität und eigene Sprach- und Lebensstile.65 Tatsächlich wird man »Die Leiden des jungen Werther« als den Text ansehen können, der durch die narrative Inszenierung der Schwelle wegweisend geworden ist: Werther zwischen den kulturell formulierten Erwartungen an ›vernünftiges‹ Verhalten und der Stimme des eigenen ›Herzens‹, zwischen der Anforderung an den »Mann«66 und ›kindlicher‹ Neigung, in ungesicherter materieller Lage, ohne konkrete berufliche Aussichten, in der Kunst mit dilettantischer Ambition: Übergänge, Passagen, Schwellen – die Topographie des ›Zwischen‹ ist konstitutiv für das Genre der Adoleszenzliteratur, deren Konjunkturen man mit der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen in den letzten 200 Jahren wird in Verbindung bringen dürfen. Zumal die romantischen Adoleszenzerzählungen Tiecks oder E.T.A. Hoffmanns greifen dieses Modell des ›Taumelns‹ Werthers auf, dessen labile psychische Disposition Frustration nicht verarbeiten, nur erdulden kann und ins Scheitern mündet.67 Nur verdeckt die Annahme einer Kontinuität nicht nur der genrespezifischen Handlungskonstellationen und ›Figurenpsychologie‹, sondern auch mentalitätsgeschichtlicher Dispositionen68 die Umakzentuierungen – und sie erst erlauben Rückschlüsse auf Ort und Stellenwert literarischer Interventionen in kulturelle Debatten über Jugend und Jugendlichkeit. Die Lebensläufe, die in solchen Texten geschildert werden, demonstrieren die Offenheit der modernen Biographie, die konstruiert werden muss, wenn Individualität Chance und Verpflichtung zugleich wird: Die JugendThematik wird ein Fokus der kulturellen Reflexion auf die Risiken der Individualität in kontingenten Lebensläufen mit ihren ›Krisen‹. Allerdings wird man in Werthers regressiver Beschwörung kindlicher Unschuld keinen Hinweis auf jene 65 Vgl. Katharina Rutschky: Wertherzeit. Der Pop-Roman – Merkmale eines unerkannten Genres, in: Merkur, 2003, H. 2, S. 106–117; entsprechend zum Drama der Wertherzeit und seiner Provokationspoetik Clasen: Entdeckung, S. 286ff., die sich in delikaten Themen wie der vorehelichen Sexualität manifestiert. 66 So Lotte gegenüber dem von »Leidenschaft« Getriebenen: »mäßigen Sie sich, Ihr Geist, Ihre Wissenschaft, Ihre Talente, was bieten die Ihnen für mannigfaltige Ergötzungen dar! Seien Sie ein Mann«; Goethe: Werther, S. 96. Gleichsam als Selbstzitat hat Goethe diese Forderung an den Leser der »zweiten echten Auflage« des Textes 1775 vorangestellt: »Sei ein Mann, und folge mir nicht nach.« (S. 249) – die Absage an eine Implikation des »Kultbuchs«, das die Kopplung von Werk und Leben nahelegt; vgl. Klein: Kultbuch, S. 43ff. 67 Vgl. Hans-Heino Ewers: Jugend – ein romantisches Konzept?, in: Oesterle (Hg.): Jugend, S. 45–60, hier S. 52. 68 Vgl. Sautermeister: Werther, S. 446, der von der »Beharrungskraft« eines »jugendlichen Sozialcharakter[s]« über »zwei Jahrhunderte hinweg« spricht.

Goethes »Werther«

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›Bewegung‹, jene Zukunftsoptionen sehen können, die den modernen Jugendbegriff seit dem 19. Jahrhundert kennzeichnen und mit ihm seine literarischen Adaptionen. Werthers Exzentrik ist Teil einer literarischen Schreibstrategie, die in der Abweichung von Lesegewohnheiten wie von moralischen Normen interessant sein will – im literarischen Feld, das Positionierung als Unterscheidung verlangt. Literarische Thematisierungen von ›Jugend‹ im 20. Jahrhundert aber nehmen den umgekehrten Weg: Ihre Protagonisten, das gilt für die Texte Strauß’, Hesses und Musils ebenso wie für die Pop-Literatur der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts,69 nehmen ihren Ausgang aus einer ›Normalität‹, an deren Standards sie ihre Umwelt erinnern. Nicht die Abweichung, nicht die radikalisierte Subjektivität eines Werther, sondern die zunächst unspektakulären Ansprüche pubertierender Jugendlicher und junger Erwachsener beherrschen auf der thematischen Ebene dann die Texte, deren Provokation zumal in der Konfrontation von kulturellem Selbstverständnis (›Bildung‹) und institutioneller Praxis liegen wird, bis dann die Texte der 1990er Jahre unaufgeregt nur noch die Accessoires (post-)adoleszenter Freiräume katalogisieren.

69 Zum Rekurs von Autoren am Beginn des 20. Jahrhunderts auf den »Werther« vgl. YorkGothart Mix: Männliche Sensibilität oder die Modernität der Empfindsamkeit. Zu den Leiden des jungen Werther, Anton Reiser, Buddenbrooks und den Verwirrungen des Zöglings Törleß, in: Karl Eibl (Hg): Empfindsamkeit, Hamburg 2001, S. 191–208.

4.

Neue Ufer? Lebenslauf und Jugend 1830–1890

4.1

»Junges Deutschland«

Das Nachdenken über die heranwachsende Generation in modernen Gesellschaften ist unvermeidlich. Ihre offenen Zeithorizonte legen es nahe, Lebensläufe zu analysieren und zu planen, ihre Phasen mit übergreifenden, womöglich globalen Entwicklungsprozessen abzugleichen; allenfalls die jeweiligen Anlässe und die Verknüpfungen mit anderen gesellschaftspolitischen Debatten mögen noch überraschen. Für den Literaturwissenschaftler interessanter ist, dass sich den Konjunkturen pädagogischer Reflexion im weiteren Sinne auch solche literarischer Thematisierung von Jugend, von Lebensphasen insgesamt, assoziieren. Die Zahl dieser literarischen Kommentierungen ist irritierend groß. Nahezu alle Repräsentanten des Bildungs- und Entwicklungsromans, Texte über Familien- und Generationsprobleme, schließlich Biographien, Autobiographisches, Memoiren und die explizit für Jugendliche geschriebene Literatur: Jugend ist in allen Variationen vorhanden, wird mit unterschiedlichsten Akzentsetzungen verhandelt. Die Epoche des Vormärz scheint für eine literaturgeschichtliche Beweisaufnahme zu historischen Vorstufen des modernen Jugenddiskurses besonders geeignet zu sein. Schließlich hat Mitte der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts eine bekannte, wenn auch inhomogene literarische Gruppierung sogar staatlichen Unwillen erregt und sich damit einen Namen gemacht, das »Junge Deutschland«. Zu den leitenden semantischen Oppositionen der Zeit gehört die von ›alt‹ und ›jung‹, die sich in vielerlei Facetten in den Selbstbeschreibungen zeitgenössischer Autoren wiederfindet.70 Wenn es im Vormärz einen Bruch mit dem Alten, in der Politik, aber auch über sie hinaus, wenn es ein Bekenntnis zur Moderne gibt, dann müsste es auch das Thema der Jugend einschließen und 70 Vgl. Wulf Wülfing: Schlagworte des Jungen Deutschland. Mit einer Einführung in die Schlagwortforschung, Berlin 1982, bes. S. 168–200; Clarissa Dommermuth: Wir sind dagegen – denn ihr seid dafür. Zur Tradition literarischer Jugendbewegungen im deutschsprachigen Raum, Würzburg 2018, S. 117ff.

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möglicherweise sogar noch die heutige Semantik prägen. Im Folgenden sollen einige Elemente der Rede über Jugend um 1840 im Blick auf ihre jeweiligen Kontextualisierungen näher bezeichnet werden. Während das 20. Jahrhundert an seinem Beginn von der schwedischen Reformpädagogin Ellen Key zum »Jahrhundert des Kindes« ernannt wurde, gilt das 18. Jahrhundert gemeinhin als das »pädagogische Jahrhundert«. Das ist nicht nur ein feiner Unterschied in der Wortwahl, sie bezeichnet tatsächlich eine markante Differenz: Wo die Reformpädagogik des letzten Jahrhunderts Kinder und Jugendliche vor Disziplinierung und Bevormundung in Familie und Schule schützen möchte und »vom Kinde aus« (Key) argumentiert, da stehen im Zeitalter der Aufklärung tatsächlich weniger ›das Kind‹ oder ›der Jugendliche‹ im Sinne der modernen Reformer als vielmehr Formen und Funktionen des erzieherischen Zugriffs auf der Tagesordnung. Denn das, was die auf allgemeinen Vernunftgebrauch eingeschworenen Aufklärer wie Basedow und Campe zunächst intendieren, ist eine Systematisierung der pädagogischen Anstrengung, deren Ziel der Bürger in einer nie in Frage gestellten Ständegesellschaft des aufgeklärten Absolutismus ist.71 Literarische Texte haben solche eher auf Ausgleich, Reform, kontinuierliche Disziplinierung und Integration abzielende didaktische Orientierung mehrfach mit subjektfeindlichen Konsequenzen ständischer Vergesellschaftung konfrontiert, wie an Goethes »Die Leiden des jungen Werther« als wohl markantestem Beispiel zu sehen ist. Gleichzeitig muss betont werden, dass die meisten zeitgenössischen Autoren etwa bei der Beurteilung der Französischen Revolution analoge politische Schritte im eigenen Land nicht für notwendig erachteten, eher die vernünftige Anleitung der Regierenden. Erziehung also auch hier als Thema, das Genre des Staatsromans entfaltet dies explizit.72 Rousseaus »Émile«, so wurde bereits gezeigt, kehrt diese Perspektive kompromisslos um: Es sei nicht möglich, den Jugendlichen als Menschen und als Bürger zugleich zu erziehen. Die skandalträchtige Diagnose der Zeit, ihrer Auflösung traditioneller Bindungen und ideellen Zusammenhalts infolge sozialer Differenzierung, begründet zum einen die Stellung Rousseaus als Ahnherr der modernen Erziehungswissenschaft, die sich immer als Reformpädagogik versteht.73 Rousseau stiftet zum anderen die Tradition der Verbindung von Päda71 Die geläufige Kontrollpraxis kann deshalb auch als Gegenteil einer wahren Reformpädagogik verzeichnet werden; vgl. Katharina Rutschky (Hg.): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. Neuausgabe, Berlin 1997. 72 Vgl. exemplarisch Wielands Goldnen Spiegel (1772/1794) mit dem Gesetzbuch des Herrschers Tifan, dessen »Hauptstück« Maximen zur Prinzenerziehung enthält; Jürgen Fohrmann: Utopie, Reflexion, Erzählung: Wielands Goldner Spiegel, in: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. 3, Stuttgart 1983, S. 24– 49. 73 Vgl. Oelkers: Reformpädagogik, S. 15f.

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gogik mit Kulturkritik, der es nicht nur um die Lern- und Reifungsprozesse des einzelnen Individuums zu tun ist, sondern um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihrer Optimierung. Rousseaus Frontalangriff auf die Prinzipien aufklärerischer Integrationspädagogik unterstellt eine Diskrepanz von individueller und allgemeiner Glückseligkeit,74 und dies in apodiktischem Gestus.75 Dass Rousseau gelegentlich als Erfinder der Jugendphase tituliert wird,76 verweist auf ihre exponierte Stellung in seinem Erziehungsdenken. Diese von Rousseau exponierte Jugendphase, eben ein »normatives Fundament für die europäische Reflexion auf Jugend«,77 separiert die Jugend von anderen Lebensphasen, nimmt sie aus der pragmatischen Abfolge der Generationen heraus, von der etwa die Aufzeichnungen des Zeitgenossen Ulrich Bräker berichten, und macht sie zum Ankerbegriff für kulturkritische und geschichtsphilosophischen Hoffnungen jenseits soziologischer Differenzierungen von Gesellschaft. Als pädagogische Provinz ist die derart konzipierte Jugendphase auf ein eigenes Erziehungsmilieu ausgerichtet. Die »zweite Geburt« anzuleiten, wird zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion und zum Metier professioneller Eliten, die gesellschaftliche Imperative nicht weitergeben, sondern den Zögling immun gegen sie machen wollen – in einem Moratorium, einer Phase der von Rollenzumutungen möglichst entlasteten Selbstfindung. Und hier ist die markante Relation dieses Entwicklungsprozesses zu sehen, der nicht gleichförmig verläuft, sondern, immer wieder betont: krisenhaft. Zumal die noch zu diskutierende Adoleszenzliteratur um 1900 und Bildungsromane kommentieren dieses Stadium der Sozialisation als Phase riskanter körperlicher, gerade auch sexueller Passagen und »Verwirrungen« (Musil). Zwei Einschränkungen sind hier zumindest erforderlich. Wie diese emphatisierte Jugendkonzeption nicht mit den realhistorischen Bedingungen von Aufwachsen und Lernen verwechselt werden darf, so negiert sie weitgehend die Problematik weiblicher Adoleszenz, die den Uniformierungen des Geschlechtscharakterdiskurses ausgeliefert bleibt: Die Frau als Gegenpol zum Mann gilt, auch und gerade in der Tradition Rousseaus, als Hüterin des Menschlichen, des Ganzheitlichen; von hier aus ergeben sich Tugend- und Pflichtenkatalog der auf

74 Vgl. Wilhelm Voßkamp, »Un livre Paradoxal«. J.-J. Rousseaus Émile in der deutschen Diskussion um 1800, in: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption, Berlin u. a. 1995, S. 101–113, S. 104. 75 Vgl. Herbert Jaumann: Rousseau in Deutschland. Forschungsgeschichte und Perspektiven, in: ders. (Hg.): Rousseau, S. 1–22, S. 19. 76 Vgl. Bernhard Schäfers: Soziologie des Jugendalters. Eine Einführung, aktualis. u. überarb. Aufl. Opladen 61998, S. 50. 77 Vgl. Jürgen Zinnecker, Jugend der Gegenwart – Beginn oder Ende einer historischen Epoche?, in: Dieter Baacke, Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Neue Widersprüche. Jugendliche in den 80er Jahren, Weinheim, München 1985, S. 24–45, S. 27ff.

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ihre ›natürliche Bestimmung‹ verwiesenen Frau.78 Allenfalls der männliche Jugendliche aus Mittel- und Oberschichten mag nach der allmählichen Relativierung der patria potestas79 jene Freiheitsräume angetroffen haben, die als Moratorium interpretierbar sind. Dies muss gerade der Literaturwissenschaft deutlich sein: Die literarischen Thematisierungen von Jugend können nicht umstandslos als sozialhistorische Quellen gelesen werden: Sie sind Formen kultureller Bedeutungskonstitution. Zumal in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich an der Konjunktur der Rede über Jugend Elemente der gesellschaftlichen Moderne erkennen, die auf sozialen Wandel, Dynamik gesellschaftlicher Differenzierung und Offenheit individueller Lebensläufe setzt. Die Emphase des skizzierten Jugendkonzepts kehrt als Emphase der Wahrheit wieder, beglaubigt politische Diagnostik. Exemplarisch bei Theodor Mundt 1835: »Ich widme mich der Bewegung, welche die Wahrheit ist. Eine andere kenne ich nicht, noch werde ich mich zu ihr bekennen. Der Geist der Bewegung, welcher wirkt als ewige Jugend in der Poesie, als Geißel des Aberglaubens im Staate, als auferstehungslustige Nationalkraft im Volksleben, als Systemhaß in der Philosophie, als Produktivität im Gedanken, als schönes Gleichmaß in den Formen, als Schmerz der Sehnsucht in verhüllter Gegenwart, dieser Geist der Bewegung, er ist das Banner, das ich hoch und mit Jauchzen über mir aufflattern lasse, und dem, ich weiß es, alles, was jungen Kopf und junges Herz in Deutschland hat, folgt. […] Ich mag nicht alt werden, ich ziehe einen rühmlichen Tod auf dem Schlachtfelde vor.«80

Der Heroismus der Jugend darf nicht antiquarisch stillgestellt werden, sondern ist per definitionem Impuls, Bewegung, Unruhe. Wichtig ist die habituelle Differenz, die sich in der Opposition von ›jung‹ und ›alt‹ findet. Nur sie erlaubt Distinktion, die Jugend mit Zukunft im Zeichen von Politik positiv identifiziert. Und diese Distinktion muss kontinuierlich bearbeitet, erneuert werden, wie der 78 Vgl. Ursula Geitner, Soviel wie nichts? Weiblicher Lebenslauf, weibliche Autorschaft um 1800; Kerstin Stüssel, Die ›häuslichen Geschäfte‹ und ›studia‹. Die ›gelehrten Frauenzimmer‹ im 18. Jahrhundert. Beide in: Jürgen Fohrmann (Hg.): Lebensläufe um 1800, Tübingen 1998, S. 29–50, S. 51–69. Vgl. zur Thematisierung weiblicher Adoleszenz Gerhard Neumann: Kindheit und Erinnerung. Anfangsphantasien in drei romantischen Novellen: Ludwig Tieck Der blonde Eckbert, Friedrich de la Motte Fouqué Undine, E.T.A. Hoffmann Der Magnetiseur, in: Günter Oesterle (Hg.): Jugend – ein romantisches Konzept?, Würzburg 1997, S. 81–103; vor diesem Hintergrund sind dann Fontanes junge Frauenfiguren zu sehen, vgl. den Abschnitt 4.4 meiner Darstellung. Norm und Praxis in sozialhistorischer Perspektive diskutieren Manfred Hettling, Stefan-Ludwig Hoffmann: Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft, 1997, 23. Jg., S. 333– 359. 79 Vgl. Michael Mitterauer: Sozialgeschichte der Jugend, Frankfurt a. M. 1986, S. 41. 80 Ueber Bewegungsparteien in der Literatur, in: Karl Robert Mandelkow (Hg.): Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Teil II: 1832–1870, München 1977, S. 90–95, S. 90.

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nüchterne Blick des historisch Gebildeten erkennt: »Jede Revolution trägt schon wieder die Keime zu ihrer Restauration in ihrem Schoße, die Blutentwickelung der Jugend geht in den Verknöcherungsprozess des Alters über.«81 Ziel dieser Jugendsemantik ist es, den historischen Moment der Dominanz von Jugend über Alter zu fixieren. Implizit wird die zeitliche Begrenzung der Lebensphase marginalisiert, um ihren Impetus zu betonen; dieser gewinnt Reputation eben als ›natürlicher‹, in der Ordnung der Dinge selbst begründeter.82 Ausgangspunkt ist die Antithese mit der Dominanz von Alter, von Abgelebtheit, Adelsherrschaft, religiöser Bevormundung, Zensur, Philisterei, scholastischem Denken. Diese Dichotomie wird temporalisiert: als alt wird ein Zustand des ›vorher‹ bezeichnet, der überwunden werden soll, ›nachher‹ dominiert Jugend. Ludolf Wienbarg adressiert 1834 seine »Aesthetischen Feldzüge«: »Dir junges Deutschland widme ich diese Reden, nicht dem alten. Ein jeder Schriftsteller sollte nur gleich von vorn herein erklären, welchem Deutschland er sein Buch bestimmt und in wessen Hände er dasselbe zu sehen wünscht. Liberal und illiberal sind Bezeichnungen, die den wahren Unterschied keineswegs angeben.[…] Wer aber dem jungen Deutschland schreibt, der erklärt, daß er jenen altdeutschen Adel nicht anerkennt, daß er jene altdeutsche, todte Gelehrsamkeit in die Grabgewölbe ägyptischer Pyramiden verwünscht, und daß er allem altdeutschen Philisterium den Krieg erklärt und dasselbe bis unter den Zipfel der wohlbekannten Nachtmütze unerbittlich zu verfolgen Willens ist.«83

Der jungdeutsche Autor verfolgt eine Rhetorik der Inversion. Die Gegenwart erscheint als Epoche der Auseinandersetzung unversöhnlicher Prinzipien, zwischen denen zu entscheiden ist; tagespolitische Optionen sind gegenüber dieser grundsätzlichen Konstellation sekundär. Der Augenblick des Schwankens, der Labilität, des Umkippens, der »Bewegung«, eröffnet die historische Chance, die es »unerbittlich« zu nutzen gilt, um den endgültigen Sieg des »Alten« zu verhindern. Gegenwart meint hier eine Schwelle, deren entschlossene Überwindung Zukunft verheißt: Umkehrung des gegenwärtigen Verhältnisses alt/jung. Konsequent wird die Semantik des nachmals klassischen Jugendkonzepts verwendet, um diese »Krisis des Weltprozesses«, so Heinrich Laube, als Stadium der Entscheidung zu illustrieren: »So ist es denn gekommen, daß die jungen Tage in keine Gemeinschaft treten mit den alten, stumpf gewordenen Männern. Diese haben ihre Schritte nicht also beflügeln 81 Ebd. 82 Zur Naturmetaphorik von Autoren des Jungen Deutschland vgl. Wulf Wülfing (Hg.): Junges Deutschland. Texte – Kontexte, Abbildungen, Kommentare, München 1978, S. 146ff. 83 Ludolf Wienbarg: Worte der Zueignung, in: Wülfing (Hg.): Junges Deutschland, S. 34–42, S. 34. Die Rhetorik der ›alten‹ Wissenschaft, die es abzulösen gilt, wird ihre Attraktivität behalten; vgl. Francesco Rossi: Gesamterkennen. Zur Wissenschaftskritik und Gestalttheorie im George-Kreis, Würzburg 2011, S. 264ff.

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können, sie sind zurückgeblieben, und die Fülle von Begebenheiten und Gesetzen der letzten Jahre ruht lediglich auf den Schultern der historischen Jugend.«84

Mit der Jugendsemantik wird die Futurisierung einer geschichtsphilosophischen Konstellation inszeniert: Jugend als Trägerin des Neuen, als innovatives, zukunftsträchtiges Potential für eine Veränderung jenseits der beteiligten Einzelnen.85 Die psychosoziale Krise des jugendlichen Individuums tritt in Analogie zur gesellschaftlichen, seine Bewegung gegen Konvention, Stagnation, Beharrung ist eine beschleunigte, akzelerierte.86 Akzeleration wird dann bekanntlich in der Jugendpsychologie des 20. Jahrhunderts als Fachterminus für die Reifungsbeschleunigung von Jugendlichen verwendet. Das Phänomen als solches allerdings, also insbesondere der zunehmend frühere Eintritt der Geschlechtsreife und erhöhtes körperliches Wachstum, wird bereits nach der Mitte des 18. Jahrhunderts beobachtet.87 Die Jugendsemantik (wohlgemerkt: der sich selbst als fortschrittlich definierenden Autoren des »Jungen Deutschland« wie auch Karl Grüns oder Georg Herweghs)88 im Vormärz formuliert deshalb ein doppeltes: die Konstellation des liminalen Antagonismus alt/jung und zugleich die Beschleunigung als Signatur der Zeit. ›Jugend‹, nunmehr ohne ständische Zuordnung konzipiert, wenn vom Menschen und seiner Natur gesprochen wird, verweist auf Zumutungen durch funktionale Differenzierung. Als semantisches Muster plausibilisiert die Rede über Jugend die Problematik des Lebenslaufes, der nicht mehr durch lebenslange Zugehörigkeit zu Familie und Stand geregelt ist, sondern kontinuierlicher Arbeit am Status bedarf.89 Möglicherweise liegt die suggestive Kraft dieser wesentlich prozessualen Jugendmetaphorik gerade darin begründet, dass sie zwar als Begleitsemantik zukunftsoffenen gesellschaftlichen Wandels unmittelbar evident ist, Lebensphasen indizieren Veränderung, zugleich aber am 84 Die neue Kritik, in: Jost Hermand (Hg.): Das Junge Deutschland. Texte und Dokumente, Stuttgart 1974, S. 102–107, S. 106. Vgl. seinen Roman »Das junge Europa« (1833–37), der das Lebensgefühl des ›Fortgeschrittenen‹ formuliert. 85 Vgl. Ferdinand Freiligraths »Von unten auf«: »Wir sind die Kraft!«, in: Florian Vaßen (Hg.): Vormärz, Stuttgart 1979, S. 163–166, hier S. 166. 86 Diese Beschleunigungserfahrung erklärt auch die zeitgenössische Konjunktur von Reiseliteratur. 87 Mitterauer: Sozialgeschichte, S. 10ff. 88 Als Erfolgsbestätigung mag gelten, dass das »Deutsche Wörterbuch« 1877 das Junge Deutschland als »stürmisch strebend« bezeichnet. Norbert Otto Eke im Auftrag des Forum Vormärz Forschung (Hg.): Das Vormärz-Handbuch, Bielefeld 2020, hat keinen Sachregistereintrag zu »Jugend«, sondern Verweise auf Das Junge Deutschland, Junghegelianer, Jungdeutsche u.a.m. 89 Vgl. Rudolf Stichweh: Lebenslauf und Individualität, in: Fohrmann (Hg.): Lebensläufe, S. 223–234, S. 224; Bernd Zymek: Jugendgenerationen zwischen bürokratischem Bildungssystem und charismatischen Erneuerungsbewegungen, in: Bildung und Erziehung, 1985, 38. Jg., S. 183–199, S. 186. Vgl. die Ausführungen im Folgenden zu den »Lebensläufen« bei Heine und Gutzkow.

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Modell personaler Interaktion orientiert und damit jenen Leitfiguren eines »Jungen Deutschland« zurechenbar bleibt, denen die heroische Rede eines Mundt gilt. ›Jugend‹ meint anthropologische Disposition und historischen Auftrag zugleich. Diese Leitunterscheidung von Vergangenheit und Zukunft und ihre Relationierung mit Lebensphasen begegnet vielfach. So im wissenschaftlichen Diskurs, wenn Laube die historischen Wissenschaften als antiquiert verwirft, weil ihre Gegenstände dem »Leben« nicht genügen können: »Altes Zeug, […] todte Sprachen, verstorbene Begriffe beschäftigen den Jüngling, der anderen Tages in eine Welt eintreten soll, die nichts von alle dem weiß«.90 So in der Selbstreflexion des Kunstsystems, wenn epochale Zäsuren gestiftet, die »Kunstperiode« (Heine) und einzelne ihrer Vertreter bewertet werden. Wienbarg korreliert den »geschichtlichen Charakter« der Werke Goethes mit dessen jeweiligem Lebensalter zur Zeit der Niederschrift, sodass die frühen Schriften wie der »Werther« auch »eine unendlich unbefriedigte Sehnsucht […] der jugendlichen Gemüter« anzusprechen geeignet sind.91 Insgesamt wird die Kunstperiode als Epoche des Alten abgesetzt von der neuen, eben ›jungen‹ Literatur, die nicht abgeschlossen ist, sondern im Werden: auch hierin auf das futurisierte Jugendkonzept verweisend. Durchaus selbstironische Spitzen finden sich, wenn Theodor Mundt den »Nationalcharakter der Deutschen« als »alte[n] Jüngling« beschreibt, »der noch auf seine alten Tage klug werden will«.92 Nun ist dieses Konstrukt einer mobilen, ›vorwärtsdrängenden‹ Jugend, in deren Ambitionen bessere gesellschaftliche Zukunft aufscheint, nicht einförmig und konkurrenzlos. Zumal in Phasen beschleunigten politischen Umbruchs, etwa 1813/15 oder 1910/14, lässt sich eine radikalisierte Variante ausmachen, der es um die nationale Kanalisierung jugendlicher Bewegung geht: im soldatischen Körper, der nach Bewährung sucht, Phantasien von Gewalt und Destruktion entwickelt und den Opfertod im Dienst am Vaterland nicht scheut.93 Walter Flex’ »Wanderer zwischen beiden Welten« (1916) dürfte das bekannteste und auflagenstärkste literarische Zeugnis dafür sein. Noch Ernst Jüngers Stoßtruppführer in den »Stahlgewittern« ist als junger Offizier mit den Attributen des psychosozialen Moratoriums behaftet, wenn er, von der Schulbank kommend, ohne 90 Literatur, in: Wülfing (Hg.): Junges Deutschland, S. 29–34, S. 32. Umgekehrt die Motivation der Grimms, denen die Deutschen Studien als die zeitgemäßesten erscheinen: Sie erforschen die alten Zeiten, da das Volk jung, also gleichsam noch bei sich war. 91 Aesthetische Feldzüge. Zwanzigste Vorlesung, in: Mandelkow (Hg.): Goethe, Bd. II, S. 82–85, S. 84. 92 Aus den »Modernen Lebenswirren« (1834), zit. nach Hermand (Hg.): Das Junge Deutschland, S. 252f. 93 Vgl. Rüdiger Steinlein: Vom weltbürgerlich aufgeklärten Kind zum vaterländisch begeisterten Jüngling. Bilder eines psychohistorischen Typus in der deutschen (Kinder- und Jugend-) Literatur (1750–1850), in: Oesterle (Hg.): Jugend, S. 297–332, S. 316ff.

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Neue Ufer? Lebenslauf und Jugend 1830–1890

Berufsausbildung, vom Vater finanziell abhängig, den Schützengraben erreicht. Nur ist dies der definitive, geradezu teleologisch nobilitierte Ort seiner Mannwerdung. Diese Umschmelzung meint Formwerdung: Der wahre Krieger, der nicht nur Kriegsteilnehmer ist, wird zwar militärisch erfahrener, seine psychische Disposition ist aber bereits gegeben, zeigt sich erst in der Schlacht, wird in dieser extremen Bewährung unterscheidbar. Eine Verknüpfung des ›Konzepts Jugend‹ mit gesellschaftlicher Differenzierung und Modernisierung94 muss auf Homogenitätsannahmen verzichten. Der skizzierten diskursiven Auszeichnung dieser Lebensphase als »Avantgardehabitus«95 mit innovativen Potentialen im Zeichen von ›Emancipation‹ steht ihre Stigmatisierung als Risiko gegenüber. Bereits Goethes Werther, nicht zufällig als junger Mann im Titel bereits annonciert, demonstriert ästhetische und soziale Sensibilität, Gleichgültigkeit gegenüber materiellen Vorteilen und die Fähigkeit zur unbedingten Liebe: Attribute also, die sich einer emphatischen Jugendkonzeption einfügen lassen. Aber eben auch narzisstische Reizbarkeit und melancholisch-suizidale Anfälligkeit. Werther bietet ein frühes Beispiel für die Problematik von Exklusionsindividualität: für die Sehnsucht danach, nur als Mensch Mitglied von Gesellschaft zu sein, und die sich gleichsam kompensatorisch einstellende Semantik von Genie und Einzigartigkeit.96 Diese Analogie übrigens ist nicht zufällig: Wie das Genie führt der Jugendliche eine riskante Existenz, die Rede über ihn erlaubt produktionsästhetische Reflexion auf den ex-zentrischen Lebenslauf des Künstlers. Adoleszenznovellen der Romantik akzentuieren sol-

94 So Werner Helsper: Das imaginäre Selbst der Adoleszenz. Der Jugendliche zwischen Subjektentfaltung und dem Ende des Selbst, in: Werner Helsper (Hg.): Jugend zwischen Moderne und Postmoderne, Opladen 1991, S. 73-–4, hier S. 77; vgl. auch Hans-Heino Ewers: Jugend – ein romantisches Konzept? Die zweifache Bedeutung der Romantik in der Geschichte moderner Jugendentwürfe, in: Oesterle (Hg.): Jugend, S. 45–60, der auf eine »Vielzahl koexistierender und konkurrierender Jugendkonzepte« um 1800 hinweist (S. 48). Im Kontext modernisierungstheoretischer Überlegungen siedelt auch Carsten Gansel seine Arbeiten zur Adoleszenzliteratur an; vgl. u. a.: Von Angst, Unsicherheit und anthropologischen Konstanten – Modernisierung und Adoleszenzdarstellung bei Hermann Hesse, in: Andreas Solbach (Hg.): Hermann Hesse und die literarische Moderne. Kulturwissenschaftliche Facetten einer literarischen Konstante im 20. Jahrhundert. Aufsätze, Frankfurt a. M. 2004, S. 224–255; Carsten Gansel: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung – Adoleszenz und Literatur, in: Carsten, Gansel, Pawel Zimniak (Hg.): Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur, Heidelberg 2011, S. 15–48; vgl. auch Hyeseon Shin: Bildungs- und Kulturkritik und Adoleszenzproblematik in Schulgeschichten um die Jahrhundertwende, Diss. Bonn 2013, S. 93ff. 95 Günter Oesterle: Jugend – ein romantisches Konzept? Einleitung, in: Oesterle (Hg.): Jugend, S. 9–29, hier S. 14. 96 Vgl. Niklas Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, in: Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. III, Frankfurt a. M. 1989, S. 149–258, S. 158f. vgl. im vorigen Kapitel meiner Untersuchung.

Gegenrede: Droste-Hülshoffs »Die Judenbuche«

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che Gefährdungen im Bericht von der mythischen Initiationsfahrt, die sexuelle Entgrenzung bereithält, aber auch soziale Isolation und Tod.97

4.2

Gegenrede: Droste-Hülshoffs »Die Judenbuche«

Die Emphatisierung von Jugend unter geschichtsphilosophischem Vorzeichen der ›jungdeutschen‹ Autoren wird zeitgleich konterkariert von einem Jugendkonzept, das Futurisierung dementiert. Annette von Droste-Hülshoffs »Die Judenbuche« zeigt mit sozialpsychologischer Präzision das Scheitern einer Biographie in einem dörflichen Milieu.98 Friedrich Mergel, Sohn eines Alkoholikers und einer pauperisierten Witwe, erfährt mit zwölf Jahren, die Novelle benennt präzise die biographischen Zäsuren, eine »zweite Geburt«: durch den Onkel und dessen kriminelles Umfeld. Seine Logik der Ehre widerspricht der öffentlich propagierten, Täuschung, Verstellung und Selbstinszenierung begleiten den Statuswechsel vom »Knaben« zum »Burschen«.99 Der Abkoppelung von der elterlichen Gewalt entspricht eine Verhaltensorientierung an Gleichaltrigengruppen des Dorfes, denen sich Mergel durch Lebensstilwandel anpasst. Solche »Außenleitung«, mit David Riesman zu sprechen, orientiert sich an sozialer Reputation, nicht am Verhaltenskodex mütterlicher Ehrbarkeit. »Und in Friedrich«, so heißt es nach dem Mord am Förster, »lagen Eigenschaften, die dies«, nämlich deviantes Verhalten, »nur zu sehr erleichterten: Leichtsinn, Erregbarkeit und vor Allem ein grenzenloser Hochmut, der nicht immer den Schein verschmähte und dann Alles daransetzte, durch Wahrmachung des Usurpierten möglicher Beschämung zu entgehen. Seine Natur war nicht unedel, aber gewöhnte sich, die innere Schande der äußern vorzuziehen.«100 97 Vgl. Hartmut Böhme: Romantische Adoleszenzkrisen. Zur Psychodynamik der VenuskultNovellen von Tieck, Eichendorff und E.T.A. Hoffmann, in: Klaus Bohnen (Hg.): Literatur und Psychoanalyse, Kopenhagen, München 1981, S. 133–176. 98 Vgl. im Sonderheft der »Zeitschrift für deutsche Philologie« 1979 bes. die Beiträge von Winfried Freund: Der Außenseiter Friedrich Mergel. Eine sozialpsychologische Studie zur Judenbuche der Annette von Droste-Hülshoff (S. 110–118); Ronald Schneider: ›Laß ruhn den Stein…‹. Sozialpsychologische und psychoanalytische Aspekte zur Interpretation der Judenbuche (S. 118–132). – Ohnehin sind die sog. »Dorfgeschichten« bis hin zu Raabes »Horacker« und Ebner-Eschenbachs »Gemeindekind« wichtig für die Problematik der Adoleszenz in nicht-bürgerlichen Schichten. Ein »neues psychologisches Interesse der Novellistik der vierziger Jahre« konstatiert Wolfgang Lukas, Novellistik, in: Gert Sautermeister, Ulrich Schmid (Hg.): Zwischen Restauration und Revolution 1815–1848, München 1998, S. 251–280, S. 275. 99 Die Judenbuche. Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen, in: Sämtliche Werke in zwei Bänden, hg. v. Bodo Plachta, Winfried Woesler, Frankfurt a. M. 1994, Bd. 2, S. 11–62, S. 28. 100 Ebd., S. 40f.

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Der Text beschreibt Jugend als Stadium der Gefährdung: nicht durch Anspruch auf Einzigartigkeit erhebende Individualität, nicht durch die Orientierungsschwierigkeiten eines Moratoriums, sondern durch soziale Frustration.101 Die dörfliche Umwelt ist charakterisiert durch Brutalität, materiell bedingte Hierarchien und soziale Stigmatisierungen. Mergel akzeptiert deren Imperative, um ihnen schließlich zu unterliegen. Die Frage nach der Einheit des Ich, die dann zum zentralen Thema der Jahrhundertwende avanciert, ist im Text durch ein Doppelgänger-Motiv präsent.102 Johannes Niemand, unehelicher und depravierter Sohn des Onkels, verweist bereits auf jene Fragilität der personalen wie sozialen Identität, die als Problem kontinuierlich existiert, nach ständiger Reflexion und Anstrengung verlangt. Selbstidentifikation ist nicht mehr durch Konformität mit normativer Überlieferung gewährleistet, sondern erfordert individuelle Problemlösungen – und die können auch ein ›Weg nach unten‹ sein.103 Grundsätzlich lässt sich beobachten, dass die Jugendthematik als Medium übergreifender Debatten geeignet erscheint: über Werte, Autoritäten und Hierarchien, anthropologische Modelle, ökonomische und politische Modelle. Kulturelle Deutungsmuster werden in literarischen Formen, hier narrativ, präsentiert. Bedeutungskonstitution und Sinnzuweisungen, das zeigt der Vergleich jungdeutscher Einlassungen über Jugend mit Droste-Hülshoffs skeptischer Erzählung, werden nicht einfach übernommen, sondern konfrontiert und in der Pluralität der Kommentare differenziert.

4.3

Lebensläufe. Die Grimms, Heine, Gutzkow

Jugend ist Element der Konstitution von Individualität, ist Bestandteil eines Lebenslaufs, erst durch Zäsuren und Diskontinuitäten, durch die Markierung von ›vorher‹ und ›nachher‹, von Schwellen, entsteht ein spezifisches Profil. Er101 Fontanes »Grete Minde« wird, in einem anderen sozialen Milieu, soziale Frustration in die Charakterisierung seiner Titelfigur einbringen. – Die sozialpsychologische Ebene findet auch Berücksichtigung bei Norbert Mecklenburg: Der Fall »Judenbuche«. Revision eines Fehlurteils, Bielefeld 2008, bes. S. 95ff. Mecklenburg argumentiert gegen Lektürestereotypen der Droste-Forschung, zumal metaphysisch argumentierende Deutungen. Der differenziert informierende Artikel von Lars Korten im Droste-Handbuch weist mehrfach auf die zahlreichen, ungewöhnlich kontroversen Lesarten zum Text und seine Interpretationsspielräume hin; vgl. Cornelia Blasberg, Jochen Grywatsch (Hg.): Annette von Droste-Hülshoff. Handbuch, Berlin, Boston 2018, S. 505–529. 102 Vgl. Karoline Krauss: Das offene Geheimnis in Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 1995, 114. Jg., S. 542–559. 103 Vgl. Luhmann: Individuum, S. 232ff. zu »Karriere«. Überlegungen zur »eingefrorenen Adoleszenz« (Mario Erdheim) als Projekt der Restaurationszeit (Hauff, Storm) bei Ewers: Jugend, S. 58f. Vgl. dazu auch den Schluss des Realismus-Abschnitts in der vorliegenden Darstellung.

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fahrung, Beschreibung und Auslegung des Selbst gehören längst vor den verschiedenartigen Fokussierungen von Jugend zu den zentralen Themen von Literatur. Während bis ins 18. Jahrhundert hinein in einem weiteren Sinne dokumentierende Funktionen überwiegen, dominieren im 19. und 20. Jahrhundert, jedenfalls in der kanonisierten Literatur, Formen der Selbstverständigung, zu der dann, wie gesehen, auch der Rekurs auf Jugend gehören kann. Der eigene Lebenslauf, dessen Phasen autobiographisches Schreiben folgt, wird als ungesichert und als kontingenter Effekt deutlich: externer Zuschreibungen und ihres Zusammenwirkens mit ›natürlicher‹ Disposition, der Geschichte, schließlich rhetorischer und gattungsgeschichtlicher Vorgaben. Lebensläufe müssen erschrieben werden. Es ist diese Problemlage, auf die autobiographische Schriften eine markante literarische Antwort sind, allerdings nicht die einzige, weswegen anschließend auch zwei Beispiele außerhalb ihrer Gattungstradition im engeren Sinne aufgegriffen werden: die Selbstbiographien der Brüder Grimm, Heines Buch über Ludwig Börne und schließlich eine Novelle Karl Gutzkows. Gemeinsam ist diesen so unterschiedlichen Texten, dass sie Lebensläufe darstellen: am eigenen Beispiel, am Beispiel des politischen und publizistischen Konkurrenten, am Beispiel einer fiktiven literarischen Figur, wie sie auch bei Droste-Hülshoff begegnet. Sie tun dies, und das macht sie vergleichbar, weil sie sich mit der in der Moderne grundsätzlichen Spannung von Standardisierung und Individualisierung von Lebensläufen konfrontiert sehen, ein zentraler Aspekt jeder Rede über Jugend. Formen des textuellen Umgangs mit dieser Herausforderung sollen im Folgenden näher beschrieben werden. Die »Selbstbiographien« der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm entstehen 1830 für eine hessische Gelehrtengeschichte.104 Beide sind zu diesem Zeitpunkt bereits renommierte Vertreter der deutschen Sprach- und Literaturgeschichte, die sich an den Universitäten in ihrer philologischen Variante eine institutionell noch marginale, aber anerkannte Position gesichert hat. Die Berufung der bis dahin als Kasseler Bibliothekare tätigen Brüder nach Göttingen entspricht dem.105 Ihre autobiographischen Skizzen bilden jene brüderliche Zweisamkeit ab, die den späteren Mythisierungen der germanistischen Gründerzeit so lieb geworden ist. Der Chronologie folgend berichten die Brüder von der Familie, Kindheitsund Schulerfahrungen, schließlich vom Übergang an die Universität und ihren 104 Vgl. Ingeborg Schnack: Die Selbstbiographien von Jacob und Wilhelm Grimm aus dem Juli und September 1830, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 1958, Nr. 2, S. 162–217. 105 Vgl. zur Frühphase der Disziplinentwicklung: Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart u. a. 1994; Lothar Bluhm: Die Brüder Grimm und der Beginn der Deutschen Philologie. Eine Studie zu Kommunikation und Wissenschaftsbildung im frühen 19. Jahrhundert, Hildesheim u. a. 1997; Steffen Martus: Die Brüder Grimm. Eine Biographie, Berlin 2009, S. 321ff.

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akademischen Lehrern; besonders Friedrich Carl von Savigny wird hier respektvoll hervorgehoben und in seinen Anregungen für historisches und philologisches Denken gewürdigt. Von den beruflichen Positionen, die zunächst von den Bedingungen des ancien regime und seiner Erschütterung durch die napoleonische Besatzungszeit geprägt sind, ist ebenso die Rede wie von den »altdeutschen Studien«,106 denen sich die Brüder mit unterschiedlichen Interessenschwerpunkten widmen. Jacob schließt mit rühmenden Worten auf die »alte[] Gemeinschaft« mit Wilhelm,107 dieser gedenkt der »rührenden Beweise herzlicher Freundschaft und Liebe« in Kassel und der »wohlwollende[n] Aufnahme«, besonders durch den Kollegen Georg Friedrich Benecke, in Göttingen.108 Keineswegs werden in diesen Autobiographien negative Erfahrungen ausgeblendet. Von untalentierten Lehrern, der bedrückenden Fremdherrschaft und der finanziellen Misere der Familie nach dem frühen Tod des Vaters ist sehr wohl die Rede. Nur werden diese Defizite als Stationen eines kontinuierlichen Lernprozesses begriffen. Eine deprimierende Erfahrung des jungen Studenten, ein Stipendium wird dem ohnehin wohlhabenden Kommilitonen zuteil, kommentiert Jacob: »Doch hat es mich nie geschmerzt, vielmehr habe ich oft hernach das Glück und auch die Freiheit mäßiger Vermögensumstände empfunden. Dürftigkeit spornt zu Fleiß und Arbeit an, bewahrt vor mancher Zerstreuung und flößt einen nicht unedlen Stolz ein, den das Bewußtsein des Selbstverdienstes, gegenüber dem, was andern Stand und Reichtum gewähren, aufrecht erhält. Ich möchte sogar die Behauptung allgemeiner fassen und vieles von dem, was Deutsche überhaupt geleistet haben, gerade dem beilegen, daß sie kein reiches Volk sind. Sie arbeiten von unten herauf und brechen sich viele eigentümliche Wege, während andere Völker mehr auf einer breiten, gebahnten Heerstraße wandeln.«109

Es ist dies keine Schreibstrategie der Glättung und Beschönigung, die sich der verklärenden Einwirkung der endlich erlangten Göttinger Professur und ihren materiellen Garantien verdankte. Noch 1851, nach der Amtsenthebung und nach dem ungeliebten Wechsel in die Metropole Berlin, versichert Jacob in einem kurzen »Lebensabriß« für die Brockhaussche Enzyklopädie: »Was ihm in seinen äußeren Stellungen je Leids geschah, ist ihm stets zum Heil ausgeschlagen.«110 Dieses Heil ist nur noch bedingt ein christlich konnotiertes. Die Brüder berichten zwar von der selbstverständlichen reformierten Religiosität ihrer Familie und 106 Wilhelm Grimm: Selbstbiographie, in: Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Schriften und Reden. Ausgewählt u. hg. v. Ludwig Denecke, Stuttgart 1985, S. 163–186, S. 172. 107 Jacob Grimm: Selbstbiographie, ebd., S. 15–34, S. 34. 108 Wilhelm Grimm: Selbstbiographie, S. 186. 109 Jacob Grimm: Selbstbiographie, S. 19. 110 Jacob Grimm: Lebensabriß, in: Denecke (Hg.): Schriften, S. 34–37, S. 36. Das folgende Zitat ebd.

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den entsprechenden frühen kirchlichen Eindrücken, das angesprochene »Heil« aber ist keines, das mit direkter göttlicher Einwirkung verknüpft würde, wie dies pietistische Autobiographien demonstrativ tun; noch das Entlegene und Zufällige gerät ihnen zum Beweis einer göttlichen Weltordnung, in der die Führung durch den Herrn bei genauer Betrachtung deutlich aufscheint.111 Vielmehr wird bei den Grimms »die Gunst der Verhältnisse« für die Möglichkeit zur philologisch-historischen Arbeit verantwortlich gemacht. Diese »Gunst« der Umbruchssituation um 1810 hat zwei Ebenen: Zum einen ist es, im persönlichen Bereich der Brüder, die Anstellung als Bibliothekare, die neben dem nur mäßig belastenden Dienst das intensive Studium altdeutscher Texte ermöglicht.112 »Es kam darauf an«, so die spätere Einschätzung, »einen fast ganz brach liegenden, unabsehbaren Boden in raschen Angriff zu nehmen und die Früchte wuchsen nicht karg auf.«113 Zum anderen ist es, im Bereich der politisch-sozialen Entwicklungen, das Interesse des zeitgenössischen Publikums für die Erforschung mittelalterlicher Kultur;114 die ersten Professuren für altdeutsche Sprache und Literatur wie ein, wenn auch begrenztes, verlegerisches Engagement für Zeitschriften- und Editionsprojekte resultieren hieraus. Beide Komponenten koinzidieren in der mentalen Disposition der Brüder, die gleichsam ein Skelett ihrer autobiographischen Aufzeichnungen abgibt. »Fleiß und strenge Aufmerksamkeit«115 charakterisieren schon die ersten Schulerfahrungen wie später die Arbeit der renommierten Germanisten, die ihren Fluchtpunkt tatsächlich nicht in jenem »Stand und Reichtum« hat, dem Jacob das »Bewußtsein des Selbstverdienstes« und patriotischen Eifer entgegenhält. Ihm erscheint noch das bloße Abschreiben der Handschriften als »würdige, ernste Aufgabe, die sich bestimmt und fest auf unser gemeinsames Vaterland bezieht und die Liebe zu ihm nährt.«116 Diese Lebensläufe sind grundsätzlich statisch angelegt, ein Denken in ›Krisen‹ ist ihnen fremd. Die wissenschaftliche Karriere der Brüder, die Berufung nach Göttingen wie später die an die Berliner Akademie, wird als störende Zäsur empfunden. Hatte Jacob schon 1816 eine ihm angetragene Professur in Bonn abgelehnt, »weil ich in Hessen zu leben und zu sterben dachte«, so heißt es entsprechend über die Berufung an die Georgia Augusta: »Die geliebte und ge111 Vgl. Günter Niggl: Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert, in: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, um ein Nachw. zur Neuausgabe u. einen bibliographischen Nachtrag erg. Aufl. Darmstadt 21998, S. 367–391. 112 Vgl. Jacob Grimm: Selbstbiographie, S. 25; Wilhelm Grimm: Selbstbiographie, S. 183. 113 Jacob Grimm: Lebensabriß, S. 36. 114 Vgl. Wilhelm Grimm: Selbstbiographie, S. 172–173. 115 Jacob Grimm: Selbstbiographie, S. 16. 116 Ebd., S. 33.

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wohnte Heimat aufzugeben schien uns hart und schmerzhaft wie vorher, aus dem Geleise genau bekannter Beschäftigungen und einer uns Frucht bringenden Muße herauszutreten, fast unerträglich.«117 Was in der entstehenden Hochschullandschaft nach der Reorganisation der Bildungssysteme in den deutschen Staaten zum erwünschten Regelfall wird, ist hier als Beeinträchtigung der wahren Tätigkeit beschrieben. Nicht die Orientierung an den Reputationskriterien der sich professionalisierenden Disziplinen kommt hier zu Sprache. Ihnen genügen Kollegen wie Friedrich Heinrich von der Hagen, der als unbesoldeter Professor an der neugegründeten Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin beginnt, zum Ordinarius in Breslau aufsteigt und schließlich ins Wissenschaftszentrum Berlin zurückkehrt. Oder Karl Lachmann, neben Jacob Grimm der andere ›Gründungsvater‹ der Deutschen Philologie, auch er mit dem Karrieresprung von der Provinzuniversität Königsberg an Universität und Akademie in der preußischen Hauptstadt.118 Von den Grimms hingegen werden die institutionellen Möglichkeiten des disziplinären Aufbruchs nicht als Karrierechance begriffen. Indifferent gegen die Verbesserung der Besoldung, den erweiterten fachpolitischen Einfluss und die lokale Reputation an einer angesehenen Universität wird das Beispiel des Großvaters zitiert: »Er war 47 Jahre an demselben Orte Prediger gewesen. Wie beneidenswert schien mir dieses Los: ein segensvolles Amt, Liebe und Achtung der Gemeinde, Muße zur Betrachtung und zum Nachsinnen, und ein lebendiges und freudiges Gefühl des Daseins.«119 Es eignet diesen Selbstbiographien der Charme Jean-Paulscher Idyllen. Kohärenz und Sinnhaftigkeit des eigenen Lebenswegs sind die herausragenden Charakteristika dieser Texte, das Lob des Herkommens mündet in das des Lehrers Savigny, dessen Vortrag anzieht ohne rhetorische Finessen, dessen »äußere Erscheinung« dem Eindruck selbstgewisser Ruhe »völlig angemessen« genannt wird.120 Wissenschaftliche Lehre, Charakter und äußerer Habitus sind kongruent. Was der Wissenschaftsgeschichte als folgerichtiger Aufstieg von der Bibliothekarsstelle in der hessischen Provinz zu den Professuren in Göttingen und später Berlin erscheint, gilt den Verfassern als, wenn auch unvermeidliche, Abweichung. Ihr Lebenslauf sollte den Bedingungen des familiären Ursprungs verpflichtet bleiben: der Kooperation mit dem Bruder in Wissenschaft und Leben 117 Ebd., S. 31. Über die Tätigkeit als Bibliothekare in Kassel wird gesagt: »Von jetzt an beginnt die ruhigste, arbeitsamste und vielleicht auch die fruchtbarste Zeit meines Lebens« (S. 29). Ähnlich Wilhelm, der die »Muße zum Studieren« im »pünktlich verwalteten Amt« betont: »Wir dachten nicht, daß wir je diese Stellung aufgeben würden« (Selbstbiographie, S. 183). 118 Vgl. im Kontext der disziplinären Entwicklung Rainer Kolk: Zur Professionalisierung und Disziplinentwicklung in der Germanistik, in: Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaft und Nation. Zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, München 1991, S. 127–140. 119 Wilhelm Grimm: Selbstbiographie, S. 168. 120 Ebd., S. 170.

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wie dem »Haften bei dem Stande des Vaters«, das als »etwas Natürliches, Unschädliches und sogar Ratsames« vorgestellt wird.121 Noch in der akademischen Trauerrede auf den verstorbenen Bruder nennt Jacob Grimm 1860 die »stille, ruhige arbeit und sammlung, die sich jahre lang nur selbst genügen konnten«,122 als Telos zweier Lebenswege. Nicht die gesellschaftlich vorstrukturierten Karrieremuster gelten als verbindlich, ›Normalität‹ und innere Folgerichtigkeit, so die Selbstdarstellung dieser Texte, entsteht durch weitgehende Minimierung äußerer Faktoren, die nur »mancher Zerstreuung« Vorschub zu leisten geeignet wären. Das »Ich« dieser autobiographischen Aufzeichnungen erscheint »seltsam alterslos«.123 Weil die in der Perspektive des späteren Betrachters angemessenen und erstrebenswerten Stufen beruflichen Aufstiegs nicht als Erfolge, sondern als Devianz verstanden werden, eignet sich ihr wiederholtes Auftreten nicht zur Korrelation mit dem biologischen Lebensalter.124 Die Erforscher des Ursprungs des deutschen Volkes bleiben dem eigenen verhaftet. Schon die zeitgenössische Deutsche Philologie hat sich den Gestus asketischer Konzentration auf die »Deutschen Studien« und frugaler Lebensführung zu eigen gemacht. Solcher Geradlinigkeit ist das lebenslang von Heinrich Heine gepflegte Autobiographie-Projekt diametral entgegengesetzt. Noch in seinen heute vorliegenden Bruchstücken, den »Geständnissen« und den »Memoiren« zumal, zeigt sich ein Changieren zwischen persönlichen Bekenntnissen und zeitgeschichtlichem Kommentar, zeigt sich ein episodisches Erzählverfahren, das nicht auf Kohärenz abhebt, sondern den grundsätzlichen Zweifel an authentischer Selbstdarstellung zum Schreibprinzip erhebt.125 Gerade deshalb sind diese Texte immer Autobiographie und Zeitgeschichtsschreibung zugleich126 – und künstlerisch ambitioniertes Werk.

121 Jacob Grimm: Selbstbiographie, S. 19. Dieter Richter konstatiert die Suche nach »Zeichen einer Kontinuität im zeitlichen Wandel der Dinge«; Die Reise in die Kindheit. Ein romantisches Motiv, in: Oesterle (Hg.): Jugend, S. 181–192, S. 183. 122 Rede auf Wilhelm Grimm, in: Denecke (Hg.): Schriften und Reden, S. 115–132, S. 121. 123 Ulrich Wyss: Einleitung, in: Jacob Grimm: Selbstbiographie. Ausgewählte Schriften, Reden und Abhandlungen, hg. u. eingel. v. Ulrich Wyss, München 1984, S. 7–21, S. 7, dort auch: »Den Mächten des Anfangs und den Konstellationen des Ursprungs hält er die Treue bis zum Ende, im Leben und im Werk.« 124 Hier ist eine Differenz zur Gelehrtenautobiographie des 18. Jahrhunderts zu sehen, in der die erfolgreiche Existenz des Gelehrten in der Rückschau geschildert, der erreichte soziale Status bekräftigt wird; vgl. Georg Stanitzek: Genie: Karriere/ Lebenslauf. Zur Zeitsemantik des 18. Jahrhunderts und zu J.M.R. Lenz, in: Fohrmann (Hg.): Lebensläufe, S. 241–255, S. 244. 125 Vgl. die Übersicht zur Forschungslage bei Gerhard Höhn: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk, 2. aktualis. u. erw. Aufl. Stuttgart u. a. 1997, S. 486–489, S. 494–499; die 3. Aufl. 2004 ist im Textstand leider unverändert. 126 Vgl. Michael Werner: Rollenspiel oder Ichbezogenheit? Zum Problem der Selbstdarstellung in Heines Werk, in: Heine-Jahrbuch, 1979, 18. Jg., S. 99–117, S. 110.

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Reflexionen auf die Problematik des Lebenslaufes finden sich aber nicht nur in diesen deutlich autobiographisch ausgewiesenen Schriften, sondern durchziehen seit den »Reisebildern« viele Texte Heines. Wie wenige Autoren ist der scharfsichtige Zeitdiagnostiker Heine auch immer Selbstbeobachter. Über diese Thematik der gegenseitigen Konturierung von Beobachtung und Selbstbeobachtung konstituiert sich Heines »Ludwig Börne. Eine Denkschrift«, in die Teile des Memoirenprojekts eingegangen sind, an dem Heine seit Anfang 1837 für eine geplante Werkausgabe schrieb. Die Folgen dieser 1840 vorgelegten Monographie für ihren Verfasser sind bekannt. Als üble Nachrede missverstanden, bot sie Anlass für eine Stigmatisierung des angeblich charakterlosen Heine, der sich aus der antifeudalen Bewegung um der persönlichen Abrechnung mit einem Toten willen herausgeschrieben hatte. Hinter dieser politisch-moralischen Perspektive trat die grundsätzliche Konzeption zurück: die Auseinandersetzung mit dem Lebenslauf des Konkurrenten im intellektuellen Feld als Gelegenheit zur integrierten Reflexion auf Biographie, Autobiographie und Zeitgeschichtsschreibung.127 »Autobiographie ist eine Art Zeugenaussage«, hat Ruth Klüger bemerkt und damit auf die immer prekäre Verlässlichkeit und empirische Verifizierbarkeit des Autors aufmerksam gemacht.128 Die Perspektivität des Zeugen ist immer gegeben, nie kann es sich um jene Objektivität handeln, die gleichwohl von vielen Rezipienten erwartet wird. Heine misstraut in seinem Shakespeare-Aufsatz 1839 der »sogenannte[n] Objektivität, wovon heut so viel die Rede«. Sie sei »nichts als eine trockene Lüge; es ist nicht möglich, die Vergangenheit zu schildern, ohne ihr die Färbung unserer eigenen Gefühle zu verleihen.«129 Heine bezieht damit nicht nur eine dezidierte Gegenposition zur historistischen Geschichtswissenschaft seiner Zeit, sondern erklärt die von ihr bekämpfte Subjektivität zur unverzichtbaren Prämisse einer Wahrheit jenseits annalistischer Recherche. Shakespeares Größe gleiche der früherer Geschichtsschreiber, »die ebenfalls keinen Unter127 Eine Gesamtdarstellung liegt jetzt vor, vgl. Rüdiger Scholz: Die Weltgeschichte und der große Dichter. Heinrich Heines Denkschrift über Ludwig Börne und die innere Biographie. Ein Lehrbuch, Würzburg 2021. 128 Ruth Klüger: Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie, in: Magdalena Heuser (Hg.): Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte, Tübingen 1996, S. 405–411, S. 409. Vgl. grundsätzlich zur »Aufrichtigkeitsregel« des autobiographischen Textes Jürgen Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten. Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie, Tübingen 1988, bes. S. 42–44. 129 Heinrich Heine: Shakespeares Mädchen und Frauen. Erläuterungen, in: Heinrich Heine: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden, hg. v. Klaus Briegleb, München 1976, Bd. 7, S. 171–293, S. 179; Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe mit Sigle B und Bandzahl. Ich schließe an frühere Überlegungen an; vgl. Rainer Kolk: Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers. Heines »Ludwig Börne. Eine Denkschrift« im Kontext, in: Joseph A. Kruse, Bernd Witte, Karin Füllner (Hg.): Aufklärung und Skepsis. Internationaler Heine-Kongreß 1997 zum 200. Geburtstag, Stuttgart, Weimar 1999, S. 86–101.

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schied wussten zwischen Poesie und Historie, und nicht bloß eine Nomenklatur des Geschehenen, ein stäubiges Herbarium der Ereignisse, lieferten, sondern die Wahrheit verklärten durch Gesang, und im Gesange nur die Stimme der Wahrheit tönen ließen.«130 Das ingenium des Autors befähigt ihn zur Grenzüberschreitung, sein Verfahren ist keine erlernbare historisch-kritische Methode, sondern ein divinatorisches: »wenn seiner Anschauung nur das kleinste Bruchstück der Erscheinungswelt von außen geboten wird, offenbart sich ihm gleich der ganze universelle Zusammenhang dieses Bruchstücks; er kennt gleichsam Zirkulatur und Zentrum aller Dinge; er begreift die Dinge in ihrem weitesten Umfang und tiefsten Mittelpunkt.«131

Die historische Persönlichkeit eines Ludwig Börne kann in Heines »Denkschrift« diese Funktion eines »Bruchstücks« übernehmen. Denn Heine geht es nicht um eine faktengesättigte Biographie, in der dann die eigene Position legitimiert und gegenüber dem Konkurrenten ins rechte Licht gesetzt werden könnte. Vielmehr ist der Gegenstand des Buchs seine Sonde, die Heine zur Erkundung der gemeinsamen Epoche benutzt; über das zeitgeschichtliche Personal in »Lutezia« verlautet später, es handele sich um »Träger und Anknüpfungspfosten von Gedanken«.132 Hieß es 1822 über Goethes »Campagne in Frankreich«: »Denn diese Selbstbiographie ist auch die Biographie der Zeit«,133 so unternimmt es Heine jetzt vorzuführen, »wie Börne den zeitgenossenschaftlichen Passionen als Organ diente und seine Schriften nicht als Produkt eines Einzelnen, sondern als Dokument unserer politischen Sturm- und Drangperiode betrachtet werden müssen.«134 Börne als »Organ«, als Werkzeug, als Medium: Es ist diese Eigenschaft, die den Radikalliberalen zum Gegenstand einer biographisch angelegten Schrift macht, die über autobiographische Kommentierung zeitbiographisches Niveau anstrebt. Heine folgt, sieht man vom Einschub des zweiten Buchs, dem Rückblick auf den eigenen Revolutionsenthusiasmus 1830, ab, der Chronologie seiner Bekanntschaft mit Börne. Ihre Phasen werden präzise datiert. 1815 der Besuch im Frankfurter Judenviertel, in dem Börne als unnachsichtiger Theaterkritiker bekannt ist; Heine sieht diese Tätigkeit als Übungsphase »für die besseren Dienste, die er später als großer politischer Operateur mit seiner gewetzten Kritik zu

130 B7, S. 179. Vgl. Jürgen Ferner: Versöhnung und Progression. Zum geschichtsphilosophischen Denken Heinrich Heines, Bielefeld 1994, bes. S. 95–100. 131 B7, S. 181. 132 Zit. nach Christian Liedtke: »Ich kann ertragen kaum den Duft der Sieger«. Zur politischen Dichtung Heinrich Heines nach 1848, in: Christian Liedke (Hg.): Heinrich Heine. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2000, S. 216–236, S. 222. 133 B3, S. 63 (in den »Briefen aus Berlin«). 134 B7, S. 77.

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leisten verstand.«135 1827, erneut in Frankfurt, bemerkt der Verfasser der »Reisebilder« bereits jene habituelle und physiognomische Veränderung Börnes, die den im Folgenden kontinuierlich beschriebenen Gegensatz an Körperzeichen abliest. Börne erscheint vor Heine als »zufriedenes Männchen, […] Gemütlichkeit in jedem Blick«,136 stolzer Sammler erlesenen Porzellans. 1831, nach Heines Übersiedlung nach Paris, zeigt dieser Blick »bedenkliche Funken«.137 Heine nimmt an Börne die Zeichen des »politischen Wahnsinns« wahr,138 der den Publizisten wiederum als »Operateur« zeigt: nun aber im Dienste eines unbeirrbaren Fanatismus. Heine lässt Börne sprechen: »Es wird bald sehr betrübt bei uns aussehen und sehr blutig. Revolutionen sind eine schreckliche Sache, aber sie sind notwendig, wie Amputationen, wenn irgend ein Glied in Fäulnis geraten. Da muß man schnell zuschneiden, und ohne ängstliches Innehalten. Jede Verzögerung bringt Gefahr, und wer aus Mitleid oder aus Schrecken, beim Anblick des vielen Blutes, die Operation nur zur Hälfte verrichtet, der handelt grausamer als der schlimmste Wüterich. Hol der Henker alle weichherzigen Chirurgen und ihre Halbheit!«139

Diese Passage ist als Zitat ausgewiesen. Tatsächlich gibt es in Heines »Denkschrift« eine Reihe von nachprüfbaren Zitaten; besonders am Schluss, der sich mit Börnes Vorwurf moralischer und politischer Unzuverlässigkeit auseinandersetzt, werden umfangreiche Auszüge aus Börnes »Pariser Briefen« wortgetreu mitgeteilt. Heine folgt der rhetorischen Maxime, den Gegner coram publico zunächst selbst zu Wort kommen zu lassen, um ihn dann um so überzeugender widerlegen zu können. Konsequent folgt dem jeweiligen Zitat der Kommentar, den affektgeladenen Tiraden des Volkstribunen Börne die geschliffene Sachanalyse des Zeitgeschichtsschreibers Heine.140 Die gerade erwähnte Stelle allerdings ist Heines Komposition. Wenngleich die inhaltlichen Übereinstimmungen mit publizierten und privaten Äußerungen Börnes unbestreitbar sind,141 wird man hier nicht nur eine leserfreundlich raffende Umformulierung sehen wollen. Heine benutzt eine szenische Schreibtechnik, die Gesprächssituationen simu135 136 137 138 139 140

B7, S. 10. B7, S. 13. B7, S. 61. B7, S. 67. B7, S. 61–62. Zu Börne als Volkstribun vgl. B7, S. 73–76; zu Heines Selbstverständnis als Historiker der Gegenwart vgl. Susanne Bierwirth: Heines Dichterbilder. Stationen seines ästhetischen Selbstverständnisses, Stuttgart, Weimar 1995, bes. S. 177–184. 141 Vgl. die Einschätzung von Klaus Briegleb, B8, S. 775–777; ähnlich Hannah Spencer: Gipfel oder Tiefpunkt? Die Denkschrift für Ludwig Börne. In: Hannah Spencer: Dichter, Denker, Journalist. Studien zum Werk Heinrich Heines, Bern u. a. 1977, S. 101–149. Vgl. zu Börne: Inge Rippmann, Wolfgang Labuhn (Hg.): »Die Kunst – eine Tochter der Zeit«. Neue Studien zu Ludwig Börne, Bielefeld 1988.

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liert.142 Börne und Heine, Rede und Gegenrede stehen gegeneinander, der Leser wird zum Augenzeugen einer Disputation der konträren Positionen. Dieser forensische Charakter ist für eine »Denkschrift« konstitutiv; eine »eingabe an die behörde welche die lage der dinge darstellt«, definiert das »Deutsche Wörterbuch«.143 Heines Appell ist an den Leser adressiert, der jene »politische[] Sturmund Drangperiode« in ihren Spannungen zu verstehen, nicht auf bündige Parolen zu reduzieren sucht. Dies nämlich ist Börnes entscheidender Fehler, den Heine mit der Distanzierung von den Pariser Exilanten und ihren politischen Kampfbündnissen beantwortet. Börne wird in seiner Entwicklung zur »Seele der Pariser Propaganda« gezeigt,144 die sich durch undifferenzierte Analysen der tatsächlichen politischen »lage« ebenso auszeichnet wie durch fanatische Sektiererei und Verachtung der Kunst. Der demagogische Irrweg, den Heine Börne beschreiten sieht, beginnt in der habituellen Differenz der Kontrahenten, die Heine kulturphilosophisch reformuliert. Der »Nazarener« Börne mit »ascetischen, bildfeindlichen, vergeistigungssüchtigen Trieben« steht dem »Hellenen« gegenüber, dem »Menschen von lebensheiterem, entfaltungsstolzem und realistischem Wesen«.145 Auf der persönlichen Ebene ein »Zweikampf«,146 sieht Heine in diesem Dualismus in historischer Perspektive eine dauerhafte Rivalität, eine universell wirksame Dichotomie konträrer Prinzipien und Lebensformen. Der Lebensweg Börnes steht im Zeichen dieser nazarenischen Position, er lebt ihrer idealtypischen Beschreibung seit seinen Frankfurter Anfängen geradezu entgegen. Heine gibt diese Annäherung als geradlinig aus, kein Richtungswandel stört ihre lineare Bewegung. Die Fiktionalisierung, die komponierten szenischen Gesprächssituationen mit ihren fingierten Zitaten, steht dem dokumentierenden Gestus nicht entgegen, sondern soll die Glaubwürdigkeit dieses Schemas erhöhen. Gleichsam unverstellt, direkt, mit eigenen Worten tritt Börne dem Leser der »Denkschrift« vor Augen. Börnes politische Position ist klar strukturiert, kein Zweifel stört ihren selbstgewissen Revolutionsoptimismus. Börne sieht sich mit der ›Bewegung‹ seiner Epoche synchron. Noch der Zeitpunkt seines Todes fügt sich dieser Kongruenz. »Es war vielleicht ein Glück für Börne, daß er starb«, so Heine: »Wenn nicht der Tod ihn rettete, vielleicht sähen wir ihn heute römisch katholisch blamiert.«147

142 Vgl. Rainer Kolk: »Lessing war der literarische Arminius«. Heine und die Aufklärer, in: Wolfgang Braungart (Hg.): Verehrung und Distanz. Vom Umgang mit dem Dichter im 19. Jahrhundert, Tübingen 2004, S. 151–169. 143 Deutsches Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 942. 144 B7, S. 72. 145 B7, S. 18. 146 B7, S. 17. 147 B7, S. 111.

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Dieser Kohärenz des Börneschen Lebenslaufs setzt Heine die Kontingenz des eigenen entgegen. Zu den wünschenswerten zukünftigen »Fortschritten« heißt es: »Aufrichtig gesagt, ich zweifle daran. Ich fühle eine sonderbare Müdigkeit des Geistes«.148 Die autobiographische Aussage, welche die Rede über den Zeitgenossen Börne immer begleitet, kreist um jene Konstitution des Autors, der sich als Seismograph der Welt insgesamt versteht. Schon in den »Bädern von Lucca« konstatiert Heine ihre »Zerrissenheit«, und »da das Herz des Dichters der Mittelpunkt der Welt ist, so mußte es wohl in jetziger Zeit jämmerlich zerrissen werden.[…] Durch das meinige ging aber der große Weltriß, und eben deswegen weiß ich, daß die großen Götter mich vor vielen anderen hoch begnadigt und des Dichtermärtyrtums würdig geachtet haben.«149

Der Folgerichtigkeit des Börneschen Lebenslaufs im Zeichen des politischen Aktivismus steht in der »Denkschrift« die Fragmentierung des Heineschen im Zeichen des wahren Dichtertums gegenüber. Die subjektive Berichtsposition, die Heine dann mit moralisierenden Untertönen vorgeworfen wird, erweist sich als Schreibstrategie. Notwendig ist diese ›Subjektivität‹, weil sie den ›objektiven‹ Gegebenheiten der epochalen Situation adäquat ist. Die historische Figur Börne liefert jenes alter ego, das für ›Gegenwart‹, für ›Zeitgeschichte‹ einsteht. Nicht einer auf persönliche Abrechnung zielenden Intention ist die Konzeption des Börne-Buchs geschuldet, sondern der textuellen Erfordernis eines Fremdporträts, das in dieser Facette nicht aufgeht, mit dem Selbstporträt notwendig verknüpft ist.150 Selbstreflexion seines Autors, Börne-Biographie und Zeitdiagnose sind untrennbar, ergeben ein Netz von Bezügen. Zugleich findet sich eine »metanarrative Ebene«,151 auf der Heine die Bedingungen der Möglichkeit von Wahrhaftigkeit diskutiert. Das »beständige Konstatieren meiner Persönlichkeit« sei »das geeignetste Mittel, ein Selbsturteil des Lesers zu fördern«: »Ich zeichne nur sein Bild, mit genauer Angabe des Ortes und der Zeit, wo er mir saß. Zugleich verhehle ich nicht, welche günstige oder ungünstige Stimmung mich während der

148 B7, S. 138. 149 B3, S. 405–406. Die Nobilitierung von Poesie als Grundlage des autobiographischen Schreibens verdeutlicht Klaus-Detlef Müller mit Blick auf Goethes »Dichtung und Wahrheit«: Die Autobiographie der Goethezeit. Historischer Sinn und gattungsgeschichtliche Perspektiven, in: Niggl (Hg.): Autobiographie, S. 459–481, S. 469–473. Im Anspruch, »Mittelpunkt der Welt« zu sein, zeigt sich eine Affinität zum Exemplarischen des Lebenslaufs bei Goethe; vgl. Lehmann: Bekennen, S. 8. 150 Wiederholt sind die Übereinstimmungen der beiden Kontrahenten in politischer Hinsicht und in der Einschätzung ihrer Exilsituation betont worden; vgl. Inge Rippmann: »Sie saßen an den Wassern Babylons«. Eine Annäherung an Heinrich Heines »Denkschrift über Ludwig Börne«, in: Heine-Jahrbuch, 1995, 34. Jg., S. 25–47. 151 Vgl. allgemein zu diesem Merkmal moderner Autobiographik Michaela Holdenried: Autobiographie, Stuttgart 2000, S. 47.

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Sitzung beherrschte. Ich liefere dadurch den besten Maßstab für den Glauben, den meine Angaben verdienen.«152 Nicht die unreflektierte Selbstgewissheit Börnes, so Heine, garantiert Wahrheit, sondern das Bewusstsein der immer perspektivischen Beobachtung von Zeit und Person. Und die Wiedergabe dieser Beobachtung geht in linearer Narration nicht auf, sondern umfasst in der »Denkschrift« Gespräche, Zitate, Träume, persönliche Geständnisse, Anekdoten, mythologische Exkurse. Die Erkenntnis des ›Weltrisses‹ schließt die der Unmöglichkeit existentieller Gewissheit und unbezweifelbarer Wahrheit ein. Nur das seiner Heteronomie bewusste Subjekt kann jene Wahrhaftigkeit beanspruchen, die allein noch Wahrheit zu formulieren vermag. Eine Wahrheit, die von ihrer Textgestalt nicht zu trennen ist, erst im Schreiben entsteht. Dem fragmentierten Lebenslauf des Dichters kann kein Telos außerhalb seines Werks zuerkannt werden. Die »Denkschrift« schließt mit der Vision vom Sieg des kunstfeindlichen Pöbels über die Nymphen. Karl Gutzkows Novelle »Die Selbsttaufe« von 1845 beschreibt eine Wende. Der männliche Protagonist, Gottfried Eberlin, ist eine Schwellenexistenz, ein eher unschlüssiger Student, Kandidat der Theologie, und wird von der unscheinbaren Agathe geliebt. Eine Verlobung rückt, bedingt durch Forderungen ihres dominanten Vaters, in weite Ferne. Eines Tages erscheint Gottfried bei der Familie Agathes, präsentiert sich als Doktor der Philosophie und mit neuem Namen: Ottfried. Agathes schöne und wohlhabende Schwester Sidonie verliebt sich in ihn, die Heirat deutet sich an, ein ehemaliger Kommilitone eröffnet ihm eine glanzvolle diplomatische Karriere, Agathe siecht enttäuscht dahin. Das hört sich nach mittelmäßiger Unterhaltungsware an, aber Gutzkow erlaubt sich eine Reihe von ironischen Untertönen, wenn er von den Gepflogenheiten der besseren Gesellschaft berichtet oder mit dem Nussbaum beim Rendezvous auf Lotte und Werther anspielt, von deren psychischer wie physischer Verfassung Agathe und Gottfried denkbar weit entfernt sind.153 Eine weitere literarische Vorlage wird man im goethezeitlichen Modell der Bildungs- oder Initiationsgeschichte sehen können, das die allmähliche Reifung eines Individuums und seine soziale Integration thematisiert.154 Genau diese Entwicklung radikalisiert Gutzkow. Sein Protagonist vollzieht, was man mit aktuellem Vokabular einen Neustart nennen könnte: eine biographische Diskontinuierung. Vom unsicheren Studenten zum Akademiker mit geschliffenem gesellschaftlichen Auftreten, vom schüchternen Verehrer zum selbstbewussten Gemahl der 152 B7, S. 128. 153 Vgl. Die Selbsttaufe, in: Karl Gutzkow: Die Selbsttaufe. Erzählungen und Novellen, hg. v. Stephan Landshuter. Mit einem Nachwort v. Wolfgang Lukas, Passau 1998, S. 67–145, S. 86, S. 102. 154 Dieser Hinweis im kenntnisreichen Nachwort zur Gutzkow-Edition von Wolfgang Lukas, S. 389–410, S. 393f.

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umschwärmten Schönheit, vom materiell ungesicherten Theologiekandidaten zum Legationssekretär in heikler Mission. Die Zäsur selbst liegt in einem dreijährigen Schauspielerdasein begründet, das Gottfried als »lange leidenvolle Verwirrung« ansieht: »Ich war krank an mir selbst.«155 Die Überwindung dieser ›Krankheit‹ führt in einen komplett neuen Lebensentwurf, das, was im Text lakonisch als »Rollenaustheilungen« bezeichnet wird,156 beginnt von vorn, nun mit verändertem Vorzeichen. Dem Wechsel des Vornamens, aus Gottfried wird Ottfried, entspricht die intellektuelle Ausrichtung: aus dem Theologen ist mit dem Verlust des G(otte)s der Philosoph geworden. Und ganz weltlich wird die neue Laufbahn kommentiert: »Haben wir doch Alle ein zweites Leben oder sollen wir doch dahin dringen, zum zweiten Male geboren zu werden. Das Eine gibt uns die Welt, das Andere der Geist; im Einen sind wir abhängig, im Andern frei. Jedermann sollte das Recht haben, sich in einem gewissen Alter über seine Stellung zur Gesellschaft, über seinen Stand, seine Religion, ja selbst über seinen Namen zu entscheiden. Jeder, der es dahin gebracht hat, sich aus sich selbst zu erzeugen!«157

Prägnanter lässt sich die Prämisse moderner Individualität kaum beschreiben. Identität ist keine durch Namen, Familien- und Standeszugehörigkeit vorgegebene, der die eigene Laufbahn zu gehorchen hätte. Identität ist kontinuierlich gestellte Aufgabe, trägt einen futurischen Index: wie ›Jugend‹ im modernen Sinn. Schauspielerei und diplomatischer Dienst sind beide möglich, gesellschaftliche Ächtung und hoher Sozialstatus sind allein getrennt durch individuelle Leistungsfähigkeit, soziale Bedingungen für Gesundheit und ›Normalität‹ bleiben marginal. »Die Moral dieses Lebens ist grausam«, so Ottfried, »Einige sind glücklich, aber nur sehr wenige; Millionen sind es nicht. Sollen wir nun seufzen, uns schleppen, stöhnen, ächzen und den Schöpfer anwinseln: Glück, Glück! Nein, ich will kein Glück und das ist meine Zufriedenheit.«158 Immer wieder verwendet der Text das in der modernen Soziologie unverzichtbare Vokabular der »Rolle«, um die riskanten Anforderungen an Individualität zu demonstrieren. Über das Verhalten des Vaters von Agathe und Si155 Gutzkow: Selbsttaufe, S. 133–134. 156 Ebd., S. 105. Auf epochale Veränderungen anthropologischer Prämissen (Disziplinierung von ›Sinnlichkeit‹ u. a.) macht Wolfgang Lukas aufmerksam: ›Gezähmte Wildheit‹: Zur Rekonstruktion der literarischen Anthropologie des ›Bürgers‹ um die Jahrhundertmitte (ca. 1840–1860), in: Achim Barsch, Peter M. Hejl (Hg.): Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850–1914), Frankfurt a. M. 2000, S. 335–375. Vgl. Sebastian Susteck: Erfindung des Kindes, Rückzug der Pädagogik. Zu einer ideen- und literaturgeschichtlichen Entwicklung zwischen Spätaufklärung und Realismus mit Besonderer Berücksichtigung Christian Gotthilf Salzmanns und Gottfried Kellers, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2012, S. 71–97. 157 Gutzkow: Selbsttaufe, S. 114. 158 Ebd., S. 121–122.

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donie im geselligen Zirkel wird gesagt, »daß er seine Rolle wie ein Künstler spielte« und »Meister in diesen Attitüden« sei.159 Entsprechend kommentiert Ottfried: »Es ist auffallend, welchen Einfluß das praktische Leben auf jugendliche Gemüther ausübt. Ich habe Charaktere gekannt, die beim ersten Schritt in eine Amtsstube, beim ersten Actenstück, das sie gravitätisch vom Büreau mit nach Hause nahmen, absolut umgeschlagen sind.[…] Ich erschrecke, wenn ich mir so plötzlich eines Morgens könnte abhanden gekommen sein […].«160

Sich selbst abhanden zu kommen, keine Identität mehr zu haben, sondern in Rollenzumutungen aufzugehen ohne individuellen Rest – ›jugendliche‹ Disposition mag ihn versprechen, garantiert ihn aber keinesfalls: Das ist die Gefahr, die Gutzkows Text ironisch kommentiert: »Von seiner künftigen Laufbahn schwebten ihm berauschende Ideale vor.«161 Die Risiken sind konzentriert auf eine Frau: Die verlassene Agathe stirbt vereinsamt, in ihrer mentalen Verfassung und äußeren Erscheinung im Sinne der »künftigen Laufbahn« nicht repräsentabel, zur Gegenwehr psychisch nicht in der Lage. Der Text verfährt ambivalent, wenn zwar die Familie als Ort von Konkurrenzkämpfen um Liebe und sozialen Status gezeigt wird,162 der Weg des Protagonisten aber in eine glänzende Zukunft weist. Sozialer und privater Erfolg werden hier als Folge individueller Dispositionen gezeigt. Der wandlungsfähige Ottfried nimmt den ›Weg nach oben‹, lässt die passive Agathe hinter sich zurück. Gesellschaftsromane der zweiten Jahrhunderthälfte werden intensiver den sozialen Rahmen jenseits individueller Leistungs- und Entscheidungsfähigkeit thematisieren, der ›Glück‹ und Status als unvereinbar zeigen kann. So in den Randexistenzen Raabes oder in Fontanes »Effi Briest«, wenn Innstetten nach Duell und Scheidung den Aufstieg in Spitzenpositionen kommentiert: »Aber ich habe mich zu freuen verlernt.«163 Gutzkows Novelle radikalisiert die auch bei Heine präsente Ablösung traditionaler sozialer Bindungen durch die Offenheit des Lebenslaufs.164 Die Ordnung 159 160 161 162

Ebd., S. 102–103, vgl. S. 108. Ebd., S. 122–123. Ebd., S. 136. Die »sklavische Lage Agathens« (Gutzkow: Selbsttaufe, S. 136) zwischen autoritärem Vater und allseits bewunderter Schwester wird wiederholt hervorgehoben. Agathe reagiert mit jener devoten Anpassungsbereitschaft, die das eigene Leid für die gerechte Einrichtung der Welt hält; vgl. S. 101 u. S. 108 über das Verhältnis zum Vater. Von dieser defensiven Haltung (»Fast stolz trug sie ihr demüthiges Haupt und dünkte sich groß in ihrer Erniedrigung«, S. 106; »Trage, dulde, hoffe!«, S. 111) wendet sich Ottfried demonstrativ ab. 163 Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe, hg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, Abt. I, Bd. 4, München 1974, S. 286. Vgl. dazu unten im Realismus-Abschnitt zu Frauendarstellungen Fontanes. 164 Zu gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklungen vgl. Martin Kohli: Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und theoretische Argumente, in: Kölner Zeitschrift für

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eines individuellen Lebensweges ist nicht garantiert, sie muss immer wieder hergestellt, muss, um Gutzkows Ottfried zu zitieren, ›aus sich selbst erzeugt‹ werden. Dies mit dem Bewusstsein des Vorläufigen und Prozessualen, des Instabilen. Die erreichte Ordnung ist immer prekär, bleibt auch zukünftig zu bewältigende Aufgabe. Und diese Selbstkonstruktion der Biographie muss auf der einen Seite Individualität nachweisen, auf der anderen soziale Kompetenz. Für die Selbstbeschreibungen der Grimms ist diese Konstellation noch keine Provokation. Indifferent gegenüber den Karrierechancen der neuartigen akademischen Laufbahn gründet ihr Lebensplan in jener »stillen, ruhige[n] arbeit und sammlung«, der Zäsuren nur von außen begegnen. Und die Rede vom eigenen Leben verdient nicht als Beschreibung einzigartiger Subjektivität Aufmerksamkeit, sondern im Verweis auf übergeordnete Belange der nationalen Vergangenheit und Gegenwart.165 Damit eignen sich die Lebensläufe der Grimms als Idealbiographien, als »Kopiervorlagen«,166 die Erwartungen der disziplinären Gemeinschaft enthalten. In Nekrologen, Gedenkreden und biographischen Artikeln zur Geschichte der Deutschen Philologie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wird diese Ordnung und Stabilität des einmal gewählten Lebensablaufs als vorbildlich angegeben: als Bedingung der Möglichkeit wahrer Wissenschaft, die eben nicht vom Beobachten gesellschaftlicher Imperative lebt, sondern von der Hingabe an die Sache der »Deutschen Studien«. Individualität, Besonderheit wird hier nicht als hektische Selbstpräsentation von Einzigartigkeit verstanden, sondern erweist sich im Gedächtnis der Disziplin als Folge gerade des Verzichts auf solche Identitätsarbeit. Das Arbeitsethos der Grimms, so der wissenschaftsgeschichtliche Tenor, gehört zu einem asketischen Habitus, dem der Glanz der äußeren Welt nichts gilt, weil er ihrer inneren Verfassung nachspürt. Diese eher traditionelle Statik der Grimmschen Selbstbeschreibungen hat ihr Pendant in Texten wie Heines Börne-Denkschrift oder Gutzkows »Selbsttaufe«. In ihnen artikulieren sich Zweifel an der Normalisierung und Standardisierung von Biographien mit vorhersehbaren Stationen und Positionen. Vergleicht man dies mit autobiographischen Aufzeichnungen zeitgenössischer Wirtschafts- und Bildungsbürger, so erweist sich gerade nicht die sozial homogenisierende

Soziologie und Sozialpsychologie, 1985, Nr. 37, S. 1–29, S. 9ff.; Michael Corsten: Lebenslauf und Sozialisation, Wiesbaden 2020, S. 65ff. 165 Vgl. eine ähnliche Diagnose Lehmanns im Blick auf Immermanns autobiographische Schriften; Lehmann: Bekennen, S. 204f. Gutzkows später Roman »Die Söhne Pestalozzi’s« verschiebt 1870 entsprechend »das Interesse der Erziehung von der Natur des Menschen zu seiner Eingliederung in die bürgerliche Öffentlichkeit.« Nicolas Pethes: »Ein Kind der Epoche«. Der Abschied vom Ideal juveniler Ursprünglichkeit in Findlingserzählungen von Marheineke, Stifter und Gutzkow, in: Rainer Kolk (Hg.): Jugend im Vormärz, Bielefeld 2007, S. 213–232, S. 232. 166 Niklas Luhmann: Individuum, S. 222. Vgl. grundsätzlich Stichweh: Lebenslauf, S. 231.

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Funktion von Bildung, die mit Fortschrittsgewissheit einhergeht.167 Es zeigen sich vielmehr die Kosten der neuartigen Möglichkeiten: die Ortlosigkeit des Autors, den die seismographische Wahrnehmung und künstlerische Verarbeitung epochaler Tendenzen ins Exil treibt; die Indifferenz des Aufsteigers gegen Loyalitäten, die zum kalkulierten Selbstentwurf nicht passen. Beide Texte kennzeichnen diese Herausforderungen als historisch veränderbar und als aufwendige Konstruktion. Die Zukunftsoffenheit der Biographie, markantes Merkmal von ›Jugend‹, ist Risiko und Chance zugleich.

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Die Entstehung des Realismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist in den programmatischen Debatten nach 1850 eng verbunden mit scharfen Absagen an die Literatur der Romantik und die politischen Akzentuierungen des Vormärz: willkürliche Phantasmen beide, ohne angemessenen Bezug auf die Wirklichkeiten in Kultur und Gesellschaft, die desaströsen Konsequenzen habe man im chaotischen Verlauf der Revolution von 1848 sehen können. Nunmehr aber müsse es darum gehen, bürgerliche Lebens- und Arbeitsverhältnisse einschließlich ihrer sittlichen Orientierungen zum Gegenstand der Literatur zu machen.168 Es kann nicht überraschen, dass sich solche Prioritäten abweisend gegenüber ostentativer Diskontinuierung zeigen, wie sie die Jugendsemantik des Vormärz in den Reflexionen auf den politischen Bruch mit dem ›Alten‹ und die Zukunftshoffnungen der »jugendlichen Gemüter« (Wienbarg) einfordert. Das Sujet der »Kinderliebe«, das in Prosatexten des Realismus auffallend häufig thematisiert wird, verdeutlicht das, wenn sich männliches Begehren auf Mädchen richtet, die noch vor oder allenfalls kurz nach Erreichen der Geschlechtsreife gezeigt werden.169 Mit ähnlicher Tendenz in der Thematisierung von ›Jugend‹ verfährt eine Vielzahl realistischer Erzähltexte. Geradezu demonstrativ heißt es in Storms Novelle »Carsten Curator« über den inzwischen erwachsenen Sohn des im Titel genannten männlichen Protagonisten entsprechend: »Heinrich – so hatte man nach seines Vaters Vater den Knaben getauft – war in die Schule 167 Vgl. Wolfgang Kaschuba: Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis, in: Jürgen Kocka (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 3, München 1988, S. 9–44. 168 Vgl. Sabina Becker: Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848–1890, Tübingen, Basel 2003, S. 28. 169 Vgl. zur Definition Malte Stein, Heinrich Detering, Regina Fasold: Einführung, in: dies. (Hg.): Zwischen Mignon und Lulu. Das Phantasma der Kindsbraut in Biedermeier und Realismus, Berlin 2010, S. 7–12, hier S. 10; Sebastian Susteck: Kinderlieben. Studien zum Wissen des 19. Jahrhunderts und zum deutschsprachigen Realismus von Stifter, Keller, Storm und anderen, Berlin u. a. 2010.

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und aus der Schule in die Kaufmannslehre gekommen; aber in seinem angeborenen Wesen hatte sich nichts Merkliches verändert.«170 Es folgt die Beschreibung der mit bürgerlicher Seriosität unvereinbaren Finanzgeschäfte Heinrichs, die den, so der Text, der leichtlebigen Mutter nacheifernden Sohn und seinen Vater ruinieren werden. Der nachmalige soziale Aufsteiger und Deichgraf Hauke Haien im »Schimmelreiter« zeichnet sich bereits als Heranwachsender durch autodidaktischen Ehrgeiz in Mathematik und Physik aus, nicht von Aufbruch und Selbstfindung ist die Rede, sondern von technischer Innovation beim Küstenschutz. In Fritz Reuters autobiographischer Prosa folgt auf die Darstellung der Kindheit in »Ut de Franzosentid« der Band über die Haftzeit als Student wegen politischer Umtriebe »Ut mine Festungstid«, ähnlich stellt Fontane seinem »Meine Kinderjahre« die Fortsetzung »Von Zwanzig bis Dreißig« an die Seite. »Leerstelle bleibt also genau der Zeitpunkt, in dem sich die Entwicklung der Kinder zu kulturell anerkannter Sexualität vollziehen würde«,171 so resümiert Marianne Wünsch den Umgang mit der Lebensphase der Pubertät im Blick auf Texte Storms, Raabes und Kellers über »Kinderliebe«. Bildungsromane wie Kellers »Der grüne Heinrich«, die doch mit ihrer programmatischen Zentrierung der gegebene Ort der Rede über Risiken und Ambivalenzen der Persönlichkeitsentwicklung sein sollten, sehen sich dem Verdikt ausgesetzt, den »inneren Trübungen« (Vischer) in Kindheit und Jugend übermäßig Raum zu gewähren, denen doch erst das Erwachsenenalter zur Klärung verhelfen könne.172 Das Gebot der Akzeptanz gesellschaftlicher Normgefüge in realistischen Schreibprogrammen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nivelliert die bereits um 1900 akzentuierte Differenz jung/alt173 – jedenfalls in ihrer emphatischen Variante. 170 Theodor Storm: Carsten Curator, in: Theodor Storm. Sämtliche Werke in vier Bänden. Bd. 2: Novellen 1867–1880, hg. v. Karl Ernst Laage, Frankfurt a. M. 1998, S. 456–522, hier S. 461. 171 Marianne Wünsch: Kinderlieben in »Biedermeier« und »Realismus«, in: Stein u. a. (Hg.): Mignon, S. 203–214, hier S. 203. 172 Vgl. Sabine Schneider: »Unglückliche Bücher«. Alphabetisierung und die Leiden der Kindheit in Karl Philipp Moritz’ Roman Anton Reiser, in: Davide Giuriato, Philipp Hubmann, Mareike Schildmann (Hg.): Kindheit und Literatur. Konzepte – Poetik – Wissen, Freiburg i.Br. u. a. 2018, S. 113–130, S. 116 das Vischer-Zitat von 1874 aus einer Rezension zu Kellers Text. Dessen »Jugendgeschichte« verdeutlicht ein grundsätzliches, semantisches Problem, wenn in weiten Teilen von dem erzählt wird, was auch unter »Kindheit« verstanden wurde und wird und zu der bekannte Passagen wie die über den Sammeleifer des Kindes und seine Phantasietätigkeit, die Meretlein-Episode oder die frühen Schulerfahrungen gehören. 173 Vgl. grundsätzlich Gustav Frank: Trivialliteratur als ›Verlorener Sohn‹ des Realismus: Zu einem literarhistorischen Ort von Karl Mays früher Kolportage, in: Jahrbuch der Karl-MayGesellschaft 2000, S. 271–301, S. 280ff. – Gleichsam als Vorlauf zu diesen Befunden für den Bürgerlichen/ Poetischen Realismus sind Tendenzen der Prosa seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu sehen. Vgl. Rüdiger Steinlein: ›Jünglinge‹ zwischen »Jungen Leiden«, Bewährung, Erfüllung und Resignation. Inszenierungen männlicher Adoleszenz in der deutschen Literatur der 1820er bis 1840er Jahre (Heine – Büchner – Laube – Stifter), in: Kolk (Hg.): Jugend, S. 163–189; Sikander Singh: Sinnbilder des Stillstandes im Zeitalter der Be-

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Keine Aussparung, wohl aber eine spezifische Limitierung der Jugendthematik zeigt sich hingegen in Texten Fontanes, der wie kein anderer Autor des Realismus eine Phänomenologie der Schwelle entwirft: Charakteristisch für eine Vielzahl seiner Erzählungen und Romane sind Beschreibungen von Lebensläufen vor und in lebensgeschichtlichen Phasen des Übergangs, der häufig gravierende Veränderungen der familiären Konstellation meint; dies überwiegend am Beispiel weiblicher Figuren, mehrfach dann im Titel bereits avisiert. Auch in den sog. Chronik-Novellen, nach »Vor dem Sturm«, aber vor den Gesellschaftsromanen verfasst, spielen desolate Familienverhältnisse eine Rolle, der Akzent allerdings, und das ist in der realistischen Prosa nach 1880 ungewöhnlich, liegt auf der Jugendphase der Protagonistinnen. »Grete Minde«, um 1610 angesiedelt, zeigt die im Dauerkonflikt mit ihrer Familie, insbesondere der missgünstigen Stiefmutter und dem habgierigen Bruder, liegende Titelfigur zunächst mit 14, dann 15, schließlich 18 Jahren, wie vom Erzähler jeweils mitgeteilt wird.174 Als »Fremde«175 in ihrer Selbst- wie der Fremdwahrnehmung wegen ihrer flandrischen, inzwischen verstorbenen Mutter, ihres katholischen Glaubens und ihrer Physiognomie markiert, spielt der Text zunächst mit der Spannung von Kindlichkeit und »Jugend«,176 in der »das Spielen und Klettern« beendet werden muss: »und ich soll vernünftig werden.«177 Denn »sie waren keine Kinder mehr.«178 Über den Zeitpunkt der Konfirmation verlautet entsprechend: »Grete, kaum fünfzehn Jahr, sah um vieles älter aus, als sie war, und alles Kindliche, das ihre Erscheinung bis dahin gehabt hatte, schien mit diesem Tage von ihr gewichen.«179 Die Verbindung zum zwei Jahre älteren Valtin ist der verlässliche soziale Rückhalt, das Fehlen der familiären Bindung wirft die ›gereifte‹ Titelfigur auf sich selbst zurück. »Hier ist es so dumpf und eng. […] Aber heute will ich nur noch fort, nur noch weg aus unserm Haus. Wohin, ist gleich. Es schnürt mir die Brust zusammen, und ich habe keinen Atem mehr«180 – Bekenntnisse, die in den literarischen Jugendrevolten des 20. Jahrhunderts geradezu ubiquitär werden, schon Goethes Werther formulierte in seinem ersten Satz die Erleichterung, »weg« zu sein. Nur resultieren solche Exklamationen in Fontanes Text nicht aus den Anforderungen an schulische Leistung und sozialen Aufstieg durch unverständige Eltern und bornierte Erzieher, dies in den

174 175 176 177 178 179 180

wegung. Über die verfehlte Jugend in Prosaerzählungen Immermanns, Stifters und Grillparzers, ebd., S. 191–212, der für die Restaurationszeit »Prozesse gescheiterter Individualisierung« und einen »mißlungene[n] Aufbruch der jungen Generation« konstatiert (S. 212). Vgl. Fontane: Werke. Abt. I, Bd. 1, S. 10, S. 30, S. 71. Ebd., S. 8, vgl. S. 21, S. 35. Ebd., S. 26. Ebd., S. 25. Ebd., S. 33. Ebd., S. 37f. Ebd., S. 44f.

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›Schulgeschichten‹ am Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zu Alfred Andersch, oder aus den sadistischen Umtrieben einer peer-group wie in Musils »Törleß«, sondern aus den Defiziten familiärer Emotionalität: »Unter Bruder und Schwester und ohne Liebe! Es tötet mich, daß mich niemand liebt. Ach, wie’s mich danach verlangt! Nur ein Wort, ein einzig Wort.«181 Die Erfahrungen in Kindheit und Jugend, der Verlust von Mutter und Vater, die fremde Umwelt, sind tendenziell traumatisierend, so legt der Text nahe,182 der kontinuierlich die Schwellenexistenz der Titelfigur demonstriert: zwischen der Erinnerung an die intakte Familie der Kindheit und der pathogenen Situation der Gegenwart, zwischen Rebellion und Selbstdisziplinierung: »Ich bin nicht so wild und unbändig, wie du denkst«, so Grete zu Valtin, »ich will still und ruhig sein. Und wir wollen aushalten«. Wachträume und Phantasien über »eine Welt der Freiheit und des Glückes« ersetzen zunächst deren Realisierung, bis »Fliegen« und »Flucht«183 ohne konkretes Ziel von dem jungen Paar in die Tat umgesetzt werden. Allerdings mündet diese Selbstbefreiung nicht in ein »verschwiegenes Glück«, wie es Botho von Rienäcker in »Irrungen, Wirrungen« imaginiert.184 Nach dem Tod des Lebensgefährten scheitert der Versuch Gretes, sich zusammen mit ihrem Kind in die Familie des Bruders zu reintegrieren. Die Verweigerung ihres Erbteils treibt Grete zur Brandstiftung, zusammen mit ihrem Kind und dem ihres Bruders stirbt sie in den Trümmern der Stadt.185 Die »kunstvoll komponierte Erzählung«186 könnte geradezu als Prototyp der Geschichten jugendlichen Aufbegehrens, des Aufbruchs zu neuen Ufern, der 181 Ebd., S. 46. Das folgende Zitat ebd. Die ›Wildheit‹ von Mädchen ist ein wiederkehrendes Thema realistischer Literatur, der es um die Überwindung dieser kindlichen Disposition geht, wenn ein geordnetes bürgerliches Leben der erwachsenen Frau möglich sein soll; vgl. Sebastian Susteck: Erfindung des Kindes, Rückzug der Pädagogik. Zu einer ideen- und literaturgeschichtlichen Entwicklung zwischen Spätaufklärung und Realismus mit besonderer Berücksichtigung Christian Gotthilf Salzmanns und Gottfried Kellers, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 2012, S. 71–97, S. 93f. 182 Vgl. aus sozialisationstheoretischer Perspektive Rainer Kolk: Beschädigte Individualität. Untersuchungen zu den Romanen Theodor Fontanes, Heidelberg 1986, S. 48ff. Zu defekten Familienstrukturen als einem Kardinalthema Fontanes und zum Kontext der zeitgenössischen Diskussion über Jugendkriminalität vgl. den instruktiven Aufsatz von Philipp Hubmann: Die Lust am Zündeln. Theodor Fontanes Grete Minde und die gerichtsmedizinische Hypothese von der »Feuerlust«, in: Giuriato u. a. (Hg.): Kindheit, S. 255–283, der auf das »Doppel-Psychogramm« aufmerksam macht, das Grete und Trud umfasst (S. 272). 183 Fontane: Werke, Abt. I, Bd. 1, S. 56. 184 Ebd., Bd. 2, S. 404. 185 Irmgard Roebling sieht dies als Hinweis darauf, dass »das Phantasma der Kindsbraut« unvereinbar sei mit konventionellen Vorstellungen von Ehe und Mutterschaft; »Effi komm« – Der Weg zu Fontanes berühmtester Kindsbraut, in: Stein u. a. (Hg.): Mignon, S. 267–313, hier S. 292. 186 Katharina Grätz: Alles kommt auf die Beleuchtung an. Theodor Fontane – Leben und Werk, Stuttgart 2015, S. 100, im Blick auf die Motivgeflechte aus Zitaten, Anspielungen und Vorausdeutungen.

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Kritik an materialistischer, philiströser Gesinnung der Erwachsenenwelt im 20. Jahrhundert gelten, zumal Fontane explizit von einer »psychologischen Aufgabe« spricht.187 Allerdings stehen dem zwei Textelemente entgegen. Zum einen liegt mit der chronologischen Platzierung eine deutliche Distanzierung zur eigenen Gegenwart vor. Die Historisierung (»nach einer altmärkischen Chronik«, wie es im Untertitel heißt), der Rekurs auf den Großbrand in Tangermünde 1617, und die Verweise auf religiöse Deutungsmuster von Schuld und Sühne motivieren eine novellistische Lesart, der es ums ›Unerhörte‹ des spektakulären Ereignisses am Schluss geht.188 Zum anderen und gravierender: Der Text ist auch eine Studie über eine krankhafte, möglicherweise durch die Bedingungen der Rückkehr schubartig destabilisierte Persönlichkeitsstruktur. Erzähltechnisch eine Vorausdeutung, ist die Halluzination nach der Beerdigung des Vaters (»Da war es ihr, als stünde die Kirche rings in Flammen«189) darauf ein Hinweis wie die jähzornig bewirkte Verletzung der Stiefmutter, »ohne zu wissen, was sie tat«.190 Die Brandstiftung am Ende des Textes mit ihren tödlichen Folgen wird mit der mentalen Disposition, bereits bei der Fünfzehnjährigen mit »einem unheimlichen Feuer«191 der Augen charakterisiert, mit »Trübungen der Seele«, nachtwandelndem Verhalten, »vollem Irrsinn« erklärt.192 Der Text dementiert mit dieser Pathologisierung der Titelfigur, was im 20. Jahrhundert als das »Recht der Jugend auf eine Jugend« (Theodor Heuss) eingeklagt und in jugendkulturellen Szenen selbstverständlich werden wird: das Recht auf Selbstbestimmung, auf Freiräume jugendlichen Lebensstils, auch bei Mädchen und jungen Frauen. Berichtet wird vom spektakulären Einzelfall in einer weit zurückliegenden Epoche, dessen Genese ›psychologisch‹ interessant und mit einer kritikwürdigen sozialen Ordnung, der die ›wilde und unbändige‹ Subjektivität suspekt erscheint, zu erklären sein mag. Es geht aber nicht um die Repräsentativität eines jugendlichen Lebenslaufs, dessen Scheitern auf eine ›Krise‹ gesellschaftlicher Strukturen und Konventionen verwiese, wie es die Kommentatoren jugendlichen Scheiterns zwei Jahrzehnte später sehen, und wie sie auch Kellers »Romeo und Julia auf dem Dorfe« impliziert, wenn das heranwachsende Liebespaar einem zweifelhaften Ehrenkodex der Väter und dem bornierten Eigentumsdenken der

187 Im Brief an seine Frau Emilie vom 11. 08. 1878, hier zit. nach dem Anhang der Werkausgabe; Fontane: Werke, Abt I, Bd. 1, S. 876. Damit sollte die bis heute geläufige Rubrizierung als Kriminalgeschichte zumindest relativiert sein. 188 Vgl. Christian Grawe: Grete Minde, in: Christian Grawe, Helmuth Nürnberger (Hg.): Fontane-Handbuch, Tübingen 2000, S. 512–518, hier S. 516. 189 Fontane: Werke, Abt. I, Bd. 1, S. 39. 190 Ebd., S. 60. 191 Ebd., S. 35. 192 Ebd., S. 98ff.

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Dorfbewohner zum Opfer fällt: Droste-Hülshoffs »Judenbuche« wies bereits in diese Richtung. Auch die zweite Chronik-Novelle Fontanes, »Ellernklipp. Nach einem Harzer Kirchenbuch«, wendet sich zunächst der Übergangsphase von der Kindheit zum Status der erwachsenen Frau im Lebenslauf der Hauptfigur Hilde Rochussen zu, die mit zehn Jahren ihre Mutter verliert und von Baltzer Bocholt adoptiert wird. Immerhin ein Drittel des Texts beschreibt den Prozess des Heranwachsens, allerdings dominieren naturmagische, ›deterministische‹ Attribute, wenn die Vaterschaft eines Grafen erwähnt und das »Blut« für Charaktermerkmale ursächlich angesehen wird.193 Hildes »Müdigkeit«, ihre unbestimmte »Sehnsucht«, Spekulationen über den »melancholischen«194 Zug ihrer Persönlichkeit: Fontane konzentriert sich darauf, »die dämonisch-unwiderstehliche Macht des Illegitimen und Languissanten zu zeigen«,195 das Vater und Sohn Bocholt den Tod bringen wird. Erneut finden sich religiöse Deutungsmuster von Schuld und Sühne, der Text arbeitet sich ab an der Motivik des ›Elementaren‹, dem sich das an Naturrhythmen orientierte Verhalten Hildes verdankt,196 des verführerisch ›Melusinenhaften‹ von Frauen.197 Diese ›Typologie‹ ist der modernen Beschreibung jugendlicher Individualität allerdings diametral entgegengesetzt, gehört in eine Geschichte männlicher Weiblichkeitsentwürfe. Typologische Absichten wird dann auch Ernst Jünger in Schriften der 1920er Jahre bis hin zum »Arbeiter« 1932 verfolgen: männliche Männlichkeitsentwürfe. Wenn auch die späteren Gesellschaftsromane Fontanes derart intensive Darstellungen von Adoleszenzkonflikten wie in »Grete Minde« nicht mehr kennen, das jugendliche Lebensalter von Titelfiguren bleibt ein zentrales Movens der Beschreibung sozialer Strukturen und ihrer Effekte für weibliche Sozialisation. Cécile von St. Arnaud wird, mit »kaum siebzehn« Jahren, von ihrer Mutter auf diesen Lebenslauf gezielt vorbereitet, zur Mätresse eines alten Fürsten, um nach dessen Tod zu seinem Neffen zu wechseln.198 Den Sexualprojektionen eines Bekannten und den Ehrvorstellungen ihres Ehemannes entzieht sie sich, nur Objekt männlicher Zuschreibungen, durch Suizid. Effi Briest wird, Substitut mütterlicher Ambitionen, an deren einstigen Verehrer Baron Innstetten ver-

193 194 195 196 197

Ebd., S. 112, vgl. S. 129. Ebd., S. 128. Brief an Gustav Karpeles vom 14. 03. 1880, zit. nach ebd., S. 896. Vgl. ebd., S. 115f. Vgl. Claudia Steinkämper: Melusine – vom Schlangenweib zur »Beauté mit dem Fischschwanz«. Geschichte einer literarischen Aneignung, Göttingen 2007, S. 343ff. 198 Fontane: Werke, Abt. I, Bd. 2, S. 280; vgl. Kolk: Individualität, S. 40f.; Anette Schwarz: Cécile. Die Verortung einer Leerstelle, in: Peter Uwe Hohendahl, Ulrike Vedder (Hg.): Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane, Freiburg i. Br. u. a. 2018, S. 107–122.

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heiratet: »er könnte ja beinah mein Vater sein«.199 Noch der letzte Satz ihrer Mutter im Roman wird darauf anspielen: »ob sie nicht doch vielleicht zu jung war?«200 Wie schon in »Irrungen, Wirrungen« erweist sich bei den St. Arnauds und den Innstettens, dass die Ehe nicht die erhoffte »Ordnung« des Lebenslaufs zu garantieren vermag.201 Auch in der populären Literatur der Zeit lässt sich die Abwehr genau dessen erkennen, was im 20. Jahrhundert als ›Recht‹ der Jugend auf der Tagesordnung stehen wird. Karl May, mit seinen Reiseromanen einer der zeitgenössischen Erfolgsautoren schlechthin, legt 1890 den ersten Band seiner Jugenderzählungen in Buchform vor, der zwei Romane enthält, »Der Sohn des Bärenjägers« und »Der Geist des Llano estakado«, zuerst 1887/1888 in Fortsetzung publiziert. Beide Texte zeigen jugendliche Protagonisten in Bewährungssituationen, denen sie sich, mit Unterstützung der bekannten Mayschen Helden Winnetou und Old Shatterhand, gewachsen zeigen.202 Charakteristisch ist bereits die Vorstellung für den Leser, hier im »Sohn des Bärenjägers« nach der Entlarvung von Pferdedieben: »Der Knabe mochte ungefähr das sechzehnte Jahr zurückgelegt haben, doch war sein Körper über dies Alter hinaus entwickelt. […] Seine Wangen hatten sich im Kampfe hoch gerötet, aber er stand doch so ruhig da, als ob es etwas für ihn ganz Gewöhnliches gegeben hätte.«203 Und diese Merkmale werden bereits kurze Zeit später beim Aufbruch zu einer Rettungsmission für den von Indianern gefangenen Vater auf den Begriff gebracht: »Er machte ganz den Eindruck, daß er, obgleich noch halb ein Knabe, nötigenfalls doch als Mann zu handeln verstehen werde.«204 Und nach der Hälfte des Textes, nach dem siegreichen Kampf gegen einen Grizzlybären, eine der wiederkehrenden Initiationsszenen der Texte Mays, erfolgt der Ritterschlag durch die mythischen Westmänner: »›Mein lieber, junger Freund,‹ sagte Old Shatterhand, ›ich will Euch gern gestehen, daß selbst der erfahrenste Jäger sich nicht besser hätte benehmen können als Ihr. Wenn Ihr 199 Fontane: Werke, Abt I, Bd. 4, S. 16. 200 Ebd., S. 295. 201 Fontane: Werke. Abt. I, Bd. 1, S. 406: »Ordnung ist Ehe« (Botho von Rienäcker in »Irrungen, Wirrungen«). Und bereits der Wunsch nach dieser Ordnung kann zerstörend wirken, wie die siebzehnjährige Vrenchen und der neunzehnjährige Sali in Kellers »Romeo und Julia auf dem Dorfe« erfahren müssen. Salis Frage: »aber wie entfliehen wir uns selbst? Wie meiden wir uns?«, inkorporierte Wertvorstellungen von Sittlichkeit und »Heiratsfrage« sind gemeint, bezeichnet die ›Schwelle‹, die Herausforderung, die Kellers Protagonisten nicht fähig sind, in ein alternatives Lebenskonzept zu überführen. Die während einer Wirtshausfestlichkeit spielerisch vollzogene Trauung bleibt bittere Farce, auf die der gemeinsame Suizid folgt; Gottfried Keller: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe in drei Bänden, hg. v. Clemens Heselhaus, Bd. 2, München 21963, S. 124f. 202 Als Überblick vgl. den psychoanalytisch orientierten Artikel von Bernhard Kosciusko in: Gert Ueding (Hg.): Karl-May-Handbuch, erw. u. aktualis. Aufl. Würzburg 22001, S. 271–275. 203 Karl May: Der Sohn des Bärenjägers (Reprint der ersten Buchausgabe), Bamberg 1995, S. 24. 204 Ebd., S. 45.

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so fortmacht, so gibt das einmal einen Mann, welcher viel von sich reden machen wird.‹ Und auch der sonst so schweigsame Winnetou sagte freundlich: ›Mein kleiner, weißer Bruder hat die Entschlossenheit eines alten Kriegers.‹«205

Mag das biologische Alter im Text die zeitgenössisch konventionellen Bezeichnungen vom »Knaben« und »Jüngling« erfordern: In diesem Lebenslauf ist die Schwellenphase längst überschritten, deren Orientierungsdefizite den »Schülerroman« nur wenige Jahre später beschäftigen werden: ohne biographische Diskontinuierung, ohne Konflikte und ›jugendliches Aufbegehren‹ wird hier der Vater befreit und die Ordnung der Generationenfolge bestätigt.206 Die jugendlichen Helden Mays, so hat Gert Ueding resümiert, »sind ihrer Kindheit weit entwachsen«, genauer: »Kindliche Helden gibt es nicht, auch wo sie dem Alter nach der Kindheit nahestehen«.207 Mannwerdung vollzieht sich hier nicht durch Reibung an der Welt der Erwachsenen, durch Programme der Erneuerung, sondern durch Übernahme konventioneller Verhaltensweisen und Wertorientierungen.208 Zugewinn an Erfahrung ist sinnvoll und wird sich einstellen, Old Shatterhand spielt darauf an, es geht aber nicht um die Markierung von Differenzen und Opposition. Die erwünschte Ordnung der Lebensläufe, mögen sie auch in ›wilden‹ Umwelten sich erproben, entsteht im gottgefälligen Leben, in der selbstbewussten Brüderlichkeit der Menschen unterschiedlicher Hautfarben. Allenfalls der futurische Zug der Bewegung in den exotischen Räumen des Westens der USA und des Orients oder, seltener, in Südamerika weist auf moderne Jugendkonzeptionen voraus. Nicht die Orientierung an Besitzkumulation und Familiengründung zeichnet die Helden Mays aus, sondern ihre ziellose Reise durch Räume der Bewährung, von Abenteuer zu Abenteuer, das Gold (»deadly 205 Ebd., S. 121. 206 Wie denn die Welt der Texte Mays bei aller Vielfalt der exotischen Handlungsschauplätze eine geordnete ist; vgl. Rainer Kolk: Die Ordnung der Wildnis in Karl Mays »Winnetou I«, in: Jürgen Brokoff, Elke Dubbels, Andrea Schütte (Hg.): Spielräume. Ein Buch für Jürgen Fohrmann, Bielefeld 2013, S. 87–-104. Davon strikt zu unterscheiden ist die Frage, ob die Texte Mays in literaturdidaktischer Perspektive wünschenswerte Lese- und ggf. Identifikationsangebote für Jugendliche bereithalten; vgl. Joachim Biermann: Der rote Schulmeister. Die literaturpädagogische Bedeutung der Winnetou-Gestalt in Karl Mays Jugenderzählungen, in: Dieter Sudhoff, Hartmut Vollmer (Hg.): Karl Mays »Winnetou«, Frankfurt a. M. 1989, S. 401–420; Willi Vocke: Anker in unsicherem Grund. Zu Karl Mays Jugendroman »Der Sohn des Bärenjägers«, in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 2014, S. 113–143. Allgemeiner zur Rezeption Helmut Schmiedt: Kritik und Rezeption Karl Mays, in: Ueding (Hg.): May-Handbuch, S. 492–508; ders.: Die Winnetou-Trilogie. Über Karl Mays berühmtesten Roman, Bamberg, Radebeul 2018, S. 272ff. 207 Gert Ueding: Utopisches Grenzland. Über Karl May. Essays, Tübingen 2012, S. 31, S. 27. Uedings Argument zielt auf die biographische Dimension vieler Texte Mays, die an der Möglichkeit unbeschädigter Kindheit arbeiten. 208 Vgl. allgemein Werner Kittstein: Karl May, »Der Sohn des Bärenjägers«. Eine deutsche Männergeschichte, in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 2005, S. 165–202.

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dust«) ostentativ meidend, altruistisch, wie es die jugendliche Distanzierung von Materialismus, Aufstiegshoffungen und Motiven sozialer Absicherung der ›Alten‹ im 20. Jahrhundert fordern wird. Die angesprochenen Texte aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts demonstrieren die Folgen dessen, was tentativ, im Rekurs auf psychoanalytische Terminologie, als »eingefrorene« oder »zerbrochene Adoleszenz«209 bezeichnet werden könnte. Dann wäre ein Ende dessen erreicht, was Hans-Heino Ewers als »eines der großen gesellschaftlichen Projekte der Restaurationszeit und in gewisser Hinsicht auch noch der Nach-1848er-Zeit« angesehen hat: »das Einfrieren der Adoleszenz«, woran Literatur »einen nicht unerheblichen Anteil« habe.210 Wo Texte Hauffs, Andersens, Storms, Mays oder die erwähnten ›Kindsbraut‹-Darstellungen das Irritationspotenzial des ›Zwischen‹, das Goethes »Werther« eignete, stillstellen, da demonstrieren Texte Fontanes, die das Moratorium wissenschaftlicher Jugendpsychologie nicht kennen, gleichwohl bereits die Bedeutung dieser Entwicklungsphase: in ihren fortdauernden Konsequenzen für mentale Dispositionen, die kein nur privates Problem einzelner Frauenfiguren bleiben, sondern deren seismographische Qualität für den Zustand überindividueller Ordnungen betonen. Es ist dies, der Struktur nach, das Argument emphatischer Jugendprogramme im 20. Jahrhundert.

209 Mario Erdheim: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß, Frankfurt a. M. 1982, S. 317f. 210 Ewers: Jugend, S. 60.

5.

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Emphase und Kommentar: Hermann Hesses »Unterm Rad« und Robert Walsers »Jakob von Gunten«

Immerhin die fünfte Grundlagendebatte seit der Epoche Rankes ist vor drei Jahrzehnten in der Geschichtswissenschaft geortet worden. Die modernisierungstheoretisch versierte Sozialgeschichte, vormals selbst als Herausforderung des methodologisch desinteressierten Umgangs mit Geschichte profiliert, sah sich Postulaten einer kulturhistorischen Revision gegenüber: Ihr war es um eine Limitierung der Relevanz struktureller Bedingungen geschichtlicher Prozesse zu tun, deren Untersuchung durch die Berücksichtigung von Handlungsmustern und -kontingenzen, Mentalitäten, kollektiven Identitäten, Ritualisierungen zumindest ergänzt werden sollte.211 Etwa zeitgleich mit der Historischen Sozialwissenschaft formierte sich in den sechziger Jahren in der Germanistik die sozial- und funktionsgeschichtlich orientierte Literaturwissenschaft. Zu ihrer Programmatik gehörten die Erweiterung des Gegenstandsbereichs sowie die Berücksichtigung von Institutionen-, Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte.212 Wenngleich diese Umakzentuierung in der Disziplin kaum jemals die paradigmatische Geltung strukturgeschichtlicher Konzepte in der Geschichtswissenschaft erreichte und sich bald rivalisierenden strukturalistischen und poststrukturalistischen Theorieangeboten konfrontiert sah, wird man ihr fortdauernde Wirkungen in Forschung und Lehre bescheinigen können; von der Konzeption von Literaturgeschichten, Editionen und 211 Vgl. die Beiträge in: Thomas Mergel, Thomas Welskopp (Hg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, bes. die Einleitung der Herausgeber und den Kommentar von Hans-Ulrich Wehler. Vgl. zu methodologischen Fragen auch das zweite Kapitel der vorliegenden Untersuchung. 212 Vgl. das Resümee von Wolfgang Frühwald: Sozialgeschichte und Literaturgeschichte, in: Wolfgang Schieder, Volker Sellin (Hg.): Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang. Bd. I: Die Sozialgeschichte innerhalb der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1986, S. 110–133.

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Konjunkturen um 1900

Kommentaren bis hin zu schulischen Curricula, Studienordnungen und Unterrichtsmaterialien. Die Vorschläge für eine kulturwissenschaftliche Fundierung der Literaturwissenschaft führen, bei aller Skepsis gegenüber makrotheoretischen Vorgaben, sowohl die Einbeziehung neuer Objekte wie ihre Kontextualisierung fort. New Historicism, Literaturanthropologie und die aktualisierte, überwiegend an systemtheoretischen (Luhmann, Parsons) und kultursoziologischen (Bourdieu) Entwürfen orientierte Literatursoziologie213 untersuchen Relationen zwischen Texten und sozialen Praktiken, allerdings mit starken Vorbehalten gegen Zentralsignifikate wie ›Bürgertum‹ oder ›Nation‹.214 Gemeinsam ist diesen kulturgeschichtlich interessierten Reformulierungen ein pragmatischer, dezidiert nicht-normativer Literaturbegriff, die Aufmerksamkeit für Symbol- und Zeichensysteme und ihre Leistung als kulturelle Reflexionsinstanzen wie für die mediale Konstitution von Bedeutungen und ihre Speicherung.215 Die folgenden Überlegungen greifen aus diesem Rahmen die Frage nach dem Zusammenhang von literarischen Texten, Erziehungssystem und wissenschaftlicher Thematisierung am Beginn des 20. Jahrhunderts heraus: Jugend und Jugendliche werden zu einem Gegenstand forcierter (Selbst-)Reflexion verschiedener Subsysteme. »Man hat sich eben inzwischen auf die tiefe Tragik besonnen«, so ist 1906 in einem pädagogischen Fachblatt zu lesen, »die das Schülerleben birgt, die in einem Teile der Selbstmordstatistik ihren erschreckendsten Ausdruck findet«. Eine »Reihe von Schülerromanen« sei bis zu Hesses »Unterm Rad« entstanden, »in denen der Finger auf schwärende Wunden gelegt« werde, »die das Leben

213 Vgl. als ältere Übersicht mit weiterführenden Vorschlägen Andreas Dörner, Ludgera Vogt: Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, Politische Kultur, Opladen 1994. In aller Regel verfolgen diese Konzepte auch, im weitesten Sinne, interpretatorische Interessen, während die entsprechende sozialwissenschaftliche Subdisziplin sie ignoriert; vgl. Jürgen Gerhards: Kunstsoziologie. Einleitende Bemerkungen, in: Jürgen Gerhards (Hg.): Soziologie der Kunst: Produzenten, Vermittler und Rezipienten, Opladen 1997, S. 7–21, hier S. 8. Den aktuellen Diskussionsstand skizziert Markus Joch: Literatursoziologie/ Feldtheorie, in: Jost Schneider (Hg.): Methodengeschichte der Germanistik, Berlin u. a. 2009, S. 385–420; vgl. zuletzt den »Themenschwerpunkt Literatursoziologie« im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der Literatur, 2021, Nr. 46. 214 Vgl. hierzu Jürgen Fohrmann: Der Kommentar als diskursive Einheit der Wissenschaft, in: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1988, S. 244–257. 215 Vgl. Wilhelm Voßkamp: Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Versuch einer Bestandsaufnahme, in: Frank Fürbeth u. a. (Hg.): Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main (1846–1996), Tübingen 1999, S. 809-–21; Nicola Gess, Sandra Janßen (Hg.): WissensOrdnungen. Zu einer historischen Epistemologie der Literatur, Berlin u. a. 2014, bes. die Forschungsübersicht in der Einleitung der Herausgeberinnen, S. 1–15.

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eines erheblichen Teiles unserer Jugend vergiften.«216 Zwei Aspekte sind in dieser Rezension bemerkenswert. Zum einen attestiert sie der staatlich geförderten Jugenderziehung Defizite von bereits statistisch signifikanten Ausmaßen. Zum anderen wird literarischen Texten zugetraut, »neben den künstlerischen Werten […] Kultursaat zu ›bergen‹«, von der »wir mit der Zeit Erntesegen erwarten dürfen.« Diese hohe kulturelle Legitimität der »Schulgeschichte«, wie noch 1980 Alfred Andersch seine Erzählung »Der Vater eines Mörders« im Untertitel nennt, lässt sich um 1900 der Konjunktur des Themas in zwei Bereichen ablesen.217 Zum einen erscheint eine Vielzahl literarischer Verarbeitungen, darunter inzwischen kanonisierte Texte der Klassischen Moderne wie Wedekinds »Frühlings Erwachen«, Musils »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« oder Heinrich Manns »Professor Unrat«.218 Zum anderen werden im Kontext der im Kaiserreich intensivierten schul- und hochschulpolitischen Debatten auch Aspekte des gesellschaftlichen Umgangs mit Jugend insgesamt berührt. Dabei zeichnen sich sowohl in den bildungspolitischen wie in den wissenschaftlichen Kontroversen Prozesse der Binnendifferenzierung ab: Subdisziplinen wie Jugendpsychiatrie und Schulhygiene in der Medizin und Pädagogische Psychologie und Heilpädagogik in der Erziehungswissenschaft formieren sich, 1906 findet der erste Kongress für Kinderforschung und Jugendfürsorge statt.219 Als juristischer Terminus war der Begriff »Jugendlicher« bereits Ende der achtziger Jahre geprägt worden, charakteristischerweise im Hinblick auf angebliche Gefährdungen der

216 H. Th. Matth. Meyer: Rez. Dr. Fuchs und seine Tertia. Heitere Bilder von der Schulbank von Fritz Pistorius. Berlin 1905, in: Der Saemann, 1906, Nr. 2, S. 391f. Das folgende Zitat ebd. 217 Vgl. die wichtige Untersuchung von Gwendolyn Whittaker: Überbürdung – Subversion – Ermächtigung. Die Schule und die literarische Moderne 1880–1918, Göttingen 2013; S. 34ff. findet sich eine einlässliche Darstellung des Forschungsstands; Hyeseon Shin: Bildungsund Kulturkritik und Adoleszenzproblematik in Schulgeschichten um die Jahrhundertwende, Diss. Bonn 2013. Eine spezielle Form institutioneller Erziehung, die durch das neu zu beschreibende »Genre Internatsliteratur« (S. 1) behandelt werde, akzentuiert Klaus Johann, wiederum hauptsächlich im Blick auf Hesses »Unterm Rad« und Musils »Törleß«; Grenze und Halt: Der Einzelne im »Haus der Regeln«. Zur deutschsprachigen Internatsliteratur, Heidelberg 2003. Die Konjunktur des Schlagworts »Jugend« belegt auch Günter Butzer, der die gleichnamige Zeitschrift (auf dem Markt ab 1896) als »Pop-Phänomen« charakterisiert, das »Jungsein selbst« zum Programm erhebt und »massenmedial erfolgreich kommuniziert«; Von der Popularisierung zum Pop. Literarische Massenkommunikation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Gereon Blaseio, Hedwig Pompe, Jens Ruchatz (Hg.): Popularisierung und Popularität, Köln 2005, S. 115–135, hier S. 130. 218 Vgl. die Zusammenstellung von John Neubauer: The fin-de-siècle culture of adolescence, New Haven 1992, S. 220–227. 219 Vgl. Peter Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaft: Geschichte der Jugendforschung in Deutschland und Österreich 1890–1933, Opladen 1990, S. 70–133.

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Jugend, die sich in größeren Teilen als ›verwahrlost‹ zu erweisen schien.220 Die im engeren Sinne schulpolitischen Kommentare aktualisieren im Kontext der Auseinandersetzung um ›realistische‹ oder ›humanistische‹ Ausbildung auch die Überbürdungsdebatte, in der es seit den siebziger Jahren um die notwendigen und akzeptablen Belastungen der schulpflichtigen Jugendlichen mit Hausaufgaben und Examina gegangen war; nicht zuletzt die befürchtete Minderung der körperlichen Leistungsfähigkeit der wehrpflichtigen jungen Männer bietet Anlass für kulturkritische Verschärfungen.221 Die literarischen Thematisierungen der Jugendlichen und ihrer familialen und institutionellen Erfahrungsräume stoßen auf eine breite öffentliche Resonanz. Bereits im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende werden Publikationen wie Emil Strauß’ »Freund Hein«, Hesses »Unterm Rad« oder das Schulkapitel aus Thomas Manns »Buddenbrooks« nicht nur als Ereignisse im Literatursystem registriert, sondern auch als Belege, die sich reformpädagogischen Ambitionen einfügen lassen. In ihnen werde, so Kommentatoren, ein formalisierter Bildungsbegriff entlarvt, dem ein nur zu berechtigtes Plädoyer für ästhetische Erziehung entgegengesetzt sei. Dem »Recht der Jugend auf eine Jugend«, so Theodor Heuss über Hesses Intention, auf eigenständige Entfaltung, verweigere sich die wilhelminische Obrigkeitsschule, ihre Anforderungen seien unnatürlich und lebensfeindlich.222 Die Texte legen solche pädagogischen Referenzialisierungen nahe; so mit der Beschreibung unsensibler Lehrer und des in der Familie und ihrem sozialen Umfeld entstehenden Leistungsdrucks, der schulischen Erfolg als ersten Schritt zu sozialem Aufstieg sucht. Der Tod der Protagonisten ist letzte Konsequenz einer ausweglosen Situation, in der jugendliche Individualität

220 Aus begriffsgeschichtlicher Sicht hierzu Lutz Roth: Die Erfindung des Jugendlichen, München 1983, S. 101; Stefan Ruppert: Vom Schulpflichtigen zum jungen Straftäter. Der Wandel des deutschen ›Jugendrechts‹ im 19. Jahrhundert, in: Dorothee Elm, Thorsten Fitzon, Kathrin Liess, Sandra Linden (Hg.): Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin, New York 2009, S. 277–299. Kontext sind zivil- und strafrechtliche Überlegungen zur Volljährigkeitsgrenze und entsprechenden Strafzumessungen. Dass es sich keineswegs um historische Debatten handelt, führt Roland Anhorn aus, der die ›Gefährlichkeit‹, aber auch die ›Gefährdung‹ der Jugend als aktuelle Topoi beschreibt: Von der Gefährlichkeit zum Risiko – Zur Genealogie der Lebensphase »Jugend« als soziales Problem, in: Bernd Dollinger, Henning Schmidt-Semisch (Hg.): Handbuch Jugendkriminalität. Kriminologie und Sozialpädagogik im Dialog, Wiesbaden 2010, S. 23–42. 221 Vgl. Johannes-Christoph von Bühler: Die gesellschaftliche Konstruktion des Jugendalters. Zur Entstehung der Jugendforschung am Beginn des 20. Jahrhunderts, Weinheim 1990, S. 67–79. 222 Zu den reformpädagogischen und schulpolitischen Kontexten vgl. ausführlich York-Gothart Mix: Die Schulen der Nation. Bildungskritik in der Literatur der frühen Moderne, Stuttgart u. a. 1995, das Zitat S. 209.

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zwischen unnachsichtigen Erziehungsinstanzen zerrieben wird.223 Literatur spiegelt unter diesem Blickwinkel gesellschaftliche Entwicklungen, hier: solche im Bildungssystem, die Stoffe und Anlässe für literarische Produktion liefern. Zumal die Biographien einiger Autoren scheinen dies zu rechtfertigen: Rilkes traumatische Erfahrung in der Militärrealschule, Hesses bis in die Psychiatrie führender Konflikt mit Elternhaus und Klosterschule, die deprimierenden Erinnerungen der Brüder Mann an Lübecker Gymnasialmisere. Die einschlägigen Texte gewinnen dann kompensatorische Qualitäten und illustrieren über den Einzelfall hinaus Prinzipien und Argumente der zeitgenössischen Bildungsreformer. Im Blick auf den Status von Literatur in kulturellen Wissensordnungen lässt sich diese Konstellation spezifizieren.224 Insgesamt liegt eine wechselseitige Beobachtung von Literatur und Pädagogik/Psychologie in dreifacher Hinsicht vor: 1. Wissenschaft wird durch die literarische Verwendung ihrer Wissensbestände popularisiert. Für zunächst als wissenschaftlich klassifiziertes Wissen werden durch Transfer in ein anderes Subsystem neue Rezipientengruppen erschlossen. Die Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems seit dem 18. Jahrhundert und seine Binnendifferenzierung, die den heute geläufigen Disziplinenverbund hervorbringt, macht mit der Akzentuierung innerwissenschaftlicher Relevanzen auch eine Überbrückung zum nicht-wissenschaftlichen Publikum erforderlich.225 Wissenschaftliches Wissen wird dadurch an Alltagswissen, das es zunächst grundsätzlich abweist, angenähert und kann so Akzeptanz auch außerhalb der scientific community, möglicherweise sogar Deutungskompetenz jenseits der ursprünglichen ›Zuständigkeit‹, gewinnen. 2. Pädagogische Texte adaptieren literarische zur quasi-empirischen Absicherung. Dies kann den Folgen des ungesicherten disziplinären Status erziehungswissenschaftlichen Wissens im 19. Jahrhundert zugerechnet werden. Die Pädagogik entwickelt sich nach der Blütezeit des deutschen Idealismus nicht zur »Normalform«226 empirischer Disziplinarität, wie sie in den zeitgenössischen Kulturwissenschaften mit der textphilologischen Grundlegung der Philologien und der Geschichtswissenschaft sowie in den Natur- und Technikwissenschaften beobachtet werden kann. Eine Vielzahl zumeist reformpädagogischer Diskussionsbeiträge kann deshalb gerade nicht-wissenschaftliche Texte zur Legitimation eigener Projekte anführen; gelegentlich werden sogar literarische Texte zu diesem 223 Vgl. diese in der vorliegenden literaturwissenschaftlichen Forschung dominierende Lesart bei Joachim Noob: Der Schülerselbstmord in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende, Heidelberg 1998. 224 Ich greife hier die systematischen Vorschläge von Richter, Schönert, Titzmann: Literatur auf. 225 Vgl. Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740–1890, Frankfurt a. M. 1984, S. 60f. 226 Oelkers: Aspiration, S. IX.

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Zweck geschrieben, dem interessierten Laien »die Augen für so manche der modernen Erziehungsfragen zu schärfen«.227 Zumal kanonisierte Texte, von Rousseaus »Émile« bis zum »Hungerpastor« Wilhelm Raabes, fungieren als Belege für Konzeptionen, die sich gegen institutionell etablierte wenden. Im Gegenzug forciert die sich formierende Experimentelle Psychologie ihre Verwissenschaftlichung durch Abgrenzung gegen »Personen der Geschichte und Dichtung, wie etwa Cäsar, […] Iphigenie, Achilles, Saul usw. […] Mit Charakteren dieser Art gibt sich der experimentelle Psychologe bei seiner Forschungsarbeit nicht ab, höchstens, daß er ganz zuletzt aus Gründen der Übung und Beherrschung die Forschungsergebnisse auf sie anwendet. Was er verlangt, das sind psychische Tatbestände, die natürlich nur durch exakte Untersuchungen an dem Bewußtsein gegenwärtiger leibhaftiger Menschen zu gewinnen sind.«228

Das Verfahren, nicht-wissenschaftliche Elemente der kulturellen Tradition aufzurufen, muss im Zuge der induktiven Konzeptualisierung eines Forschungsfeldes als unwissenschaftlich dementiert werden. Die Modifizierung von Kriterien für Wissenschaftlichkeit auf die Untersuchung lebender Probanden fordert das methodisch kontrollierte, intersubjektiv überprüf- und wiederholbare Experiment. Der künstlerisch originelle Wurf wird dem Alltagswissen zugerechnet, ist allenfalls paratextuell verwendbar: in Vor- und Nachworten, Mottos, Widmungen. 3. Literarische Texte verwenden (reform-)pädagogische Realitätskonstruktionen. Insbesondere der von Ellen Key mit erheblicher öffentlicher Resonanz propagierte »Mythos des Kindes«, aber auch ähnliche Stilisierungen von Jugendlichkeit, die selbst schon ästhetische Züge tragen,229 werden im Literatursystem genutzt, um künstlerisch interessante Formen zu erzeugen.230 Diese zuletzt genannte Relation von Literatur und kulturellem Wissen, dessen Sektor ›Psychologie des Kindes und Jugendlichen‹ um 1900 eine charakteristische Mischung aus Alltagsbeobachtungen, wissenschaftlichem Wissen, kulturphilosophischen Projektionen und pädagogischer Empirie aufweist,231 ist cha227 Danziger: Über Erziehungsromane, in: Die Mittelschule, 1909, Nr. 23, S. 77–83, hier S. 78. 228 C. L. A. Pretzel: Vom ersten Kongreß für experimentelle Psychologie, in: Die deutsche Schule, 1904, Nr. 8, S. 317–321, hier S. 318 (Hervorh. i. Orig). 229 Vgl. Oelkers: Reformpädagogik, S. 95f.; Sabine Andresen, Meike Sophia Baader: Wege aus dem Jahrhundert des Kindes. Tradition und Utopie bei Ellen Key, Neuwied 1998. 230 Zur Medium/Form-Terminologie, die im Folgenden auch zu Walsers Text herangezogen wird, vgl. grundsätzlich Elena Esposito: Code und Form; Gerhard Plumpe, Niels Werber: Systemtheorie in der Literaturwissenschaft oder »Herr Meier wird Schriftsteller«. Beide Aufsätze in: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hg.): Systemtheorie der Literatur, München 1996, S. 56–81, S. 173–208. 231 Vgl. exemplarisch Ulrich Herrmann: Die »Majestät des Kindes« – Ellen Keys polemische Provokationen, in: Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes. Studien, neu hg. mit einem Nachwort von Ulrich Herrmann, Weinheim u. a. 1992, S. 253–264.

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rakteristisch für das Konstitutionsprinzip der Darstellung jugendlichen Leidens in »Unterm Rad«, schon von den Zeitgenossen vielfach als prototypischer Beleg dichterischer Einsicht in den desolaten Zustand des Bildungswesens zitiert.232 Hesse etabliert sich, nach dem Aufsehen erregenden »Peter Camenzind«, als namhafter Autor. Neuere Interpretationen betonen die Parallelen der Romanhandlung zur Biographie Hesses, der als Schüler ›unter die Räder‹ von pietistischem Elternhaus und Maulbronner Seminarausbildung geriet.233 Der Autor rechne in seinem Text mit rigorosen institutionellen Erziehungsmaßnahmen ebenso ab wie mit einer philisterhaft-leistungsbewussten Familie, formuliere eine Kritik, die sich im unversöhnlichen Romanende zur Ablehnung der wilhelminischen Gesellschaft insgesamt steigere, so das Argument. Schon diese hier angesprochene Schlusssequenz mit dem Tod des Protagonisten allerdings bleibt uneindeutig. »Niemand wußte auch, wie er ins Wasser geraten sei«, heißt es auf der vorletzten Seite über den ertrunkenen Hans Giebenrath: »Er war vielleicht verirrt und an einer abschüssigen Stelle ausgeglitten; er hatte vielleicht trinken wollen und das Gleichgewicht verloren. Vielleicht hatte der Anblick des schönen Wassers ihn gelockt, daß er sich darüber beugte, und da ihm Nacht und Mondblässe so voll Frieden und tiefer Rast entgegenblickten, trieb ihn Müdigkeit und Angst mit stillem Zwang in die Schatten des Todes« (S. 177).234

Keineswegs zeigt der Roman eine bewusste Selbsttötung des Protagonisten angesichts starr und uneinsichtig agierender Erzieher, wie dies »Freund Hein« tut, mit dessen Verfasser Emil Strauß Hesse befreundet war. Vielmehr stirbt Hans Giebenrath in dem Moment, da ihm nach den Enttäuschungen in Maulbronn und mit Emma der Beginn seiner Lehrzeit als Mechaniker eine verloren geglaubte Orientierungssicherheit verspricht: »Als Hans bei dem schönen Sonnenschein durch die Gassen schlenderte, hatte er seit Monaten zum erstenmal wieder eine

232 Nachweise bei Mix: Schulen, S. 193f., S. 209f. 233 Vgl. Michael Müller: Unterm Rad, in: Hermann Hesse. Romane, Stuttgart 1994, S. 7–28; York-Gothart Mix: Selbstmord der Jugend. H. Falladas Der junge Goedeschal, R. Bechers Abschied, H. Hesses Unterm Rad und der Erziehungsalltag im Kaiserreich, in: GermanischRomanische Monatsschrift 1994, Nr. 75, S. 63–76, hier S. 68–71; Helga Esselborn-Krumbiegel: Hermann Hesse: Unterm Rad, in: Interpretationen. Erzählungen des 20. Jahrhunderts, Bd. 1, Stuttgart 1996, S. 55–74; Noob: Schülerselbstmord, S. 159–164. Marion Marquardt liest den Roman mit Blick auf die Distinktionsstrategien seines Autors und dessen Positionierung im literarischen Feld: Zur sozialen Logik literarischer Produktion. Die Bildungskritik im Frühwerk von Thomas Mann, Heinrich Mann und Hermann Hesse als Kampf um symbolische Macht, Würzburg 1997, S. 278–313. 234 Zitiert wird nach Hermann Hesse: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Frankfurt a. M. 1972, hier Bd. 2: Unterm Rad. Diesseits; Nachweise im Folgenden durch Seitenzahlen im Text.

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Freude am Sonntag« (S. 165), den er mit seinen neuen Arbeitskollegen verbringen wird. Ergiebiger als der Aufweis von Parallelen zwischen Leben und Werk eines Autors ist für eine Sozial- und Funktionsgeschichte der Literatur die Annahme, dass literarische Texte kulturelle Bedeutungen »nicht einfach abbilden und fixieren, sondern über einen Prozess der Symbolisierung und Neukodierung oftmals erst herausbilden oder eigenwillig verändern«, einen »symbolischen Bedeutungsspielraum« eröffnen.235 Solche Spielräume sieht eine kulturanthropologisch orientierte Literaturanalyse zumal in den Repräsentationen kulturell signifikanter Abläufe verankert, deren Darstellung zugleich Selbstthematisierung meint, als Komponente kultureller Reflexion verstanden werden kann.236 Mit Blick auf die »Schulgeschichte« wäre dann nicht ein bestimmter Schultyp als gesellschaftlich sanktionierter Zwangsmechanismus zu bestimmen, sondern die Aufmerksamkeit auf die symbolischen Handlungssequenzen zu richten, in denen eine Kultur selbstreflexiv erscheint. Hesses »Unterm Rad« erweist sich in dieser Perspektive als ein Text, der kulturelle Grenz- und Übergangserfahrungen thematisiert. Diese »Liminalität« als spezifische Schwellenphase ist zunächst in der Ethnologie beschrieben worden, die sich für die Syntax sozialer Prozesse interessiert.237 Zumal gesellschaftliche Rituale als standardisierte und auf Wiederholung angelegte kulturelle Verhaltensfolgen verdienen hier Beachtung, weil in ihnen geltende, konventionalisierte soziale Hierarchien, Machtstrukturen, Geschlechterverhältnisse oder Denkformen symbolisiert sind. Zunächst in magischen und religiösen Kontexten angesiedelt, lässt sich der Ritualbegriff auch in dieser ›säkularisierten‹ Variante nutzen. Rituale fungieren dann als Elemente »sozialer Dramen«, in denen gesellschaftliche Konflikte unterschiedlichster Observanz in

235 Doris Bachmann-Medick: Kulturelle Spielräume: Drama und Theater im Licht ethnologischer Ritualforschung, in: Doris Bachmann-Medick (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1996, S. 99–121, hier S. 99. Aus systemtheoretischer Perspektive zu anthropologischen Fragestellungen vgl. Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie, Frankfurt a. M. u. a. 1995, bes. S. 11–34, zu literaturwissenschaftlichen Adaptionen vgl. Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur, Tübingen 1996. 236 Ich kann diesen Aspekt hier nur andeuten. Zu denken ist beispielsweise an ›kulturelle Vergesellschaftung‹, wie sie etwa bei Eibl: Entstehung, S. 196f., angesprochen wird: Literatur leistet Beiträge zur Homogenisierung von Fraktionen des Bürgertums. Aus praxeologischer Perspektive: Die Analyse von Subjektkulturen, von sozialen Praktiken, kulturellen Codes usw. referiert auch auf ästhetische Phänomene wie künstlerische Gruppierungen, Programme, Kunstwerke; vgl. Reckwitz: Subjekt, S. 42ff. 237 Vgl. Victor Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a. M. 1995; vgl. Christian Claucig: Liminalität und Adoleszenz. Victor Turner, Mukanda und die Psychoanalyse oder: The Anthropologists Fallacy, Wien, Berlin 2016, über die Analyse Turnerscher Schriften hinaus bes. S. 361ff. zu Eriksons Identitäts- und Krisenterminologie.

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strukturiertem Verlauf inszeniert und möglichst balanciert werden.238 In Fortführung der Ritualanalysen Arnold van Genneps zu den vielfältigen »rites des passages« in staatenlosen Gesellschaften lassen sich »die vielen kulturellen Darstellungsgattungen«, vom Gerichtsverfahren bis zum schriftlich oder mündlich überlieferten Text, als Formierungen und Reflexionsfolien soziokulturellen Handelns interpretieren. Übergangsriten integrieren »zeitliche Prozesse und agonale Beziehungen«.239 Texte wie »Unterm Rad« lassen sich derart als »metasoziale[r] Kommentar«240 verstehen, in dem kulturelle Konflikte thematisiert sind, ihr Archiv und Reflexionsraum zugleich. Schon der Beginn des Romans konstituiert die zentrale agonale Konstellation der Schwelle als Konfrontation der Generationen. Vater Giebenrath führt das Leben des »Philisters«, verfügt über »abgegrenzte Schlauheit« und »Mißtrauen gegen jede überlegene Kraft und Persönlichkeit« (S. 7f.). Sein Sohn Hans erscheint als »fein und abgesondert«, als »etwas Besonderes«, dessen Begabung »keinen Zweifel« zulässt (S. 8f.). Diese Disposition materialisiert sich in schulischen Leistungen, die eine Aufnahme ins protestantischtheologische Maulbronner Seminar möglich werden lassen. Hans wird wiederholt in solchen Übergangsphasen vorgeführt. Zunächst gerät er zwischen die Welt der Erwachsenen und seine eigene Altersgruppe, von der er sich durch »eine freche, selige Ahnung« getrennt sieht, »daß er wirklich etwas anderes und besseres sei als die dickbackigen, gutmütigen Kameraden und auf sie vielleicht einmal aus entrückter Höhe überlegen herabsehen dürfe.«241 (S. 18) Dieses internalisierte Leistungsethos, verknüpft mit Erwartungen sozialen Aufstiegs (S. 30), verrät Affinität zur Generation des Vaters und der Dorfhonoratioren.242 »Die Ehre war groß, doch hatte er sie keineswegs umsonst.« (S. 10). Die Exklusivität der Zulassung zum Landexamen für Maulbronn wird akzentuiert durch 238 Vgl. Turner: Ritual, S. 110ff. zu Phasen und »Anpassungs- u. Bewältigungsmechanismen«. Ähnliche Verläufe auf der individuellen Ebene interessieren die entstehende Entwicklungspsychologie; vgl. Heinz Abels: Jugend vor der Moderne. Soziologische und psychologische Theorien des 20. Jahrhunderts, Opladen 1993, S. 59f. 239 Turner: Ritual, S. 124: »Sie vermitteln den Akteuren sowohl verbal als auch nichtverbal die auf eigenem Erleben beruhende Erkenntnis, daß das soziale Leben aus einer Reihe von Bewegungen in Raum und Zeit, einer Reihe von Tätigkeitswechseln und einer Reihe von individuellen Übergängen von einem Status zum anderen besteht. Sie vermitteln ihnen das Wissen, daß solche Bewegungen, Veränderungen und Übergänge nicht nur von Ritualen markiert, sondern auch herbeigeführt werden.« Den Aspekt der Machtasymmetrie in sozialen Ritualen (»Einsetzungsriten«) betont Pierre Bourdieu: Was heißt Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien 1990, S. 84ff. 240 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 31994, S. 252. 241 Vgl. in »Unterm Rad« (S. 38): »Er verachtete sie so sehr […].« 242 Mehrfach wird Hans’ Leistungsdenken betont, vgl. S. 11, S. 31, S. 42, S. 44, S. 96; entsprechend der Vater S. 25 und S. 54, der Pfarrer S. 15.

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lebensgeschichtliche Übergänge, in denen Hans schließlich »die schönen, freien verwilderten Knabenfreuden so weit dahinten liegen« sieht (S. 13).243 Bereits in dieser Phase der Disziplinierung stellt sich das Bewusstsein eines Verlustes ein, »ohne daß etwas Lebendiges und Erlebenswertes statt dessen gekommen wäre.« (S. 29). Nach dem glänzend bestandenem Examen werden die Ferien mit dem expliziten Plan begonnen, »die verlorene schöne Zeit nun doppelt einzuholen und noch einmal recht ungeniert und sorgenlos ein kleiner Knabe zu sein.« (S. 35) Tatsächlich wird kaum von Freizeit, wohl aber von regelmäßigen propädeutischen Übungen im Blick auf die Maulbronner Anforderungen die Rede sein. »Unterm Rad« profiliert dieses Übergangsstadium doppelt: Hans bewegt sich sowohl zwischen Kindheit und Jugend wie zwischen traditioneller, dörflicher Lebenswelt und akademischem Milieu, auf das ihn die philologisch orientierten Lehrer ebenso verweisen wie der wissenschaftlich tätige Pfarrer, dessen Ambitionen den »Untersuchungen und Artikeln für gelehrte Journale« gelten, nicht aber der »naive[n] Herzenstheologie, welche über die Schlünde der Wissenschaft hinweg sich der dürstenden Volksseele in Liebe und Mitleid entgegenneigt.« (S. 43).244 Liminalität als zentrale agonale Situation des Romans wird entsprechend drastisch demonstriert in der Sequenz über die Aufnahme ins Seminar. Die Zeremonien der Einkleidung, der Stubenbelegung, des Abschieds von den Eltern werden als Elemente eines Rituals beschrieben, das den Novizen dem ›sozialen Tod‹ aussetzt. Auf die räumliche Separierung im Klosterinternat (»weltfern«, S. 57) folgt die von überkommenen familialen Bindungen (S. 58), auch wenn sich Relikte sozialer Differenzierung zunächst halten können (S. 61). Zugleich vollzieht sich die Integration in die neue Sozialordnung der durch Namen unterschiedenen Stuben und der als Alterskohorte organisierten Lerngruppe insgesamt. Sie ist durch die Ausbildung einer Art Gegenstruktur zur Gesellschaft in der Form einer »Communitas« (Turner) charakterisiert, einer auf Egalität aufruhenden Gemeinschaft der Initianden. Eine vollständige affektivsoziale Restrukturierung ist das Ziel dieser Schwellensituation, die als »feine und sichere Art der Brandmarkung« gilt, so dass man »jeden schwäbischen Seminaristen sein Leben lang als solchen erkennen« kann. (S. 58). Diese Habitualisierung durch Bruch mit lebensweltlichen Traditionen wird durch eine spezifische Differenz der Ausbildungsinstitution gefördert, an deren »Einrichtungen und Sitten […] nichts Schwäbisches zu spüren« ist (S. 62).

243 Verboten werden wegen der Examensvorbereitungen Angeln und Kaninchenzucht, vgl. S. 13 und S. 16. 244 In der Erstfassung, die 1904 in der »Neuen Zürcher Zeitung« in Fortsetzungen erscheint, wird z. B. hier schärfer polemisiert.

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Giebenraths projektierte Integration in diese neudefinierte Lernorganisation wird nach anfänglichen Erfolgen245 durch eine Orientierung an Kriterien von Freundschaft ersetzt. Behält zunächst »im Kampf zwischen Freundespflicht und Ehrgeiz« (S. 85) letzterer die Oberhand, so kehrt sich dies nach dem Unfalltod eines Mitschülers um: »Es war irgend etwas in ihm anders geworden«, wird nach dem Begräbnis eines Mitschülers über Hans konstatiert, »ein Jüngling aus einem Knaben, und seine Seele war gleichsam in ein anderes Land versetzt, wo sie ängstlich und unheimisch umherflatterte und noch keine Rastplätze kannte.« (S. 94). Sein Bewusstsein einer »Schuld gegen Heilner« (S. 95), den Freund, bewirkt die explizite Absage an das bis dahin geläufige Leistungsdenken (S. 96), Solidarität mit dem in der Schule unangepassten, eigenwilligen und künstlerisch interessierten Gleichaltrigen dominiert institutionelle Erwartungen: »Die Lehrer aber sahen mit Schrecken den bisherigen tadellosen Schüler Giebenrath in ein problematisches Wesen verwandelt und dem schlimmen Einfluss des verdächtigen Heilner unterlegen.« (S. 97). Es sind dies die Romanpassagen, auf die sich die Lesart vom unversöhnlichen Gesellschaftskritiker Hesse beruft. Denn jeder Lehrer habe »lieber einige Esel als ein Genie in seiner Klasse […]. Und so wiederholt sich von Schule zu Schule das Schauspiel des Kampfes zwischen Gesetz und Geist, und immer wieder sehen wir Staat und Schule atemlos bemüht, die alljährlich auftauchenden paar tieferen und wertvolleren Geister an der Wurzel zu knicken.«246 (S. 98)

Aber der Roman differenziert, stellt solchen dozierenden Passagen, die sich von zeitgenössischen Polemiken gegen die »Tyrannei«247 der Schulen nicht unterscheiden, den narrativ integrierten Hinweis auf physiologische Besonderheit zur Seite. Jene »Müdigkeit«, die in der erwähnten Schlusssequenz des Textes aufgerufen wird, findet sich kontinuierlich, um die eigentümliche konstitutionelle Schwäche Giebenraths zu illustrieren, die sich besonders in periodisch auftretenden, mit Leistungsdruck verbundenen Kopfschmerzen manifestiert.248 Der Text demonstriert Körperlichkeit als Ergebnis sozialer Prozesse, der Körper als 245 Vgl. S. 85: »Sein Ideal war nun einmal, vorwärts zu kommen, berühmte Examina zu machen und eine Rolle zu spielen, aber keine romantische und gefährliche«, heißt es angesichts mangelnder Solidarität mit einem bestraften Mitschüler. 246 Vgl. auch S. 50 über die menschliche Natur, die durch den »Schulmeister« zunächst »zerbrochen« werde. Der Roman partizipiert hiermit an einer zeitgenössischen Argumentation, der zufolge zumal das humanistische Gymnasium das wahre Talent unterdrücke, beruflicher Erfolg und soziales Ansehen geradezu gegen die Schule entstünden: »Und immer wieder sind es vor allem die von den Schulmeistern Gehaßten, die Oftbestraften, Entlaufenen, Davongejagten, die nachher den Schatz unseres Volkes bereichern.« (S. 98). 247 So einer der umtriebigsten Reformpädagogen der Zeit, Ludwig Gurlitt: Der Deutsche und seine Schule. Erinnerungen, Beobachtungen und Wünsche eines Lehrers, Berlin 1905, S. IX und passim. 248 Vgl. S. 12, S. 45, S. 54, S. 100, S. 163.

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physisches Gebilde wird in Abhängigkeit von sozialen Rahmenbedingungen gezeigt.249 Die Sozialstrukturen, in denen Hans agiert, die dörfliche Gemeinschaft wie das Maulbronner Seminar, üben ein hohes Maß sozialer Kontrolle, fordern strikte Disziplinierung auch des Körperlichen. Entsprechend stimuliert der Konflikt mit den erotischen Avancen der in der Stadt sozialisierten Emma die körperliche Reaktion: »Eine tiefe Schwäche überkam ihn; noch ehe die fremden Lippen von ihm ließen, verwandelte die zitternde Lust sich in Todesmüdigkeit und Pein, und als Emma ihn freigab, schwankte er und hielt sich mit krampfhaft klammernden Fingern am Zaun fest.« (S. 150). Der Körper fungiert im Text als »Ausdrucksmedium sozialer Bedeutungsgehalte«.250 Konsequent wird dies in der Episode des Sonntagsausflugs gezeigt, den Hans in der »zuverlässige[n] Gemeinschaft« (S. 165) seiner Arbeitskollegen zunächst hochgestimmt unternimmt, und der Angst vor väterlichen Sanktionen ebenso evoziert wie körperliches Versagen beim geforderten Renommiergehabe. Dass er sich, angetrunken im nassen Gras liegend, »beschmutzt und geschändet« (S. 175) vorkommt, ist somatische und psychische Reaktion zugleich. In »Unterm Rad« werden, anders als im fast durchgängig linear erzählten »Freund Hein« von Emil Strauß, liminale Prozesse über Erinnerung verdeutlicht. Analog zur symbiotischen Naturerfahrung (S. 28) Giebenraths konstituiert die kontinuierliche Rede vom »Damals« (S. 29, S. 126) eine diskontinuierliche Zeitstruktur, in der Gegenwart im Rekurs auf Vergangenheit bewertet wird: als in sich widersprüchliche Schwellenphase sozial-kultureller Identitätsbildung. Die »zweite Kinderzeit« (S. 127), in die sich Hans mit Selbstmordgedanken nach seinem Scheitern in Maulbronn flüchtet, verweist auf jene zweite Erzählebene, von der aus die des Schul- und Werkstattbesuchs evaluiert werden kann. Der Versuch einer literaturhistorisch aus der Romantik bekannten »Reise in die Kindheit«251 scheitert wie Hans’ Liebesbeziehung, die allerdings »eine klare, starke Erinnerung aus der Zeit« stimuliert, »da hier im Garten noch seine Hasen herumsprangen« (S. 151). Diese Temporalstruktur indiziert zunächst das Scheitern einer sozialen Reintegration. Der neue Status, den Hans nach der sozialen Separierung von seinen Freunden im Heimatdorf und anschließend von seinen Maulbronner Mitschülern erhält, bleibt einer der Schwebe, führt nicht in neuerliche Orientierungssicherheit, sondern setzt ihre Auflösung fort. Darüber 249 Allgemein hierzu Mary Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt a. M. 1986, S. 99ff. 250 Ebd., S. 122; vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1993, S. 126ff.: ›Einverleibung‹ sozialer Strukturen. 251 Im Text S. 127–135. Vgl. Dieter Richter: Die Reise in die Kindheit. Ein romantisches Motiv, in: Günter Oesterle (Hg.): Jugend – ein romantisches Konzept? Würzburg 1997, S. 181–192; grundsätzlich: Meike Sophia Baader: Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld, Neuwied 1996.

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hinaus erweisen sich die Momente der Erinnerung als destruktiv für Alltagsorganisation: »Er wußte nicht, daß im Kleide dieser Erinnerung seine Kindheit und sein Knabentum noch einmal fröhlich und lachend vor ihm aufstand, um Abschied zu nehmen und den Stachel eines gewesenen und nie wiederkehrenden Glückes zurückzulassen.« (S. 152) Diese Destabilisierung konventioneller Deutungsmuster, etwa des Karrieredenkens und der Akzeptanz von Autoritäten, verweist auf die generelle Leistung solcher narrativer Präsentationen von Übergangssituationen. In ihnen wird die Konventionalität kultureller Orientierungen selbst reflexiv, durch Inversion zur Disposition gestellt. Sowohl Vater Giebenrath als auch die Pädagogen folgen einer sozialen Logik, nach der das Absolvieren von Bildungsinstitutionen Laufbahnchancen eröffnet, Statuserhöhung in Aussicht stellt. Diese soziale Logik wird in »Unterm Rad« durch narrative Inszenierung ihrer Konsequenzen als konventionalisierte, nicht-natürliche, widersprüchliche vorgeführt. Schule eignet sich in besonderem Maße für diese symbolische Subversivität, weil sie als Institution einer »public liminality« gelten kann.252 Die Aufhebung sozialer Unterschiede (›Chancengleichheit‹), die Erfahrung der Orientierung an Gleichaltrigen statt an ›natürlichen‹ Familienhierarchien, die räumliche und zeitliche Separierung konstituieren eine eigene soziale Welt, deren Unbestimmtheiten als Spielräume kultureller Reflexion (auch) narrativ verfügbar werden. Die angedeutete Hochschätzung in der reformpädagogischen Rezeption wie der kommerzielle Erfolg des Genres »Schulgeschichte« um 1900 ist dann mit Folgen sozialen Wandels zu korrelieren, Thomas Rohkrämer hat von einer »Modernisierungskrise« gesprochen.253 Die ästhetische Inszenierung kindlichen und jugendlichen ›Leidens‹ in den biographisch unausweichlichen Institutionen des Bildungssystems verdeutlicht die moderne Problematik von Lebenslauf und Identität. Ihre Einheit ist fragil, bedarf der Anstrengung im Spannungsfeld unterschiedlicher Anforderungen. Auch und gerade jugendliche Individualität ist den »Einseitigkeiten der Teilfunktionen« (Georg Simmel) konfrontiert.254 Die literarischen Thematisierungen gefährdeter Jugend, für die »Unterm Rad« exemplarisch herangezogen wurde, verdeutlichen eine Relation zwischen Wissenschafts-, Bildungs- und Literatursystem. Abschließend soll gezeigt werden, 252 Ich übertrage die Klassifizierung Turners für das Theater, zit. bei Bachmann-Medick: Spielräume, S. 104. 253 Thomas Rohkrämer: Modernisierungskrise und Aufbruch. Zum historischen Kontext der Lebensreform, in: Thorsten Carstensen, Marcel Schmid (Hg.): Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchsstimmung um 1900, Bielefeld 2016, S. 27–42. 254 Vgl. grundsätzlich Stichweh: Lebenslauf, das Zitat S. 230. Die Rezeptionsgeschichte dieser Texte müsste einzelne Rezeptionsmilieus unterscheiden. Schulisches ›Leiden‹ wurde keineswegs allgemein als solches anerkannt. Gegenläufige Argumente betonen die Notwendigkeit von Disziplin und Pflichterfüllung für ein sozial verantwortliches Leben, dem individuelle Ansprüche unterzuordnen seien: »educatio strenua« (Friedrich Paulsen).

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dass die Konjunktur des Themas auch eine literaturinterne Facette kennt: Robert Walsers »Jakob von Gunten« benutzt die zeitgenössische »Schulgeschichte« als Medium eigener Form. »Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften, und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein.«255 (S. 7) Schon der erste Satz des Romans stellt klar, dass von idealistischen Konzeptionen individueller Bildung bei gleichzeitigem Gattungsfortschritt nicht die Rede sein wird, schließlich sei es sogar »untersagt, Lebenshoffnungen in der Brust zu hegen« (S. 92). Und an die »Vorschriften« (S. 55) dieses Instituts fühlen sich seine Eleven allemal gebunden, denn ihre Existenz lässt sich nicht nach den Kategorien überkommener Sozialphilosophie klassifizieren: »Sind wir Produkte einer höheren Kultur, oder sind wir Naturkinder? Auch das kann ich nicht sagen. Das eine weiß ich bestimmt: wir warten! Das ist unser Wert.« (S. 93). Dieses Warten ist zunächst das des ausgebildeten Dieners auf die Anstellung, aber es bezeichnet auch jenen Zustand der Schwelle, den die literarischen Thematisierungen des leidenden Jugendlichen um 1900 zu ihrem zentralen Thema machen. Zumal die scheiternden Übergänge der bedrängten Schüler in Texten wie »Freund Hein« oder »Unterm Rad« werden im »Gunten« als intertextuelle Referenzen herangezogen, der sich geradezu als Erfüllung der Prophezeiung Walsers vom Herbst 1905 lesen lässt: »Ich werde bald viel schreiben, daß die Hesse u. Companie sich fürchten sollen.«256 Die subtile Anspielungstechnik Walsers soll zunächst durch einige Einzelbeobachtungen demonstriert werden. Heißt es in »Unterm Rad« über die Tätigkeit des Lehrers polemisch, dass sie die »Natur« des Menschen als etwas »Unberechenbares, Undurchsichtiges, Gefährliches« zum Wohle der Allgemeinheit zuerst zu »zerbrechen« wünsche, und diese »Ausbildung« schließlich durch die »sorgfältige Zucht der Kaserne krönend beendigt« würde,257 so lässt Jakob von Gunten gleich zu Beginn seiner Aufzeichnungen Befriedigung über den herrschenden Uniformzwang im Institut erkennen, »weil ich nie recht wußte, was ich anziehen sollte.« (S. 8) Dieser fröhliche Pragmatismus durchzieht den ganzen Roman, der die Diskussionen über jugendliche Individualität mit der Definition von Freiheit als »Nicht-lange-zu-Ertragendes« (S. 101) bedient: »Mich soll man nur antreiben, zwingen, bevormunden. Ist mir durchaus lieb.« (S. 28). Das in den zeitgenössischen Reformdebatten zentrale Argument einer Überbürdung des Schülers mit 255 Zitiert wird nach: Robert Walser: Das Gesamtwerk in 12 Bänden, hg. von Jochen Greven, Zürich u. a. 1978, hier Bd. VI: Jakob von Gunten. Der Räuber; Nachweise im Folgenden durch Seitenzahlen im Text. 256 An Flora Ackeret, o. D., zitiert nach Robert Walser: Briefe, hg. v. Jörg Schäfer unter Mitarb. v. Robert Mächler, Zürich 1979, S. 40. 257 Hesse: Rad, S. 50.

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dispersen Lernstoffen, in »Freund Hein« sind es die Grammatik der alten Sprachen und Mathematik, wird überraschend widerlegt: »wir Zöglinge des Instituts Benjamenta sind zu einem oft halbtagelangen seltsamen Müßiggang verurteilt.« (S. 15). Jakob sind »die Dummen« entsprechend »unglaublich lieb« (S. 41), während die »Schulgeschichte« gegen die mechanische Paukschule antritt, die Sensibilität und selbständiges Denken erdrücke. Dem Institut Benjamenta hingegen sind diese Eigenschaften an Zöglingen suspekt: »Daß ich der gescheiteste unter ihnen bin, das ist vielleicht gar nicht einmal so sehr erfreulich.« (S. 24) Denn, wie schon Hans Giebenraths Schicksal bewies, intellektuelle Überlegenheit in Verbindung mit Schulerfolg führt zu sozialer Isolation unter Gleichaltrigen. Nichts davon bei Jakob, der sein »Denkvermögen« verachtet: »Denkt man, so sträubt man sich, und das ist immer häßlich und Sachen-verderbend.« (S. 90). Diese Ästhetik der Unterwerfung, Zentraltugenden sind »Geduld und Gehorsam« (S. 7), will sich eines reflexhaften Habitus versichern: »Wenn zum Beispiel ein Zögling des Institutes Benjamenta nicht weiß, daß er artig ist, dann ist er es. Weiß er es, dann ist seine ganze unbewußte Zier und Artigkeit weg, und er begeht irgendeinen Fehler.« (S. 90). Jakob drängt auf Innenlenkung: »Er wird ein ganz wundervoller Diener sein, denn nicht nur sein Äußeres paßt zu diesem Beruf der Demut und des Entgegenkommens, nein auch die Seele, die ganze Natur, das ganze menschliche Wesen meines Kameraden hat etwas im allerbesten Sinn Dienerhaftes.« (S. 31). Nicht zufällig erklingt solches Lob der Habitualisierung geforderter Tugend als Beschreibung des Zöglings Kraus, der als Vorbild intrinsischer Motivation gelten darf, als ihr Meister gleichsam: »Ich sehe seine schöne Seele auf seinem Gesicht« (S. 32), lobt Jakob, der die Monotonie des Unterrichts nicht als Defizit kritisiert, sondern als Arkanum interpretiert: »Wenig lernen! Immer wieder dasselbe! Nach und nach fange auch ich an zu begreifen, was für eine große Welt hinter diesen Worten verborgen ist. […] Uns Zöglinge will man bilden und formen, wie ich merke, nicht mit den Wissenschaften vollpfropfen.« (S. 63) Konsequent stellt sich Jakob deshalb auf die Seite der Schulorthodoxie, die sich gegen die Idealisierung des leidenden Schülers und die literarische Darstellung der »trübseligen Gestalten ihrer Erzieher und Lehrer auf der Bühne oder im Roman« wehrt. Heißen die Grundregeln dieser Programmatik: »1. Lerne gehorchen! […]. 2. Lerne dich anstrengen! […]. 3. Lerne dir versagen und deine Begierden überwinden!«,258 so setzen dem Hesse und Strauß die Berufung auf Besonderheit und Entwicklungspotentiale des je einzelnen Schülers entgegen. 258 Dies die Forderungen des bekannten Bildungshistorikers Friedrich Paulsen: Alte und neumodische Erziehungsweisheit, in: Friedrich Paulsen: Gesammelte Abhandlungen. Hg. und eingel. von Eduard Spranger, Stuttgart, Berlin 1912, S. 593–603, hier S. 597–600; im Orig. kursiv. Der Text erschien zuerst 1908.

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Jakobs Institut hingegen legt es fortwährend auf ein Bewusstsein an, »daß wir nichts Großes sind« (S. 64), eine »kugelrunde Null« (S. 8, vgl. S. 66, S. 164) vielmehr: »Das Gesetz, das befiehlt, der Zwang, der nötigt, und die vielen unerbittlichen Vorschriften, die uns die Richtung und den Geschmack angeben: das ist das Große, und nicht wir«, die »Zwerge« (S. 64). Nicht die »Ehrfurcht vor der Individualität ihrer Kinder«259 steuert die Erziehung nach dem Benjamenta-Prinzip, sondern die Vorschrift. Sie umgreift Geist und Körper gleichermaßen: »Ich glaube, man darf sich nicht einmal die persönliche Nase putzen. […] Nasen von Zöglingen sollen stumpf und gestülpt erscheinen, so verlangen es die Vorschriften, die an alles denken«. Auch an Augen und Ohren. »Das Dressierteste an uns ist aber doch der Mund, er ist stets gehorsam und devot zugekniffen.« (S. 55f.).260 Der Körper zeigt nicht wie bei Hans Giebenrath die Spuren der geistigen Unterdrückung, das Institut wünscht ihn als äußerliches Äquivalent zur mentalen Disposition, die solchen Zwang »dem Leben und seinen Stürmen« (S. 64) geschuldet sieht: »Meiner Ansicht nach krankt gerade hieran die gegenwärtige junge Generation, die Zeter und Mordio schreit und nach Papa und Mama miaut, wenn sie sich Pflichten und Geboten und Beschränkungen ein wenig beugen soll.« (S. 65). Es passt zu solchen unzeitgemäßen Bekenntnissen zur Lust an der Disziplin, dass sie von einer Darstellung der Freundschaft begleitet werden, die nicht als emotionales Palladium gegen institutionell und familiär bedingte Unterdrückung fungiert. Während in »Unterm Rad« die Freunde Giebenrath und Heilner »als eine auffallende und mit Mißgunst betrachtete Insel von der Menge abgetrennt lagen«,261 während in »Freund Hein« Heiner Lindner und sein Freund Karl Notwang »Blutsbrüderschaft machen«,262 da gesteht Jakob von Gunten, »wie lieb« (S. 29) ihm Kraus ist, da er von ihm »gehauen« (S. 49) werden möchte. Und nicht in einer symbiotisch erfahrenen Natur agieren die Zöglingen, sondern in der Großstadt, der gerade »Natur fehlt«. Ihre Beschreibung wird in die Lebensphase vor der Institutszugehörigkeit abgedrängt und reiht Konventionen idyllisierter Naturdarstellung ostentativ auf: »Ich glaube, ich hörte immer die Singvögel in den Straßen auf und ab zwitschern. Die Quellen murmelten immer. Der waldige

259 Key: Jahrhundert, S. 167. Der Aufwertung der Kindheit und gattungspoetischen Fragen gilt das Interesse bei Mareike Schildmann: Poetik der Kindheit. Literatur und Wissen bei Robert Walser, Göttingen 2019, bes. S. 55ff und S. 117ff. 260 Vgl. die Beobachtungen von Otto F. Best: Zwei Mal Schule der Körperbeherrschung und drei Schriftsteller, in: Modern Language Notes, 1970, Nr. 85, S. 727–741, hier S. 732. 261 Hesse: Rad, S. 103. 262 Emil Strauß: Freund Hein, Stuttgart 1995, S. 135; vgl. dazu auch den folgenden Abschnitt meiner Untersuchung. Wie Heiner spielt auch Jakobs »Schulkamerad Schacht« Geige – »vermittels seiner Einbildungskraft«, wie der Roman sarkastisch bemerkt: »ein seltsames Wesen«, er »gleicht einem kränklichen, eigensinnigen Mädchen« (S. 13).

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Berg schaute majestätisch auf die saubere Stadt nieder. […] Stimmen und Düfte waren immer da.«263 (S. 21) Die Thematik der Schwelle, des Übergangs schließlich erscheint in ironischer Inversion. »Ich schäme mich« (S. 17), so Jakob über seine ersten Erfahrungen im Institut, die seine ›Blödigkeit‹ nur zu deutlich erweisen. Nicht muss eine selbstbewusste Individualität gegen eingeschliffene Disziplinierungsmechanismen verteidigt werden, sie stellen sich als notwendige Begleitung einer Dressur heraus, welche die Defizite ebenjener Vorphase anlasten: »Was mir damals lächerlich und stumpfsinnig vorkam, erscheint mir heute schicklich und schön.« (S. 18) Und wie ein süffisanter Kommentar zu jenem viel beschworenen und umstrittenen »Mythos des Kindes« der Key und Gurlitt lesen sich die Bekenntnisse Jakobs: »Ich war eigentlich nie Kind […]. Ich entwickle mich nicht. […] Ich respektiere ja mein Ich gar nicht, ich sehe es bloß, und es läßt mich ganz kalt. […] Ich kann nur in den untern Regionen atmen.« (S. 144f.) Dort eben, so wäre anzufügen, wo nicht »ein warm rieselndes Goldlicht« über »Wipfelwogen« scheint, kein »Sonnenlichtdunst« zu bemerken ist: »Heiner dachte: Wie ist die Erde so schön!«264 »Jakob von Gunten« schließt: »Weg jetzt mit dem Gedankenleben. Ich gehe mit Herrn Benjamenta in die Wüste. [..] Gott geht mit den Gedankenlosen. Nun denn adieu, Institut Benjamenta.« (S. 164) Walsers Roman ist die ironische Kontrafaktur der »Schulgeschichte«, identifiziert man sie idealtypisch mit den genannten Texten Strauß’ und Hesses. Keiner ihrer charakteristischen Züge bleibt unkommentiert. Weder der zusammenhanglose Lehrplan, dessen Einförmigkeit im Text gerühmt wird, das bornierte Lehrpersonal, das nun nur noch schlafend anzutreffen ist, der unsensible Vater, dessen »Vortrefflichkeit« (S. 12) jetzt Anlass zur Flucht wird: »Schade, ich sollte nicht Eltern haben, die mich lieben.« (S. 22). Noch die organisatorische Disziplinierung, die als Wohltat empfunden, die Freundschaft mit einem Gleichaltrigen, der doch, ganz auf der Höhe der Darwin-Rezeption, als »affenähnliches Wesen« (S. 11) beschrieben wird. »Jakob von Gunten« greift diese in den vorliegenden »Schulgeschichten« präsenten Elemente auf, ändert aber ihre narrative Kopplung. Seine literarische Form zeichnet sich dadurch aus, dass die Komponenten der, aus der Perspektive jugendlicher Entwicklungspotentiale, feindlichen Lebenswelt mit anderem Vorzeichen rearrangiert werden. Stellt sich der Lebenslauf der Heiner Lindner und Hans Giebenrath in ›absteigender Linie‹ dar, so der des Jakob von Gunten in ›aufsteigender‹, als Reinigung von vormaligen Illusionen und Vorurteilen durch »educatio strenua« (Paulsen). Am affenähnlichen Kraus »sieht man so recht, was das Wort Bildung eigentlich bedeutet« 263 Vgl. Klaus Peter Philippi: Robert Walsers »Jakob von Gunten«, in: Der Deutschunterricht, 1971, Nr. 23, Beiheft 1, S. 51–70, hier S. 55: »triviale Idylle«. 264 Strauß: Freund Hein, S. 187.

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(S. 79), jedenfalls nicht »Entartung«, denn Zögling Jakob hat mit Gewinn die »Ehren-Arten gewechselt«.265 (S. 114) Nicht ganz wie er da ist, gedenkt er sich auszubilden, sein dunkler Wunsch ist Perfektion in der Krausschen Kunst, sich »ein wenig zu schicken, zu schmiegen« (S. 31). Anpassung als Lebenszweck. Walser potenziert das Genre, schreibt auf der Meta-Ebene, eröffnet ein Archiv der »Schulgeschichte« durch Zitat ihrer Elemente.266 Diese Art der Selektion aus einem Arsenal vorhandener Möglichkeiten ist selbstreferentiell: Nicht die pädagogische Umwelt des Literatursystems wird auf Medien abgesucht, sondern die in ihm bereitstehenden Formen werden als Medium rekrutiert. Was literaturhistorisch als Innovation gesehen werden kann, muss keine positiven ökonomischen Folgen zeitigen. An Fragen einer praktischen Pädagogik interessierte Leser dürfte der Roman kaum beeindruckt haben, literaturkritisch konnte auch der wohlmeinende Rezensent seinen Gegenstand als »echte[s] Dichtererstaunen darüber, wie sonderbar die Welt uns ansieht«,267 stillstellen: Der »Gunten« war kein erfolgreiches Buch.268 Seinen Autor wird das nicht überrascht haben, denn »mit der Sentimentalität, mit dem, was man den Schrei nennt, macht man die besten, die emporkömmlichsten und bekömmlichsten Geschäfte.« (S. 118).

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Die Jahrhundertwende, darin stimmen schon die zeitgenössischen Beobachter überein, kann als eine Epoche beschleunigten sozialen und kulturellen Wandels gelten. Und die Wahrnehmungen dieser gesellschaftlichen Dynamik artikulieren sich oft plakativ, aggressiv, kompromisslos: in den vielfältigen Debatten über neue Lebensformen, Kunst- und Wissenschaftskonzepte, Weltdeutungen, Generationen- und Geschlechterverhältnisse. Einen prominenten, literaturhistorisch bemerkenswerten Platz nehmen Thematisierungen des Jugendalters auch bei Stefan George und Rainer Maria Rilke ein. Besondere Aufmerksamkeit soll 265 Vgl. zu dieser »Schule der Souveränität« Klaus Michael Hinz: Robert Walsers Souveränität, in: Paolo Chiarini, Hans-Dieter Zimmermann (Hg.): »Immer dicht vor dem Sturze…«. Zum Werk Robert Walsers, Frankfurt a. M. 1987, S. 153–171, hier S. 166f. 266 Dies als Ergänzung zu dem in der Walser-Forschung seit längerem bekannten ›verfremdenden‹ Schreiben, das Traditionen (Bildungsroman, psychologischer Roman) aufgreift, um sie zu unterlaufen. Vgl. Manfred Engel: Aussenwelt und Innenwelt. Subjektivitätsentwurf und moderne Romanpoetik in Robert Walsers Jakob von Gunten und Franz Kafkas Der Verschollene, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 1986, Nr. 30, S. 533–570, hier S. 549f. Dies auch ein zentraler Aspekt bei Peter Utz: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers »Jetztzeitstil«, Frankfurt a. M. 1998, S. 45 und passim. 267 Hermann Hesse: Robert Walser, in: Katharina Kerr (Hg.): Über Robert Walser. Erster Band, Frankfurt a. M. 1978, S. 52–57, hier S. 56. 268 Vgl. Jochen Greven: Robert Walser. Figur am Rande, in wechselndem Licht, Frankfurt a. M. 1992, S. 122, 129.

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der funktionsgeschichtlichen Frage gelten, in welchen Kontexten sich ihre Texte platzieren und welche der konkurrierenden Realitätsentwürfe von ihnen jeweils berücksichtigt werden. Spätestens mit Ellen Keys »Das Jahrhundert des Kindes«, 1899 erschienen, 1902 in deutscher Übersetzung vorgelegt, und mit Emil Strauß’ »Freund Hein«, so war im letzten Abschnitt zu sehen, wird vor Augen geführt, auf welches öffentliche Interesse die Kritik am staatlichen Erziehungssystem rechnen kann und welchen Rang in den kulturkritischen Debatten ihr zukommt. Weder die literarischen Schilderungen leidender Jugendlicher noch pädagogische Reformdiskussionen sind um 1900 allerdings neu. Vielmehr betonen sie geradezu stereotyp die Dignität ihrer Belange durch Verweis auf die Ahnenreihe Émile, Anton Reiser, Wilhelm Meister, Heinrich Lee. Lernen könne man an ihnen, so das Argument, dass Bildungs- und Erziehungsfragen schon immer zu den prominenten Themen öffentlicher Debatten gehörten, weswegen die führenden Geister vergangener Epochen sie engagiert berücksichtigten.269 Nunmehr gelte es, endlich die Lehren aus den Klassikern zu ziehen, ihre Imperative in familialen und institutionellen Erziehungsprozessen zu dauerhafter Geltung zu bringen. Charakteristisch für diese Argumentation ist, dass die antiteleologische Struktur der erwähnten Bildungsromane ignoriert und ihr ironisches Zitat geschichtsoptimistischer Bildungspostulate als Beschreibung gelingender Versöhnung von Besonderem und Allgemeinem gelesen wird.270 Solcher Rekurs auf den literarischen Kanon zum Zwecke kultureller Legitimierung der eigenen Ambitionen verdeckt die spezifischen Konjunkturen und Akzentverschiebungen der Thematisierung von Jugend seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Sozialhistorisch orientierte typologische Vergleiche mit der Moderne betonen, dass in der Vormoderne mit ihren überwiegend agrarischen Produktionsweisen die heranwachsende Generation früh in »lokal abgegrenzten Sozialstrukturen und Lebensführungskulturen in Arbeitsprozesse eingeführt wurde.«271 Die Dominanz unmittelbarer Existenznotwendigkeiten bedingt geringe Handlungsspielräume, alternative Lebensentwürfe werden von traditionsgeleiteten Konzepten dominiert: Geschlechtscharakteren, religiös legitimierten Autoritätspflichten, Disziplinierung der menschlichen Natur.

269 Vgl. exemplarisch Danziger: Erziehungsromane; M. Scheffel: Moderne Erziehungsromane, in: Pädagogische Studien, 1909, N. F. 30, S. 199–217, 267–287. 270 Vgl. zu dieser Lektüretradition allgemein Wilhelm Voßkamp: Der Bildungsroman in Deutschland und die Frühgeschichte seiner Rezeption in England, in: Jürgen Kocka (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 3, München 1988, S. 257–286. 271 Helmut Fend: Sozialgeschichte des Aufwachsens. Bedingungen des Aufwachsens und Jugendgestalten im zwanzigsten Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1990, S. 60.

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Wenngleich diese Ursachen einer geringen sozialen und regionalen Mobilität zumal in ländlichen Gebieten bis weit in das 19. Jahrhundert Bestand haben, lässt sich tendenziell an seinem Beginn eine gravierende Modifikation der Lebensund Erziehungskontexte feststellen. Sie werden »in weit stärkerem Maße aus ganzheitlichen Lebenszusammenhängen ausgegliedert, spezialisiert und über Jahre hinweg methodisiert«, sind zunehmend »auf langfristige Vorbereitung für hochkomplexe Aufgaben ausgerichtet«.272 Berücksichtigt werden müssen selbstverständlich Differenzierungsprozesse in Korrelation mit sozialer Schichtung, wie sie im reformierten Bildungssystem des 19. Jahrhunderts institutionalisiert sind. Es bleibt aber der Befund einer neuartigen Freisetzung von Individualität, die sich auch in einer verstärkten Differenzierung der Lebensalter gegeneinander bemerkbar macht. Kindheit und Jugend, verstanden in der Regel als Phase zwischen dem zwölften und achtzehnten Lebensjahr,273 werden zu unüberschaubaren Terrains erklärt, Schwebezuständen vor einem Erwachsensein, das sich Lebensläufe gleichfalls als dauerhafte Unsicherheit vergegenwärtigen muss. Einerseits wird Jugendlichkeit mit emphatischen Hoffnungen auf selbstbewusste Freiheit und radikale Innovation umgeben, die Literaturrevolten vom Sturm und Drang über das Junge Deutschland bis zum Expressionismus partizipieren daran. Andererseits entsteht zugleich die pädagogische Sorge um die diesem Lebensalter unterstellte Verführbarkeit, Labilität und Gefährdung. Auch die Literatur kennt den Jugendlichen: als stürmisches Autor-Genie, das die Regeln des poeta doctus hinter sich lässt, um zu neuen Ufern aufzubrechen, wie als literarische Figur, als ästhetischen Entwurf. Poesie wird zur Projektionsfläche für Imaginationen neuer Lebensstile und Gemeinschaftsformen jenseits des Überlieferten und Erprobten, dem das Stigma des Alten anhaftet: nicht als Ehrwürdiges und Bewährtes, sondern als Veraltetes. Sozialisation gewinnt durch Lektüre auch eine literarische Komponente, thematisiert sie doch die Möglichkeiten jugendlicher Phantasie und Normendistanz ebenso wie die dadurch bedingten Risiken des Selbstverlustes, von dem romantische Novellen über die Irrfahrten zwischen Väterwelt und außergesellschaftlichen Räumen berichten, bis hin zu eher resignativ ausgerichteten Texten im Vormärz.274

272 Ebd., S. 67. 273 Vgl. den Problemaufriss von Günter Oesterle: Jugend – ein romantisches Konzept?, in: Oesterle (Hg.): Jugend, S. 9–22, hier S. 11. 274 Vgl. ebd., S. 15f., sowie die Studien des Bandes zu einzelnen Autoren; Steinlein: ›Jünglinge‹; Sikander Singh: Sinnbilder des Stillstandes im Zeitalter der Bewegung. Über die verfehlte Jugend in Prosaerzählungen Immermanns, Stifters und Grillparzers, ebd., S. 191–212. – Sehr stark akzentuiert wird ›das Romantische‹ im Sinne des auf phantastische Potenziale sich gründenden Rebellischen, Avantgardistischen von Christoph Klotter und Niels Beckenbach: Romantik und Gewalt. Jugendbewegungen im 19., 20. und 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2012; es geht nicht um das Spektrum der jeweiligen »Jugend«.

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Aus sozialhistorischer Perspektive muss die literarische Figur des leidenden Jugendlichen am Ende des 19. Jahrhunderts überraschen, verdeutlicht doch die Entstehung des Terminus in den achtziger Jahren im Kontext juristischer Debatten über Strafmündigkeit:275 Jugend steht in schlechtem Ruf, gilt als unzuverlässig, der Kontrolle und Disziplinierung bedürftig. Hier sieht die Jurisdiktion ebenso Handlungsbedarf wie die entstehende Kinder- und Jugendpsychiatrie,276 gelegentlich bereits in Abstimmung mit der beginnenden staatlichen Sozialfürsorge. »Der allgemeinen Entdeckung der Jugend um 1900 ging also die Entdeckung des auffälligen ›Jugendlichen‹ um 1880 voraus«,277 dessen Beaufsichtigung außerhalb der Familie sich ein »System staatlicher Korrektureinrichtungen« zu widmen beginnt. Ihr Argwohn wird durch die Beobachtung erregt, dass sowohl in bäuerlichen, besonders aber in proletarischen Milieus gravierende Abweichungen von Mittelschichtlebensstilen und -erziehungsmaximen existieren; so im Sexual- und Heiratsverhalten und in beruflicher Praxis.278 Das Konzept des ›Jugendlichen‹ bezeichnet zunächst deviantes Verhalten, Asozialität, und dies mit Bezug nicht auf Ausnahmefälle, sondern die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung unter 21 Jahren. Schon der oberflächliche Blick auf das Personal literarischer Thematisierungen von Jugend um 1900 empfiehlt deshalb Vorsicht bei pauschalierenden Urteilen über die seismographische Kraft dieser Texte. Von Wedekinds »Frühlings Erwachen« über Rilkes »Die Turnstunde« und Hesses »Unterm Rad« bis hin zu Werfels »Abituriententag« sind die Protagonisten als Angehörige von Mittelschichten geschildert, agieren in deren Bildungsinstitutionen: Kadettenanstalten, Real- und Humanistischen Gymnasien; von Volksschulen, Fachschulen und Mittelschulen ist kaum die Rede.279 275 Vgl. Roth: Erfindung, S. 101; Ulrich Herrmann: Der »Jüngling« und der »Jugendliche«. Männliche Jugend im Spiegel polarisierender Wahrnehmungsmuster an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Deutschland, in: ders.: Historische Bildungsforschung und Sozialgeschichte der Bildung. Programme – Analysen – Ergebnisse, Weinheim 1991, S. 225–232, 403–406. 276 Vgl. Dudek: Jugend; von Bühler: Konstruktion, bes. S. 104–134 mit Ausblicken auf literarische Darstellungen von Jugend. Konstatiert wird für den Zeitraum 1890–1914 eine »zunehmende Mythologisierung des Jugendalters« (S. 135); vgl. ähnliche Beobachtungen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive schon bei Friedrich Kröhnke: Jungen in schlechter Gesellschaft. Zum Bild des Jugendlichen in deutscher Literatur 1900–1933, Bonn 1981. 277 Detlev J.K. Peukert: »Mit uns zieht die neue Zeit…«. Jugend zwischen Disziplinierung und Revolte, in: August Nitschke, Gerhard A. Ritter, Detlev J. K. Peukert, Rüdiger vom Bruch (Hg.): Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880–1930, Reinbek 1990, Bd. 1, S. 176–202, hier S. 189, das folgende Zitat ebd. 278 Vgl. Christa Berg: Familie, Kindheit, Jugend, in: Christa Berg (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV: 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 1991, S. 91–146, hier S. 120ff. 279 Und allenfalls am Rande von Mädchen und jungen Frauen. Vgl. Gertrud Lehnert (Hg.): Inszenierungen von Weiblichkeit. Weibliche Kindheit und Adoleszenz in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Opladen 1996; Evelyn Sauerbaum: Selbstentfaltung zwischen Autonomie

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Die Reichsgründung 1871 bringt bereits nach kurzer Zeit die Streitfrage mit sich, wie denn in den existierenden Bildungseinrichtungen der deutschen Staaten den Herausforderungen politisch-sozialen Wandels dieser Größenordnung zu begegnen sei. Schulreform bleibt ein bildungspolitisches Dauerthema im Kaiserreich, zumal die Definition einzelner Schultypen immer verbunden wird mit der Zulassung zu den Hochschulen und, weiterführend, mit der Differenzierung in Richtung auf Ausbildung in Natur- und Technikwissenschaften und modernen Fremdsprachen.280 Die Brisanz dieser Debatten geht über Detailfragen institutioneller Organisation weit hinaus. Die Einlassungen des Kaisers auf der Berliner Schulkonferenz 1890 gegen die überkommene humanistische Bildung und für eine explizit nationale »Deutsche Bildung« etwa partizipieren an Grundsatzkontroversen über den Zustand der deutschen Kultur insgesamt, zu deren Stichwortgebern Nietzsche, Lagarde und Langbehn avancieren. Folgerichtig bedeutet die Gleichstellung der Berechtigungen aller drei höheren Schultypen 1900 nur eine Zäsur, nicht den Abschluss dieser Diskussionen.281 Vielmehr werden sie stimuliert von öffentlichkeitswirksam verbreiteten Konzepten der Reformpädagogik, wie sie Ellen Key und Maria Montessori vertreten. Keys Streitschrift »Das Jahrhundert des Kindes« liegt 1911 bereits in der 15. Auflage (29.–30.Tsd.) vor.282 Diese wenigen Daten zeigen schon, dass der literarischen Thematisierung defizitärer schulischer Erziehung keinerlei Priorität zukommt, wobei es eine letztlich müßige Überlegung ist, welcher Text die Konjunktur des Genres um 1900 einleitet.283 Erst mit Thomas Manns »Buddenbrooks« (1901) und Emil Strauß’ »Freund Hein« allerdings lassen sich Kommentare feststellen, denen es um pädagogische Referenzialisierungen zu tun ist. Was es mit der verbreiteten sentimentalen Erinnerung an das sogenannte »›Schulparadies‹« auf sich habe, heißt es 1902 im Blick auf diese beiden Texte, »dafür haben wir in der neuesten

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und Intimität. Literarische Darstellungen weiblicher Adoleszenz in Mädchenbuch und Frauenroman. Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 1ff.: »Das Konzept weiblicher Nicht-Jugend«, das, wie gesehen, schon für Fontanes Frauenfiguren erkennbar ist. Vgl. resümierend James C. Albisetti, Peter Lundgreen: Höhere Knabenschulen, in: Berg (Hg.): Handbuch, Bd. IV, S. 228–278, hier S. 229ff. Vgl. Ulrich Herrmann: Pädagogisches Denken und Anfänge der Reformpädagogik, in: Berg (Hg.): Handbuch, Bd. IV, S. 147–178, hier S. 150ff. Vgl. umfassend zur Programmatik Keys und zu ihrem zeitgenössischen Erfolg die in Anm. 229 und Anm. 231 genannte Literatur. Zu den Auflagen vgl. Reinhard Dräbing: Der Traum vom »Jahrhundert des Kindes«. Geistige Grundlagen, soziale Implikationen und reformpädagogische Relevanz der Erziehungslehre Ellen Keys, Frankfurt a. M. u. a. 1990, S. 497. Vgl. die Zusammenstellung potentiell relevanter Texte im Zeitraum 1881–1925 von Neubauer: culture, S. 220–227; Neubauer verdeutlicht besonders das Spektrum der Thematisierungen, von der Malerei über die Jugendbewegung bis hin zur Kinderpsychologie.

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Romanliteratur zwei zutreffende und ergreifende Zeugnisse«.284 Ludwig Gurlitt, einer der streitlustigsten und im Buchmarkt erfolgreichsten Reformpädagogen, gibt in seinen Schriften geradezu ein Panorama literarischer Kronzeugen von Walther von der Vogelweide bis Gotthelf. In einer Passage über »Früchte tyrannischer Erziehung« heißt es 1905: »Es ist eine bittere, aber manchmal die einzig wirksame Lehre, wenn solche Erzieher dann an den faulen Früchten ihrer Arbeit ihren groben Mißgriff büßen lernen. Das Lebensschicksal ›Freund Heins‹ ist hier fast typisch für unzählige deutsche Kinder.«285 In den folgenden Jahren entsteht dann eine regelrechte Spezialliteratur, die literarische Texte pädagogischen Lektüren unterzieht.286 Solche pragmatischen Applikationen287 haben doppelte Funktion. Zum einen reklamieren sie Aufmerksamkeit für eigene Beobachtungen zu strukturellen Defiziten des Bildungssystems. Literarische Texte gelten als besonders präzise und überzeugende Darstellungen empirisch überprüfbarer Zustände auch in der Gegenwart. Pädagogische Intervention soll den notwendig allgemeinen Appell der Literatur in praktische Erziehungsarbeit umsetzen und so die Intention des Autors realisieren. Zum anderen lesen diese Kommentare literarische Texte in Hinsicht auf deren, mit Bourdieu zu sprechen, symbolisches Kapital. Der immer mitgedachte Dichter-Mythos288 legitimiert die eigenen pädagogischen Konzepte; ihr Verfasser wird als elementare Kraft, als ursprünglicher Sprecher vorgestellt. Der Glanz des kulturell anerkannten Textes schützt die auf ihn bezogenen Reformvorschläge durch Autoritätsbeweis gegen

284 Max Lorenz: »Der Deutsche und sein Vaterland«, in: Der Tag (Berlin), Nr. 461 vom 02. 10. 1902; es handelt sich um die Anzeige eines weiteren Buchs des bereits erwähnten Reformpädagogen Ludwig Gurlitt. Bei ihm heißt es im selben Jahr über beide Romane: »da ist für uns Lehrer viel, sehr viel zu lernen!« Der Deutsche und sein Vaterland. Politisch-pädagogische Betrachtungen eines Modernen, Berlin 1902, S. 138; zitiert wird nach der noch im selben Jahr (!) erschienenen 4. Aufl. 285 Ludwig Gurlitt: Der Deutsche, S. 233. Das Vokabular der schulischen Tyrannei wird zeitgleich von Heinrich Mann bemüht, vgl. unten den Abschnitt zu »Professor Unrat«, S. 100ff. 286 So beispielsweise in der Anthologie von Wilhelm Wohlrabe: Der Lehrer in der Literatur. Beiträge zur Geschichte des Lehrerstandes, 3., vermehrte Aufl. Osterwieck/Harz 1905; H. Th. M. Meyer: Rez. Dr. Fuchs und seine Tertia, in: Der Saemann, 1906, Nr. 2, S. 391f.; Danziger: Erziehungsromane; Scheffel: Erziehungsromane; Friedrich Pagel: Das Schulproblem im Lichte moderner Literatur. Auch ein Beitrag zur Schulreform, in: Die deutsche Schule, 1911, Nr. 15, S. 393–413, 465–487; D. Darenberg: Der Lehrer als Romanfigur, in: Pädagogische Zeitung, 1913, Nr. 42, S. 306–310. 287 Vgl. Jürgen Link, Ursula Link-Heer: Literatursoziologisches Propädeutikum, München 1980, S. 166ff. Aus Jürgen Links Konzept der interdiskursiven Leistung von Literatur lassen sich Spezifika der Texte gleichfalls herleiten. Sie sind dann als ›Integratoren‹ sich ausdifferenzierender Spezialdiskurse (Medizin, Psychologie des Erwachsenen bzw. des Kindes und Jugendlichen, Jurisdiktion, Kriminologie, Pädagogik) anzusehen. 288 Vgl. hierzu Manfred Schneider: Grabbe und der Dichter-Mythos, in: Werner Broer, Detlev Kopp (Hg.): Christian Dietrich Grabbe 1801–1836. Beiträge zum Symposium 1986 der Grabbe-Gesellschaft, Tübingen 1987, S. 43–56.

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Kritik, lässt sie als unausweichliche Forderungen jenseits zeitgebundenen Interesses erscheinen. Der von Gurlitt erwähnte »Freund Hein« darf zusammen mit Hesses »Unterm Rad« als Prototyp der literarischen Darstellung jugendlichen Leidens in Erziehungsinstitutionen gelten.289 Der musisch begabte Heiner Lindner kann in den oberen Gymnasialklassen dem Mathematikunterricht nicht ausreichend folgen, uneinsichtige Pädagogen zwingen ihn zu mechanischen Lernleistungen, wofür der Grammatikunterricht in den alten Sprachen einmal mehr als Beispiel dient.290 Liebevolle, aber letztlich unverständige, Selbstdisziplin einfordernde Eltern verweigern den Abgang von der Schule und eine musische Berufsausbildung. War Heiner noch von einem Freund vorübergehend emotional gestützt worden, so flieht er schließlich, Hölderlin lesend, in die Natur und endet durch Suizid. Der unter ästhetischen Gesichtspunkten eher einfach strukturierte Text erzählt linear die Biographie seines Protagonisten, nur einmal unterbrochen durch eine Rückblende, in der die Leidenschaft des Vaters für das Geigenspiel und ihre Überwindung mitgeteilt werden. Charakteristisch für diesen Umgang mit dem Thema Jugend ist die Konfrontation von jugendlichen Neigungen und Begabungen, hier vertreten durch die Musikbegeisterung, und Erziehungsinstanzen, die Individualität negieren, kontrollieren und abweichendes Verhalten bestrafen. In Einklang mit grundlegenden Maximen der Reformpädagogik beschreibt der Text Jugend als ein tendenziell labiles Entwicklungsstadium, das institutionell nicht als solches registriert wird; die geschilderten psychosomatische Störungen sollen diese Hemmung von »Natur«291 illustrieren, der Körper fungiert als »Ausdrucksmedium sozialer Bedeutungsgehalte«.292 Gerade die sensiblen Schüler leiden an »Überbürdung« mit dispersen Wissenselementen.293 Jugend erscheint insgesamt als eine Phase des Übergangs, noch ›ungeordnet‹ im Sinne erwachsener Vorstellungen von Berufserfolg, aber mit kreativen Potentialen ausgestattet294, die in den auf Durchschnitt und Gehorsam ausgerichteten staatlichen Institutionen abgetötet werden. Der Tendenz

289 Vgl. bereits im vorigen Abschnitt. Ausführlich zur »Schulgeschichte« vgl. Mix: Schulen, bes. S. 205ff. zu »Freund Hein«. 290 Vgl. Strauß: Freund Hein, S. 194: »nach dem bequemen üblichen Schema!« 291 Vgl. ebd., S. 192, wo von »der Natur und den ewigen Gesetzen« die Rede ist, denen Heiner »näher« stehe. 292 So grundsätzlich im Blick auf Zusammenhänge von Sozialstruktur und Körperlichkeit Douglas: Ritual, S. 122. 293 Vgl. umfassend das Kap. »Überbürdungsgeschichten« bei Whittaker: Überbürdung, S. 43– 126. 294 Vgl. Heiners Kompositionen (Strauß: Freund Hein, S. 114ff.).

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nach sind dies Einwände, wie sie schon Nietzsche und Langbehn in ihrer Fundamentalkritik zeitgenössischer Bildungskonzepte vorgetragen hatten.295 In dieser Verbindung der Thematisierung von Jugend mit Kulturkritik wird man eine Gemeinsamkeit reformpädagogischer Entwürfe mit dem George-Kreis sehen dürfen. George betreibt in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts zunächst eine Assoziation junger Künstler, die an symbolistischen und ästhetizistischen Kunstformen interessiert sind. Forum und kommunikativer Fokus sind die von ihm ab 1892 zusammen mit Carl August Klein herausgegebenen »Blätter für die Kunst.«296 Hatte sich deren Programmatik zunächst auf ein denkbar kleines Publikum von Abonnenten bezogen, so wird am Ende des Jahrzehnts eine Öffnungsbewegung deutlich; Auswahlausgaben der »Blätter« machen frühe Arbeiten wieder zugänglich, Georges eigene, seit 1890 ebenfalls nur in kleinen Auflagen und als Privatdrucke erschienene Lyrikbände werden jetzt regulär im Berliner Verlag Bondi veröffentlicht, desgleichen Anthologien deutscher Dichtung. Die Bekanntschaft Georges 1899 mit dem nachmaligen Heidelberger Neugermanisten Friedrich Gundolf markiert den sich im ersten Jahrzehnt nach 1900 vollziehenden Umbruch: An die Stelle einer nur durch gemeinsame künstlerische Programme und Wertvorstellungen homogenisierten Verbindung prinzipiell gleichrangiger Autoren tritt der Kreis um den charismatisch ausgezeichneten Lyriker. Dieser »Bund« oder »Staat«, wie Selbstbeschreibungen gleichfalls lauten, zeichnet sich durch eine hierarchische Struktur aus: »Herrschaft und Dienst« (Friedrich Wolters) und »Gefolgschaft und Jüngertum« (Gundolf) sind die zentralen Bedingungen für den starken inneren Zusammenhalt dieser Gruppe. Nicht mehr nur um eine von Grund auf erneuerte Kunst geht es, sondern um das Projekt einer ästhetisch-heroischen Lebensform.297 Diese Programmatik profiliert sich auf der Grundlage einer radikalen Kulturkritik, die der Gegenwart Materialismus, hypertrophen Subjektivismus und borniertes Fortschrittsdenken vorwirft; an die Stelle unbefragt gültiger Werte und sozialer Bindungen seien Vermassung und Wissenschaftsgläubigkeit getreten. Diese Kulturkritik, die in ihrer Kompromisslosigkeit nicht wenig zur öffentlichen Bekanntheit des Kreises nach 1910 beigetragen hat, umfasst auch den Rekurs auf Jugend. Bereits die frühe Lyrik Georges thematisiert wiederholt 295 Und bei ihnen wie in den facettenreichen Konzeptionen einer Reformpädagogik ist das Nachdenken über Bildung, nicht nur in Institutionen, untrennbar verknüpft mit Postulaten übergreifender gesellschaftlicher Umstrukturierung; diese Traditionslinien demonstriert Oelkers: Reformpädagogik, S. 223ff. 296 Vgl. Karlhans Kluncker: Blätter für die Kunst. Zeitschrift der Dichterschule Stefan Georges, Frankfurt a. M. 1974. 297 Vgl. grundsätzlich Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des GeorgeKreises 1890–1945, Tübingen 1998.

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Eigenschaften von Kindern und Jugendlichen. Über den »Auszug der Erstlinge«, die ihre Heimat und Eltern verlassen müssen, heißt es im »Buch der Hirten- und Preisgedichte« 1893/94: »Wir schieden leicht . nicht eines hat von uns geweint Denn was wir tun gereicht den unsrigen zum heil. Wir wandten nur ein einzigmal den blick zurück Und in das blau der fernen traten wir getrost. Wir ziehen gern: ein schönes ziel ist uns gewiss Wir ziehen froh: die götter ebnen uns die bahn.«298

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Auch das im Band folgende Gedicht, »Das Geheimopfer«, spricht vom »edelste[n] schmelz / Der jugend«, die von sich bekennt: »Wir hörten den ruf Der dröhnend uns zieht Zum tempel zum dienst Des Schönen: des Höchsten und Grössten.«299

Was dieses »Grösste« ist, was den »seher« und das »heil« auszeichnet, von denen weiter die Rede ist, das allerdings wird nicht gesagt; die Unbestimmtheit dieser lyrischen Aussagen, ihre Offenheit für unterschiedlichste, etwa politische, Referenzialisierungen ist oft betont worden.300 Aber dies verweist darauf, dass es im Kreis nicht primär um konkrete Handlungsanweisungen für tagespolitische, reformerische Intervention geht. Seine Selbstbeschreibungen kreisen um Bedingungen und Möglichkeiten von Verhaltensmodellierung, die sich nicht auf die scheinbaren Eindeutigkeiten wissenschaftlicher Welterklärung zurückzieht. Schon 1894 heißt es in den »Blättern für die Kunst«: »Nicht bloss in zeiten des übergangs sind die schwankenden bohrenden andeutenden sätze den schulmässig feststehenden vorzuziehen: sie sind die sybillinischen zeichen aus denen die jugend ihre tiefste anregung empfängt.«301 Die wissenschaftlichen Publikationen aus dem Kreis, insbesondere Gundolfs »Goethe« und Max Kommerells »Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik«, werden später dieses Misstrauen gegen Empirismus und Rationalismus in den »Gestalt«-Deutungen her298 Stefan George: Werke. Ausgabe in zwei Bänden, 4. Aufl. Stuttgart 1984, Bd. 1, S. 70. 299 Ebd., S. 71. Vgl. Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst, Düsseldorf, München 1964, S. 8; 1893 versichern die »Blätter«, sie wollten »aller jugend offen stehen die nach dem schönen und neuen sucht.« 300 Vgl. Bodo Würffel: Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978, hier S. 234ff.; Rolf-Peter Janz: Die Faszination der Jugend durch Rituale und sakrale Symbole. Mit Anmerkungen zu Fidus, Hesse, Hofmannsthal und George, in: Koebner u. a. (Hg.): Zeit, S. 310–337, hier S. 332. Das Spektrum jugendbewegter Rezeptionen dokumentiert: Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Jugendbewegung, Stuttgart 2018. 301 Einleitungen und Merksprüche, S. 10.

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ausragender Autoren produktiv machen.302 In den neunziger Jahren ruft der Bezug auf Jugend weniger Inhalte als Haltungen auf. Der »dienst« an transsubjektiven Werten, von dem die Gedichte aus den Büchern sprechen, ist wesentlicher Bestandteil einer Handlungsgrammatik, deren Ausfaltung sich dann die Lyrikbände nach dem »Siebenten Ring« (1907) widmen werden. Schon die frühen Blätter erteilen »[ j]ungen dichtern« die Weisung, sich in Publikationsdingen zurückhaltend zu zeigen, um nicht literatenhafter Umtriebe schuldig zu werden.303 Diese Absage der »Blätter«-Autoren an geläufige Mechanismen des literarischen Marktes weitet sich um 1900 zum Frontalangriff, der gleichwohl Zeichen kultureller Erneuerung wahrnimmt. 1897 wird »ein strahl von Hellas« ausgemacht: »dass unsre jugend jezt das leben nicht mehr niedrig sondern glühend anzusehen beginnt« und »von der schwärmerei für seichte allgemeine bildung und beglückung sich ebenso gelöst hat«, markiert den »umschwung des deutschen wesens bei der jahrhundertwende.«304 Schließlich wird 1901 unter der Überschrift »NEUE TRÄUME« formuliert: »Die jugend die wir vor uns sehen gestattet uns den glauben an eine nächste zukunft mit höherer lebensauffassung vornehmerer führung und innigerem schönheitsbedürfnis. Sollten aber grosse umwälzungen und ausbrüche entstehen so wissen wir dass diese ganz anderer art sein müssen als die staatlichen und wirtschaftlichen plänkeleien die heute die gemüter erfüllen.«305

Nicht ökonomisches und politisches Kalkül oder wissenschaftliches Wissen prägen das Verhaltensideal des Kreises, sondern die Verpflichtung auf die leibseelische Ganzheit Georges, der als charismatisches Zentrum die Gruppe nach innen in direkter Interaktion stabilisiert. Ihre Maximen sind in den folgenden Gedichtbänden poetisch kodifiziert, die allerdings auch immer künstlerisch ambitioniert sind, eine Auratisierung der Kunst energisch betreiben. Jugend ist in mehrfacher Hinsicht Bezugspunkt dieser, so Ernst Troeltsch, »geistigen Revolution«. Zunächst einmal ist der Altersunterschied der »Jünger« zum »Meister« George deutlich; nimmt man Karl Wolfskehl aus, so kommen sie in der Regel als Oberschüler oder junge Studenten zu George.306 Die Interaktionsformen des Kreises, das laute Lesen, die gemeinsamen Mahlzeiten, das Abschreiben ausgewählter Dichtung und ihre Besprechung,307 zielen auf einen vollständigen af302 303 304 305 306

Vgl. das Schlusskapitel meiner Untersuchung. Einleitungen und Merksprüche, S. 16 (1896). Ebd., S. 25. Ebd., S. 31. Vgl. ausführlich zu Biographien von Freunden und Bewunderern Georges Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln u. a. 1997. 307 Unter literaturanthropologischem Aspekt diskutiert Wolfgang Braungart sowohl Georges Lyrik als auch Aspekte der Kreisbildung; Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale

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fektiv-sozialen Sozialisationsprozess. Diese Restrukturierung der mentalen Disposition, in den autobiographischen Aufzeichnungen oft als Beginn eines neuen, nun erst eigentlichen, substantiellen Lebens gewürdigt, will einen, in Georges Worten, neuen »Typus« schaffen.308 Seine Eigenschaften sind zum einen physiognomische, Gesichtsprägung, Gang und Stimme gehören hierher. Zum anderen fordert George ein Ethos des Dienstes: Ehrfurcht gegenüber geistiger Größe, Selbstdisziplin, etwa auch im Hinblick auf schulische Anforderungen, und Entsagung, Opferbereitschaft, Solidarität nach innen, Kompromisslosigkeit im Eintreten für die Wertpräferenzen des Kreises nach außen. Die Lebensphase der Jugend ist für dieses Erziehungsprogramm besonders geeignet, weil sie von George als für Veränderung noch offen gesehen wird. In ihr haben sich die diagnostizierten Verfallserscheinungen des Zeitalters noch nicht charakterlich verfestigt. »Sie wissen«, so heißt es in einem Brief an Hugo von Hofmannsthal, »wenn wir überhaupt ein amt haben dass es gewiss nicht dies ist an alten verknorrten bäumen den geringsten ausschlag zu preisen sondern dies: jungen noch biegbaren stämmen unsre sorge zuzuwenden.«309 Dies gilt nicht nur für die Rekrutierung neuer Gruppenmitglieder. Jugend erhält darüber hinaus ein utopisches Potential zugeschrieben, idealtypisch formuliert in der Vorrede zum »Maximin«-Gedenkbuch 1906 und dem »Maximin«Zyklus, der die Mitte des »Siebenten Ringes« stellt. Die Texte erinnern an den sechzehnjährigen Maximilian Kronberger, mit dem George in München befreundet war; den Zeitgenossen schienen sie mit ihrer Vergöttlichung des plötzlich verstorbenen Schülers einen blasphemischen Zug zu tragen. Aber in dieser biographischen Funktion geht die Vorrede nicht auf, vielmehr amalgamiert sie Erziehungsprogramm und Geschichtsprophetie. In der dekadenten Gegenwart, so die Konstellation, wird durch die »plötzliche ankunft« Maximins die Bedingung einer Wende geschaffen, vom »lichte neuer verheissungen« ist die Rede: »Wir erkannten in ihm den darsteller einer allmächtigen jugend wie wir sie erträumt hatten […] – einer jugend die unser erbe nehmen und neue reiche erobern könnte.«310 Nicht von den Bedrängnissen durch Bildungsinstitutionen, ehrgeizige Eltern und sexuelle Tabus wird in diesen Texten gesprochen, nicht von Nervosität und Labilität, wie sie den in der zeitgenössischen Psychiatrie und Psychologie beschriebenen »neue[n] Sozialcharakter des verunsicherten Ju-

der Literatur, Tübingen 1997; vgl. grundsätzlich auch seine Monographie Ritual und Literatur. 308 Zitiert nach Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf u. a. 1963, S. 187. 309 Am 16. Juli 1897, in: Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, 2., erg. Aufl. München, Düsseldorf 1953, S. 123f. 310 Alle Zitate George: Werke, Bd. 1, S. 522f.

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gendlichen« kennzeichnen.311 George konstruiert einen »Typus« des Jugendlichen, in dem sich physiognomische Vorbildlichkeit mit messianischen Hoffnungen verbindet, Anmut und Sicherheit den »erlöser« auszeichnen.312 Nicht eine Phase des Übergangs und der individuellen und sozialen Desorientierung ist Jugend. Jedenfalls nicht, wenn sie »zum herrscher erkoren« ist: »Allein wir wissen dass nur greisenhafte zeitalter in jugend ausschliesslich vorstufe und zurichtung . niemals gipfel und vollendung sehen«.313 Jugend ist in dieser Perspektive nicht gefährdet, bedarf nicht der Kontrolle durch staatliche Institutionen, sondern umgekehrt: Deren Existenz indiziert die Misere einer durch Vermassung und Bindungslosigkeit zerrütteten Gesellschaft, der sich eine von George als Hoffnungsträger identifizierte Jugend rigoros entgegenzustellen hat. Das »Zeitgedicht« »Die tote Stadt« schließt: »›Hier frommt kein kauf. Das gut was euch vor allem galt ist schutt. Nur sieben sind gerettet die einst kamen Und denen unsre kinder zugelächelt. Euch all trifft tod. Schon eure zahl ist frevel. Geht mit dem falschen prunk der unsren knaben Zum ekel wird! Seht wie ihr nackter fuss Ihn übers riff hinab zum meere stösst.‹«314

Prämisse fundamentaler Erneuerung von Kultur ist die tabula rasa, dies eine prominente Denkfigur konservativer Geschichtskonzeptionen.315 Solche apokalyptische Reinigung vorzunehmen, wird einer Jugend zugetraut, die sich nicht in der bürgerlich-liberalen Gesellschaft eingerichtet hat, auch wenn George manche ihrer Erziehungsprinzipien gewahrt wissen wollte. Voraussetzung dieser historischen Befähigung allerdings, das belegen seine Publikationen ebenso wie die Erinnerungen seiner Anhänger, ist die Qualifizierung durch George selbst wie in der Folge die uneingeschränkte Orientierung an seinen Maximen. Ihrer Pädagogik wird zugetraut, eines Tages auch den politisch wirkungsmächtigen »Täter« hervorzubringen – eine Vision, die schon der philosophische Gewährsmann des Kreises, Platon, hatte: den Führer führen. 311 Ulfried Geuter: Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung. Jugendfreundschaft und Sexualität im Diskurs von Jugendbewegung, Psychoanalyse und Jugendpsychologie am Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1994, S. 258. 312 Vgl. George: Werke, Bd. 1, S. 526. Vgl. Michael Winkler: Der Jugendbegriff im George-Kreis, in: Koebner u. a. (Hg.): Zeit, S. 479–499, hier S. 491. Probleme in der erziehungspraktischen Umsetzung beschreibt Groppe: Macht, S. 440ff. 313 George: Werke, Bd. 1, S. 524f. 314 Ebd., S. 244. 315 Vgl. Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, bes. S. 184ff.; Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland, München 1988.

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Das Erziehungskonzept Georges verbindet die Hoffnung auf eine positive kulturelle Entwicklung in einer allerdings nicht näher bestimmten Zukunft mit der Einforderung traditioneller bürgerlicher Tugenden wie Fleiß und Gehorsam,316 verknüpft also Futurisierung mit Disziplinierungsgeboten. Die vielfach adressierte »jugend« ist nicht schon »selbst als Vollendung und neue Kulturhöhe begriffen, sondern nur als Prädisposition zu dieser.« Dabei sind »schwere Zeichen« eminent wichtig für die Verlautbarungen des George-Kreises, der seine Faszination, wie zahlreiche Rezeptionszeugnisse verdeutlichen, zumal entschiedener Radikalität der kulturkritischen Diagnose einer Gegenwart ohne bindende Werte und Vorbilder verdankt; der Insistenz auf einer Ahnenreihe von Platon bis Hölderlin, die den zeitgenössischen Möchtegernkünstlern ebenso entgegengesetzt wird wie der Journaille; der düster raunenden Prophetie apokalyptischer Zustände; aber auch der Formierung einer demonstrativ exklusiven ästhetisch-heroischen Lebensform, die sich Marktgesetzen kategorisch verweigert, um die wahre Kunst zu würdigen. Charakteristisch für die Rezeption, auch im Umkreis der Bündischen Jugendbewegung, ist, dass auffällig häufig die »schweren Zeichen« aus dem Spätwerk angeführt werden: das »völkische Banner«, das »Neue Reich«, »Zucht«, »Führer«, »neuer adel« und andere.317 Eine Möglichkeit der Erklärung könnte in der Beobachtung liegen, dass in bestimmten Sektoren der Gesellschaft, auch und gerade in Jugendszenen, eine Vorliebe für esoterische Symboliken besteht, die dem eigenen Lebensstil integriert werden können; am Beginn des 20. Jahrhunderts ebenso wie heute in Fraktionen der Heavy Metal- oder der Gothic-Szene. Gemeinschaftserfahrungen werden hier auch über eine Lebensstilsemantik generiert, die zunächst mehrdeutige, zur Interpretation auffordernde Zeichen mit spezifischen, womöglich exklusiven Bedeutungen versieht und damit soziale Distinktion ermöglicht.318 Der strikten Asymmetrisierung von Kommunikation, die im George-Kreis selbstverständlich ist, begegnet der ehemalige Militärschulzögling Rainer Maria Rilke mit dem denkbar größten Misstrauen; sein Interesse für zeitgenössische

316 Vgl. die Einschätzung von Carola Groppe: »Dein rechter lehrer bin ich wenn ich liebe / Mein rechter schüler bist du wenn du liebst.« Erziehungskonzepte und Erziehungsformen im George-Kreis, in: George-Jahrbuch, 1998, Nr. 2, S. 107–140, das folgende Zitat S. 123; vgl. komplementär dazu ihren Aufsatz: Freundschaften mit Auftrag und Gefährdung: Im George-Kreis, in: George-Jahrbuch, 2020/21, Nr. 13, S. 1–25. 317 Vgl. Stefan Breuer: Politische Rezeption, in: Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer, Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd. 2, Berlin u. a. 2012, S. 1176–1225. 318 Vgl. neben den erwähnten älteren Arbeiten Werner Helspers exemplarisch Sarah Chaker: Schwarzmetall und Todesblei. Über den Umgang mit Musik in den Black- und Death MetalSzenen Deutschlands, Berlin 2014. Zu den »schweren Zeichen« vgl. im Folgenden auch die Ausführungen zu »Jugend«-Texten der 1920er Jahre.

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Konzepte der Reformpädagogik ist in der Forschung mehrfach betont worden.319 Zumal die Bekanntschaft mit Ellen Key320 und Rilkes enthusiastische Einschätzung ihres Samskola-Reformprojekts legen es nahe, Texte der neunziger Jahre wie die Prosaskizze »Pierre Dumont«, besonders aber »Die Turnstunde« als schriftstellerische Umsetzungen der in Briefen und Rezensionen geäußerten Kritik zeitgenössischer institutioneller Erziehungspraktiken zu werten. Rilke sieht sie nicht »vom Kinde aus« strukturiert, sondern auf seine Disziplinierung eingeschworen, fremde Stoffmassen oktroyierend, mechanisch und ohne Sinn für individuelle Befähigung konzipiert. Die eigenen deprimierenden Erlebnisse in der Militär-Unterrealschule St. Pölten und der Militär-Oberrealschule Mährisch-Weißkirchen, noch Jahrzehnte später brieflich mehrfach als traumatisierend erinnert, werden so zum Ausgangs- wie Endpunkt literarischer Aktivitäten mit kulturpolitischer Intention.321 Die existierende Schulform erscheint als »systematischer Kampf gegen die Persönlichkeit«, wie auch die »Lebensgeschichte aller großen Menschen« verrate; »sie sind, was sie geworden sind, immer trotz der Schule geworden, nicht durch sie.«322 Ein anderer Zugang ergibt sich im Blick auf die Tradition des Bildungsromans, mit dem die »Schulgeschichten« der Jahrhundertwende noch die Konzentration auf Lebensläufe teilen. Hingegen wird die philosophisch-ästhetische Prämisse einer möglichen Individualbildung, die sich, geschichtsphilosophisch erweitert, dem erhofften Gattungsfortschritt einfügt, suspendiert. Die literarische Thematisierung institutioneller Erziehung, dies gilt zumal für die genannten Texte 319 Vgl. York-Gothart Mix: Der Auftakt zur Fibel des Entsetzens. R.M. Rilkes Erzählung Die Turnstunde und die pädagogische Reformbewegung der Jahrhundertwende, in: Euphorion, 1994, Nr. 88, S. 437–447; vgl. schon Wolfgang Minaty: Rilke und die humane Schule, in: Zeitschrift für Pädagogik, 1978, Nr. 24, S. 547–561. Die Kontrastierung mit Georges Thematisierung von Jugend soll unterschiedliche Optionen innerhalb des zeitgenössischen Diskurses verdeutlichen; über biographische Konstellationen informiert Eudo C. Mason: Rilke und Stefan George, in: Eudo C. Mason: Exzentrische Bahnen. Studien zum Dichterbewußtsein der Neuzeit, Göttingen 1963, S. 205–249, S. 332–338. 320 Vgl. George C. Schoolfield: An evening at Furuborg, in: Germanic Review, 1974, Nr. 49, S. 83– 104; Theodore Fiedler: Rilke, Ellen Key und die Frauenfrage um die Jahrhundertwende, in: Blätter der Rilke-Gesellschaft, 1989/90, H. 16/17, S. 141–153; Rainer Maria Rilke. Ellen Key. Briefwechsel. Mit Briefen von und an Clara Rilke-Westhoff, hg. v. Theodore Fiedler, Frankfurt a. M. u. a. 1993. 321 Vgl. Minaty: Rilke, S. 550: »Sicherlich, es hat erst einmal ihn betroffen, und schreibend sich davon zu befreien, wurde ihm eine Verpflichtung. Diese Verpflichtung glaubte er aber auch anderen gegenüber einlösen zu müssen.« 322 Rainer Maria Rilke: Rez. Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes, in: Rilke/Key-Briefwechsel, S. 249–255, hier S. 252. In der Reformdiskussion der Jahrhundertwende ist dies ein Topos; vgl. die entsprechenden Äußerungen des Nobelpreisträgers für Chemie, Wilhelm Ostwald: Wider das Schulelend. Ein Notruf, Leipzig 1909, S. 33, wonach fast alle »geistigen Führer der Menschheit« sich »in einem mehr oder weniger heftigen Konflikt mit der humanistischen Mittelschule befunden« haben (im Orig. teilw. gesperrt).

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Hesses und Strauß’, konstituiert sich über psychologische Prämissen. Bereits um 1800 existiert ein »ansehnliches Schrifttum« zur empirischen Erforschung der Kinderpsyche, das »weder vom philosophischen Idealismus noch von der mechanischen Physik abstammte«323, sondern sich aus der Medizin, der Literatur und der pragmatischen Psychologie herleitete. Ist diese Kinderpsychologie, die sich gegen die Psychologie des Erwachsenen differenziert, unter den (Volksschul-)Pädagogen des 19. Jahrhunderts praktisch noch unbekannt, so gehen die Axiome ihrer subdisziplinären Selbständigkeit wie individuelle Eigentümlichkeit der Kinderentwicklung und Hochschätzung der kindlichen Phantasie in die pädagogischen Diskussionen um 1900 konstitutiv ein.324 Die »Schulgeschichte« formiert literarische Texte, indem sie diese pädagogische Realitätskonstruktion um des literarischen Effekts willen dramatisiert: in narrativen Inszenierungen der Konfrontation von ›natürlicher‹ Kindheit und Jugend mit den Erziehungsinstitutionen Familie und Schule. Diese Sichtweise hat literaturinterne Konsequenzen. Rilkes »Die Turnstunde« beispielsweise kann dann nicht nur als narrative Umsetzung reformpädagogischer Überlegungen infolge seiner Bekanntschaft mit Ellen Key gewertet werden, sondern eben als literarischer Text. Rilke betont dies selbst. Im »Schmargendorfer Tagebuch« heißt es 1899 über ein an die Schulerfahrungen anschließendes Romanprojekt: »Seltsam, nachts wurde plötzlich der Militärroman so dringend, daß ich glaubte, ich würde, wenn nicht sofort, so doch wenigstens heute beginnen müssen, ihn zu schreiben. Das stellt sich natürlich im neuen Tag wesentlich anders dar; was so notwendig schien mitten in der Nacht, tritt jetzt als gleichberechtigt mit zwei, drei anderen Stoffen auf und nicht einmal als inniges Bedürfnis, sondern als literarische Absicht […].«325

Die »Turnstunde«, deren Erstfassung diesen Tagebuchaufzeichnungen zugehört, beschreibt den Tod des Militärschülers Karl Gruber während des Turnunterrichts. Der ansonsten schlechte Sportler bewältigt an der Kletterstange eine Höhe weit jenseits der »gewöhnlich« erwarteten, fällt nach dem Abstieg in Ohnmacht und stirbt an einem »Herzschlag«, wie der kommandierende Offizier unpersönlich, »trocken und hart« den angetretenen Kameraden mitteilt: »Ab-

323 Oelkers: Aspiration, S. 138. 324 Vgl. ebd., S. 193f. 325 Rainer Maria Rilke: Tagebücher aus der Frühzeit, hg. v. Ruth Sieber-Rilke u. Carl Sieber, Frankfurt a. M. 1973, S. 137. Vgl. analog Robert Musils Diktum, »Dichtung« sei »etwas anderes als Wissenschaft«, vermittele »nicht Wissen und Erkenntnis«: »Aber: Dichtung benutzt Wissen und Erkenntnis«, greift auf sie zur Erzeugung einer literarischen Form zurück; zitiert nach Mix: Schulen, S. 107.

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marsch!«326 Der novellistischen Konzentration des Textes entsprechen eine distanziert beobachtende Erzählperspektive und eine stark verknappte Sprache.327 Und diese literarisch relevanten Befunde verweisen darauf, dass es sich nicht primär um ein kompensatorisches Freischreiben von unangenehmen Erfahrungen handelt. Die geringen Änderungen der Tagebuch-Fassung für die Publikation in Maximilian Hardens »Zukunft« 1902 konzentrieren sich, im Sinne potentieller Leser, auf künstlerisch bedeutsame Details. Der Beginn enthält jetzt einen Hinweis auf die militärische Observanz der Schule, stilistische Korrekturen profilieren die Figuren der Aufsicht führenden Soldaten und der Mitschüler.328 Nicht als moralisch-pädagogische Anklage in novellistischer Form, als Abrechnung mit eigenen schulischen Niederlagen und ihren Verursachern kann der Text deshalb gelesen werden, sondern als ›unerhörte Begebenheit‹, die literarisch interessiert. »Die Turnstunde« beschreibt zu Beginn, wie Gruber, »sonst der Allerletzte«, mit »ungewöhnlicher Kraft« die Stange erklimmt, aus der Höhe »mit besonderem Vergnügen den erstaunten Ärger« der Vorgesetzten betrachtet: »und als ob er jeden Griff genösse, wie etwas Neues, Angenehmes, zieht er sich höher, als man gewöhnlich zu klettern pflegt.«329 Breiten Raum beansprucht die differenzierte Beschreibung der veränderten Atmosphäre in der Turnhalle während Grubers Ohnmacht, präzise werden subtile Veränderungen in Handlungsfolgen verzeichnet, die turnerischen Bewegungsabläufe der Mitschüler verzerren sich, geraten merkwürdig unangemessen: »Etwas Lähmendes scheint in der Luft zu liegen.« Und nicht die Nachricht vom Todesfall bildet den Schluss, sondern das obskure Verhalten des Schülers Krix: »Und dann kichert er, spitz und kitzlich, kichert und beißt sich in den Ärmel Jeromes hinein.«330 Gruber, der sich ein Herz fasst und die unerwartete sportliche Leistung erbringt, nähert sich im Herztod seiner Umgebung an: herz-los wie sie. Wenn diese Momentaufnahme schulischer Erziehung nicht primär eine biographisch erklärbare Fundamentalkritik des Bildungssystems darstellt, dann wird verständlich, wie Rilke fast zeitgleich die Erstfassung eines so anders ge326 Alle Zitate Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke, hg. v. Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Frankfurt a. M. 1987, Bd. 4, S. 601–609 (Druckfassung von 1902). 327 Vgl. Byong-Ock Kim: Rilkes Militärschulerlebnis und das Problem des Verlorenen Sohnes, Bonn 1973, S. 152ff., der den Text als Darstellung der isolierten »Stellung des Künstlers in der bestehenden, fest statuierten Welt mit ihren Normen« sieht (S. 157). Allgemeiner konstatiert Friedrich Loock eine Verdeutlichung von »sozialpathologischen Verhaltenspotentiale[n]«; Adoleszenzkrise und Identitätsbildung. Zur Krise der Dichtung in Rainer Maria Rilkes Werk, Frankfurt a. M. u. a. 1986, S. 119. 328 Die Erstfassung findet sich in den Sämtlichen Werken Rilkes, Bd. 4, S. 594–601; zu werkgeschichtlichen Kontexten vgl. S. 1018ff. 329 Ebd., S. 602f., das folgende Zitat S. 607. 330 Ebd., S. 609.

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arteten Textes wie »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke« schreiben konnte. Denn auch hier findet sich ein jugendlicher Protagonist, dessen sexuelle und soldatische Schwellenerfahrungen ihn jedoch als Repräsentanten eines riskanten, unbürgerlichen Lebensstils ausweisen. Ihn ereilt schließlich der Schlachtentod, dessen heroische Attribute die Qualifikation des »Cornet« als »Kultbuch« patriotischen Eifers erklären.331 Denn der Text inszeniert diesen Tod des Fahnenträgers nicht als pazifistische Anklage gegen die Sinnlosigkeit des Krieges, der junge Menschen umstandslos opfert, sondern als ästhetisches Ereignis: »Aber, als es jetzt hinter ihm zusammenschlägt, sind es doch wieder Gärten, und die sechzehn runden Säbel, die auf ihn zuspringen, Strahl um Strahl, sind ein Fest. Eine lachende Wasserkunst.«332 Die Initiationserfahrungen des Fähnrichs münden in kein zukünftig konsolidiertes Erwachsensein, die Bilder des Übergangs selbst, zwischen Junge und Mann, unerfahrenem Soldaten und vorbildlichem Krieger, sind Höhepunkt und Abschluss zugleich. Der im »Cornet« demonstrierte soldatische Heroismus der Titelfigur stellt keinen Widerspruch dar zur insinuierten reformpädagogischen Anklage der »Turnstunde«. Beide Texte verwenden, eben als »literarische Absicht« des Berufsschriftstellers Rilke, Realitätskonstruktionen aus der Umwelt des Literatursystems.333 Die »Schulgeschichte« eine pädagogische, der »Cornet« eine militärische, die um 1900 allemal auf Interesse rechnen konnte. Das Thema Jugend, in denkbar differierenden Weisen aufgegriffen, bietet ein Reservoir von Elementen, das Auswahl erfordert. Die variable und überraschende Relationierung von Sexualität, Heroismus, Leistungsbereitschaft, Emotionalität, Disziplinierung, Lebenssteigerung und Tod verspricht literarisch interessante Ergebnisse: für entsprechend sensibilisierte Rezipienten.334 331 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Kultbuch und Buchkult. Die Ästhetik des Ichs in Rilkes »Cornet«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 1988, Nr. 107, S. 541–556; vgl. grundsätzlich zu dieser Klassifizierung Christian Klein: Kultbücher. Theoretische Zugänge und exemplarische Analysen, Göttingen 2014. 332 Rilke: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 248. Auf Rilkes Entwurf vom »›eigenen Tod‹ als innere Konsequenz eines individuellen Lebenslaufes« macht Peter Walther aufmerksam; »Wie ein Fähnrich zum Feldwebel wird«. Grenzen der Offenheit in Rilkes »Cornet«, in: Weimarer Beiträge, 1991, Nr. 37, S. 130–136, hier S. 134. 333 Vgl. zu literaturtheoretischen Vorgaben Gerhard Plumpe: Epochen der modernen Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen 1995. Das schließt biographische Konstellationen für literarische Produktion selbstverständlich nicht aus; vgl. Stefan Schank: Rilkes Vater und Rilkes Vaterbild, in: Rilke heute. Der Ort des Dichters in der Moderne, Frankfurt a. M. 1997, S. 81–111. Wolfgang Braungart macht differenziert auf Aspekte religiösen Schreibens bei Rilke aufmerksam: Literatur und Religion in der Moderne. Studien, München 2016, S. 263ff. 334 Entsprechend warnt Detlev K. Müller davor, Texte wie Hesses »Unterm Rad« oder Rilkes »Turnstunde« als präzise Abbildungen von Schulrealität zu lesen, ohne ihre »spezifische[n] Zeitwahrnehmungen und Interpretationen« zu berücksichtigen; Schulkritik und Jugend-

Erziehung – welche? George und Rilke

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Die Brisanz der Thematisierung von Jugend um 1900 macht sie in vielfältiger Form attraktiv: als Gegenstand literarischer Texte ebenso wie als Organon einer generellen Kulturkritik, die sich als Aufklärung über die Kosten der Moderne versteht.335 Zumal für Autoren wie George und Rilke, aber beispielsweise auch die genannten Hesse, Thomas Mann und Strauß, bietet dieser Rekurs die doppelte Option des künstlerisch wie kulturkritisch relevanten Textes, der eine Etablierung des professionellen Autors im literarischen Feld zu befördern geeignet ist; dass solche Schreibstrategien nur jeweils begrenzte Publikumsgruppen ansprechen, zeigen die kontroversen Reaktionen.336 Die Möglichkeit, ästhetisch qualifizierte Texte als Beiträge zu allgemein interessierenden Debatten über Bildungsreformen und das kulturelle Niveau der Monarchien in Österreich und Deutschland zu werten, negiert nicht künstlerische Qualitäten, sondern verweist auf die Polykontexturalität von Literatur, die eben auch politische, psychologische, pädagogische, moralische Lektüren zulässt. Die Bandbreite der zeitgenössischen Stellungnahmen zur Situation der Jugendlichen, zu ihren Lebensbedingungen und Entwicklungspotentialen, verdeutlichen exemplarisch Georges und Rilkes Texte. Der Hoffnung auf Erlösung durch eine Jugend, die sich des dekadenten 19. Jahrhunderts entledigen wird, um eine neue, einem antikisierten Totalitätsideal verpflichtete Kultur allererst zu stiften, steht die Beschreibung des unerwarteten, eruptiven Ausbruchs in einer anscheinend normalen, kontrollierten Situation gegenüber; individuelles Scheitern erscheint ambivalent, physische Höchstleistung und physisches Versagen folgen aufeinander. Die Entwicklungsphase vor dem Erwachsensein, die in ihren spezifischen Merkmalen auch Gegenstand der Sozialwissenschaften, der Pädagogik, der Lebensreformkonzepte wird, erweist sich als vielfältig nutzbares Medium für die Darstellung kulturreformerischer Visionen, mit denen sich zugleich künstlerisch interessante Formen realisieren lassen.

bewegung im Kaiserreich (eine Fallstudie), in: Detlev K. Müller (Hg.): Pädagogik, Erziehungswissenschaft, Bildung. Eine Einführung in das Studium, Köln u. a. 1994, S. 191–222, hier S. 199. 335 Resümierend hierzu: Silvio Vietta, Dirk Kemper (Hg.): Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, München 1998. 336 Vgl. scharf ablehnend zur ›modischen‹ Literatur über Jugend die Einlassungen des renommiertesten Bildungshistorikers der Zeit, Friedrich Paulsen; Abhandlungen, etwa S. 470ff., S. 497ff., S. 593ff. Einen exemplarischen Fall für öffentlich ausgetragene Grundsatzdebatten zeichnet Klaus Laermann nach; Der Skandal um den Anfang. Ein Versuch jugendlicher Gegenöffentlichkeit im Kaiserreich, in: Koebner u. a. (Hg.): Zeit, S. 360–381.

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5.3

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»Gewaltig hockt er auf dem Tisch und spricht Von Theben und Athen, heut nachmittag. Ein grauer Schnurrbart starrt durch sein Gesicht Er riecht nach saurem Brot und nach Tobak. Sein kahles Haupt umwettert der Gedanke Von Thebens heiliger Schar, von Pindar spricht er. Der Primus reibt sich an der alten Banke. Die meisten machen willige Gesichter. Er spricht von Theben heute nachmittag. Einige heben ihre kleinen Hände, Einige kitzeln leise sich am Sack Und gucken schläfrig auf die leeren Wände. ›Wer hat soeben auf den Tisch gehauen?‹ Durch die betrübten Fenster schimmern Wolken. Die Jungen sitzen staunend und verdauen. – Der Lehrer wird jetzt in der Nase polken.«337

Jakob van Hoddis’ Gedicht »Der Oberlehrer« wirft 1908 ein Schlaglicht auf eine bis heute geläufige Ansicht institutioneller Bildung: wissenschaftlich, aber nicht pädagogisch qualifizierte Lehrer dozieren mechanisch über die Köpfe und Interessen der ihnen ausgelieferten jugendlichen Zuhörer hinweg. Geisteswissenschaftler, Philologen zumal, können keinen relevanten Beitrag zur kulturellen Selbstreflexion mehr leisten, taugen allenfalls zum Objekt literarischen Spotts. Manche Zeitgenossen begegnen solchem Missstand übrigens mit durchaus unkonventionellen Vorschlägen, etwa dem in einer Zeitschrift der Jugendbewegung, »alle deutschen Oberlehrer im Teutoburger Wald zusammenzuführen und dort den Göttern zu schlachten«.338 Die »Schulgeschichte«, so war bereits zu sehen, konstituiert sich um 1900 über diese Konstellation der Unterdrückung jugendlicher Potenziale in der wilhelminischen Untertanenschule. Erziehung wird in der Mehrzahl dieser Texte als Gewöhnung an Gehorsam und Selbstdisziplin gezeigt, nicht um Individualität, um Begabungen und Neigungen gehe es, sondern um ihre Nivellierung bis hin zum Suizid der Heranwachsenden. Diese literarischen Texte benutzen die reformpädagogische Realitätskonstruktion des ›leidenden Schülers‹ als Medium, 337 Jakob van Hoddis: Der Oberlehrer, in: Jakob van Hoddis: Dichtungen und Briefe, hg. v. Regina Nörtemann, Zürich 1987, S. 32; zur Datierung vgl. S. 488. 338 Zitiert nach: Klaus Laermann: Der Skandal um den Anfang. Ein Versuch jugendlicher Gegenöffentlichkeit im Kaiserreich, in: Koebner u. a. (Hg.): Zeit, S. 360–381, hier S. 368f.

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um künstlerisch interessante Formen zu generieren.339 Nicht »vom Kinde aus«, wie Ellen Keys berühmte Forderung lautet, werde erzogen, sondern »Seelenmorde«, so eine ihrer Kapitelüberschriften, seien die Realität der modernen Schule.340 Die futurisierte Jugend-Konzeption dieser Literatur ermöglicht zugleich Visionen kultureller Erneuerung aus dem Geiste adoleszenten Enthusiasmus’. Geradezu exemplarisch versammelt Joseph Roths kurze Erzählung »Der Vorzugsschüler« 1916, am Ende der Konjunktur des Genres, die Elemente solcher Narrativierung reformpädagogischer Diagnosen, allerdings in satirischer Forcierung: Anton Wanzl verkörpert den sozialen Aufstiegswillen buchstäblich, er »lernte nur« und »war der ruhigste Junge im ganzen Ort«.341 Kein jugendliches Aufbegehren gegen Autoritäten, keine frechen Streiche, keine abweichenden Interessen, keine Kontroversen mit Erziehungsberechtigten: vielmehr gehorsam gegen Eltern und Lehrer, distanziert gegen lärmende Mitschüler und als ihr Aufseher bestens geeignet, strebsam im Studium, gewitzt bei der Auswahl der guten Partie, denn ein »brennender Ehrgeiz verzehrte ihn«.342 Als habitualisierte Erwartungserwartung geht Anton durch die Welt, gleichgültig gegen Lebensphasen und ihre Zäsuren: »So wurde Anton Wanzl älter. Oder besser: er wuchs heran. Denn jung war Anton nie gewesen.«343 Eine »wahrhaft köstliche Naturgabe«, er »konnte nämlich stundenlang mit dem Kopf nicken, ohne zu ermüden«,344 verschafft ihm das angestrebte philologische Lehr-»Amt«, doch schließlich beendet die somatische Reaktion die hoffnungsvolle Laufbahn: »Aber seine stark überspannten Kräfte ließen mählich nach. Der überangestrengte Organismus rächte sich. Die lange durch die Macht des straffen Willens zurückgehaltene Schwäche brach auf einmal durch.[…] Nach einigen Wochen schweren Leidens starb Anton Wanzl.«345

Der Körper, so demonstriert dieser Text, kann als Speicher sozialer Erfahrung346 verstanden werden: ein zentrales Element der öffentlich vielfach erregt diskutierten schulkritischen Prosa. Hesses Protagonist Hans Giebenrath, Strauß’ Heiner Notwang oder Wedekinds Moritz Stiefel in »Frühlings Erwachen« beenden ihr Leben, weil sie dem Erfolgsdruck in Schule und Elternhaus nicht gewachsen sind. ›Haltungen‹ sind psychische und physische zugleich, die auf so339 Terminologie nach Plumpe: Epochen. 340 Vgl. Key: Jahrhundert, S. 143. 341 Joseph Roth: Der Vorzugsschüler, in: Joseph Roth: Der Leviathan. Erzählungen. Mit einem Nachwort von Hermann Kesten, 3. Aufl. München 1978, S. 7–19, S. 7. 342 Ebd., S. 8. 343 Ebd., S. 10. 344 Ebd., S. 11. 345 Ebd., S. 18. 346 Vgl. Bourdieu: Sinn, S. 101ff.

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zialen Status verweisen. Das emphatische Jugend-Konzept dieser Texte dramatisiert die Konsequenzen institutionalisierter Erziehung, die Lebensläufe nicht fördert, sondern zerstört, ihre Normalisierung rigide durchsetzt. Eine Bildungskritik im Übrigen, die durch autobiographische Aussagen der Autoren an Plausibilität zu gewinnen scheint: von den hasserfüllten Abrechnungen Hesses und Rilkes bis hin zu den ironischen Ausfällen der Brüder Mann. Ein Freund Roths hat das Vorbild dieses literarischen Helden Anton Wanzl in Heinz Kindermann ausgemacht, einem Studienkollegen Roths und nachmaligen Protagonisten völkischer Literaturbetrachtung.347 Nicht zufällig kommt hier die Philologie ins Spiel. Jenseits der biographisch motivierten Habitusparodie führt Roths Text konzentriert die Debatten über Bildung und Ausbildung seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts fort. In ihnen zeichnet sich eine Relativierung der neuhumanistischen Postulate vom Beginn des 19. Jahrhunderts ab. Nietzsches Kritik einer verselbständigten und damit lebensfernen Wissenschaft und ihrer notwendig relativistischen Implikationen liefert für die ausgedehnten Kontroversen um 1900 die Stichworte. Mit gleicher Stoßrichtung, allerdings entgegengesetzten politischen Intentionen, inauguriert die »Deutsche Bildung« die Abwendung von kosmopolitischem Humanismus und setzt auf patriotische Ertüchtigung: im Deutschunterricht, in dem die Gesinnungsprobe im Aufsatz verankert, in der Deutschen Philologie, die auf völkische Kategorien in der Literaturgeschichtsschreibung verpflichtet wird. Roths Text, in der Anlage eine exemplarische Biographie im Zeichen von Bildung, in der Durchführung ihr konsequentes Dementi, zeigt den philologischen Habitus des 19. Jahrhunderts als reine gesellschaftliche Funktionalität: Bildung ist hier die einer Karriere, die ins Gegenteil von Individualität führt; Jakob von Gunten verfolgt ähnliche Ziele. Zum Meister der Anpassung gedenkt sich Anton, ganz wie er da ist, auszubilden. Nur hat sich der in Bildungskonzepten grundsätzlich insinuierte bildbare Kern der Persönlichkeit verflüchtigt. Sensibilität meint hier nicht die der ästhetischen Erziehung, sondern die der auf soziale Resonanz eingerichteten Antenne: das Gegenteil der reformpädagogisch erstrebten Formung des »Neuen Menschen«.348 »Das alles ist das amüsanteste und leichtfertigste Zeug, das seit Langem in Deutschland geschrieben wurde. […] Das Buch scheint nicht auf Dauer berechnet«, notiert sich Thomas Mann 1905 in sein Tagebuch.349 Die Abneigung gilt dem neu erschienenen Buch des Bruders Heinrich, das auch in der zeitgenössi347 Vgl. im Nachwort von Hermann Kesten, in: Roth: Leviathan, S. 201. 348 Vgl. Gottfried Küenzlen: Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, Frankfurt a. M. 1997, bes. S. 153ff.; Oelkers: Reformpädagogik, S. 118, S. 231. 349 Zitiert wird nach: Heinrich Mann: Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. Studienausgabe in Einzelbänden, Frankfurt a. M. 1997 (im Folgenden beziehen sich Seitenangaben im Text auf diese Edition). Das Zitat des Bruders ist mitgeteilt im Anhang (S. 269).

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schen Literaturkritik und im Publikum kaum Resonanz findet, sieht man von empörten Reaktionen Lübecker Bürger ab. Dass Professor Raat später dennoch der bekannteste Philologe der Welt wurde, dürfte denn auch weniger seinem Fachgebiet als vielmehr Marlene Dietrichs Beinen zu verdanken sein. »Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen« galt allenfalls als gelungene Satire auf den Typus des bornierten wilhelminischen Unterrichtsbeamten, als Abrechnung mit jener Bürgerlichkeit,350 unter deren honoriger Oberfläche bedenkliche Begehrlichkeiten aller Art lauerten. Nicht der zeitgemäßen Überprüfung patriotischer Gesinnung dient der Deutschaufsatz über Ungesagtes aus Schillers »Jungfrau von Orleans« in »Professor Unrat«, sondern der schulischen und damit sozialen Demontage unbotmäßiger Schüler. Die im Untertitel des Textes betonte ›Tyrannei‹ findet in Unrats Disziplinarmethodik ihre institutionelle Praxis, Klassik dient der Kontrolle; das vielbemühte Kabuff, die von Unrat als Karzer missbrauchte Garderobe, markiert den Gegenpol empathischer Pädagogik. Die geläufige Klassifizierung des »Unrat« als einer Demontage obrigkeitsstaatlicher Erziehung verdeckt allerdings leicht den Blick auf die präzisen bildungsgeschichtlichen Implikationen des Romans. So ist es durchaus kein Zufall, dass der von Emil Jannings nachmals populär in Szene gesetzte Lehrer als Philologe sein Selbstbewusstsein nicht zuletzt aus wissenschaftlichen Ambitionen speist: »Da war ja sein wichtiges Werk, wovon die Menschen nichts wussten, das hier in der Stille seit langer Zeit gedieh und das vielleicht einmal, Staunen erregend, aus Unrats Gruft hervorblühen sollte«, erfährt der Leser: »Es handelte von den Partikeln bei Homer!« (46) Schulund Hochschullaufbahn, dies verzeichnet der Text mit dem Hinweis auf die Forschungsambition des Gymnasialprofessors, haben sich noch nicht vollständig gegeneinander differenziert.351 Sieht es bei Unrat »zu Hause […] eher dürftig aus«, so wird solcher Verzicht auf komfortable Haushaltsführung kompensiert durch »die Möglichkeit, sich mit mehreren alten Geistesfürsten, wenn sie zurückgekehrt wären, in ihrer Sprache über die Grammatik in ihren Werken zu unterhalten.« (44) Noch in der satirischen Zuspitzung verzeichnet der Roman exakt jene Attribute des Philologen, die ihm seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts einen insgesamt hohen Sozialstatus und eine führende Position in der Hierarchie 350 Vgl. biographische Aspekte bei Peter-Paul Schneider: »Millionengestank«. Die Auseinandersetzung des jungen Heinrich Mann mit Lübeck als Lebensform, in: Heinrich MannJahrbuch, 1991, Nr. 9, S. 159–182. Die satirische Darstellung von Bildung und Bildungsanstalten als literarische Distinktionsstrategie des Autors Heinrich Mann diskutiert Marquardt: Logik, S. 240–278. 351 Vgl. Edwin Keiner, Heinz-Elmar Tenorth: Schulmänner – Volkslehrer – Unterrichtsbeamte. Ergebnisse und Probleme neuerer Studien zur Sozialgeschichte des Lehrers in Deutschland, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 1981, Nr. 6, S. 198– 222.

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schulischer und akademischer Lehrkräfte sichern: einen dezidiert frugalen Lebensstil und entsagungsvolle Konzentration auf wissenschaftliche Detailprobleme, die schon Nietzsches Polemik provozierten.352 Seine spöttischen Invektiven gegen die Lebensfremdheit mikrologischer Forschung in den Altertumswissenschaften bedienen sich des auch auf Unrat zutreffenden Beispiels der Partikellehre. Nur ist dieses sprachgeschichtliche Forschungsfeld nicht befremdlich abseitig, sondern denkbar zentral. Grundsätzlich kann die Homerphilologie als Kernbereich der Klassischen Philologie im 19. und frühen 20. Jahrhundert gelten; auch die Homer-Rezeption von Nichtphilologen weist seit Winckelmann und Goethe ungezählte Dokumente enthusiastischer Verehrung und nahezu sakraler Wirkung auf.353 In den gräzistischen Forschungsberichten der Jahrhundertwende findet die »Massenhaftigkeit« der Publikationen zu diesem Autor Beachtung;354 noch 1913 hält der umfangreiche Artikel zu Homer in der »Real-Encyclopädie« fest, dass auch die zukünftigen Analysen der Homerischen Epen im Kontext einer Sprachgeschichte des griechischen Epos stehen werden.355 Unrat arbeitet im Zentrum der Bildungswissenschaft schlechthin. Nur ist dieses Interesse keines, das den Geist der Antike mit der Seele zu suchen unternimmt. Die zeitgenössische Kritik an der Distanz zum ›Leben‹ jener Disziplinen, die doch zu seiner Steigerung berufen sein sollten, fixiert zumal die innerwissenschaftlich interessierte Spezialisierung und methodologische Akribie der professionalisierten Wissenschaftler.356 Nicht der Bildung ihrer Persönlichkeit sei ihre wissenschaftliche Tätigkeit mehr verpflichtet, sondern diszipli352 Vgl. Elke Emrich: Macht und Geist im Werk Heinrich Manns. Eine Überwindung Nietzsches aus dem Geist Voltaires, Berlin u. a. 1981, S. 194; die Monographie will Manns Roman als Satire auf Nietzsche wie auf die ihn trivialisierende Rezeption der Jahrhundertwende erweisen (S. 199). »Man sehe nur«, so Nietzsches Polemik, »womit ein wissenschaftlicher Mensch sein Leben totschlägt: was hat die griechische Partikellehre mit dem Sinn des Lebens zu tun?«; Wir Philologen, in: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. 3, München 91982, S. 323–332, hier S. 326; vgl. dazu auch unten im Abschnitt über Anderschs »Vater eines Mörders«. Zu fachgeschichtlichen Aspekten in den Philologien vgl. Rainer Kolk: Wahrheit – Methode – Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14.1 (1989), S. 50–73. 353 Vgl. Joachim Wohlleben: Die Sonne Homers. Zehn Kapitel deutscher Homerbegeisterung. Von Winckelmann bis Schliemann, Göttingen 1990. 354 Paul Cauer: Bericht über die Litteratur zu Homer (höhere Kritik) 1888–1901, in: Jahresbericht über die Fortschritte der classischen Altertumswissenschaft 30 (1902), 112.Bd./1.Abt., S. 1–131, S. 1. Zu sprachlichen und metrischen Analysen vgl. S. 63–73. Bereits ein Jahr später folgt A. Gemoll: Bericht über die homerischen Realien 1896–1902, ebd. 31 (1904), 117. Bd./ 2.Abt., S. 1–46. 355 Vgl. Art. Homeros, in: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung, Wilhelm Kroll (Hg.): Achter Bd. Helikon – Hyagnis, Stuttgart 1913, Sp. 2188–2248, hier Sp. 2239; zu Partikeln vgl. beispielsweise Sp. 2245. 356 Vgl. Hellmut Flashar (Hg.): Altertumswissenschaft in den 20er Jahren: neue Fragen und Impulse, Stuttgart 1995.

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närer Dienstleistung, folgenlos für kulturell relevante Werte, Normen und Handlungsorientierungen.357 Es greift in dieser Perspektive zu kurz, Professor Unrat nur als Demontage des autoritär-sadistischen Lehrers abzutun, der, ohne selbst über Persönlichkeit im emphatischen Sinn zu verfügen, die Imperative wilhelminischer Untertanenmentalität exekutiert. Bildung im idealistischen Verständnis einer Durchdringung von Praxis und Charakter beweist Unrat durchaus: »Denn nur die Wissenschaft, die aus dem Innern stammt und in’s Innere gepflanzt werden kann, bildet auch den Charakter um, und dem Staat ist es ebenso wenig als der Menschheit um Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln zu thun.«358

Nicht mit der routinierten Erfüllung seiner schulischen Dienstobliegenheiten begnügt sich der Protagonist des Romans, sein die Geschehnisse vorantreibender Elan verdankt sich sozialer Distinktion durch klassische Bildung: »Er war arm, unerkannt; man wußte nicht, welch wichtige Arbeit er seit zwanzig Jahren förderte. Er ging unansehnlich, sogar verlacht unter diesem Volk umher – aber er gehörte, seinem Bewußtsein nach, zu den Herrschenden.« (44f.) Und diese eben nicht nur äußerliche, nicht nur strategische Disposition zeigt sich im partikelreichen »latinisierenden« (16) Rededuktus ebenso wie in der unnachsichtigen Verfolgung missliebiger Schüler und der Kontrolle ihres Lebenswandels auch außerhalb der Schule.359 Der Roman etikettiert diesen Habitus als den des »Tyrannen«360 und verweist durch dieses den Text durchziehende, geradezu leitmotivisch verwendete Vokabular auf die zeitgenössische Schuldiskussion, die sich kulturkritisch ausweitet: »Es wimmelt in Deutschland von Tyrannen«, so der Bildungsreformer Ludwig Gurlitt 1905, Beispiele ließen sich in allen gesellschaftlichen Sektoren finden, in der Kirche, im Militär, in der Schule und der Familie, der staatlichen

357 Vgl. exemplarisch Friedrich von der Leyen: Deutsche Universität und deutsche Zukunft, Jena 1906. 358 Wilhelm von Humboldt: Ueber die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner, Klaus Giel, Bd. V: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, Darmstadt 3 1982, S. 255–266, hier S. 258. 359 Was nicht als individueller Defekt abzutun ist. Tatsächlich standen Disziplinierung und Kontrolle auch des außerschulischen Betragens explizit im Zentrum schulischer Lehrpläne; vgl. Hellmut Becker, Gerhard Kluchert: Die Bildung der Nation. Schule, Gesellschaft und Politik vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, Stuttgart 1993, S. 38f. Bildungsgeschichtlichen Implikationen im Blick auf die wilhelminische Obrigkeitsschule geht auch Peter Hasubek nach: Der »Indianer auf dem Kriegspfad«. Studien zum Werk Heinrich Manns 1888–1918, Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 93–120. 360 Vgl. schon den Untertitel und im Text S. 9, 26, 57, 100, 211, 228.

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Zensur und der Mentalität des Spießbürgers.361 Im breiten Spektrum der reformpädagogischen und lebensreformerischen Bewegungen seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts gehört Gurlitt zu den bekanntesten Autoren, meldet sich mit scharfer Kritik an orthodoxen Bildungskonzeptionen zu Wort und engagiert sich als Gymnasiallehrer im neuformierten »Wandervogel«.362 Sein Plädoyer für ein natürliches und sozial reflektiertes Lernklima antwortet auf die Diagnose vom allgemeinen kulturellen Niedergang, dem durch reformierte Erziehungsarbeit gesteuert werden soll.363 Gurlitt nähert sich dem sprichwörtlichen Jugendkult der Jahrhundertwende: Der Hochschätzung der Jugend als Potential zukünftiger kultureller Erneuerung entspricht die Abrechnung mit den pädagogischen Realitäten zumal im Kernbereich des humanistischen Gymnasiums, dem altsprachlichen Unterricht. Für den Austausch zwischen praktisch-pädagogischer Diskussion, erziehungswissenschaftlicher Reflexion, öffentlich geführter Bildungsdebatte und Literatursystem ist kennzeichnend, dass Gurlitt Autobiographisches mit Schulerfahrungen und Lektüreeindrücken seiner Zeit koppelt, etwa Emil Strauß’ »Freund Hein« als authentische Beschreibung des wilhelminischen Schulalltags wertet.364 Das symbolische Kapital des ›Dichterischen‹ legitimiert hier die kritische Bestandsaufnahme, platziert sie in einem umfassenden kulturellen Rahmen. Das Reformprojekt ist nur vordergründig auf Oberschulen bezogen, die Interferenz mit der ›dichterischen‹ Aussage erlaubt die gesamtkulturelle Perspektive. Wenn »sprachliche Quisquilien« über das »Seelenheil« der Schüler entscheiden, Verstöße gegen Genusregeln »wie Incest« angesehen und mit »Arrest und Straflernen« geahndet werden,365 so zielt solche Benennung zunächst auf eine Revision schlechter institutioneller Zustände. Wenn dann »Büchergelehrsamkeit« ohne »einen Hauch künstlerischen Empfindens« attestiert und von wahrer Bildung abgehoben wird,366 zeigt sich bereits die fundamentale Ebene, wie sie reformpädagogische Ambitionen generell auszeichnet: Gurlitt (wie Hermann Lietz oder Ellen Key mit anderem Akzent) fokussiert eine Bildung als, im Sinne neuhumanistischer Postulate, Formung 361 Vgl. Gurlitt: Der Deutsche, S. IXf. Vgl. auch S. 18, 23, 44, 48, 140, 148, 162, 218, 220, 232ff. Ich ziehe dieses mehrfach aufgelegte Buch und seinen Verfasser exemplarisch für Argumente der Reformpädagogik nach 1900 heran; vgl. schon Gurlitt: Der Deutsche und sein Vaterland und oben im Abschnitt zu Hesses »Unterm Rad«. Publikumswirksam hatte bereits Julius Langbehn in seinem 1890 erschienenen Bestseller »Rembrandt als Erzieher« dieses Vokabular der Tyrannei verwendet, vgl. im Abschnitt über »Modernes Schulmeistertum« die Ausfälle gegen die »Bildungstyrannen« und »wissenschaftlichen Vivisektoren«; Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, 50.–55. Aufl. Leipzig 1922, S. 272. Gurlitt war sein Schwager. 362 Vgl. Oelkers: Reformpädagogik, S. 85f. 363 Vgl. von Bühler: Konstruktion, S. 137ff. 364 Vgl. Gurlitt: Der Deutsche, S. 7ff. und passim. 365 Vgl. ebd., S. 5 und 7. 366 Ebd., S. 35.

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mentaler Strukturen jenseits materialer Kenntnisse. Deshalb die heute zunächst widersinnig erscheinende Forderung Gurlitts nach selbständiger wissenschaftlicher Arbeit auch der Gymnasiallehrer, die eben nicht bloße Handwerker des Unterrichts sein sollen. Die forschende Partizipation an disziplinärer Problembearbeitung sichert Bildung: Spezialisierung, und sei es auf den Partikelgebrauch Homers, wird durch das spezifische Weltverhältnis der Wissenschaft(en) mit Universalität kompatibel. »Nicht der Umfang der Kenntnisse, sondern der Geist des Umgangs mit ihnen sichert dem Individuum ein Verhältnis zur Welt.«367 Konsequent wendet sich der Reformpädagoge nicht pauschal gegen die wissenschaftliche Philologie und den altsprachlichen Unterricht, wie dies manche Protagonisten der kurrenten Überbürdungsdiskussion der Jahrhundertwende in polemischer Absicht tun, sondern gedenkt »meines unvergeßlichen Lehrers Hermann Sauppe«, des prominenten Göttinger Altphilologen. Durch »hohen sittlichen Ernst und die unbestechliche wissenschaftliche Treue und Wahrheitsliebe« habe Sauppe als Forscher wie als Lehrer erzieherisch Einfluss genommen. »Der Philologie trete ich nie zu nahe«, so schließt Gurlitt sein Porträt, ihr »diene ich bis auf den heutigen Tag«.368 »Sittlicher Ernst«, »wissenschaftliche Treue und Wahrheitsliebe«, ›Dienst‹: ein kompletter Tugendkatalog des Philologen im 19. Jahrhundert, der zumal im Kontext eines Reformmanifests darauf verweist, dass Philologie als Leitdisziplin und schulische Reformintention keineswegs natürliche Feinde sind, sondern in ihrem erzieherischen Impuls einer ganzheitlichen Bildung koinzidieren.369 Gurlitt bekennt sich entsprechend zum »Segen echter, freier Arbeit«, die durch übermäßige Didaktisierung des Schulunterrichts behindert werde.370 Explizit richtet Unrat sein Schiller-Thema im Aufsatz gegen »gedruckte Leitfäden« und ihre »Eselsbrücken« (14). Manns Roman demonstriert, dass sein Held, anders als die leicht irritierbaren Mitbürger, die von ihnen als individuelle Devianz denunzierten Eigenschaften in einen Charakter integriert, als Lebensstil entwickelt. Konsequent klagt Unrat deshalb gegenüber seinem Direktor ein, was den Philologen grundsätzlich ausmacht: Philologie ist eine Lebensform. Die Bekanntschaft mit der Tänzerin Rosa

367 Rudolf Stichweh: Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt a. M. 1994, S. 221 im Rekurs auf Wilhelm von Humboldt, der die Gefahr individueller ›Zerstreuung‹ der Person durch die Vielzahl der Gegenstände sieht, mit der sie sich befasst (»Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen«, 1792). 368 Gurlitt: Der Deutsche, S. 24ff. 369 Zumal mit nationalem Zuschnitt; vgl. Gurlitt: Der Deutsche, S. 27. Zur Philologie als Lebensform vgl. auch Ludwig Gurlitt: Erinnerungen an Ernst Curtius, in: Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde, 1901, Nr. 24, S. 113–144. Curtius war einer renommiertesten Archäologen des 19. Jahrhunderts. 370 Gurlitt: Der Deutsche und sein Vaterland, S. 66; eine in der zeitgenössischen Deutschen Philologie geläufige Ansicht.

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Fröhlich371 indiziert daher nicht »sittliche Auflösung« (152), wie der »Pfahlbürger« (207) meint,372 so Unrat, sondern wahre Treue zur gewählten Existenz: »›Ich würde mein Leben – immer mal wieder – für nichts erachten, wenn ich den Schülern die klassischen Ideale nur vorerzählte wie müßige Märchen‹«, so Unrats Erläuterung des von ihm beigebrachten Exempels von Perikles und seiner der Kuppelei bezichtigten Geliebten Aspasia: »›Der humanistisch Gebildete darf des sittlichen Aberglaubens der niederen Stände billig entraten.‹« (152f.) Nichts anderes als die schon von Nietzsche eingeklagte ›Lebensnähe‹ der klassischen Studien wird hier von Unrat beschworen, während sein Vorgesetzter Bildung und Leben zu trennen kategorisch verlangt. Entsprechend fordert die fundamentale Modifikation der Lebensführung ihren Tribut.373 Mit der Statusumkehr in der Beziehung zu Rosa fehlen Unrat Teile seines Homer-Konvoluts, die als Briefpapier für Nachrichten an sie hatten dienen müssen: »Er sah auf einmal seine Arbeitskraft ganz ihr untergeordnet, seinen Willen schon längst nur noch auf sie gerichtet, und alle Lebensziele zusammenfallen in ihr.« (165f.) Liebe und Sexualität sind konstitutiv für diesen Prozess der Neupersonalisation, die begehrte Frau wird zum »Äquivalent von Welt«374 – dies um den Preis einer Zielverschiebung gegenüber der ersten Begegnung. Professor Raat hat im buchstäblichen Sinne das Bildungsgut Kunst sich anverwandelt, die »hehre Künstlerin Fräulein Rosa Fröhlich« (24) bestimmt sein Leben, das auf verstaubte Notizen nicht länger angewiesen ist. »Was in der Schule vorging, hatte für Unrat Ernst und Wirklichkeit des Lebens.« (16) Was die späteren Interpreten des Romans nur für satirische Spitzen des Autors halten, ist der Schulreformdebatte seiner Zeit Axiom, denn »es gilt den Willen und die Kraft zu stählen gegen alle Hemmnisse und Widerwärtig371 Selbstverständlich sollen hier nicht alle Aspekte der Satire erfasst werden; vgl. etwa zu der Darstellung von Frauen und Erotik Ariane Martin: Erotische Politik. Heinrich Manns erzählerisches Frühwerk, Würzburg 1993. Den Schreibanlass, die Zeitungsmeldung über einen kompromittierten Hochschullehrer, erläutert Albert Klein: Heinrich Mann: Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen, 2. Aufl. Paderborn u. a. 1993, S. 19ff.; es handelte sich allerdings nicht um einen Philologen, sondern um einen Professor der Volkswirtschaft an der TH Charlottenburg. Hinweise zur Kritik an Klassikerkult und Aufsatzunterricht bei Mix: Schulen, S. 196ff. 372 Der Kampf gegen den »Philister« (vgl. S. 122, S. 177f., S. 207) rückt im Verlauf der Satire ins Zentrum; auch Hans Giebenraths Vater wird vom Erzähler in Hesses »Unterm Rad« mit dieser Bezeichnung belegt. 373 Emrich (Macht) identifiziert beide Lebensformen, weil sie in ihnen nur »zwei Seiten ein und derselben Persönlichkeitsstruktur« sieht, »Ausdrucksformen eines vom Willen zur Macht getriebenen Untertanen« (S. 170). 374 Auch hier eine Übereinstimmung mit literarischen Darstellungen jugendlicher Protagonisten; vgl. grundsätzlich Michael Titzmann: Die »Bildungs-«/Initiationsgeschichte der Goethe-Zeit und das System der Altersklassen im anthropologischen Diskurs der Epoche, in: Lutz Danneberg, Friedrich Vollhardt (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 7–64, hier S. 17.

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keiten des Lebens.«375 Nicht um organisatorische Details geht es letztlich, sondern um den angemessenen pädagogischen Umgang mit der sensiblen, verletzlichen Psyche des Schülers, dessen Entwicklungspotentiale als Keimzellen einer geistigen Erneuerung des deutschen Volkes angesehen werden. Schule ist deshalb in mancher Hinsicht Kondensat des ›Lebens‹, gilt als die Institution, in der eine noch nicht gesellschaftlich formierte Individualität ihr Eigenrecht gegen organisatorische Normierung und ihre Vertreter geltend machen muss. Heinrich Manns Roman bietet die Inversion der den Reformdiskussionen zugrundeliegenden Konstellation: Unrat ist derjenige, dessen kulturell legitimierte Lebensform von begriffsstutzigen (Ertzum), dreisten (Kieselack) und dandyhaft-arroganten (Lohmann) Schülern bezweifelt und sabotiert wird. Lohmann kann als Exponent der zeitgenössischen Forderung nach Verschmelzung von Kunst und Leben gelten, wenn er seine Lyrik mit dem Hinweis auf ästhetizistische Optionen gegen Unrat verteidigt, der »eifrigeres Studium des Homer« anmahnt (115). Analog zur Philologie als Lebensform versteht Lohmann Kunst als Lebensform und sieht, hierin der Polemik gegen die künstlerische Indifferenz mikrologischer Philologie ähnlich, diese durch Analyse gefährdet, reagiert »erschreckt und verbittert, weil Unrat ein Stück von seiner Seele zwischen seinen dürren Fingern umwendete« (115). Die ostentative Indifferenz ist inszeniert, tatsächlich ist Lohmanns Verhältnis zur Kunst dem Unrats zur Wissenschaft strukturell verwandt, ist Element von Lebensform, nicht bloße Liebhaberei. Als Schüler den aufsatzdidaktischen Fallstricken Unrats gewachsen, kultiviert Lohmann die Attitüde des dem spießbürgerlichen Alltag Überlegenen im Kokettieren mit der Gemengelage aus künstlerischer Ambition, schmachtender Liebe zur verheirateten Frau und Suizidplanung. Tatsächlich erweist sich seine ›dilettantische‹ Disposition auch nach der Rückkehr als unverändert: »Er empfand noch heute melancholischen Stolz auf die Knabenleidenschaft, die bis an die Schwelle seiner erwachsenen Jahre gedauert hatte […]. Er erkannte, daß er damals so viel besser gewesen war, so viel reicher. (Wie hatte er sich damals müde vorkommen können. Jetzt war er’s.).« (225)376

375 Gurlitt: Der Deutsche, S. 169. 376 Zur Dilettantismus-Problematik vgl. Martin: Politik, S. 86ff.; Renate Werner: Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus. Der frühe Heinrich Mann, Düsseldorf 1972, S. 28ff.; Michael Wieler: Dilettantismus: Wesen und Geschichte. Am Beispiel von Heinrich und Thomas Mann, Würzburg 1996, bes. S. 238ff.: Lohmann kann zwar als geistreicher Intellektueller gesehen werden, der dem ›Tyrannen‹ überlegen ist, der Schluss des Romans aber erweist ihn als enttäuschten Spießbürger. Auch in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive lässt sich die Konfrontation von Unrat und Lohmann interpretieren: Der Dilettant, der ohne methodologische Reflexion verfahrende Amateur, ist der Gegner des professionellen Philologen; vgl. Kolk: Wahrheit.

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Erfahrungsreichtum und Entwicklungsmöglichkeiten, so die ironische Spitze des Textes, zeigen sich beim anscheinend lebensfremden und hoffnungslos bornierten Philologen, der die allseits begehrte Künstlerin Fröhlich als Ehefrau gewinnt, nicht aber bei den Gymnasiasten, die schon jenseits jeglicher Bildungsfähigkeit stehen. Zeitgemäß handelt deshalb der Repräsentant der humanistischen Bildung, der sich ihrer Ambitionen begibt, wenn deren Adressaten sich ihrer unwürdig erweisen. Diese Jugend hat nicht die Potentiale, die ein emphatischer Jugendkult ihr zuschreiben möchte. Von einer grundlegenden Erneuerung der europäischen Kultur ist sie ihren Möglichkeiten wie ihren Ambitionen nach mindestens so weit entfernt wie Professor Raat vom Geist der Winckelmannschen Antike. Es scheint zunächst, als sei der philologische Habitus nicht mehr geeignet, eine bruchlose Biographie zu garantieren, sondern tauge nur noch zum Anlass spöttischer Kommentierung durch die Mitbürger, bis er dann im Lebensstil des Bohemien mit krimineller Energie sich auflöst. Im Blick auf das futurisierte Jugend-Konzept der »Schulgeschichte« Hessescher Observanz wird jedoch das Gegenteil deutlich. Professor Raat vollzieht einen Neustart, der die moderne Spannung des Lebenslaufs zwischen Individualisierung und Standardisierung geradezu exemplarisch demonstriert – als Karriere-Weg ›nach unten‹, während Gutzkow ein halbes Jahrhundert zuvor den ebenfalls denkbaren ›Weg nach oben‹ skizzierte. Narrativiert als Erkundungsreise durch Milieus der Stadt, deren Fremdheit sich steigert. Vom Theater (27ff.) über das Hafenviertel (30ff.) und den frömmelnden Schuhmacher bis ins Nachtlokal »Blauer Engel« (51ff.), wo diese Odyssee endet: in der folgenreichen Bekanntschaft mit Rosa Fröhlich, Kirke und Penelope, femme fatale und Ehefrau zugleich: eine exemplarische Initiationsreise, wie sie mit dem krisenhaft erfahrenen Einbruch des Sexuellen aus zahlreichen Adoleszenzgeschichten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bekannt ist. Sie lässt das Routinierte des Alltags hinter sich, um im vorerst Fremden die neue Erfahrung realisieren zu können. Versucht Unrat in der breit ausgeführten Erkennungsszene mit Rosa zunächst, das Exzentrische in den Kategorien des Vertrauten zu verstehen – »›Ich–ich bin der Lehrer‹, sagte Unrat, als spräche er Sinn und Gesetz der Welt aus« (58) -, so akzeptiert er im Folgenden den Bruch mit der geläufigen Ordnung: » – sie war kein entlaufener Schüler […]. Nein, sie war etwas Neues. […] Sie war eine fremde Macht und augenscheinlich fast gleichberechtigt.« (59) Solcher Anagnorisis folgt eine Schwellenüberschreitung,377 mit der sich Unrat die milieuspezifischen Accessoires, Kostümierung 377 Vgl. die grundsätzlichen Überlegungen Gerhard Neumanns zu Erkennungs- und Schwellenszenarien: Begriff und Funktion des Rituals im Feld der Literaturwissenschaft, in: Gerhard Neumann, Sigrid Weigel (Hg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000, S. 19–52, bes. S. 39ff.

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und Schminken, aneignet und als jene »Küche, in der Schönheit, Lust und Seele gemacht wird« (97, vgl. 99, 112), entziffert: Die Beobachtung der Generierung fremder Zeichen neutralisiert ihr Irritierendes: »Er dachte gleich hintereinander: ›Weiter ist es nichts?‹ und ›Das ist aber großartig!‹« (97) Die Einweihung in das esoterische Wissen eröffnet neue Handlungsräume: Geradezu klassisch in der Topographie des Schwellenorts378 steigt Unrat schließlich die »Treppe« (132) zu Rosas Zimmer »oben« (131), ein Aufstieg im architektonischen, ein Abstieg im sozialen Sinn. Folgerichtig endet Unrats Passage mit dem sozialen Tod, nach der Entlassung aus dem Schuldienst und dem Verlust bürgerlicher Reputation zeigen sich ungeahnte katalysatorische Qualitäten des Philologen, der die »Entsittlichung« (213) der Stadt energisch betreibt: »Aber vermögende Pfahlbürger, die beim Handel mit Fischen und Butter dreißig Jahre lang durch dieselben fünf Straßen getrabt waren, diese ahnten auf einmal eine unverhofft genussreiche Verwendung für ihr Geld. Blendend zeigte sich ihnen der Lohn ihrer Mühen, und sie wussten nun, wofür sie gelebt hatten.« (207)

Unrat als Erzieher nicht der schönen Individualität, sondern als spiritus rector ihrer Demaskierung als frivoles Amüsement. Der Verursacher solcher Dynamik erhält das entsprechende Prädikat: »Sie fanden ihn förmlich verjüngt.« (136) Und: »Aus dem Tyrannen war endgültig der Anarchist herausgebrochen. Und er schien eitel auf seinen neuen Zustand, hatte eine offenkundige Vorliebe für sein eigenes Gesicht in seiner jetzigen jugendlichen Färbung.« (211) Die Biographien der Protagonisten zeigen sich gegenläufig. Die Gymnasiasten erweisen sich als ungeschickte Diebe (Kieselack), allein durch die einflussreiche Verwandtschaft geschützte Schulversager (Ertzum) und blasierte Elegants (Lohmann). Keinesfalls indizieren ihre Qualitäten die erhoffte Möglichkeit kultureller Innovation durch ›Jugend‹. Der angebliche Stockphilologe Unrat entwirft sich selbst neu, zeigt mit der Doppelung des Lebenslaufs dessen Kontingenz, aber auch die Unangemessenheit der Verknüpfung kollektiver Vorgaben mit Altersstufen.379 Die ›Jugend‹ Unrats als Resultat sozialer Devianz dementiert die zeitgenössischen Visionen von der Zukunftsfähigkeit der deutschen Jugend. Nicht die Neugeburt Deutschlands aus dem Geiste jugendlichen Enthusiasmus’ markiert den erhofften Kairos – er findet sich beim Philologen, dessen Eros belohnt wird: Rosa lernt Griechisch. »Unrat rötete sich fleckig und eilte wonnebebend den Partikeln entgegen. […] als diese geliebten Laute nun wirklich aus dem bunten Gesicht der Künstlerin Fröhlich und von 378 Vgl. Peter von Matt: Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München 1997, S. 298ff. Zum Element der »Einweihung« in literarischen Initiationsgeschichten vgl. Titzmann: Initiationsgeschichte, S. 24. 379 Vgl. Stichweh: Lebenslauf.

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ihren anmutig bemalten Lippen fielen: da klopfte sein Herz. Er musste das Buch weglegen und sich sammeln. […] er […] sagte, er sei nicht gesonnen, sich auch nur eine Stunde des ihm erübrigenden Lebens von ihr zu trennen. Er wolle sie heiraten.« (181)

Das höchste Ziel der Philologie ist erreicht, Wissen und Lebensform fallen in eins, und dies durch erzieherische Einwirkung. Schon der Philologe Friedrich Nietzsche wusste, »daß die Philologie ihrem Ursprunge nach und zu allen Zeiten zugleich Pädagogik gewesen ist.« So in seiner Basler Antrittsvorlesung mit dem Titel »Homer und die klassische Philologie«.380 Bildungsinstitutionen wie das humanistische Gymnasium in »Freund Hein«, »Frühlings Erwachen« und »Professor Unrat« oder ein Seminar für den Theologennachwuchs wie in »Unterm Rad« sind für die Darstellung kulturell relevanter Konflikte besonders geeignet, weil sie als Orte öffentlicher Schwellenerfahrungen gelten können.381 ›Auf der Bühne‹ des Schulbetriebs ereignen sich die, mit Victor Turner zu sprechen, sozialen Dramen: der familial geprägten Adoleszenz, der Statuszuweisung und ihrer sozialen Logik, der Generations- und Autoritätskonflikte, der Konstitution von peer-groups, der Sexualität; diese beiden letzten Aspekte zentral etwa in Musils »Törleß«.382 Schulen fungieren in diesen narrativen Inszenierungen als Orte einer biographisch unvermeidlichen Reflexion von Individualität und ihrer sozialen Rahmungen; dies ohne voreilige Übersetzbarkeit in erziehungswissenschaftliche Expertise, sondern mit Skepsis gegenüber ihren Kategorien: Den Anspruch der großen reformpädagogischen Erzählung vom schulischen Leiden,383 mit dem Perspektivwechsel auf die Seite der zu Erziehenden nun selbst im Rang eines kulturellen Fortschritts zu stehen, stellen Texte wie »Professor Unrat« zur Disposition.

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Einspruch gegen die Jugend. Musils »Törleß«

Zeigt schon Heinrich Manns »Unrat« Skepsis gegenüber emphatischen Jugendkonzepten, so wird man Musils »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« geradezu als ihr Dementi verstehen müssen. Die Jahrhundertwende bringt eine nicht erwartbare Konjunktur der emphatischen literarischen Rede über Jugend, war doch der neue Terminus ›Jugendlicher‹ zuerst im juristischen Diskurs zu beob-

380 In: Nietzsche: Werke, Bd. 3, S. 155–174, S. 157. 381 Vgl. zu diesem literaturanthropologischem Argument in der Tradition der Untersuchungen Victor Turners zur Theatralität das Kapitel zu Hesses »Unterm Rad« meiner Untersuchung. 382 Vgl. dazu das folgende Unterkapitel. 383 Oelkers: Reformpädagogik spricht vom »Mythos des leidenden Kindes« (S. 102, vgl. S. 110).

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achten, der auch den Argwohn gegenüber jugendlichen Umtrieben verarbeitet;384 das ältere Vokabular, etwa Gellerts, verwendete ›Jüngling‹ und unterschied meist kontextabhängig vom Kind und Erwachsenen.385 In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts steht Jugend im Geruch der Disziplinlosigkeit und des Werteverlusts, der Unbotmäßigkeit gegenüber Autoritäten in Gesellschaft und Familie, der sozialrevolutionären Umtriebe.386 »Die Halbstarken«, so der Titel eines Buchs des Hamburger Pastors Clemens Schultz, bringt das Problem 1912 auf den Begriff.387 Lösungen sollen gefunden werden im Bereich verstärkter und systematisierter Kontrolle: in der Jugendfürsorge, im Jugendstrafrecht, in der Kinderund Jugendpsychiatrie: allesamt Resultate von Ausdifferenzierungen bereits bestehender Organisationsformen, die nunmehr auf Jugend spezifiziert werden. Zeitgleich verschärfen sich bildungs- und kulturpolitische Debatten über humanistische und Realbildung und über die Legitimität historisch-philologischer Disziplinen angesichts ihres Geltungsverlustes für die deutsche Jugend, Krisendebatten bekommen Konjunktur.388 Die Relation von literarischer und wissenschaftlicher Thematisierung der Jugend ist als Austauschbeziehung zu sehen, als wechselseitige Kommentierung.389 Literarische Texte reagieren auf den zunehmenden Normalisierungsdruck im neuen Beobachtungsfeld ›Jugend‹, der nicht nur die Schulpädagogik des 19. Jahrhunderts durchzieht.390 Diese Modellierung zielt auf die Konstruktion ›normaler‹ Biographien. Tendenziell wird individuelle Besonderheit als Abweichung klassifiziert und statistisch erfasst, die es zu regulieren gilt: in Erziehungsratgebern, Hygieneverordnungen, Erlassen der Schulaufsicht.391 Die geforderten Jünglingstugenden der asketischen Arbeitsamkeit und christlichen 384 Vgl. Ulrich Herrmann, Der »Jüngling« und der »Jugendliche«. Männliche Jugend im Spiegel polarisierender Wahrnehmungsmuster an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft, 1985, 11. Jg., S. 205–216. 385 Vgl. Reiner Wild: Kind, Kindheit, Jugend. Hinweise zum begriffsgeschichtlichen Wandel im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, in: Horst Heidtmann (Hg.): Jugendliteratur und Gesellschaft, Weinheim u. a.1993, S. 9–16. 386 Offensichtlich hat sich die Klassifizierung der Jugendlichen als »Risikogruppe« nicht überholt, wie Lothar Bönisch betont: Jugend heute – Ein Essay, in: Helga Theunert (Hg.): Jugend, Medien, Identität. Identitätsarbeit Jugendlicher mit und in Medien, München 2009, S. 27–34, S. 28. 387 Vgl. Peukert: Zeit, S. 187f. 388 Vgl. das Schlusskapitel meiner Darstellung. Als weit ausgreifende Übersicht vgl. Becker, Kluchert: Bildung, bes. S. 49–81. 389 Vgl. hierzu oben den Abschnitt über Hesses »Unterm Rad«. 390 Vgl. Herrmann: »Jüngling«, S. 209; Heinz Abels: Jugend vor der Moderne. Soziologische und psychologische Theorien des 20. Jahrhunderts, Opladen 1993, S. 23ff., S. 544ff. 391 Vgl. Cornelia Ott: Lust, Geschlecht und Generativität. Zum Zusammenhang von gesellschaftlicher Organisation von Sexualität und Geschlechterhierarchie, in: Irene Dölling, Beate Krais (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt a. M. 1997, S. 104–124, hier S. 114ff.

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Demut, der Ehrfurcht gegenüber Autoritäten, der Vaterlandsliebe werden zum prominenten Thema nicht nur von Abituraufsätzen und Entlassungsfeiern.392 Ein Indiz für die Intensivierung gesellschaftlicher Reflexion von Jugend ist die erstaunliche Resonanz der »Schulgeschichten«, für die Strauß, Rilke und Hesse exemplarisch behandelt wurden; alle kurz nach der Jahrhundertwende erschienen und zumal in pädagogischer und bildungspolitischer Literatur vielfach kommentiert.393 »Es gibt in Deutschland zurzeit für Bücher und Zeitschriften, für Romane und Dramen kein beliebteres Thema als die Unterdrückung und Mißhandlung hochstrebender Söhne und Töchter«, so einer der renommiertesten zeitgenössischen Bildungshistoriker, Friedrich Paulsen: »Auf Versammlungen und allgemeinen Erziehungstagen werden die Schrecken dieses grausamen Regiments dargestellt, wie alle tüchtigsten und selbständigsten Geister bis zur Erschöpfung gehetzt und geplagt werden, bis sie endlich ›unterm Rad‹ liegen oder als ›Schülerleichen‹ aus dem Wasser gezogen werden.«394

Die Parole liefert Hesses Erfolgsbuch von 1906, in dem der ehrgeizige Hans Giebenrath nach schulischem Misserfolg schließlich ertrunken aufgefunden wird. Zeitgenossen wie literaturwissenschaftliche Forschung lesen solche Texte als Abrechnung mit unverständigen Eltern und sturen Lehrern, denen es um mechanisches Lernen mit Blick auf beruflichen Erfolg und sozialen Aufstieg geht. Aber bereits die breite reformpädagogische Diskussion seit den 1890er Jahren polemisiert gegen eine solchermaßen organisierte Obrigkeitsschule, die nur Untertanengesinnung und Duckmäusertum hervorbringen könne; den komplexen Entwicklungsprozessen von Kindern und Jugendlichen werde sie in keiner Weise gerecht. Schon chronologisch ist es deshalb fragwürdig, literarischen Texten, etwa auch dem berühmten Schulkapitel der »Buddenbrooks«, eine Pionierfunktion in der Thematisierung des leidenden Jugendlichen zuzugestehen. Vielmehr verwenden diese Texte pädagogische Realitätskonstruktionen (›der leidende Schüler‹) als Medium für literarische Formgewinne.395 Die Flut pädagogischer und kinder- und jugendpsychologisch ambitionierter Schriften um 1900 wiederum liest literarische Texte als durch ihre künstlerische Abkunft kulturell nobilitierte Bestätigungen der eigenen Hochschätzung von Jugend.

392 Vgl. Herrmann: »Jüngling«, S. 210f. 393 Vgl. oben in Abschnitten 5.1 und 5.2; breite Materialerschließung durch Mix: Schulen; eine literaturgeschichtliche Reihe diskutiert Matthias Luserke: Schule erzählt. Literarische Spiegelbilder im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. 394 Väter und Söhne, in: Paulsen: Abhandlungen, S. 497–516, S. 497. 395 Zur Terminologie vgl. Gerhard Plumpe, Niels Werber: Umwelten der Literatur, in: Gerhard Plumpe, Nils Werber (Hg.): Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft, Opladen 1995, S. 9–33.

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Nicht ein futurisiertes Jugendkonzept findet sich in Texten dieser Observanz, das in ausgewählter deutscher Jugend die Keimzelle kultureller Erneuerung des ganzen Volkes zu erblicken vermöchte; dies die Botschaft des George-Kreises, der die Zukunft durch Erziehung formbar sieht, eine Erziehung an und durch George, dezidiert gegen-institutionell, hierarchisch, autoritär.396 Hingegen erscheint Jugend bei Hesse und in benachbarten Texten als Übergangsstadium: labil, gefährdet, orientierungsschwach, jedenfalls in der Perspektive der bornierten Autoritäten. »Überbürdung«, als eines der zentralen Schlagworte der bildungspolitischen Debatten, wird in der Konfrontation musisch begabter Jugendlicher mit institutionellen Vorgaben illustriert. Besonders akzentuiert werden psychosomatische Reaktionen, die den Zeichen des Körpers soziale Bedeutungen unterlegen. Kreativität ist durch Disziplinierungsmaßnahmen systematisch verschüttet, unverbundene Lerngegenstände und veraltete Lehrmethoden fördern allenfalls Anpassung. Ein Text wie Hesses »Unterm Rad« dramatisiert diese Konstellation der Unterdrückung jugendlicher Individualität als Inszenierung fortlaufender Schwellenerfahrungen, in denen physische und psychische Labilitäten koinzidieren. Giebenraths eigentümliche konstitutionelle Schwäche zeigt sich in Situationen sozialer Desorientierung, bei Prüfungen, beim Schulwechsel, bei ersten erotischen Erlebnissen. Umweltbedingungen, besonders Machtverhältnisse, werden somatisiert, der Körper fungiert als Speicher sozialer Formierung, verrät »Bildungsarbeit«.397 Nicht als Orte und Zeiten zukunftsoffener jugendlicher ›Bewegung‹ erscheinen Giebenraths Aufenthalt im Maulbronner Seminar oder die Konflikte der Protagonisten Strauß’ (»Freund Hein«) und Rilkes (»Die Turnstunde«) mit Bildungsinstitutionen: Die Schwellen zeigen sich als unüberwindlich, sind keine Anlässe individueller Anstrengung und Bewährung, sondern des Scheiterns, teilweise mit tödlichem Ausgang. Das Leistungsethos der Jugend, die durchaus vorhandene Bereitschaft zur Integration in die väterliche Welt eines gesicherten Sozialstatus, bewirkt individuelle Depression. Zugleich erweisen sich die peer-groups, denen die Texte jetzt verstärkt sich zuwenden, als Agenten sozialen Drucks, nicht als die erziehungswissenschaftlich beschworene Gemeinschaft:398 Giebenraths Mitschüler isolieren ihn und seinen Freund bei Konflikten mit Lehrern, die Emphase jugendbewegter Selbstbeschreibung ist fern, auch Rilkes Text vermerkt keinerlei Solidarität der anderen Schüler mit dem Protagonisten. Giebenraths Wandlung vom »Knaben« zum »Jüngling«399 markiert bereits ein Ende von ›Entwicklung‹. Auch die symbiotische Naturerfahrung, für Werther zumindest zeitweilig Reservat, bietet keinen Fluchtpunkt. Im Gegenteil stimuliert sie Regression, 396 Vgl. oben die Ausführungen zum George-Kreis. 397 Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft, in: Dölling, Krais (Hg.): Spiel, S. 153–217, hier S. 167. 398 Vgl. Oelkers: Reformpädagogik, S. 230ff. 399 Hesse: Rad, S. 94.

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wenn Giebenrath nach dem Scheitern in der Seminarausbildung die dörfliche Umwelt als »zweite Kinderzeit« wahrnimmt.400 Zuletzt liegt der Lehrling »beschmutzt und geschändet« am Ufer des Flusses, in dem er kurze Zeit später ertrinkt. Auch die Rückkehr in die vertraute soziale Struktur ermöglicht keine erneuerte Orientierungssicherheit, sondern verdeutlicht nur die tatsächliche Distanz. Musils »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« legt 1906 den Akzent auf die subtile Analyse der psychischen Dispositionen der Protagonisten. Nicht die Halbtagsschule mit ihren immerhin möglichen familiären Schutzräumen, sondern, wie in Hesses Roman und in Rilkes Kurzgeschichte, die Internatserziehung, hier in einem österreichischen Konvikt, steht im Mittelpunkt. Die Erzählung blendet Lehrerfiguren fast vollständig aus, nennt nicht einmal Namen, sondern nur Unterrichtsfunktionen,401 konzentriert sich auf eine jugendliche Primärgruppe. Unter Akzentuierung des geschlossenen Charakters der Anstalt mit ihrer räumlichen Distanz zum Wohnort der Zöglinge gewinnt das Interaktionsviereck mit den Folterern Beineberg und Reiting, ihrem Opfer, dem Dieb Basini, und Törleß die Qualität eines Modells für die Bewegungsmöglichkeiten zwischen »zwei Welten«: »Einer solid bürgerlichen, in der schließlich doch alles geregelt und vernünftig zuging, wie er es von zu Hause her gewohnt war, und einer abenteuerlichen, voll Dunkelheit, Geheimnis, Blut und ungeahnter Überraschungen.«402 Nennen Beginn und Schluss des Textes die Welt der honorigen Eltern, so seine zentralen Passagen die der pubertären Sexualität, der Prostitution, Homosexualität und sadistischen Entgrenzungshoffnungen.403 Die ›psychologische‹ Ebene thematisiert die »Larvenexistenz im Institute«, konstituiert sich über Lokalisierungen jener Schwellensituation zwischen den »Welten«, ohne ihre Auflösung teleologisch anzubieten. Eine tatsächliche Lösung der Konflikte wird durch räumliche Separierung eher vermieden, Basinis Entlassung und Törleß’ Austritt aus dem Konvikt beenden eine Konstellation, deren Konsequenzen für Interaktion und Psychologie der Jugendlichen nicht narrativ aufgehoben werden. Die gewonnenen Einsichten in die, nach der berühmten Formulierung von Musils Lehrer Mach, »Unrettbarkeit« idealistischer Individualitätskonzepte mit ihren metaphysischen Prämissen404 werden als jeweils neu zu bewältigende Aufgabe virulent gehalten. Zwar verlautet in einem die erzählte Zeit unterbrechenden Einschub über 400 Ebd., S. 127. 401 Deutlich z. B. in der Schlusssequenz mit dem Verhör durch das Kollegium. 402 Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, in: Robert Musil: Gesammelte Werke, hg. v. Adolf Frisé, Bd. 2, Reinbek 1978, S. 7–140, hier S. 41. Dort auch das folgende Zitat. 403 Die Thematik jugendlicher Sexualität wird besonders von Luserke betont: Schule, S. 78–90. 404 Vgl. Joseph Vogl: Grenze und Übertretung. Der anthropologische Faktor in Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, in: Josef Strutz (Hg.): Robert Musils »Kakanien« – Subjekt und Geschichte, München 1987, S. 60–76, hier S. 72f.

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den erwachsenen Törleß, er werde zu den »ästhetisch-intellektuellen Naturen« zählen, aber auch, seine »gelangweilte Unempfindlichkeit« habe ihn das Geschehene »nie in seinem späteren Leben« bereuen lassen.405 Nicht die moralische Abrechnung mit den institutionell ermöglichten sexuellen »Verwirrungen« der Jugendlichen nimmt Musils Text vor, vielmehr konstruiert er ein Laboratorium der Schwellenerfahrungen.406 Die konstitutive Labyrinth-Topik der Erzählung und ihre Wiederholungsstruktur verleihen ihr »rituelle Züge«,407 verweisen auf liminale Prozesse, die im literarischen Text als kulturellem Reflexionsmedium repräsentiert, nicht ethisch oder mit Kategorien der praktischen Vernunft evaluiert werden. Hier findet sich beispielsweise die Reflexion von Geschlechterdifferenzen, wie sie Törleß beim Anblick des nackten Basini vom Erzähler zugeschrieben wird.408 Törleß bewegt sich zwischen überkommenen Bildern von männlichem Verhalten und korrespondierender männlicher Körperlichkeit, die Faszination aber, die der plötzlich sich ihm entkleidet präsentierende Basini ausübt, beruht auf dem Changieren zwischen biologischem Geschlecht und situativ erzeugter, nämlich weiblicher Attraktivität. Im Viereck der männlichen Jugendlichen zeigt sich, dass Geschlechtszugehörigkeit sozial erzeugt wird und Machtbeziehungen impliziert: Das »Mädchen« Basini, ein »Mann« zu sein ist ihm durch soziales Fehlverhalten verwehrt, wird in der grundsätzlich egalitär eingerichteten Gruppe der Zöglinge in asymmetrische Interaktion gezwungen. Derartige Entstehungsbedingungen sozialer Hierarchien409 und konventionalisierter Denkmuster410 werden im »Törleß« als soziales Drama vorgeführt und damit als historisch variabel.411 Zugleich bietet 405 Musil: Törleß, S. 111f. 406 Experimentelle Züge in der Konzeption des Textes beschreibt Uwe Spörl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende, Paderborn u. a. 1997, S. 287ff. 407 Erich Meuthen: Törleß im Labyrinth, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1985, Nr. 59, S. 124–144, hier S. 141. 408 Vgl. Musil: Törleß, S. 98f.: »Basini war schön gebaut; an seinem Leibe fehlte fast jede Spur männlicher Formen, er war von einer keuschen, schlanken Magerkeit, wie der eines jungen Mädchens. […] Ein betörender warmer Atem strömte aus der entblößten Haut, eine weiche, lüsterne Schmeichelei. […] Aber nach der ersten Überraschung schämte sich Törleß des einen wie des anderen. ›Es ist doch ein Mann!‹ Der Gedanke empörte ihn, aber ihm war zumute, als ob ein Mädchen nicht anders sein könnte.« 409 Vgl. auch die wechselnden Autoritätsverhältnisse zwischen Beineberg und Reiting auf der einen, Törleß auf der anderen Seite sowie seine Beziehung zu Basini. 410 Hier ist besonders an die oft interpretierten Passagen über die Relation von rationaler und emotionaler ›Erkenntnis‹, von ›Ich‹ und ›Welt‹, zu denken (Musil: Törleß, S. 25), aber auch an die Reflexion auf mathematische Konventionen (S. 77, 82) und im weitesten Sinne religiöse Sinndeutung, wie sie Beineberg vorschwebt (S. 19, 59, 118ff.). 411 Sprachgebrauch nach Turner: Ritual, bes. S. 95ff. – Deshalb kann der Rekurs auf die Disposition Werthers nicht überraschen; vgl. York-Gothart Mix: Männliche Sensibilität oder die Modernität der Empfindsamkeit. Zu den Leiden des jungen Werther, Anton Reiser, Buddenbrooks und den Verwirrungen des Zöglings Törleß, in: Karl Eibl (Hg): Empfindsamkeit, Hamburg 2001, S. 191–208.

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Musils Text auf hohem Reflexionsniveau ein Gegenmodell zur zeitgenössischen Feier der Jugend. Sie erweist sich weder als sozial kompetent in Absetzung vom konventionsorientierten Obrigkeitsdenken der Erwachsenen noch als ästhetisch sensibel und damit deren Materialismus zumindest ideell überlegen. Die Anstalt der Bildung zeigt sich als totale Institution, einige ihrer Angehörigen sind Funktionäre einer raffinierten Gewalt. Die Thematisierung von Jugend um 1900, zumal ihrer Konfrontation mit Institutionen,412 negiert die emphatische Konzeption, nach der diese Lebensphase auf Zukunft vorbereitet, womöglich Innovation auch übergreifender sozialer Strukturen antizipiert. Dabei ist die Akzentuierung des institutionellen Aspekts nicht nur als Rekurs auf künstlerisch interessante Medien für literarische Formen zu sehen. Die Konsequenzen der sozialen Logik, nach der qualifizierte Ausbildung Lebenschancen eröffnet, werden als destruktive, nämlich jugendlicher Individualität abträgliche, ›unnatürliche‹ gezeigt: als konventionalisierte. Die Texte reflektieren kulturelle Muster, die zur Disposition gestellt werden: Schule als Organisation zur Integration der nachfolgenden Generation zerstört sie. Schule als prominenter Ort der Einübung geltender Verhaltensmuster und sozialer Hierarchien erhält den Status eines Labors,413 das Schwellenerfahrungen und körperliche Reaktionsmuster beobachtet. Seine Versuchsanordnung allerdings bringt einen sozialen Raum hervor, in dem Jugend als Potential dementiert wird. ›Jugend‹ ist als Chiffre für Moderne funktional, steht nicht nur für neue Möglichkeiten und Fortschritt, sondern auch für Ambivalenz und Regression. ›Jugend‹ ist Projekt, ein Programm für Individualität in modernen Gesellschaften. Literarische Texte zeigen seine Geschichte(n), in denen sich das kulturelle Wissen über diese Lebensphase verdichtet, kommentieren ihre Emphatisierung. Spielräume der »Bewegung«, derer sich die Vormärz-Autoren im Zeichen von Jugend vergewissern wollten, entstehen allenfalls momenthaft: in Freundschaften und der Begegnung mit Kunst.414 412 Hier liegt ein Grund für die irritierende öffentliche Wirkung einiger Texte, die den Bildungsinstitutionen den Anspruch bestritten, Repräsentanten idealer ethischer Werte zu sein; vgl. zu diesem Selbstverständnis Udo Köster: Ideale Geschichtsdeutung und Mentalität der Gebildeten im Kaiserreich, in: Robert Leroy, Eckart Pastor (Hg.): Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch, Bern u. a. 1991, S. 95–126, hier: S. 96. ›Bildungsgeschichten‹, ihre historischen Modifikationen und ihre Kritik sind das Thema von Carola Groppe: Im deutschen Kaiserreich. Eine Bildungsgeschichte des Bürgertums 1871–1918, Köln 2018. 413 Vgl. Mix: Schulen, S. 7ff., bes. das Zitat Robert Walsers (S. 10). 414 In »Freund Hein« ist dies die Lektüre Hölderlins. Dass Kunst(-programme) selbst als Modus der Bewältigung insinuierter ›Krisen‹ verstanden werden kann, zeigen Fraktionen des ›Weltanschauungsdiskurses‹ am Beginn des 20. Jahrhunderts. Vgl. Loreen Sommer: Krisenals Formbewusstsein. Das Programm der ›Neuklassik‹ oder Die Überführung einer Weltanschauung in Poetik, in: Anna S. Brasch, Christian Meierhofer (Hg.): Weltanschauung und Textproduktion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne, Berlin 2020, S. 157–181.

6.

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»Stirb jung und hinterlass eine attraktive Leiche.« Es sind solche bündigen Maximen, in denen sich aktuelle Selbstbilder und Mythisierungen verdichten: vom schnellen und riskanten Leben jenseits von Rentenansprüchen, vom Helden, der dem Altwerden entkommt, wie der hier angesprochene Kurt Cobain, charismatischer Frontmann der Grunge-Band »Nirvana«, der sich 1994 mit 27 Jahren in seiner Garage mit einer Schrotflinte erschießt.415 Da hat die Rede über ›Jugend‹ bereits ein Jahrhundert Konjunktur. Nicht zuletzt in der populären Kultur ist ›Jugend‹ konstitutiv für zentrale Selbstinszenierungen: des Rebellischen, der Auflehnung gegen Etabliertes, Konventionelles, Kommerzielles. Dass der erwähnte Pete Townshend von den »Who« und andere Rebellen des Rock inzwischen älter sind als höchste Repräsentanten jener der Bornierung geziehenen staatlichen und kirchlichen Ordnungen, stört da nicht: Es geht um ›Haltungen‹, um Lebensstile. Das folgende Kapitel geht zunächst auf einige literarische Texte aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein, in denen zentral ›Jugend‹ thematisiert wird. Mein Augenmerk gilt dabei zumal den »schweren Zeichen«:416 narrativen Konstellationen, in denen es ums Ganze geht, um Fundamentales, um Leben und Tod, um Krise und Entscheidung; gerade hier ergeben sich Affinitäten zum George-Kreis, einigen 415 Everett True: Nirvana. Die wahre Geschichte. Aus dem Englischen von Kirsten Borchardt, Höfen 2008, das Zitat S. 13. 416 Die Begriffsbildung findet sich bei Diederichsen und Baudrillard, besonders aber Werner Helsper: Das »Echte«, das »Extreme« und die Symbolik des Bösen. Zur Heavy Metal-Kultur, in: Peter Kemper, Thomas Langhoff, Ulrich Sonnenschein (Hg.): »but i like it«. Jugendkultur und Popmusik, Stuttgart 1998, S. 244–259, hier S. 245. Nicht zufällig ergibt sich eine in der vorliegenden Darstellung nur anzudeutende Fortführung hin zu Entwicklungen der populären Musik und den sie tragenden Jugendszenen seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts sowie zu anderen Jugendmedien vom Computerspiel bis zu den Artworks in Comics, auf Plattencovern und Spielkarten (TCGs) und den Titelillustrationen populärer Zeitschriften und Romane (Fantasy, Science-fiction). Rebellisches und Gewaltbereitschaft thematisieren auch Christoph Klotter und Niels Beckenbach: Romantik und Gewalt. Jugendbewegungen im 19., 20. und 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2012, deren Interesse besonders dem avantgardistischen Habitus gilt.

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seiner Rezeptionsmilieus und dann auch zum Jugendkonzept des Nationalsozialismus. Die Destabilisierung konventioneller Deutungsmuster in Hesses »Unterm Rad«, etwa des Karrieredenkens und der Akzeptanz von Autoritäten, so war zu sehen, verweist auf die generelle Leistung solcher narrativer Präsentationen von Übergangssituationen: In ihnen wird dem Leser die Konventionalität kultureller Orientierungen verdeutlicht. Giebenraths Erzieher folgen einer sozialen Logik, nach der das Absolvieren von Bildungsinstitutionen Laufbahnchancen eröffnet, Statuserhöhung in Aussicht stellt. Diese soziale Logik wird in »Unterm Rad« durch narrative Inszenierung ihrer Konsequenzen als nicht-natürliche, widersprüchliche vorgeführt. Schule eignet sich in besonderem Maße für diese symbolische Subversivität, weil sie als Institution einer öffentlichen Übergangsphase gelten kann.417 Die Aufhebung sozialer Unterschiede, die Erfahrung der Orientierung an Gleichaltrigen (statt an ›natürlichen‹ Familienhierarchien), die räumliche und zeitliche Separierung konstituieren eine eigene soziale Welt, deren Unbestimmtheiten als Spielräume kultureller Reflexion auch narrativ verfügbar werden. Die angedeutete Hochschätzung in der reformpädagogischen Rezeption wie der kommerzielle Erfolg des Genres »Schulgeschichte« um 1900 kann so mit Folgen sozialen Wandels in Verbindung gebracht werden. Die ästhetische Inszenierung jugendlichen Leidens in den biographisch unausweichlichen Institutionen des Bildungssystems verdeutlicht die moderne Problematik von Lebenslauf und Identität. Ihre Einheit ist fragil, bedarf der Anstrengung im Spannungsfeld unterschiedlicher Anforderungen, ist immer nur vorläufig. Die Romane von Strauß und Hesse zeigen exemplarisch die Zuspitzung der beschriebenen Situation, und dies wiederum kennzeichnet die quantitativ dominierende Variante literarischer Thematisierung von ›Jugend‹. Die insinuierte ›Krise‹ jugendlicher Identitätsfindung verweist auf die des umgebenden Bildungssystems, dessen Prinzipien nicht nur individuelle Mängel etwa der Erziehungsberechtigten verraten, sondern strukturelles Versagen – so der Tenor der Rezeption. Dem entspricht die existenzielle Dramatisierung durch den Tod des Protagonisten. Die Kontextualisierung seines Lebenslaufs ist deren eigentlich markantes Element. Die Semantik von ›Jugend‹ kann genutzt werden, um über sie hinausweisende strukturelle Fehlentwicklungen anzusprechen, ermöglicht die kulturphilosophische Weiterung und Krisendiagnosen unterschiedlichster Perspektivierung. Musils »Törleß« zeigt die Genese autoritärer Charaktere am Vorabend des Zusammenbruchs der Donaumonarchie in der totalen Institution 417 Ich nutze erneut die Klassifizierung Victor Turners für das Theater, zit. bei Doris BachmannMedick: Kulturelle Spielräume: Drama und Theater im Licht ethnologischer Ritualforschung, in: Doris Bachmann-Medick (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1996, S. 98–121, S. 104: »public liminality«.

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des Militärinternats, in dem sadistische Impulse und Herrschaftsphantasien unbemerkt ihre zerstörerische Wirkung tun können; expressionistische Texte wie Walter Hasenclevers »Der Sohn« betonen die Konfliktlinien der Generationen, um ein inhaltlich allenfalls ansatzweise gefülltes Freiheitspathos, ein emphatisches Leben feiern zu können.418

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Das Denkmuster der Krise kann denn auch als das Element gesehen werden, das die literarische Beschreibung individueller Disposition mit der übergreifender Kontexte verbindet: ›Jugend‹ als Chiffre für die individuellen Folgen sozialen Wandels.419 Die Adoleszenzkrise meint nicht nur subjektive Orientierungsunsicherheit, sondern ist Indikator der ›Kulturkrise‹, der nicht selten erhebliche Dimensionen bescheinigt werden. Tatsächlich ist die Verbreitung von Krisendiagnosen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts unüberschaubar, auf die »Krisis des Historismus« (Ernst Troeltsch) im Wissenschaftssystem komme ich noch zurück. Berliner Historiker haben allein für den Bereich der selbständig erschienenen Schriften über 370 Werke bibliographiert, die sich zwischen 1918 und 1933 auf die deutsche Gesellschaft, Politik, Wirtschaft bezogen und »Krise« oder »Krisis« im Titel führten.420 ›Krise‹ meint Ordnungsschwund und legt die Forderung nach Ordnungsstiftung nahe.421 Und sie fordert Entscheidungen – hier 418 Vgl. Gwendolyn Whittaker: Überbürdung – Subversion – Ermächtigung. Die Schule und die literarische Moderne 1880–1918, Göttingen 2013, S. 297; vgl. S. 264 zum Wandel im Leitdiskurs: Nation wird Referenz; Heinrich Bosse und Ursula Renner: Generationsdifferenz im Erziehungsdrama. J. M. R. Lenzens Hofmeister (1774) und Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (1891), in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 2011, Nr. 85, S. 47–84. 419 Vgl. schon Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne, Stuttgart, Weimar 1994, S. 37–39 zu Elementen der vitalistischen Konzeptionen nach 1910: »Die ›Krise‹ der Pubertät ist also nicht die Wurzel des lebensideologischen Krisendenkens, wohl aber der paradigmatische Modellfall. […] Es liegt daher nahe, die individuellen Krisen als Teilaspekt einer übergeordneten Kollektivkrise zu betrachten, die nach demselben Modell wie die psychische Krise abläuft.« Lindners Untersuchung wendet sich den Denkstrukturen »›Leben‹/›Krise‹/›Wiedergeburt‹« zu (S. 1) und ihren literarischen Konsequenzen, vgl. S. 276 zu Glaesers »Jahrgang 1902«. 420 Vgl. die Bestandsaufnahmen bei Moritz Föllmer, Rüdiger Graf (Hg.): Die »Krise« der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M. u. a. 2005, z. B. S. 10ff.; ein spezifisches Reaktionsmuster, das etwa auch im George-Kreis zu beobachten ist, verfolgt: Eckart Conze u. a. (Hg.): Aristokratismus und Moderne. Adel als politisches und kulturelles Konzept, 1890–1945, Weimar u. a. 2013. 421 Vgl. Michael Makropoulos: Über den Begriff der »Krise«. Eine historisch-semantische Skizze, in: INDES 2013, S. 13–20.

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und jetzt. Dass der desaströse Kriegsverlauf und das Ende der Monarchie in den zwanziger Jahren solche Zuspitzungen begünstigen, zeigt sich auch in literarischen Texten, für deren jugendliche Protagonisten die Institutionen Familie und Schule längst keine relevanten Erfahrungsräume mehr darstellen.422 Ernst Jüngers vom Notabitur an die Front entlassener »Stoßtruppführer« aus »In Stahlgewittern« sieht das Ende der bürgerlichen Welt mit ihren Bildungskonzeptionen vor sich: im Gaskrieg, in Schützengräben, im neuen planetarischen Menschentyp des »Kriegers«, der idealistischen Entwicklungs- und Reifungsgedanken eine spöttische Absage erteilt. Es geht um den »Typus«, nicht mehr um individuelle Befindlichkeiten. Nicht der kulturphilosophischen Perspektive, sondern dem politischen Tageskampf widmet sich 1930 Ernst von Salomons autobiographischer Roman »Die Geächteten«, in dem der zu Beginn sechzehnjährige Protagonist seine Erlebnisse in Freikorps, ihre Kämpfe in Schlesien, Kontakte zu den Mördern Walther Rathenaus und schließlich eine fünfjährige Zuchthausstrafe schildert. Jugend gilt hier primär als schnell zu überwindendes Stadium vor der Integration in kampfbereite Männerbünde, die der wiederholt thematisierten »Masse« entgegentreten. Dem »seimigen Strudel«423 von Arbeiterdemonstrationen begegnet »Haltung«:424 »Was in uns brodelt, […] muß den härtesten Widerstand fordern und selbst zum härtesten Widerstand führen. Die Entwicklung soll sich selber weiterpeitschen, bis zu ihrem höchsten Grade, […] die das ursprünglichste Leben selbst diktiert.«425 Nicht zufällig wird hier superlativisch gesprochen: »Wir hatten uns an die einzige Tugend, die diese Zeit verlangte, die der Entschiedenheit, herangeworfen, weil wir den Willen zur Entscheidung hatten, wie diese Zeit ihn hatte.«426 Die Forderung des Tages ist es, »das Vaterland vor dem Chaos« zu

422 Vgl. Heinrich Kaulen: Jugend- und Adoleszenzromane zwischen Moderne und Postmoderne, in: Tausend und ein Buch, 1999, Heft 1, S. 4–12. Zu den lebensideologischen Krisendiagnosen der Zeit vgl. bereits Lindner: Leben. Stärker den Aspekt des Generationenkonflikts betont Christian Klein: Kultbücher. Theoretische Zugänge und exemplarische Analysen, Göttingen 2014, in seinen Ausführungen zu Glaesers »Jahrgang 1902« und Remarques »Im Westen nichts Neues«, beide 1928 vorgelegt; ein Aspekt, der literarisch nach 1945 erneut forciert wird (vgl. unten Kap. 6.3). 423 Ernst von Salomon: Die Geächteten. Nachdruck der Originalausgabe von 1930, Radolfzell 2011, S. 11. Schenzingers »Hitlerjunge Quex« wird diese ›Formlosigkeit‹ erneut aufgreifen, um sie der Disziplin nationalsozialistischer Formationen zu konfrontieren. Beobachtungen zu Massendarstellungen bei Salomon, Glaeser, Bronnen und anderen finden sich bei Lindner: Leben, S. 269ff.; zu zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Thematisierungen vgl. Helmuth Berking: Masse und Geist. Studien zur Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin 1984. 424 Salomon: Die Geächteten, S. 8ff., 403. 425 Ebd., S. 265. 426 Ebd., S. 402.

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retten,427 und »dies ist doch eine Sache der Jugend.«428 Nicht als Stadium experimenteller Selbstfindung wird hier ›Jugend‹ interpretiert, sondern als generationelle Habitusdifferenz,. Die »Gewißheit, Vollstrecker eines geschichtlichen Willens zu sein«,429 resultiert aus der strikten Negation der saturierten Bürgerwelt.430 »Haltung«, »Entschiedenheit«, »härtester Widerstand« – die Semantik der Entscheidung, der Härte, Schwere und Unerbittlichkeit strukturiert diesen Text, wie sie zeitgleich auch in Jüngers »In Stahlgewittern«, Arnolt Bronnens »O.S.«, Heideggers Metaphysik-Vorlesung,431 Carl Schmitts staatstheoretischen Schriften oder der »Heldenfibel« des Bündischen Eberhard Koebel/tusk begegnet. Sie konturiert eine Situation der unbedingten, radikalen Herausforderung, der es sich jetzt und hier zu stellen gilt. Kein Aufschub, kein Moratorium, keine Entlastung von Rollenzumutungen. Noch einmal Salomon: »Was wir wollten, wußten wir nicht, und was wir wußten, wollten wir nicht. […] Der Marsch ins Ungewisse war uns Sinn genug; denn er entsprach den Forderungen unseres Blutes.«432 Mit einer Formulierung aus der klassischen ideengeschichtlichen Untersuchung Christian von Krockows zur »Entscheidung«: Die »Haltung einer inhaltsleeren ›Entschlossenheit‹«433 des jugendlichen Protagonisten tritt hier an die Stelle der Beschreibung scheiternder Orientierungsversuche, wie sie die emphatischen Jugendkonzeptionen der Strauß, Hesse, Wedekind betonen. Nicht jugendliche Individualität, ihre pädagogische Reflexion und der institutionelle Umgang mit ihr sind das Thema, sondern die Gewinnung überindividueller nationaler Gemeinschaft, die als kampfbereites Kollektiv bestimmt wird. Ihren angeblich selbstverständlichen Forderungen an den je Einzelnen hatte sich bereits der als Wandervogel charakterisierte Protagonist Ernst Wurche in Walter Flex’ Bestseller »Der Wanderer zwischen beiden Welten« unterworfen und im Opfertod fürs Vaterland den Höhepunkt seines Lebens gefunden. »Live fast, love hard, die young« wird der Countrysänger Faron Young 1955 postulieren. 427 428 429 430 431

Ebd., S. 93. Ebd., S. 139. Ebd., S. 253. Vgl. ebd., S. 63. Vgl. Winfried Franzen: Die Sehnsucht nach Härte und Schwere. Über ein zum NS-Engagement disponierendes Motiv in Heideggers Vorlesung »Die Grundbegriffe der Metaphysik« von 1929/1930, in: Annemarie Gethmann-Siefert, Otto Pöggeler (Hg.): Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt a. M. 1988, S. 78–93. 432 Salomon: Die Geächteten, S. 63 und S. 142. Die Entscheidung für die Risikovariante des Lebenslaufs zeigt sich in der vielfachen Akzentuierung des Abenteuerlichen; vgl. Daniel Schmidt: Abenteuer Freikorps. Deutsche Konterrevolutionäre zwischen Selbstentgrenzung und Selbststilisierung, in: Nicolai Hannig, Hiram Kümper (Hg.): Abenteuer. Zur Geschichte eines paradoxen Bedürfnisses, Paderborn 2015, S. 185–201. 433 Christian Graf von Krockow: Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Frankfurt a. M. u. a. 1990, S. VIII.

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»Und ich habe Angst vor mir selbst, wage keine Entscheidungen.«434 Wie ein Kommentar zu den »schweren Zeichen« der Jünger, Flex und Salomon liest sich Ernst Ottwalts »Ruhe und Ordnung. Roman aus dem Leben der nationalgesinnten Jugend«, der 1929 als »wahrheitsgetreues Protokoll« vorgestellt wird:435 des Weges eines siebzehnjährigen Gymnasiasten, der ebenfalls in den Freikorps beginnt, dann aber »das Beschämende« konstatieren muss, »daß wir im Grunde nicht einmal wissen, wofür wir kämpfen wollen. […] Wir glauben alles!«436 Diese Einsicht mündet jedoch nicht in die Beschwörung völkischer Gemeinschaft, sondern in den selbstkritischen Rückblick auf die Mittel und Ziele des paramilitärischen Kampfes und die Anerkennung sozialistischer und kommunistischer sozialpolitischer Forderungen.437 ›Jugend‹ meint hier ein – am Ende des Textes – überwundenes Stadium der Außenlenkung, des gleichsam reflexhaften Gehorsams gegenüber überlieferter nationalistischer Phrase, die schon der Romantitel zitiert. Massive Vorbehalte gegen sie formuliert auch Georg Glasers Roman »Schluckebier«, 1932 erschienen, und wie Ottwalts Text im Umfeld der KPD entstanden. Glaser verfolgt mit den Augen seines zu Beginn achtjährigen Protagonisten die Alltagsmisere kleinbürgerlicher Schichten nach dem Ende des Kaiserreichs, beschreibt Unterernährung, Kleinkriminalität, Prostitution. Der prügelnde Vater treibt den Jugendlichen aus dem Haus, ein Leben auf der Straße folgt, Gefängnis, schließlich Einweisung in ein Heim; bei einer Revolte gegen die dortigen Lebensbedingungen wird Schluckebier mit 18 Jahren von der Polizei erschossen. Will man die Botschaft des Textes in einem Satz bündeln: ›Jugend‹ findet nicht statt. Wohl im biologischen Sinn, nicht aber im reformpädagogischen. Der »kleine Schluckebier«, so kommentiert der Erzähler die Untersuchungshaft nach der Festnahme auf einer Erwerbslosendemonstration, »hatte zum erstenmal das Bedürfnis nach Ruhe. Nach einer lang anhaltenden Zeit, in der er sich entwickeln konnte; lesen, lernen, arbeiten, ein Mädel. Saubere, kluge Unterhaltungen.« Die Realität sieht anders aus: »Es war ganz einfach: Die Schläge des Vaters, der Lehrer, der Schupos und die Gesichter der Richter: Das war eine Sache: dieselbe Ursache. Auch das Hungern gehörte dazu.«438

434 Ernst Ottwalt: Ruhe und Ordnung. Roman aus dem Leben der nationalgesinnten Jugend, hg. und mit einem Nachwort versehen von Christian Eger, Halle 2014, S. 70. 435 Ebd., S. 5; vgl. bereits oben das zum George-Kreis Gesagte. Ottwalt greift zu einer Rhetorik der Authentizität, wie sie dann auch für Texte nach 1945 charakteristisch sein wird, vgl. den Abschnitt 6.3 meiner Darstellung. 436 Ebd., S. 88f. 437 Vgl. ebd., S. 139ff. 438 Georg K. Glaser: Schluckebier, in: Georg K. Glaser: Schluckebier und andere Erzählungen. Werke, Bd. 1, hg. v. Michael Rohrwasser, Frankfurt a. M. 2007, S. 99–241, hier S. 147.

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Glasers Text nähert sich dem Genre der sozialdokumentarischen Prosa, der es in den zwanziger Jahren um soziologisch interessierte Beschreibungen zumal großstädtischer Alltagswelten geht.439 Dieser Thematik der Jugendverwahrlosung und der Fürsorgeerziehung wenden sich Autoren mehrfach zu; so Peter Martin Lampel, Ehrenritter des Nerother Wandervogels, 1928 in seinem Theaterstück »Revolte im Erziehungshaus«, das eigene Erfahrungen aufgreift, die bereits in der Reportageserie »Jungen in Not« für Aufsehen bis in den Reichstag gesorgt hatte.440 In diesen Texten fungieren die jugendlichen Protagonisten gleichsam als Sonden, die in spezifische Milieus eingelassen werden, um gesellschaftliche Rahmenbedingungen in ihren gravierenden individuellen Folgen zu analysieren: eine gescheiterte Wirtschafts- und Sozialpolitik, Verarmung, daraus sich ergebende Kriminalität, Jugendarbeitslosigkeit, ausbeuterische Arbeitsbedingungen. Erneut wird deutlich, dass es ›die Jugend‹ der Literatur nicht gibt: Literarische Darstellungen jugendlicher Protagonisten erklären sich zu Anwälten adoleszenter Individualität gegen erzieherische Intervention und institutionelle Normierung. Sie adressieren ›Jugend‹ als Vorbereitung zukünftiger Kulturhöhe, so in der erläuterten Erziehungskonzeption des George-Kreises.441 Literarische Texte nutzen die Jugendsemantik aber auch, um nationalpädagogische Visionen zum Zwecke politischer Mobilisierung zu narrativieren oder – konträr – die zeitgenössische Gesellschaftsformation als defizitär zu bestimmen. ›Jugend‹ zeigt sich mit ihren spezifischen Charakteristika als vielfältig nutzbares Reservoir für kulturphilosophische Argumentation wie als Medium künstlerisch interessanter Formen.442 Ihre Konjunkturen wird man mit der unausweichlichen kulturellen Reflexion auf die Konstitution von Lebensläufen in der Moderne verbinden dürfen, ihren Chancen und gleichzeitigen Risiken, mit Normalitätsentwürfen, Standardisierungen, Individualisierungen.

439 Vgl. Sabina Becker: Die literarische Moderne der zwanziger Jahre. Theorie und Ästhetik der Neuen Sachlichkeit, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 2002, 27. Jg., S. 73–95. 440 Vgl. Michael Rohrwassers Nachwort in seiner Schluckebier-Edition, S. 321–374, hier S. 333. 441 Vgl. oben den Abschnitt 5.2. 442 Dies gilt dann auch für neue Genres wie den »Angestelltenroman«, der sehr wohl auch weibliche Hauptfiguren kennt und auch von Frauen geschrieben wird; vgl. als Übersicht Erhard Schütz: Romane der Weimarer Republik, München 1986, S. 160–183: Fleißer, Tergit, Baum, Keun, Fallada, Kästner. Irmgard Roebling macht auf die »neuen Frauenbilder in der Literatur von Frauen« um 1930 (bei Baum, Fleißer, Keun) aufmerksam: Berufstätigkeit, Selbstbewusstsein in der Ablösung von den Eltern und in der Partnerwahl; »Sei jung. Immer und überall jung!«. Die Darstellung weiblicher Jugend in Texten von Autorinnen der Weimarer Republik, in: Klaus Michael Bogdal, Ortrud Gutjahr, Joachim Pfeiffer (Hg.): Jugend. Psychologie – Literatur – Geschichte, Würzburg 2001, S. 259–288, S. 283.

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»Dieses junge siegreiche Deutschland«. Traditionen und Aspekte des nationalsozialistischen Jugendkonzepts

»Deutschlands Jugend bewahrt das Vermächtnis der Front im großen Kriege und des Kampfes der nationalsozialistischen Bewegung«, so Generalfeldmarschall Hermann Göring 1938: »Langemarck hat seinen einzigartigen historischen Klang, weil dort die junge Mannschaft kämpfte und starb, die freiwillig aus Lehrstatt, Schule und Elternhaus zu den Fahnen geeilt, unbekümmert um Herkunft und Beruf zu einer einzigen großen Kameradschaft verschmolzen war und sich mit flammender Begeisterung und Todesverachtung für Volk und Reich einsetzte. In den Kämpfen um diesen kleinen flandrischen Ort bewährten sich heldische Gesinnung, Opfermut und Siegeswille der Jugend.«443

Görings Katalog jugendlicher Tugenden bezeichnet wesentliche Anforderungen an die heranwachsende Generation im Hitler-Staat. Zugleich zeigt sich, dass solche Emphase zwar die Jugend beschreiben will, aber nicht nur sie: Göring nennt Eigenschaften eines soldatischen Habitus, der als männliches Leitbild schlechthin nationalsozialistische Verhaltenslehren prägt. Ihre Kontinuitätslinien und Neuakzentuierungen sollen im Folgenden vor dem Hintergrund der skizzierten modernen Jugendkonzeptionen benannt werden. Zunächst werden einige der bislang diskutierten Entwicklungslinien resümiert, um die Zäsur einschätzen zu können, die sich mit der Etablierung des nationalsozialistischen Staats zumindest in Deutschland abzeichnet und auch die Postulate des Neubeginns nach 1945, und sei es durch Distanzierung, prägen werden. Dass moderne Gesellschaften, wie sie sich in Westeuropa seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausbilden, über Lebensphasen, Lebensläufe und Generationenabfolgen nachdenken, ist nicht verwunderlich. Die allmähliche Freisetzung des Individuums aus ständischen Bindungen bringt die Notwendigkeit mit sich, die Offenheit des Lebenslaufs offensiv zu gestalten, nicht länger nur auf die Vorgaben der Herkunftsfamilie zu vertrauen, sondern eigeniniativ Chancen und Risiken dieser Herausforderung zu begegnen. Die bereits behandelten literarischen Texte, von Goethes »Werther« bis Glasers »Schluckebier«, haben sich seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts des Themas vom scheiternden oder gelingenden Lebenslauf immer wieder angenommen. Vom Bildungsroman über Tagebücher, Biographien und Autobiographien bis hin zur oft vernachlässigten Kinder- und Jugendliteratur werden dieses zentrale Problem und seine kulturelle Begleitsemantik reflektiert, mit der Formen individueller Sonderwege charakterisiert sind. Das Genie, der Schwärmer, der Epigone: Fi443 Geleitwort in: Langemarck. Das Opfer der Jugend an allen Fronten, hg. v. Günter Kaufmann in Verbindung mit dem Arbeitsausschuß Langemarck beim Jugendführer des Deutschen Reichs, Stuttgart 1938, o. S.

»Dieses junge siegreiche Deutschland«

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guren der literarischen Rede über Normalität und Abweichung von Lebensentwürfen in der Moderne. Von der Jugend wird in diesen Texten allenthalben gesprochen. Vielfach folgen sie dem »Émile« Rousseaus, den die Erziehungswissenschaft zu ihren Gründungsvätern zählt. Das »pädagogische Jahrhundert« der Aufklärung erhält einen Aufsehen erregenden Impuls, der in vielerlei Hinsicht quer zu den geläufigen pädagogischen Konzeptionen eines Campe oder Basedow steht. Nicht um die allmähliche Einführung in die Welt der vernünftigen Väter geht es, sondern um den Schutz des Heranwachsenden vor ebendieser Welt, die Rousseau als egoistisch, materialistisch und moralisch korrupt beschreibt: Bürger zu werden und Mensch zu bleiben – ein unmögliches Unterfangen, wird der Mensch doch gut geboren und gesellschaftlich verdorben. Schon Goethes Werther sieht Natur und Kunst durch Kalkül und Konvention bedrängt; bürgerliche Philister und adelige Pedanten bedrohen die unbedingte Liebe, die doch menschliche Existenz ohne Rücksicht auf Rollenzuweisungen und beruflichen Erfolg meint. Die »Welt«, die Werther in sich zu finden glaubt, bezeichnet jene Differenz, die literarisch den Jugendlichen und den jungen Erwachsenen von der Welt des bürgerlichen Normalverhaltens unterscheidet. Werthers soziale Ortlosigkeit impliziert einen Schwellenzustand: zwischen Unmündigkeit und Eigenverantwortung, auch im juristischen Sinn, zwischen Erwartungen von außen und innengeleiteten Entwürfen eines selbstbestimmten Lebens, zwischen Abhängigkeiten von familiären wie beruflichen Anforderungen und Visionen unentfremdeten Bei-sich-Seins. Es ist diese emphatische Definition von Entwicklung mit ihrer Absetzung gegen das der Starrheit verdächtige Alter, das Erwachsensein, die Generation der Väter und Mütter, die im 19. und 20. Jahrhundert zumindest den einen markanten Pol gesellschaftlicher Debatten über die Jugend besetzt. Rousseaus Pointe von der »zweiten Geburt« meint ein psychosoziales Moratorium, einen gesellschaftlich zugestandenen Schutzraum für die Selbstfindung des Jugendlichen, dessen Reifeprozess als Krise interpretierbar ist. Experten und Institutionen beobachten deren Instabilität, die Anlass zu pädagogischer Sorge ebenso gibt wie zu Hoffnungen auf kulturelle Erneuerung aus dem Geiste jugendlicher Tatkraft.444 Allerdings konstatieren Sozial- und Bildungsgeschichte, dass solche geschichtsphilosophisch inspirierten Konstruktionen von Jugend vorwiegend für männliche Adoleszenten aus Mittelschichten zutreffen. Weder Jugendlichen aus Unterschichten, die wenigen Autobiographien wie die des Schweizer Bergbauernsohns Ulrich Bräker berichten im 18. Jahrhundert davon, noch heranwachsenden Mädchen werden solche Freiräume zugestanden. 444 Vgl. Jürgen Zinnecker: Jugend der Gegenwart – Beginn oder Ende einer historischen Epoche?, in: Dieter Baacke, Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Neue Widersprüche. Jugendliche in den 80er Jahren, Weinheim u. a. 1985, S. 24–45; Jürgen Oelkers: Reformpädagogik.

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Nur in Ausnahmefällen werden pragmatische Generationenfolgen oder Geschlechtsstereotype außer Geltung gesetzt, um ›Identität‹ finden, um Selbst- und Fremdentwürfe erproben zu können.445 Als kulturelles Konstrukt ist Jugend nicht in der sozialen Hierarchie verortet, steht jenseits der Klassen, meint im Gegenteil Auflösung solcher Fixierung durch fortwährende Bewegung, produktive Unruhe, zukunftsoffene Lebensformen. Die Schriftsteller des Sturm und Drang, des Jungen Deutschland oder des Expressionismus inszenieren ihre Literaturrevolutionen im Medium solcher Semantik der Jugend, die sich dem Alten rigoros verweigert, durch die Kompromisslosigkeit des Neubeginns kulturelle Legitimität beansprucht. Die Entwicklungspotentiale der Jugend verweisen auf die der Kultur. Diesem futurisierten Jugendkonzept, das bis in unsere Gegenwart nicht nur die Botschaften der Marketing-Experten durchzieht, steht eines gegenüber, das auch in Werthers Melancholie schon anklingt: Jugend ist ein Stadium des Risikos. Als eine Phase der Labilität meint Jugend auch hier Schwelle und Übergang, aber diese Instabilität indiziert weniger neue Ufer als Gefahr: für das einzelne Individuum und seinen sozialen Verband. Der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aufkommende Begriff des Jugendlichen steht für diese Sorge der Autoritäten, die zumal Heranwachsende aus kleinbürgerlichen und Arbeitermilieus des Verlusts sozialer Verantwortung, der Gleichgültigkeit gegenüber tradierten Normen bis hin zur Verwahrlosung bezichtigen.446 Wo weder christliche Demut noch patriotischer Enthusiasmus sichtbar sind, werden staatliche Institutionen tätig; Jugendstrafrecht, Jugendpsychiatrie und Jugendfürsorge nehmen sich sozialer Devianz systematisch an. Aber auch abseits solcher Drastik des sozialdisziplinierenden Zugriffs zeigt sich am Ende des 19. Jahrhunderts eine forcierte Reflexion auf Differenzen von Altersphasen, ihre je eigene Qualität und ihre sozialen Konsequenzen. Das im letzten Kapitel behandelte Genre der »Schulgeschichte« konstituiert sich über die Konfrontation von institutioneller Erwartung und individueller Disposition.447 Texte ganz unterschiedlicher Faktur wie Wedekinds »Frühlings Erwachen«, Strauß’ »Freund Hein«, Hesses »Unterm Rad«, Musils »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« und noch Torbergs »Der Schüler Gerber«, 1930 erschienen, 445 Vgl. Mitterauer: Sozialgeschichte; vgl. auch die einschlägigen Artikel im mehrbändigen Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, hg. von Christa Berg u. a. München 1987ff. 446 Vgl. Herrmann: »Jüngling«; Stefan Ruppert: Vom Schulpflichtigen zum jungen Straftäter. Der Wandel des deutschen ›Jugendrechts‹ im 19. Jahrhundert, in: Dorothee Elm, Thorsten Fitzon, Kathrin Liess, Sandra Linden (Hg.): Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin u. a. 2009, S. 277–299. 447 Vgl. Whittaker: Überbürdung sowie zum Spektrum der Texte York-Gothart Mix: Die Schulen der Nation. Bildungskritik in der Literatur der frühen Moderne, Stuttgart u. a. 1995; Matthias Luserke: Schule erzählt. Literarische Spiegelbilder im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1999.

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demonstrieren die strukturelle Misere der Obrigkeitsschule wie das Unverständnis beamteter Pädagogen und Eltern für den Adoleszenten. Postulate der Reformpädagogik, die auf dem Eigenrecht der Jugend gegenüber institutionalisierten Anforderungen besteht, werden in narrative Form gebracht, im Gegenzug verweisen Schulkritiker auf die Dignität literarischer Einwände gegen deutsche Bildungsdefizite und weiten die Reformdebatten zu kulturkritischen Grundsatzdiskussionen.448 Zwar sind die literarischen Darstellungen selbstmordgefährdeter Jugendlicher nicht ohne Sensationswert für die öffentliche Wahrnehmung, quantitativ bedeutsamer aber sind die Organisationen deutsche Jugendlicher seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Der Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner stellt 1913 den Höhepunkt dieser Sammlungsbewegungen im Zeichen jugendlichen Selbstbewusstseins dar, das mit eigener Kleidung, neuartigen Freizeitangeboten und eigenen Publikationen eine Alternative zu herkömmlichen Sozialformen wie dem bürgerlichen Verein propagiert.449 Der programmatischen Orientierung an Gleichaltrigen entspricht die Absage an die wilhelminischen Sozialisationsinstanzen, von der Familie über die Schule bis hin zu studentischen Verbindungen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs allerdings marginalisiert die Betonung jugendlicher Eigenverantwortung; auch zahlreiche Jugendbewegte sind unter den Kriegsfreiwilligen, integrieren sich den patriotischen Erwartungen. Während der Weimarer Republik erhalten sich die schon immer vorhandenen Differenzen innerhalb der Jugendbewegung, nun zusätzlich verschärft durch das Auftreten der Bünde, die im äußeren Erscheinungsbild wie in ihrem Selbstverständnis und ihren politischen Absichten durchaus konträre Positionen einnehmen, mit völkischen bis hin zu sozialistischen Ideologemen die Bandbreite der Weimarer politischen Debatten spiegeln.450 Nicht zuletzt die Jugendbewegung forciert die Ablösung des Begriffs der Jugend von biologisch und kulturell im 19. Jahrhundert relativ präzisen Kriterien für die Lebensphase zwischen Schulentlassung/Konfirmation und Wehrdienst/ Gründung eines eigenen Hausstandes. Jugend (als Jungsein) wird im 20. Jahrhundert »auch zum Etikett für einen Lebensstil, der vom Alter tendenziell unabhängig« ist, und avanciert zugleich zu »einer vielfältig verwendbaren, mit vielen positiven Konnotationen gefüllten Worthülse« in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Debatten.451 Jugend avanciert zum Mythos, dessen Facetten in 448 Vgl. im vorliegenden Band die Ausführungen zu Hesses »Unterm Rad« im Abschnitt 5.1. 449 Vgl. Winfried Mogge: Wandervogel, Freideutsche Jugend und Bünde. Zum Jugendbild der bürgerlichen Jugendbewegung, in: Koebner u. a. (Hg.): Zeit, S. 174–198. 450 Vgl. Walter Laqueur: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 21983, S. 113ff. 451 Jürgen Reulecke: Jugend und »Junge Generation« in der Generation der Zwischenkriegszeit, in: Dieter Langewiesche, Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungs-

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literarischen Texten narrativiert werden. »Der Wanderer zwischen beiden Welten« (1916) verbindet jugendbewegte Lebensform mit patriotischer Emphase im Bericht über soldatische Kameradschaft junger Soldaten an der Ostfront, beglaubigt durch den Kriegstod seines Verfassers Walter Flex. Die nationalsozialistische Propaganda für Arbeitslager als Keimzellen jugendlicher Selbstfindung, im Rahmen nationalsozialistischer Formierung der Jugend wohlgemerkt, wird dieses Erfolgsbuch (Auflage 1940: 682.000 Tsd. Exemplare) als Maßstab vermerken.452 Diese Verwendung als Kampfbegriff und Chiffre in gesellschaftspolitischen Kontroversen zeigt sich besonders prägnant in der Verknüpfung mit der Mythisierung Langemarcks, eines kleinen flandrischen Orts, in dessen Nähe im November 1914 neugebildete Freiwilligenregimenter unter hohen Verlusten gegen die westalliierten Stellungen gestürmt waren. Diese Operation ohne strategischen Nutzen wird seit den zwanziger Jahren, Görings eingangs zitierte Sätze sind noch ein Beleg dafür, »zum Symbol verselbständigt«.453 Heldenmut und Opferbereitschaft der Jugend für Volk und Vaterland, so der Tenor keineswegs nur im völkischen und konservativen Lager, seien hier eine Verbindung eingegangen, die zur Grundlage politischen und kulturellen Aufschwungs für das gedemütigte Deutschland werden müsse. Anschließen können diese vielfach bildungsbürgerlichen Versuche einer Geschichtsmythologie an geläufige Attribute der Rede über Jugend: ihre Verortung jenseits sozialer Differenzierung, ihre altruistische Begeisterungsfähigkeit, ihre Offenheit für Veränderung und ›Bewegung‹. Aus dem Impuls der angeblich das Deutschland-Lied singenden Freiwilligentruppen wird so auf eine zukunftsträchtige soziale Formation geschlossen: Die Gemeinschaft der Frontsoldaten bildet den Kern einer Volksgemeinschaft der Deutschen: »Zum ersten Male tönt in ihrem Liede das andere, das ewig junge Deutschland auf, das Jahrzehnt um Jahrzehnt gegen den Geist des Alters und des Stoffes, der Angst und des

geschichte. Bd. V 1918–1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 86–110. S. 87. 452 Vgl. Hans Raupach: Junge Mannschaft im Arbeitsdienst, in: Will Vesper (Hg.): Deutsche Jugend. 30 Jahre Geschichte einer Bewegung, Berlin 1934, S. 226–236, S. 235. Vgl. Irmela von der Lühe: Der Wanderer zwischen beiden Welten von Walter Flex, in: Marianne Weil (Hg.): Wehrwolf und Biene Maja. Der deutsche Bücherschrank zwischen den Kriegen, Berlin 1986, S. 107–125; Justus H. Ulbricht: Der Mythos vom Heldentod – Entstehung und Wirkung von Walter Flex’ »Der Wanderer zwischen beiden Welten«, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1986–87, Bd. 16, S. 111–156; Jürgen Reulecke: Eine junge Generation im Schützengraben, »Der Wanderer zwischen beiden Welten« von Walter Flex, in: Dirk van Laak (Hg.): Literatur, die Geschichte schrieb, Göttingen 2011, S. 151–164. 453 Uwe-K. Ketelsen: »Die Jugend von Langemarck.« Ein poetisch-politisches Motiv der Zwischenkriegszeit, in: Koebner u. a. (Hg.): Zeit, S. 68–96. S. 73.

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Verstandes kämpft – wie lange noch? Dieses junge siegreiche Deutschland hat die untrennbare Einheit von Macht und Innerlichkeit des Reiches begriffen«.454

Wird in solchen Einlassungen der Versuch unternommen, den historischen Prozess in einem transhistorischen Schema alt/jung zu denken, so wird gleichzeitig vor der Inflationierung des Begriffs gewarnt: »Die wichtigste Ursache dieser Jugendpsychose ist die nach jedem Krieg auftretende Überbewertung der Jugend.«455 Ihre unausgesetzte Beschwörung entspreche nämlich keineswegs ihrem faktischen gesellschaftlichen Einfluss, vielmehr sei die »Überalterung unseres politischen und kulturellen Lebens« zu konstatieren, und es zeige sich, »daß es unmöglich war, einen neuen Staat und ein neues Geisteserlebnis aus dem Fronterlebnis heraus aufzubauen und zu gründen«.456 Die nicht zu überschätzende Bedeutung des Weltkriegs wird auch in der Rede über Altersphasen und ihre soziale Relevanz sichtbar: in der Konjunktur von Generationskonzepten, die nicht nur in der sich akademisch konsolidierenden Soziologie, sondern zumal in sozialpsychologischen Diagnosen zentral sind. »Ich schreibe das Lebensgefühl der jungen Generation«, so werden ihre Intentionen legitimiert, die immer wieder auf den nicht nur politisch-sozialen, sondern eben auch mentalitätsgeschichtlichen Bruch in der deutschen Geschichte nach 1918 verweisen: jenes »Geschlechts, dessen seelische Haltung erst sich bildete, als die großen Kämpfe vorüber« waren.457 Dessen Homogenität wird vielfach hoch angesetzt und gemeinsamen Negationen abgelesen; es zeige sich, »daß wir geschieden sind von den Andern, den Älteren. Daß wir an Dingen hängen, die sie gar nicht kennen, und daß wir vieles verlachen, was ihnen heilig ist.« Die vom Generationsbegriff unterstellte Einheit findet sich entsprechend betont, wenn immer wieder von der »Haltung« die Rede ist, die einzelne Einstellungen übergreift und eine Handlungsgrammatik im Sinne des Bourdieuschen Habitus-Begriffs anvisiert: Man will »mitschaffen am Stil unserer Generation«458, will ihre historische Mission profilieren: »Das zwanzigste Jahrhundert gehört uns. […] Aus der Generation der Enterbten wird jetzt die Generation der Berufenen, wird einst die Generation der Erwählten werden. […] Das heißt: wir empfinden uns als Werkzeug eines höheren Willens.«459 454 Josef Magnus Wehner: Langemarck, in: Adam Weyer (Hg.): Reden an die deutsche Jugend im zwanzigsten Jahrhundert, Wuppertal-Barmen 1966, S. 71–75. S. 73. 455 Leopold Dingräve [d.i. Ernst Wilhelm Eschmann]: Wo steht die junge Generation?, Jena 3 1933, S. 11. 456 Ebd., S. 12f. 457 Frank Matzke: Jugend bekennt: So sind wir!, Leipzig 21930, S. 6. Das folgende Zitat S. 7. 458 Ebd., S. 5. Vgl. entsprechende Generationskonstrukte in den Jahren nach 1945 (dazu hier im Abschnitt 6.3). 459 E. Günther Gründel: Die Sendung der Jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise, München 21932, S. 440f., i.Orig. teilw. gesperrt.

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Gegenwärtig, so fordert ein Student 1932, »müssen wir alle radikal sein, denn die flaue Politik der Gegenwart muß nur abstoßen«. Die Jugend »ist gewillt, zu dienen, aber nur, wenn sie spürt, daß man ihren Ideen entgegenkommt. Und das sind die Eigenschaften, die sie ihr eigen nennen will: problembewußt …opferbereit… – einfach…und stark.«460 Auf solche Bekundungen der Ablehnung des Weimarer Staates kommen die Nationalsozialisten am Ende der zwanziger Jahre und verstärkt nach der Übernahme der Regierungsgewalt 1933 zurück. Bereits die Orientierung bündischer Jugendlicher an sozialen Hierarchien und charismatischer Führung wie die verbreitete Begeisterung für antiparlamentarische Propaganda mit ihrer Beschwörung des »Erlebnisses« besonders des Weltkriegsteilnehmers liefert aus bestehenden Jugendorganisationen heraus Möglichkeiten der Anknüpfung für die Prinzipien völkischer Sammlung. Und auch der Gegentypus des ›sachlichen‹ Jugendlichen mit seiner Begeisterung für Sport und Technik, der bereits Mitte der zwanziger Jahre beobachtet wird,461 kann sich in der nationalsozialistischen Programmatik wiedererkennen. Denn, so Baldur von Schirach, die Hitler-Jugend sei »eine Gemeinschaft der Jugend, in der es kein anderes Gesetz des Aufbaues geben sollte als das der Leistung« in »Zucht und Ordnung«.462 Seiner Geschichte der Organisation stellt der von Hitler 1931 zum »Reichsjugendführer der NSDAP« (ab Juni 1933: »Reichsführer der deutschen Jugend«) ernannte von Schirach dessen Motto »Jugend muß von Jugend geführt werden!« voran. Es zeichnet diese Jugendpolitik aus, dass die seit Jahrzehnten postulierte Eigengesetzlichkeit der Jugend und ihr Anspruch auf Selbstverantwortung zunächst rhetorisch betont, gleichzeitig aber institutionell dementiert werden. Die HJ, 1926 auf dem Weimarer Parteitag der NSDAP gegründet, zählt gegen Ende der Weimarer Republik nur 40.000 Mitglieder und gehört damit zu den kleineren

Michael H. Kater stellt entsprechend der Einleitung in seine Geschichte der Hitler-Jugend das Gregor Straßer-Zitat »Macht Platz, Ihr Alten!« voran; Hitler-Jugend. Aus dem Englischen von Jürgen Peter Krause, Darmstadt 2005, S. 7ff. Erneut zur Verdeutlichung der extremen Bandbreite zeitgleicher Jugendkonzepte: Klaus Manns Diagnosen zur Lebenssituation seiner Altersgenossen am Ende der Weimarer Republik sprechen von Orientierungslosigkeit und sozialer Isolation, die Emphase der Gründel und Straßer ist undenkbar; vgl. Klaus Michael Bogdal: Der zögernde Prinz. Klaus Mann und die »Junge Generation«, in: Bogdal u. a. (Hg.): Jugend, S. 303–321. 460 Neue Energien in der Jugend. Von einem jungen Studenten, in: Zeitschrift für Deutschkunde, 1932, S. 536–542, S. 542. 461 Vgl. Dingräve: Generation, S. 25; Reulecke: Jugend, S. 103; Kathrin Kollmeier: Ordnung und Ausgrenzung. Die Disziplinarpolitik der Hitler-Jugend, Göttingen 2007; zum gesellschaftsgeschichtlichen Gesamtzusammenhang vgl. Jörg Echternkamp: Das Dritte Reich. Diktatur, Volksgemeinschaft, Krieg, Berlin u. a. 2018, S. 63ff. 462 Baldur von Schirach: Die Hitler-Jugend. Idee und Gestalt, Leipzig 1938, S. 7.

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Jugendorganisationen politischer Parteien.463 Anfang April 1933 lässt von Schirach die Geschäftsstelle des Reichsausschusses Deutscher Jugendverbände besetzen und beansprucht die Leitung für sich. In kurzer Zeit werden die bestehenden Jugendverbände verboten, aufgelöst oder zwangsintegriert, wenn sie nicht, wie einige rechtsgerichtete Jugendorganisationen, sich der HJ freiwillig anschließen; nur die katholischen Jugendverbände genießen durch das Reichskonkordat einigen Schutz. Die Mitgliederzahl der HJ steigt bis Ende 1934 auf 3,577 Mio., zum Kriegsbeginn 1939 auf 8,7 Mio.,464 die Mitgliederzahl des »Bundes deutscher Mädel« von 24.000 auf 1,334 Mio. Die nationalsozialistische Politik zielt auf eine möglichst umfassende und lückenlos kontrollierte Organisation der Jugend. Die Vielzahl der Untergliederungen ist explizit als Netz von Sozialisationsinstanzen ausgelegt, die das »Gegeneinander der alten Erziehungsmächte« einschließlich der Familie ersetzen soll, deren »Wirkung am stärksten in den ersten Lebensjahren« anzusetzen sei, sich aber drastisch verringere »in dem Maße, wie Partei und Staat sich in die Erziehung einschalten«.465 Komplementär zum rigiden organisatorischen Druck auf Jugendliche im Hitler-Staat verhalten sich die unterschiedlichen Ansätze ideologischer Formierung. Auch hier sind Kontinuitäten zu Jugendattributen aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts erkennbar. So, wenn Begeisterung, Hingabefähigkeit und Gemeinschaftserlebnis betont466 oder poetische Neigungen gegen utilitaristische Gesinnung ausgespielt,467 aber auch Sachlichkeit und Realitätssinn hervorgehoben werden.468 Dem entsprechen jugendliterarische Texte wie Karl 463 Vgl. Arno Klönne: Jugend im Dritten Reich. Die Hitler-Jugend und ihre Gegner. Dokumente und Analysen, Düsseldorf u. a. 1982, S. 19. Zum Vergleich: Die Jugendverbände der beiden großen Kirchen zählten ca. 1,6 Mio. Mitglieder, die Sozialistische Arbeiterjugend 90.000. Die folgenden Zahlenangaben S. 34. Eine komprimierte Übersicht zur nationalsozialistisch motivierten »Umkehrung traditioneller generationeller Ordnungen« bietet Dietmar Süß: »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«. Die deutsche Gesellschaft im Dritten Reich, München 2017, S. 59–73; das Zitat findet sich auf S. 57; vgl. Echternkamp: Reich, S. 57ff., zum Kontext der »Volksgemeinschaft«. 464 Echternkamp: Reich, S. 58. 465 So der SS-Sturmbannführer, Ministerialrat und Gesamtleiter des Deutschen Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht, Rudolf Benze: Totaler Erziehungsanspruch, in: Hans-Jochen Gamm (Hg.): Führung und Verführung. Pädagogik des Nationalsozialismus, München 3 1990, S. 83f. Charakteristisch ist der mit der ›totalen‹ Erfassung einhergehende Stigmatisierungsimpuls, vgl. Alfons Kenkmann: Zwischen Inklusion und Exklusion. Handlungsoptionen und Zukünfte von Kindern in der NS-Zeit, in: Jens-Christian Wagner (Hg.): Zwischen Verfolgung und »Volksgemeinschaft«. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus, Göttingen 2020, S. 13–21. 466 Vgl. Baldur von Schirach: Revolution der Erziehung, München 21939, S. 33–36. 467 Vgl. Paul Alverdes: Dichter und Jugend (1935), in: Paul Alverdes: Dank und Dienst. Reden und Aufsätze, München 1939, S. 89–96, S. 93ff. 468 Vgl. Ulrich Nassen: Jugend, Buch und Konjunktur. Studien zum Ideologiepotential des genuin nationalsozialistischen und des konjunkturellen »Jugendschrifttums« München

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Aloys Schenzingers Bestseller »Der Hitlerjunge Quex«, der zwischen 1932 und 1942 eine Auflage von 325.000 Exemplaren erreicht.469 In Romanform wird der Weg des fünfzehnjährigen Arbeitersohns Heini Völker erzählt, der, von proletarischen Jugendgruppen enttäuscht und gegen den Willen des Vaters, sich in die HJ einreiht. Bei einem Überfall, vermutlich kommunistischer Rivalen, wird er erschlagen und findet sein Grab neben gefallenen Kameraden. Die Schlusssätze sind dem Reichsjugendtag der NSDAP 1932 vorbehalten: »Fünfundsiebzigtausend Jungens ziehen mit den gleichen Fahnen, mit dem gleichen Lied, aber mit strahlend hellen Gesichtern an ihrem Führer vorbei.«470 Nicht zufällig ist es diese Uniformität der Massenbewegung, die Heini am Lagerleben der HJ fasziniert: »Einer sah aus wie der andere«.471 Die Rituale, vom Absingen des Horst-WesselLieds über Mahnwachen bis zu den Sonnwendfeiern, paramilitärische Geländespiele und Kameradschaftsabende im Zeichen weltanschaulicher Schulung, sichern jene »Totalität der HJ«,472 die nationalsozialistische Mobilisierung und Vereinheitlichung im Hinblick auf historische Konfliktlinien meint. Die Einheit der Jugend, die im Gemeinschaftserlebnis sichtbar wird, ist ihr wahres Telos,473 unter dem individualistischen Selbstmissverständnis einer liberalen Staatsorganisation nur verdeckt, aber nicht ausgelöscht. Markiert der »Mythos des Knabenopfers«474 in »Hitlerjunge Quex« die eine Kontinuitätslinie zu den zwanziger Jahren, so der Langemarck-Mythos die andere. Der »Geist von Langemarck«475 gilt als Vorschein jener Volksgemeinschaft, die im nationalsozialistischen Staat angeblich ihre Realisierung findet. Literarische Texte unternehmen es, die »Jugend von Langemarck« in ihren Motiven und ihrem heroischen Einsatz für Volk und Vaterland zu zeigen. Als »Opfergang der deutschen Jugend« erscheinen Kriegsbegeisterung und Schlachtentod einer Gruppe von Studenten der Archäologie. Das »von den Stürmenden gesungene

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1987, S. 22. Vgl. zum Piloten als jugendlichem Heros der Technik Erhard Schütz: Flieger – Helden der Neotonie. Jugendlichkeit und Regeneration in Literatur, Massenmedien und Anthropo-Biologie. Eine Studie zur unspezifischen Modernität des ›Dritten Reiches‹, in: Erhard Schütz, Gregor Streim (Hg.): Reflexe und Reflexionen von Modernität 1933–1945, Bern u. a. 2002, S. 83–107. Vgl. Winfred Kaminski: Faschismus, in: Reiner Wild (Hg.): Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur, Stuttgart 1990, S. 266–284. S. 267. Karl Aloys Schenzinger: Der Hitlerjunge Quex, Berlin 1932, S. 264. Vgl. als Gesamtinterpretation, auch zur Verfilmung, Dirk Schumann: Der Hitlerjunge Quex, in: Christoph Bräuer, Wolfgang Wangerin (Hg.): Unter dem roten Wunderschirm. Lesarten klassischer Kinder- und Jugendliteratur, Göttingen 2013, S. 131–140. Schenzinger: Hitlerjunge, S. 46. Schirach: Hitler-Jugend, S. 23. Vgl. Joachim Schmitt-Sasse: »Der Führer ist immer der Jüngste«. Nazi-Reden an die deutsche Jugend, in: Koebner u. a. (Hg.): Zeit, S. 128–149, S. 130; vgl. Kollmeier: Ordnung, S. 91ff. Nassen: Jugend, S. 29. Vgl. Harry Schumann: Der Geist von Langemarck. Das Erlebnis von 1914, Dresden 1934.

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Deutschland-Lied«, ein Topos offizieller Verlautbarungen über das Kriegsgeschehen wie seiner literarischen Umsetzungen, beherrscht die Schlussszene, in der die Gefallenen durch »neue Marschkolonnen« ersetzt werden.476 Dieser historischen Makrobewegung einer Unversehrbarkeit des Deutschen Reichs entspricht auf der Mikroebene die Annäherung des studentischen Protagonisten an den Schlossergesellen, der im Sterben mit dem Burschenschaftsband ausgezeichnet wird. Entsprechend kann ein aus dem Krieg heimgekehrte Arbeiter an die Stelle des gefallenen Fabrikbesitzers treten, um seiner »Pflicht« zu genügen: »Jeder einzelne Deutsche, wo er auch stehen mag, wird in Zukunft nichts anderes sein können, als Soldat und Arbeiter. […] Sie starben für Langemarck –/Wir leben – für Langemarck!«477 »Wir wollen einst keine Klassen und Stände mehr sehen«, so Hitlers Appell an die Jugend.478 Es ist diese soziale Entdifferenzierung, die der Langemarck-Mythos verspricht, wenn die mit ihm artikulierte Frontgemeinschaft der Studenten und Kleinbürger, der Arbeiter und Industriellen als im Zeichen von Jugend geeinte auf die nationalsozialistische Volksgemeinschaft vorausdeutet. Nur ist diese Vorläuferschaft keine tatsächliche Nobilitierung der Jugend, sondern die Negation der mit ihr traditionell verbundenen, Individualität beanspruchenden Disposition. Nicht dem ›unendlichen Streben‹ deutscher Jünglinge widmen sich diese Texte, sondern ihrer Einschwörung auf Disziplin, auf Entindividualisierung, auf Funktionalität nach Maßgabe völkischer Imperative: »Das Dritte Reich liquidiert mit dem Mythos Jugend auch die Momente der Opposition, die in ihn eingegangen waren. Die Unruhe, Offenheit und Veränderungsbereitschaft, die er versprach, waren der etablierten Gewaltherrschaft ein Ärgernis.«479 Schon Schenzingers »Hitlerjunge Quex« beobachtet proletarische Jugendgruppen, denen seine Familie zunächst nahesteht, mit Abneigung. Materialistische Gesinnung, undiszipliniertes Auftreten, Raufereien, spontane Aktionen, Intimitäten mit Mädchen: Solchen Formen einer offensichtlich missverstandenen Jugendlichkeit erteilt die Hitler-Jugend eine Absage. Staatlichen Institutionen sind sie nach 1933 Anlass zu massiven Eingriffen. Denn die von nationalsozialistischen Funktionsträgern immer wieder propagierte monolithische Geschlossenheit nicht nur der Jugend, sondern der rassisch gereinigten Bevölkerung insgesamt, wird nicht erreicht. Vielmehr zeigt sich eine erstaunlich vielfältige Subkultur von Jugendlichen, die der per Gesetz vom 01. 12. 1936 zur Staatsjugend erklärten HJ gleichgültig bis feindlich gegenüberstehen. Dieses 476 Vgl. Edgar Kahn, Max Monato: Langemarck. Der Opfergang der deutschen Jugend, Berlin 1933, S. 69, S. 75. 477 Heinrich Zerkaulen: Jugend von Langemarck. Ein Schauspiel in drei Akten und einem Nachspiel, Leipzig 1933, S. 70ff. Vgl. Ketelsen: Jugend, S. 84f. 478 Adolf Hitler: Rede zum Tag der Jugend 1934, in: Weyer (Hg.): Reden, S. 159–163, S. 160. 479 Vorwort der Herausgeber, in: Koebner u. a. (Hg.): Zeit, S. 9–13, S. 11.

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Spektrum der Verhaltensweisen zwischen Resistenz, Nonkonformität, Protest und offenem Widerstand erzeugt bei den mit Jugend befassten Organisationen des Hitler-Staates nicht nur Unverständnis, sondern eine Brutalisierung des disziplinierenden Umgangs, die in den Kriegsjahren Folter in Gestapo-Kellern und Todesurteile mit anschließender öffentlicher Exekution zulässt.480 Dieser pauschalen Exkommunikation der Nicht-Angepassten steht deren soziale und motivationale Inhomogenität gegenüber: Jugendliche aus Arbeitermilieus führen Aktivitäten der sozialistischen und kommunistischen Jugendorganisationen aus der Weimarer Zeit fort; katholische Jugendliche legen ihre Treffen auch als Kontakt zu anderen Dissidenten an; Bünde wie dj. 1.11. und der Nerother Wandervogel setzen jugendbewegte Selbstorganisation den Zwängen staatlicher Subordination entgegen. Noch die jungen Erwachsenen um die Geschwister Scholl artikulieren 1942/43 solche Traditionen. Wie man nicht für jedes Mitglied von BDM und HJ eine bewusste Entscheidung für den Nationalsozialismus unterstellen wird, so gilt Ähnliches für die opponierenden Jugendgruppen. Hier ist nicht selten ein subkultureller Stil, nicht die dezidiert begründete politische Position, der Anlass zur Konfrontation mit staatlichen Instanzen. Zumal im Bereich der schon von Schenzinger denunzierten sog. »Wilden Cliquen«, die sich als »Piraten« und »Indianer« markieren, überdauern jugendliche Lebensstile in Großstädten wie Köln, Hamburg und Leipzig mit den Attributen des »Halbstarken«, der schon um 1910 zum Schreckbild bürgerlicher Jugendpflege geworden war: Alkohol- und Zigarettenkonsum, spontane Freizeitaktivitäten (anstelle des immer wieder verhöhnten HJStreifendienstes), Provokationen der offiziellen Jugendorganisationen bis hin zu Überfällen und Sabotage. Auch die Alltagskultur zeigt sich als Nische, als Reservoir widerständiger Verhaltensweisen, wenn die von der offiziellen Kulturpolitik verfemten nordamerikanischen Musikrichtungen wie Jazz und Swing mit den entsprechenden Tanz- und Modestilen zur Unterscheidung jugendlichen Selbstbewusstseins von massenorganisatorischer Uniformität genutzt werden.481 »Schluß mit ›junger Generation‹!«, so formuliert im Frühjahr 1933 ein ehemaliger Jugendbewegter sein Unbehagen über die »Jugendkonjunktur«482 in 480 Alltagsgeschichtliche Unterscheidungen von Formen der Dissidenz und Fallstudien enthält der von Wilfried Breyvogel herausgegebene Band: Piraten, Swings und Junge Garde. Jugendwiderstand im Nationalsozialismus, Bonn 1991; vgl. Arno Klönne: Jugendliche Opposition im »Dritten Reich«, 2. erg. Aufl. Erfurt 2013; Sascha Lange: Meuten, Swings und Edelweißpiraten. Jugendkultur und Opposition im Nationalsozialismus, Bonn 2018, der auch die Bedeutung von Mädchen und jungen Frauen in diesen Gruppierungen hervorhebt (S. 9, S. 47ff.). 481 Vgl. den instruktiven, reich bebilderten Katalog: Deutscher Werkbund, Württembergischer Kunstverein Stuttgart (Hg.): Schock und Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert, Darmstadt u. a. 1986, bes. die Beiträge von Arno Klönne und Horst H. Lange. 482 Karl Rauch: Schluß mit ›Junger Generation‹!, Leipzig 1933, S. 15.

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politischen Debatten, in Feuilletons und Autobiographien. Hiergegen müsse betont werden, dass Jugend »zuallererst Dienst bedeutet im Kleinsten, im Nächsten und im Geringsten«: »Zu vollziehen ist der endliche Übergang vom Jungsein, vom Stolze auf reine Jugendlichkeit hinüber ins männliche Daseinsbereich. Der Dichter«, gemeint ist Stefan George, »nennt die beiden Pfeiler des echten Mannestums: Tun und Dulden.«483 Das nationalsozialistische Konzept einer formierten Jugend realisiert nach 1933 solche Postulate einer Reife, die sich von Jugendlichkeit als Moratorium, als Schutzraum für spezifische Verhaltensmuster, verabschiedet. Die Modellierung der Jugend im nationalsozialistischen Staat meint eine »Körperkultur« (Hopster/Nassen), die gerade individuelle Differenzen nivellieren will. Die Entwicklung der völkischen Gemeinschaft setzt den Entwicklungsverzicht der vielen Einzelnen voraus. Dass die derart geplante Ordnung nicht vollständig durchsetzbar war, erinnert daran, dass zumindest das Protestpotential von Jugend ein Faktor sozialen Wandels im 20. Jahrhundert war.

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Alles auf Anfang? ›Jugend‹ in literarischen Texten nach 1945

»Neue Gedanken breiten sich über Europa aus«, so Alfred Andersch im Leitartikel zum ersten Heft des »Der Ruf. Unabhängige Blätter für die junge Generation« im August 1946, bekannt als eines der Leitmedien der frühen Publizistik nach dem Ende des nationalsozialistischen Staats und zugleich wesentlicher Teil der Vorgeschichte der vom Mitherausgeber Hans Werner Richter initiierten »Gruppe 47«. Noch einmal Andersch: »Die Träger dieses europäischen Wiedererwachens sind zumeist junge, unbekannte Menschen.« Daran ist zunächst wenig überraschend. Dass ›Jugend‹ adressiert wird, wenn es um die Abrechnung mit obsoleten sozialen und politischen Verhältnissen geht, lässt sich schon bei Rousseau nach der Mitte des 18. Jahrhunderts und dann immer wieder lesen, wenn es – zumeist in historischen Umbruchsphasen – um das Subjekt der Zukunftsgestaltung geht. Bemerkenswert ist allerdings die Verschiebung in der implizierten Altersstufe, denn Andersch meint »diese junge deutsche Generation, die Männer und Frauen zwischen 18 und 35 Jahren, getrennt von den Älteren durch ihre Nicht-Verantwortlichkeit für Hitler, von den Jüngeren durch das Front- und Gefangenschaftserlebnis«.484 Andersch selbst ist zu dieser Zeit 32 Jahre alt, der Herausgeber Hans Werner Richter 38 wie auch der Beiträger

483 Ebd., S. 98, S. 102. 484 Alfred Andersch: Das junge Europa formt sein Gesicht, in: Der Ruf. Unabhängige Blätter für die junge Generation. Eine Auswahl. Vorwort von Hans Werner Richter, hg. u. eingeleitet v. Hans A. Neunzig, München 1976, S. 19–25, die Zitate S. 19, S. 24, das folgende S. 22.

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Walter Kolbenhoff, dessen Roman ich noch anspreche. Konsequent betont Andersch deshalb die »Gemeinsamkeit der Haltung und des Erlebens«. Im Folgenden sollen literarische Texte behandelt werden, die, in den Jahren nach 1945 entstanden, jugendliche Protagonisten zeigen: zwischen 1932 und 1946, im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, in Kampfhandlungen des Weltkriegs und in der Umbruchssituation nach Kriegsende. Die Semantik des modernen Jugendkonzepts, insbesondere sein futurischer Zug, macht es, so zeigte sich, attraktiv für kultur- und geschichtsphilosophische Entwürfe der Autoren des »Jungen Deutschland«, wie sie in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts Konjunktur haben. Beschleunigungserfahrungen, wie sie bereits um 1800 formuliert werden, werden mit der Leitunterscheidung alt/jung relationiert; Akzeleration wird dann in der Jugendpsychologie des 20. Jahrhunderts der Fachterminus für die Reifungsbeschleunigung des zweiten Lebensjahrzehnts, bereits lange vorher beobachtet.485 Und die Gegenwartsdiagnose wird häufig auf den Begriff der Krise gebracht, der im 20. Jahrhundert in entwicklungspsychologischen Konzepten geradezu selbstverständlich ist: Das Jugendalter, die Adoleszenz, wird als eine Lebenszeit der Krise,486 der Unsicherheit, der Orientierungsprobleme verstanden, als Schwellenphase. Um 1900 erzeugt diese Konzeption die erläuterte literarische Konjunktur: Im Genre der Schulgeschichte wird vom Leiden überwiegend männlicher Jugendlicher in den Institutionen des Bildungssystems berichtet. Bis heute prominente Texte wie Frank Wedekinds »Frühlings Erwachen«, Thomas Manns »Buddenbrooks« oder Hermann Hesses »Unterm Rad« zeigen jugendliche Protagonisten im Konflikt mit unverständigen Eltern und unnachgiebigen Erziehern, die sich als Vertreter wilhelminischen Obrigkeitsdenkens verstehen. Das »Recht der Jugend auf eine Jugend«, so Theodor Heuss, ist nicht existent. Es verwundert nicht, dass die Rede über Jugend erneut Stichworte für kulturkritische Weiterungen liefert. Die an diesen Lebensläufen exemplifizierte Misere des Bildungssystems, so das Argument, verweist auf die staatlicher Institutionen und ihrer Leitwerte insgesamt, ›krank‹ werden die sensiblen Jugendlichen unausweichlich, weil ihnen deformierte Lebensverhältnisse zugemutet werden, die geschilderten ›Krisen‹ der Individuen sind solche der abendländischen Kultur. Geradezu als schädliche Fehlentwicklung erscheinen solche reformpädagogisch grundierten Maximen in nationalsozialistischen Erziehungskonzeptionen, denen es nicht um die Einmaligkeit der individuellen Entwicklung zu tun ist, sondern um ihre Disziplinierung. Staatliche Bildungsinstitutionen und die Jugendorganisationen der NSDAP wollen einen soldatischen Habitus generieren, der sich dem völkischen Daseinskampf einfügen lässt, zumal den militärischen 485 Vgl. Mitterauer: Sozialgeschichte, S. 10ff. 486 Vgl. Erik Erikson: Identity, Youth and Crisis, New York 1968.

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Verbänden, die ab 1939 zum Einsatz kommen. Das von Reichsjugendführer Baldur von Schirach getextete Lied »Vorwärts, vorwärts«, bekannter unter der Verszeile »Uns’re Fahne flattert uns voran«, benennt in der Verfilmung »Hitlerjunge Quex. Ein Film vom Opfergeist der deutschen Jugend« 1933 zwar »Bewegung« als jugendliche Selbstdefinition. Das im Liedtext aufgerufene »Ziel« ist aber nicht inhaltlich über Kriterien jugendlicher Selbstfindung definiert, sondern liegt in einer nicht näher bestimmten »Zukunft« und wird personalisiert: »Wir marschieren für Hitler /…/ Führer, wir gehören dir«.487 Entsprechend deutlich fällt im Text die Absage des Erzählers an Vorstellungen individueller Besonderheit aus. Konträr zu ihnen ist Heini Völker fasziniert von der Uniformität im HJ-Zeltlager: »Einer sah aus wie der andere.«488 Auch wenn es die »Stunde Null« in der radikalen Form, welche die Formulierung nahelegt, im Literatursystem nie gegeben hat:489 Dass in der Umbruchssituation nach dem Ende des Weltkriegs über Jugendliche und das Verhältnis der Generationen kontrovers diskutiert wird, erscheint im Blick auf das semantische Potenzial des modernen Jugend-Begriffs geradezu selbstverständlich. Nur ist Anderschs zitierter Leitartikel auch im Vokabular nicht so innovativ und voraussetzungslos, wie er vorgibt. Bereits um 1930 finden sich in nationalrevolutionären Zirkeln Diagnosen zur Lage der »jungen Generation«, die den Ersten Weltkrieg nicht mehr an der Front hatte erleben können, nun aber entschlossen war zum Bruch mit den überlebten Verhältnissen. Michael Wildt hat in seiner einschlägigen Monographie zu den Angehörigen des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) in Berlin diese Konstellation für den politischen Radikalismus junger Akademiker im Dienst des Hitler-Staates verantwortlich gemacht,490 die gemäß ihrem Leitbild der »kämpfenden Verwaltung« zu Kriegsverbrechen größten Ausmaßes fähig waren. So beispielsweise Otto Ohlendorf, Leiter des Amtes III (Deutsche Lebensgebiete) im RSHA und als Leiter der Einsatzgruppe D für den Tod von 90.000 Menschen in den besetzten Ostgebieten verantwortlich. Ohlendorf wurde 1907 geboren, Heinz Jost, der das Amt VI (SD Ausland) und später das Kommando der Einsatzgruppe A führte, 1904, die erwähnten Autoren Hans Werner Richter und Walter Kolbenhoff 1908, Claus von Stauffenberg ebenfalls 1907. Es kann nicht darum gehen, Autoren vorzuwerfen, 487 Der Liedtext wird zitiert nach: https://neustadt-und-nationalsozialismus.uni-mainz.de/glos sar/lied-vorw%C3%A4rts-vorw%C3%A4rts-1933 [30. 03. 2022]. 488 Schenzinger: Hitlerjunge, S. 46. Vgl. die Ausführungen zum NS-Jugendkonzept im vorigen Unterkapitel. 489 Vgl. zum Literaturbetrieb Christian Adam: Der Traum vom Jahre Null. Autoren, Bestseller, Leser. Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945, Berlin 2016, S. 71 zu Verlagen: »So wenig Zäsur war nie.« 490 Vgl. Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 32015, S. 41ff.

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dass sie als einfache Soldaten und Kriegsgefangene nicht die Biographien von SSOffizieren kannten, aber ganz offensichtlich ist Anderschs schlichte Opposition von »junger Generation« und »Älteren« empirisch so wenig aussagekräftig wie zuvor Ernst Günther Gründels Konstrukt in seinem viel beachteten Buch über »Die Sendung der Jungen Generation« 1932, 1933 bereits in dritter Auflage, der im Untertitel den »Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise« im Sinne des nationalrevolutionären »Tat«-Kreises um Hans Zehrer verspricht. Vielmehr wird man den rhetorischen Effekt jeweils in der vereinfachenden Polarisierung sehen dürfen, die eine differenzierte Suche nach Verantwortung und Schuld abzuweisen erlaubt, in der Markierung von Distanz die eigene Gruppe (»Generation«) integriert, Einheit in der »Haltung« unterstellt und so die Perspektive auf Zukunft vereinfacht. Nicht um eine »Erfahrungsgemeinschaft«, in der Homogenität durch gleichartige Erfahrungen entstünde, ist hier gemeint, sondern eine »Erwartungsgemeinschaft«, die sich durch gleichgerichtete Zukunftsaussichten konsolidieren und Vergangenheit marginalisieren soll. Die generationelle Homogenität einer »Jungen Generation« ist Behauptung491 und legt, so Norman Ächtler, »die diskursive Grundlage für die Generalapologie des deutschen Wehrmachtssoldaten«.492 Der Historiker Benjamin Möckel, der diese an Kosellecks Überlegungen zur Semantik historischer Zeiten orientierte Unterscheidung von Erfahrung und Erwartung benutzt, hat 2014 für den Zeitraum 1945 bis 1949 3174 Publikationen zur Jugend ermittelt und ihre zentrale Bedeutung in den publizistischen Debatten betont.493 Auch literarische Texte dieser Jahre sind beteiligt, wobei ihr erzählerischer Schwerpunkt nicht ausschließlich auf der Schilderung der Nachkriegssituation mit fragmentierten Familien, Wohnungs- und Nahrungsknappheit und fehlenden Ausbildungs- und Verdienstmöglichkeiten liegt, die in ihren Folgen für Sozialisationsprozesse publizistisch häufig thematisiert werden. Jugendliche Protagonisten werden in besonderem Maße im Rückblick auf Erfah491 Vgl. Sigrid Weigel: Familienbande, Phantome und die Vergangenheitspolitik des Generationendiskurses. Abwehr von und Sehnsucht nach Herkunft, in: Wilhelm Schmid (Hg.): Leben und Lebenskunst am Beginn des 21. Jahrhunderts, München 2005, S. 133–152; vgl. bspw. auch in der Vorbemerkung zu Altners im Folgenden erwähnten »Totentanz«. Von der von Andersch unterstellten »Erfahrungsgemeinschaft« der »Generation« über das »gemeinsame Front- und Gefangenschaftserlebnis« spricht auch Hans-Ulrich Wagener, nur ist damit eben der Anteil der aktiven Nationalsozialisten ausgeblendet; »Das junge Europa formt sein Gesicht«. Die »Generation ohne Heimkehr« im europäischen Kontext, in: Gordon Burgess, Hans-Gerd Winter (Hg.): »Generation ohne Abschied«. Heimat und Heimkehr in der ›jungen Generation‹ der Nachkriegsliteratur, Dresden 2008, S. 15–33, hier S. 23. Zu Generationskonstruktionen vgl. auch oben den Abschnitt 6.2. 492 Norman Ächtler: Generation in Kesseln. Das soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945–1960, Göttingen 2013, S. 84. 493 Vgl. Benjamin Möckel: Erfahrungsbruch und Generationsbehauptung. Die ›Kriegsjugendgeneration‹ in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, Göttingen 2014, S. 158.

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rungen im nationalsozialistischen Staat und in der Endphase des Weltkriegs gezeigt. Mein Textkorpus umfasst 12 längere, überwiegend kaum noch bekannte Prosatexte, die deshalb zunächst inhaltszentriert vorgestellt werden; erschienen sind sie im Zeitraum 1946 bis 1951. Behandelt werden nur Texte, in denen jugendliche Figuren quantitativ und qualitativ erkennbar in Figurenkonstellation und Textaussagen deutlich dominieren.494 In vielen Texten über die vergangenen Kriegsereignisse werden junge Soldaten als Randfiguren erwähnt, oft, um die Skrupellosigkeit des Regimes an besonders drastischen Beispielen für Überlastung oder emotionale Ausnahmezustände im Kampf zu belegen. Jugendliche im nationalsozialistischen Krieg: Kolbenhoff, Meichsner, Hubalek, Altner Einen herausragenden und praktisch vergessenen Text legt 1947 Walter Kolbenhoff vor: »Von unserem Fleisch und Blut« erzählt von einem siebzehnjährigen Hitler-Jungen, der als »Werwolf«495 in den Ruinen einer deutschen Stadt im Rheinland seinem Kampfauftrag auch am Kriegsende noch folgt. Von der nationalsozialistischen Propaganda raffiniert inszeniert, galten Werwolf-Gruppen in der deutschen Öffentlichkeit wie der alliierten Feindaufklärung als Speerspitze der fanatischen Endsiegmentalität.496 Erich Loest hat im Nachwort zur Neuausgabe seines Romans »Jungen die übrigblieben«, zuerst 1949 veröffentlicht, zugegeben, bewusst eigene Werwolf-Erfahrungen verschwiegen zu haben, um Gefängnis oder Schlimmerem zu entgehen.497 Kolbenhoffs Text schildert nur eine Nacht, der Einzelkämpfer tötet einen des Verrats bezichtigten Kameraden und einen alten Mann, der seinen Unterschlupf nicht als Versteck preisgeben will; jeweils eine Darstellung übrigens der situativen Radikalisierung von Gewalt, wie sie in den letzten zwei Jahrzehnten in den Fokus der Gewaltsoziologie gerückt ist.498 Andere Figuren zeigen sich, im Umfang knapper, in typischen Situationen der Nachkriegszeit, die auch literarisch immer wieder begegnen: der Heimkeh494 Ein der Thematik nach benachbarter Text, der hier nicht berücksichtigt wird: Ilse Aichingers ›Traumerzählung‹ »Die größere Hoffnung«, 1948 zuerst erschienen, dann 1959 stark überarbeitet, spricht dezidiert über Kinder und ihr Schicksal in einer nicht näher bestimmten Gesellschaft, die sie als Juden ausgrenzt, die Protagonistin Ellen ist zu Beginn elf, später 15 Jahre alt. 495 Der Protagonist beschreibt sich als »Wolf«: »Ich bin ein reißender Wolf und ich töte, weil der Befehl lautet: Töte!« Zitiert nach Walter Kolbenhoff: Von unserm Fleisch und Blut. Roman. Mit einem Nachwort von Gerhard Hay, Frankfurt a. M. 1983, S. 20. Die Erstausgabe von 1947 titelt: »Von unserem Fleisch und Blut«. 496 Vgl. Sven Keller: Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/45, München 2013, S. 168ff. 497 Vgl. Erich Loest: Jungen die übrigblieben, München 2006, S. 376 im Nachwort des Autors. 498 Vgl. das Themenheft »Im Brennglas der Situation. Neue Ansätze in der Gewaltsoziologie«, in: Mittelweg, 2019, Nr. 28/1–2.

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rer, der auf die untreue Frau trifft; das verhärmte Ehepaar und das junge Liebespaar in Ruinen; desillusionierte Wehrmachtssoldaten und GIs, die ihre Heimat vermissen. Der zentrale Fokus auf dem fanatisierten Hitlerjungen wird, und das unterscheidet Kolbenhoffs Roman klar von thematisch benachbarten Texten, in langen Passagen innerer Monologe, Bewusstseinsfetzen mit Zitaten aus völkischer Kriegspropaganda und Rückblenden auf Kindheit und Schulzeit deutlich.499 Die psychische Disposition ist detailliert beschrieben: Indoktrination durch nationalsozialistische Parolen, Erfahrungen der Niederlage in Kindheit und früher Jugend, die in der Hitler-Jugend als Ersatzfamilie kompensiert werden können, schließlich die Ablehnung des Hitler-Verehrers durch die Eltern, die nur den widerwillig kämpfenden Bruder vermissen.500 »Ich bin frei, denn ich habe meine eigenen Gesetze!«501 und: »Ich bin hart geworden, hart wie Stahl,« so seine Selbsteinschätzung. Der Text bietet keinen versöhnlichen Ausblick, keinerlei Zukunftsperspektive. Vielmehr steigert sich in der Bedrohung durch feindliche Soldaten bei gleichzeitiger Zurückweisung durch die Mutter das Selbstverständnis des Jugendlichen in einer geradezu selbstmörderischen Form in das Bewusstsein, einer kleinen Elite wahrer Kämpfer anzugehören, »einer der Auserwählten«502 zu sein: »Ich darf überhaupt niemanden mehr sehen, ich muss sie auslöschen in mir, ausbrennen, nichts darf mich mehr an sie erinnern. Ich muß mich ganz lösen von allem«, so über Familie und frühere Freunde: »Hier bin ich, Herr Hauptmann, dachte er, hier stehe ich in der zerstörten, stinkenden Fabrik, verfügen Sie über mich, ich bin frei und werde alles tun, was man mir befiehlt. Ich habe keine Bindungen mehr, ich bin allein. Ich bin bereit, mich zu opfern. Kein’ schöneren Tod gibt’s in der Welt, als wie vorm Feind erschlagen – Ja!«503

499 Vgl. als Gesamtinterpretation und mit Hinweisen zu erzählerischen Verfahren und zur Rezeption Helmut Peitsch: Vom ›Realismus‹ eines Kriegsromans – ›unmittelbar‹, ›magisch‹ oder ›tendenziös‹? Walter Kolbenhoffs: »Von unserem Fleisch und Blut« (1947), in: Hans Wagener (Hg.): Von Böll bis Buchheim: Deutsche Kriegsprosa nach 1945, Amsterdam 1997, S. 63–90. Die ›Unbelehrbaren‹ in der deutschen Jugend stellten für Kolbenhoff eine Belastung für den Neubeginn nach 1945 dar; vgl. Heidrun Ehrke-Rotermund: Kindersoldaten – ohne Schuld? Jugendliche Protagonisten und das Ende des Zweiten Weltkrieges in Romanen Walter Kolbenhoffs, Manfred Gregors und Heinz Küppers, in: Ursula Heukenkamp (Hg.): Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945–1961), Amsterdam 2001, S. 173–188, S. 175. 500 Vgl. Werner Brand: Der Schriftsteller als Anwalt der Armen und Unterdrückten. Zu Leben und Werk Walter Kolbenhoffs, Frankfurt a. M. u. a. 1991, S. 110–137. 501 Kolbenhoff: Fleisch, S. 185, das folgende Zitat S. 162. 502 Ebd., S. 98. 503 Ebd., S. 196f. Wohl kein korrektes Zitat; vgl. https://www.lieder.net/get_text.html?TextId =22840 (»Schlachtlied«, Göttling/Silcher 1853) [30. 03. 2022].

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Gegen die »Alten«504 radikalisieren sich Angst und Einsamkeit, der angesprochene Offizier ist längst gefallen, sein Ethos und sein Befehl bleiben gleichsam als innere Stimme gültig. Der Roman schließt: »Herr Hauptmann, ich werde Ihre Befehle ausführen ohne Rücksicht auf Verluste«.505 »Er hat dieses Buch als Neunzehnjähriger geschrieben«, so teilt der Rowohlt Verlag 1948 über einen Autor mit: »Was entstand, ist noch keine Literatur, es ist weder Roman noch Reportage. Aber es ist ein Dokument.«506 Anders als bei Kolbenhoff, der schon im Untertitel seines Textes, dann aber besonders durch die differenzierten Erzählverfahren bei aller Nüchternheit der Sprache auch einen ästhetischen Anspruch geltend macht, bleibt der für Dieter Meichsners »Versucht’s noch mal mit uns« sekundär, betont ist die Authentizität des Mitgeteilten, eine Kardinalqualität ›junger‹ Literatur nach 1945. Auch der Herausgeber einer Anthologie mit kurzen, zumeist Prosatexten betont das: »Nicht alle entsprechen einem literarischen Maßstabe. Das war garnicht angestrebt. Kriterium war vielmehr, wie weit in einem eingereichten Werk die tiefe Gefährdung und die abgründige Unruhe unserer Zeit zu verspüren ist.«507 Meichsner berichtet von einem siebzehnjährigen Hitlerjungen (»Peter«), der im März 1945 als Angehöriger einer von SS-Leuten geführten Werwolf-Gruppe hinter der Ostfront an Sabotageunternehmen teilnimmt, allerdings nicht aus unbeirrbarem Glauben an den Endsieg: »Wir wollten hinaus, denn wir hatten Angst vor dem Ende, und wir wollten, es käme bald.«508 Der Untergrundkampf, der auch die Ermordung systemkritischer Zivilisten zur Abschreckung umfasst, bleibt, so registriert der IchErzähler, nicht ohne Folgen: »Wir hatten uns an vieles gewöhnen müssen. Mein Herz hatte sich verhärtet, wir waren brutal geworden. Ich schauderte nicht mehr zurück beim Anblick hingemordeter Frauen oder eingeschlagener Schädel.«509 Nach der Entdeckung durch die Rote Armee schlägt sich der Ich-Erzähler zu den eigenen Truppen an der Oder durch und gelangt schließlich zu seiner HJ-BannDienststelle in Berlin zurück: »In den fünfhundertundvier Stunden war ich furchtbar alt geworden«,510 so sein Fazit: »Für uns Junge war es jetzt aus.« Es beginnen erneut Vorbereitungen für Werwolf-Aktionen im Straßenkampf, von 504 Kolbenhoff: Fleisch, S. 213: »Die Alten sind dumm, sie begreifen nichts.« 505 Ebd., S. 215. Dieser mitleidlose Fanatismus klingt auch an in Bruno Hampels Kurzgeschichte »Eisenbahn fahren«, in der »der SS-Posten, ein aufgeschossener Siebzehnjähriger mit bartlosem Knabengesicht, von Zeit zu Zeit immer wieder« mit seiner Schaufel auf von ihm bewachte arbeitende »Russen« eindrischt, in: Hampel: Treppenlicht, hier S. 66ff. 506 Dieter Meichsner: Versucht’s noch mal mit uns, Hamburg, Stuttgart 1948, S. 207: eine paratextuelle Strategie der Authentisierung; vgl. unten zu Altners »Totentanz«. 507 Paul E. Lüth: Einleitung, in: Paul E. Lüth (Hg.): Der Anfang. Anthologie junger Autoren, Wiesbaden 1947, S. 5–7, S. 7. 508 Meichsner: Versucht’s noch mal, S. 20. 509 Ebd., S. 40. 510 Ebd., S. 88, das folgende Zitat S. 90.

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den Hitlerjungen selbst organisiert. Diese Gruppe mit ihren Freundschaftsbeziehungen ist primärer Bezugspunkt für den Protagonisten.511 In Ruheperioden finden sich Reflexionen: »Wir haben nicht mehr von Erinnerungen gesprochen, aber sie waren um uns. Das alte Leben war da, eine sorglose, freie Jugend, wie wir sie nie erlebt hatten, für ein paar Stunden war sie da.«512 Verdeckt werden sie durch illusionslose Diagnosen (»›Unsere Welt ist zusammengebrochen‹«513), bis nach Konfrontationen mit Parteibonzen, nur auf ihren eigenen Vorteil bedachten Zivilisten und feindlichen Soldaten das Kriegsende erreicht und Schulunterricht möglich wird: »Da dachte ich, ich gehörte wieder dazu und war endlich wieder ein Junge, nichts anderes mehr.«514 Die Authentizitätsbehauptung des jungen Autors, der über junge Soldaten schreibt, transportiert bereits 1947 Claus Hubaleks »Unsre jungen Jahre. Tagebuch eines Zwanzigjährigen«; Hubalek wurde 1926 geboren. Kein Geringerer als Ludwig Renn, der mit seinem autobiographischen »Krieg« 1928 einen der erfolgreichsten Anti-Kriegsromane der Weimarer Republik vorgelegt hatte, betont in seinem Vorwort die ›Ehrlichkeit‹ des Mitgeteilten,515 geradezu das Signum des Tagebuch-Genres auch bei Zeitgenossen wie Ernst Jünger, Bamm oder Hohoff.516 Diese Qualität signalisiert Hubaleks kurzer Text dann durch die präzise Datierung der 12 »Tagebuch«-Texte, die vom 15. Februar 1943 bis zum 6. Mai 1945 reichen, vom Beginn des Einsatzes als sechzehnjähriger Luftwaffenhelfer in einer Flakbatterie vor Berlin bis zum Fronteinsatz in Frankreich und gegen Kriegsende an der Elbe. Bereits Ernst Jüngers »In Stahlgewittern« hatte 1920 die Form von genau datierten Tagebuchaufzeichnungen narrativ genutzt, um die Verifizierbarkeit des Dargestellten zu beglaubigen; in der Erinnerungsliteratur zum Zweiten Weltkrieg ist die Betonung des Authentizitätscharakters des dann folgenden Kriegsberichts geradezu omnipräsent.517 Die »Tagebuch«-Einträge Hubaleks sind lakonisch erzählte Episoden, Schlaglichter auf Kampfhandlungen und ihre Kommentierung durch die jungen Soldaten. »Wir sind ganz andere Menschen geworden«, konstatiert zu Beginn ein Schulfreund: »Gestern waren wir 511 Vgl. Ursula Heukenkamp: Der Zweite Weltkrieg in der Prosa der Nachkriegsjahre (1945– 1960), in: Ursula Heukenkamp (Hg.): Deutsche Erinnerung. Berliner Beiträge zur Prosa der Nachkriegsjahre (1945–1960), Berlin 2000, S. 295–372, hier S. 312f. 512 Meichsner: Versucht’s noch mal, S. 119. 513 Ebd., S. 201. 514 Ebd., S. 204. 515 Vgl. Claus Hubalek: Unsre jungen Jahre. Tagebuch eines Zwanzigjährigen, Berlin 1947, S. 7. 516 Vgl. Hans Wagener: Soldaten zwischen Gehorsam und Gewissen. Kriegsromane und – tagebücher, in: Hans Wagener (Hg.): Gegenwartsliteratur und Drittes Reich. Deutsche Autoren in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, Stuttgart 1977, S. 241–264, hier S. 251ff. 517 Vgl. Rolf Düsterberg: Soldat und Kriegserlebnis. Deutsche militärische Erinnerungsliteratur (1945–1961) zum Zweiten Weltkrieg. Motive, Begriffe, Wertungen, Tübingen 2000, S. 98.

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Pennäler, heute sind wir Soldaten.«518 Eine Zäsur – und doch nicht, wie wenig später in der Unterkunft festgestellt wird: »Landhilfe, Hitlerjugend, Wehrertüchtigungslager. Wir sind ja in Baracken groß geworden.« Nie ist von Kriegsbegeisterung die Rede, allenfalls von Pflichtgefühl, immer von Angst bis zum Erbrechen. »›Es müßte aber schön sein‹, überlege ich, ›so leben zu können, wie man will. Ein bißchen frei sein, etwas tun, was man liebt. Aber vielleicht glauben wir nur daran, weil wir es noch nicht erlebt haben.‹« Selten nur wird in den Texten zum Zweiten Weltkrieg so explizit das am Beginn des Jahrhunderts postulierte reformpädagogische Jugendkonzept zitiert, »mein junges, ungelebtes Leben«, wie es in einer Reflexionspassage heißt, bevor beim Versuch des Überlaufens zu den amerikanischen Truppen der beste Freund erschossen wird.519 Der Text endet perspektivlos. Eine Gruppe von Fahnenjunkern, noch in Marschformation, gerät in einen Tieffliegerangriff. »Langsam gehe ich von einem zum anderen. ›Wir sind die neue Zeit.‹ Die hier liegen, sind neunzehn oder zwanzig Jahre alt. Sie haben gesungen, bis sie starben, haben geglaubt, bis sie starben, und haben im Sterben noch geglaubt.« Letzter Satz des »Tagebuchs«: »Ich setze mich in den Straßengraben und schlage die Hände vor das Gesicht.«520 Nur kurz spricht Hubalek das Tabu-Thema der Fahnenflucht an, in vielen frühen Texten über den Zweiten Weltkrieg in aller Regel mit dem Hinweis auf die Solidarität mit den Kameraden, aber auch den Schutz der Heimat abgetan. In der Nachkriegsliteratur wird die Figur des Deserteurs dann mit dem im Folgenden erwähnten »Finale Berlin« von Heinz Rein und Alfred Anderschs autobiographischer Erzählung »Die Kirschen der Freiheit« 1952 prominent, die nicht nur Anderschs Erfahrungen als Jugendfunktionär der KPD breit ausführt, sondern auch die Fahnenflucht an der italienischen Front im Juni 1944: als dezidiert gegen die nicht nur in militärischen Kreisen der NS-Diktatur hochgeschätzte ›Gemeinschaft‹ der Soldaten polemisierend und konträr auf Eigenverantwortlichkeit des Individuums gerichtet.521 Hubaleks Erzählung »Das Glasauge« arbeitet dem 1949 vor, wenn er den siebzehnjährigen Protagonisten, »Rekrut Kellermann«, zunächst das »Gefühl des Alleinseins« auskosten lässt, jenseits von Kasernenmief und Schikane.522 Vom Underdog der Ausbildungskompanie, »beinahe ein Kind noch«,523 zum allseits geachteten Vorzeigesoldaten avanciert der, 518 519 520 521

Hubalek: Jahre, S. 12, die folgenden Zitate S. 19f. Ebd., S. 46. Ebd., S. 58f. »Erinnerungspolitischen Sprengstoff« analysiert Jörg Echternkamp: Soldaten im Nachkrieg. Historische Deutungskonflikte und westdeutsche Demokratisierung 1945–1955, München 2014, S. 293. 522 Claus Hubalek: Das Glasauge. Erzählung, Berlin 1949, S. 14. Auch später ändert sich daran nichts, der Mutter wird klar, »daß jeder allein war, allein mit sich selbst«; S. 76. 523 Ebd., S. 46.

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nachdem er im Chaos eines Bombenangriffs Blankodokumente mit der Unterschrift eines Generalmajors findet und sich so das Eiserne Kreuz 2. Kl. verschafft: »die Weihe des Augenblicks stand in ihren Gesichtern«, so notiert der Erzähler ironisch über Kompaniechef und Untergebenen bei der Verleihung. Resultat: »Die Wirkung des Ordens entzog sich fast begrifflichem Verstehen. Sie war magisch zu nennen.«524 Hubaleks Köpenickiade spitzt sich gegen Ende unerwartet zu, als der nunmehr zum Leutnant avancierte Protagonist standgerichtlich der Feigheit vor dem Feind bezichtigt wird. Die Exekution wird durch das Kriegsende verhindert, das Exekutionskommando verweigert die Ausführung. Weniger durch diese Handlungsführung als die zahlreichen Seitenhiebe auf soldatische Mentalitäten und Gepflogenheiten zeichnet sich die Erzählung aus. Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass bereits 1949 über Standgerichte und Befehlsverweigerung mit den Mitteln der Satire gesprochen werden kann.525 Authentizität zum Dritten:526 Helmut Altners »Totentanz Berlin. Tagebuchblätter eines Achtzehnjährigen«, erschienen 1947. Die »auf kurzen Tagebuchstichworten beruhenden Aufzeichnungen wurden Ende 1946 nach Rückkehr aus sowjetischer Gefangenschaft begonnen und im Frühjahr 1947 abgeschlossen«.527 Altner wurde 1928 geboren und nennt seine Publikation selbst einen »Tatsachenbericht«,528 der die sogenannte »Schlacht um Berlin« behandelt, präzise: vom

524 Ebd., S. 53. 525 Ursula Heukenkamp weist darauf hin, dass die Satire als einer der wenigen Texte nicht den Soldaten als Opfer zeigt und damit entschuldigt; Jugend als Argument? Drei Selbstbehauptungsversuche: Bruno Hampel, S. Claus Hubalek, Wolfdietrich Schnurre, in: HansGerd Winter (Hg.): »Uns selbst mussten wir misstrauen.« Die »junge Generation« in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, Hamburg, München 2002, S. 111–126, hier S. 120. Vgl. auch ihren Hinweis S. 116 auf die Kurzgeschichte »Das mit dem Mais« von Bruno Hampel. 526 Vgl. allgemein zu solchen Schreibtechniken, die eine Differenz von Literatur und Wirklichkeit zu nivellieren suchen, Susanne Knaller: Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs, in: Susanne Knaller, Harro Müller (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München 2006, S. 17–35. Vergleichbar ist dem die Wahrheitsemphase vieler Texte und Rezensionen, besonders auch in Bezug auf Wolfgang Borcherts »Draußen vor der Tür«, dem Heimkehrerdrama schlechthin; Hans-Gerd Winter: »Jugend« und »junge Autoren«. Zuschreibungen und Selbstdefinitionen im Hamburger Raum, in: Winter (Hg.): Jugend, S. 127–154, hier S. 150. 527 Helmut Altner: Totentanz Berlin. Präsentiert, kommentiert und illustriert von Tony le Tissier, Berlin 2009, S. 9. Diese Neuausgabe ist allerdings nur wegen ihrer kriegsgeschichtlichen Anmerkungen und Karten hilfreich; wegen zahlreicher nicht dokumentierter Änderungen am Text und dem kommentarlosen Verzicht auf zwei Vorworte und eine biographische Notiz des Autors ist sie philologisch unbrauchbar. 528 Helmut Altner: Totentanz Berlin. Tagebuchblätter eines Achtzehnjährigen, Offenbach 1947, S. 7; nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert. Das Zitat stammt aus der »Vorbemerkung« eines nicht näher bezeichneten »Herausgebers«. Altner war seit April 1946 als Journalist und Schriftsteller tätig, möglicherweise ist er dieser »Herausgeber« selbst. Ähnlich

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29. März 1945 bis zum 3. Mai 1945. Altner wird in das Ersatz-Bataillon 309 einberufen und nimmt nach kurzer Ausbildung an den Straßenkämpfen in Spandau, um den Zoo und das Reichssportfeld herum und in den U-Bahntunneln teil, seine Einheit wird komplett aufgerieben, nach einem Monat leben von 150 Eingezogenen noch acht: »Wir waren Kinder und nun wurden wir Soldaten«529, eine Formulierung, die sich fast wörtlich auch in Hubaleks »Unsre jungen Jahre« findet. Berichtet wird bei Altner entsprechend auch von Panzervernichtungstrupps aus Jungvolk-Einheiten der Hitler-Jugend, Zehn- bis Vierzehnjährigen.530 Der Text nennt wiederholt Daten zu Wehrmachtseinheiten und ihren Verlusten, Details zu den umkämpften Berliner Örtlichkeiten und scheut drastische Beschreibungen nicht, hier eines Granatenbeschusses: »Plötzlich fällt etwas auf mich und wirft mich um. Ich sehe es an. Ein Grausen erfaßt mich. Es ist ein blutiges Etwas ohne Kopf, Hände und Füße. Nur ein blutiger zerschlagener Rumpf. Und wie von Dämonen gepeitscht stürze ich in den Graben.«531 Eingestreut in den Text sind Reflexionen auf die Sinnlosigkeit dieses Kriegs, besonders des Kampfes unter desaströsen Bedingungen, das alltägliche Sterben von Freunden und die eigene Situation: »Wir sind müde und zerfallen. Sind ausgebrannt. In uns ist eine große Leere. Wir sind ohne Hoffnung. […] Wir wurden plötzlich von Kindern zu Alten. Zu uralten Leuten. Wir können morden. Aber wir können nicht mehr weinen. Das haben wir verlernt.«532 Der Text schließt mit der Verhaftung durch die Rote Armee und der in Texten dieser Art eher seltenen »Hoffnung auf eine trotz allem glückliche und friedliche Zukunft!«533 Die Rote Armee ist auch der Fluchtpunkt der Widerstandsgruppe in Heinz Reins Verkaufserfolg »Finale Berlin« 1947, in die sich der 22jährige Deserteur Joachim Lassehn in den letzten drei Wochen des Reichs integriert; eine seltene Thematik übrigens, wenn denn überhaupt über den Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime gesprochen wird, dann über den militärischen Wi-

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im folgenden »Vorwort«, das von Helmut Altner an einer Stelle in der dritten Person spricht; vgl. S. 10. Vgl. Altner: Totentanz, S. 215, das folgende Zitat S. 14. Vgl. ebd., S. 46. Ebd., S. 218. Furchtbare Verstümmelungen sind wiederholt, geradezu demonstrativ detailliert, zu finden bei Georg Holmsten: Der Brückenkopf, Klagenfurt 1971, 1948 erschienen, der die Erlebnisse eines Truppensanitäters beschreibt. Altner: Totentanz, S. 65. Ebd., S. 245. Geradezu als Widerspruch zu eindeutigen Behauptungen jugendlicher Nichtverantwortlichkeit konzipiert Bruno Hampel seine Kurzgeschichte »Der schöne leichte Tod« (1950), in der ein brutaler Unteroffizier den achtzehnjährigen Wrobel vom »Jungen zum Mann« zu formen gedenkt. Die Ausbildung zum mitleidlosen Täter endet darin, dass Wrobel seinen Ausbilder so erschießt wie dieser die Gefangenen, in: Hampel: Treppenlicht, S. 14–32. Oder verkörpert Wrobel das perfekte Ergebnis, den gelungenen Abschluss militärischen Drills?

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derstand der Gruppe um die Stauffenbergs, nicht über sozialistische oder kommunistische Zirkel.534 Auch die über 750 Seiten des Romans schildern die »Schlacht um Berlin« von unten, benennen Greueltaten von Nationalsozialisten ebenso wie die zivilen Opfer alliierter Bombenangriffe und die Übergriffe sowjetischer Soldaten.535 Neben zeitgeschichtlich dokumentierenden Passagen, die Durchhalteparolen der Gauleitung ebenso zitieren wie Verlautbarungen des Oberkommandos der Wehrmacht und der gleichgeschalteten Presse, finden sich Diskussionen über antifaschistische Volksfrontkonzepte und mit Spannungswert erzählte Kapitel über die Konfrontation mit fanatischen Parteifunktionären und SS-Angehörigen. Unbestritten bleibt jenseits ideologischer Differenzen, dass besonders die Jugend Leidtragende des nationalsozialistischen Regimes sei: »Sind sie jemals richtig jung gewesen, unbeschwert von Pflicht und Dienst, fröhlich, suchend im Geiste?«,536 so sinniert der Protagonist angesichts einer HJFormation. Entsprechend besteht in der Widerstandsgruppe Einigkeit im Blick auf Nachkriegsdeutschland: »Es gibt meiner Überzeugung nach nur eines, und das ist ein Generalpardon für die deutsche Jugend«, der allerdings nicht auch mit großzügiger Geste der mit Schuld beladenen Vätergeneration erteilt werden dürfe. Der Gefahr des Nihilismus nach der Enttäuschung durch den ›Verrat‹ der Nationalsozialisten537 könne nur durch energische Selbstkritik gesteuert werden.538 Auch hier also das Postulat der Generationseinheit, das zeitgleich Alfred Andersch formuliert. Sozialisation im nationalsozialistischen Staat: Grünberg, Koch Schenzingers »Hitlerjunge Quex« erhält 1948 sein Gegenstück: »Hitlerjunge Burscheidt. Die Tragödie einer Jugend unserer Tage« von Karl Grünberg, der bereits 1928 mit »Brennende Ruhr. Roman aus der Zeit des Kapp-Putsches und des Ruhraufstands« einen wichtigen Zeitroman vorgelegt hatte. Mit sarkastischen Untertönen, in denen die von großen Teilen der deutschen Bevölkerung begeistert nachgesprochenen Parolen der Goebbels und Schirach mit der historischen Entwicklung konfrontiert werden, führt Grünberg seine Titelfigur von 534 Sie werden dann die Traditionslinie bilden für literarische Texte in der DDR, die sich als antifaschistischer Staat definiert; vgl. Karl Prümm: »Die Zukunft ist vergeßlich.« Der antifaschistische Widerstand in der deutschen Literatur nach 1945, in: Wagener (Hg.): Gegenwartsliteratur, S. 33–68. Vgl. die Beiträge des von Ursula Heukenkamp herausgegebenen Bandes: Unerwünschte Erfahrung. Kriegsliteratur und Zensur in der DDR, Berlin u. a. 1990. 535 Vgl. Ursula Reinhold: Berlin-Ansichten, in: Heukenkamp (Hg.): Erinnerung, S. 199–237, hier S. 200ff. 536 Heinz Rein: Finale Berlin. Roman. Mit einem Nachwort v. Fritz Raddatz, Berlin 2015, S. 528. 537 Vgl. ebd., S. 57. 538 Ebd., S. 565f. Vgl. die allerdings diffus bleibende Rede vom zu schaffenden »Fundament« (S. 547), das dem »geistigen Vakuum« entgegengestellt werden müsse (S. 286).

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der zunächst nur widerwillig, dann zunehmend enthusiastisch betriebenen Karriere in der Hitler-Jugend an die Ostfront, benennt, ähnlich Kolbenhoff, die psychischen Mechanismen der Anpassung und Selbstrechtfertigung,539 die auch das Novemberpogrom 1938 als notwendige Aktion akzeptieren.540 Aber auch die militärischen Auszeichnungen können schließlich die zunehmenden Zweifel am Sinn des Krieges und der von der Wehrmacht durchgesetzten Herrenmenschenmentalität nicht verdecken. Ihre Folgen werden außergewöhnlich klar benannt: »Massenerschießungen gefangener sowjetischer Offiziere, Kommissare und der Soldaten jüdischen und tartarischen Typs«, Lager sowjetischer Kriegsgefangener, »wo die Menschen, vor Durst und Hunger wahnsinnig geworden, sich gegenseitig selber mit den Zähnen anfielen«.541 Die Fortsetzung des Kampfes wird mit dem Schutz der deutschen Zivilbevölkerung vor der wahrscheinlichen Vergeltung begründet, ein häufiges Motiv in literarischen Texten und Autobiographien von Kriegsteilnehmern. Der Text schließt mit einer klar definierten Zukunftsperspektive: Konrad Burscheidt beteiligt sich nach kurzer Kriegsgefangenschaft am Wiederaufbau Berlins, erkennt das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen, bekommt Kontakte zu Opfern des Hitler-Regimes und wird sich als Lehrer für die Vermittlung von »Humanität« an die »völlig demoralisierte Jugend« einsetzen: »für den Wiedereintritt unseres Volkes in den Kreis der gesitteten Nationen«.542 Motive der erwähnten Schulgeschichten greift 1947 Thilo Koch auf. Sein Roman »Eine Jugend war das Opfer« thematisiert das Jahrzehnt 1933 bis 1943 und entwickelt, die Titelformulierung deutet es schon an, eine verhängnisvolle Leidenschaft für trivialliterarische Sujets und Sentenzen: »Sie versuchten nicht«, so heißt es über das vorbildliche Liebespaar unter den Figuren, »mit fiebriger Hast ein oberflächliches Vergnügen zu erjagen« – dies nämlich ist das Ansinnen der schönen, aber leichtlebigen Schwester des männlichen Teils, die in ihrer 539 Vgl. Karl Grünberg: Hitlerjunge Burscheidt. Die Tragödie einer Jugend unserer Tage, Rudolstadt 1948, S. 46, wo »sein ihm bereits in Fleisch und Blut übergegangenes Vokabular« erwähnt ist. 540 Ebd., S. 41. 541 Ebd., S. 78f. 542 Ebd., S. 106f. Der »Neulehrer« steht exemplarisch für die »Aufbaugeneration« in der DDR, in der nicht Konflikte zwischen Generationen, sondern ihre Harmonie, ihre Gemeinsamkeit in der Gestaltung der Zukunft im sozialistischen Staat betont wurde; vgl. Benjamin Möckel: »Warum schweigt die junge Generation?« Die Jugend des Zweiten Weltkriegs im Spannungsfeld ambivalenter Jugenderwartungen, in: Kirsten Gerland, Benjamin Möckel, Daniel Ristau (Hg.): Generation und Erwartung. Konstruktionen zwischen Vergangenheit und Zukunft, Göttingen 2013, S. 158–177, hier S. 173f. Das Zitat im Aufsatztitel stammt aus Hans Werner Richters gleichnamigem Aufsatz im »Ruf« 1946. Richter erklärt das »Schweigen« der »jungen Generation« als einzig adäquate Reaktion auf den vollständigen Verlust von Orientierung und Werten nach dem Ende der Diktatur und des Krieges; das ständige Schwadronieren der ›Älteren‹ hingegen könne ihr Versagen nicht ungeschehen machen.

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aufgeschlossenen Art »gute Beziehungen zu einigen Verwaltungsoffizieren« anknüpft und folgerichtig im »Ueberfluß« lebt – »Still begingen sie das Fest der Liebe. (…) So erhoben sie sich über das Verhängnis ihrer Generation und hofften, daß der Glanz dieser Tage reichen werde für die große Nacht danach«.543 In den Text wird die seit der Jahrhundertwende geläufige Konstellation des musisch begabten Primaners eingebaut, dessen Neigungen hinter institutionellen Anforderungen, hier sind es Reichsarbeitsdienst und Teilnahme am Afrikafeldzug, zurückstehen müssen. Wenig originell sind auch die Stereotypen vom »Verhängnis«, vom schneidigen, aber charakterschwachen SS-Offizier (Ferdi Pellke) oder dem lebensfremden bibliophilen Studienrat (Dr. Melk). Auffällig hingegen sind Beobachtungen zur Attraktivität der Hitlerjugend544 und zur Terrormaschinerie des NS-Staats: von den Disziplinierungsmaßnahmen gegenüber missliebigen Pädagogen und Schülern und dem traditionellen Soldatenethos des Ritterkreuzträgers, dessen Empörung über die von der verantwortlichen Generalität gedeckte Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener ihn ins Zuchthaus bringt, bis zum körperlichen und psychischen Ruin des denunzierten Buchhändlers (Frey) und des Pastors (Machenberg), der gegen den »Wahnsinn des Krieges« predigt, durch Gefängnis- und KZ-Haft.545 Der Roman schließt mit der Aussicht auf »die Vernichtung des Vaterlandes«, den »Tod einer Kultur« und dem Appell des Lehrers an den ehemaligen Schüler: »auf euer Geschlecht kommt es an, wenn etwas zu retten sein wird.«546 Übergänge: Kerckhoff, Loest, Denger, Neumann Solche Hoffnungen sind in Susanne Kerckhoffs Roman »Die verlorenen Stürme«, 1947 vorgelegt, in der thematisierten historischen Konstellation verabschiedet; die Autorin ist mit der Neuausgabe ihrer »Berliner Briefe« (1948), eines halb fiktiven Briefromans, 2020 wieder ins Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit gerückt. Der Roman steht bedingt in der Tradition der Adoleszenzromane des frühen 20. Jahrhunderts, behandelt aber innerhalb eines breiteren Figurenspektrums auch eine sozialistische Schülergruppe in Berlin mit der siebzehnjährigen Margarete Kartens, im Text zumeist in der Kurzform Marete genannt. Sie ist die Tochter eines etablierten Schriftstellers, der sich über den politischen Tagesereignissen sieht: »Ob Sozi oder Kozi, ob Nazi oder Fazi«, so seine flapsige Formulierung. Er »verdämmerte seine Phantasie in einem Traumreich«, kommentiert der Erzähler: »Wolfgang Kartens war ein Gefangener in seiner eigenen 543 544 545 546

Thilo Koch: Eine Jugend war das Opfer, Berlin 1947, S. 228f. Ebd., S. S. 34. Ebd., S. 219. Ebd., S. 230, dort auch das folgende Zitat.

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Schöpfung, die ihn übersehen ließ, was in der Schöpfung Gottes vor sich ging.«.547 Die Figur repräsentiert ein Bildungsbürgertum, das sich in der polarisierten politischen Situation am Ende der Weimarer Republik seltsam ortlos und indifferent zeigt. Kerckhoffs Roman bildet für den Zeitraum vom Herbst 1932 bis zum Frühjahr 1933 markante Positionen des politischen Spektrums ab, den Antisemitismus von Schülern und Lehrern, die Agitation völkischer Organisationen in den Schulen, von demokratischen Kräften hilflos geduldet,548 schließlich erste Maßnahmen zu deren »Gleichschaltung«, Ludendorff-Bewunderung des Hauspersonals, pöbelnde SA-Trupps in den Straßen; aber auch die Rivalitäten linker Gruppierungen549 und die Unterschätzung der eigenen Gefährdung im deutschen Judentum noch nach den Bücherverbrennungen.550 Die Diskussionen551 unter den Unterprimanerinnen kann man gutgläubig oder naiv nennen, den von der Protagonistin vertretenen Freiheits-Begriff idealistisch.552 Aber diese Jugendlichen sind politisch orientiert, versuchen sich mit lokalen Aktionen in die Tagespolitik vor den Novemberwahlen 1932 einzubringen,553 beziehen begründet Position. Die Elterngeneration (Maretes Vater, Vater Waitz) sieht sich humanistischen Werten verpflichtet und verkennt die politische Situation fundamental. Jugendlicher Widerspruch wird durch Kontrolle und Zerstörung persönlicher Gegenstände, dann Unterbringung bei entfernten Verwandten eingedämmt, politische Debatte oder gar Aktivität findet nicht statt:554 »Mit der Kunst sollten sich junge Menschen beschäftigen – mit der Kunst!«555

547 Susanne Kerckhoff: Die verlorenen Stürme. Roman, Halle/S. 1947, S. 6, S. 193. 548 Ebd., S. 42. Kerckhoff schreibt damit die Vorgeschichte der »gleichgeschalteten« Schule, von der dann 1937 Ödön von Horvaths Roman »Jugend ohne Gott« eindrucksvoll berichten wird, der textinternen Hinweisen nach im Jahr 1936 angesiedelt ist. 549 Vgl. Kerckhoff: Stürme, S. 71ff. 550 Vgl. ebd., S. 57, S. 201. 551 Vgl. auch die Position des Musiklehrers Kanz S. 38ff., dagegen S. 200: »Denn was nun geschehen war, was täglich geschah, das hatte er ja nicht gewollt!« 552 Vgl. ebd., S. 84ff., S. 92, vgl. auch S. 75f. zur Vision einer befreiten Gesellschaft. In den Worten des Erzählers: Der Vater »sah Maretes feurigen Idealismus nicht, der sie zum Sozialismus getrieben hatte.« (S. 141) Der wiederum ist der Selbstreflexion durchaus förderlich, vgl. S. 146 zur weihnachtlichen Wohltätigkeit auf »bürgerliche Art«, an der sich Marete auf Vorschlag ihrer Tante beteiligt hatte: »Es war Lüge und Trug, wenn die Frauen auf der einen Seite für das System standen, das Arbeitslosigkeit gebar, und auf der anderen Seite schwebten sie wie gütige Engel um den Weihnachtsbaum.« Andererseits sind die Überlegungen, »Arbeiterin« zu werden nicht nur wegen der hohen Arbeitslosigkeit realitätsblind: »Dann gehöre ich wirklich zum Proletariat. Niemand darf mir dann sagen, daß ich nur aus Spielerei Sozialistin bin!« (S. 156). Dagegen die Einschätzung eines tatsächlichen Arbeiters: »Es ist eine andere Welt.« (S. 169, vgl. S. 199). 553 Vgl. ebd., S. 100f. 554 Vgl. ebd., S. 110ff., S. 142. 555 Ebd., S. 125.

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Kerckhoff schreibt die Vorgeschichte zu den bislang erwähnten Texten, in denen zwar mehrfach, etwa bei Kolbenhoff, Koch und Grünberg, die Intensität der Sozialisation im nationalsozialistischen Staat thematisiert wird, nie aber die Genese dieser erzieherischen Zwangsmechanismen, die historischen Bedingungen für ihre Etablierung als institutionelle Rahmenstruktur. Kerckhoffs Zeitroman greift die bereits drei Jahrzehnte zuvor zentral im expressionistischen Drama artikulierte Figurenkonstellation des Generationskonflikts auf und demonstriert die politische Hilflosigkeit als eine der erzieherischen Praxis, deren Prinzipien ironischerweise in der eigenen Kunst wiederum vergessen sein sollen. Von einem Freund wird das erzieherische Verhalten des Schriftstellers kommentiert: »›Du läßt sie nicht jung sein –‹«. Die Reaktion des Vaters: »Ach, das war alles nicht wichtig. Sein neues Buch mußte gut werden. Ein Schülerroman, der in der Zeit vor dem Weltkrieg spielte. Die geistigen Tragödien im Kerker der preußischen Erziehung. Die Verlogenheit des sogenannten klassischen Idealismus galt es bloßzustellen. Die moralische Enge, die die körperliche Not der Jugend zum lastenden, dumpfen Komplex anwachsen ließ – das war der Umriß des Themas. Um seine Einsicht in das Wesen des jugendlichen Menschen zu vertiefen, um nicht allein von Erinnerung und Intuition abhängig zu sein, vertiefte Kartens sich in psychologische Studien. Heute hatte er sich Sprangers ›Psychologie des Jugendalters‹ gegriffen.«556

Das Gegenstück formuliert der Roman selbst in der Äußerung eines Repräsentanten des liberalen (»Ich wähle die Deutsche Volkspartei aus dankbarer Erinnerung an unseren Stresemann. Aber junger Wein gärt.«) jüdischen Bürgertums: »wenn das Maretekind sich für seine Überzeugung zu Hause rausschmeißen läßt, dann sage ich, und das weiß ich ganz genau: diese jungen Menschen werden später in Wahrheit sein was sie werden sollen: tolerant und liberal!«557 Der schließlich doch einsichtige Vater Kartens besteht allerdings auf einer ästhetischen Gesellschaftsanalyse, die sich soziologischen und politischen Kategorien verweigert, einem abstrakten »Koordinatensystem«, und wertet stattdessen die Trauer um den Heimatverlust der exilierten Jüdin, deren Vater von SA-Männern niedergeknüppelt worden war, als Interesselosigkeit gegenüber neuen Eindrücken. Die von der Tochter erwähnte soziale Deklassierung der Arbeiterschaft wird einer »Welt« zugerechnet, die »wunderbar rund« sei und sich nicht theoretisch erfassen lasse: »Ihr nehmt ihr die Tiefe, den Zauber, die Tragik, die Religiosität.« Denn: »Auch bessere Lebensbedingungen machen nicht glücklich.«558 Der Roman schließt mit letzten Aktivitäten des Diskussionskreises »Die 556 Ebd., S. 149f. 557 Ebd., S. 121ff. 558 Ebd., S. 159f. Die ›tragische Tiefe‹ der Welt und ihre Entzauberung durch Wissenschaft und Technik ist zeitgenössisch ein aktuelles Thema, so, fast wörtlich, bei dem Münchner Psy-

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Brücke«, der Trägheit der etablierten Linksparteien soll entschiedener, nunmehr illegaler Widerstand entgegengesetzt werden, der allerdings schnell durch Verhaftungen beendet ist. Schulleitung, Lehrpersonal und viele Schülerinnen passen sich dem »Wandel der Dinge« an, der Kreis löst sich auf, Mitglieder gehen ins Exil.559 Ein junger Besucher des Vaters intoniert nach dem Vorbeimarsch einer SA-Formation auf seinem Bechstein-Flügel das Horst-Wessel-Lied, was der Schriftsteller als ›geschmacklos‹ bezeichnet – für Margarete Anlass zu einer letzten Abrechnung mit einer vorgeblich unpolitischen Haltung, die sich auf die eigene Bildung in unangemessener und unzeitgemäßer Form beruft: »Du bist doch schuld! […] Den Nazis habt ihr es überlassen, eine Sprache zu reden, die die Leute verstehn! […] Es ist euch ja alles nur ein Spiel! Ihr meint ja mit Freiheit nur eure verdammte Bequemlichkeit! Aber die werden sie euch nicht lassen! Das muss alles bezahlt werden […]. Uns Junge, die kämpfen wollten, habt ihr verspottet, habt uns verboten, unsere Zukunft selbst in die Hand zu nehmen! Das war ja wieder nicht fein genug, Wände zu beschmieren!«560

Bei einer Bücherverbrennung vor der Universität werden auch Bücher von Wolfgang Kartens verbrannt.561 Kerckhoffs 1946 verfasster Roman greift in seiner Protagonistin die Konstellation des Generationskonflikts aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auf; Friedrich Torbergs »Der Schüler Gerber hat absolviert«, einer der bis heute bekanntesten Schulromane, wie Strauß’ »Freund Hein« mit dem Suizid des Protagonisten endend, war noch 1930 erschienen. Unsensible, bornierte Eltern und einengende Schulverhältnisse werden kurz nach dem Ende des Weltkriegs allerdings nicht zum Anlass, die Enge der bürgerlichen Welt zu beklagen und Rücksicht auf individuelle Dispositionen zu fordern. Vielmehr besteht Kerckhoff darauf, dass die nur zu ihrem Recht kommen können, wo sie durch gesellschaftliche Strukturen grundsätzlich abgesichert sind, die in Konflikten immer aufs Neue zu behaupten sind. Ein anderer Übergang rückt bei Erich Loest in den Fokus, allerdings nicht wie bei Kerckhoff der von der Republik zur Diktatur. Thematisiert werden die Jahre 1944 bis 1946, von der Einberufung des Protagonisten Uhlig aus der HitlerJugend als Rekrut zur infanteristischen Grundausbildung bis zur Integration in chologen Philipp Lersch; vgl. umfassend Volker Dörr: Mythomimesis. Mythische Geschichtsbilder in der westdeutschen (Erzähl-)Literatur der frühen Nachkriegszeit (1945– 1952), Berlin 2004, S. 99–121. Die Tochter allerdings vermag es in Kerckhoffs Roman nicht, nach Hitlers Wahl zum Reichskanzler »mit Hilfe klassischer Literatur ein Sinngefüge aus Lillys Sterben zu lesen«. Die Schulfreundin bringt sich als Reaktion auf die politische Konstellation um (S. 169). 559 Ebd., S. 180. 560 Ebd., S. 196f. 561 Vgl. ebd., S. 200.

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den Wiederaufbau. »Jungen die übrigblieben«, 1949 mit dem Copyright-Vermerk 1950 publiziert, behandelt zunächst eher konventionell Ausbildungsschikanen und nationalsozialistische Phrasen der Ausbilder, sich einstellende soldatische Routinen, Durchhalteparolen und desaströse Kampferfahrungen an der Oder, eine kurze Kriegsgefangenschaft bei der Roten Armee. Für einen Kameraden endet die in einem russischen Bergwerk, er erlebt dort um korrektes Verhalten bemühte Aufseher, arbeitet über Norm und stellt sich der brutalen Behandlung russischer Gefangener durch die Wehrmacht; ein anderer verdingt sich nach einer Beinamputation als Neulehrer, der den eigenen Karriereabsichten in der Wehrmacht bewusst einen politischen Lernprozess entgegensetzt.562 Uhlig allerdings fasst nach der Rückkehr nach Chemnitz nicht Fuß, bricht Arbeitsversuche ab und legt sich wegen seiner Faulenzereien mit dem Vater an: »Aufbauen wollte er, zupacken. Und jetzt war alles so anders!«563 Bemerkenswert an dem Text ist die ausführliche und detaillierte Thematisierung des kleinkriminellen Milieus, in dem Uhlig tätig wird. Die regulierte Zirkulation von Geld und Waren ist im Nachkriegsdeutschland gestört und wird in weiten Teilen durch einen ausgedehnten Schwarzmarkt ersetzt, die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen wird bereits in der zeitgenössischen Soziologie registriert.564 Uhlig verdingt sich mit Bekannten im Tauschhandel, will sich als ›Schieber‹ etablieren, nicht mehr zu den ›Übriggebliebenen‹ und ›Spießern‹ gehören,565 sondern sich profilieren: »Du willst arbeiten. Du machst deinen Alten Holz. Schön. Aber dumm. Wenn du arbeitest, wo willst du dann die Zeit zum Geldverdienen hernehmen?«,566 so die Alternative eines Bekannten. Weder Politik noch reguläre Arbeit scheinen den eigenen Erfahrungen angemessen: »Sie, der ehemalige Reserve-Offiziers-Bewerber und der ehemalige Hitlerjugendführer, sie wußten Bescheid! Ihnen konnte man nichts mehr vormachen!« Tanzvergnügen, Alkohol, Zigaretten, elegante Kleidung werden hingegen leicht erreichbar für die »Schieber«: »die haben alles«.567 Und: »Aber heute gab es doch kein anderes Ideal, als möglichst viel zu essen, zu trinken und zu rauchen, zu huren, andere übers Ohr zu hauen, 562 Vgl. Erich Loest: Jungen die übrigblieben. Roman, München 2006, S. 247, S. 273, S. 286, S. 317, S. 348. Auf autobiographische Spuren macht Carsten Gansel aufmerksam: »Ihr habt keine Ahnung, Kinder«. Erich Loest im Kontext der Literatur in der DDR, in: Carsten Gansel, Joachim Jacob (Hg.): Geschichte, die noch qualmt. Erich Loest und sein Werk, Göttingen 2011, S. 16–35, S. 22f. Ein siebzehnjähriger fanatisierter SS-Soldat ist Protagonist des 1968 erschienenen Romans »Der Abhang«. Vgl. Paweł Zimniak: Zeit zu sterben. Ideologische Indoktrinierung und Generationengedächtnis in Erich Loests »Der Abhang«, ebd., S. 73–83. 563 Loest: Jungen, S. 289. 564 Vgl. den Hinweis auf eine Berliner Dissertation aus dem Jahr 1948 bei Sven Reichardt, Malte Zierenberg: Damals nach dem Krieg. Eine Geschichte Deutschlands 1945 bis 1949, München 2009, S. 90. 565 Vgl. Loest: Jungen, S. 321. 566 Ebd., S. 254. 567 Ebd., S. 258f.

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um noch mehr zu haben…Was sollte man sonst tun?«568 Zwei Ereignisse allerdings bewirken eine biographische Wende. Zunächst die schmerzhafte Geschlechtskrankheit eines Freundes, der unter der medikamentöse Behandlung schwer leidet. Dann aber besonders das Scheitern eines »großen Coup[s]«, wobei Uhlig nur knapp einer Verhaftung entgeht.569 Ein ehemaliger Kamerad klagt eine »neue Moral« ein: »Wir können die alte Moral nicht übernehmen, wie sie war. Und wir haben nichts, was noch Gültigkeit hätte. […] Weißt du nicht, daß uns nur angestrengteste Arbeit hochbringen kann? […] Du mußt beginnen, mit den anderen und für die anderen zu leben. Das fängt mit der Arbeit an.«570

Eine Aussprache mit der Freundin bestätigt dies, die Wende in diesem sozialistisch grundierten Bildungsroman kann sich vollziehen. Man sieht Uhlig am Schluss als zupackenden Handwerker: Wie bei Grünberg das Modell der Wandlung, schon im expressionistischen Drama dreißig Jahre zuvor ein probates Mittel, den Neuen Menschen vorzustellen, hier ergänzt durch eine kollektive Perspektive. Die zeitgenössischen ›Gefährdungen der Jugend‹ sind auch das Thema des jüngsten Textes. »Der gottverdammte Jahrgang. Roman einer enterbten Jugend«, 1951 vorgelegt von Fred Denger, der bereits 1946 mit »Wir heißen Euch hoffen. Schauspiel um die heutige Jugend« eines der meistgespielten Heimkehrerdramen auf die Bühnen gebracht hatte.571 Denger stellt dem Roman ein Epigraph voran: »Dieses Buch behandelt das Schicksal junger Menschen, Geboren aus der Inkonsequenz der Väter, Gelitten unter der Konsequenz ihres Handelns, Gekreuzigt durch unser aller Unzulänglichkeit.«572

Der Text spielt in Berlin nach dem Ende des Weltkriegs. In einem Friedhofsschuppen findet sich eine Gruppe Jugendlicher und junger Erwachsener zwischen 14 und 22 zusammen, der fünfjährige, verwaiste Willi findet bei ihnen zunächst Unterschlupf und kann schließlich seinem Vater übergeben werden. Zentrale Figur ist der zwanzigjährige Michael, mit dem EK I dekorierter Unteroffizier, in den letzten Kriegstagen desillusioniert desertiert, um den sich die zufällig einander begegnenden, aus unterschiedlichen Gründen vereinsamten Menschen sammeln, die eine »Clique der Konsequenten« formieren (»Jeder ist 568 569 570 571

Ebd., S. 359. Ebd., S. 354f. Und: »Er war jetzt allein.« Ebd., S. 361f. Vgl. Ralf Trinks: Zwischen Anfang und Ende. Die Heimkehrerdramatik der ersten Nachkriegsjahre (1945–1949), Würzburg 2002, S. 122ff., S. 148ff. 572 Fred Denger: Der gottverdammte Jahrgang. Roman einer enterbten Jugend, Hamburg 1951, S. 5.

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sich selbst der Nächste! Das sei unsere gemeinsame Parole«) und sich als »Familie« verstehen.573 Durch kleinere Diebstähle, dann durch geplante Einbrüche werden Vorräte beschafft, die das tägliche Überleben in den Ruinen sichern, versehentlich wird ein Nachtwächter erschossen; ständige Unterkunft sind Kellerräume unter einem von Bomben zerstörten Gebäude. Die ungeschönte Beschreibung des Alltags zwischen Hunger und Krankheit, Schwarzmarktgeschäften, Gelegenheitsprostitution von Minderjährigen, Geschlechtskrankheiten und ungewollter Schwangerschaft, Polizeirazzien und Kneipenmilieu ist die eigentliche Stärke des Texts. Eine zweite die resolute Anklage gegen nationalsozialistische Mitläufer und ihre Phrasen, Wendehälse und Kriegsgewinnler wie den exemplarisch vorgeführten ehemaligen Blockwart Meyer, gegen oberflächliche Entnazifizierung und, grundsätzlicher, gegen die Etablierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, »damit wieder neue AG’s, neue GMBH’s, Trusts, Konzerne, Syndikate und Interessengemeinschaften entstehen können. Auf daß die Kanalarbeiter und die Schuttschipper ewig zu zwölft in der Laube wohnen – und lungenkranke Kinder haben. Und ewig die Dummen sind. Ob national oder liberal, ob christlich oder paneuropäisch – sie werden die Betrogenen sein, weil der Sozialismus sich mit den Meyers nicht verträgt. Und darum bleibt alles beim alten.«574

›Jugend‹ im reformpädagogischen oder modernen jugendpsychologischen Verständnis findet für diese Jugendlichen, wie in vergleichbaren Texten der zwanziger Jahre (Glasers »Schluckebier«), nicht statt: »Du bist nicht richtig jung«, so formuliert es Michaels Freundin, die mit der Erinnerung an eine zweitägige Verschüttung kämpft. Seine Antwort: »Nein, du hast recht. Ich bin es nicht. Ich war auch nie richtig jung. Als ich jung war, gab es Krieg. Da wollte man rasch alt werden. KV. Und als es soweit war, nun, da war man schon alt, ehe man sich’s versah. Ich bin versehentlich alt, Karen.«575 Wunschträume von Ausstieg und Neuanfang, von »ihrer Siedlung mitten in den Wäldern«, schließen sich an.576 Kommentar des Erzählers: 573 Ebd., S. 133, S. 113. 574 Ebd., S. 185. Vgl. S. 279: »Gesellschaftsordnung?? Willst du das vielleicht Gesellschaftsordnung nennen, diesen Dreckstall?« Nicht auf strukturelle Gegebenheiten, sondern auf sozialpsychologische macht Bruno Hampel aufmerksam, der schlaglichtartig die selbstgefällige, eben ›hoffnungslose‹ Vorurteilsstruktur ehrbarer Bürger beim Blick auf jugendliche Zigarettenschieber thematisiert; »Ja, es ist hoffnungslos«, in: Hampel: Treppenlicht, S. 123– 128. 575 Denger: Jahrgang, S. 191. Vgl. S. 15 ein Motiv auch des Adoleszenzromans am Beginn des 20. Jahrhunderts, das künstlerische Interesse: »Früher wollte er Cello spielen lernen, nun kennt er den Unterschied nicht mehr zwischen einem Kontrabaß und einer Viola. Aber er kann eine ›12 cm‹ von einer ›12,5 cm‹ unterscheiden.« 576 Ebd., S. 288, vgl. S. 278 über den »kühnen Flug seiner Gedanken«: »Die Michael-Generation schuf die neue Welt. Der gottverdammte Jahrgang.«

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»Das sind die Pennbrüder des Jahrgangs 28. Die Kippensammler Jahrgang 27. Die Amateurhürchen Jahrgang 29 bis 31. Die Ausgespuckten zwischen 15 und 25 Jahren. Das Treibholz des großdeutschen Reiches. Das Strandgut des Aufbruchs der Nation.«577

Die »Clique« wird schließlich von der Polizei gestellt, ein Vierzehnjähriger bei der Aktion erschossen. Das letzte Kapitel des Romans ist dem Strafprozess gewidmet, genüsslich verfolgt von Herrn Meyer, ehedem Lieferant der Roste für die Öfen in Auschwitz, nunmehr erneut erfolgreicher Geschäftsmann und selbsternannter »Vorkämpfer für die demokratische Erneuerung Deutschlands«,578 der sich beim juristischen Vorgehen gegen »die Unmoral der heutigen Jugend« an die unterhaltsamen »Theaterverhandlungen« Roland Freislers erinnert. »Die da draußen sind gottverdammte HJ-Lümmels, die man zur Räson bringen wird. […] Und die da waren alle keinen Schuß Pulver wert«, so die Einschätzung der Berufsrichter.579 Diese Selbstgefälligkeit wird in einem flammenden Plädoyer des Verteidigers vernichtet, der, wie der Erzähler kommentiert, »bald nicht mehr von den wenigen jungen Menschen da auf der Anklagebank spricht«, sondern »von Hunderttausenden. Von der ganzen verführten Generation.«. Die Stimme des Verteidigers: »Der gottverdammte Jahrgang ist der wirkliche Bankrotteur! Unendliches Elend brachte Hitler in die Welt, sein größtes Verbrechen sind diese jungen Menschen. Sie sind die bedauernswertesten Opfer des ganzen Regimes, denn sie sind jung und taten nichts. Sie wurden nur geboren. […] Die Täter all dieser aufgezählten Vergehen sitzen nicht unter uns. Sie sitzen in Nürnberg […]. Die hier sitzen, sind ein Teil dieser Verbrechen! Wie kann man den Gemordeten schuldig sprechen? […] gebt Ihnen ein Ziel! Zeigt ihnen den Weg. Gebt ihnen eine Aufgabe. Und ändert für sie die Verhältnisse. […] Denn diese Jugend ist ohne Schuld!«580

Schreibtechnisch wenig überzeugend erstreckt sich diese Figurenrede, eigentlich ein Manifest zur Jugendfürsorge, über mehr als zwei Druckseiten, dann tritt überraschend Michaels Freundin auf, die sich als Tochter des Vorsitzenden Richters entpuppt und den Vater unverantwortlichen Verhaltens gegenüber seiner Familie bezichtigt: »Doch der da, mein Vater und seinesgleichen sind schuldig!«581 Der Richter erhängt sich, nach der Unterbrechung des Prozesses werden Gefängnisstrafen nach geltendem Recht verfügt. Dengers Roman greift ausführlich die zeitgenössisch intensiv diskutierte und auch von der Figur des Richters so genannte »Verwahrlosung« der Jugend auf,582 577 Ebd., S. 137. Vermutlich eine sarkastische Erinnerung an einen bekannten Roman des rechtsradikalen Schriftstellers Franz Schauwecker (Aufbruch der Nation, 1929). Für den Hinweis danke ich Justus H. Ulbricht. 578 Ebd., S. 295, das folgende Zitat S. 296. 579 Ebd., S. 298f. 580 Ebd., S. 308ff. 581 Ebd., S. 312. 582 Ebd., S. 310. Zu den zeitgenössischen Debatten vgl. Möckel: Erfahrungsbruch, S. 158ff.

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ihre wirtschaftlichen Gründe in materiellem Elend und zerstörten Familien, oft begleitet von Befürchtungen zu politischen Prägungen. Mit der Schlusspassage schließt der Text an Argumentationen wie die eingangs zitierte der »Ruf«-Redaktion an: Die »junge Generation« treffe keinerlei Verantwortung für die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur, vielmehr sei es gesellschaftliche Pflicht, der unbelasteten Jugend Zukunftsperspektiven zu eröffnen – möglicherweise auf den »Sozialismus« hin, den auch Andersch als nicht auf Parteipolitik reduzierbare Verständigungsformel einführt: »ein vom Menschen fordernder und an den Menschen glaubender Glaube, ein sozialistischer Humanismus.«583 Eine derartige Perspektive ist Robert Neumanns »Die Kinder von Wien« fremd, 1946 in englischer Sprache geschrieben, 1948 in vom Autor selbst angefertigter deutscher Übersetzung erschienen. Der Text beschreibt in einem Kunstidiom mit fragmentierter Syntax eine Gruppe von Kindern im Nachkriegswien, die sich in einem Kellerloch eingerichtet haben und gegen Feindseligkeiten von Erwachsenen behaupten müssen. Ein amerikanischer Militärpfarrer will ihnen materiell helfen und eine Flucht in die Schweiz ermöglichen, scheitert aber an seinem Vorgesetztem und den Winkelzügen eines deutschen Kriegsgewinnlers.584 Nicht eine Lebensperspektive steht am Schluss, sondern der Zerfall der Gruppe, der Tod eines von der Gruppe betreuten Kleinkindes, die Aussicht auf Gelegenheitsprostitution beim ältesten Mädchen585 und Anstaltsverwahrung und weitere Verelendung bei den anderen Kindern, diesem »Kreis von ernsten Tieren«.586 Erschütternd ist die Selbstverständlichkeit, mit der ihr Autor sie von KZ-Erfahrungen mit Gastod und Fleckfieber sprechen lässt, von verwesenden Körpern und aufgetriebenen Bäuchen bei Unterernährten. Nicht das dem Lebensalter angemessene ›Erleben‹, wie es auch der in Kerckhoffs Text

583 Andersch: Europa, S. 20. Ähnlich diffus auch Michael bei Denger: Jahrgang, S. 132: »Ich denke mir, man müßte eine Revolution machen, damit sie merken, daß wir auch noch da sind, daß sie uns nicht vergessen und ihre Schuld nicht, die sie ausradieren wollen mit allen Federmessern und Radiergummis dieser Welt, um wieder weiß zu werden und fleckenlos. Drum geben sie uns die Schuld. Euch, weil ihr nur gehorsam wart, mir, weil ich jung bin und den Wimpel trug, der so herrlich knatterte, wenn der Wind ging. War doch ganz wurscht, was da drauf war. Ob Sonnenrad oder Kreuz oder Sichel oder sonstwas. Hast Du danach gefragt? Und nun sind wir schuld. Du und ich. Wir Jungen. Weil es eben so bequem ist. […] Ihr Freunde, wir wollen uns ein Reich bauen, in das keiner reinkommt.« 584 Robert Neumann: Die Kinder von Wien. Roman, München u. a. 1974, S. 198f. 585 Vgl. ebd., S. 205: »Ich kann professionell gehen«. 586 Ebd., S. 77; vgl. S. 204 den nur beiläufigen Hinweis auf die Kontinuität von ›Haltungen‹. Ein Mädchen aus der Gruppe, früher eifriges BDM-Mitglied, bleibt nicht nur bei seinen antisemitischen Überzeugungen (vgl. S. 37f.), sondern denunziert die Notunterkunft auch bei den sowjetischen Truppen: »Sie sind die Obrigkeit. Ich bin immer schon überall die beste gewesen« (S. 204).

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bemühte Eduard Spranger postuliert, ist hier Thema, sondern das von brutalen körperlichen Übergriffen bestimmte Überleben von Tag zu Tag. ›Jugend‹ in Texten nach 1945 Literarische Texte, die jugendliche, überwiegend männliche Figuren in den Mittelpunkt stellen, stehen zum einen, seltener, in der Tradition des Zeit- oder Gesellschaftsromans, etwa bei Susanne Kerckhoff und Fred Denger, wenig überraschend häufiger, zum anderen, in der Tradition der Kriegsprosa seit dem Ersten Weltkrieg mit ihren Polen: Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues«, 1928 publiziert, und Ernst Jüngers »In Stahlgewittern. Ein Kriegstagebuch«, 1920 erschienen. Während Remarque eindringlich das Leiden des einfachen Soldaten verdeutlicht, der für imperiale Gelüste von Feldherren stirbt, verbindet Jünger seine Schilderungen aus den Materialschlachten der Westfront mit kulturphilosophischen Diagnosen vom Ende des bürgerlichen Zeitalters und seiner Psychologie, das vom Typus des heroischen, ›kalten‹ Kämpfers abgelöst werde. Eine solchen Mentalität im Sinne einer »Totalen Mobilmachung« (1930) der Gesellschaft stehen die erwähnten Texte distanziert gegenüber, denen es, auch wo sie wie Kolbenhoffs »Von unserem Fleisch und Blut« vom Durchhaltefanatismus sprechen, um die Allgegenwart von Bedrohung geht: in der Situation des militärisch hoffnungslosen »Endkampfs« an allen Fronten, des staatlichen Zusammenbruchs insgesamt wie der Ohnmacht des einzelnen Jugendlichen, ob ihn die Parolen der nationalsozialistischen Institutionen vorwärts treiben oder der Kampf ums Überleben. Die Situation im Nachkriegsdeutschland mit alltäglichem Hunger und Schwarzmarkt kann familiäre Rollensicherheiten und Orientierungsangebote, wie sie moderne pädagogische Konzepte als dem Jugendalter adäquat einfordern, nicht bereitstellen: Die fiktiven Lebensläufe koinzidieren in der Konfrontation mit allgegenwärtiger Gewalt als zentralem Merkmal jugendlicher Lebenswelten; nur in Ausnahmefällen, bei den sozialistischen Autoren Karl Grünberg und Erich Loest, zeichnen sich konkretere Perspektiven eines handfesten »Wiederaufbaus« ab, emphatische Zukunftsvisionen jugendlicher Inspiration des Aufschwungs fehlen. Vielmehr sind die erwähnten literarischen Leidensszenarien deshalb so deprimierend, weil sie den scheinbar selbstverständlichen Konnex von ›Jugend‹ und ›Zukunft‹ aufkündigen und in einigen Fällen sogar von Autorinnen und Autoren vorgelegt werden, die selbst als jung gelten: Kerckhoff, Meichsner, Altner. Die erwähnten Texte behandeln deutsche Geschichte zwischen 1930 und 1950 ganz überwiegend in einer Form, die den künstlerischen Anspruch gegenüber der Partizipation an gesellschaftlichen Selbstverständigungsdebatten zurückstellt. Außer bei Kolbenhoff spielen literarische Verfahren der ästhetischen Moderne keine Rolle, es wird der Anschluss an in weiterem Sinne konventionelle

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realistische Schreibprogramme gesucht.587 Die Texte sind in der Regel linear erzählt, bieten ein überschaubares Figurenensemble auf, Figurenreden und Erzählerkommentare lassen Botschaften zur Interpretation der eigenen Biographie und der Kriegsereignisse deutlich hervortreten. Die spezifische Leistung dieser literarischen Texte in den ersten Nachkriegsjahren sehe ich darin, dass sie an einer »Kriegsgeschichte von innen« mitschreiben, um eine Formulierung Ulrich Herrmanns aufzugreifen.588 Ihnen ist es um die Beschreibung der Demontage von Entwicklungsmöglichkeiten der Protagonisten zu tun, die Opfer ihnen letztlich unverständlicher historischer Ereignisse werden. Nicht deren analytische Beschreibung mit empirisch überprüfbaren Daten zu zivilen und militärischen Opfern, zu Truppenstärken und Frontverläufen, zu Strategien der kriegsführenden Parteien, zur Versorgungssituation und zu Mentalitäten einzelner Bevölkerungsgruppen ist in diesen Texten das Thema. Vielmehr erzählen sie fiktive »Erfahrungsgeschichten«589 der individuellen Konfrontation mit Todesangst und Tod, Verelendung, Desillusionierung, Zerstörung von Solidarität, Familie, Freundschaft. Nicht Individualisierung, »Bildung«, »Reifung« werden überwiegend dargestellt, sondern konträr Verfahren der Entindividualisierung:590 in der militärischen Ausbildung ebenso wie in Kampfsituationen des Weltkrieges oder unter den Lebensbedingungen der Nachkriegszeit. Allenfalls im Widerstand gegen das Regime kann sich, in den Texten Kerckhoffs und Reins, so etwas wie die Profilierung des Individuellen abzeichnen. Ein gemeinsames Element aller Texte ist die Darstellung von Gewalt als Dominante der Kommunikation. Ihre Gewaltförmigkeit wird von den Figuren nicht als Ausnahme und Abweichung erfahren, sondern als Normalität, zumal wesentliche Abschnitte ihrer Lebensläufe in einer Gesellschaft geprägt wurden, die sich als militante, kämpferische definierte. Literarische Texte zeigen hier eine

587 Hermetische Schreibverfahren, für die dann, auch im Hinblick auf die beginnende KafkaRezeption, der Name Celan exemplarisch einstehen wird, finden sich in Ilse Aichingers »Die größere Hoffnung«. 588 Ulrich Herrmann: Für eine Kriegsgeschichte ›von innen‹, in: Ulrich Herrmann, Rolf-Dieter Müller (Hg.): Junge Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Kriegserfahrungen als Lebenserfahrungen, Weinheim, München 2010, S. 15–40, S. 15 u. ö., S. 23f. mit dem Hinweis auf literarische Texte als »Erlebnisgeschichten«: Jünger, A. Zweig, Remarque, Wiechert. 589 Vgl. die Ausrichtung von Thomas Kühne: Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 21, der die »Erfahrungsgeschichte der Kameradschaft« rekonstruiert: ihre Leitbilder und Mythen, ihre Visionen und Sehnsüchte, ihre Funktion in Organisationen. Nicht zufällig werden wiederholt literarische Texte als Quellen zitiert: von Flex, Jünger, Remarque und anderen. 590 Vgl. zum militärischen Habitus Ulrich Herrmann: »Wir wurden zu Soldaten verarbeitet« – oder: Wie man Soldaten für Hitlers Krieg machte, in: Herrmann, Müller (Hg.): Soldaten, S. 41–62.

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»Nahsicht«591 auf Situationen des Erleidens von Gewalt, eine »dichte Beschreibung«, um eine sprichwörtliche Formulierung Clifford Geertz’ aufzugreifen: keine soziologische Typik, sondern empathisch detaillierte Sichtweisen auf individuelle Emotionen und Sinneserfahrungen, wie sie vergleichbar in Feldpostbriefen vorliegen können, Quellen einer »Militärgeschichte ›von unten‹«.592 »Unten« befinden sich auch die Protagonisten der Texte: im fast aussichtslosen Widerstand gegen ein übermächtiges Gesellschaftssystem bei Kerckhoff und Rein; in Abwehrkämpfe gegen die erdrückende Überlegenheit alliierter Truppen verstrickt bei Kolbenhoff, Meichsner, Hubalek und Altner; im Überlebenskampf von Schwarzmarkt und Rotlichtmilieu bei Denger und Neumann. Die zeitgenössische Debatte über Schuld und Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus wird eher undifferenziert behandelt, eindeutig ist das Votum der Texte auf Indoktrination gerichtet, auf den Verrat der Erziehungsinstitutionen, der Älteren, die ihrer Verpflichtung gegenüber der heranwachsenden Generation nicht gerecht geworden und damit ihrer Legitimation weitgehend verlustig gegangen seien. Die »Skepsis«, von der Helmut Schelsky ein Jahrzehnt später sprechen wird, gegenüber geschichts- und kulturphilosophischen Konzepten ist ihnen geradezu selbstverständlich. Einen Sinn ihres Lebens vermögen die jugendlichen Protagonisten nicht in ideologischen Verheißungen, in Heilsversprechen welcher politischen oder religiösen Observanz auch immer, zu sehen, sondern allenfalls im persönlichen Umfeld. Ihr »Nahweltbedarf«,593 als Motivations- und Kohäsionsfaktor in gruppensoziologischen Prozessen, ist gesteigert, vertraute und stabile Sozialbeziehungen, die auch Kameradschaft unter Kriegsbedingungen nicht bieten konnte, sind zentral. Der futurische Aspekt der modernen Jugendsemantik wird von diesem Szenario der moralischen Katastrophe überlagert: Nur in Ansätzen geben die Texte die Sicht auf Zukunft und Neuaufbau frei, es überwiegt die Bestandsaufnahme der Gefährdung, des Abgeschnittenseins von Entwicklungsmöglichkeiten, der Perspektivlosigkeit.594 In dieser Ausrichtung partizipieren literarische Texte an den zeitgenössischen gesellschaftlichen Selbstverständigungsdebatten zur Jugend, die ihren Gegenstand nicht selten nur als Vorwand nehmen, um übergreifende Prozesse gesellschaftlichen und kulturellen Wandels zu thematisieren. Fiktive Lebensläufe erweisen sich auch nach 1945 als geeignet, Probleme der Genese von Individualität 591 So Wolfgang Sofsky über sein methodisches Verfahren; Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt a. M. 1993, S. 24. Auch hier findet sich der Rekurs auf literarische Texte (S. 25f.). 592 Wolfram Wette: Die Stimme des »kleinen Mannes«. Ausgewählte Feldpostbriefe deutscher Soldaten, in: Wolfram Wette, Gerd R. Ueberschär (Hg.): Stalingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, Frankfurt a. M. 22012, S. 80–81, S. 81. 593 Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1982, S. 16. 594 Vgl. allgemein zu publizistischen Debatten Möckel: Erfahrungsbruch, S. 161ff.

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und ihrer sozialen Konstitutionsbedingungen in der Moderne insgesamt zu reflektieren. Dabei sind die bereits in den Passagen zu Texten der 1920er Jahre genannten »schweren Zeichen« eminent wichtig, wie sie Werner Helsper im Blick auf gegenwärtige Jugendszenen genannt hat: »Symbole der Allmacht, der Stärke und des Todes, des Grauens und des Bösen.«595 Die Thematik des Krieges, der Zerstörung, der Isolation, die in den Texten nach 1945 dominiert, fügt sich dem ein. »Jugend«, ohnehin ein prekäres Stadium menschlicher Entwicklung, ist nun, pointiert gesagt, nicht nur von ›innen‹, sondern auch von ›außen‹ bedroht, ihre riskante Seite wird im Krieg und in der frühen Nachkriegsgesellschaft besonders prägnant sichtbar. Jugendliche Identität bildet sich in extrem konfliktreichen Konstellationen. Ihr Ausmaß eskaliert in der »Zusammenbruchsgesellschaft« (Christoph Kleßmann) nach 1945 drastisch. Literarische Texte verzeichnen die Folgen als Beschädigungen jugendlicher Lebensläufe, deren Entwicklungsmöglichkeiten gekappt sind.

6.3.1 Jugend als Freiheit. Alfred Andersch Alfred Anderschs Proklamation der »Jungen Generation« im »Ruf« entwickelt eine politische Ambition: Die »Jungen« sollen Avantgarde eines zu konstituierenden europäischen Sozialismus sein. Nicht die Individualität der je Einzelnen steht hier im Vordergrund, sondern die existenzialphilosophisch grundierte Identität eines international konzipierten Kollektivs: eine Position, die nicht Anderschs letztes Wort zur Jugend blieb; hierzu einige den literaturhistorischen Untersuchungszeitraum überschreitende Bemerkungen. Ein Kunstwerk ist zentral in einem der prominentesten Texte der westdeutschen Nachkriegsliteratur, Anderschs »Sansibar oder der letzte Grund«. 1957, im selben Jahr erschienen wie Helmut Schelskys Jugendstudie »Die skeptische Generation«, diskutiert der Roman die Spielräume individueller Moral im totalen Staat,596 auch hierin eine Affinität zu Susanne Kerckhoffs Roman von 1947. Die 595 Werner Helsper: Das »Echte«, S. 245; vgl. bereits seine Monographie: Okkultismus – die neue Jugendreligion? Die Symbolik des Todes und des Bösen in der Jugendkultur, Opladen 1992, bes. Kap 5 zur Heavy-Metal-Kultur (S. 99–161). Zusammenhänge von Gewalt, Aggressivität und Devianz von Jugendlichen mit Popkultur und »Kulturkämpfen« zwischen 1953 und 1966 erläutert Bodo Mrozek: Jugend Pop Kultur. Eine transnationale Geschichte, Frankfurt a. M. 2019. 596 Vgl. Anderschs Selbstbeschreibung: »Ich antwortete auf den totalen Staat mit der totalen Introversion«, in: Alfred Andersch: Die Kirschen der Freiheit, Zürich 1968, S. 46. Zu Anderschs Poetologie vgl. Norman Ächtler: Zwischen Existenzialismus und Strukturalismus, Engagement und Degagement – Alfred Anderschs Poetik des Beschreibens, in: ders. (Hg.): Alfred Andersch. Engagierte Autorschaft im Literatursystem der Bundesrepublik, Stuttgart 2016, S. 111–131.

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einzige nicht mit Namen versehene Hauptfigur ist »Der Junge«. Von seinen drei Motiven für eine Flucht spricht der Titel: von der Verachtung der öden Provinz, dem Hass auf die bornierten Einwohner, die den Vater in den Tod getrieben haben, schließlich: »weil es Sansibar gab, Sansibar in der Ferne, Sansibar hinter der offenen See, Sansibar oder den letzten Grund.«597 Der Text verzeichnet zunächst Merkmale, die seit Rousseaus Jugendkonzept unauffällig sind: Abenteuerlust, durch die Lektüre Mark Twains und Karl Mays befördert, und den Wunsch nach selbstverantwortlicher, eben männlicher Tätigkeit anstelle von kindlichen Hilfsarbeiten.598 Darüber hinaus formuliert der Roman das Ende dieses normativen Entwurfs: In »Sansibar« wird weder ein futurisiertes Jugendkonzept inszeniert, das geschichtsphilosophische Hoffnung zuließe, noch eines, das kulturkritisch die institutionelle Gefährdung jugendlicher Individualität beklagt. In der Schlusspassage verzichtet der Junge darauf, die faktisch erreichte Unabhängigkeit zu realisieren. Auf der Flucht mit der Holzplastik, die dem staatlichen Zugriff entzogen werden soll, ist Schweden erreicht worden, das auch »der Jüdin« Rettung verspricht. Kehrt allerdings der Junge nicht mit dem Fischer Knudsen zurück, fliegt die Aktion auf. In dieser Situation entscheidet sich der Junge gegen seine eigenen Interessen. Der letzte Satz: »Er schlenderte auf das Boot zu, als sei nichts geschehen.«599 Der Text dementiert ein Konzept von Jugend als psychosozialem Moratorium. Nicht vom biographischen Schutzraum, von einer Schonzeit der Selbstfindung wird hier gesprochen, sondern von der zunehmenden Entmachtung der Jugendphase. Jene Reife der Entscheidung und moralischen Integrität, die idealiter den Erwachsenen ausmachen soll, wird dem Jugendlichen zugemutet. Die ostentativ betonte Differenz zur Umgebung, bislang wesentliches Element seines Selbstverständnisses, löst sich auf. Dem entspricht, dass sich die Abhängigkeiten verkehren, die Entscheidung des Jugendlichen bestimmt über die Zukunft der Erwachsenen.600 Man kann diese Pointe des Textes als Hinweis lesen auf die gravierenden Veränderungen, die sich in den Relationen der Generationen seit dem 19. Jahrhundert ergeben haben und mit der fortschreitenden Pluralisierung und Individualisierung von Lebensstilen weiterhin ergeben werden.601 Nur geht Literatur 597 Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund, Zürich 1970, S. 77. 598 Walter Hinderer nennt ihn: »Repräsentant der Jugend«. Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund, in: Interpretationen. Romane des 20. Jahrhunderts, Bd. 2, Stuttgart 1993, S. 59– 94, S. 90. 599 Andersch: Sansibar S. 147. 600 Vgl. Diagnosen zu Generationsverhältnissen der letzten Jahrzehnte bei Zinnecker: Jugend , S. 43f.; Heinz Abels: Jugend vor der Moderne. Soziologische und psychologische Theorien des 20. Jahrhunderts, Opladen 1993, S. 543f. 601 Vgl. exemplarisch bereits Jürgen Reuleckes Diagnose vom »Leitbildwandel«; Jugendprotest – ein Kennzeichen des 20. Jahrhunderts?, in: Dieter Dowe (Hg.): Jugendprotest und Gene-

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in dieser dokumentierenden Leistung nicht auf. Die literarische Rede über Jugend als eine Begleitsemantik gesellschaftlicher Differenzierung bezieht ihre künstlerische Relevanz nicht zuletzt daraus, dass sie auf Homogenisierungen verzichtet, empirisches Wissen hinter sich lässt, konkurrierende Entwürfe interessant konstruiert. Weniger in der Annahme oder Ablehnung einzelner Attribute dieser Lebensphase und der mit ihr verbundenen kulturphilosophischen Visionen zeigt sich Kontinuität seit dem Vormärz als in der Reflexion auf kulturelle Deutungsmuster im Medium der Jugendsemantik. Ein späterer Text Anderschs, im Vergleich mit seinen Romanen eher ein Nachtrag zu den prominenten »Kirschen der Freiheit« mit ihren Passagen zum jungen Andersch, zeigt das exemplarisch. Heinrich Manns Gymnasialprofessor Raat scheitert, so war bereits zu sehen, am Ende des nach seinem Spitznamen benannten Romans an der bürgerlichen Ordnung, die zunächst seine Lebensgrundlage ist, die er dann jedoch durch anarchische Provokation in ihren sittlichen Grundlagen zu destabilisieren droht. Nicht aber als Agenten erotischer Libertinage und gewagten Glücksspiels stellt der Text seinen Helden anfangs vor, sondern als Philologen, bei dem es zu Hause zwar dürftig aussieht, der weltlichen Lohn seit zwanzig Jahren verschmäht. Dafür aber, so die süffisante Spitze des Erzählers, hatte Raat »in seinem Kopf die Möglichkeit, sich mit mehreren Geistesfürsten, wenn sie zurückgekehrt wären, in ihrer Sprache über die Grammatik in ihren Werken zu unterhalten.« Schließlich handele sein Werk ja von den Partikeln bei Homer. Der Nietzsche-Kenner Heinrich Mann hat hier offensichtlich ein Motiv der Kritik Nietzsches an der verselbständigten, mikrologisch operierenden Philologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgegriffen, um die seltsame Starrheit des autoritären Lehrers zu facettieren, der, in Nietzsches Worten, »sein Leben totschlägt: was hat die griechische Partikellehre mit dem Sinn des Lebens zu tun?«602 Alfred Anderschs 1980 posthum publizierter Text »Der Vater eines Mörders. Eine Schulgeschichte« beantwortet diese Frage nicht umstandslos mit dem gängigen Hinweis auf die offensichtliche Lebensferne solcher Übungen. Vielmehr wird subtil demonstriert, in welcher geradezu schmerzhaften Weise der Unterricht in den alten Sprachen mit dem Leben des Franz Kien zu tun hat, der sich am Schluss der beschriebenen Schulstunde vom Gymnasium relegiert sieht. Die vorliegenden Interpretationen heben auf diese Ebene ab, beschreiben die an der Schule praktizierte »Subordination« gegenüber dem Direktor (»Rex«) Himmler, die »Willfährigkeit der Schüler« gegenüber dem »obrigkeitlichen

rationenkonflikt in Europa im 20. Jahrhundert. Deutschland, England, Frankreich und Italien im Vergleich, Bonn 1986, S. 1–11, S. 7. 602 Vgl. oben das Unterkapitel 5.3 zu Heinrich Manns Text mit Zitaten und Nachweisen.

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Machtanspruch«603 und den zeitgenössisch vielfach thematisierten Konflikt von Vätern und Söhnen: in der Familie Himmler ebenso wie in der Familie Kien. Von hier aus lassen sich sozialpsychologische Erweiterungen vornehmen, wobei dann »das Kollektiv der Schulklasse als Kollektiv der Deutschen fungiert«,604 die Unterrichtsstunde zum Menetekel einer nachmals im Führerstaat endenden Autoritätsgläubigkeit wird. In gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive kann deshalb ergänzt werden, dass die Erzählung eine geschichtliche Phase in Erinnerung ruft, in der nationalsozialistische Ideologeme im »mittelständischen und gehobenen national-konservativen Bürgertum Fuß zu fassen« beginnen.605 Weitgehend vernachlässigt wird in diesen Untersuchungen der von der Schulgeschichte selbst deutlich in den Vordergrund gerückte bildungsgeschichtliche Aspekt. Nicht nur ist die Atmosphäre des bayerischen humanistischen Gymnasiums der zwanziger Jahre eindringlich skizziert, zumal die Beschreibung altphilologischer Unterrichtsinhalte nimmt breiten Raum ein. Andersch lässt es sich nicht nehmen, in die Passagen über die Prüfung Kiens eine grammatische Tabelle mit den Fachtermini für die Stellungen der Akzente im altgriechischen Wort einzufügen.606 Zu dieser Ebene der Erzählung sollen im Folgenden einige Hinweise gegeben werden. Nietzsches geschliffene Polemiken gegen eine verselbständigte, detailverliebte Philologie und einen lebensfeindlichen Historismus, die um die Jahrhundertwende dem allgegenwärtigen Rekurs auf das »Leben« auch in den Debatten um Aufgabe und Zukunft der Wissenschaften Stichworte liefern,607 setzen schon voraus, was noch an dem Gebhard Himmler unterstellten Münchner Elitegym603 Gunter E. Grimm: Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders. Die Maske des Bösen (oder Die Kunst des »corriger la fortune«…), in: Interpretationen. Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Bd. 2, Stuttgart 1996, S. 224–251, hier S. 228. Vgl. zu Anderschs Schreibsituation Stephan Reinhardt: Alfred Andersch. Eine Biographie, Zürich 1990, S. 619ff. Auf biographische Relationen macht Carsten Gansel aufmerksam: »Franz Kien bin ich selbst«. Alfred Anderschs Der Vater eines Mörders und die ›Rehabilitierung‹ des Rex, in: Ächtler (Hg.): Andersch, S. 196–211. 604 Irene Heidelberger-Leonard: Alfred Andersch: Die ästhetische Position als politisches Gewissen. Zu den Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Wirklichkeit in den Romanen, Frankfurt a. M. u. a. 1986, S. 39. 605 Rüdiger Heßling: Faschismusanalyse als Literatur. Zu Alfred Anderschs autobiographischer Erzählung »Der Vater eines Mörders«, in: Das Wort, 1991, Nr. 6, S. 259–267, hier: S. 265. Damit wäre eine weitere Parallele zu Susanne Kerckhoffs »Verlorenen Stürmen« ausgemacht. 606 Vgl. Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders. Eine Schulgeschichte, Zürich 1982, S. 104; nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert, wobei die entsprechenden Seitenzahlen in den Text in Klammern eingefügt sind. Noch der letzte Satz der Erzählung spielt mit der mehrfach hervorgehobenen klanglichen Schönheit (S. 82, S. 102) griechischer Worte: »Perispomenon, dachte er, Properispomenon, ehe er einschlief« (S. 126). 607 Vgl. dazu Andrea Germer: Wissenschaft und Leben. Max Webers Antwort auf eine Frage Friedrich Nietzsches, Göttingen 1994, bes. S. 20–61.

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nasium selbstverständlich ist: Philologie ist eine der Leitdisziplinen der Philosophischen Fakultät und übt deshalb auch auf die Gestaltung des Unterrichts an Oberschulen einen gewichtigen Einfluss aus.608 Gerade die Verknüpfung von Forschungsleistung mit der Beteiligung an den Reformen des Bildungssystems in den deutschen Staaten sowie den kulturellen Diskussionen um »Bildung« bewirkt den institutionellen Erfolg der Philologie seit dem frühen 19. Jahrhundert.609 Die sich ausbildenden Wissenschaftsstandards (der »Einen Philologie« jenseits der einsetzenden nationalen Spezifizierung und Spezialisierung), die in vielerlei Hinsicht den Maßstab der allgemeinen wissenschaftlichen Entwicklung abgeben, implizieren in ihrem Methodenbewusstsein präzise Kenntnis in Grammatik, Metrik, Prosodie der alten Sprachen, Voraussetzung jeglicher editorischer Arbeit, die zum prominenten Feld philologischer Tätigkeit avanciert.610 Zu diesen Standards einer akribischen, methodisch geregelten, intersubjektiv überprüfbaren Verfahrensweise und den im Fachstudium gleichermaßen geforderten einlässlichen materialen Kenntnissen kommt ein drittes Element, das nicht wenige satirische Ausfälle gegen den Philologen an Universität wie humanistischem Gymnasium inspiriert hat: die Habitualisierung philologischer Arbeit zu einer spezifischen Lebensform, die Assimilierung von Berufstätigkeit und Persönlichkeit, die bereits Professor Raat auszeichnete.611 Noch die Kontroversen um die Legitimität und die Ausrichtung der Altertumswissenschaft in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, erinnert sei zumal an Konzeptionen des »Dritten Humanismus« bei Werner Jaeger und Lothar Helbing, fokussieren diese Bildungsfunktion der philologischen Arbeit, die immer mehr sein will als Kritik, Interpretation, Kommentar, die, jedenfalls dem disziplinären Selbstverständnis nach, immer das Detailwissen nur als Element einer Formung des »ganzen Menschen« versteht.612 Die ubiquitäre Positivismus-Kritik seit dem Ende 608 Vgl. allgemein Peter Lundgreen: Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick, 2 Teile, Göttingen 1980, 1981, besonders auch die Relation in den Stundentafeln zwischen altsprachlichem und Deutschunterricht. 609 Vgl. Detlev Kopp, Nikolaus Wegmann: »Die deutsche Philologie, die Schule und die Klassische Philologie«. Zur Karriere einer Wissenschaft um 1800, in: Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp (Hg.): Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft, Stuttgart 1987, S. 123– 151. 610 Vgl. als Beispiel für die zentrale Rolle grammatischer Kenntnisse das Diktum des Berliner Ordinarius Karl Müllenhoff: »die Grammatik macht den Philologen«; Die deutsche Philologie, die Schule und die klassische Philologie (1854), in: Johannes Janota (Hg.): Eine Wissenschaft etabliert sich, 1810–1870. Wissenschaftsgeschichte der Germanistik III, Tübingen 1980, S. 277–303, hier S. 291. 611 Vgl. Kolk: Wahrheit, S. 50–73; »Philologie als Lebensform« heißt eine Kapitelüberschrift bei Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1990, S. 212. 612 Vgl. Manfred Landfester: Die Naumburger Tagung ›Das Problem des Klassischen und die Antike‹ (1930). Der Klassikbegriff Werner Jaegers: seine Voraussetzung und seine Wirkung,

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des 19. Jahrhunderts sieht diese neuhumanistische Tradition verschüttet, alternative Wissenschaftskonzepte, die sich mit der »Überwindung des Historismus« und seines insinuierten Wertrelativismus profilieren, gewinnen auch institutionell an Bedeutung.613 Anderschs Erzählung akzentuiert diese Imperative der Habitualisierung durchgängig. Bereits zu Beginn reflektiert Franz Kien die eigenen schulischen Leistungen im Vergleich mit denen des Bruders, der eigentlich genauso ein Versager wie er selber sei und merkwürdigerweise doch die Versetzung erreicht habe: »Mit seinem komischen Fleiß, vermutete Franz, er streut den Lehrern Sand in die Augen, mit seiner kleinen, ordentlichen, regelmäßigen Schrift, mit der er Bogen auf Bogen Aufsatzpapier bedeckt, seine Hausaufgaben sind voller Fehler, genau wie die meinen, aber sie sehen immer wie gestochen aus, ich habe dazu keine Lust« (25).

Und es ist ebendiese Disposition, die vom Direktor im Verlauf der Überprüfung des Kenntnisstandes verschiedener Schüler bei Franz reklamiert wird. Zum einen gegen den verantwortlichen Fachlehrer Kandlbinder gewendet, der den Faulpelz ohnegleichen (106) nicht habe auffliegen lassen; zum anderen gegen Franz selbst, der die Erfolgsmethoden intelligenter Schüler (110) nicht beherrsche: »›Sie lernen auswendig‹, zischte der Rex. Er zog Franz in eine Verschwörung. ›Wenn du den Satz, den ich dir eben eingedrillt habe, zu Hause auswendig gelernt haben würdest, so hättest du mich glänzend getäuscht. Jawohl – sogar mich!‹« (111). Die Relegation des aus sozialen Gründen vom Schulgeld befreiten Schülers und seines Bruders bildet die letzte Konsequenz solchen Versagens. Der Tugendkanon des professionellen Philologen fordert seit dem 19. Jahrhundert eine mentale Konstitution, die selbstdiszipliniert den Erfordernissen der Sache sich zuwendet, weder dem genialischen Einfall noch Affekten Raum gibt. Die vielbeschworene Selbstzucht und Entsagungsbereitschaft des Philologen, die Nekrologe auf herausragende Fachvertreter repetieren diese Maximen unermüdlich, implizieren ein Zurücktreten hinter dem Gegenstand der Forschung. Faulheit und Unlust sind die kardinalen Sünden eines Menschen, der auf den Ehrentitel des Philologen keinen Anspruch erheben darf, sondern für dessen Antipoden gelten kann: des Literaten. Genau hierauf aber zielt der vom Schulleiter erfragte Berufswunsch Franz Kiens, der hiermit nicht geringe Überraschung auslöst, zumal seine Lektüre alle Vorurteile gegenüber dem unseriösen, in: Hellmut Flashar (Hg.): Altertumswissenschaft in den 20er Jahren: neue Fragen und Impulse, Stuttgart 1995, S. 11–40. 613 Prominentestes Beispiel hierfür dürfte der George-Kreis sein; vgl. Rainer Kolk: George-Kreis und zeitgenössische Germanistik 1910–1930. Eine Skizze, in: George-Jahrbuch, 1996/1997, Nr. 1, S. 107–123. Vgl. in der vorliegenden Darstellung auch die Abschnitte 5.2 und 7 zu dieser Gruppierung.

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moralisch fragwürdigen Metier zu bestätigen scheint: »›Karl May ist Gift!‹« (92). Der Direktor sieht eine verdorbene und weiterhin verderbliche Phantasie am Werk, folgerichtig führt seine Replik auf solche jugendliche Devianz pädagogische und philologische Aspekte zusammen: »›Die Grammatik! Wie will einer denn Schriftsteller werden, wenn er sich nicht für die Grammatik interessiert?‹ Wider seinen Willen hatte er sich von Verachtung in Empörung gesteigert« (93). Die Ausrichtung an grammatischer Korrektheit wird in dieser Episode zum Indikator einer ethisch akzeptablen Autorschaft, der Originalität und Fabulierkunst fragwürdig sind, wo sie die in der philologischen Ausbildung vermittelten Regeln in Frage stellen oder negieren. Es gehört zu den Axiomen der wissenschaftlichen Ethik in der Philologie, dass ihre fachliche Unterweisung praktische Pädagogik ist; schon der Neuhumanismus Humboldtscher Provenienz insistiert auf diesem bildenden Nutzen forschenden Lernens, das im Universitätsseminar einen institutionalisierten Ort hat.614 Im Gymnasium und an der Universität praktizierte Philologie sind bis in das 20. Jahrhundert hinein kaum getrennt, nur allmählich setzen sich Überlegungen zur Didaktisierung in der Referendarsausbildung und im Unterrichtsgeschehen durch.615 Methodische Unterweisung aber versteht sich als strikte Absage an dilettantische Beliebigkeit, Spekulation, subjektivistische Willkür, die mit der Tätigkeit des Journalisten und freien Schriftstellers assoziiert werden.616 Diesen Untugenden soll die solide grammatische Schulung abhelfen, so ist die Einlassung des Schulleiters zu extrapolieren, für Franz Kien jedoch ist gerade die institutionelle Verfestigung mit kreativer, sinnvoller Tätigkeit unvereinbar: »›Lust und Liebe? Kenn’ ich nicht. Nicht in der Schule‹« (94). Denn während beide die Schönheit des Altgriechischen anerkennen, manifestiert seine unterrichtsmethodische Aufbereitung den unversöhnlichen Widerspruch. Drill lautet 614 Vgl. Wilhelm von Humboldt: Über die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner, Klaus Giel, Darmstadt 31982, Bd. IV, S. 255–266, hier S. 258: »Denn nur die Wissenschaft, die aus dem Innern stammt und in’s Innere gepflanzt werden kann, bildet auch den Charakter um, und dem Staat ist es ebenso wenig als der Menschheit um Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln zu thun.« Vgl. oben im Unterkapitel zu »Professor Unrat«. 615 Vgl. allgemein Edwin Keiner, Heinz-Elmar Tenorth: Schulmänner – Volkslehrer – Unterrichtsbeamte. Ergebnisse und Probleme neuerer Studien zur Sozialgeschichte des Lehrers in Deutschland, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 1981, Nr. 6, S. 198–222, hier S. 205. Anderschs Erzählung vermerkt Ansätze einer Didaktisierung, wenn Rektor Himmler für eine schülergerechte Grammatik plädiert (S. 77). 616 Vgl. als exemplarische Fallstudie Michael Schlott: Hermann Hettner. Idealistisches Bildungsprinzip versus Forschungsimperativ. Zur Karriere eines ›undisziplinierten‹ Gelehrten im 19. Jahrhundert, Tübingen 1993. Unter disziplingeschichtlichem Blickwinkel stellt sich hier die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen der Popularisierung wissenschaftlicher Ergebnisse.

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die Zauberformel des Gymnasialphilologen, der aus eigener Erfahrung spricht: »›Jawohl, eintrichtern […]. Auf dem Gymnasium in Freising hat man uns von Anfang an die Oxytona und die Perispomena ohne Gnade und Erbarmen eingetrichtert‹« (107). Und wie es im Kaiserreich zu den redensartlichen Selbstverständlichkeiten des Lehrerberufs gehört, dass nicht nur das Zündnadelgewehr, sondern zugleich der deutsche Schulmeister die Kriege gegen Dänemark und Österreich gewonnen habe, so verknüpft auch Direktor Himmler schulische und militärische Subordination: »›Ah‹, sagte er, ›beim Militär würde dir schon beigebracht werden, was Disziplin heißt‹« (45). Die sozialisatorischen Effekte der philologischen Schulung, die in den kulturwissenschaftlichen Fächern bis weit in das 20. Jahrhundert hinein offensiv vertreten wurden, kommen in Anderschs Erzählung in einer verblüffenden Präzision zur Sprache. Sie enthält gleichsam die Sicht von unten, nämlich nicht die Geschichte des erfolgreichen Philologen und Pädagogen, der im Rückblick die nützliche »Zucht« seiner Lehrer lobt, wie es Tradition autobiographischer Rede nicht nur in der Germanistik ist.617 »Der Vater eines Mörders« insistiert wie alle Franz-Kien-Geschichten Anderschs und seine Autobiographie »Die Kirschen der Freiheit« auf dem Recht der individuellen Entscheidung, auf einem emphatischen Freiheitsbegriff, der sich weder dem dogmatischem Sog philosophischer Denksysteme noch institutionellem Druck beugen will: »›aber was will ich denn sein?‹«, so verweigert Franz auch vor sich selbst einen sturen Lebensplan, den einzuhalten schon der im Weltkrieg verwundete und später sozial deklassierte Vater einzuhalten nicht fähig war, »›Hergottsakra, ich weiß es nicht, später wird’ ich es wissen, später wird’ ich mehr wissen, als die mir hier beibringen können in ihrer Penne‹« (114). Denn das Surplus an Wissen, das Franz Kien hier erhofft, geht nicht in Unterrichtsinhalten auf, sondern erstreckt sich auf Lebensformen. Zugleich aber bietet die Erzählung ein Skandalon, das ihr Verfasser selbst im Nachwort in die bekannten Sätze gekleidet hat: »Schützt Humanismus denn vor gar nichts? Die Frage ist geeignet, einen in Verzweiflung zu stürzen« (136). Weil sie mit Blick auf die Familiengeschichte der Himmlers nur mit einem klaren Nein zu beantworten ist, jedenfalls, wenn man eine altphilologische Ausbildung, entsprechend ihrem Selbstverständnis, als Humanismus begreift. Andersch präsentiert jedoch nicht nur einen Beitrag zur Tradition literarischer Schulkritik, wie sie sich seit der Jahrhundertwende mit Autoren wie den erwähnten Hesse, Rilke, Musil, den Brüdern Mann und anderen verbindet.618 Vielmehr formuliert 617 Vgl. Jürgen Fohrmann: Die autobiographische Tätigkeit und Autobiographien von Germanisten, in: Petra Boden, Holger Dainat (Hg.): Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert, Berlin 1997, S. 1–12. 618 Vgl. die Hinweise bei Grimm: Andersch, S. 225ff; allgemein Mix: Schulen; Whittaker: Überbürdung.

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seine Erzählung eine Fundamentalkritik humanistischer Erziehungsmaximen, genauer: ihrer kulturellen Selbstverständlichkeit, die allerdings nicht den anspruchsvollen Selbstreflexionstexten der Klassiker oder herausragender Forscher entnommen sind. Die eigene Alltagserfahrung fungiert hier als Korrektiv und Protest im Sinne der Realismuskonzeption Anderschs.619 Sein Rückblick auf das humanistische Gymnasium enthüllt einen aggressiven Disziplinierungsdruck, der mit unerbittlicher Bestrafung unzureichender schulischer Leistung nur ungenau bezeichnet ist. Nicht um mangelnde Auffassungsgabe oder fehlende Sprachkenntnisse, sie sind nur Anlass, dreht sich der Konflikt zwischen Franz Kien und seinem Direktor, sondern um Charaktermerkmale: »Der Rex besah sich noch einmal die Tafel. ›Dabei könntest du, wenn du wolltest‹, sagte er. ›Du willst nur nicht‹« (89). Eine durchaus treffende Diagnose, wie sich Franz eingesteht: »›Ich aber könnte immerhin, wenn ich wollte. Wenn sie alle es sagen, wird es schon stimmen. Ich will aber nicht‹« (94). Zusammen mit den Passagen über den Erfolg seines Drills (103) als pädagogischem Instrument verdeutlichen diese Sätze, dass es in dieser »Schulgeschichte« nicht nur um den alltäglichen Sadismus eines Autokraten im autobiographischen Rahmen geht. Am Beispiel Gebhard Himmlers wird auf die Leistung angespielt, die eine auf Disziplinierung und Sachzwang angelegte institutionalisierte humanistische Schulung für die seit der Ausrufung des Kaiserreichs immer wieder vehement geforderte »Deutsche Bildung« erbracht hat. Der Bildungsbegriff als das vielleicht zentrale gesellschaftliche Reflexionsmedium des 19. und 20. Jahrhunderts620 bekommt eine Akzentuierung, die nicht länger persönliche Lebensführung und Individualität in harmonischem Einklang mit sozialer Progression gestellt sehen will, sondern die Priorität völkischer Interessen einzuklagen beginnt. In den Curricula manifestiert sich dieser Trend in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts als Beschneidung des Unterrichts in den alten Sprachen, der eine Aufwertung des Deutschunterrichts folgt.621 Die Vertreter des »Humanismus« reagieren mit Akzentverschiebungen, die auch eine nationale Tauglichkeit ihrer Fächer behaupten, wie sie dann in den Stellungnahmen zum Kriegsausbruch 1914 immer wieder aufgerufen wird.622 Anderschs Erzählung zitiert diese Wertorientierung, wenn er den deutschnationalen Kon619 Vgl. allgemein Gunter E. Grimm: »Nichts als die Wahrheit«. Zu Alfred Anderschs RealismusKonzept, in: Literatur für Leser, 1994, H. 3, S. 108–118. 620 Vgl. Reinhart Koselleck: Einleitung – Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung, in: Reinhart Koselleck (Hg): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990, S. 11–46. 621 Vgl. Hans Joachim Frank: Dichtung, Sprache, Menschenbildung. Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfängen bis 1945, Bd. 2, München 1976, S. 485ff. 622 Vgl. Ute Preusse: Humanismus und Gesellschaft: zur Geschichte des altsprachlichen Unterrichts in Deutschland von 1890–1933, Frankfurt a. M. u. a. 1988, bes. S. 43ff., S. 89ff.

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sens von Eltern und Erziehern erwähnt (67). Ihren Kern allerdings enthüllt diese Bildungspraxis, wo sie jenen vom Schulleiter postulierten Drill gleichsam jenseits definierter Inhalte übt, die formalen Unterrichtsziele sich politischer Intervention assimilieren: »So wurde dann das Ziel der Formalbildung identisch mit der Vermittlung gesellschaftlicher, politischer und militärischer Tugenden«, von der Ordnung über die Disziplin bis zum Pflichtbewusstsein,623 jenen also, mit denen Franz Kien den Schulerfolg seines Bruders erklärt und die Gebhard Himmler als strategisch geschicktes Verhalten gegenüber Lehrern empfiehlt. Selbstverständlich geht es in Anderschs Text um die »Auffassung und Ausübung von Macht«, die tendenziell einem »Führerprinzip« zusteuert,624 entfaltet sich der Zusammenhang von autoritärem Unterrichtsstil und Karriereehrgeiz. Nur bleibt die Erzählung dabei nicht stehen, sondern verortet die Bedingung ihrer Möglichkeit auch in der humanistischen, im engeren Sinne philologischen Bildung. Ihr Effekt, der im philologischen Sozialisationsprozess postulierte Habitus als eine Grammatik von Handlungen,625 birgt ein Potential, das im entsprechenden historischen Moment aktualisiert und gesellschaftlich funktional werden kann. In Anderschs 1967 veröffentlichtem Roman »Efraim« bemerkt der jüdische Protagonist: »›Niemand hat jemals Auschwitz erklären können. […] Wer mir Auschwitz erklären möchte, ist mir verdächtig‹«.626 Hier zeigt sich Skepsis gegenüber Globalmodellen und voreiligen Kausalerklärungen, denen Georg Efraim seine Theorie des Zufalls auch als Prinzip historischer Prozesse entgegenhält. Aber den Bedingungsgefügen, den Möglichkeiten,627 den Spielräumen von Geschichte, »Winterspelt« entfaltet solche Alternativ-Verläufe,628 wendet sich auch »Der Vater eines Mörders« zu. Einer der geschichtlichen Faktoren, die zur Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur geführt haben, ist 623 Manfred Landfester: Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der humanistischen Bildung in Deutschland, Darmstadt 1988, S. 183; vgl. Margret Kraul: Bildung und Bürgerlichkeit, in: Jürgen Kocka (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 3, München 1988, S. 45–73. Carsten Gansel (Kien, S. 206ff.) akzentuiert gegen den Mainstream der Forschung zu diesem Text anders und plädiert für eine Bewertung der Figur des Schulleiters mit Blick auf die »Systemrationalität des Erziehungssystems«. 624 Alfred Clemens Baumgärtner: Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders, in: Herbert Kaiser, Gerhard Köpf (Hg.): Erzählen, Erinnern. Deutsche Prosa der Gegenwart. Interpretationen, Frankfurt a. M. u. a. 1992, S. 211–221, hier S. 216. 625 Vgl. Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 41991, S. 125ff.; Reckwitz: Analyse, S. 67–81. 626 Alfred Andersch: Efraim, Zürich 1976, S. 141. 627 Vgl. Andersch: Kirschen, S. 71: »Ich werde es hoffentlich stets ablehnen, Menschen überzeugen zu wollen. Man kann nur versuchen, ihnen die Möglichkeiten zu zeigen, aus denen sie wählen können.« 628 Vgl. Klaus R. Scherpe: Alfred Anderschs Roman »Winterspelt« – deutscher Militarismus und ästhetische Militanz, in: Irene Heidelberger-Leonard, Volker Wehdeking (Hg.): Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk, Opladen 1994, S. 131–141.

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eine mentale Disposition größerer Bevölkerungsgruppen für autoritäre Staatsformen,629 und nur diese Facette berührt Anderschs Text, wenn er den Unterrichtsstil eines Lehrers mit dem Namen Himmler beschreibt, genauere Relationierungen mit dem Charakter des nachmaligen »Reichsführers der SS« Heinrich Himmler aber ausspart.630 Zurückhaltung gegenüber einsinnigen Bezügen zeigt sich schließlich darin, dass diese dominante Erzähllinie konterkariert wird durch die Figur des Werner Schröter, der als Klassenprimus nicht nur die komplizierten Aufgaben (30) aus der griechischen Grammatik gelassen erwartet, sondern auch als musikalisch interessierter und loyal handelnder Freund vorgestellt wird.631 Nicht um eine literarische Konkurrenz zu sozialpsychologischen Familien- und Charakteranalysen des SS-Führers ist es der Erzählung zu tun,632 sondern um eine Momentaufnahme aus dem komplexen Prozess der Auflösung des Bürgertums als sozialer Formation.633 In diesen Kontext gehören die schon in den »Kirschen der Freiheit«, dann auch in anderen Franz-Kien-Geschichten erwähnten völkischen Zirkel und Kampfbünde aus dem Spektrum der »Konservativen Revolution«, in deren Dunstkreis sich Anderschs Vater wie Heinrich Himmler bewegten,634 und die schon in Kerckhoffs »Verlorenen Stürmen« thematisiert werden. Auf ihrer Tagesordnung steht die Destabilisierung tradierter bürgerlicher Lebensformen und die Formierung einer »antirepublikanischen Gegenöffentlichkeit«.635 Nietzsches eingangs zitierte Frage nach dem Zusammenhang von griechischer Grammatik und Leben wird in dieser Erzählung aus dem schulischen Alltag nicht mit dem obsoleten Hinweis auf überflüssigen Wissensballast beantwortet, sondern mit der differenzierten Beschreibung institutionell verankerter Verhal629 Vgl. Martin Broszat: Soziale Motivation und Führer-Bindung des Nationalsozialismus, in: Martin Broszat: Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, München 1988, S. 11–33. 630 Vgl. Walter Hinck: Imperator und Inquisitor. Alfred Anderschs letzte Erzählung Der Vater eines Mörders, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. 09. 1980: »Nachdenken über (nicht offen zutage liegende) politisch-historische und geistesgeschichtliche Zusammenhänge, Selbstbefragung« des Lesers sei Anderschs Ziel. 631 Vgl. Kirti Michael Maisel: Ethik und Ästhetik. Alfred Andersch: »Der Vater eines Mörders«, in: Diskussion Deutsch, 1989, Nr. 20, S. 279–295, hier S. 286. 632 Vgl. die Hinweise auf Erich Fromms Himmler-Studie bei Grimm: Andersch, S. 242ff. 633 Vgl. zur sozialhistorischen Analyse Hans Mommsen: Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 288–315. Zu aktuellen Diagnosen vgl. den von Gunilla Budde, Eckart Conze und Cornelia Rauh herausgegebenen Sammelband: Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter. Leitbilder und Praxis seit 1945, Göttingen 2010. Souveräner Forschungsüberblick bei Manfred Hettling: Bürger, Bürgertum, Bürgerlichkeit: https://do cupedia.de/zg/Hettling_buerger_v1_de_2015 [30. 03. 2022]. 634 Vgl. die Hinweise auf die Ludendorff-Leute und die »Reichskriegsflagge« (S. 60), den Kampfbund Ernst Röhms. 635 Mommsen: Auflösung, S. 293.

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tensnormierung, die sich unpolitisch gibt, über den Parteiinteressen zu stehen meint.636 Die Politik dieser Schulform ist symbolischer Natur. Nicht der Homersche Partikel ist ihr eigentlicher Unterrichtsgegenstand, sondern die Organisationsmuster seiner Thematisierung: »›Wir machen hier nämlich nichts halb‹« (96), so Rektor Himmlers Credo. Andersch thematisiert den »heimlichen Lehrplan« dieses Sprachunterrichts, dessen symbolische Ordnung sich über die ehrwürdige neuhumanistische Tradition meint legitimieren zu können. Dass sie zum Etikett verkommen, nur auf der inhaltlichen Ebene noch wirksam ist, wird gerade in der Beschränkung dieser Erzählung auf eine einzige Schulstunde deutlich.637 Nicht der pauschale Angriff auf die modernen Bildungsinstitutionen, sondern die detaillierte Beschreibung ihrer alltäglichen Mechanismen, ihrer Organisationsformen und des sie begleitenden Selbstverständnisses am unspektakulären Beispiel ermöglicht »Wahrheit«, die für Andersch »Entschleierung, Entideologisierung« meint.638 Sein Text verfolgt die Logik der neuhumanistisch inspirierten Philologie im Moment ihrer institutionell deformierten Realisierung. Sie erweist sich als Liquidierung der Prämissen. Was zunächst als Konflikt zwischen Personen beginnt und beschreibbar erscheint, endet als Dementi von selbstbestimmter Individualität und sozial wirksamer Bildung. Schenzingers »Hitlerjunge Quex« ist, wie oben ausgeführt, die konsequente Narrativierung dieser Position. Anderschs Text ist ein spätes Seitenstück zu Grünbergs »Hitlerjunge Burscheidt«, dessen sarkastische Erzählhaltung in die Perspektive des sozialistischen Aufbaus mündet. Anderschs illusionsloses Schlaglicht auf eine vordergründig marginal erscheinende Schulstunde beschreibt die »Mikrophysik der Macht« (Foucault) über Jugend.

636 So verbietet der Schulleiter politische Abzeichen jeglicher Herkunft (Andersch: Vater, S. 66ff.). Auch hierin zeigt sich Übereinstimmung mit dem Selbstverständnis der Hochschullehrer in Kaiserreich und Weimarer Republik; vgl. Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, Stuttgart 1983, bes. S. 254ff. 637 Vgl. allgemein zur Beschreibungsliteratur und zu Anderschs Konzept des Totalitätsverzichts Klaus R. Scherpe: »Schützt Humanismus denn vor gar nichts?«. Alfred Andersch im Kontext der Moderne, in: Klaus Scherpe: Die rekonstruierte Moderne. Studien zur deutschen Literatur nach 1945, Köln u. a. 1992, S. 101–130, hier S. 122f. Die Schulstunde kann gleichsam als Exemplifizierung des generalisierenden Diktums aus den autobiographischen Aufzeichnungen gelten: »In der übrigen Zeit lief meine Kindheit ab wie ein Uhrwerk.« Andersch: Kirschen, S. 11. 638 Ulrich Fries, Günter Peters: Zum Verhältnis von Kunsttheorie und ästhetischer Praxis bei Alfred Andersch, in: Text & Kritik, 1979, H. 61/62, S. 27–53, hier S. 29. Entsprechend konstatiert Ringer: Mandarine, S. 30, »eine homogene Ideologie der Gebildeten«.

7.

Jugend und/als Krise »Zur deutschen Ethik gehört der Satz: Man soll es schlecht haben. Und wenn man es einmal gut gehabt hat, wird einem das moralisch verdacht. Glücklichsein ist ein sittliches Manko.«639

In der Einleitung habe ich darauf hingewiesen, wie umstandslos die Rede über Krisen mit der über die Jugend assoziiert werden kann. In der Entwicklungspsychologie des Jugendalters ist die Adoleszenzkrise ein etablierter Terminus,640 in literaturwissenschaftlichen Beschreibungen der hier behandelten Texte inhaltlich eine Selbstverständlichkeit und geradezu konstitutiv für das Erzählmodell des Adoleszenzromans.641 Abschließend soll deshalb der Versuch unternommen werden, diese semantische Nähe im gesellschaftlichen »Themenvorrat« (Luhmann) genauer zu beschreiben. In bildungs-, wissenschafts- und sozialgeschichtlichen Darstellungen ist »Krise« als Epochensignatur für die Zeit der literarischen Hochkonjunktur von ›Jugend‹, zwischen Jahrhundertwende und der Etablierung des nationalsozialistischen Staates, eine akzeptierte Deutungskategorie. Inzwischen klassische Arbeiten wie Detlev J. Peukerts »Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne« oder Klaus Lichtblaus »Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende« konstatieren krisenhafte Entwicklungen wie selbstverständlich, zwei zentrale Kapitel in Fritz K. Ringers einschlägiger Darstellung der »deutschen Mandarine« behandeln die »Krise der Wissenschaften« und den »Ursprung der Kulturkrise, 1890–1920«, aktuelle politikwissenschaftliche und soziologische Diagnosen entfalten ihre Argumente über die politischen Folgen

639 Ernst Robert Curtius an Carl Schmitt 1921. Zitiert nach: Dirk Hoeges: Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim, Frankfurt a. M. 1994, S. 22. 640 Vgl. die ausgreifende Darstellung von Jürgen Straub: Der Begriff der Krise in der Psychologie, in: Carla Meyer, Katja Pratzel-Mattern, Gerrit Jasper Schenk (Hg.): Krisengeschichte(n). »Krise« als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart 2013, S. 27–66, zu Erikson S. 49ff. 641 Vgl. Carsten Gansel: Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance – Adoleszenz in der Literatur, in: Peter J. Uhlhaas, Kerstin Konrad (Hg.): Das adoleszente Gehirn, Stuttgart 2011, S. 25–44; Hyeseon Shin: Bildungs- und Kulturkritik und Adoleszenzproblematik in Schulgeschichten um die Jahrhundertwende, Diss. Bonn 2013.

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einer »Vielzahl von Krisen, die einander überlagern und verstärken.«.642 Die Disziplin der Soziologie kann gegenwärtig sogar insgesamt als »Krisenwissenschaft« definiert werden,643 auch dies in ehrwürdiger Tradition.644 Berufen können sich die Autoren auf die tatsächlich unüberschaubare Zahl von Krisendiagnosen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Ernst Troeltschs »Krisis des Historismus« enthält 1922 die vielleicht prominenteste im Wissenschaftssystem.645 Erinnert sei an den Befund zur Konjunktur von Krisen-Schriften zwischen 1918 und 1933.646 Sogar im deutschen Verbandsfußball der zwanziger Jahre ist »Krise« eine geläufige Diagnose.647 In der deutschen Literaturwissenschaft der Zeit, deren philologische Basis, wie gesehen, von Heinrich Manns »Professor Unrat«, von Joseph Roths »Der Vorzugsschüler« und noch von Anderschs »Vater eines Mörders« ausführlich, eben: ihrer bildungsgeschichtlichen Relevanz entsprechend, thematisiert wird, überbieten sich die zeitgenössischen Beobachter der Disziplin geradezu in Krisendiagnosen, die nicht selten über Belange der Literaturwissenschaft weit hinausreichen und Spenglersche Dimensionen annehmen. Die »Krise« wird 1913 zum öffentlichen Ereignis, als das Feuilleton das von politischen wie wissenschaftsprogrammatischen Auseinandersetzungen geprägte Verfahren zur Wiederbesetzung des renommierten Berliner Lehrstuhls des verstorbenen Erich Schmidt aufgreift. Schmidt, so wird im Feuilleton argumentiert, sei der letzte Vertreter einer Literaturwissenschaft der philologischen Tradition gewesen, die sich nunmehr überlebt habe. Unter dem Titel »Krisis in der Literaturwissenschaft« wird im »Kunstwart« der Universitätsgermanistik bescheinigt, eine »lebenabgewandte, scheinwissenschaftliche Text- und Formenbehandlung, ein innerlich unorientiertes Abtasten, Vergleichen, Hin- und Herwenden der Äußerlichkeiten« und dem »Wahn der ›Vollständigkeit‹« verfallen zu sein. Ziel der Disziplin 642 Natascha Strobl: Radikalisierter Konservatismus. Eine Analyse, Frankfurt a. M. 2021, S. 8, passim. 643 Vgl. Andreas Reckwitz, Hartmut Rosa: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie?, Frankfurt a. M. 2021, S. 15. 644 Vgl. Christoph Türcke, Gerhard Bolte: Einführung in die Kritische Theorie, Darmstadt 1994, Vorbemerkung: »Nicht von ungefähr hat kritische Theorie sich in den dreißiger Jahren als umfassende gesellschaftliche Krisentheorie formiert« – und dies im Rückgriff auf Aspekte der »Marxschen Krisentheorie«, S. 13. Vgl. ausführlich: Marcus Hawel, Moritz Blanke (Hg.): Kritische Theorie der Krise, Berlin 2012. 645 Vgl. als Überblick den Forschungsbericht von Jan Eckel: Geist der Zeit. Deutsche Geisteswissenschaften seit 1870, Göttingen 2008, bes. S. 23ff. 646 Vgl. die Einleitung der Herausgeber: Die Kultur der Krise in der Weimarer Republik, in: Moritz Föllmer, Rüdiger Graf, Per Leo (Hg.): Die »Krise« der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters. Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 9–41, S. 10. Vgl. meine Ausführungen zu Texten der 1920er Jahre unter 6.1. 647 Vgl. ebd. den Aufsatz von Per Leo: »Bremsklötze des Fortschritts«. Krisendiskurse und Dezisionismus im deutschen Verbandsfußball 1919–1934, S. 107–137.

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aber müsse es sein, »Zeugnisse einer ungemeinen Fähigkeit innerlichsten Nacherlebens unserer großen Künstler«, »Licht und Einsicht in das Weben und Leben des Hohen und Gewaltigen« zu geben, »das in der Sprache des Unaussprechlichen uns überliefert ist.«648 In einem Gedenkartikel gesteht auch der dann schließlich als Nachfolger Schmidts berufene Fachvertreter Julius Petersen 1913 zu, »daß die deutsche Literaturwissenschaft zur Zeit in einer Krisis steht«.649 In den zwanziger Jahren sind Krisenbefunde an der Tagesordnung: »Sturm und Drang und Chaos«,650 »babylonische Sprachverwirrung«,651 »Wirrwarr der Auffassungen und Einstellungen«652. Diese Krisendiagnosen treten in einem Fach auf, das sich seines Status in Universität und Schulen sicher sein darf, das aber expandiert: durch neue Stellen, zunehmende Studentenzahlen, neue Fachzeitschriften, aber auch durch neue Forschungsrichtungen. Die Philologie, die bei Mann oder Andersch das Fundament der zeitgenössischen Geisteswissenschaften abgibt, erhält Konkurrenz, die sich in den öffentlichen Postulaten abzeichnet: Nicht um wissenschaftliche Spezialfragen, sondern um die in Nietzsches Polemiken gegen den eingefahren Wissenschaftsbetrieb proklamierte ›Lebensnähe‹ soll es gehen. Bildung soll nicht den wissenschaftlichen Experten hervorbringen, sondern öffentlich sichtbar die bedeutenden Zeugnisse der kulturellen Überlieferung deuten und damit ihre fortdauernde Aktualität erweisen. Solchen Forderungen nach einer Aktualisierung der disziplinären Identität, die auch die Nachbardisziplinen erreichen, verschreiben sich unterschiedlichste Programme literaturwissenschaftlicher Forschung wie die »Geistesgeschichte«, Entwürfe einer interdisziplinär und völkisch ausgerichteten »Deutschen Bildung«, erste materialistische, literatursoziologische und psychoanalytisch fundierte Konzepte, auch die »Gestaltdeutungen« aus dem George-Kreis. Sie treten geradezu demonstrativ als Provokation des etablierten Selbstverständnisses der universi648 Ezard Nidden: Krisis in der Literaturwissenschaft, in: Der Kunstwart, 1912/13, Nr. 26.4, S. 169–172, S. 170f.; berufen wird erst 1920 Julius Petersen. 649 Zitiert nach: Holger Dainat: Ein Fach in der ›Krise‹. Die ›Methodendiskussion‹ in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.): Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, Göttingen 2007, S. 247–272, hier S. 269. Dort eine Unterscheidung von »Leistungskrise« im Verhältnis der Disziplin zur kulturellen Öffentlichkeit und »Krise« der fachlichen Einheit. Aus der Vielzahl einschlägiger Arbeiten Dainats zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vgl. auch: »Dieser ästhetische Kosmopolitismus ist aus für uns«. Weimarer Klassik in der Weimarer Republik, in: Lothar Ehrlich, Jürgen John (Hg.): Weimar 1930. Politik und Kultur im Vorfeld der NS-Diktatur, Köln u. a. 1998, S. 99–121. 650 Ernst Benda: Der gegenwärtige Stand der deutschen Literaturwissenschaft. Eine erste Einführung in ihre Problemlage, Wien u. a. 1928, S. 59. 651 Ernst Howald: Probleme der Literaturwissenschaft, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 1928, Nr. 4, S. 652–662, S. 660. 652 Martin Havenstein: Die Krisis der Literaturwissenschaft, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 1931, Nr. 7, S. 632–642, S. 633.

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tären »Deutschen Philologie«, so in der Regel ihre akademische Bezeichnung, auf, verzichten auf traditionelle Indikatoren für Wissenschaftlichkeit, orientieren sich nicht an ihren geläufigen Maßstäben, sondern an Person und Ethos des Lyrikers George, entwerfen ein künstlerisch grundiertes Leben und neue Sozialmodelle; dies mit beachtlicher Resonanz in gebildeten Publikumsgruppen. Nicht weitere wissenschaftliche Differenzierung, sondern im Gegenteil: Entdifferenzierung und über wissenschaftliche Detailfragen hinausgehende kulturelle Einheit (›Form‹) werden als Ziele ausgegeben. Die Folgen dieser »Revolution in der Wissenschaft«, so der Titel einer Rezension von Ernst Troeltsch zu Schriften aus dem George-Kreis, bleiben nicht nur in der Germanistik institutionell begrenzt, liegen jedenfalls nicht in der Weiterentwicklung von methodischen Konzeptionen oder gar Forschungsprogrammen. Folgen liegen in der gleichsam katalysatorischen Wirkung dieser forcierten geistesgeschichtlichen Publikationen, die zur Reflexion oft implizit Erkenntnis leitender Annahmen zwingen, ohne selbst Anschliessbarkeit, wissenschaftliche Kontinuität also, zu ermöglichen. Die Grenzen der herkömmlichen Philologie werden besonders darin sichtbar, dass die Kriterien für die Beurteilung dieser Innovation nicht konsensuell genutzt werden können. Selbst in den »unumgänglichsten Grundfragen«, so Josef Nadlers Formulierung,653 lässt sich eine disziplinär akzeptierte, verbindliche Einschätzung nicht finden, nur »Chaos« sei auszumachen. Und diese ›Krise‹ des tradierten Selbstverständnisses wird durch das neuere Phänomen des später so genannten »Methodenpluralismus« noch verstärkt. Die Identität des Fachs ist zunehmend diffus. Im Frühjahr 1933 ist die »Krisis« beendet, wenn man zwei prominenten neugermanistischen Lehrstuhlinhabern glauben darf. Hermann August Korff in der »Zeitschrift für Deutschkunde«: »Wie immer man die großen Ereignisse empfinden möge, von denen wir in der Gegenwart wie auf gewaltigen Wogen dahingetrieben werden – nach einer Zeit so qualvoller Ratlosigkeit sind sie von einer wahrhaft befreienden Wirkung gewesen. Die Entscheidung ist gefallen, unser Schicksal hat sich enthüllt, die Nacht ist von uns gewichen, und wie wir uns in der Helle umsehen, wissen wir: eine neue Epoche der deutschen Geschichte ist angebrochen – und uns ist die Gnade zuteil geworden, dabei zu sein.«654

Karl Viëtor in der »Zeitschrift für deutsche Bildung«:

653 Josef Nadler: Einzeldarstellung und Gesamtdarstellung. Bei Gelegenheit von Gundolfs »Goethe«, in: Euphorion. Vierzehntes Ergänzungsheft (Gundolf-Heft), Leipzig u. a. 1921, S. 110, hier S. 1. 654 Hermann August Korff: Die Forderung des Tages, in: Gunter Reiss (Hg.): Materialien zur Ideologiegeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Tübingen 1973, S. 84–88, S. 84.

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»Durch den Sieg der nationalsozialistischen Bewegung ist allen völkischen Kräften in Deutschland ein ungeheures Feld eröffnet. Ohne Übertreibung darf man behaupten, dass jetzt und hier eine neue Epoche der deutschen Geschichte beginnt. Die endliche Entscheidung und die gewaltige Wucht, mit der sie sich vollzieht, schafft für jedes einzelne Dasein und jedes einzelne Tun einen neuen Grund, einen neuen Raum, ein neues Ziel. […] Die Deutschen haben sich in Marsch gesetzt, in neuer Haltung und zu neuen Zielen.«655

Das Zitat der Goetheschen Diagnose einer Epochenwende 1792 leitet hier ein Reden in Oppositionen ein, das die »Entscheidung« gefallen, »Helle« statt »Nacht« und die »Ratlosigkeit« beendet sieht. Und zwar bezeichnenderweise zunächst noch nicht im Blick auf wissenschaftliche Problemstellungen, wie er von Artikeln in Fachzeitschriften zu erwarten wäre. Vielmehr zeichnen sich die Argumentationen durch ein striktes Ordnungs- und Einheitsdenken aus. Zunächst einmal stigmatisieren Nadlers und Korffs Formulierungen vom »Chaos« und der »qualvolle[n] Ratlosigkeit« die Konkurrenz von Wissenschaftsprogrammen als Misere, der es zu steuern gilt: durch neue Ordnung. Ein Einheitsdenken, das Perspektivenvielfalt und wissenschaftliche Dynamik stillstellen möchte, Pluralismus als Defizit identifiziert und negativ vereinseitigt: Niedergang, Verlust, existenzielle Gefährdung – nicht Zukunfts- und Entscheidungsoffenheit in der als »Krise« identifizierten Situation werden benannt. Die Debatten über die Perspektivität, Historizität und Grenzen wissenschaftlicher Wahrheitsansprüche seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, Max Webers Rede über »Wissenschaft als Beruf« mag ihre prägnanteste Zusammenfassung sein, werden durch Geistsemantik und Ganzheitsmetaphern verdrängt, die ontologischer Letztbegründung fähig scheinen.656 Das Pathos der »Entscheidung« in beiden Zitaten verweist auf die Weigerung, Zustände, hier: wissenschaftliche, als historisch generierte strukturell kontingent zu setzen657 und die grundsätzlich futurische Dimension des »Forschungsimperativs« in der modernen Wissenschaft zu akzeptieren. Begrüßt wird deshalb die »willkürliche Setzung einer neuen funktionellen Ordnung«658 und eine Schließung des

655 Karl Viëtor: Die Wissenschaft vom deutschen Menschen in dieser Zeit, ebd., S. 89–98, S. 89. 656 Vgl. Lutz Raphael: »Ordnung« zwischen Geist und Rasse: Kulturwissenschaftliche Ordnungssemantik im Nationalsozialismus, in: Hartmut Lehmann, Otto Gerhard Oexle (Hg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Bd 2: Leitbegriffe – Ordnungsmuster – Paradigmenkämpfe. Erfahrungen und Transformationen im Exil, Göttingen 2004, S. 115– 137, S. 126. 657 Vgl. grundsätzlich Michael Makropoulos: Über den Begriff der »Krise«. Eine historischsemantische Skizze, in: INDES, 2013, S. 13–20, S. 18. 658 Ebd., S. 17.

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»Möglichkeitshorizontes« (Koselleck): durch den Kairos der Ankunft des »Führers«.659 Die Konjunktur des »Erlebnis«-Begriffs »als Zugang zu Erkenntnis und Werten«660 verweist auf eine lange Tradition der Personalisierung von wissenschaftlichen Debatten in der Germanistik seit dem 19. Jahrhundert. Ein zentrales Merkmal der jahrzehntelangen »Schul«-Rivalitäten war die Tendenz zur Ersetzung von Wahrheit durch Wahrhaftigkeit: Das Bekenntnis zu herausragenden Fachvertretern und ihren exemplarischen Problemlösungen, die Orientierung an Reputation, ersetzte problemorientierte wissenschaftliche Konkurrenz. Die Disziplin sollte ein einheitliches Profil aufweisen. Diese Personalisierung von Sachkontroversen, in denen abweichende Forschungsergebnisse als Charakterfehler disqualifiziert werden, beschert der Disziplin eine Form wissenschaftlicher Kommunikation, die Innovation erschwert, eher als Rückschritt begreift. Dies stärkt bei zahlreichen Fachvertretern die Einschätzung, ihre Disziplin, ja die Kulturwissenschaft(en) insgesamt, befände sich in einem Stadium der Unordnung. 1933 kann das nationalsozialistische Postulat der totalen Ordnung geeignet erscheinen, nicht nur die disziplinäre »Krisis« still zu stellen, sondern über sie hinaus die unterstellte Starre der »Systemzeit«, der Weimarer Republik, in die »gewaltigen Wogen« produktiv zu verflüssigen, die Korff sieht. Ein Denken in Kategorien der Personalisierung geschichtlicher Prozesse ist offen gegenüber charismatischen Orientierungen, wie sie die nationalsozialistische Propaganda mit ihrer Inszenierung messianischer Erwartungen bereits seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre fördert.661 Zugleich fehlt ein nationalsozialistisches Wissenschaftsprogramm: Die je eigenen Wissenschaftskonzepte der »Deutschen Bildung«, der »Deutschkunde«, der »Volkskunde«, der »Geschichte des deutschen Geistes« usw. werden durch die Etablierung des nationalsozialistischen Staates also nicht verdrängt, sondern können jetzt als hochaktuelle präsentiert und gegen Historismus, Positivismus und »voraussetzungslose Forschung«, so die berühmte Formulierung Theodor Mommsens,662 als wissenschaftlich wie 659 Vgl. Gerhard Fricke, der von einer »kopernikanischen Wende« spricht. Zitiert nach Wilhelm Vosskamp: Kontinuität und Diskontinuität. Zur deutschen Literaturwissenschaft im Dritten Reich, in: Peter Lundgreen (Hg.): Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1985, S. 140–162, hier S. 141. 660 Renate Heydebrand: Zur Analyse von Wertsprachen in der Zeitschrift Euphorion/ Dichtung und Volkstum vor und nach 1945. Am Beispiel von Hans Pyritz und Wilhelm Emrich, in: Wilfried Barner, Christoph König (Hg.): Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 1996, S. 205–230, S. 221. 661 Vgl. Ludolf Herbst: Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias, Frankfurt a. M. 2010. 662 Zitiert nach: Stefan Rebenich: Theodor Mommsen. Eine Biographie, München 2007, S. 156, zum ›Fall Spahn‹ an der Universität Straßburg 1901. Demgegenüber distanzieren sich beide Autoren von einer in diesem Sinne ›unpolitischen‹ Wissenschaft und fordern eine politische Grundlegung wissenschaftlicher Arbeit.

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politisch fragwürdige Positionen in Stellung gebracht werden. Dass damit die in den Debatten vor und nach dem Weltkrieg festgestellte »Pluralität von Wahrheiten« (Ernst Howald) nicht beseitigt ist, wird allerdings bereits Mitte der dreißiger Jahre erneut konstatiert, übrigens gerade auch von Seiten nationalsozialistischer Germanisten wie Franz Koch, denen das Beharrungsvermögen wissenschaftseigener Selbstreflexion als überlebter Ritus ›bürgerlicher Wissenschaft‹ ein Dorn im Auge ist. Per definitionem kennt die Wissenschaft auf völkischer Grundlage keine ›Krise‹, nur Selbstgewissheit. »Wo bleibt das Positive?«, wird der Krisenbeobachter Erich Kästner gefragt. Nicht einmal die Geschichte der Mathematik, in der nach Ansicht von NichtMathematikern die Welt noch in Ordnung ist, bietet hier Remedur. Der Wiener Mathematiker Hans Hahn, Doktorvater von Kurt Gödel und Lehrer Hermann Brochs, hat 1934 im Rückblick auf die »Grundlagenkrise« seiner Disziplin663 formuliert: »Es zeigt sich eben auch hier wie überall, dass die Forderungen nach einem absolut gesicherten Wissen eine überspannte Forderung ist – es gibt auf gar keinem Gebiet ein absolut gesichertes Wissen!«664 Die Analyse des Krisendiskurses eines anderen Subsystems der modernen Gesellschaft hatte den Zweck, übergreifende Strukturmerkmale zu verdeutlichen: ›Krise‹ meint nicht eine selbstverständliche Zustandsbeschreibung empirischer Realitäten durch Störung und Irritation, sondern fungiert als ein möglicher Rede- und Beobachtungsmodus, der sich durch striktes Einheits- und Ordnungsdenken auszeichnet. Eine literarische Narrativierung dieses Beobachtungsmodus, der ohnehin als »Erzählung und Metapher« beschreibbar ist,665 liefern auch literarische Geschichten über Jugend, wie sie Gegenstände der vorliegenden Untersuchungen waren. Emphatische Zukunftshoffnungen im Vormärz werden von ›normalisierten‹ Beschreibungen in Texten des Realismus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts abgelöst. Die Jugend, so zeigt sich verstärkt in den Texten nach 1900, wird als Lebensphase des Übergangs, der Labilität, Gefährdung, Unordnung gesehen. Potenziale wie Risiken sind auszumachen: Jugendliche Identität bildet sich in einem ›krisenhaften‹ Prozess. Entspricht dies dem dominanten reformpädagogischen Impuls im 20. Jahrhundert, der die Gefährdung der Jugendlichen akzentuiert und gesellschaftliche Schutzräume beansprucht (»Moratorium«), so differenzieren sich gleichzeitig andere Ju663 Vgl. Carsten Könneker: Moderne Wissenschaft und moderne Dichtung. Hermann Brochs Beitrag zur Beilegung der »Grundlagenkrise« der Mathematik, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1999, Nr. 73, S. 319–351. 664 Zitiert nach: Reinhard Laube: Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus, Göttingen 2004, S. 43. 665 Vgl. Ansgar Nünning: Krise als Erzählung und Metapher. Literaturwissenschaftliche Bausteine für eine Metaphorologie und Narratologie von Krisen, in: Meyer u. a. (Hg.): Krisengeschichte(n), S. 117–144.

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gendkonzepte, die ihren Ausgangspunkt in im weiteren Sinne kulturphilosophischen Perspektiven nehmen und, etwa in völkischen Kontexten, sehr wohl das Gegenteil postulieren können, ob es nationalsozialistische Konzepte der völkischen Einordnung durch disziplinierende Erziehung sind oder – nach 1945 – Postulate der Integration einer »jungen Generation« Europas: Literarische Texte partizipieren an gesellschaftlichen Selbstverständigungsdebatten über Jugend, die ihren Gegenstand nicht selten nur als Vorwand nehmen, um übergreifende Prozesse gesellschaftlichen und kulturellen Wandels zu thematisieren. Fiktive Lebensläufe sind geeignet, Probleme der Genese von Individualität und ihrer sozialen Konstitutionsbedingungen in der Moderne insgesamt zu reflektieren. Jugend ist Adressat für Programme gesellschaftlicher und kultureller Erneuerung, kann aber auch als Hort devianter Lebensstile eingeschätzt werden, die der Kontrolle und Disziplinierung bedürfen; schließlich kann die literarische Rede selbst zum Medium literarischer Formbildung im Literatursystem werden: in satirischen Kommentaren, wie sie Heinrich Mann und Robert Walser liefern. Literarische Texte über ›Jugend‹ können nicht auf ›realistische‹ Beschreibungen jugendlicher Lebenswelten reduziert werden. Das mögen sie, bildungsund sozialhistorisch gesehen, in Teilen auch sein, etwa, wenn es um 1900 um die »Überbürdung« im Schulunterricht geht; oder um die soziale Auslese durch das Gymnasium, die Andersch thematisiert. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht: Mit dieser Umweltreferenz werden in den Texten Wiedererkennungs- und Authentizitätseffekte generiert. Mein Interesse war es zu zeigen: Im Blick auch auf die Geschichte literarische Rede über ›Jugend‹ kann sie als Krisensemantik bestimmt werden.666 Dem Reflexionsmodus der Kulturkritik in der Moderne vergleichbar, werden auch in literarischen Jugenddarstellungen seit dem 18. Jahrhundert Probleme des sozialen Wandels, der Modernisierung, der konflikthaften Bewältigung von Kontingenz und Ordnungsverlust zur Sprache gebracht: eben ›krisenhafte‹ Zustände, als ›Krise‹, als Funktionsstörung bislang vermeintlich unproblematischer sozialer Prozesse und Strukturen identifiziert. Einzelne Elemente der Texte über ›leidende‹ Jugendliche, die sich in der empirischen Bildungs- und Sozialgeschichte von ›Jugend‹ verifizieren lassen mögen, bilden nicht schlicht eine dann ohnehin schon gewusste ›Krise der Jugend‹ innerhalb übergreifender (gesellschaftlicher, kultureller) ›Krisen‹ ab, die oft beschworen, nicht immer definiert werden; und emphatische Konzeptionen einer ›Jugend‹ als ›Zukunft Deutschlands‹ berichten, quasi unterhalb solcher geschichtsphiloso666 Vgl. zum Begriff Armin Steil: Krisensemantik. Wissenssoziologische Untersuchungen zu einem Topos moderner Zeiterfahrung, Wiesbaden 2014 (zuerst 1993). Dieser Monographie und anderen Arbeiten zum Begriff der Krise geht es allerdings um dessen Konjunkturen in der Moderne, mir um die Beobachtung, dass Facetten der historischen Erfahrungen, die mit dem Begriff belegt werden, auf einer anderen Ebene in der Rede über ›Jugend‹ formuliert werden können.

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phischer Höhenflüge, nicht von einer verbreiteten Hochschätzung und paternalen Fürsorge. Sondern: In der Jugendsemantik literarischer Texte sind historische Erfahrungen und Perspektiven ›subjektnah‹ formuliert, die auch im Leitbegriff der ›Krise‹ des ›Gesellschaftlichen‹ verdichtet werden können. Ob diese Diagnose der Zeitgenossen jeweils realhistorisch zutrifft, ist damit noch nicht gesagt, bestimmten Narrativen eignet nicht selten eine eigene Plausibilität und Faszination, für die Tradition der Kulturkritik seit Rousseau gilt dies zweifellos.667 Während kulturkritische Texte allerdings in der Regel ihren Akzent auf makrohistorische Entwicklungen legen, prominent eben im seit dem Kaiserreich geläufigen Schlagwort von der »Krisis der Kultur« (Georg Simmel),668 wenden sich die von mir untersuchten Werke eher der mikrohistorischen Ebene zu: den Lebensläufen einzelner Protagonisten, zumal Initiationsprozessen mit ihren liminalen Phasen, ihren Orientierungsunsicherheiten und institutionellen Rahmungen in Familien und Generationenverhältnissen, in Schule und Militär. Oder, um eine andere Facette zu akzentuieren: Die literarische Reflexionen auf ›Jugend‹ erinnern an deren Eigenzeit, ihre von der Logik übergreifender organisatorischer und institutioneller Prozesse abweichende Temporalität individueller Entwicklung.669 Sie thematisieren die Reibungen und Konflikte, die als Widerstand, Renitenz, Asozialität, Leistungsschwäche gewertet und personalisiert werden, um mit dieser Klassifizierung selbst wiederum biographische Konsequenzen zu zeitigen. Setzt man »Beschleunigung« als zentrales Moment gesellschaftlicher Moderne,670 so erscheinen im Kontrast nicht wenige der fiktiven Lebensläufe als ›entschleunigte‹, ›erschöpfte‹, gerade auch vor dem Hintergrund öffentlicher Debatten, die Jugend mit Zukunft identifizieren. Die untersuchten literarischen ›Jugendgeschichten‹ sind in ihrer Mehrzahl Gefährdungsgeschichten: narrative Beschreibungen kontingenter Lebensläufe und damit am »Kontingenz-Narrativ« der Moderne partizipierend.671 Es sind

667 Vgl. Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis Günther Anders, München 2007, S. 21 zur »Entrüstungsrhetorik«. 668 Vgl. die Unterscheidung von vier Krisenfeldern (Finanzwirtschaft, Demokratien, Ökologie, Psychokrise in Bevölkerungen) als Folge von Beschleunigungs- und Desynchronisationsprozessen bei Hartmut Rosa: Best Account. Skizze einer systematischen Theorie der modernen Gesellschaft, in: ders.: Spätmoderne, S. 151–251, hier S. 206ff. Zur Semantik der »Kulturkrise« vgl. bereits Steil: Krisensemantik, S. 81–129. 669 Vgl. grundsätzlich Helmut Hühn, Sabine Schneider (Hg.): Eigenzeiten der Moderne, Hannover 2020. 670 So bei Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik, Frankfurt a. M. 32016, bes. Kap 5: »Modernisierung als soziale Beschleunigung« (S. 185ff.). 671 Albrecht Koschorke: Das Narrativ der krisenhaften Moderne, in: Laura Kohlrausch, Marie Schoeß, Marko Zejnelovic (Hg.): Krise. Mediale, sprachliche und literarische Horizonte eines viel zitierten Begriffs, Würzburg 2018, S. 23–39, S. 33. »Kontingenz« wird hier in

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Geschichten der Abweichung von Normalität672 in der Generationenfolge, die implizit als selbstverständlich und eigentlich nicht hintergehbar ausgegeben wird; für die »Judenbuche« gilt dies wie für die Protagonisten der Schultexte oder »Hitlerjunge Quex« und die genealogische Diskontinuität geradezu demonstrativ ausstellenden Texte zu den Beschädigungen von ›Jugend‹ nach 1945.673 Es variieren die Kontexte, die Rahmenbedingungen für die literarisch inszenierten Sozialisationsprozesse. Die Sonderstellung realistischer Prosa aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wird hier deutlich, die Adoleszenzkonflikte darstellerisch einebnet oder, wie in Fontanes »Grete Minde«, pathologisiert. Die Darstellung jugendlicher Lebensläufe soll ›Biographien zur Zeit‹ liefern, mit Heinrich Heines Konzept der Zeitgeschichtsschreibung zu sprechen, und indiziert den Wunsch nach geordneten Verhältnissen, nach Überschaubarkeit: keine literarischen Äquivalente gesellschaftsgeschichtlicher Analysen ›krisenhafter‹ Gesellschaftsformationen, sondern narrative Formen gesellschaftlich präsenter Selbstwahrnehmungen. Und wenn »Moderne« die Krise in Permanenz meint,674 dann ist auch eine Kontinuität der literarischen Thematisierung von ›Jugend‹ plausibel, deren Konjunkturen man mit wechselnden Selbstverständigungsszenarien und ihren Ordnungsmodellen wird in Verbindung bringen dürfen. Nur gehen literarische Texte in ihren je aktuellen Zeitdiagnosen nicht auf. Ihre künstlerische Form macht sie auch da noch interessant, wo die spezifische historische Erfahrung überholt ist.

Anlehnung an Arbeiten von M. Makropoulos verstanden als »Notwendigkeit zu nicht abgesichertem Entscheiden« (S. 31). 672 Vgl. ebd., S. 36: »Das ›Unbewusste‹ der Krise ist der Normalismus, von dem aus sie überhaupt erst als solche erscheint.« 673 Mit im weiteren Sinne politischen, kulturkritischen Positionen von Autorinnen und Autoren ist ein solcher Befund nicht umstandslos verrechenbar. 674 Vgl. Thomas Mergel: Einleitung: Krisen als Wahrnehmungsphänomene, in: Thomas Mergel (Hg.): Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Frankfurt a. M. u. a. 2012, S. 9–22, S. 14.

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