Judentum im Mittelalter: Beiträge zum christlich-jüdischen Gespräch 9783110842159, 9783110051261

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Judentum im Mittelalter: Beiträge zum christlich-jüdischen Gespräch
 9783110842159, 9783110051261

Table of contents :
Vorwort
Toleranz und Menschenwürde
I. BEITRÄGE ZUR INNERJÜDISCHEN GESCHICHTE
Jüdische Mystik in Westeuropa im 12. und 13. Jahrhundert
Das „Buch der Frommen“ als Ausdruck des volkstümlichen Geisteslebens der deutschen Juden im Mittelalter
Die weltliche Volksliteratur der Juden
Le „Vademecum“ d'un rabbin allemand du XIIIe siècle
Die wirtschaftliche Bedeutung und soziale Stellung der sephardischen Juden im spätmittelalterlichen Spanien
AUS der ärztlichen Geisteswerkstätte des Maimonides
II. BEITRÄGE ZUM CHRISTLICH-JÜDISCHEN GEGENÜBER IM MITTELALTER
Die Geschichte des Maimonides im lateinischen Abendland als Beispiel einer christlich-jüdischen Begegnung
Liber de uno Deo benedicto hrsg. von WOLFGANG KLUXEN
Die Beziehung des Ramon Llull zum Judentum im Rahmen des spanischen Mittelalters
Joachim von Fiore und das Judentum
Jüdische und christliche Konvertiten im jüdisch-christlichen Religionsgespräch des Mittelalters
Aus den Akten des Trienter Judenprozesses
Das Endinger Judenspiel als Ausdruck mittelalterlicher Judenfeindschaft
III. BEITRÄGE ZUM HEILSGESCHICHTLICH-TYPOLOGISCHEN DENKEN DES MITTELALTERS
Synagoge und Ecclesia – Typologisches in mittelalterlicher Dichtung
Ekklesia und Domus sapientiae, Zur Ikonographie des Pfingst-Retabels im Cluny-Museum
Christlich-alttestamentliches Gedankengut in der Entwicklung des karolingischen Kaisertums
Volk Gottes und Militia Christi – Juden und Kreuzfahrer
Kaiser Friedrich II. und die Juden. Ein Beispiel für den Einfluß der Juden auf die mittelalterliche Geistesgeschichte
Dante und die hebräische Sprache
Namenregister
Register zitierter Autoren
Ortsregister
Register zitierter Handschriften
Sachregister

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JUDENTUM IM MITTELALTER B E I T R Ä G E ZUM C H R I S T L I C H - J Ü D I S C H E N

GESPRÄCH

MISCELLANEA VERÖFFENTLICHUNGEN

MEDIAEVALIA DES

THOMAS-INSTITUTS

AN DER U N I V E R S I T Ä T

KÖLN

H E R A U S G E G E B E N VON PAUL W I L P E R T

BAND 4

JUDENTUM IM MITTELALTER B E I T R Ä G E ZUM C H R I S T L I C H - J Ü D I S C H E N

W A L T E R

DE

G R U Y T E R

&

CO

GESPRÄCH

·

B E R L I N

V O R M A L S G. J. G Ö S C H E N * S C H E V E R L A G S H A N D L U N G . J . G U T T E N T A G , V E R L A G S B U C H H A N D L U N G . G E O R G R E I M E R . K A R L J. T R O B N E R . V E I T & C O M P .

1966

JUDENTUM IM MITTELALTER BEITRÄGE ZUM C H R I S T L I C H - J Ü D I S C H E N

HERAUSGEGEBEN VON PAUL UNTER MITARBEIT

W A L T E R

DE

VON WILLEHAD

G R U Y T E R

&

GESPRÄCH

WILPERT

PAUL

CO

ECKERT

·

B E R L I N

V O R M A L S G. J. G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G · J. GUTTENTAG, VERL A G S B U C H H A N D L U N G · GEORG R E I M E R . K A R L J. T R Ü B N E R - V E I T & COMP.

1966

Archiv-Nr. 3621661 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen (g) 1966 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Printed in Germany Satz und D r u c k : Walter de Gruyter & Co., Berlin 30

INHALTSVERZEICHNIS PAUL WILPERT, GUIDO K I S C H ,

Vorwort

VII

Toleranz und Menschenwürde

1

I. BEITRÄGE ZUR INNERJÜDISCHEN GESCHICHTE GERSHOM SCHOLEM,

Jüdische Mystik in Westeuropa im

12.

und

13. Jahrhundert

37

Das „Buch der Frommen" als Ausdruck des volkstümlichen Geisteslebens der deutschen Juden im Mittelalter

55

RAFAEL EDELMANN,

W E R N E R SCHWARZ, COLETTE SIRAT,

Die weltliche Volksliteratur der Juden . . .

72

Le „Vademecum" d'un rabbin allemand du XlIIe

siècle

92

Die wirtschaftliche Bedeutung und soziale Stellung der sephardischen Juden im spätmittelalterlichen Spanien

99

HERMANN K E L L E N B E N Z ,

SÜSSMANN MUNTNER, AUS

der ärztlichen Geisteswerkstätte des

Maimonides

128

II. BEITRÄGE ZUM CHRISTLICH-JÜDISCHEN GEGENÜBER IM MITTELALTER

Die Geschichte des Maimonides im lateinischen Abendland als Beispiel einer christlich-jüdischen Begegnung 146

WOLFGANG K L U X E N ,

Rabbi Moyses (Maimonides) : Liber de uno Deo benedicto hrsg. von WOLFGANG K L U X E N

167

Die Beziehung des Ramon Llull zum Judentum im Rahmen des spanischen Mittelalters 183

E U S E B I O COLOMER,

Inhaltsverzeichnis

VI

Joachim von Fiore und das Judentum 228

BEATRICE HIRSCH-REICH,

Jüdische und christliche Konvertiten im jüdisch-christlichen Religionsgespräch des Mittelalters . . 264

BERNHARD BLUMENKRANZ,

Aus den Akten des Trienter Judenpro-

WILLEHAD PAUL ECKERT,

zesses

281

Das Endinger Judenspiel als Ausdruck mittelalterlicher Judenfeindschaft 337

K A R L J O S E F BAUM,

III. BEITRÄGE ZUM HEILSGESCHICHTLICH-TYPOLOGISCHEN DENKEN DES MITTELALTERS

Synagoge und Ecclesia — Typologisches in mittelalterlicher Dichtung 351

FRIEDRICH O H L Y ,

Ekklesia und Domus sapientiae, Zur Ikonographie des Pfingst-Retabels im Cluny-Museum 370

P E T E R BLOCH,

Christlich-alttestamentliches Gedankengut in der Entwicklung des karolingischen Kaisertums 382

W A L T E R MOHR,

ADOLF W A A S ,

Kreuzfahrer

Volk Gottes und Militia Christi — Juden und

410

Kaiser Friedrich II. und die Juden. Ein Beispiel für den Einfluß der Juden auf die mittelalterliche Geistesgeschichte 435

GUNTHER W O L F ,

HANS R H E I N F E L D E R ,

Dante und die hebräische Sprache . . . .

442

Namenregister

460

Register zitierter Autoren

468

Ortsregister

474

Register zitierter Handschriften

477

Sachregister

478

VORWORT Dem vierten Band der Miscellanea Mediaevalia liegen die Vorträge zugrunde, die auf der Mediävistentagung 1963 gehalten wurden, jedoch sind inzwischen einige Beiträge bedeutend erweitert worden. Drei der in dem vorliegenden Band enthaltenen Arbeiten sind erst nach der Mediävistentagung, aber durch sie angeregt, entstanden. Die Ausstellung Monumenta Judaica in Köln veranlagte uns, in Ergänzung zu dem im ersten Band der Miscellanea Mediaevalia gewählten Thema Antike und Orient im Mittelalter nun das Judentum im Mittelalter zum Thema einer Tagung zu machen. Es war dabei weder unsere Absicht, eine Gesamtdarstellung der vielfältigen Formen des mittelalterlichen Judentums zu geben, noch alle Fälle christlich-jüdischer Begegnung, seien sie nun feindlicher oder freundlicher Art gewesen, aufzuweisen. Stattdessen hatten wir es uns zur Aufgabe gemacht, an einigen besonders eindrucksvollen Beispielen zu zeigen, welcher Art die Begegnung zwischen Juden und Christen im Mittelalter sein konnte. Wenn wir auch dem Band den Untertitel geben Beiträge zum christlich-jüdischen Gespräch im Mittelalter, so sind wir uns doch bewußt, daß von einem Gespräch zwischen Juden und Christen im Mittelalter nur sehr bedingt die Rede sein kann. Gespräch im eigentlichen Sinne setzt Partnerschaft voraus, eine Atmosphäre der Toleranz, der Anerkennung des anderen in seinem Anderssein. War das im Mittelalter jemals möglich? Die Gegenüberstellung der beiden am Ende des Mittelalters stehenden, dem Humanismus verpflichteten Juristen Ulrich Zasius und Johannes Reuchlin verbindet der Rechtshistoriker Guido Kisch mit grundsätzlichen Erwägungen über das Verhältnis von Recht, Toleranz und Menschenwürde. Doch auch in anderen Beiträgen dieses Bandes kehrt der Begriff der Toleranz wieder. So erläutert Eusebio Colomer die Tragödie des Judentums im mittelalterlichen Spanien aus dem Scheitern einer aus staatspolitischen Gründen bestimmten Politik der Toleranz am wechselseitigen Unverständnis der christlichen und jüdischen Bevölkerung. Daß Spanien in dem Band Judentum im Mittelalter vertreten sein mußte, verstand sich von selbst. Wenn irgendwo, dann mußte gerade hier das Judentum als gleichwertiger Partner der Christenheit gefunden werden. Nur in Spanien konnte sich jüdisches Leben so reich entfalten, daß die Juden den Christen nicht lediglich als ein Volk von Händlern und Gelehrten erscheinen. Zwar waren im frühen

Vili

Vorwort

und zum Teil noch im hohen Mittelalter Juden auch in anderen Ländern nicht nur im Geldgeschäft oder im Handel tätig, zwar gab es auch sonst neben rabbinischer Gelehrsamkeit die Kunst des jüdischen Arztes, gab es den jüdischen Dichter, der nicht nur mit synagonaler Poesie hervortrat, sondern auch Stoffe der Volksliteratur bearbeitete, konnten Juden bis zum Spätmittelalter eigenen Grund und Boden erwerben, aber die jüdischen Siedlungen und Gemeinden waren oft zu klein, als daß sich das Leben in seiner Vielgestalt hätte entfalten können. Selbst in größeren Gemeinden aber trat mit zunehmendem Zunftzwang eine Verengung der Berufsmöglichkeiten ein, da die nach dem Prinzip christlicher Bruderschaften organisierten Zünfte den Juden verschlossen waren. In Spanien waren die jüdischen Gemeinden groß und bedeutend genug, ein eigenes Handwerk und Gewerbe betreiben zu können. Die Leistungen in der Herstellung bedruckten Leders und farbiger Tuche, die Gold- und Silberarbeiten, die Kunst der Waffenschmiede sicherten den Juden in Spanien ihre Überlegenheit in diesen Zweigen des Handwerks und Gewerbes, wie der Wirtschaftshistoriker Hermann Kellenbenz aus zahlreichen Beispielen belegen kann. Mochten in anderen Ländern die Christen im Mittelalter die Juden als eine Art inneren Proletariats empfinden, wie Wolfgang Kluxen meint; die wenigen Theologen, die im Mittelalter Hebräisch lernten, waren auf die Hilfe meist armer und vielfach nur wenig gebildeter Juden und Konvertiten angewiesen. Erst im Zeitalter des Humanismus stoßen wir des öfteren auf Namen bedeutender Juden, die mit christlichen Gelehrten befreundet sind. In Spanien war es anders. So ist es kein Zufall, daß gerade in Spanien Übersetzungsschulen entstehen konnten, in denen hervorragende jüdische und christliche Gelehrte zusammenwirkten; daß Alfons der Weise von Kastilien Juden und Christen gemeinsam heranzog zur Erschließung des Gesamtbereiches der Wissenschaften und der Literatur in den Volkssprachen. Aus Spanien ging auch der Philosoph hervor, der als jüdischer Gesprächspartner von den christlichen Theologen der Hochscholastik angenommen wurde, Moses Maimonides, der Rabbi Moyses, wie er von ihnen genannt wurde. Hatte jahrhundertelang jüdische Gelehrsamkeit sich auf das Studium des Talmud konzentriert, sich damit begnügt, nach der Geltung des Gesetzes zu fragen, die Frage nach seinem Sinn jedoch nicht gestellt, so tat Maimonides einen entscheidenden Schritt. Auch er widmete seine Aufmerksamkeit dem Studium des Talmud. Doch bediente er sich dabei nicht der üblichen assoziativen Methode, sondern ging systematisch vor. Darüber hinaus war er auch an dem Problem des Verhältnisses von Glauben und Wissen interessiert. In dem Augenblick, in dem sich die mittelalterlichen Menschen, ganz gleich, ob sie nun Juden, Christen oder

Vorwort

IX

Mohammedaner waren, mit den Texten der aristotelischen Philosophie vertraut zu machen begannen, empfanden sie Widersprüche und Gegensätze zum überlieferten Offenbarungsglauben. Die Vereinbarkeit des Offenbarungsglaubens mit philosophischer Einsicht wurde zur bedrängenden Frage. Den im Glauben unsicher Werdenden, den Zweifelnden schenkte Moses Maimonides seinen Führer der Zweifelnden oder der Irrenden. Die Harmonie von Glauben und Wissen, die er darzutun bemüht war, fand im Abendland dort Widerhall, wo es ebenfalls um sie ging, vor allem bei Albert dem Großen und Thomas von Aquino. Hier kann von einer echten Begegnung gesprochen werden, insofern durch das Studium des Werkes eines großen Denkers dieser selbst ins Blickfeld tritt. Die Wirkung des Maimonides im Abendland findet dort ihre Grenze, wo die Harmonie von Glaube und Wissen nicht mehr angestrebt wird oder wo sie in Frage steht. Eines der ersten Zeugnisse der Begegnung mit dem Werk des Maimonides im Abendland, den Liber de Deo benedicto, legen wir in der Edition von Wolfgang Kluxen in diesem Bande vor. Maimonides hat jedoch nicht nur als Philosoph das abendländische Denken beeinflußt, sondern auch als Mediziner. Süßmann Muntner, dessen Lebenswerk der Erschließung der medizinischen Schriften des Maimonides gilt, berichtet über sein ärztliches Werk und Ethos. Begegnung vollzog sich jedoch nicht nur im Bereich philosophischen Denkens, sondern auch auf dem Gebiet der Volksfrömmigkeit und der Volksliteratur. Mag es auch zweifelhaft sein, ob die christliche Exemplum-Literatur auf die exempla im Sefer Chassidim Einfluß gehabt hat, so sind doch, wie auch Rafael Edelmann betont, Einwirkungen der christlichen Bußpredigten und Bußpraxis auf die Bußgesinnung der deutschen Chassidim, wie sie sich im Sefer Chassidim darstellt, unverkennbar. Werner Schwarz versucht im Gegensatz zur sonst üblichen Methode des Nachweises literarischer Vorformen, aus der Analogie zu noch bis in die Gegenwart auf dem Balkan geübter Spielmannspraxis nachzuweisen, daß der Spielmann aus den überlieferten Motiven bei jeglichem Vortrag sein Lied neu gestaltet. Den Ducus Horant sieht er als das Ergebnis eines Zusammenwirkens von christlichem und jüdischem Sänger an, wobei der christliche Sänger anscheinend das Lied zunächst vorgetragen hat und der jüdische es von ihm übernahm, ohne die Stimmung dabei zu ändern. Der Ducus Horant gilt ihm als ein Beispiel des Zusammenwirkens von Juden und Christen im Bereich der Volksliteratur, da beide am gleichen Stoff interessiert waren und Gefallen fanden. Gespräch spielte sich freilich zumeist in der Form des Religionsgespräches ab. Noch bis zum 13. Jahrhundert waren die Formen des Gespräches, weil es sich um einen Dialog zwischen einzelnen handelte, relativ ungezwungen. Dafür ist das Vademecum eines

χ

Vorwort

rheinischen Rabbiners aus dem 13. Jahrhundert, dessen Inhalt Colette Sirat erschließt, ein gutes Beispiel. Zweck der Religionsgespräche war es, den jeweiligen Gesprächspartner von der Wahrheit des eigenen Glaubens zu überzeugen. Nicht immer waren es die Christen, die einzelne Juden für ihren Glauben gewannen, sondern es fanden auch Bekehrungen zum Judentum statt. Außer acht bleiben hier Bekehrungen aus wirtschaftlichen oder politischen Motiven. Statt dessen verdienen umso mehr Beachtung die Beispiele von Bekehrungen auf Grund theologischer Motive. Im Frühmittelalter finden einige höchst bedeutsame Bekehrungen zum Judentum statt. Über sie berichtet Bernhard Blumenkranz. Aber seit dem 12. Jahrhundert überwiegen bereits Bekehrungen zum christlichen Glauben. Einige der Konvertiten griffen literarisch den alten Glauben an, so schon Petrus Alphonsi und noch viel nachhaltiger Nikolaus Donin von La Rochelle, der anscheinend ursprünglich Karäer war, sich daher mit dem rabbinischen Judentum überwarf und schließlich zum Ankläger des Talmud wurde. Das Einzelgespräch wurde abgelöst durch das Gruppengespräch. Die neuen Orden der Dominikaner und Franziskaner verwenden das Religionsgespräch in ihrer Missionsmethodik. Nun wird es auf Schau angelegt. Die beiden berühmtesten als Schau aufgezogenen Religionsgespräche waren die von Barcelona und Tortosa. In diese Periode gehört auch das Wirken des Ramon Llull. Seine ursprüngliche Aufgeschlossenheit den Juden wie den Mohammedanern gegenüber wird im Alter von einer zunehmenden Härte abgelöst. Daß es sich dabei jedoch nicht um einen Bruch seiner inneren Entwicklung handelt, unterstreicht Eusebio Colomer. Die Überzeugung, eine Denkmethode gefunden zu haben, die den christlichen Glauben rational einsichtig macht, beseelt Ramon Llull schon in seiner Frühschrift, dem Libro del Gentil. Daher kann er die drei Weisen, den Juden, den Christen und den Mohammedaner, die den Heiden belehren, am Ende des Werkes den Vorsatz fassen lassen, jeden Tag aufs neue zusammenzukommen, und das Religionsgespräch fortzusetzen, bis der wahre Glaube gefunden sei. Für Llull konnte es keinen Zweifel geben, was das Ergebnis sein würde. So erweist sich seine Offenheit im Grunde nur als scheinbare. Befremdlicher wirkt, daß er, der dem Religionsgespräch das Wort redet, für die Zwangspredigt eintritt. Da der Glaube aus dem Hören kommt, will er, daß möglichst alle Juden Gelegenheit zum Hören haben. Die Nötigung zum Hören sei kein Zwang, den Glauben anzunehmen. Daß diese Argumentation auf schwachen Füßen steht, konnte er nicht einsehen. Mit der Nötigung zur Zwangspredigt, wie sie Ramon Llull begreift, beschreitet das christliche Spanien einen Weg, der schließlich bei der Ausweisung der Juden und der Verfolgung der Marranen endet.

Vorwort

XI

Nicht nur in den Verfolgungen und Vertreibungen äußert sich der mittelalterliche Judenhaß, sondern ebenso in verhängnisvollen Legenden, Verdächtigungen und Prozessen. Die Blutbeschuldigung gab wiederholt Anlaß zu kollektiver Haftbarmachung ganzer Judengemeinden, zu Justizmord und zu grausamen Vertreibungen. Die Erinnerung an die Kriminalprozesse hielten Spiele, Martyrerberichte, Flugblätter und Wallfahrtskulte fest. Ein spätes Beispiel aus dem Bereich der Volksdichtung ist das Endinger Spiel. An Bedeutung wird es übertroffen vom Prozeß gegen die Juden von Trient. Der Kult des seligen Simon von Trient, der angeblich ihr Opfer geworden war, hielt nicht nur die Erinnerung an einen berühmt-berüchtigten Prozeß fest, sondern gab noch dem Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts willkommene Nahrung. Erst 1965 hob die Ritenkongregation auf Grund eines Gutachtens meines Mitarbeiters P. W I L L E H A D E C K E R T anläßlich der 4. Session des II. Vatikanischen Konzils den Kult definitiv auf. Die Prozeßakten sind jedoch nicht nur ein Beispiel der Vorurteilsbefangenheit, die zum Justizmord führte, sondern sie geben mancherlei Einblick in das Leben der spätmittelalterlichen jüdischen Gemeinden und zeugen darüber hinaus für die persönlichen Kontakte, die zwischen Christen und Juden bestanden, ehe infolge des unglückseligen Todesfalles des kleinen Simon das längst latent vorhandene Mißtrauen offen ausbrach und die Katastrophe der Trienter Juden heraufbeschwor. Ein wichtiger Bereich gegenseitiger Einflußnahme, nämlich der auf dem Gebiet der Bibelexegese, kommt nur im Vorbeigehen zu Wort. Einem späteren Sammelband, der unter dem Titel Kirche und Judentum im Mittelalter erscheinen soll, wird dieser Bereich vorbehalten werden. Doch wenigstens ein Aspekt aus dem Komplex des Bibelstudiums kommt im vorliegenden Band zu Worte. Die typologische Auswertung des Alten Testaments. In vielen mittelalterlichen Darstellungen begegnen wir Patriarchen und Propheten des Alten Testamentes gekennzeichnet mit dem Judenhut. Neben den römischen Kaisern und Königen werden die jüdischen Könige genannt, in den Bildunterschriften wird des öfteren hervorgehoben, König David oder der Prophet Jeremias: ein Jud. Mit diesen alttestamentlichen Juden war das christliche Mittelalter bereit, sich zu identifizieren. So konnten die Karolinger an die Erwählung Davids zum König anknüpfen und darin ein Vorbild für ihre eigene Berufung zum Königtum und für die Entthronung der Merowinger sehen. So empfanden sich die Kreuzfahrer als die legitimen Nachfahren des einstigen Heeres der Israeliten. Das Bewußtsein der Erbenschaft konnte dabei freilich durchaus mit einer Feindschaft zu den zeitgenössischen Juden parallel gehen. Das beweist die Geschichte vor allem des 1. Kreuzzuges, wenn auch die Judenverfolgung Schuld des ungeordneten Vor-

XII

Vorwort

trabs und nicht des eigentlichen Kreuzfahrerheeres war. Den Untergang dieser ungeordneten Scharen deutet Albert Aquensis als Strafe Gottes wegen der Judenschlächtereien. So kann auch der 1. Kreuzzug nicht als der entscheidende Einschnitt in der mittelalterlichen Geschichte der Juden angesehen werden. Erst mit der Vernichtung ganzer jüdischer Gemeinden 1348 infolge der durch die Pest bedingten Psychose reißt die Kontinuität der jüdischen Gemeinden in Deutschland ab. Zuzugeben ist freilich, daß mit dem 1. Kreuzzug das Zusammenleben von Juden und Christen in Frankreich und Deutschland schwer gestört wurde. Deutlich sichtbar wurde auch die Unsicherheit der jüdischen Minorität innerhalb der christlichen Majorität. Das heilsgeschichtliche typologische Denken setzt ein geschlossenes Weltbild voraus. Für das Gespräch mit Andersdenkenden scheint da wenig Platz zu sein. Dennoch sind gerade im Frühmittelalter, in dem das typologische Denken dominiert, einzelne Begegnungen zwischen Juden und Christen nachzuweisen. In den Figuren der Ecclesia und der Synagoga findet das typologische Denken Antipoden des Gespräches. Noch ist die Synagoga nicht zur ausschließlich Unglücklichen, zur Verdammten geworden. Der Straßburger EcclesiaMeister und andere Künstler gleich ihm stellen die Synagoga als schöne Frau dar überglänzt von der Gnade und dem Erbarmen Gottes. Synagoga und Ecclesia wetteifern um den gleichen Bräutigam, sie stehen nicht nur im Streitgespräch miteinander. In seinem HohenLied-Kommentar läßt vielmehr Beda Venerabiiis die Ecclesia ihre Partnerin, die Synagoga, trösten und umwerben. So ist ihr Gegenüber als ein Gespräch konzipiert. Darum durfte in einem Band, der Beiträge zum christlich-jüdischen Gespräch zum Gegenstand hat, auch das Gegenüber von Ecclesia und Synagoga nicht fehlen. An ihrem Beispiel erläutert Friedrich Ohly die Struktur typologischen Denkens. Die Auswirkung dieser Denkweise für die bildende Kunst schildert am Beispiel der sogenannten Koblenzer Retabel Peter Bloch. Dementsprechend sind die Beiträge in diesem Band in drei große Abschnitte geordnet worden ; sie gelten dem inner jüdischen Leben, dem Gegenüber von Christen und Juden und der Struktur des typologischen Denkens. Köln, im Frühjahr 1966

PAUL

WILPERT

TOLERANZ UND MENSCHENWÜRDE V o n GUIDO KISCH

I

Toleranz und Recht Umriß eines Problems* Die Geschichte aller Völker zeigt, daß Toleranz ein Grundproblem der menschlichen Gemeinschaft und der persönlichen Existenz des Einzelnen darstellt. Gemäß der Polarität, die das große Ordnungsreich des Lebendigen beherrscht, steht ihr immer und überall in der Geschichte die Intoleranz gegenüber. J a man darf behaupten, daß Toleranz erst im Gegensatz zur Intoleranz bewußt errungen wird und sich geschichtskräftig entwickelt1. Ihre Durchsetzung ist das Ergebnis eines langen Ringens, das sich nur mühsam gegen eingewurzelte Auffassungen zur Geltung zu bringen vermochte. Nach der Definition des Gelehrten, der sich zuletzt aus religionsgeschichtlicher Sicht mit Problemen religiöser Toleranz in den nichtchristlichen Religionen in einem Buche beschäftigt hat, ist Toleranz * Das erste Kapitel der vorliegenden Studie stellt eine erheblich erweiterte Ausarbeitung der einführenden Bemerkungen zu dem Vortrag dar, welchen der Verfasser unter dem Titel Toleranz und Menschenwürde am 15. Oktober 1963 zur Eröffnung der 13. Mediaevistentagung im Isabellensaal des Gürzenich zu Köln gehalten hat. Ein umfangreicher Anmerkungsapparat ist hinzugefügt worden. Die Arbeit wurde im Frühjahr 1964 abgeschlossen. 1 Seitdem die Stellung der katholischen Kirche zu anderen christlichen Religionen einen der bedeutendsten Programmpunkte des Zweiten Vatikanischen Konzils bildet und von diesem auch eine Kundgebung über ihre Haltung zum Judentum erwartet wird, ist das schon früher öfter als Forschungsgegenstand bevorzugte Toleranzproblem zum weltweiten Diskussionsthema in Tagespresse und wissenschaftlichem Schrifttum erhoben worden. Eine umfassende Bibliographie über den Gegenstand gibt es zur Zeit nicht. Sie wird vorläufig für die im folgenden vornehmlich in Betracht kommende Reformationszeit ersetzt durch das großangelegte Werk von JOSEPH LECLER, Histoire de la Tolérance au Siècle de la Réforme, Paris 1955; Bibliographie daselbst, I, 11—39. Amerikanische Übersetzung unter dem Titel, Toleration and the Reformation, translated by T. L. WESTOW, 2 Bde., New York und London 1960. Eine Toleranz-Bibliographie mindestens für das letzte Jahrzehnt ist ein dringendes Desideratum. Deutsche Übersetzung unter dem Titel, Geschichte der Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation,

ü b e r s e t z t v o n E L I S A B E T H SCHNEIDER, 2 B ä n d e S t u t t g a r t Med. IV

1965.

1

2

Guido Kisch

„das Ertragen der Andersheit in der Gemeinschaft"2. Dies gelte für alle Lebensbezüge der Gemeinschaft. In seiner Definition spiegelt sich die Auffassung gewisser weiter Kreise in vorangegangenen Jahrzehnten, eine Konzeption, die auch heute noch zu finden ist, obwohl man in ihr einen entschiedenen Anspruch auf absolute Exklusivität nicht verkennen kann. Um zu richtigem Verständnis des Begriffes, der den Gegenstand dieser Betrachtung bilden soll, zu gelangen, sei eine weniger allgemeine, abstrakte und zeitbedingte, mehr das Spezifische der Wortbedeutung hervorkehrende Begriffsbestimmung angeführt. Nach dem Großen Herderschen Lexikon ist Toleranz (vom lateinischen tolerare, ertragen, dulden) Duldung (Duldsamkeit) anderer religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen und Betätigungen3. 2 Auch zum Vorausgehenden J . W. H A U E R , Toleranz und Intoleranz in den nichtchristlichen Religionen, Beitrag zu einer weltgeschichtlichen Betrachtung der Religion, Stuttgart 1961, 11. Hauers geistige Einstellung zeigt noch deutlich seine sehr aktive Teilnahme am Nationalsozialismus, worüber Näheres bei M A R I A N N E W E B E R , Lebenserinnerungen, Bremen 1948, 253ff., 294ff. (freundlicher Hinweis von Prof. Dr. Hans Thieme, Freiburg i. Br.). Noch 1961 findet man bei Hauer (29) einen Satz wie diesen: „Der Philosoph Cohen und Leute wie der Rabbiner Leo Baeck zusammen mit nicht wenigen jüdischen Gesinnungsgenossen haben sich diese religiöse Weitherzigkeit zu eigen gemacht". E r spricht (32f.) vom „Schrift- und lehrgebundenen intoleranten Judentum" und den „fanatisch-gläubigen Juden", er findet im „Israeliten- und Spätjudentum (nur) Zeugnisse geradezu fanatischer Intoleranz", die Bibel sei „zu einem Weltbuch geworden, leider immer auch im Sinne einer religiösen Intoleranz". Dem Katholizismus dagegen spricht er sogar „innerhalb des internen Kreises . . . auch eine interne, aber bedingte Toleranz" zu (91), ohne mit einem Sterbenswörtchen die Inquisition zu erwähnen. „Für die Anti-Haltung der Systeme würde man aber nicht gern das Wort .Intoleranz' brauchen", (88; in Widerspruch zur eigenen Definition). Mit Recht sagt Zwi A S A R J A ganz allgemein und ohne Beziehung auf Hauer: „Propagandisten haben für ihre Zwecke das Anderssein des Juden proklamiert; diese Vorstellung spukt noch immer in den Köpfen. Die Menschen müssen mithin aufgeklärt werden. Man muß ihnen klarmachen, daß auch der Jude genau so wie sie ein Mensch i s t " ; Germania Judaica, Schriftenreihe, Heft I I : Geduldet oder gleichberechtigt, Köln 1960, 6. Jene unglückliche, weil immer verdächtige Formulierung findet sich z. B. auch in einem durchaus objektiven Aufsatz von H A N S H E I N Z H O L Z , Mythos und Geschichte der Juden, in: Sonntagsbeilage der Basler National-Zeitung Nr. 111 vom 8. März 1964: „Die Juden selbst brauchten nicht mehr als ein wenig Toleranz, die echte Toleranz des Respektes vor dem Anderssein des Mitmenschen; und gerade die wurde ihnen immer verweigert". 3 Der Große Herder, 5. Aufl., I X , Freiburg i. Br., 1956, 160f. ; auch zum Folgenden. Das katholische Lexikon wurde absichtlich für diese einführende Betrachtung gewählt ; auch ist der dort enthaltene Artikel über Toleranz der ausführlichste unter allen deutschsprachigen Konversationslexika. Wissenschaftlich am aufschlußreichsten ist der Artikel Toleranz von G . M E N S C H I N G , H. B O R N K A M M und D. L E R C H im Handbuch Die Religion in Geschichte und Gegenwart, VI. Bd., 3. Aufl., Tübingen 1962, 932—947, mit ausführlicher Bibliographie auf 945f.; bedeutend G U S T A V M E N S C H I N G , Toleranz und Wahrheit in der Religion, Heidelberg 1955, besonders 16 ff. ; vgl. noch Artikel Toleranz von H. R. S C H L E T T E im Handbuch theologischer Grundbegriffe, hrsg. von H E I N R I C H F R I E S , I I , München 1963, 679—686 mit Bibliographie.

Toleranz und Menschenwürde

3

Vor allem seit der Aufklärung (Voltaire, Lessing) wurde die Toleranz gefordert gegen andere Bekenntnisse oder Religionen aus dem Verzicht auf den unbedingten Wahrheitsanspruch des eigenen Glaubens: jeder Glaube sei nur eine Form der allgemeinen Vernunftreligion oder eine geschichtliche Erscheinung des religiösen Gefühls; da religiöse Aussagen nur Darstellung subjektiver Erfahrung, nicht objektiver Erkenntnis seien, bestehe zwischen ihnen kein Widerspruch, und jede sei in ihrem relativen Wert anzuerkennen. Hier wird Toleranz freilich zu religiöser Indifferenz. Aber nach Goethe — und ich zitiere wörtlich — „sollte Toleranz eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß —• sagt Goethe — zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen" 4 . Die wahre Toleranz als persönliche Gesinnung, als soziale Tugend aus der Achtung vor dem Recht des Gewissens abgeleitet, verbindet das unbedingte Festhalten an der erkannten Wahrheit mit ehrlichem Verständnis für den, der dieser Wahrheit nicht folgen kann, und mit dem Willen zu aufrichtiger menschlicher Gemeinsamkeit. „Nur dann besteht wirkliche und wahrhafte Toleranz", so führt Jacques Maritain aus, „wenn ein Mensch von einer Wahrheit oder von dem, was er dafür hält, fest und absolut überzeugt ist und zugleich den Leugnern dieser Wahrheit das Recht zugesteht, ihm zu widersprechen und ihre eigene Meinung zu sagen; nicht deshalb, weil sie nichts mit der Wahrheit zu tun haben, sondern weil sie die Wahrheit auf ihre Art suchen. Denn ein solcher Mensch achtet in ihnen die menschliche Natur und Würde" 5 . Nur eine solche Einstellung begründet nach Maritain „gegenseitiges Verständnis und Zusammenarbeit zwischen Menschen verschiedener Glaubensbekenntnisse, verbunden mit kompromißloser Treue zur Wahrheit, so wie jeder sie sieht." Anstatt des Ausdrucks „religiöse Toleranz" schlägt Maritain die Bezeichnung „Gefährtenschaft der Glaubenden" vor. Ich möchte dem Goetheschen Worte „Anerkennung" den Vorzug geben, weil es außer dem sozialen und ethischen auch noch ein rechtliches Element enthält und zum Ausdruck bringt. Dazu betont Goethe in seinem Nachsatz noch besonders das ethische Element, ein höheres sittliches Bewußtsein, das mir sehr wesentlich zu sein scheint. Sogar Maritain selbst drängt sich am Ende seiner tiefschürfenden Untersuchungen als ganz selbstverständlich der Gedanke 4 GOETHE, Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, IV. Band, Gedichte, 4. Teil, Maximen und Reflexionen, 4. Abt., (Aus dem Nachlaß), Stuttgart und Berlin o. J., 244. Die Anmerkungen enthalten keine Bemerkung zu diesem Satz, den ich in der gesamten älteren und neueren Literatur über Toleranz nicht zitiert gefunden habe. Vgl. aber GERTRUD SCHUBART-FIKENTSCHER, Christian Thomasius und die Hochschule seiner Zeit, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, V I / 1 (Dezember 1956), 11. 5 JACQUES MARITAIN, Wahrheit und Toleranz, (Thomas im Gespräch, Heft 4), Heidelberg 1960, 1 5 1 , 29.

1

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des Anerkennens auf 6 . Nur nebenbei sei bemerkt, daß ich Maritains philosophisch-theologische Sicht, die beide Ideenbereiche, Philosophie und Theologie, in Harmonie zu bringen strebt, derjenigen von Karl Jaspers vorziehe, welcher dem religiösen einen philosophischen Glauben entgegensetzt7. Jaspers findet: „Die Liberalität ist tolerant. Diese Toleranz ist nicht die der Gleichgültigkeit gegen das heimlich Verachtete, das nun einmal so da ist und nicht ausgerottet werden kann. Toleranz ist vielmehr das Ernstnehmen des Fremden, das Hinhören und Sichangehenlassen." Toleranz als Bereitschaft zur Kommunikation in diesem Sinne scheint mir aber nicht zu genügen, obwohl Jaspers, freilich erst in der Auseinandersetzung mit Karl Barth, in der Richtung zu einer Ahnung des Goetheschen Gedankens vorstößt, ohne diesen jedoch zu kennen oder zu erreichen: „Es (nämlich: das Gebot der Toleranz) ist wahrhaftig nicht öde. In der Politik ist es der Grund von Rechten und Pflichten, durch die wir heute, unendlich dankbar, leben. . . . Innerlich aber ist die Toleranz wesentlich als der Ausdruck des Willens zur Kommunikation. Hier wäre Toleranz als bloße Duldung, wie sie politisch sinnvoll und erreichbar ist, eine Beleidigung. Offensein, sich angehen lassen, anerkennen ist das Wesen dieser Toleranz." Schließlich aber muß Jaspers leugnen, daß die Möglichkeit des gegenseitigen Sichanerkennens in der Lebenspraxis zu verwirklichen sei. Goethe scheint mir viel treffender, weniger schleierhaft und rätselvoll zu sein als Jaspers ; er klingt daher viel realer, ungekünstelter und bedingungslos wahrhaftig. Ähnlich dem Goetheschen ist auch der Gedankengang Gandhis: „Ich liebe das Wort Toleranz nicht, aber ich finde kein besseres. Die Toleranz kann, übrigens ganz grundlos, die Vermutung in sich schließen, daß der Glaube eines andern dem unsrigen nachsteht. Man hat 6 A.a. 0 . , 3 6 f . : „Auch läQt uns die Freundschaft heiliger Liebe nicht nur die Existenz anderer anerkennen — obgleich schon das für Menschen schwierig genug ist und im wesentlichen alles enthält. Sie läßt uns nicht nur anerkennen, daß ein anderer existiert, sondern läßt uns anerkennen, daß er nicht als bloßes Zubehör der empirischen Welt existiert, sondern als ein Mensch, der vor Gott steht und zu existieren ein Recht hat. Während sie auf dem Boden des Glaubens bleibt, hilft uns die Freundschaft heiliger Liebe, all das anzuerkennen, was andere Glaubensüberzeugungen — einerlei welche — an Wahrheit und Würde, an menschlichen und göttlichen Werten besitzen. Sie gibt uns Achtung vor ihnen ein und treibt uns an, in ihnen ohne Unterlaß all das zu suchen, was durch das Merkmal der ursprünglichen menschlichen Größe und der zuvorkommenden Sorge und Freigebigkeit Gottes geprägt ist. Sie verhilft uns zu gegenseitigem Verständnis. . . . Dieses Leiden um die Wahrheit begleitet schon die .ökumenischen' Bemühungen um Annäherung der getrennten Christen; wieviel mehr das Bemühen, die Gläubigen jeden Bekenntnisses zu gegenseitigem Verständnis zu führen." 7 KARL JASPERS, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1962, 207, 488, 536. Eine eingehende Auseinandersetzung mit Jaspers aus katholischer Sicht, namentlich über die Intoleranz des religiösen Ausschließlichkeitsanspruchs, findet sich bei ALBERT HARTMANN, Toleranz und christlicher Glaube, Frankfurt a. M., 1955, 54—62 und passim.

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uns aber gelehrt, gegenüber dem religiösen Glauben anderer den gleichen Respekt zu bewahren, wie wir ihn für unsern Glauben haben, dem wir ja auch die Unvollkommenheit zuerkennen. . . . Und wenn auch alle religiösen Gedanken, die sich die Menschen machen, unvollkommen sind, kann keine Frage von Überlegenheit oder geringerem Wert der einen oder andern Religion sein. Jeder Glaube enthält Offenbarungen der Wahrheit, aber jeder Glaube ist unvollkommen und dem Irrtum unterworfen. . . . Daher kommt die Notwendigkeit der Toleranz. . . . Die Toleranz verleiht uns das Können des geistigen Durchdringens, welches ebenso weit vom Fanatismus entfernt ist wie der Nordpol vom Südpol. Die wirkliche Erkenntnis der wahren Religion läßt die Schranken vom einen zum andren Glauben niederfallen" 8 . Auch der Religionshistoriker und Religionsphilosoph Gustav Mensching, der eine formale und inhaltliche Toleranz unterscheidet, definiert: „Inhaltliche Toleranz beschränkt sich nicht auf bloße Duldung, sondern ist darüber hinaus die positive Anerkennung fremder Religion als echter Möglichkeit der Begegnung mit dem Heiligen." Intoleranz ist nicht die für den gläubigen Christen selbstverständliche Treue zur Wahrheit, sondern die engherzige Ablehnung und Verdächtigung des anderen, unehrliche Polemik, egoistischer Machtkampf an Stelle liebenden Ringens um die Wahrheit. Toleranz enthält andererseits keinen antichristlichen Affekt. Toleranz als sittliche Forderung ist schon früh in der jüdischen Ethik begründet. In Deuteronomium V, 15 heißt es: „Gedenke, daß du ein Knecht gewesen im Lande Ägypten". In Deutschland und in der Schweiz wurde das Toleranzproblem hauptsächlich und vor allem durch die Glaubensspaltung im Anfang des 16. Jahrhunderts akut. „Die wahre geschichtliche Bedeutung der Kirchenspaltung liegt darin, daß sie die allen Offenbarungskirchen immanente Tendenz zur Tyrannis enthüllte, nämlich jeder einzelnen immer die aller anderen" 9 . Nicht erst von Hugo Grotius, um den sich in der Rechtsgeschichte eine Art von Mythos gebildet hatte, ist die Forderung religiöser 8 Gandhi über die Toleranz, Zeitschrift Tradition und Erneuerung, Heft 4 (St. Gallen 1958), 60f., ohne Angabe der spezifischen Quelle oder Fundstelle. Dazu vgl. eine Stimme aus dem Jahre 1959, Zwi A S A R J A (oben, Anm. 2), 3f. : „Duldung ist für uns ein schreckliches Wort, es ist ein Ersatz für Recht und Gerechtigkeit. Ein Mensch, der an den Allmächtigen glaubt, der glaubt, daß er uns alle als Ebenbilder geschaffen hat, muß einsehen, daß für alle Menschen das gleiche Recht gilt, daß kein Mensch nur geduldet werden darf." 9 So J U L I U S E B B I N G H A U S in der Einleitung zu seiner Ausgabe und im Anschluß an J O H N L O C K E , Ein Brief über Toleranz (La philosophie et la communauté mondiale, I. Bd.), Hamburg 1 9 5 7 , LVI und 88f. Vgl. dazu die katholische Sicht bei N I K O L A U S P A U L U S , Protestantismus und Toleranz im 16. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1 9 1 1 .

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Toleranz erstmals im 17. Jahrhundert erhoben worden10. Nicht erst Christian Thomasius „tolerierte alle Formen kirchlichen Lebens, ja sogar alle Art religiöser Betätigung überhaupt"11, wie angenommen wird. Letzteres trifft überhaupt nicht zu12. Dies ist von Max Fleischmann überzeugend nachgewiesen worden: „Es handelt sich für Thomasius um Toleranz im Sinne der Reichsfriedensgesetze. Sie umfaßt allein die christlichen Religionsparteien des Westfälischen Friedens, mag selbst an einer apokryphen Stelle (in Vorlesungen, die nach seinem Tode veröffentlicht worden sind) der Satz entglitten sein: ,Der Fürst muß alle Religionen tolerieren, sie mögen auch sein, welche sie wollen, v. g. Türken und Tataren'". Fleischmann hat sich insbesondere mit der Frage beschäftigt, ob Thomasius auch den Juden gegenüber der Toleranz Raum gegeben hat: „Von all dem (toleranzartigen .Ausnahmefällen des Zeitalters', wie Berufung Spinozas an die Universität Heidelberg, Plan des Großen Kurfürsten einer Weltuniversität mit konfessioneller Gleichheit auch für Juden und Araber) läßt sich keine Beeinflussung auf Thomasius erweisen. Im Gegenteil, dem Grotius wirft er einmal vor (Gemischte Händel, I, 1723, 92), daß er .zuweilen von den Juden mehr Staat als nötig mache'. Wiederholt betont er, daß er keinen Umgang mit den Juden habe. Doch wahrte er sein Urteil 1 0 E R I K W O L F , Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., Tübingen 1963, 257: „Das neuzeitliche Naturrecht in der Fassung, die ihm Grotius gegeben hatte, wurde zum Kennwort eines Rechtsgefühls, dessen Hauptforderung religiöse Toleranz in Verbindung mit kultureller Humanität und politischer Libertät waren." Vgl. daselbst, 260, 269, schließlich 276: „Grotius empfahl darin (in seinem Werke De vertíate religionis christianae, zuerst 1627 in Paris erschienen) Toleranz in allen dogmatischen Fragen und Achtung vor jeder positiven Religion, die sich zum Monotheismus bekenne und die Unsterblichkeit der Seele bezeuge." Dazu zu vergleichen ERNST REIBSTEIN, Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca (Freiburger Rechts-und staatswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 5), Karlsruhe 1955, 21; schon früher R E I B S T E I N , Die Anfänge des neueren Natur- und Völkerrechts, Bern 1949,10. 1 1 So E R I K W O L F , a. a. O . , 394; vgl. G. S C H U B A R T - F I K E N T S C H E R (oben, Anm. 4), 11; S C H U B A R T - F I K E N T S C H E R , Unbekannter Thomasius (Thomasiana, H e f t l ) , Weimar 1954, 41—44. 12 M A X F L E I S C H M A N N , Christian Thomasius, Leben und Lebenswerk (Beiträge zur Geschichte der Universität Halle-Wittenberg, 2. Bd.), Halle/Saale 1931, 84—88. Über den juristischen Charakter dieser „Toleranz" zuletzt M A R T I N H E C K E L , Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, kanonistische Abteilung, L X X I V ( X L I I I ) , (1957), 275f.; H E C K E L , Parität, daselbst, L X X X ( X L I X ) , (1963), 319f., 377f. Uber die historische Entwicklung der „Toleranz"-Gesetzgebung bis zum Ende des alten Römischen Reiches Deutscher Nation H E R M A N N C O N R A D , Religionsbann, Toleranz und Parität am Ende des alten Reiches, in : Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, 56 (1961), 167—199; daselbst aber bei Untersuchung der Toleranzgesetzgebung Kaiser Josefs I I . von 1781 nicht erwähnt L U D W I G S I N G E R , Zur Geschichte der Toleranzpatente in den Sudetenländern, in : Jahrbuch der Gesellschaft für Geschichte der Juden in der Cechoslovakischen Republik, V, Prag 1933, 231—311.

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gegen Ungerechtigkeit." Fleischmann weist darauf hin, daß sich Thomasius aus purem Gerechtigkeitsgefühl gegen den Judenfresser Joh. Andreas Eisenmenger (.Entdecktes Judentum) eingestellt und das immer wieder aufgetischte Ritualmordmärchen nachdrücklich als „pure Lüge" gebrandmarkt habe, „obgleich jedermann, der mich kennt, weiß, daß ich sonst kein sonderlicher Gönner der Juden bin, auch mit ihnen nichts zu tun habe." Fleischmann schließt seine Untersuchung mit der Feststellung: „Nicht Toleranz kann man das nennen, nur Indifferenz . . ." 1 3 . Das Verdienst erstmaligen mutvollen Eintretens für die Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Glaubens gebührt vielmehr Sebastian Castellio, 1553—1563 Professor der griechischen Sprache an der Universität Basel, der vorher in Straßburg und Genf gewirkt hatte, dessen Todestag sich Ende 1963 zum vierhundertstenmal jährte 14 . Im fünften 1 3 Es hat den Anschein, daß die gleiche Einschätzung für die Behandlung des Toleranzproblems durch einen älteren Zeitgenossen des Thomasius zutrifft, nämlich durch Samuel Pufendorf (1632—94), als dessen „wesentlicher Beitrag für die Ideen der Folgezeit" von Welzel „die Idee der Toleranz, die auf dem Boden eigener Glaubensgewißheit die gegenseitige Achtung fremden Glaubens fordert", betrachtet wird; H A N S W E L Z E L , Die Ν aturrechtslehre Samuel Pufendorfs, Berlin 1958, 6f., 107—112. Viel eingehender ist das Problem untersucht bei F R I E D R I C H L E Z I U S , Der Toleranzbegriff Loches und Pufendorfs (Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche, VI, Heft 1), Leipzig 1900, 58ff., besonders 90—115, dessen Wiedergabe von Pufendorfs Äußerungen Welzel kurz zusammengefaßt hat. Nach diesen kann es sich aber nur um innerchristliche, vielleicht sogar nur innerprotestantische Toleranz nach Art der des Thomasius handeln, obwohl Lezius meint: „Pufendorf ist kein Indifferentist" (104). Er zitiert aber daselbst Pufendorfs Aussprüche in dessen lus feciale divinum sive de consensu et dissensu protestantium exercitatio posthuma, Lübeck 1695, §3 (ebenso bei WELZEL, 110; ich benutzte das Exemplar der Universitätsbibliothek Lausanne) : „Wer alle verschiedenen Religionen gleichachtet, achtet überhaupt keine Religion" ; S. 16 : „ E t quia inter plures discrepantes sententias per rerum naturam non nisi una vera esse potest, qui omnes dissentientes religiones pari pretio aestimat, nullam aestimat"; lus feciale, § 11, S. 42—48: „Die Juden und Papisten huldigen einer Scheinreligion, die nur in Zeremonien besteht, wogegen die Protestanten auf die Erneuerung der Seelen, die Reinigung des Gemütes, das heißt, auf das Wesen der Religion allen Nachdruck legen;" LEZIUS, 105. Vgl. auch lus feciale, §§ 61 (De controversiis inter Protestantes), 62, 66, 69, 70 (Stricturae in Petri Iuriaei [ Theologi Roterodamensis] Consultationem de Pace inter Protestantes ineunda), 92 ; ferner bei LEZIUS, S. 101 und Anm. 1, das Zitat aus De habitu christianae religionis ad vitam civilem (1687), § 49. Daher scheint mir die Charakterisierung richtig: „Pufendorf ist kein typischer Vertreter dieser Gesinnung" (nämlich „des Geistes friedliebender Toleranz"); so E R I K W O L F , Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., Tübingen 1963, 334. 14 Grundlegend über Castellio F E R D I N A N D B U I S S O N , Sébastien Castellion, sa vie et son oeuvre (1515—1563), 2 Bde., Paris 1 8 9 2 ; J O S E P H L E C L E R , Histoire de la Tolérance au siècle de la Réforme, I , 3 2 2 — 3 4 2 ; I I , 6 4 — 6 8 und passim; R O L A N D H. B A I N T O N , Concerning Heretics (Records of Civilization, Bd. X X I I ) , New York 1 9 3 5 ; W E R N E R K A E G I , Castellio und die Anfänge der Toleranz (Basler Universitätsreden, 3 2 . Heft), Basel 1 9 5 3 ; H A N S R U D O L F G U G G I S B E R G , Sebastian Castellio im Urteil seiner Nachwelt vom Stäthumanismus bis zur Aufklärung (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft,

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Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts entstanden in seinem ärmlichen Haus in der St. Alban-Vorstadt zu Basel zwei große Bibelübersetzungen, eine in humanistisches Latein und eine in populäres Französisch. In der Vorrede zu der 1551 erschienenen lateinischen entwickelte Castellio zum erstenmal in der Zeit der beginnenden Glaubenskämpfe seine Idee von der religiösen Toleranz, in welche implicite die von ihm oft als Beispiel erwähnten Juden einbezogen werden16. Im Geiste der Bibel will Castellio den Sünder, selbst den als Ketzer betrachteten, nicht töten, wie es noch in seinen Tagen mit Michael Servet geschehen ist 16 , sondern in die Nächstenliebe einbeziehen, da Gott die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit selbst verkörpere17. Der französische Historiker Jules Michelet schreibt von ihm: „Sebastian Castellio hat für alle Bd. 57,) Basel 1956; G U G G I S B E R G , Sebastian Castellio und seine Stellung in der Geistesgeschichte, in: Sonntagsblatt der Basler Nachrichten vom 5. Januar 1964, U f . Vgl. auch H E I N R I C H BORNKAMM, Das Problem der Toleranz im 16. Jahrhundert, in: B O R N KAMM, Das Jahrhundert der Reformation·. Gestalten und Kräfte, Göttingen 1961, 262 bis 281, 340—343, besonders 280. 15 Dedikationsvorrede zur lateinischen Bibelübersetzung an König Eduard VI., Biblia, Interprete S E B A S T I A N O C A S T A L I O N E ; Vna cvm eivsdem Annotationibus, Basel, Iacobus Parcus, Ioannes Oporinus, 1551. (Castellios Dedikationsexemplar an Bonifacius Amerbach, Univ. Bibl. Basel, F G I I I 15) ; englische Übersetzung des in De haereticis enthaltenen Auszuges bei B A I N T O N (oben, Anm. 14), 212—216; C A S T E L L I O , De Haereticis an sint persequendi et omnino quomodo sit cum eis agendum, Magdeburg! (in Wahrheit : Basel) 1554, Dedikationsvorrede des Martinus Bellius (Castellios Pseudonym) an den Herzog Christoph von Württemberg, 3—28 ( B A I N T O N 121—135). Bibliographie über De haereticis siehe bei LECLER, I, 322, Anm. 41. Eine moderne kritische Ausgabe des lateinischen Textes scheint es nicht zu geben, lediglich eine Reproduction en fac-similé avec une introduction de S A P E VAN D E R W O U D E , Genève 1954. Umso wichtiger ist Baintons englische Übersetzung (oben, Anm. 14), weil in ihrem Notenapparat die Zitate aus der Bibel, den antiken Schriftstellern sowie dem römischen und kanonischen Recht identifiziert sind. Vgl. auch J O H A N N E S K Ü H N , Toleranz und Offenbarung, Leipzig 1923, 327—344 ; D E L I O CANTIMORI, Italienische Haeretiker der Spätrenaissance, Basel 1949, 151 ff. 16 Über den spanischen Arzt Michael Servetus ( 1 5 1 1 — 1 5 5 3 ) , der als Antitrinitarier auf Betreiben Calvins in Genf verbrannt wurde, siehe L E C L E R , I, 3 2 2 ff. ; monographisch zuletzt R O L A N D H. B A I N T O N , Michael Servet 1511—1553 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Nr. 1 7 8 , Jg. 6 6 — 6 7 / 1 ) , Gütersloh 1 9 6 0 , mit Bibliographie auf 145—157. Neue Urkundenedition: J E A N - F R A N Ç O I S B E R G I E R , Accusation et procès de Michel Servet (1553) (Travaux d'Humanisme et Renaissance, LV, Tom. II), Genève 1962. Über ähnliche Intoleranz Zwinglis (Verurteilung und Hinrichtung des hochbejahrten Zürcher Ratsmitgliedes Jakob Grebel) vgl. E R I K W O L F , Die Sozialtheologie Zwinglis, in : Festschrift Guido Kisch, Stuttgart 1955, 180. 17 K A E G I , a. a. O., 19f. schreibt: „Die Autorität, auf die Castellio sich dem Genfer Ketzergericht gegenüber beruft, ist weder diejenige der klassischen Autoren noch diejenige der Humanität. Es ist vielmehr eindeutig und ausschließlich eine Berufung auf Christus. Es ist eine Berufung auf sein Gebot der Liebe. Selbstverständlich hatten auch Calvin und die Seinen nicht mit den bestehenden kaiserlichen Gesetzen, sondern mit Bibelstellen argumentiert. Das Hauptzeugnis hatte dort das Deuteronomium geliefert mit seiner Verpflichtung für jeden Israeliten, denjenigen zu steinigen, der zu

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Zukunft das große Gesetz der Toleranz aufgestellt", und der Kirchenhistoriker Heinrich Bornkamm hat ihn den „Vater der modernen Toleranzbewegung" genannt 18 . Aber das Toleranzproblem hat schon vor Castellio und nach ihm bestanden bis auf den heutigen Tag, wie aus den Erörterungen — um nur einige Namen zu nennen — von Nicolaus Cusanus, Erasmus, Sebastian Franck, Descartes, Spinoza, Locke und neuestens Maritain und Joseph Lecler ersichtlich ist. Gerade in der Gegenwart ist es zu einem vielerörterten Gegenstand auf den Gebieten von Religion, Philosophie, Politik und Recht geworden. So hat in einem anregenden Vortrag auf dem letzten Deutschen Juristentag der Präsident des deutschen Bundesverwaltungsgerichts — freilich nur skizzenhaft — angedeutet, daß die im Toleranzbegriff beschlossene „aktiv geistige Haltung, die das Grundverhältnis des Menschen zum andern betrifft", weit über den religiösen Bereich hinaus in die Gebiete von Ethik, Moral, Politik, in Staat und Recht, nationales und internationales, in Gesetzgebung und Rechtsprechung hineinreicht 19 . Wohl hat er das Asylrecht und Flüchtlingsproblem erwähnt, von Humanisierung des Rechts und von „humanitärem" Recht gesprochen, wobei er vermutlich an das jetzt hundertjährige Rote Kreuz und die Haager Friedenskonferenzen aus dem Ende des letzten Jahrhunderts gedacht hat. Er hat sich jedoch nur mit der Frage befaßt, wie die entsprechenden Forderungen und Ergebnisse der Politik in verschiedenen Zeitaltern einen rechtlichen Niederschlag verlangt und gefunden haben, auch nach dem „eigentlichen Wesen des Politischen" gefragt. Er sagt zum Beispiel: „Politik kann, wenn sie mehr sein will als ein Aushandeln von Interessengegensätzen, eine innere Überzeugungskraft nur haben, fremden Göttern abfallen wolle, und wäre es der eigene Sohn. Das Werklein Castellios findet bei aller Divergenz seiner einzelnen Zeugen und Zitate eine innere Einheit in einer Gruppe von Stellen aus den Evangelien, die in fast allen Sondertexten wiederkehren. Nicht das Alte, sondern das Neue Testament ist seine Autorität. Gott wolle nicht, daß der Sünder zugrunde gehe, sondern daß er sich bekehre und lebe." Dazu ist zunächst zu bemerken, daß sich Castellio in seiner Schrift De haereticis gar nicht so selten auf das römische, bisweilen auch auf das kirchliche Recht beruft. Die von Kaegi in dem letzten hier angeführten Satze in wörtlicher Ubersetzung wiedergegebene Bibelstelle, welche bei Bainton (216) nicht identifiziert ist, stammt jedoch aus dem Alten Testament; Ezechiel, 33, 11: ,,. . . nolo mortem impii, sed ut convertatur impius a via sua, et vivat"; vgl. auch Ez. 18, 23; II. Petr. 3, 9. Zu De haereticis, 124 (BAINTON, 216) : „qui (Deus) cum sciât, nos esse sontes, tarnen differt sententiam diu, et expectat dum fiat vitae correctio" sollte vielleicht noch Ecclesiastes 8, 11 herangezogen werden. In der oben, Anm. 15, erwähnten Widmungsvorrede an König Eduard VI. zitiert Castellio das Alte Testament zwölfmal, das Neue fünfmal. 1 8 Für das erste Zitat siehe KAEGI, a. a. O., 6; für das zweite BORNKAMM, (oben, Anm. 14), 277 f. 1 9 FRITZ WERNER, Recht und Toleranz, in : Verhandlungen des 44. Deutschen Juristentages, Hannover 1962, II, Teil Β, auch separat erschienen, Tübingen 1963. Das folgende Zitat steht auf S. 6.

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wenn sie sich zum Gedanken der Toleranz bekennt. Die Toleranz wird erneut eine Aufgabe der Politik und damit von Staat und Recht". Auf den folgenden Seiten handelt der Verfasser ausschließlich von Politik und Toleranz, wobei er verschiedentlich Toleranz mit Billigkeit oder Rechtsauslegung identifiziert oder verwechselt20. Aber das im Titel seines Vortrags Recht und Toleranz angedeutete rechtsphilosophische Kernproblem, das meines Wissens KOCT' εξοχήν noch nicht behandelt worden ist, hat er nicht berührt. Er hat nicht gefragt : Wie verhält sich der Toleranzgedanke zur Rechtsidee ? Ist das Recht tolerant ? Muß das Idealrecht dem Toleranzideal entsprechen, um eine Rechtsgarantie für die Menschenwürde zu gewähren?21 Eine 2 0 E r spricht von Gleichschaltung, den Grenzen der Demokratie und den Grenzen jeder Toleranz (8). Er hätte seinem Vortrag daher besser den Titel „Politik und Toleranz mit Berücksichtigung der Rechtspolitik" geben sollen. Die vorwiegend politische Behandlung des Themas lag ihm bei seiner entsprechend eingestellten Vergangenheit offenbar am besten und ist deshalb nicht verwunderlich; vgl. WOLFGANG KOPPEL, Justiz im Zwielicht, Karlsruhe 1963, 149. 2 1 Ein namhafter Jurist hat dagegen fünfzehn Jahre vor Werner festgestellt: „Die erschütternden Verletzungen, die die Menschenwürde in unserer Epoche aus dem Bereich der Politik erfahren hat und zum Teil noch erfährt, haben nun auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts zu verschiedenen Versuchen geführt, den Gedanken der Menschenwürde rechtlich zu sichern. . . Als derzeit bestehender rechtlicher Zustand ist also festzustellen, daß die Würde des Menschen teils ein positiv geschütztes Rechtsgut ist, teils jedenfalls zu einem solchen gemacht werden kann"; HELMUT COING, Das Grundrecht der Menschenwürde, der strafrechtliche Schutz der Menschlichkeit und das Persönlichkeitsrecht des bürgerlichen Rechts, in: Süddeutsche Juristenzeitung, II, (1947), 643f.; auch teilweise zitiert bei WERNER MAIHOFER, Naturrecht oder Rechtspositivismus?, in : Wege der Forschung, Bd. X V I , Darmstadt 1962, 247, Anm. 7. Vgl. auch GUSTAV RADBRUCH, Zur Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, in: Süddeutsche Juristenzeitung, I I (1947), 131—136. Über die Würde des Menschen als Rechtsbegriff und ihren verfassungsrechtlichen Schutz in der deutschen Bundesrepublik handelt THEODOR MAUNZ, Toleranz und Parität im deutschen Staatsrecht (Münchener Universitätsreden, Neue Folge, Heft 5), München 1954. Er erwähnt „die Toleranz als eines der Beispiele dafür, welche rechtlichen Folgerungen dabei in Frage kommen können". 5: „Das Wort Toleranz kommt nirgends im Grundgesetz vor. . . . Wir verstehen heute im Staatsrecht unter Toleranz das Hinnehmen von Auffassungen und Entscheidungen, vor allem religiöser, weltanschaulicher, philosophischer oder politischer Art, und zwar in der Weise, daß wir der Person, die die Auffassung vertritt oder die Entscheidung gefällt hat, die gleiche Achtung entgegenbringen, als wenn sie anders gedacht oder gehandelt hätte. Das Hinnehmen ist also mehr als ein bloßes Dulden; es ist mit einem gegenseitigen Verstehen verbunden. Aber wir begreifen die Toleranz im Rechtssinn als persönliche Toleranz gegenüber Andersdenkenden, nicht als grundsätzliche Toleranz gegenüber Irrtümern und Unwahrheiten." (Die kursiven Hervorhebungen stammen von Maunz.) Diese Auslegung des Begriffes Toleranz als Hinnehmen und gegenseitiges Verstehen rein persönlicher Art scheint mir aber für den modernen Rechtssinn ebensowenig zu genügen wie für die geschichtliche Betrachtung dieses „sehr geschichtsmächtigen Begriffes" (MAUNZ,6). Will Maunz auch mehr in den Begriff als „ein bloßes Dulden" legen, so bedeutet seine recht einschränkende Interpretation doch kein Anerkennen im Goetheschen Sinn. Auch bei ihm scheint dieses Zurückbleiben in seiner nationalsozialistischen Vergangen-

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Erörterung dieser Fragen hängt eng zusammen mit dem Problem von Recht, Gerechtigkeit und Billigkeit und würde tief ins rechtshistorische, rechtsdogmatische und rechtsphilosophische Denkgebiet hineinführen. Hier ist jedoch nicht der Ort, solche Gedankengänge, die den Schreiber dieser Zeilen mehr als ein Jahrzehnt schon beschäftigen, ausführlich darzulegen, was auf beschränktem Raum auch kaum möglich wäre22. Nur das Ergebnis seines Nachdenkens sei knapp formuliert und durch diesen Vortrag illustriert. Jedes wahre Recht ist tolerant im positiv-Goetheschen Sinne. Es muß tolerant sein. Ein „Recht", das nicht tolerant ist, wenn es nämlich eine dem Rechtsbereich zugehörende Auffassung, Wertvorstellung oder Weltanschauung nicht gelten läßt, ist kein Recht, ist nie Recht gewesen und kann, selbst formal zum Gesetz erhoben, doch nie Recht werden23. Freilich führt oft nur der Umweg über die religiöse oder heit gegründet zu sein (vgl. K O P P E L [oben, Anm. 2 0 ] , 104; Jur. Wochenschr., 65, [1936j, 2908; L É O N P O L I A K O V und J O S E F W U L F , Das Dritte Reich und seine Denker, Berlin 1959, 342—344). Man möchte nur hoffen, daß die in seiner Schrift angedeutete Wandlung in der Richtung des Bekenntnisses zum Rechtsstaat ernst und dauerhaft sei. Die juristische Behandlung der von ihm auf lOff. analysierten Fälle aus der Praxis scheint in diese Richtung zu deuten, namentlich auf 15, obwohl er z. B. 12 den Schutz der Menschenwürde bloß als ein relatives Recht auffaßt. Die Überzeugung der vollen Anerkennung äußert sich jedoch eindrucksvoll in dem äußerst beachtenswerten, anscheinend aber wenig beachteten Werk von A L B E R T H A R T M A N N , Toleranz und christlicher Glaube, Frankfurt a. M. 1955, passim; ζ. Β. 162f. : „Diese Toleranz ist ein menschlicher Wert; sie beruht auf der Ehrfurcht vor der persönlichen Würde jedes Menschen. Die tiefste Begründung aber wird der Personwürde des Menschen gegeben, wenn er als Ebenbild Gottes und in seiner endgültigen Berufung zu einem Leben der Gemeinschaft mit Gott erkannt wird." Man vergleiche ζ. B. das von beiden Verfassern unabhängig voneinander gewählte gleiche Beispiel der Frage der religiösen Erlaubtheit des Genusses von Fleisch einer bestimmten Art. Nach Maunz (6) bildet in Wahrheit bloße Duldung, bei Hartmann (143 ff.) verständnisvolle Anerkennung die Lösung. 22 Vgl. vorläufig G U I D O K I S C H , Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit: Studien zum humanistischen Rechtsdenken (Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 56), Basel 1960. 23 Erst nach Niederschrift des im Text zum Ausdruck gebrachten Gedankens finde ich einen ähnlichen, der sich mit dem obigen berührt, ohne sich freilich mit ihm zu decken, bei G U S T A V R A D B R U C H , Die Erneuerung des Rechts, aus der Monatsschrift Die Wandlung, 2., (1947) 8—16, wiederabgedruckt in dem Sammelband von W E R N E R M A I H O F E R , Naturrecht oder Rechtspositivismus ? (Wege der Forschung, Bd. X V I ) , Darmstadt 1962, 2: „Die Rechtswissenschaft muß sich wieder auf die jahrtausendalte gemeinsame Weisheit der Antike, des christlichen Mittelalters und des Zeitalters der Aufklärung besinnen, daß es ein höheres Recht gebe als das Gesetz, ein Naturrecht, ein Gottesrecht, ein Vernunftrecht, kurz ein übergesetzliches Recht, an dem gemessen das Unrecht Unrecht bleibt, auch wenn es in die Form des Gesetzes gegossen ist, — vor dem auch das auf Grund eines solchen ungerechten Gesetzes gesprochene Urteil nicht Rechtsprechung ist, vielmehr Unrecht, mag auch dem Richter, eben wegen seiner positivistischen Rechtserziehung, solches Unrecht nicht zur persönlichen Schuld angerechnet werden"; R A D B R U C H , Gesetzliches Unrecht und ubergesetzliches Recht, in seiner Rechtsphilosophie, 4. Aufl., Stuttgart 1950, 347—357. Vgl. auch K A R L S. B A D E R ,

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politische Toleranz in den Rechtsbereich, wie historisch am besten die Geschichte des Protestantismus und der modernen Judenemanzipation zeigt. Das auf Grund eines „Gesetzes" jener Art gesprochene „Urteil" ist nicht Rechtsprechung, nicht Recht, vielmehr Handhabung des Unrechts und selbst Unrecht. Zutreffend hat man von Perversion des Rechts gesprochen, die erst in jüngster Zeit durch die Werke von Fritz von Hippel, Hubert Schorn und Ilse Staff über die Justiz im Dritten Reich in ihren erschütternden Dimensionen der Welt vor Augen geführt worden ist 24 . Politische und historische Schuld und die staatliche Rechtsprechung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, X (1962), 113—125. ·— Schon bei dem bedeutendem mittelalterlichen Rechtsdenker und Vorläufer der humanistisch-juristischen Richtung des 16. Jahrhunderts L U C A S D E P E N N A (ca. 1320 bis ca. 1390) findet sich ein ganz ähnlicher Gedanke. In seinem Werk In tres libros Codicis Iustiniani Imper. posteriores libros Commentarla, Lugduni 1583, zu C. 10.26. 3, (4), Nr. 5 ist folgender Satz zu lesen: „Manifestum autem est, quod, cum voluntas principis ab aequitate, iustitia aut ratione deviet, non est l e x " ; vgl. W A L T E R U L L M A N N , The Medieval Idea of Law as Represented by Lucas de Penna, London 1946, 55. 24 F R I T Z V O N H I P P E L , Die Perversion von Rechtsordnungen, Tubingen 1955 ; daselbst, 156f. über Perversion der religiösen Toleranz (daß der Verfasser dieses inhaltreiche, von hohem Ethos getragene Werk neben Eugen Kogon auch Gustav Boehmer widmen konnte, beruht zweifellos auf der Unkenntnis der Rolle, welche dieser schon 1933 gespielt hat; man vgl. u. a. z. B . B O E H M E R S Rede Der deutsche Staatsgedanke und die Ideen von 1914 [Hallische Universitätsreden, Heft 59, Halle 1933]) ; L É O N P O L I A K O V und J O S E F W U L F , Das Dritte Reich und seine Diener, 2 . Aufl., Berlin-Grunewald 1956, Kap. I I , Justiz, 169—334; H U B E R T S C H O R N , Der Richter im Dritten Reich, Frankfurt a. M . 1959 (die erschütternde Dramatik der Darstellung in diesem Werk wird dadurch etwas beeinträchtigt, daß neben Zeugnissen tapferen Widerstandes in großer Zahl auch Belanglosigkeiten Erwähnung finden, die mit Kampf für die Rechtsidee nichts zu tun haben) ; vgl. dazu K A R L S . B A D E R , Die deutsche Justiz im Selbstzeugnis, in: Juristenzeitung, X V (1960), 2ff., mit weiterer Literatur; S C H O R N , Die Gesetzgebung des Nationalsozialismus als Mittel der Machtpolitik, Frankfurt a. M. 1963; I L S E S T A F F , Justiz im Dritten Reich (Fischer-Bücherei, Nr. 559), Frankfurt a. M. 1964; auch W O L F G A N G K O P P E L , Justiz im Zwielicht, Karlsruhe 1963. Selbst die Rechtsgeschichte wurde pervertiert. Die Geschichte dieser Perversion ist leider noch nicht geschrieben. Das Desideratum ist einer Lösung umso dringender bedürftig, als auf das von den nationalsozialistischen "Historikern" verfälschte Geschichtsbild auch heute noch sogar in führenden juristischen Lehrbüchern Bezug genommen wird. Ein krasses Beispiel sei erwähnt. H E R M A N N C O N R A D , Deutsche Rechtsgeschichte, I , 2. Aufl., Karlsruhe 1962, auf dem Titelblatt als ,,Lehrbuch" bezeichnet, verweist (308, 433) die Studenten zur Orientierung über die Rolle der Juden in der mittelalterlichen Rechtsund Wirtschaftsgeschichte auf die an Nazi-Propagandisten wie Wilhelm Grau, Peter Deeg, Alfred Rosenberg u. a. orientierte Geschichtsklitterung von E R N S T K E L T E R , Die Juden in der deutschen Wirtschaftsgeschichte, in: Festschrift für Adolf Zycha, Weimar 1941, sowie auf die berüchtigten Forschungen zur Judenfrage I und das Judenheft der nationalsozialistischen Zeitschrift Deutsche Rechtswissenschaft, I I , Hanseatische Verlagsanstalt, Hamburg 1937; und das, obwohl er auf die Unwahrheit und Unwissenschaftlichkeit dieser Publikationen bei Besprechung der ersten Auflage seines Buches aufmerksam gemacht worden war (Historia Judaica, X V I I [1955], 153f.). Man kann sich darob nicht verwundern, wenn man sich seines Beitrages zu dem von A U G U S T F A U S T herausgegebenen Sammelwerk, Das Bild des Krieges im deutschen

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Es gibt also kein intolerantes Recht 25 , es mag höchstens intolerante Juristen gegeben haben und geben. Ihrer Willkür allein, sei es in Rechtsetzung, Rechtsauslegung oder Rechtsanwendung, und nicht der wahren Rechtsidee entspringt das als positives Recht getarnte Unrecht. Das soll an dem gegensätzlichen Beispiel von zwei hervorragenden Juristen aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts illustriert werden. Der Denken, Stuttgart und Berlin 1941, erinnert, welches eine Verherrlichung und rechtliche Rechtfertigung des „totalen Krieges als wehrpolitische Neuheit" darstellt und dem Führer „im Kriegseinsatz deutscher Universitätsprofessoren" gewidmet war. Vgl. G. K I S C H , Zur Rechtsstellung der Juden im Mittelalter, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, germ. Abteilung, 81. Bd., 1964, 358—365. 2 5 Ein verwandtes Problem stellt die Gerechtigkeit eines Rechtssatzes und seine juristische Geltung dar. Es erfordert eine umfassende selbständige Untersuchung. Unter dem Aspekt von Rechtspositivismus und dem Rechtssicherheitsgedanken ist es betrachtet worden von G U S T A V R A D B R U C H , Einführung in die Rechtswissenschaft, 7. und 8. Aufl., Leipzig 1929, 33ff. ; so schon in seinen Grundzügen der Rechtsphilosophie, Leipzig 1914, 174—183. E r bezeichnete es damals als „die Aufgabe und die Tragödie des Juristen". Durch die Erfahrungen der Jahre 1933—1945 mußten sich einem solchen Geiste tiefere Einblicke und Erkenntnisse erschließen. „Seine Beobachtung der Umbrüche im deutschen Rechtsleben . . . gaben Radbruchs Denken neue Impulse. Naturrecht, Natur der Sache, materiale Gerechtigkeit hat er tiefer denn zuvor bedacht"; so E R I K W O L F , Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., Tübingen 1963, 751. Daselbst, 733, über Radbruchs Bekenntnis zur Toleranz: „ E r legte ein sozialethisch begründetes Bekenntnis ab zur Toleranz im politischen Kampf, weil er im Ethos der Toleranz die .gedankliche Voraussetzung der Demokratie' zu erkennen glaubte" ; vgl. auch 737, 740, 745.·—Vielleicht ist es nicht ganz so abwegig, wie es scheinen mag, in diesem Zusammenhang R U D O L P H S O H M S (Kirchenrecht I , München und Leipzig 1892 und 1923, 462ff.) heute als überholt betrachtete Lehre zu erwähnen, daß „das Kirchenrecht nicht für Recht zu halten sei", weil es „mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch stehe" ; „die Kirche Christi will kein Kirchenrecht" (482) ; gute Zusammenfassung der Lehre von Sohm im Artikel Sohm von S. G R U N D M A N N in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart VI, 3. Aufl., Tübingen 1962, 116f. ; ebenso, mit kritischer Beleuchtung bei M A R X I N H E C K E L , Summum ius —· summa iniuria als Problem reformatorischen Kirchenrechts, in : Summum ius — summa iniuria : Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben, Tübinger Ringvorlesung, Tübingen 1963, 243 f. Andererseits weist Heckel auf die im geistlichen Kirchenbegriff gegründete absolute Exklusivität des Kirchenrechts hin, 249ff., 256f., und schließt seine bezüglichen Erörterungen mit der Feststellung (263) : „Summum ius wird summa iniuria, wo sich das Recht von den Prinzipien der ecclesia spiritualis löst, verselbständigt, obrigkeitlich verfremdet und verhärtet hat. So hat das Kirchenrecht seinen Sinn verkehrt und seine Gerechtigkeit verloren, wenn es sich nicht von den geistlichen Rechtsprinzipien und dem Christenstand des Gläubigen bestimmen läßt, sondern sich statt dessen ausrichtet am Ungläubigen, der doch nicht Glied der ecclesia spiritualis ist und der sich losgesagt hat von ihrem Geist, Glauben und Recht. . . Durchgeformt und durchgenormt als summum ius ist es doch geistlich summa iniuria geworden." Vgl. auch die besinnlichen Betrachtungen von W I L H E L M M A U R E R , Theologie und Jurisprudenz, ihre Begegnung im Kirchenrecht, in: Festschrift für Hans Liermann, Erlangen 1964, 124—143, in denen jedoch Sohms nicht gedacht wird. Neuerdings noch D I E T E R S T O O D T , Wort und Recht; Rudolf Sohm und das theologische Problem des Kirchenrechts (Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus, hrsg. von Ernst Wolf, 10. Reihe, Bd. X X I I I ) , München 1962.

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Name des ersten, Ulrich Zasius aus Freiburg, dürfte heute über den Kreis der Rechtshistoriker hinaus kaum noch bekannt sein, während der des zweiten, Johannes Reuchlin, bis auf den heutigen Tag an geistiger Leuchtkraft nichts eingebüßt hat. II Kanonisch-rechtliche

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Ulrich Zasius Die literarische Tätigkeit des großen Juristen Ulrich Zasius (1461—-1535), jener berühmten Leuchte in dem Dreigestirn am Himmel der humanistischen Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts (bekanntlich waren die beiden anderen Gulielmus Budaeus und Andreas Alciatus)*, beginnt mit einer umfassenden Monographie, welche durch einen interessanten Rechtsfall aus der Praxis des Lebens veranlaßt war. Sie führt den bezeichnenden Titel: Questiones de faruulis Iudeorum Baptisandis a communi doctorum assertione dissidentes. Zuerst in Straßburg im Jahre 1508 erschienen, wurde die Abhandlung später noch mehrmals nachgedruckt. Der tiefgründigen juristischen Erörterung liegt folgender Tatbestand zugrunde. In einer Fehde des Kaisers mit dem Pfalzgrafen bei Rhein hatten die Freiburger einen pfalzgräflichen Juden gefangen genommen und gegen ein versprochenes Lösegeld in Freiheit gesetzt. Seinen Sohn behielten sie als Geisel zurück, sicherten jedoch zu, ihn dem Vater wiederzugeben, sobald das Lösegeld gezahlt wäre. Der Knabe soll nun den sehnlichen Wunsch geäußert haben, zum Christentum überzutreten. Er habe sich deshalb an den Rektor der. Kirche zu Freiburg mit der Bitte gewendet, durch ihn die Taufe zu empfangen. Wie sich der Vorgang in Wirklichkeit abgespielt hat, läßt sich leicht und am besten aus Zasius' eigener Schilderung in der Widmungsvorrede zu den Questiones erkennen, in der man jedoch zwischen den Zeilen zu lesen verstehen muß. * Die Wiedergabe der folgenden zwei Kapitel erfolgt in der (unbedeutend erweiterten) Form, in welcher sie in Köln bei Eröffnung der 13. Mediaevistentagung vorgetragen wurden. Die Darstellung beruht auf dem als erster Band der Pforzheimer Reuchlinstudien im Verlag von Jan Thorbecke in Konstanz und Stuttgart 1961 erschienenen Werk des Verfassers Zasius und Reuchlin. Eine rechtsgeschichtlich-vergleichende Studie zum Toleranzproblem im 16. Jahrhundert (im folgenden angeführt als Zasius und Reuchlin). Daselbst kann der Leser in voller Ausführlichkeit alle Quellenstellen und Literaturangaben finden. Von neuerlichem Abdruck derselben konnte daher abgesehen werden. Jedoch sind einige Anmerkungen neu hinzugefügt worden, durch welche der Apparat des genannten Buches auf den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft gebracht wird.

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Nach dieser Darstellung des Tatbestandes im Widmungsschreiben des Verfassers kann kein Zweifel darüber aufkommen, daß es sich um den Vollzüg einer sensationellen Zwangstaufe handelte 26 . Daß Zasius' Schrift zur juristischen Rechtfertigung derselben sowie der von dem Freiburger Theologen Georg Northofer vorher in öffentlicher Disputation verteidigten Anschauungen verfaßt wurde, geht ebenso klar aus seiner Einführung hervor. Durch diesen konkreten Fall wurde ein ganzes Gewebe theoretisch und praktisch schwerwiegendster Fragen aufgedeckt. Das Hauptproblem, das zur Erörterung stand, kann in Kürze als die Frage der Zulässigkeit der Taufe unmündiger Kinder ohne oder gegen den Willen ihrer Eltern umschrieben werden. War es rechtlich zulässig, den Knaben ohne Einwilligung seines Vaters zu taufen und ihn dann, um eine christliche Erziehung zu gewährleisten, nicht nur gegen den Willen des Vaters, sondern auch entgegen den vertraglichen Vereinbarungen zurückzubehalten, mit anderen Worten, seinen Eltern zu entziehen ? Oder aber hätte im Interesse der Vertragstreue die Taufe verweigert und das Kind dem Vater zurückgegeben werden sollen ? Das höchst verwickelte Problem zeigt theologische, kirchenrechtliche und allgemein-juristische Aspekte. Während die ersteren in die kirchliche Dogmatik und Rechtsgeschichte zurückweisen, waren die letzteren in der zeitgenössischen Rechtslage begründet, für deren Auffassung und Beurteilung im 16. Jahrhundert bereits die Theorie des rezipierten römischen Rechts maßgebend geworden war. Bevor Zasius' Stellungnahme, seine Gedanken- und Beweisführung sowie seine Entscheidung und die ihr zugrunde liegenden Motive dargelegt werden können, muß in Kürze auf die lange Geschichte des Problems in der katholisch-theologischen Auseinandersetzung und in der juristischen Diskussion, in der es vermutlich zuerst auftauchte, eingegangen werden. Zwei Ansichten von diametraler Gegensätzlichkeit stehen sich in der hochscholastischen Diskussion des Hauptproblems, der Zulässigkeit der Zwangstaufe jüdischer Kinder, gegenüber: die eine, scharfsinnig und folgerichtig entwickelt von Thomas von Aquino (1225 bis 1274), die andere aus einer verschiedenen Grundauffassung von Natur 2 6 Vgl. Zasius und Reuchlin, 60, Anm. 4. Für den daselbst erwähnten ähnlichen Fall Hermanns des Prämonstratensers aus dem 12. Jh., in dem es sich freilich nicht um einen Unmündigen handelte, liegt jetzt eine kritische Ausgabe seiner selbstbiographischen Darstellung mit ausführlicher Einleitung vor : GERLINDE NIEMEYER, Hermannus quondam Judaeus, Opusculum de conversione sua (Monumenta Germaniae Histórica, Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters, Bd. 4), Weimar 1963. Vgl. noch SOLOMON GRAYZEL, The Confession of a Medieval Jewish Convert, in: Historia Judaica, XVII (1955), 89—120; ders., The Papal Bull ,,Sicut Judeis", in: Studies and Essays in Honor of Abraham A. Neuman, Leiden 1962, 278ff.

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und Übernatur nicht minder konsequent abgeleitet von Johannes Duns Scotus (1270—1308), dem „Doctor subtilis". Schon vor dem Einsetzen der gelehrten Kontroverse hatte sich die päpstliche Gesetzgebung mit der Frage beschäftigt, ob es erlaubt sei, die Kinder nichtchristlicher Eltern ohne deren Zustimmung zwangsweise in die christliche Gemeinschaft aufzunehmen. Die grundsätzliche, für alle späteren Jahrhunderte offiziell maßgebende Einstellung zur allgemeinen Frage der Judentaufe wurde von Papst Gregor dem Großen (590—604) formuliert, der für die mittelalterliche Christenheit das alte Verbot der Zwangstaufe von Juden nachdrücklich erneuerte. Er hat darauf gedrungen, daß die Taufe der Juden durch Unterricht und Überredung, nicht durch Furcht und Zwang erreicht werden müsse. „Von unserem Herrn Jesus Christus haben wir nie gehört", schrieb er an den Fürsten Landulf von Benevent, „daß er jemand gewaltsam in seinen Dienst gezwungen habe, sondern er gewann die Menschen durch schlichte Überredung; er ließ ihnen ihren freien Willen und brachte sie nicht durch Drohungen von ihrem Irrtum ab, sondern dadurch, daß er sein Blut für sie vergoß." Hier wird der Grundsatz der Gewissensfreiheit und das Verbot der Zwangstaufe mit großer Deutlichkeit allgemein ausgesprochen. Auch in einer anderen Bestimmung, die in das Corpus iuris canonici Aufnahme fand, hat Papst Gregor der Große den Taufzwang gegen Juden und Heiden als unchristlich abgelehnt. In ähnlichem Sinne hat das vierte Konzil von Toledo (Canon 57) wahrscheinlich unter dem Vorsitz Isidors von Sevilla im Jahre 633 entschieden: „De iudeis autem precepit sancta synodus, nemini deinceps vim ad credendum inferre". (Betreffend die Juden hat die heilige Versammlung die Vorschrift erlassen, daß in Zukunft niemandem Gewalt angetan werden dürfe, um ihn zum [christlichen] Glauben zu bringen.) Freilich bot das Wort „deinceps", „in Zukunft", für einen Teil der scholastischen Theologen den Anlaß, den Taufzwang als in der Tradition der Kirche nicht ganz unbegründet und grundsätzlich nicht unerlaubt zu betrachten. Aber das Verbot der Zwangstaufe steht bis zum heutigen Tage im Bereich des kirchlichen Rechts in Geltung27. 27 Codex iuris canonici, can. 1351: „Niemand darf gegen seinen Willen zur Annahme des katholischen Glaubens gezwungen werden" (Ad amplexandam fidem catholicam nemo invitus cogatur.) Über das Festhalten der katholischen Kirche an diesem Grundsatz durch die Jahrhunderte seit Gregor d. Gr. vgl. J O S E F M A N D L , Das Elternrecht nach der natürlichen und übernatürlichen Ordnung (Freiburger Theologische Studien, hrsg. v. J O H A N N E S V I N C K E , H. 77), Freiburg 1960, 125ff. ; vgl. auch A L B E R T H A R T M A N N , Toleranz und christlicher Glaube, Frankfurt a. M. 1955, 268, Anm. 21. Auch nach der protestantischen Lehre vertrat der bedeutende lutherische Dogmatiker Johann Gerhard (1582—1637) die Ansicht, „daß Kinder ungläubiger, insbesondere jüdischer Eltern nicht gegen deren Willen zu taufen sind"; H A N S L I E R M A N N , Zur Geschichte des Naturrechts in der evangelischen Kirche, in: Festschrift Alfred Bertholet zum 80. Geburtstag, Tübingen 1950, 304.

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Vor Thomas von Aquino ist das Problem spezifisch hinsichtlich der Taufe jüdischer Kinder von Fr. Wilhelmus Redonensis (Wilhelm von Rennes), dem Verfasser eines nachmals berühmt gewordenen Apparatus in summarn Raymundi a Pennaforte, kurz nach 1235 behandelt worden. Zwar stellte sich dieser auf den Boden der päpstlichen Gesetzgebung, machte jedoch gewisse Vorbehalte zugunsten der Fürsten und zum Nachteil von Sklavenkindern. Seine Auffassung hat auch auf die weltliche Rechtssetzung und Rechtslehre eingewirkt. Diese hat sich im Mittelalter die Grundsätze der kirchlichen Gesetzgebung zu eigen gemacht und Beispiele für das Verbot der Zwangstaufe jüdischer Kinder sind nicht schwer aufzufinden. Das Verbot wurde jedoch im Sinne des Fr. Wilhelmus Redonensis dahin abgeschwächt, daß den Fürsten — wenngleich unter gewissen Einschränkungen — die Wegnahme jüdischer Kinder vorbehalten wurde, um sie der Taufe zuzuführen. Auch wurde nach Wilhelm von Rennes die Erlaubtheit und Gültigkeit der Zwangstaufe gegenüber Sklavenkindern behauptet mit der Begründung, daß den Sklaven ihre Kinder durchaus mit Recht genommen werden könnten, da den Eltern als Sklaven keine Rechtsgewalt über die Kinder zustehe. Der so für die Sklavenkinder aufgestellte und in dieser Weise fundierte Grundsatz wurde nun auf die als Sklaven betrachteten Juden übertragen. Diese Auffassung bildete für Zasius das juristische Hauptargument in seiner Gedankenführung, worauf noch zurückzukommen sein wird. Thomas von Aquino behandelt das Problem an drei Stellen seiuer Summa Theologiae unter der Fragestellung, ob man die Kinder der Juden und anderer Ungläubiger gegen den Willen der Eltern taufen soll: ,,Utrum pueri Iudaeorum et aliorum infidelium sint invitis parentibus baptizandi". Nach den Rechtsbestimmungen seien die Juden wegen ihrer Schuld an Christus ewiger Sklaverei verfallen. Eine Reihe von Gründen wird für die Erlaubtheit der Taufe der Juden- und Heidenkinder gegen den Willen der Eltern angeführt. Gegen die Überzeugungskraft dieser Gründe und somit gegen die Zulässigkeit der Zwangstaufe macht Thomas geltend, daß niemandem Unrecht geschehen dürfe. Ein solches würde aber den Juden zugefügt, wenn sie das Recht der väterlichen Gewalt durch die Aufnahme ihrer Kinder in den christlichen Glauben verlören. Also dürfe man sie nicht gegen den Willen der Eltern taufen. Der kirchlichen Tradition (consuetudo ecclesiastica), deren größter Autorität man eher folgen müsse als der der Kirchenväter, sei die Zulässigkeit einer solchen Praxis unbekannt. „Daher wäre es gegen die natürliche Gerechtigkeit", also ein Unrecht schlimmster Art, „wenn das Kind vor Erlangung der Fähigkeit zum Gebrauch der Vernunft der Sorge der Eltern entzogen würde". In der detaillierten Begründung dieser Entscheidung werden alle Argumente, die zugunsten der Zwangstaufe angeführt wurden, widerlegt, namentMtd. IV

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lieh wird hervorgehoben, die Sklaveneigenschaft der Juden erstrecke sich nur auf den weltlichen, staatsbürgerlichen Bereich, die natürliche und göttliche Rechtsordnung könne durch sie nicht berührt werden. „Ius divinum, quod est ex gratia, non tollit ius humanuni, quod est ex naturali ratione". (Das göttliche Recht, welches aus der Gnade entspringt, hebt das menschliche Recht nicht auf, das der natürlichen Vernunft entstammt.) Dazu bemerkt der katholische Theologe Josef Schröteler: „Der ungeheure Ernst, der aus dieser Auffassung spricht, ist schwerlich zu überbieten". Völlig verschieden von dieser sind Ausgangspunkt und Argumentation des Johannes Duns Scotus (1270—1308), nach Alexander von Haies das Haupt der Franziskaner Schule. Duns Scotus steht mit seiner etwa um 1300 vorgetragenen Lehre in scharfem Gegensatz zu Thomas. Er geht von Gründen gegen die Zwangstaufe aus, macht aber — ganz ähnlich wie Wilhelm von Rennes — die Ausnahme zugunsten der Fürsten und bespricht in Zusammenhang damit die Rechtslage der Sklaven. Er ordnet und trennt die verschiedenen Gewaltbereiche : der niedere Vorgesetzte dürfe niemals gegen den höheren verstoßen, sonst seien seine Anordnungen kraftlos. Das Recht Gottes und seine Willensanordnungen gehen zweifellos allen anderen vor. Daher müsse der Wille Gottes unter allen Umständen durchgeführt und erzwungen werden. Eltern aber, die ihre Kinder im Heidentum (oder Judentum) erziehen, verstoßen gegen den Willen Gottes, also ist in dieser Hinsicht ihr — sonst zu Recht bestehender — Wille nicht zu achten. Das höhere übernatürliche positive Gebot Gottes hebt das niedere etwa in den Naturgesetzen manifestierte auf. Taufzwang gegen Heiden und Juden sei demnach erlaubt. Dem widerspreche weder die Lehre der Kirche noch die kirchliche Tradition. Die übernatürliche Ordnung hat in jeder Hinsicht der natürlichen vorzugehen: „Nam in párvulo Deus habet maius ius dominii quam parentes". (Denn hinsichtlich kleiner Kinder steht Gott ein größeres Recht zu als den Eltern.) Das ist der tiefste und grundsätzlichste Gegensatz zur thomistischen Lehre, welcher die scotistische schnurstracks zuwiderläuft. Duns Scotus' Doktrin, bei deren Beurteilung geradezu von „scotistica subtilitas" gesprochen wird, ist von katholischer Seite als „odieuse et profondement antichrétienne" gewertet worden. Auf weitere Einzelheiten braucht hier nicht eingegangen zu werden. Bemerkt sei nur, daß die weitaus überwiegende, ja geradezu überwältigende Mehrheit der Theologen sich zur Ansicht des Thomas bekannte, während unter den Kanonisten manche Duns Scotus folgten, teilweise unter fälschlicher Berufung auf Thomas. Sylvester Prierias (Silvestro da Prierio, 1460—1523), Verfasser der Summa summarum Silvestrina, welcher die verschiedenen Ansichten zusammenfaßte, bekämpft die Fürstentheorie und Sklavenlehre als falsch und eitel,

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da dann die Juden überhaupt Sklaven sein müßten, was höchstens in sehr beschränkter staatsbürgerlicher Hinsicht zutreffe, nicht aber für den Bereich des göttlichen und natürlichen Rechts. Keineswegs folge daraus die Erlaubtheit ihrer Zwangstaufe. Welche Stellung zu dem Problem hat Ulrich Zasius eingenommen ? Wie die eingehende Polemik zeigt, mit der er sämtliche Argumente des Doctor Sanctus abwägt, erörtert und zu widerlegen versucht, war er mit allen Einzelfragen, Streitpunkten und Beweisgründen durchaus vertraut. Auch hatte er die Ansichten der theologischen und kanonistischen Schriftsteller, die sich mit dem Problem beschäftigt hatten, gründlich studiert. Er führt die geschlossene Reihe der Gelehrten, zumeist Kanonisten an, die sich Thomas' Entscheidung angeschlossen hatten. Nachdem er Thomas' Ansicht ausführlich dargelegt hat, stellt er sich dennoch auf die Seite des Duns Scotus. Er zieht seine Ansicht als „cum vehementer probabilis, tum virorum excellentissimorum adsensu approbata", das heißt als höchstwahrscheinlich und durch Zustimmung der ausgezeichnetsten Männer anerkannt, der thomistischen Lehre vor. Zasius gelangt zu folgendem Schluß, den er als These an die Spitze seiner Darlegungen stellt: „Durch die Landesfürsten können die kleinen Kinder der Juden auch gegen den Willen der Eltern weggenommen und durch das Sakrament der Taufe auf den Weg des Heils zur Wiedergeburt gebracht werden, wobei jedoch nach Möglichkeit Sorge getragen werden soll, daß daraus keine Tötungen folgen". Zwei juristischen Hauptargumenten, mit denen Zasius Thomas entgegentritt, kommt entscheidendes Gewicht zu: der Sklaveneigenschaft der Juden, besonders auch ihrer Kinder ; ferner der Beschränkung des Prinzips der Vertragstreue gegenüber Feinden (Ungläubigen) — als ein solcher wird der Vater des jüdischen Knaben hingestellt — auf öffentlichrechtliche Verträge, während Verträge privatrechtlichen Charakters der Rechtspflicht der Vertragstreue entrückt werden. Schon zu Zasius' Lebzeiten wurde die zweite These als juristisch unhaltbar von seinem früheren Schüler und Hausfreunde Johannes Eck (1486—1543) heftig angegriffen, und dies, obzwar sich der Ingolstädter Theologe und bekannte Gegner Luthers in der Frage der Zwangstaufe klar auf die Seite des Freiburger Juristen und der Scotisten stellte. Mit der Sklaventheorie, welche mit der Fürstenlehre zusammenhängt, schließt sich Zasius eng an Duns Scotus an, was teilweise auch für die Begründung zutrifft. „Was immer man sagen möge", so führt Zasius wörtlich aus, „es steht rechtlich unwiderleglich fest, daß die Juden Sklaven (servi) sind. Die Grundlage ist Papst Innozenz' Dekretale; ihr kann sich — wenn wir der Wahrheit ins Gesicht sehen — niemand entziehen. So steht es nämlich in dem Gesetz Etsi iudeos (c. 13, X, de iudaeis 5, 6). Die Juden werden mit ihrem Hab und Gut 2*

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nur aus Gnade (ex pietate), nach den Worten Papst Alexanders I I I . aus purer Humanität (pro sola humanitate), geduldet, wie an vielen Stellen des kanonischen Rechts bezeugt ist und sich durch die Gesetze der Kaiser erweisen läßt. Deshalb verdanken die Juden ihr Hab und Gut nur der Gnade und Toleranz, welche nach Papinians überzeugendem Urteil (D. 5. 1. 40) nicht als eine Pflicht (necessitas) gedeutet werden darf. Auch folge aus der gegen sie geübten Humanität nicht etwa ihre Befreiung vom Joch der Sklaverei. Dieses ist ihnen nicht nur vom positiven Recht, sondern auch nach Völkerrecht (D. 1. 1. 4), nämlich durch die Gefangenschaft infolge eines gerechten Krieges durch den römischen Kaiser Titus auferlegt und durch Konstantin den Großen und andere römische Kaiser bestätigt worden. Aus den dargelegten Gründen erachtet Zasius einerseits die Sklaveneigenschaft der Juden und andererseits das Recht der Fürsten auf ihr Hab und Gut als erwiesen. Den Juden sei ihre Stellung (nicht : Rechtsstellung) ferner nur unter der Bedingung eingeräumt, daß sie ihre Pflichten aus dem Sklavenverhältnis erfüllen und mit den ihnen eingeräumten Gunstbezeigungen nicht Mißbrauch treiben. In Zasius' Argumentation spiegelt sich die mittelalterliche Lehre von der servitus iudaeorum. In ihrer historisch-theologischen Wurzel wird ihre Knechtschaft auf die den Juden allein aufgebürdete Schuld am Tode Jesus zurückgeführt und ferner aus der Verfluchung Kanaans in der Bibel abgeleitet. Durch diese beiden Tatsachen sei für das jüdische Volk der Rechtszustand ewiger Sklaverei begründet worden. Mit der theologischen wird aber auch die säkulär-juristische Wurzel verknüpft, nämlich die völkerrechtliche Versklavung der Juden durch Kriegsgefangenschaft in dem gegen sie von den Römern geführten gerechten Krieg, welcher mit ihrer Niederlage endete. Dreihundert Jahre vor Zasius hatte ein anderer großer deutscher Jurist in tiefbohrender historisch-theologischer und juristisch-genetischer Gedankenführung eine kritische Untersuchung über das Problem durchgeführt, ob die Unfreiheit ein Rechtszustand sei, ob ihre Begründung im Recht aus der Bibel abgeleitet werden könne und ob Spuren ihres Ursprungs in der Entwicklungsgeschichte des weltlichen Rechts zu entdecken seien. Es war Eike von Repkow, mit Recht als der größte deutsche Jurist und Rechtstheoretiker des Mittelalters betrachtet, der in seinem Sachsenspiegel (.Landrecht, I I I , 42, 6) zum folgenden Ergebnis gelangte: „Nach rechter Wahrheit hat Unfreiheit ihren Ursprung in Zwang und Gefangenschaft und in Unrechter Gewalt, auf die man sich von altersher als eine Unrechte Gewohnheit berufen hat und die man jetzt als Recht betrachten will" 28 . Darin liegt 2 8 Ausführliche Untersuchung darüber bei GUIDO KISCH, Sachsenspiegel and Bible (Publications in Mediaeval Studies, hrsg. von der University of Notre Dame, Bd. V), Notre Dame, Indiana 1941, 131—146.

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die ausdrückliche Ablehnung, die Entstehung der Unfreiheit auf eine Rechtsgrundlage zu stellen, welche sich rechtfertigen ließe. Eike von Repkow war es ferner, der als logische Folge seiner Leugnung der Unfreiheit als eines im Recht begründeten Zustandes auch die Juden nicht als Sklaven betrachten konnte. Grundsätzlich von ihrer Eigenschaft als freie Menschen ausgehend, suchte und fand er eine rechtliche Begründung für ihre Freiheit trotz ihrer kriegerischen Unterwerfung und Versklavung nach Kriegsrecht in altrömischer Zeit : sie war ihrem Feldherrn Josephus vom Eroberer ihres Landes als besondere Gnadenerweisung ohne Auferlegung irgendwelcher Bedingungen zuerkannt worden. Diese deutschrechtliche Lehre von Ursprung und Bedeutung der Knechtschaft im allgemeinen und der dem Sachsenspiegel unbekannten servitus iudaeorum im besonderen ist Zasius offenbar fremd geblieben. Zasius war ein ausgesprochener Rechtspositivist. Richtungweisend für sein juristisches Denken waren auf der einen Seite die mit Selbstverständlichkeit als geltend betrachteten Grundsätze des römischen Rechts, auf der anderen die als unverrückbar angesehenen Lehren des kanonischen Rechts, wie er sie auslegte. Als getreuer Sohn der katholischen Kirche weiß er diese auch aus der Bibel zu erklären, mit Hinweisen auf die Lehren der Kirchenväter zu stützen und das Prinzip aufzustellen, daß man in zweifelhaften Fällen derjenigen Meinung zu folgen habe, welche zugunsten des Glaubens, des Seelenheils und der Freiheit entscheide. Zasius hatte den von ihm in der geschilderten Weise theologisch und juristisch begründeten Zustand der Unfreiheit der Juden als Rechtszustand anerkannt. Mit Berufung auf Papst Alexanders II. Dekretale Dispar stellt er die Gunstbezeigungen, welche die Fürsten den Juden in ihrer Unfreiheit aus Gnade und Humanität erweisen, unter die Bedingung, daß die Juden selbst allezeit zu den aus ihrem Zustand ihnen obliegenden Dienstleistungen bereit seien: „Die Juden müssen aber überall zu Dienstleistungen bereit sein. Wenn sie in solcher Weise zu dienen bereit wären, würden sie mit um so größerer Sicherheit sich der ihnen verstatteten Wohltat erfreuen". Nicht nur bedient sich Zasius gerade der päpstlichen Terminologie (pietate), in seiner Auslegung des kirchenrechtlichen Satzes geht er über dessen ursprünglichen Rechtsinhalt noch hinaus. Der Papst wollte nur die Toleranz gegenüber den Juden in Gegensatz stellen zur Notwendigkeit des gerechten Kampfes gegen die Sarazenen: „Iudeos non debemus persequi, sed Sarracenos". (Die Juden müssen wir nicht verfolgen, wohl aber die Sarazenen.) Auf diese Weise sollte die Rechtmäßigkeit des für jede der beiden Gruppen verschiedenen Rechtszustandes begründet werden. Zasius unterstellt Sklavenarbeit als Bedingung, von der er die Toleranz abhängig macht.

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Das war offensichtlich eine vollständige Rückkehr zur mittelalterlichen Auffassung der Judenprivilegien, die als widerruflich galten und verwirkt werden konnten. „Gerade in unseren Zeiten", so führt Zasius emphatisch aus, „sehen wir aber, wie sich alles gegensätzlich abspielt. Die Juden sind nämlich den Christen im höchsten Maße undankbar, verfluchen sie täglich und öffentlich mit Flüchen und Verwünschungen, beuten sie durch ihren Wucher aus, verweigern ihnen ihre Dienstleistungen, verspotten unseren geläuterten Glauben und besudeln ihn ständig. Gegen unseren Erlöser wenden sie sich öffentlich mit den schändlichsten Blasphemien." „Was aber am entsetzlichsten ist", fährt Zasius wörtlich fort, „die Juden dürsten nach Christenblut, nach welchem diese blutdürstigen Blutsauger Tag und Nacht lechzen. Daß sie solches auch in unseren Tagen hierzulande mehr als einmal vergossen haben, was ich nicht ohne innerste Erschütterung berichten kann, ist von ihren Verbrechensgenossen, welche deshalb die Todesstrafe erlitten haben, zur Anzeige gebracht worden. Außerdem verunglimpfen, hassen, beflecken und setzen sie das Christentum herab. Deshalb auch wünschen und streben sie darnach, das ganze Vertrauen auf unser Heil zu untergraben." Daraus zieht Zasius sodann diese praktischen Folgerungen: „Warum soll es also vor allem den Fürsten nicht gestattet sein, so ausgesprochene Feinde, so grimmige Bestien auszustoßen, warum sie nicht aus den Gebieten der Christen auszutreiben? Man muß jenen ekelhaftesten Auswurf in kimmerische Finsternis versinken lassen." Woran Zasius in dem letzten Satze denkt, ist nicht ganz klar. Offenbar meint er die Ausrottung der Juden ; denn er führt weiter aus, daß der Untergang des Samens Israel nicht zu befürchten sei. „Auch wenn man diesen unendlichen Pöbel von Beschnittenen unter den Christen nicht mehr duldet, wird es immer noch viele von diesen Scheusalen geben, die sich unter den Heiden herumtreiben können." So ungeheuerlich lauten diese Beschuldigungen, auf so niedrigem Niveau bewegen sich Zasius' Äußerungen, so obszön ist seine Sprache, selbst wenn man sich an die oft derbe Redeweise des 16. Jahrhunderts erinnert, daß sie in der Literatur bisher — offenbar aus ästhetischen Gründen —· weder im lateinischen Wortlaut wiedergegeben noch in extenso übersetzt worden sind, wodurch das historische Bild verschleiert oder unrichtig gedeutet wurde. Schröteler, der sonst recht ausführlich ist, bricht an dieser Stelle ab mit der Bemerkung: „Es folgen heftige Ausfälle auf die Juden" 2 9 . Der Jurist Roderich Stintzing sucht durch eine entschuldigende Erklärung Zasius zu verteidigen und

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JOSEF SCHRÖTELER, Das Elternrecht

setzung, München 1936, 246.

in der katholisch-theologischen

Auseinander-

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zu rechtfertigen 3 0 : „Bei dieser Gelegenheit spricht sich Zasius sehr hart über die Juden aus. Sie seien jetzt nicht mehr unterwürfig und dankbar für die ihnen gewährte Gnade, sondern (wovon die Beweise vorlägen) sie schändeten das Christentum, beuteten die Christen durch Wucher aus und dürsteten nach ihrem Blute. Warum man diese .truculentas bestias' noch in christlichen Ländern dulde? — Wir haben in diesen Worten nicht die Äußerung einer besonderen individuellen Intoleranz zu erkennen, sondern die Stimmung der Zeit, welche sich bekanntlich gerade im 16. Jahrhundert wohl nicht ohne Grund (!) gegen die Juden kehrte 31 . Rechtlich war kein Zweifel darüber, daß sie .kaiserliche Kammerknechte' seien und daß der Kaiser befugt sei, sie auszurotten (!). Ihre Knechtschaft wurde unter anderem auch auf die Eroberung Jerusalems durch Titus gegründet". Diese Ausführungen des streng konservativ-religiösen Protestanten Stintzing bedürfen keines Kommentars. Man muß sich nur wundern, daß er, der sich an anderer Stelle kritisch gegen den Zasiusbiographen aus dem 18. Jahrhundert, den „strengen Katholiken" Joseph von Riegger, wendet, schließlich auch Zasius' Entscheidung zugunsten der Zwangstaufe und Zulässigkeit der zwangsweisen Wegnahme der Judenkinder von ihren Eltern als „die humanere Meinung" betrachtet. Stintzing schrieb sein Zasiusbuch in Basel etwa fünfundzwanzig Jahre, bevor in Deutschland der Antisemitismus unter der Führung des demagogischen Hofpredigers Adolf Stöcker zu wildem Ausbruch kam und zum erstenmal im Verlauf der modernen Geschichte zu einer Massenbewegung gemacht und dem deutschen Volk propagandistisch eingeimpft worden ist. Man fragt nach den vermutlich jenseits des rein Juristischen gelegenen Motiven für die Meinung jenes ausgezeichneten Rechtshistorikers. Ob er vielleicht durch die haßerfüllten Ausbrüche Luthers gegen Juden und Judentum beeindruckt und beeinflußt war ? 3 2 E s läßt sich nicht leugnen, daß diese — lange nach Stintzing — 3 0 RODERICH STINTZING, Ulrich Zasius. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtswissenschaft im Zeitalter der Reformation, Basel 1857, 318, Anm. zu 116. 3 1 Ähnlich schreibt im Jahre 1963 ERIK WOLF, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., Tübingen 1963, 78: „Bei dieser Entscheidung brachte Zasius jene Abneigung gegen die Juden, die das 16. Jahrhundert fast überall zeigt, zum Ausdruck. Hierin liegt wohl auch ein Grund für die Zurückhaltung des Zasius im sog. ,Reuchlin-Streit', der damals um die Erhaltung oder Zerstörung des hebräischen Schrifttums zwischen Humanisten und Theologen heftig geführt wurde" ; zu letzterem vgl. G. KISCH, Zasius und Reuchlin, 47 ff. 3 2 Vgl. Zasius und Reuchlin, 67ff., Anm. 60, 51, 52. Dazu noch: SELMA STERN, Josel von Rosheim, Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, Stuttgart 1959, Register s. v. Luther; MARTIN STÖHR, Martin Luther und die Juden, in dem Sammelband Christen und Juden: Ihr Gegenüber vom Apostelkonzil bis

heute, hrsg. v . WOLF-DIETER MARSCH und KARL THIEME, Mainz u n d Göttingen, 1961,

116—140, eine vortreffliche Analyse und willkommene Ergänzung zu meiner Darstellung a. a. O.; CARL COHEN, Die Juden und Luther, in: Archiv für Reformations-

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dem nationalsozialistischen Rassenantisemitismus und „gigantischen Judenmord" (Eugen Gerstenmaier) vom Anbeginn als wichtiges und wirksames Propagandamaterial gedient haben, eine bisher wohl nicht unabsichtlich übersehene Tatsache, auf die erst kürzlich die Aufmerksamkeit gelenkt wurde. Sind doch Luthers antijüdische Flugschriften schon in der Frühzeit des Nationalsozialismus öfters neugedruckt, propagandistisch kommentiert und ausgewertet worden. Verschiedene der von Luther mit unbarmherziger Grausamkeit emphatisch empfohlenen Kampfmittel zur Ausrottung von Juden und Judentum (Verbrennung und Verwüstung ihrer Synagogen, Zerstörung ihrer Häuser, Wegnahme ihrer Bücher, „aller Barschaft und Kleinod an Silber und Gold", Vernichtung ihrer Persönlichkeit durch Versklavung, Vertreibung aus allen Ländern, Herausreißung ihrer Zungen, Überlieferung an den Henker, etc., etc.) sind dreieinhalb Jahrzehnte vor ihm von Zasius nicht minder grausam und grauenvoll vorweggenommen worden. Ob Zasius' Schrift Luther vielleicht bekannt gewesen ist und ihn etwa beeinflußt hat ? Bekanntlich hat Zasius wie viele Humanisten Luther bei seinem ersten Auftreten seine Sympathien zugewendet, sogar einen Brief an ihn gerichtet. Die hier aufgeworfene Frage wäre wohl näherer Prüfung wert. Andere Zeitgenossen des Zasius, auch sie Humanisten und Juristen zugleich, obwohl demselben Gedankenkreis und Milieu entstammend und angehörend wie jener, ebenfalls wie er dem alten Glauben die Treue bewahrend, gewannen gerade durch ihre wissenschaftliche Entgeschichte 5 4 ( 1 9 6 3 ) , 3 8 — 5 1 . Noch im Jahre 1 9 6 1 hat es ein protestantischer Theologe in einem Aufsatz, dem wissenschaftlicher Wert nicht zugesprochen werden kann, unternommen nachzuweisen, daß Luther judenfeindliche Gesinnung fernlag: „Seine Äußerungen gegen die Juden (von denen die maßgebenden in dem Aufsatz unterdrückt werden) waren nicht von Rassenhaß, sondern von religiösen Gesichtspunkten eingegeben"; so schreibt CARL S . M E Y E R , Luther's Alleged Anti-Semitism, in: Concordia Theological Monthly, 3 2 , Nr. 1 1 (St. Louis, Nov. 1 9 6 1 ) , 6 9 2 — 6 9 6 , gegen W I L L I A M L. SHIRER, The Rise and Fall of the Third Reich, New York, 1 9 6 0 , 9 1 , mit Berufung auf HEINRICH BORNKAMM, Luther's World of Thought, St. Louis 1 9 5 8 , 230—232, „the front-ranking Luther student's authoritative answer to the question". Die deutsche Ausgabe von Bornkamms Werk erschien unter dem Titel Luthers geistige Welt, Gütersloh 1953 (siehe daselbst 251—257). Bei ihm fand und entlehnte Meyer die Leitgedanker seines Aufsatzes: Luther war kein Rassenantisemit, er bekämpfte die Juden nur au: religiösen und wirtschaftlichen Gründen mit dem Ziel der Bekehrung einzelner, offenbai völlig zu Recht und in Ausübung christlicher Nächstenliebe. Man ist erstaunt, im Jahn 1953 — nach der Ermordung von sechs Millionen Juden — abgesehen von einem nichts sagenden Hinweis auf moderne Toleranz eine so unkritische Einstellung bei einen bedeutenden Theologen und Lutherforscher in Deutschland finden zu müssen. Mai vgl. im Gegensatz dazu die Haltung anderer, ebenfalls bedeutender protestantische Theologen, wie Wilhelm Maurer in Erlangen und James Parkes in England, derei Äußerungen in Zasius und Reuchlin, 67, Anm. 50, wiedergegeben sind. Es ist keil Wunder, daß trotz dieser jene andere im Ausland Schule gemacht hat, und zwar mi Berufung auf die Autorität der Universität Heidelberg.

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wicklung und geläuterte Einstellung zu Wissenschaft und Leben einen anderen Ausblick, auch in der sogenannten Judenfrage. Ihr Humanismus führte sie zu Humanität und Toleranz. Unter ihnen ragt als Vorkämpfer wissenschaftlicher Wahrheit und wahrer Wissenschaftlichkeit der Humanist und Jurist Johannes Reuchlin hervor, dem sich die Betrachtung nunmehr vergleichend zuzuwenden hat. Ein anderer Mensch, ein anderes Bild. III Humanistisch-juristische Toleranz Johannes Reuchlin Johannes Reuchlin (1455—1522), neben Erasmus die andere Leuchte des Humanismus, Erwecker der griechischen Sprache in Deutschland und Vorkämpfer der hebräischen Sprachwissenschaft im christlichen Europa, war von Beruf Jurist 33 . Er hatte in Orléans und Poitiers Rechtswissenschaft studiert, das Baccalauréat und das Lizentiatendiplom erlangt, schließlich das juristische Studium mit der Promotion in Tübingen abgeschlossen. Seine Tätigkeit als praktischer Jurist begann er als Rat des Herzogs von Württemberg, als dessen Vertreter er am Reichskammergericht zu Speyer wirkte, bis ihm eine der drei Richterstellen im Schwäbischen Bund durch Wahl zufiel. Auch übte er eine Anwaltspraxis aus, zu welcher ihm diese nur periodische Tätigkeit Zeit ließ. Reuchlin gehörte jedoch nicht zu den Juristen, die ihre humanistische Gelehrsamkeit in den Dienst der Rechtswissenschaft zu stellen bemüht waren. Er war mit Leib und Seele Humanist, in erster Linie Philologe. Ähnlich wie Zasius •—• drei Jahre früher als dieser — wurde Reuchlin durch einen praktischen Fall veranlaßt, sich mit der Frage des Verhaltens zu den Juden zu befassen. Die Veranlassung war jedoch eine andere als bei Zasius, bei dem es sich um die Erörterung juristischer Probleme handelte. Nicht der Jurist Reuchlin wurde um Rat befragt, sondern der christliche Hebraist, den seine wissenschaftliche Beschäftigung mit der heiligen Sprache mit dem Volk in persönliche Berührung gebracht hatte, bei welchem sie sich, wenngleich nicht als Umgangssprache, so doch im religiösen Leben und Schrifttum lebendig erhalten hatte. Reuchlins Nachdenken über jenes Problem fand in einem kleinen 3 3 Zu den in Zasius und Reuchlin, 71 f., Anm. 1, verzeichneten biographischen Literaturangaben vgl. noch folgende Werke: W. SCHWARZ, Principles and Problems of Biblical Translation, Cambrifge 1955, 61—91; LEWIS W. SPITZ, The Religious Renaissance of the German Humanists, Cambridge, Mass. 1963, 61—80 ; RICHARD NEWALD, Probleme und Gestalten des deutschen Humanismus, Berlin 1963, Namenregister unter „Reuchlin".

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Schriftchen seinen Niederschlag, von dem nur ganz wenige Exemplare erhalten sind. Der Titel lautet : Doctor iohanns Reuchlins tütsch missine, warumb die Juden so lang im eilend sind (Pforzheim 1505). Die ganze weitläufige und wiederholungsreiche Beweisführung dient Reuchlin nicht etwa dazu, die Forderung zu erheben, die Juden müßten aus dem Lande vertrieben oder gar mit dem Tode bestraft werden. Vielmehr schließt er seine theologisch-juristische Argumentation mit einem Gebet nach dem Vorbild der liturgischen Fürbitte am Karfreitag : „Ich bitte Gott, Er wolle sie erleuchten und bekehren zu dem rechten Glauben, daß sie von der Gefangenschaft des Teufels befreit werden, wie die Gemeinschaft der christlichen Kirchen am Karfreitag andächtig für sie betet. Und wenn sie Jesu, den rechten Messias, erkennen, dann wendet sich alles zum Guten für sie in dieser Welt und in jener ewiglich. Amen". Es handelt sich hier um eine theologisch-juristische Beweisführung zugunsten der christlichen Glaubenswahrheit, die sich gleichzeitig gegen die jüdische Religion richtet, eine Art Leitfaden und Anweisung für ein Glaubensgespräch mit den Juden. Die empfohlene Missionierung der Juden und ihre Gewinnung für den christlichen Glauben mit den Mitteln theologischer, juristisch gefärbter Argumentation sowie auf dem Wege didaktischer Belehrung über ihre Erbsünde, kollektive Schuld, eigene Verantwortung, ewige Bestrafung und doch mögliche Erlösung erinnert an die von Papst Gregor dem Großen begründete Tradition der Kirche. Vollständig in dieser Linie liegt auch der Hinweis auf die Fürbitte für die ferfidi iudaei3i am Karfreitag und das Anerbieten persönlicher Unterweisung taufbereiter Juden und der Fürsorge für sie nach erfolgtem Übertritt. Nach dem Ausgeführten muß Reuchlins Missive als theologischmissionarischer Traktat aufgefaßt werden, in welchem zwar die juristische Schulung des Verfassers mit zum Ausdruck gelangt, dessen Konzeption und Gedankenführung sich jedoch in keiner Weise von der zeitgenössischen Haltung den Juden gegenüber unterscheidet oder etwa durch eine besondere Begünstigung von ihr abhebt. Andererseits ist Reuchlin in seinem Antagonismus gegen die Juden über das in jener Zeit allgemein übliche Maß nicht hinausgegangen. Nach der Verfassung seiner Missive trat ein zweites Mal an Reuchlin von außen her, und ohne daß er sie gesucht hätte, die Veranlassung 31 Bekanntlich ist erst durch die Initiative Papst Johannes X X I I I . im Jahre 1959 eine vorsichtige Korrektur durch Unterdrückung der Worte perfidi und perfidia im Karfreitagsgebet erfolgt; vgl. PAUL DÉMANN, Johannes XXIII. und die Juden, in: Freiburger Rundbrief, X I I . Folge, Nr. 45—48, (Freiburg 1959—60), 6—8; JOSEPHINE D. CASGRAIN, Israeli Reactions, in: The Bridge, Bd. 4 (New York 1962), 353ff. ; auch KATHRYN SULLIVAN, „Pro perfidis Judaeis", in: The Bridge, Bd. 2 (1956), 212—223.

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heran, sich über seine philologischen und philosophischen Studien zur hebräischen Sprache und Literatur hinaus mit dem Verhalten der christlichen Welt zu den im Reiche lebenden Juden zu beschäftigen. Er wurde vom Kaiser zur Erstattung eines Gutachtens darüber aufgefordert, „ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll", was von dem getauften Juden Johannes Pfefferkorn und seinen Protektoren, den Kölner Dominikanern, angeregt und angestrebt wurde. Daraus entwickelte sich ein Streit, welcher das letzte Lebensjahrzehnt Reuchlins verdunkelte, zu einer europäischen Sensation wurde und sich zum öffentlichen Kampf zwischen der Geistigkeit der aufstrebenden Humanistik und der verknöcherten Traditionsgebundenheit der alten Scholastik entwickelte. Reuchlin hatte sich zu der ihm gestellten Frage, die einen theologischen und einen juristischen Aspekt aufwies, gutachtlich zu äußern und später gegen die Angriffe zu verteidigen, welche gegen seine Ansichten und gegen ihn persönlich von den „Dunkelmännern" erhoben wurden35. Die Frage, ob die zur Vernichtung empfohlenen hebräischen Schriften wissenschaftlich wertvoll, vielleicht auch für die christliche Welt von Nutzen seien, war von der anderen nicht zu trennen, ob den Juden juristisch das Recht zuzubilligen sei, vor den geplanten obrigkeitlichen Eingriffen geschützt zu werden, durch welche ihr religiöses Leben aufs schwerste bedroht war. Ein möglichst unparteiisches Urteil darüber abzugeben, war keiner wissenschaftlich wie persönlich geeigneter als Reuchlin. Obwohl die beiden Fragen miteinander eng zusammenhängen, muß auf eine Erörterung der ersteren hier verzichtet werden, da nur Reuchlins Anschauungen über die Rechtsstellung und rechtliche Behandlung der Juden den Gegenstand der Betrachtung bilden sollen. Im Eingang seiner Darlegungen spezifiziert Reuchlin die zur Beantwortung stehende Frage durch Einschaltung des Wörtchens „von rechtswegen" wie folgt: „Ob den iuden ire bûcher soellent oder moegent von rechtswegen genommen, abgethon oder verbrent werden". Zwei Meinungen, so führt er aus, stehen sich gegenüber. Die bejahende stützt sich auf verschiedene Gründe: 1. die Bücher seien antichristlich; 2. es seien Schmähschriften gegen Jesus, Maria, die Apostel und gegen Christenheit und Christentum; 3. „sie seien falsch"; 4. durch diese Bücher werden die Juden verführt, bei ihrem Judentum zu verharren und sich nicht bekehren zu lassen. „Welcher aber solch 3 5 Zu den in Zasius und Reuchlin, 75, Anm. 4, angegebenen älteren Drucken des Reuchlinschen Gutachtens kommt nun noch der erste selbständige mit hochdeutscher Übersetzung versehene: JOHANNES REUCHLIN, Gutachten über das jüdische Schrifttum,

herausgegeben und übersetzt von ANTONIE LEINZ-V. DESSAUER (Pforzheimer

linschriften, Bd. II), Konstanz und Stuttgart 1965.

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gros übel weren moecht vnnd das nit verhütet noch abtette, der were dem tetter gleichfoermig zu achten vnd solte als ain mitverwilliger gleicher straff gehalten werden; ex. de off. delega, c. 1 (X, 1, 29, c. 1) et i. q. 1 quicquid inuisibilis (Decr. Grat., Causa I, q. 1, c. 101)." Aber auch diejenigen, welche auf die Frage mit nein antworten (und zu ihnen rechnet sich Reuchlin), haben ihre guten Gründe: „Zum ersten, dann die iuden als vnderthonen des hailigen roemschen reichs sollent by kaysserlichen rechten behaltten werden; 1. iudei. communi romano iure. C. de iude. (C. 1. 9. 8). Zum andern, was vnser ist, das soll von vns nit moegen kommen, on vnsser zuthun; 1. id quod nostrum, ff. de reg. iur. (D. 5 0 . 1 7 . 1 1 ) . Zum dritten, kaisserliche vnd künigkliche recht, auch andere fürstliche Satzungen habent es fürkommen, das nieman das syn verliere durch gewalt; 1. 1. §. nequid autem. ff. de vi. et vi. (D. 48. 6; 48. 7). Zum Vierden, so sol ain ieglicher by synem alten herkommen, brauch vnd besess behalten werden, ob er gleich ain rauber wer; c. in literis de resti, spo. in fi. (X, 2, 13, c, 5 : praedo etiam est secundum rigorem iuris restituendus). Zum funfften, so sollennt die iuden ire Synagogen, die man nennet schul, ruwigklich on irrung vnnd eintrag moegen halten; c. 3. ex. de iudeis (X, 5, 6, c. 3). Zum sechsten, so sind sollch iudenbücher noch nit weder von gaistlichen noch weltlichen rechten verworffen noch verdampt; patet per omnia corpora iuris et patrum decreta. Vnnd darumb mainen dieselben, man sol nit moegen solliche bûcher den iuden abreissen vnd die vndertrucken oder verbrennen. Wie ersichtlich, hat sich Reuchlin bei Formulierung seiner Thesen strikt auf den Rechtsstandpunkt gestellt und für diesen aus dem römischen und kanonischen Recht zwingendes Beweismaterial beigebracht. In seinen weiteren Ausführungen und Ergänzungen verbreitet er sich über Sinn, Bedeutung und rechtliche Grundlagen der von ihm aus den Bestimmungen beider Rechtsbücher gewonnenen Überzeugung, welche Rechtsstellung den Juden zukomme und was für rechtliche Folgen sich aus dieser ableiten. Da ist vor allem die für ihre Rechtslage grundlegende erste These, der zufolge „die Juden als Untertanen des heiligen römischen Reichs" betrachtet und im Genuß des kaiserlichen Rechts geschützt werder sollen. Nach der von Reuchlin angeführten Codexstelle standen dk Juden allgemein unter der Herrschaft des römischen Rechts une waren der römischen Gerichtsbarkeit wie andere römische Bürgel unterworfen. War ihnen doch schon im Jahre 212 durch eine Verfügung Caracallas die gleiche Eigenschaft zuerkannt worden. Reuchlin gib den altrömischen Rechtssätzen bei ihrer Anwendung auf die im heiligei

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römischen Reich lebenden Juden eine für seine Zeit ungewöhnliche Deutung. Es ist die Zeit, in welcher sich die sogenannte Rezeption des römischen Rechts in Deutschland in Theorie, Praxis und Rechtsliteratur allenthalben mächtig durchzusetzen begann. Die Reichskammergerichtsordnung von 1495 bestimmte, daß die eine Hälfte der Richter an dem höchsten Gerichte des Reichs Rechtsgelehrte sein und nur die andere Hälfte dem Adel entnommen werden sollte. Ihre Anweisung an die Richter bestimmte, zu richten „nach des Reichs gemeinen Rechten", zu denen vor allem das römische Recht gehörte. Das römisch-gemeine Recht besaß bereits im 16. Jahrhundert neben den spärlichen gesetzten nationalen Rechtsbestimmungen als eine Art internationales Weltrecht in Europa Ansehen und tatsächliche Geltung oder war doch im Begriff, allenthalben solche zu erlangen. Einen wichtigen Faktor in diesem fortschreitenden Prozeß bildete der Einfluß der italienischen Jurisprudenz, der sich nicht nur durch die an italienischen Universitäten ausgebildeten Juristen, sondern besonders auch durch die im 16. Jahrhundert in großem Maßstab mögliche druckmäßige Verbreitung der Kommentare und Konsiliensammlungen stark fühlbar machte. So stand das römische Recht im Begriff, seine allgemeine Geltung auch in dem Reich durchzusetzen, das sich als Nachfolger des alten römischen Reiches betrachtete. Das Recht und die juristische Denkarbeit einer antiken Kulturperiode sollte den Erfordernissen der zeitgenössischen Gesellschaft angepaßt und nutzbar gemacht werden, durch die sinngerechte Interpretation sollte seine Anwendbarkeit in der Praxis ermöglicht und erreicht werden. Das war schon die Aufgabe und das Bestreben der mittelalterlichen Kommentatoren des römischen Rechts gewesen. Das gleiche Ziel steht vor den Augen der praktischen Juristen des 16. Jahrhunderts, die sich als Schüler jener großen Meister des Rechts bekennen und erweisen. Reuchlin war einer von ihnen. Wie nach jenem alten christlichen römischen Recht die Juden den Römern rechtlich gleich behandelt wurden, so soll es nach seiner Meinung auch im heiligen römischen Reich seiner Zeit gehalten werden. Die für den Juristen klare Begründung durch Bezugnahme auf den Codex Iustinianus (1. 9. 8) wird noch durch eine zusätzliche Erklärung theologischen Charakters gestützt. Die Juden sollen rechtlich ebenso wie die Christen behandelt werden, „nachdem bayd secten on mittel gelider des hailigen reichs vnnd des kaisserthumss burger synd, wir cristen durch vnser churfürsten wal vnd kur, vnd die iuden durch ir verwilligung vnnd offen bekanntnus, als sy gesprochen hond: ,Wir haben kainen künig dan den kaisser'. Johan. X I X (15). Hierumb so bindent kaisserliche recht cristen vnd iuden ieglichs nach seiner gestalt". Reuchlin muß sich später gegen den Vorwurf verteidigen, daß er Juden wie Christen als „Sekten" bezeichnet hatte. „Die Kirche wünscht sogar das Heil der Ungläubigen",

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so führt er aus, „sie hat auch die Juden, obwohl sie nämlich eigentlich Sklaven sein sollten, aus einer gewissen Barmherzigkeit (misericordia) in unseren Umgang aufgenommen und wir gestatten ihnen, mit uns den Genuß des gemeinen römischen Rechts (communi romano iure uti) in Freiheit zu teilen. Das betrachte ich im Sinne der Bestimmung im Codex Iustinianus (1.9.8) als gemeinsamen Bürgerstand (communem civilitatem). Denn das römische Recht heißt ius civile (Ulpian, D. 1. 1. 6. pr.)." Reuchlin betrachtet die Juden als Mitbürger, als „concives nobiscum romani imperii". Dies tut er in voller Kenntnis der ausdrücklich von ihm erwähnten Tatsache, daß die Kirche ursprünglich die Juden als Sklaven erklärt und behandelt hat. Auch dieser Bestimmung weiß er jedoch eine mildere, für die Juden günstigere, dem römischen Recht nicht widersprechende Deutung zu geben. Von der grundsätzlichen Ablehnung der Sklavenrechtslehre aus, der sich jedoch Zasius vorbehaltlos angeschlossen hatte und an der er in seinem gesamten juristischen Opus ebenso wie in seinen Vorlesungen und Rechtsgutachten streng festhielt, gelangt Reuchlin denn auch zu völlig verschiedenen Schlußfolgerungen. E r wendet die Bestimmungen des römischen Rechts auf die Juden genau so an, wie sie auf die Römer, auch auf die christlich gewordenen Römer, Anwendung gefunden hatten. Auch den Juden soll ihr Besitz nicht gewaltsam entzogen, sie sollen in ihrem überkommenen Recht geschützt werden, zumal selbst nach dem strengen Recht der Kirche sogar einem Räuber solcher Schutz zuteil wird. Dazu gehört ferner, daß sie im Genuß ihrer Kultstätten und der für diesen notwendigen Gegenstände ungestört verbleiben sollen. Schließlich sollen ihnen auch ihre Bücher belassen werden, da sie weder vom kirchlichen noch vom weltlichen Recht verdammt sind. All dies folgt aus dem im kaiserlichen Recht niedergelegten Grundsatz, daß sich die Juden als Mitbürger des Genusses des gemeinen römischen Rechts erfreuen dürfen. Sind aber die Juden „concives", ,, das wir vnd sie ains ainigen roemischen reichs mitbürger sind, vnd inn ainem burgerrecht und burgfrieden sitzen, wie könnten wir dan gegen ainander hostes oder Feinde sein?" Zasius mußte vom Standpunkt seiner den Juden gegenüber angewendeten Sklavenrechtstheorie zu Interpretationen und Schlußfolgerungen gelangen, welche denen Reuchlins diametral entgegengesetzt waren. Das gilt für fast alle Fragen des rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhaltens zu den Juden. Eine einzige sei noch hervorgehoben, die Frage der Zwangstaufe jüdischer Kinder und ihrer gewaltsamen Entfernung aus der elterlichen Gewalt und Obhut. Während sie Zasius aufs strikteste bejahte und zur Rechtfertigung dieser Ansicht ein ganzes Buch mit zahlreichen rechtlichen Begründungen anfüllte, mußte seine entgegengesetzte juristische Argumen-

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tation Reuchlin zu ebenso entschiedener Verneinung führen. Mit Berufung auf die Mahnung des Apostels Paulus (Thessal. 4. 12), derzufolge „wir die, so nit cristen sind, sollen vnbekümmert lassen vnd des iren nit begeren", stellt Reuchlin fest: „Darumb sollen wir ire kinder nit tauffen on iren willen; gl. in. ca. iudeorum filios X X V I I I q. 1 (C. XXVIII, qu. 1, c. 11)". In dieser Glosse heißt es, daß weder Erwachsene noch auch Kinder mit Gewalt zum christlichen Glauben zu bringen seien. Schließlich kann Reuchlin, den Bestimmungen der Rechtsbücher folgend, die Juden auch nicht als Ketzer betrachten: „ . . . ich daby hab angezaigt das gaistlich recht, darinn vngeuerlich dis mainung geschriben stat, die wyl ketzerei im glauben bedüt ainen abfal, vnd die iuden nit sint von den cristenglauben abgefallen, dan sie sint nie darin gewessen, so moegen sie, aigentlich zu reden, nit ketzer genent werden; das sint aber nit meine wort, sunder wort des gemainen rechtes inn mainen ratschlag fürgehaltten, vnd sint war". Daraus folgt denn auch für Reuchlin — anders als für Zasius —, daß kein Verkehrsverbot mit den Juden in rechtlicher, geschäftlicher, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher oder sonstiger Beziehung Berechtigung habe. Ja, er verstärkt schließlich das rechtliche mit einem theologischen Argument, welches er noch dazu als juristisches ausgibt, indem er an die christliche Nächstenliebe appelliert : „Zuletzt soll ein Christenmensch den Juden lieb haben als seinen Nächsten; das alles ist im Rechte begründet". In der Literatur ist die Frage gestellt worden, welche Motive Reuchlin bestimmt haben mögen, in der rechtlichen Behandlung der Juden eine von der herrschenden Anschauung seiner Zeit so wesentlich abweichende und trotz aller Vorbehalte ihnen doch recht günstige Meinung öffentlich zu äußern und für sie einzutreten, ja zu kämpfen. Von den Antworten, welche verschieden lauten, sei nur eine hervorgehoben. Am Anfang der modernen Reuchlinforschung steht neben Heinrich Graetz Ludwig Geiger, der Verfasser der trotz der Notwendigkeit einiger, im ganzen unwesentlicher Korrekturen bis heute gültigen Biographie des großen schwäbischen Humanisten. Er glaubte aus allen seinen Schriften „das Prinzip einer milden Duldung der Juden" herauslesen zu können, zu welcher ihn sein Studium der hebräischen Literatur und seine Vorliebe für die Kabbala veranlaßt habe. Graetz, Geiger und die Gelehrten, die sich ihnen direkt anschlossen oder doch unter ihrem Einfluß ihre Ansichten formulierten, standen unter dem Eindruck einer durch Aufklärung und Emanzipation unter den Juden im Deutschland des 19. Jahrhunderts hervorgerufenen sentimental-optimistischen Stimmung. Sie bildete die Veranlassung dazu, daß man in Reuchlin einen kühnen, seiner Zeit weit voraus-

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eilenden Vorläufer der Aufklärung erblicken konnte und aus seinen Schriften „das Prinzip einer milden Duldung der Juden" herauslas. So urteilte auch Graetz, dessen Darstellung der Geigers um einige Jahre vorausging und daher von dieser nicht abhängig war: „Es war gewissermaßen der erste stotternd ausgesprochene Laut zu jenem befreienden Worte vollständiger Gleichstellung, welches mehr als drei Jahrhunderte brauchte, um voll ausgesprochen und anerkannt zu werden". Es mag zugegeben werden, daß bei Reuchlins Einstellung zu Juden und Judentum nichtjuristische Motive mitgespielt haben mögen. Durch seine Hebräischstudien war er mit hochgebildeten jüdischen Gelehrten in Verbindung getreten, die am kaiserlichen und päpstlichen Hofe geachtete und einflußreiche Stellungen einnahmen. Ihnen verdankte er seine Kenntnisse in der Sprache und Literatur, welche bis dahin ein Geheimnis der Juden geblieben waren. „Reuchlin hat nicht nur die .doctrina purissima' des .doctor excellens' (nämlich des Jakob Jehiel Loans, Leibarztes des Kaisers Friedrich III.) gerühmt, sondern ebensosehr die Milde und Güte seines Lehrers, das Suchen nach der ungeschminkten Wahrheit, dem Wesentlichen und Eigentlichen, das ihn allen äußeren Schein und Glanz verachten ließ. In dem vielerfahrenen und vornehmen Juden Simon hat er ihm in seinem bedeutendsten Werk De arte cabbalistica ein schönes und ehrendes Denkmal gesetzt, selbst erstaunt, daß er ,einem Juden, von Juden geboren, ernährt, erzogen und unterrichtet, von einem Volke, das von allen anderen für barbarisch, abergläubisch, niedrig, verworfen und fern von dem Glänze der Wissenschaften gehalten wird', mit solcher Freude ins Antlitz sah und mit solcher Leidenschaft zuhörte" (Selma Stern). Nach solchen Äußerungen ist es nicht zu verwundern, daß Reuchlin den fanatischen Judenhaß eines Zasius nicht teilen konnte. Nirgendwo hat er meines Wissens auf Zasius oder seine Questiones Bezug genommen, während letzterer Reuchlins Lehre von dem Bürgerrecht der Juden im Reiche mit einer kurzen polemischen Bemerkung in seiner Digesten Vorlesung als falsch abtat. Auch konnte er die Juden seiner Zeit nicht als „truculentae bestiae" betrachten und im Widerspruch zu den Normen des römischen und kanonischen Rechts und den Lehren ihrer großen mittelalterlichen Interpreten die Verbrennung ihrer Gotteshäuser, Wegnahme ihrer Kinder und Bücher, Vertreibung aus allen Ländern und dergleichen billigen, was der große Jurist und gläubige Christ Zasius propagandistisch empfohlen hatte. Reuchlin, ebenfalls ein gläubiger Christ, dagegen betrachtet Ungerechtigkeit als Unmenschlichkeit, die keines menschlichen Wesens, ob Christ oder Jude, würdig sei. Wenn man dies als „Prinzip einer milden Duldung der Juden" bezeichnet, so wird man aus der von Reuchlin verwendeten Antithese leicht ersehen, daß es nach seiner Auffassung durchaus

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nicht allein aus der Humanität stammt, an deren Äußerungen es freilich bei ihm —• anders als bei Zasius — nicht fehlt. In seiner Missive hatte er noch die landläufige Einstellung zu Juden und Judentum mit seiner Zeit geteilt, dem Bekehrungseifer Vorschub geleistet, sich kurz keineswegs als Judenfreund gezeigt, obwohl er bereits damals Vertreibungs- und Bedrückungsmaßnahmen, geschweige denn der Ausrottung der Juden, das Wort nicht geredet hat. Man wird aber sehr wohl annehmen dürfen, daß diese mildere Stimmung abgesehen von religiösen und kulturellen Motiven sich bei Reuchlin durch einen wachsenden Wandel in der humanitären Einstellung erklären läßt. Floß sie auch letztlich aus der Quelle der Gerechtigkeit, so war ihre zunehmende Verstärkung wohl durch persönliche Berührung mit jüdischen Gelehrten, ebenso durch Reuchlins tiefes und gelehrtes Eindringen in die hebräische Literatur und ihren Geist mitverursacht, beides Umstände, die bei Zasius niemals wirksam geworden sind. Sie alle zusammengenommen bildeten jedoch nur eine und zwar die schwächere Komponente in Reuchlins Bestimmung der Rechtsstellung der Juden. Denn das Schwergewicht lag zweifellos ausschlaggebend in seiner juristischen Analyse. Daß Reuchlin die „corpora iuris", die römischen und kirchlichen Rechtsbücher, auf die er sich öfter bezieht, genau kannte, wird klar, wenn man den von ihm beigebrachten Zitaten nachgeht. Er beherrschte aber ebenso die Glossenapparate. Schon aus wenigen aufgesuchten Zitaten kann man Klarheit darüber gewinnen, daß er über intimste Vertrautheit mit dieser Literatur verfügte. Der Inhalt der herangezogenen Stellen, die mit unbedingter Sicherheit aus dem riesigen Glossenmeer herausgehoben sind, namentlich aus der Glosse zum Decretum Gratiani und dem Liber Extra, bildet die zuverlässige Grundlage für seine juristische Analyse, Beweisführung und Entscheidung. Die Zitate werden nicht etwa, wie man das bereits in dieser Zeit bisweilen beobachten kann, nur decoramenti causa als bloßer schmükkender Anmerkungsapparat verwendet, der mehr durch Häufung der Quellenstellen als durch die Stichhaltigkeit ihres Inhalts zu wirken bestimmt war. Auch ist mir bei ihm kein Fehlzitat begegnet, wie man solche nicht selten bei Gelehrten findet, die sich der Dekorationsmethode bedienen. Reuchlin ist geradezu sparsam bei der Verwendung von Allegationen. Akkumulierung solcher liegt nicht in seiner Absicht. Vielmehr will er nur Rechenschaft über die Grundlagen und Ergebnisse seiner juristischen Gedankenarbeit ablegen. Dasselbe gilt für die sachgemäße Heranziehung von Glossatoren und Kommentatoren, aus der sich ebenfalls auf große Vertrautheit mit dieser nicht weniger uferlosen Literaturgattung, mit den Werken und Lehren der großen italienischen Interpreten des römischen und kanonischen Rechts schließen läßt. Im Ratschlag für den Kaiser und Med. IV

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den sich anschließenden Erläuterungs- und Verteidigungsschriften, die hier allein in Betracht zu ziehen sind, wird vor allem auf Bartolus und Baldus Bezug genommen. Diese sind es gewesen — und das scheint das wichtigste Ergebnis der Untersuchung der Autoritäten zu sein, auf welche sich Reuchlin beruft —, die neben den Glossenapparaten seine Auffassung und Auslegung der judenrechtlichen Satzungen der römischen und kanonischen Rechtsbücher am nachhaltigsten beeinflußt, ja geradezu bestimmt haben. Reuchlin hat nicht wie Zasius für den mos gallicus gekämpft. Bartolus hat in seinem vielbändigen Kommentarwerke zum Corpus iuris civilis von den siebzehn auf Juden bezüglichen Leges des neunten Titels im ersten Buch des Codex Iustinianus, De iudaeis et coelicolis, nur sieben kommentiert. Aber gerade dieser Kommentar zusammen mit Bartolus' Erklärungen zu anderen Codextiteln und Äußerungen in einzelnen Konsilien liefert sozusagen ein Spiegelbild der Reuchlinschen Gedanken über die Rechtsstellung der Juden nach dem kaiserlichen Recht. Richtiger ausgedrückt, um in demselben Bilde zu bleiben, handelt es sich hier um das Urbild und Vorbild für seine Auffassung. Alle Aspekte, unter denen Reuchlin die Rechtsstellung der Juden behandelt, sind auch bei Bartolus anzutreffen. Seine Ansichten erscheinen bei Reuchlin den Verhältnissen seiner eigenen Zeit und seines Landes angepaßt und umgebildet in ganz entsprechender Weise, wie jener die altrömischen Rechtsbestimmungen in justinianischer Gestalt auf seine Zeit angewendet und unter Berücksichtigung der Gewohnheiten und Statuten des italienischen Rechts dem mittelalterlichen Rechtsdenken gemäß neu gestaltet hatte. Für Bartolus und ebenso für Reuchlin war die Lage der Juden im Recht die gleiche wie im Codex Iustinianus, sie war modifiziert lediglich durch das kanonische und statutarische Recht. Sie unterstanden als Bürger dem gemeinen römischen Recht und waren in allen ihren Rechtsangelegenheiten den Gerichten des Landes, in dem sie lebten, unterworfen. Ausnahmen bestanden nur für ihre religiösen und innerjüdischen Rechtssachen. Ihnen standen grundsätzlich die gleichen Rechte und der gleiche Rechtsschutz wie anderen Bürgern zu. Sie sollten im Besitz ihrer religiösen Kultstätten und Kultgeräte und in der Freiheit der Ausübung ihrer Religion geschützt werden. Sie wurden nicht als Haeretiker betrachtet, welche ebenso wie andere Sekten im Codex Iustinianus separat behandelt sind. Der religiöse Faktor war allein für ihre teilweise Sonderstellung und juristische Sonderbehandlung maßgebend. Da sie keine Haeretiker waren, sollten sie auch nicht als Feinde betrachtet werden und waren den auf solche anwendbaren Strafen nicht unterworfen. Das war der Standpunkt, den Reuchlin von Bartolus übernommen und für die Rechtsverhältnisse seiner eigenen Zeit entsprechend gestaltet hat. Auch für ihn waren wie

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für Bartolus die Religionsverschiedenheit der Juden und die Tatsache, daß sie an Christus nicht glaubten, die entscheidenden Gesichtspunkte 36 . Daß es sich hier um eine direkte, von Reuchlin selbst durch seine Zitate angezeigte Übernahme von Bartolus handelt, entzieht sich jedem Zweifel. Nicht nur sind die Gedanken die gleichen, wenn auch die Gedankengänge und Beweisführungen bisweilen naturgemäß eigene Wege gehen, auch in Sprache und Terminologie lassen sich Anlehnungen und sogar Entlehnungen beobachten. Der hier eröffnete Einblick in die Rechtsgeschichte, der Rückblick auf das römische Gesetzesrecht, auf seine Anwendung im mittelalterlichen Recht der italienischen Stadtstaaten, auf die Anpassung seiner Bestimmungen für diesen Zweck durch die Interpretation der Glossatoren und Kommentatoren, die ebenso wie die heimischen hergebrachten Rechtsgewohnheiten und Bräuche immer wieder von Reuchlin ausdrücklich herangezogen werden, — all das weist auf die vornehmste Quelle seiner juristischen Bestimmung der Rechtslage der Juden im heiligen römischen Reich deutscher Nation hin. Vielleicht verdient in diesem Zusammenhang der Hinweis auf eine parallele Erscheinung im Leben des italienischen Juristen beachtet zu werden, welche sich der Forschung bisher fast ganz entzogen hat: auch Bartolus hat, wie er selbst berichtet, hebräische Studien betrieben, die ihn mit gelehrten Juden seiner Zeit in Berührung gebracht haben 37 . Reuchlins Standpunkt der „Toleranz", mit dem er gerade in den humanistischen Kreisen seiner Zeit fast allein war, steht in krassem Gegensatz zur Intoleranz eines Zasius. Er hat erstmals in der Geschichte des sogenannten Judenproblems nicht bloß als Humanist, sondern als Jurist ausgehend vom Toleranzgedanken auf der soliden Rechtsgrundlage der Quellen des damals geltenden Rechts den Weg zur Anerkennung gefunden, ein Entwicklungsgang, den erst Jahrhunderte später ein anderer — freilich nur ehemaliger ·— Jurist, Goethe, als ihr logisches Resultat und ideales Endziel bezeichnet hat. Reuchlins Errungenschaft reicht aber noch über die Durchsetzung der Gerechtigkeit hinaus. Der Beschäftigung mit der Wissenschaft entsprungen, wirkte sie sich letztlich auch auf sie selbst aus. So begründete dieser gelehrte christliche Kabbaiist nicht nur eine neue Wissenschaft 35

Zasius

und

Reuchlin,

34, 79F., A n m . 3 1 ; G. KISCH, i n : Historische

Zeitschrift,

197 (1963), 605ff. ; ders., Zur Rechtsstellung der Juden im Mittelalter (oben, Anm. 24). 37 Zasius und Reuchlin, di Tommaso Diplovataccio

8 0 f . , A n m . 39. J e t z t a u c h GUIDO ROSSI, La „Bartoli Vita" secondo il codice Oliveriano 2 0 3 , i n : Bartolo da Sasso/errato·.

Studi e documenti per il VI centenario, hrsg. v. d. Università degli Studi di Perugia, Bd. 2, Milano 1962, 449, 481, Anm. 200. 3'

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Guido Kisch

der hebräischen Sprache, sondern auch eine Wissenschaft des Judentums, das er als Christ, ohne es zu ahnen, in den geistigen Zusammenhang mit der christlichen Welt gebracht hat, in deren kulturellem Dienst es frei von religiösem und sozialem Druck als gleichberechtigtes Glied der menschlichen Gesellschaft mitarbeitend und mitbildend seine reichen Geistesgaben entfalten sollte. Wenn ich am Schluß der Betrachtung einem Wunsch Ausdruck geben darf, so wäre es der, daß die in heißem Ringen um die Wahrheit gewonnenen Ergebnisse streng wissenschaftlicher Forschung sich durchsetzen, daß ihre Ziele zum Zwecke praktischer Verwirklichung erreicht werden und in ihrer Erfüllung dazu beitragen mögen, der Wahrheit über einen Gegenstand zur Anerkennung zu verhelfen, dessen Erkenntnis in der Vergangenheit so oft von den verschiedensten Arten von Haß verzerrt war. Möge die sorgfältige und mit dem Ziel der Völkerversöhnung heute vielerorts geplante und geleistete geistige Arbeit sich fruchtbar erweisen im Sinne eines Bartolus, im Geiste eines Reuchlin, im Streben nach ihren Idealen, nach Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit und hinführen zu uneingeschränkter Toleranz im Goetheschen Sinne, zur vorbehaltlosen Anerkennung der Menschenwürde.

JÜDISCHE MYSTIK IN WEST-EUROPA IM 12. UND 13. J A H R H U N D E R T V O N GERSHOM

SCHOLEM

Die Erforschung der jüdischen Mystik gehört zu den schwierigsten Themen der Wissenschaft vom Judentum, und es ist kein Wunder, daß lange Zeit vergangen ist, ehe eine wirkliche Erforschung dieser unzugänglichen Texte und schwer durchschaubaren Zusammenhänge unternommen worden ist. So will ich denn hier versuchen, einige Betrachtungen über das Problem und die mit ihm verbundenen Fragestellungen anzustellen, Erwägungen allgemeinerer Natur, die uns einige Resultate der Forschung vermitteln können, wie sie sich in den letzten fünfzig Jahren intensiv entwickelt hat, und damit zugleich auch Ausblicke auf Probleme, die noch ungelöst sich gerade aus dieser Forschungsarbeit ergeben. Wenn ich von jüdischer Mystik rede, so ist dabei selbstverständlich nicht zu erwarten, daß die Mystik im Judentum die selben Gehalte, Lehrvorstellungen oder Ideengänge entwickelt wie die christliche Mystik. Ist doch Mystik in jeder Religion ein späteres Stadium der Entwicklung, in welchem die positiven Gehalte der betreffenden Religion — und das gilt ganz besonders für die monotheistischen Religionen — einer Interiorisation unterworfen werden, einer nach innen gekehrten Umdeutung. Jüdische Mystik betrifft also ein mystisches Verständnis der Welt des Judentums und ist von den spezifischen Gehalten dieser Welt her bestimmt. Es ist selbstverständlich, daß in dem mystischen Aufschwung, in der mystischen Intention auf die Erfahrung des Göttlichen, ein allgemein menschlicher, alle Religionen durchziehender Zug liegt; aber in den historischen Formen, in denen sich dieser Grundtrieb der menschlichen Sehnsucht nach religiöser Erfahrung kristallisiert hat, gibt es die verschiedensten Phänomene. So unterscheidet sich die jüdische Mystik von der christlichen zum Beispiel schon wesentlich in folgendem Punkte: jüdische Mystik ist zugleich Esoterik, Geheimlehre. Nicht alle Mystik ist Geheimlehre, und nicht alle geheime Lehre ist Mystik. Mystik betrifft ein Wissen, das seiner Natur nach nicht mitgeteilt werden kann. Es entzieht sich der direkten Tradierbarkeit, es kann nur indirekt sichtbar gemacht werden, weil das, worum es in der Mystik letzten Endes geht, sich der Formulierung in der mensch-

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lichen Sprache entzieht. Esoterisches Wissen dagegen betrifft ein Wissen, das vielleicht mitteilbar ist und mitgeteilt werden könnte, aber nicht mitgeteilt werden soll. Diese zwei Möglichkeiten können sich überdecken. Oft war Mystik in der Religionsgeschichte zugleich Geheimlehre. Sie war für die wenigen bestimmt, die auf einen Weg geleitet werden sollten, der mit der Erfahrung des Göttlichen verbunden war. Die christliche Mystik hat die Formen der Geheimlehre als Traditionsmittel kaum benutzt. Das Moment des Esoterischen, der geheimen mündlichen Mitteilung des indirekt Sichtbaren, ist für sie nicht charakteristisch. Hier verließ man sich auf andere Wege und war mehr oder weniger gewiß, daß der Unberufene, der zu Mißverständnissen, Vergröberungen und allzu robusten Auffassungen der Dinge neigen würde, nicht an das Heiligste herangelassen werden würde. Im Judentum dagegen liegt es von vorherein so, daß die Geschichte seiner Mystik bis in späte Generationen hinein im Rahmen der Esoterik verläuft. Das hört erst mit den großen messianischen Ausbrüchen des 17. Jahrhunderts auf und mit dem letzten uns bekannten großen mystischen Ausbruch im Judentum in der chassidischen Bewegung, in denen Kräfte wirken, die sich an die von keiner Geheimlehre mehr ferngehaltene jüdische Öffentlichkeit wenden. Aber im Mittelalter und vor allem im 12. und 13. Jahrhundert handelt es sich bei der jüdischen Mystik um bewußte Esoterik. Nicht umsonst werden die Mystiker dieser Zeit, von etwa 1200 an, als Kabbalisten bezeichnet, als „Meister der Kabbala", wobei Kabbala, was eigentlich nur Überlieferung der Tradition heißt, im Sinne von esoterischer Überlieferung verstanden wurde. Kabbala betrifft ein Wissen, das einerseits irgendwie als mystisches Wissen nicht mitgeteilt werden kann, zugleich aber auch ein Wissen darstellt, das selbst in dem, was an ihm mitteilbar ist, nicht ohne weiteres mitgeteilt werden soll, es sei denn unter Kautelen, wie sie eben die Einweihung in Geheimlehren voraussetzt. Die jüdische Mystik ist im Wesentlichen Theosophie, Versenkung in die Geheimnisse der Welt der Gottheit und ihres Wirkens in ihrer Verbindung mit der Schöpfung und mit dem Rätsel des Daseins der Welt überhaupt. Diese jüdische Theosophie hat eine eigene Geschichte. Sie ist nicht etwa erst in der Zeit aufgekommen, von der wir hier sprechen. Es gehört zu den merkwürdigsten und von der Wissenschaft bis in unsere Generation hinein überhaupt nicht gesehenen zentralen Sachverhalten innerhalb der Geschichte des rabbinischen Judentums, das heißt des Judentums, wie wir es als großes historisches Phänomen vor allem kennen, daß in ihm die Mystik nicht, wie die meisten Gelehrten früher angenommen haben, eine Randerscheinung darstellt, die sich in mehr oder weniger häretischen Kreisen und an seinen Grenzen, aber nicht in dem lebendigen Zentrum geltend macht. Ein wichtiges Resultat der neueren Forschung ist gerade dies, daß die

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älteste jüdische Mystik der mischnaischen und talmudischen Zeit, das heißt der Zeit der Entstehung des Christentums, sich nicht etwa am Rande, sondern im genauesten Zentrum des sich ausbildenden rabbinischen, pharisäischen Judentums vollzogen hat. Gerade in den Kreisen, die dieses rabbinische Judentum am sichtbarsten repräsentieren, beginnt zugleich die Geschichte der jüdischen Mystik. Damit ist natürlich auch eine starke Veränderung in der Einschätzung der Bedeutung und Tragweite gegeben, die diese Erscheinungen in der Geschichte des Judentums gehabt haben. Das gilt für das erste und zweite nachchristliche Jahrhundert, für das Aufkommen der sogenannten Merkaba- oder Thron-Mystik, in der eine visionäre Theosophie von den Geheimnissen der göttlichen Herrlichkeit und der Kommunion mit ihren Erscheinungen gelehrt wurde, eine Geheimlehre über die himmlische Welt und die Erscheinung Gottes in ihr und alles, was damit zusammenhängt, wie vor allem die Auffahrt der Seele in der ekstatischen Entrückung in diese Welt der visionären Erfahrung des Göttlichen. Sie wurde gerade in dem Kreis gepflegt, der überhaupt das talmudische Judentum in seiner radikalsten exoterischen Form geprägt hat, wie bei Rabbi Jochanan ben Sakkai und bei Rabbi Akiba. Das gilt aber auch für die Kreise, von denen ich hier sprechen will, für den Chassidismus des Mittelalters (der nichts oder doch sehr wenig mit dem zu tun hat, was in den späteren chassidischen Bewegungen in dem Ost-Europa des 18. Jahrhunderts sich abgespielt hat) und die provenzalische und spanische Kabbala. Die chassidische Bewegung spielt sich im 12. und 13. Jahrhundert im Rheinland, und von da ausstrahlend auch in Nordfrankreich und Süd- und MittelDeutschland ab. Sie stellt die bedeutendste geistige Bewegung dar, die das deutsche Judentum im Mittelalter geprägt hat. Viele Jahrhunderte lang ist das Leben der rheinischen und süddeutschen Juden von den Gedankengängen, Idealen und Praktiken der Chassidim mitbestimmt worden. Dieser „deutsche Chassidismus", der so großen Einfluß gewonnen hat, geht von einer bestimmten tragenden Schicht des aschkenasischen Judentums aus, das heißt eben des Judentums, das damals in Deutschland saß und später, im Laufe der großen Verfolgungen, zu großen Teilen nach dem Osten wanderte. Ebenso verhält es sich auch mit der Kabbala, deren historische Kristallisation nicht im Rheinland, sondern im Languedoc, der westlichen Provence, erfolgt ist und deren Aufkommen dort historisch analysiert und beschrieben werden kann, wie ich das in meinem Werk Ursprung und Anfänge der Kabbala (1962) getan habe. Das Rheinland und das Languedoc waren damals zwei bedeutende Zentren jüdischen Lebens und jüdischer Schriftgelehrtheit, wie wir das große Erziehungsideal des rabbinischen Judentums nennen dürfen. Dies Ideal fand in den rheinischen Lehrhäusern vom 11. bis

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zum 13. Jahrhundert ebenso intensive Pflege wie in dem großen jüdischen Zentrum, das die Provence im 12. Jahrhundert bildet. Gerade in diesen Gruppen, und zwar nicht in peripheren Kreisen, sondern in den tragenden Familien und in den zentralen Gestalten dieser Gruppen, kommen nun die mystischen Tendenzen zum Ausbruch. Sie kommen zum Ausbruch in zwei Familien, die uns genau erfassbar sind. Der deutsche Chassidismus des Mittelalters wurde von der Familie der Kalonymiden in Worms, Speyer und Mainz getragen, jener Familie, von der noch in den letzten Generationen jeder rheinische Jude, der etwas auf sich hielt, sich mehr oder weniger legendär herschrieb — nicht nur Karl Wolfskehl, der bekannte jüdische Dichter aus der Schule Stefan Georges. Solche Familienlegende der Abstammung von den Kalonymiden gehörte zum guten Ton. Diese Familie kam im 9. Jahrhundert aus Italien nach Mainz und ist uns über vier Jahrhunderte hindurch als weit verzweigter Stamm faßbar. Sie brachte nicht nur das Talmud-Studium nach Deutschland, sondern zugleich auch esoterische Traditionen aus dem Orient, die ihren Weg nach Italien gefunden hatten und im Kreise dieser Familie gepflegt wurden und vielleicht auch manchen Metamorphosen unterworfen waren. In die endgültige Gestalt, die der Chassidismus hier annahm, spielt gewiß auch etwas vom Charakter der Umwelt hinein, in der diese Juden lebten und mit der sie vielleicht tiefere Beziehungen verbanden als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Dasselbe gilt auch für das Erscheinen der Kabbala in der Provence. Als historisches Phänomen tritt uns die Kabbala zuerst gerade in einer der wichtigsten Familien des Languedoc entgegen. Von 1150 bis 1250 können wir in vier Generationen dieser Familie verfolgen, wie die neue kabbalistische Mystik an das Licht tritt. Die ersten historisch greifbaren Träger kabbalistischer Tradition waren Rabbi Abraharr ben Isaak, der Präsident des rabbinischen Gerichtshofs von Narbonnc — einer uralten jüdischen Gemeinde und einer wichtigen Stätt« jüdischer Gelehrsamkeit — und dessen Schwiegersohn Rabbi Abraham ben David, das berühmteste talmudische Schulhaupt seiner Zeil in der Provence. Dessen Sohn Isaak der Blinde und Enkel, Ascher bei David, haben dann in der weiteren Geschichte der frühen Kabbai; eine wichtige und im Falle Isaaks des Blinden sogar entscheidend' Rolle gespielt. Also wiederum war es gerade die talmudische Aristo kratie der gelehrten Kreise und nicht etwa anonyme und in ihre Orthodoxie etwa verdächtige Gruppen von Halb- oder Viertel Gelehrten, die für die Geschichte dieser Entwicklungen entscheiden! ist. Warum die Mystik in diesen beiden Kreisen als eine Art Familien religion esoterischer Art auftritt, bleibt auch nach den auf der Han< liegenden Erklärungen der größeren Leichtigkeit, solche Dinge ir Familienkreis vor Profanation zu bewahren, problematisch. Freilic

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finden wir das selbe Phänomen in der Geschichte der jüdischen Mystik auch noch viele Jahrhunderte später. Häretische und geradezu antinomistische Traditionen und Ideen teilweise sehr weitgreifender und kühner Natur sind noch im 18. Jahrhundert bei den Anhängern des mystischen Messias Sabbatai Zwi mit Vorliebe im Schoß bestimmter Familien bewahrt und gepflegt worden. Hier aber handelt es sich nicht um Familien als Träger von Häresien, sondern gerade umgekehrt um Familien, die im jüdischen traditionellen Sinne höchste Bildung, Schriftgelehrsamkeit und Frömmigkeit repräsentieren. Zugleich freilich spielt bei den deutschen Chassidim das Moment des jüdischen Radikalismus hinein, hier als Radikalismus moralischen und religiösen Lebens verstanden. Im hebräischen Sprachgebrauch bezeichnet, schon seit der vorchristlichen Periode des ältesten Rabbinismus, der Begriff Chassid, wörtlich Frommer, den jüdischen Radikalen. Im Unterschied zum überlieferten jüdischen Ideal des Gerechten, der versucht, die Vorschriften des göttlichen Gesetzes alle in gleicher Weise, alles im richtigen Maße und zur richtigen Stunde zu erfüllen, ist der Chassid derjenige Jude, der zum Extremen neigt, der mit der Sache der Religion, ja auch nur mit einer einzigen Vorschrift in der Religion bis zum Exzess Ernst macht. Das gilt auch für diese deutschen Chassidim aus der Familie der Kalonymiden. Drei Generationen hindurch treten hier drei bedeutende Gestalten hervor: Samuel Chassid (um die Mitte des 12. Jahrhunderts), sein Sohn Juda Chassid, der für einige Jahrhunderte die zentrale religiöse Figur des deutschen Judentums darstellt (gest. in Regensburg 1217) und dessen Schüler Eleasar aus Worms, der sich über die chassidischen Ideale und Traditionen zwar ausführlich literarisch geäußert hat, aber nicht selbst mit dem Beinamen Chassid belegt wird. In diesen Männern haben, durch ihr literarisches Wirken oder durch intensive Tradition der Schüler bezeugt, die mystischen Tendenzen des rheinischen Judentums ihren reinsten Ausdruck gefunden. Beide Bewegungen, der Chassidismus im Rheinland und die Kabbala in der Provence, sind für uns mit der besonderen Problematik der historischen Situation verbunden, aus der heraus sie uns entgegentreten. Der deutsche Chassidismus entstand in der Zeit, in der die Verfolgungen der Kreuzzüge von 1096 und 1147 und die daran anschließende große Periode vieler Martyrien in Deutschland die jüdischen Herzen verdüsterten. Diese katastrophalen Ereignisse wühlten die Gemüter auf, und unter ihrem Eindruck oder in irgend einem, wenn auch nicht ohne weiteres durchschaubaren Zusammenhang damit, hat der deutsche Chassidismus die Form angenommen, die wir in den großen Dokumenten vor allem des Juda Chassid und seines Schülers Eleasar aus Worms vor uns haben. Ähnliches gilt von der Erscheinung der Kabbala in der zweiten Hälfte des 12. und im Anfang

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des 13. Jahrhunderts im Languedoc, also im Zentrum des Katharismus, einer der bedeutendsten und tiefgehendsten häretischen Bewegungen, die das katholische Christentum des Mittelalters gesehen hat. Es liegt auf der Hand, daß dieser überaus problematische und bisher nicht recht durchschaubare Zusammenhang den Historiker intrigiert. Die katharische Bewegung stand damals auf ihrem Höhepunkt, vor dem Ausbruch des großen Kreuzzuges und der Begründung der Inquisition, die ihrer Bekämpfung gewidmet waren. Diese Häresie war eine Revolte gegen die Korruption der Kirche, wie es den Ketzern schien, und ging auf eine Wiederherstellung der urchristlichen Reinheit des Lebens aus, die hier mit manichäischen Theologumena begründet wurde. Zur selben Zeit schlägt die waldensische Bewegung in Süd-Frankreich hohe Wellen. In diesen zwei Schauplätzen großer historischer Geschehnisse bricht die jüdische Mystik aus, und wer möchte entscheiden, was hier von innen her kommt und was von außen, was aus der Sphäre der äußeren Geschichte der Judenverfolgungen und was aus der inneren Erregung, die von solchen Bewegungen in den Lebenskreis bedeutender jüdischer Menschen trat. Natürlich liegt es nicht so, daß diese Zusammenhänge zwischen der jüdischen Mystik und den historischen Schauplätzen ihrer Erscheinung ohne weiteres affichiert werden können. Man kann nicht etwa sagen, dies oder jenes spezifische Element verbinde die Kabbala mit dem Katharismus. Die Zusammenhänge auf der Ebene der Ideen und Lehrmeinungen sind hier überaus selten und nicht von entscheidender Bedeutung, soweit ich urteilen kann. Und dennoch bleibt das Problem historisch überaus dringlich. Nicht im Orient, wohin doch ihre ältesten Wurzeln und Ursprünge führen, und nicht in Spanien hat sich die Kabbala endgültig kristallisiert, sondern gerade an diesem Ort großer historischer Spannung. Dabei gilt von beiden Phänomenen, dem deutschen Chassidismus und der provenzalischen Kabbala, daß die Kreise, die sie trugen, in irgend einem historischen oder literarischen Zusammenhang mit älteren jüdisch-esoterischen Traditionen standen. Das waren teils Überlieferungen uns auch aus ihren Quellen bekannter rabbinischer Theosophie, teils aber jüdisch-gnostische Überlieferungen, die sich nicht in selbständigen Schriften erhalten haben, sondern nur in Fragmenten und in von den Kabbalisten überarbeiteten alten Heften wie etwa dem ältesten Text der kabbalistischen Literatur, den wir überhaupt besitzen. Dies ist das Buch Bahir, das etwa um 1180 in der Provence veröffentlicht wurde, seinem Charakter nach aber keineswegs dort entstanden sein kann, sondern aus dem Orient gekommen sein dürfte, wo seine Entstehung im Zusammenhang mit unterirdischen Gruppen jüdischei Gnosis am verständlichsten wäre. Ich habe darüber in meinem oben erwähnten Buch über den Ursprung der Kabbala ausführlich gehandelt wo ich die Analyse dieser ältesten Quelle genauer ausgeführt habe.

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Auf jeden Fall wurden also diese religiösen Bewegungen in Europa von einigen Familien getragen, um die sich Menschen gruppierten, die sich einer bestimmten Lebensart verschrieben hatten, nämlich einer das kontemplative Leben im Unterschied zum aktiven begünstigenden Lebensart. Die Chassidim in Deutschland bildeten keine festen Gruppen, sondern waren Einzelne, die verstreut in den kleinen oder größeren Gemeinden der deutschen Juden dem chassidischen Ideal nachlebten. Die Anfänge der Kabbala aber sind mit der Existenz einer gewissen Schicht im französischen Judentum verbunden, deren Mitglieder in den zeitgenössischen Dokumenten nur selten Chassidim heißen, sondern meistens Pruschim, wörtlich Abgesonderte, oder Nesirim, Nasiräer. Im Sprachgebrauch der Zeit waren das Synonyma. Ein Parusch (Pharisäer) ist einer, der sich vom weltlichen und prophanen Leben zurückgezogen, abgesondert hat. Im selben Sinn wird hier der Begriff Ν asir verwendet, worunter nicht jemand verstanden wird, der die spezifischen biblischen Gelübde des Nasiräers abgelegt hat, sondern im Allgemeinen ein Mensch asketischer Lebensart. Die Gemeinden bestellten Männer, wahrscheinlich eines bestimmten Typus, die einem kontemplativen Leben zuneigten, um ihre ganze Zeit ·— von weltlichen Geschäften nicht gehindert — dem Tora-Studium, also der Pflege eines im hohen Grade kontemplativen Wertes zu widmen. So entstand also um diese Zeit eine Schicht von „Gemeinde-Asketen" wie wir sie nennen könnten. Angehörige dieser Schicht dürften die wichtigsten Träger der neuen mystischen Bewegung im Judentum gewesen sein. Hier, in Deutschland und Frankreich, sind dem Einfluß des Moses Maimonides, der größten intellektuellen Autorität des zeitgenössischen Judentums im 12. Jahrhundert, feste Grenzen gesetzt. Zwar als Gesetzeslehrer, als großer Kodifikator der Halacha, des normativen Judentums, ist er auch hier durchgedrungen ; als Philosoph aber stand man ihm mißtrauisch und mißmutig, wenn nicht in entschiedener Abwehr gegenüber. Warum ? Weil man in ihm einen Grenzüberschreiter des integralen Judentums sah, der das ursprünglich ungebrochene Judentum der talmudischen Periode ideologisch umbaut, es einer aufklärerisch-rationalen Umdeutung unterzieht. Nun kann man natürlich sagen, daß in einem gewissen Sinn die Mystiker dasselbe tun. Die geistige Bewegung des Mittelalters verwandelt das alte Judentum. Weder die rationalen Philosophen und Aufklärer noch die Kabbalisten und Mystiker können noch als Repräsentanten der alten ursprünglichen, sich zu ihren Gegenständen naiv verhaltenden, jüdischen Welt angesehen werden, die bei aller starken Gegensätzlichkeit und Spannung doch tief in ihre ursprüngliche palästinensisch-babylonischsyrische Umwelt eingebettet ist. Die neue islamische und christliche Umwelt und der Status des Judentums in ihr brachten Veränderungen

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hervor, die das talmudische Judentum selber zum Problem werden ließen. Die Aufklärer, die von Mystik weit entfernt sind, und die Mystiker reinterpretieren das alte Judentum. Beide suchen in ihm eine neue Dimension aufzureißen, die, indem sie das Alte zu bestätigen scheint, es verwandelt. Sie akzeptieren die rabbinische Tradition, aber sie verwandeln sie in der umdeutenden Rezeption. Das ist all diesen Strömungen gemeinsam, so feindselig sie sonst zum Teil einander gegenüberstehen. Sie stellen in einem präzisen Sinne Ideologien des Judentums dar, das sich in ihnen nicht mehr naiv selbst ausspricht, unproblematisch und ohne Gebrochenheit der Beziehung zu den eigenen Sachverhalten. Für die Aufklärer der Schule des Maimonides verwandelt sich das Judentum in ein Beziehungsnetz von Allegorien. Die Allegorie bildet für sie das konservative, unrevolutionäre Denkmittel der Kritik. Spricht doch in jeder Allegoristik, als ihre geheime Triebfeder, auch immer die Kritik mit. Mit Hilfe der allegorischen Interpretation des Sinnes der Schrift und der Gebote ließ sich die Brücke herstellen, auf der das rabbinische Judentum als ein populärer, für die breite Masse geplanter Ausdruck der selben tiefen Wahrheiten erscheint, die sich in rein philosophischer Weise in der Metaphysik des Aristoteles niedergeschlagen haben. Die Allegorie ermöglicht die Beziehung dieser beiden Welten aufeinander. Die Macht der jüdischen Philosophie des Mittelalters, soweit sie eine darstellt, ist die Macht der Allegorie, und ihr Leben ist das Leben der Allegorie. Die Mystiker aber waren im Entscheidenden keine Allegoristen ; sie waren in einem präzisen Verstand des Wortes Symboliker. Wenn ich hier von dem Heraufkommen der Welt der Symbole im Judentum der Mystiker, im Unterschied zu der Welt der Allegorie bei den Aufklärern spreche, so verstehe ich darunter folgendes: die Sachverhalte, die von der Allegorie betroffen werden, können auch anders ausgedrückt werden. Allegoria heißt im Griechischen: etwas auf andere Weise, bildlich, durch die Blume sagen. Wenn die Wahrheiten der Religion Allegorien darstellen so waren sie das nach Auffassung der Allegoristen, weil Umstand« historischer oder volkserzieherischer Art die Verfasser der Schrifi veranlaßten, ihre Wahrheit allegorisch zu verkleiden. Das Allegorisch* kann stets auch auf andere Weise ausgedrückt werden, es ist imme: übersetzbar, auf anderes in der Welt Befindliches beziehbar. Symbol· im genauen Verstände aber betreffen Sachverhalte, die sich nicht ii sich selbst, sondern ausschließlich in der Transparenz in anderei Dingen, in anderen Sachverhalten offenbaren und mitteilen. Symbol können nicht übersetzt werden. Sie drücken etwas aus, was nich ausdrückbar ist, was sich der sprachlichen Mitteilung auf direkt Weise entzieht. In den Symbolen der Mystiker scheint eine Welt de Transzendenz, die unserer Sprache entrückt ist, hindurch. Ein Syrr

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boliker in diesem exakten Verstände ist also jemand, dem die Welt in ihrer geschlossenen Innerweltlichkeit transparent wird und dem aus der Realität der Dinge selber etwas Ausdrucksloses, etwas was in sich selber nicht erscheinen könnte, etwas Göttliches, erscheint. Der historische Vorgang, der mit dem Auftauchen der Kabbala beginnt, akzeptiert zwar die Wirklichkeit des rabbinischen Judentum, verwandelt sie aber symbolisch. Würden die Kabbalisten diese Wirklichkeit nicht akzeptiert haben, wären sie Häretiker geworden, und davon waren sie, zumindest in ihrem Bewußtsein, weit entfernt. Die Welt der Kabbalisten ist die Welt des überlieferten Judentums, wie sie unter der Sicht der Symboliker erscheint und die sich unter dieser Sicht selber nicht weniger tief verwandelt wie etwa die Allegoristen die Welt des zeitgenössischen Judentums verwandelt haben. Man darf sagen, daß nach der Aufklärung und der Mystik des 12. und 13. Jahrhunderts das Judentum nie mehr dasselbe war wie vorher. Der Prozeß, in dem sich diese Verwandlung des Judentums in ein Corpus Symbolicum vollzogen hat, hat lange Zeit beansprucht. Er begann eben in jener provenzalischen Familie in Narbonne, von der ich oben sprach. Er findet seinen ersten Höhepunkt in der Erscheinung Isaaks des Blinden, des ersten jüdischen Mystikers, von dem wir überhaupt nur kabbalistisches, nichts aus dem Gebiet talmudischer Gelehrsamkeit besitzen. In ihm haben wir einen reinen Typus eines kontemplativen jüdischen Mystikers um 1200. Unter der Anregung dieser bedeutenden Erscheinung und der Gruppe seiner Schüler hat sich dann die Kabbala des 13. Jahrhunderts vor allem in Spanien zu einer bedeutenden Macht im zeitgenössischen Judentum entwickelt, die ihren wichtigsten literarischen Niederschlag am Ende des 13. Jahrhunderts schließlich im Buche Sohar, dem wichtigsten Produkt der älteren kabbalistischen Literatur, gefunden hat. In diesem Prozeß beginnt die Verwandlung des Judentums, das Heraufkommen einer neuen Welt mystischer Symbole. Die alten Worte, die alten Gebote und Handlungen, die zu dem Juden sprechen oder ihm auferlegt sind, werden transparent, es erscheint in ihnen etwas Neues. Das wichtigste Medium, in dem der hier einsetzende Prozeß sichtbar wird, ist das der mystischen Exegese der Schrift. Die Philosophen hatten die Schrift allegorisch erklärt, um eine Brücke zu der Wahrheit der rationalen Welt der Griechen, des Plato und des Aristoteles, zu schlagen. Die Mystiker aber fanden in der Tora darüber hinaus das unendlich facettenreiche, in unendlichem Sinnesreichtum aufleuchtende Licht, das nun die Entdeckung neuer Sinnesschichten, die symbolische Einsicht in die Geheimnisse des göttlichen Wesens ermöglicht. Diese Art der mystischen Exegese beginnt bei den deutschen Chassidim. Sie schufen eine eigene Literatur, in der vor allem mit Hilfe von Zahlenmystik Zusammenhänge der Worte oder

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Sätze der Schrift mit anderen Worten und Sätzen, aber auch mit göttlichen Namen oder den engelhaften Wesen der Merkaba aufgedeckt wurden. Die Zahlenspiele oder Zahlharmonien dieser Exegese sind für uns befremdender und unzugänglicher als die eigentlich kabbalistischen Interpretationen mit ihrer theosophisch-vertieften und dann ins große Symbolische gehenden Art. Der Wortsinn der Tora, an dem noch die großen Exegeten der spanischen und französischen Judenheit des 11. und 12. Jahrhunderts so intensiv gearbeitet haben, das wissenschaftliche Verständnis der Schrift, wird nicht abrogiert, aber das Wort der Schrift wird den Mystikern transparent. E s eröffnen sich in ihm unendliche Tiefen. In jedem Worte leuchten unendlich viele Lichter auf. Jedes Wort hat ,,70 Gesichter", und das heißt im Grunde unendlich viele. So beginnt sich in dieser Gruppe die Auffassung durchzusetzen, die für die Geschichte der Kabbala von großer Bedeutung geworden ist, nämlich die These von der unendlichen Sinnesfülle des göttlichen Wortes. Das ist ein theologischer Satz, der für das religiöse Denken ein überwältigendes Maß von Evidenz besaß. Wenn anders es ein Wort Gottes gibt, so mußte j a solches Wort seinem Wesen nach unendlich bedeutungsvoll sein. Der Wortsinn der Schrift wird zu einer Art Glasfenster, durch das man in die Mysterien hineinschaut, die in diesem Wort als einer lebendigen Mitteilung der göttlichen Offenbarung sichtbar werden. Die ersten mystischen Exegesen durchgeführter Art stammen aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts und haben sich mit großer Intensität weiter entwickelt. Auch die Thesen über den Sinn dieser Auffassung der Schrift, die mit große] Schärfe und viel Tiefsinn formulierte Theorie von der unendlicher Sinnesfülle des göttlichen Wortes findet sich um 1200 in den Schrifter der Kabbaiist en. Dazu tritt ein weiteres Moment, das für das Verständnis der Funk tion der Mystik in dem lebendigen Verband des Judentums von große Bedeutung ist. Es ist einleuchtend, daß Mystik des Judentums ii einem entscheidenden Sinn Mystik der Tora ist, da j a die Tora di wichtigste geistige Erscheinung des Judentums darstellt. So ist den; die Mystik hier eine Mystik des Torawortes, die auf einer mystische: Erweiterung oder Auffassung des Satzes von der Verbalinspiratio der Offenbarung beruht. Aus der Natur der mystischen Intentio auf die Verbindung mit dem Göttlichen heraus ist aber auch verstänc lieh, daß solche Mystik ein weiteres Gebiet betrifft oder umfaßt, nän lieh die Gebetsmystik. Darin begegnen sich jüdische und christlict Mystik in einem wichtigen Punkte, so grundverschieden die Entwicl lungen sind, die die Gebetsmystik in beiden Bewegungen genomme hat. Das Gebet ist das natürliche Medium, in dem der Gläubige m seinem Gott in Verbindung tritt. So ist das lebendige Gebet, d; Gebetsleben des Menschen der natürliche Träger möglicher mystisch

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Bewegungen. Das Gebet richtet sich auf irgend etwas, es kommt irgendwo nach Hause. Es kann also nicht verwundern, daß in diesem Bezirk Mystisches aufbricht. Sowohl die deutschen Chassidim wie die ersten Kabbalisten in Frankreich sind große Beter und sind die ersten, die im Judentum eine kontemplative Gebetsmystik entwickelt haben. Diese besondere Bedeutung der jüdischen Gebetsmystik liegt in einem Moment, von dem ich hier kurz handeln will. Im rabbinischen Judentum ist das Gebet seiner wesentlichen Natur nach eine Veranstaltung der Gemeinde. Nicht der Einzelne ist es, der hier spricht, sondern höchstens der Einzelne als Mitglied der Gemeinde. Die wichtigsten jüdischen Gebete sind etwa 2000 Jahre alt und stammen aus der Zeit kurz vor und kurz nach der Entstehung des Christentums. Sie stellen keine individuellen religiösen Ergüsse des Einzelnen dar, sondern sprechen das Fühlen der Gemeinde aus. Man darf also sagen, daß diese Gebete, deren klassische, dem frommen Juden vertraute Texte von großer Klarheit, Einfachheit und Wortkargheit sind, eine Institution durchaus unmystischer Art bilden. In ihnen kommt die Anerkennung von Gottes Königtum durch die Gemeinde zum Ausdruck. Zwar sind individuelle Gebete möglich, sie haben aber religiös bei weitem nicht den Stand, den für das Leben der Juden vor allem in der Diaspora das synagogale Gemeindegebet besaß. Tora und Gebet bilden so einen natürlichen Wertzusammenhang, der der jüdischen Tradition geläufig ist. Die höchsten geistigen Werte, die das Judentum kennt, werden in ihrem Vollzug realisiert. Ein spanischer Rabbi schrieb: „In der Tora spricht Gott zum Menschen; im Gebet spricht der Mensch zu Gott." Diese beiden Arten des „Sprechens" werden von der Mystik des Judentums ergriffen. Freilich hängt sich die jüdische Mystik auf eine entschieden andere Art an das Gebetsleben als etwa in der christlichen Mystik. In dieser letzteren haben wir eine reiche Produktion mystischer Gebete und Ergüsse. Die Mystiker kleideten das, was sie zu sagen hatten, ihre Erleuchtungen, in Gebete ein. Von solcher Produktion geben etwa jene Ergießungen einer mystischen Seele aus Byzanz Kunde, die wir in den Hymnen Simeons des neuen Theologen besitzen. Ganz anders verhält es sich mit den Kabbalisten, und vor allem mit den ältesten. In der späteren Zeit, wo die Kabbala das Ganze des Judentums durchwächst und auch eine große gesellschaftliche Macht wird, die sich ihre eigenen Formen schafft, liegen die Dinge anders. Aber gerade von den Kabbalisten der ersten Hauptperiode gilt, daß sie kaum, oder nur in sehr geringem Umfang, eigene Gebete im Sinne ihrer spezifischen Vorstellungen verfaßt haben. Hier und da haben sich uns in den Handschriften solche mystischen Individualgebete erhalten. Das Entscheidende, für die Gestaltung der jüdischen Mystik

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außerordentlich Folgenreiche bestand aber in der Verwandlung des Gemeindegebets in einen mystischen Vorgang im Kreise der Kabbalisten. Das Gebet der Mystiker benützt den überlieferten Wortlaut des Gemeindegebets, schmilzt ihn aber kontemplativ auf, ähnlich wie das Wort der Tora hier in die Unendlichkeit der Bedeutungen aufgeschmolzen wird. Die Worte des Gebetes bilden ein Geländer, an dem die Betrachtung des Mystikers im Gebete sich nach vorwärts tastet, in die Tiefen oder Höhen der Gottheit und des Unendlichen. War das Mittel der Verwandlung der Tora in einen mystischen Text, der unerhörte Dimensionen annehmen konnte, die mystische Exegese, so ist das Mittel der Verwandlung des Gebets in einen mystischen Vorgang das, was man im Hebräischen Kawwana nennt. Kawwana heißt ursprünglich Absicht, genaue Intention, die Konzentration des Gemütes auf einen Gegenstand. Die religiösen Vorschriften und Gebote etwa sollen mit Kawwana vollzogen werden, das heißt man soll den Sinn auf das richten, was man zu tun vorhat. Dabei wird Kawwana dann auch in einem weiteren Sinne zur Andacht oder religiösen Innigkeit. Bei den Kabbalisten bedeutet dieser Begriff in einem präziseren Sinne eben diese erwähnte Verwandlung der Worte im Gebet, die aus ihnen symbolische Indizien für den Aufstieg in die Welt der göttlichen Sphären macht. Die alten jüdischen Merkaba-Mystiker im 2. und 3. Jahrhunderl gingen in der Ekstase selber vor Gottes Thron. Die mittelalterlicher Mystiker des Judentums sind aber nur selten und nicht entscheiden« Ekstatiker. Für sie stellt die Ekstase nicht das eigentliche Mediun dar, in dem sich ihre Erfahrungen abspielen. Für sie wird das Mediun dieser Erfahrung von dem hebräischen Begriff Debekuth bezeichnet was wörtlich Anhangen an Gott, adhaeresis, oder, was den Sinn wot am genauesten trifft, communio bedeutet. Dies Anhangen an Gott is ursprünglich ein biblischer Begriff, der dann von den Mystikern a] der höchste Wert der kontemplativen Mystik im Judentum angesehe wurde. Der Mensch kann sich nicht mit Gott vereinen, aber er kan mit ihm in communio treten. Mystische Vereinigung mit Gott ist ii Judentum nur überaus selten vertreten, gelehrt oder als Möglichke behauptet worden. Wieweit die Reden der Kabbalisten und Chassidi: von der Debekuth mitunter auch das Erlebnis der unió mystica ei schließen, ist nicht immer eindeutig zu entscheiden. Betont, ja i Zentrum gestellt wird stets die lebendige communio, das intime Na Beieinandersein, in dem der Mensch sich dem Göttlichen unendli nahe weiß und sich doch nicht mit ihm vermischt. So ist in der Del kuth die intimste Verbindung mit Gott, die jenseits der unio mysti denkbar ist, mindestens nach ihren eigenen jüdischen Voraussetzung widerspruchsfrei denkbar. Natürlich läßt sich fragen, ob das nie

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nur eine Interpretation des mystischen Vorgangs ist, die sich bewußt vorsichtig zurückhält. Vielleicht umschließt sie weitergehende Möglichkeiten. Das müßten wir diejenigen fragen, die es erfahren haben. Die Kawwana im Gebete hängt mit diesem Ideal der communio zusammen. Sie verwandelt jedes Wort, indem sie für jedes Wort die Meditationsanweisungen angibt, durch die dieses Wort sozusagen aufgerissen wird, es in einen Namen Gottes verwandelt wird oder in einen Strahl des göttlichen Lichtes. Sie zeigt den Weg auf, der in diesem, wenn ich mich so ausdrücken darf itinerarium mentis ad deum, beim Aufstieg in die höchsten Sphären und Manifestationen des göttlichen Lichtes, in die Urgründe des göttlichen Seins eingeschlagen wird. Ohne den überlieferten Wortlaut des Gebetes zu ändern, gibt die Kawwana einen Weg frei, nämlich den der mystischen Meditation im Gebet, durch den das alte, festgefügte Gebet nun ein individueller mystischer Vorgang in der Seele des Einzelnen wird. Unter dem irreführenden Titel von Kommentaren zu den Gebeten besitzen wir solche Meditationsanweisungen zur mystischen Versenkung in die Tiefen der Gottheit in der Stille des Gebets. Diese Verwandlung erfüllt die überlieferten Formen des Gebets mit einem neuen sonderbaren Leben, das ihm seiner ursprünglichen Natur nach fremd ist. Die Meditationsmystik erleuchtet die Gebete von innen her und verleiht ihnen einen ganz neuen Sinn und eine neue Lebendigkeit. Dieser Prozeß der Einführung der mystischen Intention in die Praxis des Gebets, sei es des Einzelnen, sei es der Gemeinde, ging nicht ohne schwere Spannungen ab. An Protesten gegen die Praxis der Kawwana hat es nicht gefehlt. Natürlich wird der Mystiker versuchen, mit gleichgestimmten, meditativ gerichteten Menschen zusammen zu beten und sich der Versenkung zu widmen. Aber dies ist nicht notwendig. Er kann auch mit der Gemeinde beten und im mystisch vollzogenen Gemeindegebet seine Intention zu erfüllen suchen. Es ist eine offene Frage, wie groß der Anteil der deutschen Chassidim an der Einführung der Kawwana im Gebete war. Sicher ist jedenfalls, daß die Gebetsmystik vom Chassidismus und der ältesten Kabbala ausgehend die Liturgie langsam und immer weiter durchwächst und verwandelt. Viele Jahrhunderte lang steht das innere Leben der jüdischen Kabbalisten unter ihrem Zeichen. Noch heute gibt es in Jerusalem einige Synagogen der Mekawwenim, wie sie sich nennen, das heißt derer, die mit solcher mystischen Kawwana beten. Hier ist das Gebet ein ganz nach innen gerichtetes kontemplatives Ereignis. Neben die bereits erwähnten sachlichen Zentralpunkte mittelalterlicher jüdischer Mystik tritt ein drittes Zentrum, das noch erwähnt werden muß, nämlich die mystische Lehre von der Einheit Gottes in seiner Lebendigkeit. Der Monotheismus bildete den kostbarsten Besitz der jüdischen Überlieferung. Damit ist aber die Einheit Gottes als einer Med. IV

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der natürlich gegebenen Gegenstände der mystischen Betrachtung evident. Die Meditationen der Mystiker über die Einheit Gottes haben die besondere Theosophie der Kabbala hervorgebracht. Diese Theosophie betrifft die Lehre von dem Herabsteigen des verborgener Gottes — der hier als das Unendliche, Unnennbare, Unerkennbar« und Unerschaubare allem menschlichen Begreifen entrückt wird — in die Manifestation seines Wesens in den zehn Urkräften oder Ur gründen seines Seins, in denen er sich in der Schöpfung und an de: Schöpfung manifestiert. Diese zehn Stufen, in denen die Natur de: lebendigen und wirkenden Gottes sich offenbart, heißen bei dei Kabbalisten Sephiroth, eine Bezeichnung, die sie einem alten esote rischen Text aus der talmudischen Zeit, dem Buch der Schöpfung entnommen haben. Dort werden unter Sephiroth wörtlich Zahlen ode Urzahlen verstanden, womit die Idealzahlen der Pythagoräer gemein waren, welche in diesem alten hebräischen Text die Urkräfte de Schöpfung bilden. Bei den Kabbalisten sind die Sephiroth aber nich mehr Zahlen, sondern die verschiedenen Aspekte des göttliche Lebens und die Stadien, die dieses Leben in seiner Offenbarung an di Schöpfung durchmacht. Die Lehre von der göttlichen Einheit vei wandelt sich in den Händen der Kabbalisten zu einer Theosophie vo den Tiefen der göttlichen Lebendigkeit, die ihre Einheit in ihre Dynamik hat. Vom verborgenen Gott, Gott in sich selber, läßt sie nur in Verneinungen sprechen. Darin stimmen die Kabbalisten m Maimonides über ein, wie denn beide in ihrer Theologie von der nei platonischen Tradition, wenn auch in sehr verschiedener Weis beeinflußt waren. Positive Aussagen über Gott lassen sich nur üb« den Bezirk seiner Emanation oder Manifestation in den zehn Seph roth machen. In der Entwicklung der kabbalistischen Theosoph bildete sich eine neue Symbolwelt von den Tiefen der Gottheit ur ihres sephirothischen Lebens. Die jüdischen Philosophen des Mittf alters kannten als höchsten Grad der Ontologie allein die Welt d reinen Formen, die mit den Engeln identifiziert wurden. In der kabb listischen Theosophie aber öffnet sich ein Bezirk des Seins, wenn au< nur in Symbolen erfaßbar, der über der Engel-Welt steht. Die K a b b listen stellten alle möglichen Spekulationen über den Zusammenha! dieser Sephiroth mit der Schöpfung selber an, und damit war der W für viele neuen Entwicklungen und Ideen freigegeben, wie sie dann c weitere Geschichte der jüdischen Mystik bestimmen. Historisch läßt sich der Prozeß, der sich bei den Kabbalisten Süd-Frankreich und Spanien vollzieht, am besten charakterisieren ; Einbruch der neuplatonischen Tradition und neuplatonischer Om logie und Mystik in die ältere jüdische Esoterik. In dieser spielte c Neuplatonismus keine Rolle. Auch die Chassidim in Deutschla waren keine philosophisch gestimmten Geister. Sogar wenn zu ihn«

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was sich in der Tat nachweisen läßt, hier und da neuplatonisches Lehrgut gelangt ist, wurde es seltsam ins Mythische zurückverwandelt und verlor seine eigentlichen philosophischen Gehalte und Bedeutungen. Bei den Kabbalisten dagegen, die in einer hochgebildeten jüdischen Gesellschaft wie der der Provence und Spaniens wirkten, brach die neuplatonische Gedankenwelt mit großer Wucht in alte gnostische Traditionen ein, die nicht dort entstanden, sondern die — unklar wann — auf uns nicht deutlich faßbaren Wegen aus dem Orient herübergekommen waren und im 12. Jahrhundert eine neue Virulenz erlangen. In dieser alten gnostischen Welt gab es einen einlinigen Aufbau von oben nach unten, der im Grunde eine Linie des Verfalls darstellt. Dem gegenüber macht sich nun die neuplatonische Doppellinie der Ausbreitung aus Gott und der Wiederkehr zu Gott geltend: „Alles stammt aus dem Einen und Alles kehrt ins Eine zurück", wie der große neuplatonische Satz lautet. Diese Welt des Neuplatonismus mit seiner spezifischen Hierarchie des Seins — Intellekt, Seele und Natur — bricht in die Welt der Kabbala ein und erscheint in den ältesten Texten der spekulativen Kabbalisten in der Provence. Diese schreiben nun nicht mehr in der Sprache alter Mythologeme, wie sie das Buch Bahir noch spricht, das biblische und rabbinische Worte und Begriffe gnostisch umdeutet, sondern in der Sprache feierlicher und abstrakter Symbole, in denen die philosophische Terminologie unerwartet Schwingen zu bekommen scheint und uns in dem feierlichen Faltenwurf und dem Tiefsinn, der den Worten der philosophischen Sprache plötzlich zuwächst, an die überschwängliche und abgründige Sprache des christlichen Mystikers in Byzanz erinnert, der unter dem Namen des Dionysius Areopagita schrieb. Und in der Tat liegt hier ein Problem vor, auf das ich zum Abschluß wenigstens hinweisen möchte. Woher kam dieser große neuplatonische Einbruch, den wir um 1200 in der Provence und gleich danach in Katalonien bei den Kabbalisten finden? Die jüdisch-arabische Tradition des Neuplatonismus und die dort geprägte Terminologie, wie sie in der Quelle des Lebens des Salomo ibn Gabirol ihren Höhepunkt fand, reicht nicht aus, dieses Phänomen in Detail zu erklären, so sehr wir immerhin mit dem Vorhandensein von Einflüssen aus dieser Linie her rechnen müssen. Aber in den ersten Texten präzis formulierter kabbalistischer Mystik ist die Lehre von der Gottheit in ihrer sephirothischen Entfaltung und der Einheit Gottes in seiner Dynamik in einer Art entwickelt, die von dort her nicht erklärt werden kann. J e mehr ich mich in diese Fragen versenkt und versucht habe, die Zusammenhänge zu erkennen, und je mehr ich in diesen Dingen zu irgend einer Klarheit gekommen bin, desto dringlicher erscheint es mir, die mögliche Verbindung zwischen den ältesten Formen der neuplatonischen Sprache und Gedankenwelt bei den Kabbalisten und der christlichen neuplatonischen Tradition 4*

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zum Problem zu machen und in das Zentrum weiterer Forschung zu stellen, die uns als wissenschaftliche Aufgabe beschäftigen sollte. Was hier in den kabbalistischen Texten hebräisch vorgetragen und auf Fragen der jüdischen Spekulation angewandt wird, ist nicht der originäre arabische Neuplatonismus. Die Kabbalisten haben die neuplatonischen Elemente in der Gedankenwelt des Maimonides, die eine verwandte Saite in ihnen anklingen ließen, sehr wohl bemerkt und unterstrichen — nicht viel anders, wie in der Welt der christlichen Mystik Meister Eckhart diese Elemente in Maimonides, dem „Rabbi Moses Aegyptus", gespürt und herausgezogen hat. Aber die technische Sprache dieser neuplatonsichen Texte der Kabbalisten im Hebräischen ist völlig rätselhaft, sie stammt nicht von Gabirol und Moses ibn Esra, von denen es zweifelhaft ist, ob die Kabbalisten ihre Schriften gelesen haben; sie stammt auch nicht von Isaak Israeli, dessen Schriften zum Teil den ältesten Kabbalisten in hebräischer Ubersetzung bekannt waren, wenn auch nicht unter seinem Namen, sondern als Darlegungen Piatos oder Aristoteles'. So fragt sich denn, ob eine Brücke besteht zwischen dieser neuplatonischen Sprache der ältesten Kabbalisten und dem bedeutendsten platonischen Denker des christlichen Mittelalters, dem Johannes Scotus Erigena, dessen philosophischer Genius am Anfang der christlichen Philosophie des Mittelalters steht. Erigenas zu seiner Zeit sehr einflußreiches Werk De divisione naturae stammt zwar aus dem 9. Jahrhundert, erlebte aber gerade im 12. Jahrhundert eine erneute starke Wirkung. Nicht weit von Regensburg, wo Rabbi Juda Chassid lebte, saß Honorius Augustodunensis, der ein Werk ,,Clavis Physicae" ganz im Geiste des großen Entwurfs des Erigena schrieb, über das wir durch die Forschungen von Mlle Marie-Therèse d'Alverny neue Aufschlüsse erhalten haben. Aber auch heterodoxe Köpfe begannen in jener Zeit, sich der Gedankenwelt des Erigena zu bedienen, wie David von Dinant und Amalrich von Bena. Das Auftauchen theologischer Häresien in diesen Kreisen führte dann am Anfang des 13. Jahrhunderts zu dem großen Prozeß um die Schriften des Erigena, der 1225 mit der Verurteilung seines Werkes durch den Papst Honorius I I I und mit dem Befehl zui Vernichtung sämtlicher Exemplare des Buches in den Klosterbiblio theken endete. Diese Prozesse, berühmte Vorgänge der mittelalter liehen Philosophiegeschichte, erregten damals großes Aufsehen. Di< Aufregung um das Auftreten der pantheistischen Sekten in Frank reich, die sich auf Erigena beriefen, und Prozesse gegen deren Anhänge und über die Schriften des Erigena fallen genau in die Jahre, in dene: wir zuerst die bisher unerklärten neuplatonischen Elemente in de Texten der ältesten Kabbalisten finden, bei Isaak dem Blinden un seinen Schülern, sowie in parallelen Kabbalistengruppen, deren Ar gehörige unter Pseudonymen und unter pseudepigraphischen Vei

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kleidungen schrieben. Es ist durchaus plausibel, daß die Aufregung um diese Dinge in gebildeten christlichen Kreisen dazu beitrug, daß Nachrichten und Mitteilungen über die Vorstellungen Erigenas auch in jüdische Kreise drangen, sei es auf dem Wege mündlicher Mitteilungen und Diskussionen zwischen gebildeten Klerikern und Juden, sei es durch direkte Lektüre lateinischer Quellen. Diese Linie von Erigena zu den ältesten Kabbalisten in der Provence war bisher ganz verborgen, aber in der Tat scheinen mir die Vorstellungen und die Terminologie dieses Denkers sehr geeignet, Licht auf einen möglichen Zusammenhang der christlichen und der kabbalistischen neuplatonischen Tradition zu werfen. Es ließe sich eine lange Liste von Übereinstimmungen überraschender Natur anführen. Dabei handelt es sich ebenso sehr um hebräische Termini, die nicht aus dem Arabischen, sondern aus dem Lateinischen verständlich werden, als um verwandte Vorstellungen und Symboliken. Natürlich konnten gewisse Affinitäten, wenn einmal mystisches Denken auf neuplatonischer Grundlage sich im Judentum zu entwickeln begann, auch ohne historische Abhängigkeit von Erigena auftreten, und der ähnliche Antrieb konnte verwandte Ideen und Denkstrukturen hervorbringen. So ist etwa die Lehre von den zehn Sephiroth gewiß nicht aus Erigena entstanden, sondern hat ihre durchaus nachweisbare innerjüdische Genealogie in dem Buch der Schöpfung und dem von philosophischer Spekulation nicht angekränkelten Buch Bahir. Dennoch bleibt es merkwürdig, daß in der Lehre des Erigena von den causae primordiales, von den Urgründen allen Seins, in die Gott in der Schöpfung hinabsteigt und in denen er sich gleichsam selber schafft, die größte Affinität zu der Lehre von den göttlichen Sephiroth vorliegt, die wir in der spekulativen Tradition des Abendlandes entdecken können. Es scheint mir evident, daß ein Text, in dem diese Lehre vorgetragen wurde, den Kabbalisten, falls sie ihn lasen, überaus verwandt vorkommen mußte und daß die beiden Lehren gerade in diesem Punkte leicht verschmelzen konnten. Auch in der Bibelexegese finden sich hier mitunter erstaunliche Übereinstimmungen. Ich will in diesem Zusammenhang nur auf die mystische Umdeutung der Lehre von der Schöpfung aus Nichts hinweisen, die dem Erigena und den ältesten Kabbalisten bei ihrer Erklärung des ersten Kapitels der Genesis gemeinsam ist. Das Nichts, aus dem alle Dinge geschaffen sind, ist danach nicht etwas Negatives, ein wirkliches Nichts, sondern ein Ubersein Gottes oder des göttlichen Willens, das nur symbolisch, der Abwesenheit aller Bestimmungen an ihm wegen, als Nichts bezeichnet wird. Die so umgedeutete Schöpfung aus Nichts besteht in beiden Fällen in der Hervorbringung der göttlichen Weisheit, sei es als zweiter Sephirah wie bei den Kabbalisten, sei es als Inbegriff der causae primordiales wie bei Erigena. So liegt denn hier ein wichtiges Problem vor, dessen Lösung vielleicht bei

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günstigen Funden oder bei weiterer Vertiefung unserer Analysen eine echte Bereicherung des Wissens über die Zusammenhänge von christlicher und jüdischer Spekulation im Mittelalter auf eine ganz unerwartete und von niemand vorausgesehene Weise bringen kann. Dies sind einige Punkte, durch deren Erörterung, wie ich glaube, sich die Atmosphäre umschreiben läßt, in der im mittelalterlichen Judentum die Mystik hochkam und in der sie dann zu jener Macht werden konnte, als die sie sich in den Stürmen der jüdischen Geschichte in ganz anderem Maße als die rationale jüdische Philosophie bewiesen hat. Denn man darf wohl sagen, daß die Mystik im Judentum in hohem Grade geschichtsträchtig war. In dem selben Maße, in dem die jüdische Philosophie in diesen Stürmen ihren Einfluß oft verloren hat, haben die jüdischen Mystiker geglaubt, die reale Existenz der Juden mit den Abgründen der göttlichen Transzendenz in ihrer symbolischen Weltauffassung verbinden zu können und sind dadurch zu immer größerer Bedeutung in der Geschichte des Judentums gelangt und haben eine Wirkung ausgeübt, die noch heute keineswegs ganz verschwunden ist.

DAS „BUCH D E R FROMMEN" ALS AUSDRUCK DES VOLKSTÜMLICHEN GEISTESLEBENS D E R DEUTSCHEN J U D E N IM MITTELALTER Zur Entstehung des aschkenasischen VON RAFAEL

Judentums

EDELMANN

Mit dem Sefer Hâsîdîm, dem Buch der Frommen, begeben wir uns hinein in das 12. und 13. Jahrhundert, die Periode in der Geschichte des Judentums, in der das aschkenasische, d. i. das deutsche und osteuropäische Judentum entstand und geformt wurde, in der diejenigen Züge, die es von dem sefardischen (spanischen) und orientalischen Judentum unterscheiden, ausgebildet wurden, Züge, die bis zum heutigen Tage erkennbar sind. In dieser Periode besonderen religiösen und kulturellen Schaffens geschieht auch ein Wiederaufleben der talmudischen Tätigkeit, wie sie sich Jahrhunderte früher in Babylonien entfaltet hatte. Auf allen Gebieten des jüdischen Kulturlebens finden wir eine Hochblüte. Es ist die Zeit der Tossafisten, der jüdischen Glossatoren, derjenigen Talmudgelehrten, die, anfangend mit den Enkeln und Schülern Raschis, auf die alte analytische Methode der babylonischen Talmudweisen zurückgreifen und darin zur Meisterschaft gelangen. Es ist zugleich die Periode, in der die aschkenasische Bibelexegese aufblüht und ihren Höhepunkt erreicht. Auf dem Gebiete der synagogalen Poesie schaffen Dichter und Gelehrte liturgische Gedichte, die heute noch in den aschkenasischen Riten des jüdischen Gottesdienstes ihren Platz haben, und Klagelieder, in denen sie dem grausigen Schicksal der jüdischen Gemeinden und der jüdischen Menschen, das seit dem ersten Kreuzzug über sie hineingebrochen war, und unter dessen Drohung sie ständig standen, ergreifenden Ausdruck verliehen. Bei all ihrer Tragik in politischer und bürgerlicher Beziehung war doch diese Zeit die geistige Krönung einer Folge von Jahrhunderten, während derer die Juden im nordfranzösischen und westdeutschen Raum Wurzeln geschlagen und sich mit Landschaft und Volk verknüpft hatten. Von seinen Anfängen an war das Judentum eine auf der Religion basierte Kultur, unter den Juden erwachsen und von ihnen geformt und getragen. Sie bestimmte ihre Lebensweise und fand ihren stärksten Ausdruck in der jüdischen Gelehrsamkeit. Ihre vornehmste

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Gestalt war der Talmîd Häkäm, der Schriftgelehrte, mit dem Ehrentitel Rabbi, d. i. Meister. Er verwaltete das überlieferte Lehrgut, die Tora, und arbeitete mit allen seinen geistigen Fähigkeiten, mit der ganzen Spannweite seines Intellekts und der Fülle seiner moralischen Kraft an deren Durchdringung, an deren Weiterbildung und Verwendbarmachung unter jeweilig neuentstehenden Bedingungen und Verhältnissen. Der Talmîd Häkäm war das Bildungsideal des Juden. Einem jeden Juden war es gegeben, ein Talmîd Häkäm werden zu können. Jeder betrachtete es als seine Pflicht, sich die Tora in ihrer Ganzheit, das ist den Lehrinhalt des gesamten ererbten jüdischen Kulturgutes, anzueignen und darin einzudringen. Die Verbreitung der Tora und ihre Weitergabe an kommende Generationen war die wichtigste Aufgabe des Einzelnen wie auch der jüdischen Gemeinschaft. Es ist aber natürlich, daß nicht jeder Jude imstande war, den Weg zu vollenden, der zu diesem Bildungsideal hinführte. Dazu kommt, daß dieses Ideal sich auf die Männer bezog, während das Leben der Frauen sich um andere, mehr von Haus und Familie bestimmte Gebiete der jüdischen Kultur konzentrierte. Der Frauen, wie auch des einfachen Mannes. Der einfache, ungebildete Jude war auf sein« Weise, durch sein Leben in der jüdischen Gemeinschaft, mitschöpfenc an der jüdischen Kultur. Er lebte in ihrem Bereich, folgte ihren For men, war Bestandteil ihres Musters. Sein Schaffen war aber voi besonderer Art. Seine Vorstellungswelt deckte sich zwar weitgehend nicht aber ganz mit der des Talmîd Häkäm. Während der Talmîd Häkäm bewußt sein Leben und das de Gemeinschaft mit seiner Gelehrsamkeit unterbaute und jede Hand lung theoretisch zu begründen wußte, lebten in der Gedankenwelt de einfachen Juden zugleich Vorstellungen, die sich gleichsam an de: Randgebieten der Lehre und der Bildungswelt der Gelehrten en1 wickelt hatten. Wie in jeder Volksgemeinschaft, so lebte auch in der jüdischen sei jeher eine Volkskultur, die dem Kulturmuster der Gemeinschaft ein besondere Note verlieh. Das Zusammenleben mit der nichtjüdische Umwelt, die Begegnung mit ihr machte sich am deutlichsten in df Volkskultur bemerkbar. Denn trotz alles Trennenden lebten die Jude nicht in völliger Isolierung von ihrer nichtjüdischen Umwelt. Selb: in der Zeit der schärfsten Ausschließung, da die Einrichtung d( Ghettos am strengsten gehandhabt wurde, gab es Kontakte zwische Juden und Nichtjuden, und auch dann kann gegenseitige Beeinflu sung auf verschiedenen Gebieten nachgewiesen werden. In der Periode, in der das Buch der Frommen entstand, im Zeitrau zwischen etwa 1150 bis etwa 1250, bestand die Ghettomauer no< nicht. Sieht man von den direkten Verfolgungen während der ersti Kreuzzüge ab, so hatten die Juden sich bis dahin durch Jahrhunder

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so frei, wie es damals möglich war, unter ihren nicht jüdischen Nachbarn bewegt. Sie hatten Seite an Seite mit ihnen gelebt als eine der verschiedenen Gruppen, aus denen die bunte, gruppenweise aufgebaute mittelalterliche Gemeinschaft zusammengesetzt war. So hatten die Juden manche Vorstellungen, Begriffe und Gedanken von ihren Nachbarn aufgenommen. Manche Gebräuche ihrer Umwelt wurden bei ihnen heimisch, auch solche, die gegen das Religionsgesetz verstießen u n d die darum von den Gelehrten bekämpft wurden. Allmählich verschmolzen sie aber mit jüdischen Vorstellungen und wurden Elemente des jüdischen Volksglaubens. Wir haben somit innerhalb derselben jüdischen Volksgemeinschaft eine normgebende Schicht der Gelehrsamkeit, die das Leben der Gemeinschaft und ihrer Glieder reguliert, u n d daneben finden wir eine Volkskultur, die sich von altübernommenen jüdischen Sitten und Vorstellungen nährt, die aber zugleich auch Elemente von der Außenwelt aufnimmt. Auf der einen Seite stehen literarische Bildung und intellektuelle Spannweite, auf der anderen eine von Volkstümlichkeit geprägte Lebens- und Denkweise. Die Grenze ist aber schwer zu ziehen. Die Welt des jüdischen Gelehrten war der Talmud. Dieser war für ihn die Summe alles Wissens und der Maßstab aller Kenntnisse. Der Talmud umfaßte aber zugleich das Gesamtbild aller volkstümlichen Vorstellungen und Bräuche, die sich im Laufe früherer Jahrhunderte ausgebildet und angesammelt hatten und die die Grundlage der jüdischen Volkskultur ausmachten. J e nach Intellekt und Persönlichkeit waren nun die Gelehrten imstande, den Wert und die Bedeutung der einzelnen Phänomene, die nicht zum eigentlichen Gesetzesstoff (Halacha) gehören, also der sogenannten agadischen Bestandteile des Talmud, abzuschätzen. Entweder sahen sie diese als unverbindlich an und brauchten sie für erbauliche, homiletische und ähnliche belehrende Zwecke, oder aber sie betrachteten den agadischen Stoff als dem halachischen gleichwertig und in gleicher Weise religiös verbindlich. Das Vermögen und der Wille der Gelehrten, eine Scheidung vorzunehmen, schwankte stark von Persönlichkeit zu Persönlichkeit und von Periode zu Periode. Die Welt des einfachen Juden hingegen bestand aus den Glaubensvorstellungen, Lebensformen und Gebräuchen der überlieferten jüdischen Volkskultur einschließlich aller Einwirkungen in geistigen und sittlichen Dingen und im Brauchtum, die von der Außenwelt auf sie eindrangen. Betrachtet man nun das 12. und 13. Jahrhundert, so ist das besondere an dieser Periode, daß sich in ihr eine Intensivierung des jüdischen Geisteslebens auf breiter Basis vollzieht und in intellektueller Hinsicht ein Höhepunkt erreicht wird, während zu gleicher Zeit das Leben der Gemeinschaft wie das des Einzelnen durch Einwirkung von a.ußen zunehmend gefährdet und eingeschränkt wird und damit das strenge

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sittliche und religiöse Leben sich lockert, und daß schließlich infolge dieser Zustände ein Kreis unter den Gelehrten entsteht, der eine religiöse Verinnerlichung und Vervolkstümlichung des Lebens in jüdischer Richtung fordert und sie praktiziert. Das Volkstümliche gewinnt einen breiten Platz im Interessenbereich einer Anzahl von Gelehrten in dieser Zeit. Sie geben sich mit Fragen und Motiven, mit Gedanken und Vorstellungen ab, die dem Volke aus dem täglichen Leben vertraut waren. Sie sprechen die Sprache, die das Volk verstand, und was noch wichtiger und eindrucksvoller war: Ihr Verhalten war nicht eine zum Volk gerichtete Attitude, sondern ihr Sprechen und Handeln geschah aus ihrem eigenen tiefsten Wesen heraus. Durch ihre besondere Lebensführung, durch ihre Schriften und mehr noch durch ihre Worte und Taten übten diese Hâsîdîm, diese Frommen, einen tiefgreifenden Einfluß auf die breiten Schichten des Volkes aus. Der Eindruck auf diese Schichten war um so stärker durch ihre volkstümliche Art, ihre Schlichtheit, die Innigkeit ihres Ausdrucks und die emotionelle Weise ihres Wesens. Der Name Hâsîd, Frommer, war eine volkstümliche Bezeichnung, aus religiöser Scheu und liebender Bewunderung eher als aus Drang zur äußeren Ehrung geprägt und verliehen. Es gab viele Hâsîdîm, Fromme, besonders in Deutschland. Man sprach geradezu von den Hâsîdê Ask&naz, den Frommen Deutschlands, und die Periode, in der die Geschichte des aschkenasischen Judentums sich in dieser Richtung entfaltete, wird als die Periode des deutschen Chassidismus bezeichnet. Ein Wesenszug dieser Hâsîdîm war auch die Mystik. Sie liebten Gott im mystischen Sinne und sie schildern ihre Gottesliebe mit Bildern, wie es sie in keiner Mystik kühner gibt1. Sie beschäftigten sich mit mystischen Spekulationen und entwickelten mystische Gedanken, die zwar keine Systematik aufweisen, die sich aber doch von anderen mystischen Richtungen abheben2. Einige dieser mystischen Gedanken und andere Spuren ihrer Lehre haben im aschkenasischen Judentum mehrere Jahrhunderte überlebt. Am stärksten und eindrucksvollsten wirkten auf das Volk aber nicht ihre Mystik, sondern eben ihre fromme Lebensführung, die sich in volkstümlicher Weise ausdrückte. Bezeichnend ist die Tatsache daß von ihren rein mystischen Schriften fast keine in frühen Drucker vorliegen. Der größte Teil befindet sich noch in handschriftliche! Form in verschiedenen Bibliotheken, oder man kennt sie aus Zitater in anderen Werken. Aber ihre volkstümlichen Schriften haben weit< Verbreitung gefunden, vor allem das Sefer Hâsîdîm, das Buch de¡ 1

Vgl. § 8 1 5 (Ausg. WISTINETZKI-FREIMANN, 2 0 6 ) .

Vgl. G. SCHOLEM, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankf. a. M 1957, Abschnitt: Chassidismus im deutschen Mittelalter. 2

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Frommen, das eine Anzahl von Ausgaben erlebt hat 3 . Dieses Moralbuch mit seinem halachischen Einschlag ist zwar von der mystischen Neigung, die sich in dem Kreis, in dem es entstand, geltend machte, gefärbt, diese Neigung tritt aber hinter der Absicht zurück, dem Hâsîd, den Gottesfürchtiges, und denen, die Seines Namens gedenken4, die Worte der Frömmigkeit (millê dëhàsîdut) nahezubringen, damit man wisse, was zu tun, und wovor sich in acht zu nehmen (§ 27), und damit man ferner „seine Söhne und Schüler aus diesem Buche lehren kann, wie sie den Willen des Schöpfers erfüllen können" (§ 28). Die Entstehung des Sefer Hasîdîm bietet der Forschung verschiedene Probleme. Diese Frage ist in ihrer Gesamtheit nicht geklärt. Es scheinen mehrere Rezensionen im Umlauf gewesen zu sein und von diesen liegen Abschriften vor, die bereits Überarbeitungen aufweisen. Den umfassendsten Text enthält die Handschrift in Parma, Cod. de Rossi 1138. Die Hauptbestandteile des Werkes werden im allgemeinen drei Autoren zugeschrieben5, die zugleich am stärksten im deutschen Chassidismus hervorgetreten sind. Sie gehören alle der angesehenen Kalonymos-Familie an, die sich in Deutschland seit dem 10. Jahrhundert auf allen Gebieten des jüdischen Kulturlebens ausgezeichnet hat. Der älteste von ihnen war Samuel ben Kalonymos, der Fromme®. Er war ein großer Gelehrter und als solcher von seinen Zeitgenossen sehr geschätzt, obwohl er die damals übliche Methode des scharfsinnigen, analytischen Talmudstudiums ablehnte. Er wurde in Speyer um etwa 1115 geboren. Über Einzelheiten in seinem Leben wissen wir nur durch die Volksüberlieferung. Danach erlegte er sich als junger Mann selbst Heimatlosigkeit als Buße auf und begab sich auf Wanderung. Er soll bis nach Südfrankreich und Spanien gelangt sein, wo er mit den dortigen Kreisen jüdischer Mystiker in Verbindung trat. Auch mit nicht jüdischen Mystikern soll er verkehrt haben7. Sein Sohn, Jehuda (Juda) der Fromme, ist 1140 in Speyer geboren und 1217 in Regensburg gestorben. Dieser Hâsîd wird als der Hauptverfasser des im Buch der Frommen vorliegenden Textes betrachtet. E r war ein angesehener Gelehrter8; tritt aber in erster Reihe als die 3

V g l . FREIMANN, i n : WISTINETZKI-FREIMANN,

4

Mit Anspielung an Maleachi 3, 16, hier im Sinne der Chassidim.

9ff.

5

Vgl. FREIMANN, a. a. O., 12 ff. ; siehe a u c h SCHOLEM, a. a. O.

Siehe über ihn A. EPSTEIN, Rabbi Samuel der Fromme, Sohn des Kalonymus des Alten (hebr.), in der Zeitschrift Ha-Goren, IV (1903) 81 ff. (abgedruckt in A. EPSTEIN, |Hebr.] Schriften, hrsg. von A. M. HABERMANN, Bd. 1, Jerusalem, 1950, 247ff.). Siehe ferner: Germania Judaica, I. Breslau, 1917—34, 339ff. 6

7

Vgl. FREIMANN, a. a. O., 13, und J . F . BAER, Die

religiös-soziale

Tendenz

des

,.Buches der Frommen" (hebr.), in der Zeitschrift Zion, N. S. III, (Jerusalem 1937), 49f. 8 Vgl. Germania Judaica, 293 f.

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führende Gestalt des deutschen Chassidismus hervor. J . F. Baer 9 hält ihn für einen der größten ethisch-religiösen Schöpfer des Mittelalters und der Menschheit überhaupt und meint, daß er nach seiner Stellung in der Geschichte und in der Überlieferung mit seinem jüngeren Zeitgenossen Franz von Assisi (1182—1226) gleichzustellen wäre. Im übrigen ist es vor allen Dingen die Legende, die von ihm wie von seinem Vater zu berichten weiß10. Der dritte, dessen Namen mit der Entstehung des Werkes verbunden ist, ein Schüler und Verwandter Jehudas des Frommen, Eleasar ben Jehuda ben Kalonymos, wurde wahrscheinlich um 1160 in Mainz geboren und ist zwischen 1223 und 1232 in Worms gestorben. Er ist als der Rokeah, d. h. Gewürzhändler, Apotheker, bekannt, nach dem Titel seines Hauptwerkes Sefer ha-Rokeah11. Wie nun allgemein angenommen wird, soll sich das Buch der Frommen, wie es heute vorliegt, aus Arbeiten dieser drei Autoren zusammensetzen, doch so, daß wie erwähnt, ein Hauptteil auf Jehuda den Frommen zurückgeht. Es muß demnach schon um 1200 im großen une ganzen vorgelegen haben. Schüler hätten dann eine Art von Redaktior vorgenommen, indem sie zwei Schriften mit dem gleichen Titel une gleichartigem Inhalt, eine von Samuel und eine von seinem Sohl Jehuda verfaßt, ferner einen Kommentar zu den Sprüchen Salomon Auszüge aus anderen Werken u. a. m. zusammengearbeitet hätten. Die erste gedruckte Ausgabe vom Buch der Frommen erschien i: Bologna 1538. Sie ist einige Male abgedruckt worden. Diese Ausgab enthält eine kürzere Rezension als diejenige, die Jehuda Wistinetzl auf Grund der oben erwähnten Handschrift in Parma im Jahre 189 in Berlin herausgegeben hat. Wistinetzki's Ausgabe erschien i zweiter Auflage mit einer Einleitung von Jacob Freimann in Fran] furt am Main 1924. Der Text beider Rezensionen besteht aus ein« großen Anzahl numerierter Paragraphen, deren Reihenfolge jedoc nicht die gleiche ist, eben so, wie die einzelnen Paragraphen in d( beiden Rezensionen sich nicht immer im Wortlaut decken. Die hebräische Sprache, in der das Buch der Frommen vorliegt, i holprig und unbeholfen und wirkt recht unhebräisch in stilistisch und syntaktischer Hinsicht. Sie zeugt davon, daß der Autor des Werk a. a. O., 49. Vgl. Germania Judaica, a. a. O. Siehe auch J . M A I T L I S , The Exempla of Ra Samuel and Rabbi Judah the Pious. London, 1961. 1 1 Siehe über ihn: Germania Judaica, 453ff. Der Zahlenwert der Konsonanten Rokeah ist derselbe wie in seinem Namen 'El'äzär, nämlich 308. Wie der Verfasser Vorwort des Sefer ha-Rokeah angibt, wollte er auf diese Weise seinen Namen verewig Damit handelte er aber gegen die Warnung im Buch der Frommen, § 706 und vor al § 1945, man solle nicht seinen Namen angeben, geschweige denn ihn hervorhel wenn man ein Buch schreibt. Bei der Untersuchung der Autorenfrage des Buches Frommen wäre dieses zu berücksichtigen. 9

10

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zwar Hebräisch konnte, daß ihm aber eine andere Sprache, wohl die Umgangssprache seiner rheinischen und süddeutschen Heimat, geläufiger war. Andererseits könnte es sich in dem vorliegenden Text auch um eine frühe hebräische Übersetzung eines in der Umgangssprache verfaßten Originals handeln, von dem aber keine Spur bekannt ist12. Literarisch gesehen besteht das Buch der Frommen zum größten Teil aus kurzen Aussprüchen, Betrachtungen und Belehrungen über eine Reihe von moralischen und religiösen Themen. Das Gesagte wird mit einem Bibelvers oder dem Ausspruch eines Talmudweisen oder eines Frommen unterbaut und oft mit einem praktischen Beispiel (etwa einem Exemplum, s. w. u.) beleuchtet. Ebenfalls ist ein halachischer, d. i. religionsgesetzlicher Einschlag, deutlich zu erkennen. Auch in diesem wird aber das moralische und religiöse, mehr als das gesetzliche Moment unterstrichen. Die Dialektik in der Behandlung fehlt ganz. Die halachische Regel wird im Ton der moralischen und religiösen Anleitung und Belehrung gebracht. Man spürt einen Versuch zu einer Systematik des Inhalts nach Themen. Sie ist aber nicht durchgeführt, ebenso wenig wie dies in den meisten anderen Werken, die aus dem aschkenasischen Mittelalter herrühren, der Fall ist. Die Anordnung des Stoffes scheint dem assoziativen Prinzip zu folgen. Allerdings kann sich auch der Umstand geltend machen, daß wir eben nicht die originalen Fassungen der Grundschriften vor uns haben, sondern Sammlungen und Überarbeitungen aus verschiedener Hand. Wie schon ausgeführt, will das Werk den Leser über Gottesfurcht im Denken und Fühlen und äußerste Gewissenhaftigkeit im Tun belehren. Zu diesem Zweck wurde es geschrieben (§§ 1, 27, 28, 30, 36 u. a.). Es war also ausdrücklich zum Lesen bestimmt und sollte nicht etwa als Handbuch für Prediger dienen, wie es mit den verschiedenen lateinischen E^ra^a-Sammlungen, die seit dem 13. Jahrhundert als Klosterlektüre und als Materialsammlungen für christliche Prediger von verschiedener Hand verfaßt wurden13 und die J . F. Baer als Vorbild und Quelle hinstellt14, der Fall war. Eine Konfrontation mit solchen Exempla-Sammlungen mag uns über die Stellung des Buches der Frommen innerhalb der jüdischen wie der zeitgenössischen nicht jüdischen Literatur Aufschluß geben. Vgl. F R E I M A N N , a. a. O., lOff. Siehe auch G. S C H O L E M , a. a. O. Vgl. G . F R E N K E N , Die Exempla des Jacob von Vitry. Ein Beitrag zur Geschichte der Erzählungsliteratur des Mittelalters, München, 1914 = Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters, V, 1, 3—18; vgl. auch das Hauptwerk über das mittelalterliche Exemplum : J . - T H . W E L T E R , Vexemplum dans la littérature religieuse et didactique du moyen âge. Paris-Toulouse, 1927. = Bibliothèque d'histoire ecclésiastique de France. 14 Siehe die oben Anm. 7 angeführte Abhandlung Baers, 7. 12

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Oft findet man im Buch der Frommen, als Illustration zu einer Belehrung oder einer Warnung, oder als deren Ausgangspunkt, eine Geschichte, in derselben Weise, wie man es auch in der christlichen Predigt seit dem 13. Jahrhundert und in anderer weltlicher Literatur der Zeit findet15. Manchmal tritt sogar dieselbe Geschichte hier wie dort auf. Der Unterschied zwischen den Exempla im Buch der Frommen und denen, die die lateinischen Autoren bringen, ist aber in die Augen fallend, sowohl in bezug auf ihren Inhalt wie auch mit Hinblick auf ihre Deutung und Anwendung. Man muß wohl annehmen, daß die Autoren des Buches der Frommen keine lateinischen Kenntnisse besaßen und somit die in Frage kommenden lateinischen Schriften ihnen unbekannt waren. Solche Kenntnisse haben Juden im Mittelalter nur ausnahmsweise erworben, durcl Privatunterricht oder auf ähnliche Weise16, da sie ja die allgemeinen geistlich geprägten Schulen nicht besuchten. Schon aus diesem Grundf kann sich der Unterschied im Gebrauch der Exempla hier und dor erklären. Hinzu kommt, daß das Buch der Frommen sich mehrmal scharf ablehnend gegen die christlichen geistlichen Bücher (Sifr ha-gallâhîm) äußert17. Noch weniger kann in der mittelalterliche] aschkenasischen Welt von einer Entlehnung aus der arabischen Lite ratur, die Baer 18 als Möglichkeit aufstellt, die Rede sein. Hält man sich ferner vor Augen, daß das Werk in seinen wesenl liehen Teilen von den erwähnten drei Autoren herrühren soll, s spricht auch das zeitliche Moment gegen eine literarische Abhängigkei von der im 13. Jahrhundert aufblühenden lateinischen Exempli Literatur, die ja hauptsächlich durch das Auftreten der Franziskane: Dominikaner und anderer bewirkt wurde. Dieses Aufblühen gescha zu einem Zeitpunkt, der mit dem Tode sowohl des Jehuda he-Häsi (1217) wie des Ele'asar Rokeah zusammenfällt. 1 5 Vgl. G. F R E N K E N , a. a. O., und M. H A R K I S , The concept of love in Sepher Hassidií in: Jewish Quarterly Review, Vol. L (1959—60), 39ff. Ferner: C. H . H A S T I N G S , Studi in Mediaeval Culture, Oxford, 1929, 39 ff. 1 6 Vgl. Buch der Frommen, § 259. 1 7 Vgl. z. B. Buch der Frommen, § 1348 Ende u. ö. Die Frage der Einstellung d chassidischen Kreise zur christlichen Umwelt wird mit dem Buch der Frommen ; Hauptquelle dargestellt von J . K A T Z , Exclusiveness and Tolerance. Studies in Jewi; Gentile relations in medieval and modern times. London, 1961, = Scripta Judaica, 3, 93 1 8 a. a. O. —Wenn die gleichen Motive sowohl bei Arabern als bei Juden und Ch sten auftreten (vgl. I. G O L D Z I H E R , Mélanges judéo-arabes, in: Revue des études juiv 45 ( 1 9 0 2 ) , l l f . und die dort angeführte Literatur), so läßt sich diese Erscheinung í ders als eine direkte literarische Übernahme in die eine oder die andere Richtung klären. Jedenfalls ist der gemeinsame Stoff durch mehrere Zwischenglieder und wa' scheinlich aus denselben Quellen, aus denen auch die Araber geschöpft haben, zu c aschkenasischen Juden gelangt. Umgekehrt enthalten die mittelalterlichen latei sehen £.wm£/a-Sammlungen auch manches Material aus verschiedenen jiidiscl Quellen, vgl. J . - T H . W E L T E R , a. a. O . 9 7 .

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Ähnlichkeit in bezug auf Form und Ausdruck im Geistesleben verschiedener Völker, die innerhalb einer größeren geographischen Einheit leben, die sogar an Gleichheit grenzen kann, ist ein Phänomen, das an und für sich keiner besonderen Erklärung bedarf. Sie läßt sich zu allen Zeiten nachweisen, ohne daß es sich dabei um direkte gegenseitige literarische Abhängigkeit zu handeln braucht. Dies gilt in besonderem Maße von den Juden. Hier geschah der kulturelle Austausch mit der Umwelt nicht so sehr auf literarischem Wege wie vielmehr als Folge des Zusammenlebens und des persönlichen Umgangs 19 . Wie schon erwähnt, lebten die Juden im frühen Mittelalter in naher Berührung mit ihrer Umwelt. Sie sprachen mit ihren Nachbarn in deren Sprache. Ihr Verkehr war nicht auf geschäftliche Angelegenheiten begrenzt. Christliche Ammen, Kindermädchen, Hausgehilfen und Arbeiter wirkten in ihren Heimen und Betrieben, ihre Kinder spielten miteinander. So wurden christliche und örtliche Vorstellungen, Begriffe und Gebräuche, Volksglaube, Lieder, Erzählungsund Überlieferungsstoff bei den Juden geläufig. In höherem Grade als irgendein anderes Werk aus derselben Zeit zeigt das Buch der Frommen die religiöse und kulturelle Situation der aschkenasischen Juden. Wir sehen eine Bevölkerungsgruppe vor uns, die in inneren wie in äußeren Dingen in hohem Grade der Umwelt angeglichen war. Das oft angeführte Zitat aus dem Buch der Frommen (§ 1301): „Das Benehmen der Juden in jeder Stadt ist wie das Benehmen der dortigen Nichtjuden" bezieht sich zwar laut dem Kontext auf das Sittliche, hat aber, wie es immer wieder aus dem Buch der Frommen wie auch aus anderer zeitgenössischer rabbinischer Literatur hervorgeht 20 , auch auf anderen Gebieten des menschlichen Verhaltens seine Gültigkeit. Aber nicht nur im alltäglichen Leben trafen sich Christen und Juden, sondern auch auf dem Gebiete der Gelehrsamkeit. Hier erfuhren die Juden auf mündlichem Wege von den Interessen, die ihre christliche gelehrte Umwelt bewegten. Wie es aber scheint, waren die Juden dabei meistens die gebenden. Es waren in erster Reihe die gemeinsamen biblischen Interessen, welche die christlichen und jüdischen Gelehrten zusammenbrachten, besonders seit der ersten Hälfte des 12. Jahrhun1 9 RUFUS M. JONAS, Studies in mystical religion, London, 1909, sagt 199: "This movement (gemeint ist die Bewegung der Beginen), thus inaugurated in 1180, spread, as so many other things did in this century (von mir hervorgehoben), like contagion." Vgl. auch R. CROSBY, Oral delivery in the middle ages, in : Speculum, X I (1936), 88 if. 2 0 Vgl. u. a. L. RABINOWITZ, The social life of the Jews of Northern France in the Χ II—XIV centuries as reflected in the Rabbinical literature of the period. London, 1938, und M. GÜDEMANN, Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der abendländischen Juden während des Mittelalters und der neueren Zeit. (1.) Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der Juden in Frankreich und Deutschland . . . X.—XIV. Jahrh. Wien, 1880.

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derts21. Die starken christlichen Laienbewegungen, die sich damals entwickelten, förderten vor allem die biblischen Studien in christlichen Kreisen. Man versuchte auf den biblischen Urtext zurückzugehen, und, um in den hebräischen Text eindringen zu können, wandte man sich, mit allem Vorbehalt, an die Juden um Belehrung. Hervortretende Beispiele hierfür sind Hugo und Andreas aus der Schule der Viktoriner in Paris22, Peter Comestor, der in Troyes geboren wurde und dort den größten Teil seines Lebens verbrachte, zu gleicher Zeit wie Raschi und dessen Schüler und Enkel 23 ; in Deutschland der Verfasser des Sachsenspiegels, Eike von Repgow24, und viele andere. Obwohl sie keine oder nur geringe hebräische Kenntnisse besaßen, zeigen sie in ihren exegetischen Schriften eine Vertrautheit mit jüdischer Schriftdeutung, die sie nur durch mündliche Belehrung von jüdischen Gelehrten erworben haben können25. Sie geben Unterschiede in den Lehrmeinungen der zeitgenössischen jüdischen Bibelexegeten wieder. Diese hatten gerade die Bibelforschung bei den aschkenasischen Juden zur Blüte gebracht. Sie bildeten die nordfranzösische Exegetenschule26 mit Raschis Enkel Samuel ben Me'ir, bekannt als Raschbam (etwa 1085 bis etwa 1175 in Ramerupt bei Troyes), Josef Kara (1060—1130) und Josef Bechor Schor (2. Hälfte des 12. Jahrhunderts) an der Spitze. Es ist sogar möglich, daß der Umgang zwischen christlichen und jüdischen Gelehrten dazu beigetragen hat, daß nicht nur die christlichen Exegeten die jüdische Bibelübersetzung und vieles mehr von der jüdischen Literatur und jüdischer Anschauung kennen lernten, sondern daß auch die Juden ihrerseits dadurch einen Antrieb bekamen, sich in die Exegese der Heiligen Schrift, die bis dahin im aschkenasischen Judentum weniger gepflegt worden war, zu vertiefen, so wie es schon früher einmal in der jüdischen Geschichte geschehen war, nämlich im 9. Jahrhundert in Babylonien, durch die Entstehung der Sekte der Karäer (im 8. Jahrhundert), die sich auf den biblischen Text stützte und auf dessen Basis eine heftige Polemik mit den rabbinischen Juden führte. Das Vorbild für die literarische Form des Buches der Frommen wird man in der rabbinischen Literatur suchen müssen, vor allem wohl in den verschiedenen ethischen Schriften, die in talmudischer Zeit, also 2 1 Vgl. B. S M A L L E Y , The study of the Bible in the middle ages. Oxford, 1952, 78 ff. und passim. 2 2 Vgl. S M A L L E Y , a. a. O., 83ff., und H. H A I L P E R I N , Rashi and the Christian scholars, Pittsburg, 1963, 105 if. 23

Vgl. HAILPERIN, a. a. O.,

111.

Vgl. G. KiscH, Sachsenspiegel and Bible. Notre Dame, Indiana, 1941, 166, 170 172ff. 2 5 Vgl. ζ. Β. S M A L L E Y , a. a. O., 154ff. 2 6 Vgl. S. P O Z N A N S K I , in L. G E I G E R U. a., Abraham Geiger, Leben und Lebenswerk Berlin, 1910, 388 ff. 24

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in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten, in Palästina entstanden sind, wie die Traktate Derek erez, Kalläh u. ä. m. Diese Schriften scheinen nämlich gerade während der Entstehungszeit des Buches der Frommen in Nordfrankreich und im Rheinland viel gelesen worden zu sein, wie es ζ. B. das sogenannte Mahzôr Vitry zeigt. Dies ist ein Handbuch des jüdischen Religionsgesetzes für den Verlauf des Tages eines Juden durch das ganze Jahr, zusammengestellt von einem Schüler von Raschi namens Simcha aus Vitry (in Nordfrankreich). Außer dem gesetzlichen Text, der auch den Gottesdienst, seinen Wortlaut und seine Gebräuche umfaßt, enthält das Werk verschiedene Texte, die im Laufe des Jahres gelesen wurden, darunter auch die erwähnten Traktate. Diese nun enthalten Sittenlehren wie im Buch der Frommen, ebenfalls in kurze Paragraphen eingeteilt, die oft von einer Ma'âéeh, Exemplum (manchmal mit „Ma'äseh (hâjëtâh) bë . . ." eingeleitet) unterbaut werden. Wenn man ferner die im Buch der Frommen angeführten Bibelzitate auf ihre Häufigkeit hin untersucht, stellt sich heraus, daß die Zitate aus den Weisheitsbüchern und vor allem aus den Sprüchen Salomos am zahlreichsten auftreten 2 7 . Weiter umfaßt das Buch der Frommen, wie erwähnt, auch einen Kommentar zu den Sprüchen Salomos (§§ 1792ff). Somit schließt sich das Werk der langen Reihe der jüdischen Weisheitsliteratur an, die zu verschiedenen Zeiten variierende Formen angenommen hat, je nach Zeit und umgebender Kultur : In der biblischen Zeit die Form, die wir in den verschiedenen Weisheitsbüchern finden; in der talmudischen Literatur u. a. die Form der erwähnten Traktate; im Mittelalter die Form der Sammlungen von ethischen Sprüchen wie im Buch der Frommen, das aber auch eine andere altüberlieferte literarische Gattung miteinschließt, nämlich das Apophthegma 28 , das seit hellenistischer Zeit Gemeingut der nahöstlich-europäischen Kultur geworden war und das in weitem Maße moralisierenden, belehrenden und erbaulichen Zwecken diente. Das Apophthegma findet sich bereits früh in der talmudischen Literatur, im Traktat Avôt (Pirkê Avôt) und in anderen talmudischen Schriften wie auch im Midrasch, in derselben Weise wie es in anderer 27 Vgl. F R E I M A N N , a. a. O., 12. — Das Hohelied wird nur äußerst selten, wenn überhaupt, im Buch der Frommen zitiert. In § 703 wird erklärt, warum der Name Gottes im Hohenlied nicht erwähnt ist, und zwar weil da von der Schönheit des Mannes und der Frau, nicht aber von Zeugung die Rede ist. Diese Erklärung zugleich mit der Nichtanwendung von Zitaten aus dem Hohenlied, die man sonst in einer mystischen Schrift erwarten würde, ist ein weiterer Zeuge dafür, daß das Buch der Frommen nicht als mystisches Werk von seinen Autoren gedacht ist. 28 Vgl. W. G E M O L L , Das Apophthegma. Literaturhistorische Studien. Wien-Leipzig, 1924. Siehe auch W. B O U S S E T , Apophthegmata. Studien zur Geschichte des ältesten Mönchtums. Tübingen, 1923.

Med. IV

5

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hellenistischer Literatur auftritt 29 . Und so lebt das Apophthegma im Mittelalter fort, in der christlichen Predigt-Literatur als Exemplum, bei den Juden in analoger Weise als Ma'äieh30, mehr oder weniger aus gemeinsamem Kulturgut fließend. Das Buch der Frommen nimmt durch die Wahl seiner Themen und Beispiele zu den Erscheinungen seiner Zeit Stellung. Aus diesem Werk kann man sich, wenn auch nur im Umriß, so doch mit manchen wichtigen Zügen, ein Bild von dem sozialen und sittlichen Leben der deutschen Juden, von ihrer Glaubensart und von ihrer Geisteswelt während des 12. und 13. Jahrhunderts formen. Das Bild tritt uns hier klarer und reicher entgegen, mit weit mehreren Einzelheiten und intimeren Zügen ausgestattet als in der zeitgenössischen rabbinischen Literatur. Aber nicht nur durch Thema und Beispiel, sondern auch in seiner ganzen Haltung, in seinen Gedankengängen und in seinem Stil erscheint uns das Buch der Frommen als ein Ausdruck des volkstümlichen Geisteslebens der aschkenasischen Juden. Einige Beispiele sollen dies zeigen. Der Mensch im Buch der Frommen steht vor einer Fülle von Einzelproblemen im Dasein, die ihm das Buch zu beantworten versucht. In hohem Maße beschäftigt ihn das Problem vom Guten und Bösen und deren Rolle im Leben des Menschen. Die Antwort ist schlicht und jedem einfachen Fragenden verständlich: Das Schicksal des Menschen, die Länge seines Lebens und dessen Verlauf in allen Einzelheiten ist genau in Übereinstimmung mit seinen Taten geregelt. Belohnung und Strafe entsprechen den guten, bzw. den schlechten Taten. Eine sündhafte Handlung löst automatisch die in ihr immanente Strafe und eine gute Handlung die in ihr immanente Belohnung aus. Die Folge der Tat, sei sie gut oder böse, ist aber nicht immer sofort spürbar. Sie kann oft erst im Jenseits erkennbar sein oder sich an den Angehörigen zu irgendeiner Zeit auswirken. Die Leiden des Einzelnen oder sein Tod können die Folge einer Sünde des Vaters oder des Großvaters sein. Daß er leidet oder vorzeitig stirbt, kann als die diesen zugedachte Strafe gedeutet werden. Der Mensch ist nämlich nicht nur ein selbständiges Individuum, sondern er ist zugleich Teil einer größeren schicksalsverbundenen Einheit (Familie, Gemeinde). Die Strafe, deren ein Verstorbener sich im Leben schuldig gemacht hat, kann nicht nur durch Leiden an den lebenden Hinterlassenen vollzogen werden, sie kann auch an seinen Gütern erfolgen. Von einem Hâsîd wird z. B. erzählt, daß seine große Büchersammlung von seinen 2 9 Vgl. R. E D E L M A N N , Some remarks on the literary aspect of the Talmud and Midrash in their relation to Hellenistic civilization. Vortrag, gehalten am Third World Congress of Jewish Studies, Jerusalem 1961. Report. Jerusalem 1965, 108 ff. 8 0 Das Wort wird sonst in der Bedeutung Geschehnis, Historie, Erzählung gebraucht.

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Erben aufgelöst und geteilt verkauft wurde. Er war nämlich, als er lebte, nicht gewillt gewesen, seine Bücher, so wie es die gute Sitte forderte, an andere zu verleihen. Darum erfolgte die Zerstreuung der Sammlung als eine himmlische Strafe. Die Toten existieren irgendwie im Jenseits weiter und folgen genau den Ereignissen auf Erden. Diejenigen, welche sich dazu verdient gemacht haben, sind im Garten Eden, im Paradis, welches nicht näher beschrieben wird, die anderen müssen ihren irdischen Versündigungen entsprechend oder durch das Verschulden der lebenden Angehörigen verschiedene Leiden erdulden. Sie erscheinen diesen oder einem Frommen im Traum und beklagen sich, und ihre Leiden können dann von den Lebenden in verschiedener Weise behoben werden. Andererseits wird aber auch betont, daß jeder sein eigenes Schicksal trägt, und daß alles, was mit ihm geschieht, Bestimmung Gottes ist. Mißgeschick kann man durch Wiedergutmachung begangenen Unrechts, durch Gebet und Buße abwenden. Welche Buße jeweilig einer Sünde entspricht, darüber kann ein Weiser, dem man seine Sünde bekennt, Auskunft geben. Im Buch der Frommen wie in anderen Schriften des deutschen Chassidismus wird eine Anzahl solcher Bußübungen beschrieben. Die Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit beschäftigt den Menschen im Buch der Frommen immer wieder. Er fragt sogar, was denn ein harmloses Tier getan habe, daß es dem sündhaften Menschen erlaubt sein sollte, es zu schlachten und zu verzehren. Die Frage: „Warum geht es dem Frommen schlecht und dem Bösen g u t ? " wird meistens in der üblichen Weise damit beantwortet, daß der Fromme die Strafe für seine erfahrungsmäßig unvermeidlichen Sünden bereits hier empfängt, damit er ein ungetrübtes Jenseits haben kann, und entsprechend umgekehrt verhält es sich beim Bösewicht. Als unphilosophisch, in volkstümlichen Bahnen denkender Mensch sieht er keine Inkonsequenz in seinen Vorstellungen von Tugend und Sünde, Lohn und Strafe. Alle Fragen können jedoch nicht beantwortet werden. So heißt es einmal, daß, wenn jemand in zweifelnde Gedanken in bezug auf den Schöpfer geraten sollte, er sich damit an einen Weisen wenden solle, der die Probleme in den göttlichen Dingen kennt. Ein Wissen darüber habe aber auch kein Weiser. Er solle dann dem Fragenden eine kluge Antwort, seinen Worten entsprechend, erteilen. Das Weltbild, das das Buch der Frommen aufzeigt, ist recht unkompliziert. Die großen Fragen tauchen auf, wenn dieses Bild gestört wird. Es gibt nicht nur Bösewichte (Rësâ'îm), sondern auch viele gewöhnliche Menschen, die leichtfertig sind und nicht auf die Einhaltung der religiösen und sittlichen Normen achten und sie mutwillig übertreten (Përîzîm). Statt die Tora zu studieren, vertreiben sie die 5'

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Zeit mit Würfelspiel, mit Unterhaltung und allerlei Amusement (Tîjûl), was weiter zu Unsittlichkeit führen kann, mit Absingen profaner Lieder unter Begleitung von Musikinstrumenten und mit eitlem Gespräch. Vor all diesem warnt das Buch der Frommen in einer schlichten, milden und naiven Art. Mit verdammenden Worten wird die ritterliche Minne, die, wie es aus dem Buch der Frommen hervorgeht, im jüdischen Gewand und zwar mit allen Einzelheiten dieser Moderichtung auftritt31, abgelehnt. Zum ersten Male werden hier in einem jüdischen, wenn auch volkstümlichen, so aber doch auf dem Boden der Überlieferung stehenden Werk erotische Verhältnisse dieser Art zur Behandlung aufgenommen. Zwar finden sich in der ungefähr zeitgenössischen hebräischen Literatur in Spanien und Italien Gedichte erotischen Inhalts. Diese sind aber teils im arabischen Kulturkreis, teils unter dem Eindruck der italienischen Renaissance entstanden, verfaßt von Dichtern, die von der Welt der Halacha und ihrer Literatur entfernt waren. Im Buch der Frommen dagegen tritt dieses Thema als Gegenstand halachischer Erörterung auf, von Situationen und Problemen veranlaßt, wie sie durch die in der Umgebung üblichen und in dieser Zeit der Minne praktizierten Anschauungen und Gebräuche auch bei den Juden Eingang gefunden zu haben scheinen. Ein charakteristischer Bestandteil des volkstümlichen Wesens ist das, was mit Aberglaube bezeichnet wird. Es handelt sich hier um Vorstellungen, die man in sich herumträgt, ohne daß man sich über ihren Ursprung in der urzeitlichen Naturreligion und den verborgenen tiefsten Bedürfnissen der menschlichen Seele bewußt ist. Die historischen Religionen mit ihren Lehrgebäuden und theologischen Systemen, die Naturwissenschaften, die rationalistischen Philosophien haben viele von diesen Vorstellungen beseitigt. Viele sind aber doch nur zurückgedrängt. Sie tauchen hervor, sobald die geistige und seelische Kontrolle des Bewußtseins aus irgendeiner Ursache geschwächt ist und je nach dem Grade der Zivilisation des Betreffenden einen mehr oder weniger bewußten Willensakt erfordert. Der Mensch des Mittelalters war in überwältigendem Grade den Kräften der Natur und dem Stärkeren ausgeliefert. Die unsichtbare Welt war mit einer Schar von guten, hauptsächlich aber von bösen Geistern verschiedener Art bevölkert, die in den Verlauf des Lebens des Menschen eingriffen und die den Menschen ständig umgaben und bedrohten. Der Jude fühlte nicht anders. Aus seiner alten Heimat Palästina hatte er eine Welt von überirdischen Wesen mitgebracht. In Babylonien wurde diese Welt erweitert und dichter bevölkert. Diese Welt 31

Vgl. darüber M. HARRIS, oben Anm. 15.

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lebte in der privaten Sphäre des Volksglaubens und war darum, wie alles was das Private und Häusliche betrifft, um so wirksamer. Im Talmud und Midrasch konnte der mittelalterliche Jude über diese Welt und deren Bewohner so manches nachlesen und auch erfahren, wie der eine oder der andere der hochrespektablen talmudischen Geistesgrößen der Vergangenheit in dieser Welt mitagierte. Die Mystik hatte diese unsichtbare, für den mittelalterlichen Menschen aber so höchst reale Welt in ihre Spekulationen miteinbezogen und ihr einen bestimmten Platz in ihrem Weltbild zugewiesen. So ist sie gewissermaßen religiös legitimiert worden. In der neuen Heimat, in Nordfrankreich und in Westdeutschland, begegneten die Juden einer überirdischen Welt, die prinzipiell von der bereits bekannten nicht sehr verschieden war. Auch die Bewohner der alten keltischen und germanischen Geisterwelt waren meistens feindliche Mächte. Sie trugen nur andere Namen. Sie waren alle Rûhôt, Geister, Sedîm, Dämonen, Mazzîkîm, Schädlinge der einen oder der anderen Art. Hinzu kommt der Werwolf oder eine andere germanische oder keltische Figur. Von dem wandernden Kulturstoff kannte man den Drachen und andere ins Märchenhafte herabgesunkene mythologische Motive32. Das Besondere am Buch der Frommen im Vergleich mit der meisten sonstigen Literatur aus rabbinischen Kreisen und eben das, was es zu einem ausgesprochenen Ausdruck des Volkstümlichen macht, ist die Ausführlichkeit und die Breite, mit der es diese unsichtbare Welt behandelt und ernst nimmt. Es belehrt nicht etwa in systematischer Weise über diese Welt, sondern es setzt ihre Existenz als gegeben und bekannt voraus und erwähnt sie, wenn sich, und das geschieht recht oft, Gelegenheit dazu gibt. So erfahren wir ζ. B., daß, wenn jemand einem anderen einen zornigen Blick zuwirft, dieser Blick sich in einen Mazzîk, einen Schädling, verwandelt, der den Gegenstand des Zornes anfällt und schädigt. Diese Anschauung ist mit dem vielverbreiteten Glauben an die effektive, schädliche Wirkung der Mißgunst durch den Anblick, das sogenannte „böse Auge", verwandt. In gleicher Weise wird das zornige, böse Wort in einen Schädling verwandelt. Mit besonderer Vorliebe versammeln sich die Geister und Dämonen an öden, finsteren und unsauberen Orten, die man darum meiden soll. Begegnet man einem solchen Geist, sei es in wachem Zustand, sei es im Schlaf, und man kommt heil davon, so soll man es keinem gegenüber erwähnen. Wehren kann man sich gegen die Geister, wenn man ihnen begegnet, durch gewisse Gesten und Beschwörungen. Diese Dinge werden vom 3 2 Vgl. J . TRACHTENBERG, Jewish magic and superstition. New York, 1939. (Mit Bibliographie).

A study in folk

religion.

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Buch der Frommen als fremdartig erkannt und abgelehnt. Auch der Gebrauch von Amuletten (Këmî'ôt) wird verboten. Zauber und dämonische Kräfte, die gewisse Menschen imstande sind zu benutzen, werden als Realität hingenommen. Sogar das Weinen eines Kindes in der Wiege kann durch Zauber hervorgerufen sein; wieviel mehr dann Krankheit, allerlei Unheil und Tod. Das Buch der Frommen verbietet, solche Mittel anzuwenden, in diesem Falle unter Hinweis auf ein biblisches Wort, während es sonst oft Anweisungen gibt, die den Eindruck erwecken, als ob sie vom Autor selbst herstammten, obwohl sie sich bereits in der Bibel und sehr oft im Talmud finden. Man darf diese Kräfte auch nicht anwenden, um die Zukunft zu erforschen. Was geschehen soll, wird dem Menschen ohne sein Mitwirken verkündet, durch eine Vision in wachem Zustand oder, meistens, im Traum, dem ein hoher Wahrheitsgehalt zugemessen wird und der einen breiten Platz im Buch der Frommen einnimmt 33 . Wenn man einen beunruhigenden Traum gehabt hat, soll man einen Weisen um dessen Deutung bitten. Das Unheil, das ein böser Traum ansagt, soll man durch Fasten und Bußübungen abzuwenden suchen. Manche bedienen sich auch des Zaubers und nehmen dämonische Kräfte in Gebrauch, um das Herannahen der messianischen Zeit zu beschleunigen. Dies zu tun, wird aber in Übereinstimmung mit der Halacha verboten. Im übrigen ist es auffallend, wie wenig im Buch der Frommen vom Messias und von der messianischen Zeit die Rede ist. Der Einzelne, sein Leben und sein Heil stehen im Mittelpunkt. Eine apokalyptische Stimmung und eine starke messianische Sehnsucht, die man infolge der äußeren Lage, in den Verhältnissen, unter denen die Juden damals lebten, zu finden erwarten würde, ist im Buche nicht zu spüren. Eine solche seelische Situation kommt erst im 16. und vor allem im 17. Jahrhundert zum Durchbruch. Charakteristisch für die volkstümliche Haltung des Buches der Frommen ist die Stellungnahme zu den Reichen, die oft in tadelnden Worten zum Ausdruck kommt. Gemeint sind aber augenscheinlich nicht Reichtum überhaupt, sondern der Tadel richtet sich eher gegen die Neureichen und Ortsfremden, die von ihrem Vermögen nicht den rechten Gebrauch machen, die stolz und übermütig sind, keine Wohltätigkeit üben und die Tora vernachlässigen. Geschätzt werden dagegen die Tôvîm, die Vornehmen, die aus guter Familie, die die Leitung der Gemeinden in gerechter Weise und in Ubereinstimmung mit der Überlieferung ausüben. Das Buch der Frommen wendet sich an seine Zeitgenossen im deutsch-französischen Kreis in ihrer besonderen Situation. Es be33 Vgl. M. HARRIS, Dreams in Sefer Hasidim, Academy of Jewish Research, Vol. 31 (1963) 51 ff.

i n : Proceedings

of the

American

Das Buch der Frommen

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handelt ihre alltäglichen Probleme vom ethischen Aspekte aus und unter Rücksichtnahme auf die Halacha·, es belehrt, es ermahnt, und braucht dabei Bilder und Begriffe, die dem Volke vertraut waren, und es stellt keine großen Ansprüche an den Intellekt. Gedanken und Lehren, die sich schon in der Bibel, in Talmud und Midrasch finden, bringt es in neuem Gewand und mit anderer Betonung. Hindeutungen auf die biblische und alte talmudische Literatur geschehen in einer für den weniger Bewanderten verständlichen Weise, um an diese alten Schriften und an die verehrten alten Weisen anzuknüpfen und dadurch dem Gesagten mehr Autorität zu verleihen. Das Buch der Frommen verblieb ein volkstümliches Buch, aus dem viele Generationen von aschkenasischen Juden ethische und religiöse Erbauung geschöpft haben. Es entsprach den Vorstellungen des einfachen Mannes und es verlieh seiner seelischen Haltung Ausdruck.

D I E WELTLICHE VOLKSLITERATUR D E R JUDEN VON W . SCHWARZ

Die Bestrebungen in moderner Zeit, zu sammeln, was sich unaufgeschrieben von Generation zu Generation vererbt hat, findet keine Parallele im Mittelalter. Die Sprüche, Lieder und Märchen, mit denen man Naturkräfte zu beherrschen oder die langwierigen Stunden der Arbeit und die Langeweile der finsteren Abende zu verkürzen suchte, sind fast ausschließlich unwiederbringlich verloren, selbst wenn uns der Erzählstoff aus der späteren Literatur erhalten geblieben ist. Wer könnte aus dem Jüngeren Hildebrandslied den dichterischen Gehalt des althochdeutschen Hildebrandsliedes erschließen? Der Stoff und Inhalt eines mündlich überlieferten Erzählgutes kann sich im Laufe der Jahrhunderte ändern, weil die sprachliche und literarische Form umgestaltet wurde, und weil gewisse Motive durch stärkere oder schwächere Hervorhebung an Bedeutung gewinnen oder verlieren können: die Entwicklung des Geschmacks des Publikums führt zu Forderungen, die auch diese „unterliterarische" Schicht zutiefst beeinflussen. Daher ist mittelalterliche unaufgeschriebene Erzählkunst als Kunstwerk endgültig verloren. Ein Beispiel hierfür sind die Grimmschen Märchen, die natürlich dem 19. Jahrhundert angehören. Eine Analyse dieser Märchen kann nur aufzeigen, daß der Stoff seit altersher bekannt war, kann aber nichts darüber aussagen, wie ein Märchen vor Hunderten von Jahren erzählt worden ist. Eine Quellenanalyse kann zur Rekonstruktion des Urmärchens führen, aber dieses Urmärchen ist nur ein Gerippe, das erst vom Erzähler zum Leben erweckt werden konnte. Wie der individuelle Erzähler das Märchen gestaltet hat, kann keine Rekonstruktion erschließen. Aber dieses wie hat das Märchen geformt, ohne den Erzähler gäbe es das Märchen nicht. Daher wird jede Rekonstruktion eines literarischen Werkes, dessen Quelle wir nicht von vornherein kennen, problematisch. Aus diesem Grunde will ich hier keine Quellenanalysen anstellen. Auf Grund dieser Betrachtungen scheidet also die Volksliteratur der Juden aus späterer Zeit aus. Die Erzählungen, die ein Maggid vortrug, d. h. ein Erzähler, der vor noch nicht allzu langer Zeit von Ort zu Ort ging und Geschichten traditionellen jüdisch-religiösen Inhalts erzählte, können hier nicht berücksichtigt werden. Aber auch

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Rittergeschichten wie Widwild, Sigenot, das Bovobuch1 sind uns erst aus dem Ende des 15. oder Beginn des 16. Jahrhunderts erhalten. Es ist interessant, daß diese Ritterromane in jener Zeit nur noch bei den Juden weiterlebten und daß einige noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im Druck erschienen. Ihre Beliebtheit wird durch den Angriff auf diese Art von Literatur bewiesen, die in der Einleitung des Ma'assebuches2 —· zuerst im Jahre 1602 erschienen — ausgesprochen wird: Der Leser solle statt der weltlichen und vom religiösen Standpunkt aus unnützen Geschichten über Dietrich und Hildebrand lieber die erbaulichen und moralisierenden Erzählungen des Ma'assebuches lesen. Weltliche Volksliteratur ist also vor allem volkstümliche Literatur, die sich nicht mit den großen Problemen der Philosophie und Religion befaßt, sie kann ergötzlich, aber auch belehrend und erbauend sein. Ihr literarischer Wert ist im allgemeinen gering. Wir kennen ihren Widerhall aus Predigten, aus der Exemplumliteratur und aus späterer Zeit aus den deutschen Volksbüchern und Schwänken. Die Stoffe, die hier behandelt werden, können von Volk zu Volk wandern, sie können von Christen und Juden mit Vergnügen gehört oder gelesen werden. In dieser Literaturgattung kann ein Austausch stattfinden : ein christlich-jüdisches Gespräch. Zur Erweiterung des Themas müßte man eigentlich auch kunsthistorische Untersuchungen anstellen, die die Einseitigkeit einer literarischen Studie beseitigen könnten. Ein Beispiel sei hier genannt : eine Illustration in einem in Deutschland geschriebenen jüdischen Gebetbuch des 13. Jahrhunderts. Wir finden in dieser Handschrift ein Bild eines jüdischen Brautpaares mit dem Text des Hohen Liedes 4.8 „mit mir komme vom Libanon" 3 . Wir können davon absehen, daß in dieser Illustration gegen das Verbot „Du sollst dir kein Bildnis machen" verstoßen wird. Der Bräutigam trägt die Kleidung der Juden und den spitzen Judenhut, ihm gegenüber sitzt die Braut auf einem Stuhl, majestätisch und viel größer als der Bräutigam, eine Krone auf dem Haupt, die Augen mit einem Tuch verbunden. Ist dies wirklich die Darstellung einer jüdischen Hochzeit, in der das Haupt der Braut mit einem Tuch bedeckt wird ? Doch wohl nicht, da nicht Haupt und Gesicht der Braut, sondern nur die Augen bedeckt sind. Das Tuch ist nicht über sie gelegt, sondern an der Seite fest verknotet 4 . Der 1 Es gibt nur wenige, im allgemeinen unzureichende neue Ausgaben: L. LANDAU, Arthurian Legends, in: Teutonia 21 (1912); J . A. JOFFE, Elia Bachur Levita, Bovo Buch, New York 1949. 2 J . MEITLIS, Das Ma'assebuch, seine Entstehung und Quellengeschichte, Berlin 1933. 3 Vgl. Katalog Monumenta Judaica D 28, mit Lit., bespr. V. E. ROTH. 4 Die Hs. ist in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Cod. Levi 37. Eine Abb. dieser Illustration ist in dem Katalog des Joods Historisch Museu m, Joodse verluchte handschriften, Amsterdam, 1961, p. 22, abermals im Katalog Monumenta Judaica, auf Tafel D 18 (Beschreibung D 28).

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Betrachter dieses Bildes erinnert sich unwillkürlich jener Statuen an deutschen Domen, in denen Ecclesia und Synagoga einander gegenübergestellt sind und in denen die verbundenen Augen die Blindheit und Machtlosigkeit der Synagoge bedeuten. In unserer Handschrift ist dies verändert. Die jüdische Braut trägt die Krone. Wird hier auf eine jüdische Interpretation des Hohen Liedes angespielt? Ich weiß es nicht. Für mich stellt das Bild eine Menge Probleme. Ich hoffe aber, daß genauere Untersuchungen der Bildhandschriften neue Aufschlüsse zum Thema christlich-jüdisches Gespräch ergeben werden. Der Beitrag der Juden zur deutschen mittelalterlichen Literatur kann in wenigen Worten beschrieben werden. Süsskint von Trimberg, ein Minnesänger um 1250, war wahrscheinlich ein Jude. Denn nur ein Jude konnte die Drohung aussprechen, er würde die besondere Kleidung der Juden anlegen, wenn man seine dichterische Leistung nicht beachtete6. Wichtiger vielleicht ist die Notiz in Claus Wisses und Philip Colins Parzival (1331—1336), daß ein Jude Sampson Pine6 den französischen Text dieses Werkes für die beiden Verfasser ins Deutsche übersetzt habe. Die deutschen Dichter, so heißt es in der Einleitung, hätten dann seine Worte in deutsche Reime umgesetzt. Aber eine derartige Nachricht über die Vermittlung französischer Dichtung ist einzigartig. Man wird ihr nicht zu große Bedeutung zumessen dürfen. Um mich nicht ins Grenzenlose zu verlieren, will ich hier über eine einzige Handschrift sprechen. Die Cambridger Hs. T-S 10 Κ 22 ist im Jahre 1382, also nur rund 30 Jahre nach den Pogromen des Schwarzen Todes in hebräischen Buchstaben, aber in deutscher Sprache geschrieben worden. Im Jahre 1957 wurde sie unter dem Titel The oldest known literary Documents of Yiddish Literature, (C 1382) von L. Fuks veröffentlicht. Eine neue Ausgabe eines Gedichts dieser Hs., nämlich Dukus Horant, herausgegeben von Dr. P. F. Ganz, Prof. F. Norman und mir, ist soeben erschienen7. Für alle die Hs. betreffenden Einzelheiten möchte ich hier auf die Einleitungen zu dieser Ausgabe verweisen. Die in der Genisah der Synagoge von Kairo gefundene Hs., die durch Feuchtigkeit stark beschädigt und daher oft schwer oder überhaupt nicht lesbar ist, ist von einem Schreiber geschrieben. 6 Text und Bibliographie in KRAUS-KUHN, Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, Tübingen, 1952—58, Bd. 1, no. 56. ν. Bd. 2, p. 513. Hinzuzufügen ist F. ARONSTEIN, Süsskint of Trimberg, in: Zion, VIII (1943) 135—155in hebräischer Sprache mit kurzer englischer Zusammenfassung. ARONSTEIN und R. STRAUS, in: Jewish Social Studies X (1948) 19—30 glauben nicht, daß Süsskint Jude war. 6 G. KISCH, Sachsenspiegel and Bible. = Publications in mediaeval Studies of Notre Dame, Indiana, 5 (1941) 176ff. ' Altdeutsche Textbibliothek, Ergänzungsreihe 2, Tübingen 1964.

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Die hebräische Schrift weist auf Mitteleuropa, und nichts spricht gegen das in der Hs. erwähnte Datum 9. November 1382. Die Hs., deren Anfang und Ende fehlt, enthält vier Gedichte jüdischen Inhalts, ein Gedicht über Moses (fol. I r — 2 ν ) , eine Beschreibung des Paradieses (fol. 2v—6v), ein Gedicht über Abraham (fol. 6ν—17r), und über Joseph (fol. 17v—18v), eine Fabel über einen Löwen, die jüdischen oder deutschen Ursprungs sein könnte (fol. 19r—19v), und schließlich das Fragment eines deutschen, bisher unbekannten Epos Dukus Horant (foL 21r—42v). E s ist weitgehend eine Frage der Definition, ob man die Sprache von in hebräischen Buchstaben geschriebenen deutschen Texten deutsch, jüdisch-deutsch oder alt-jiddisch nennt. Hier soll eine Diskussion über Terminologie vermieden werden. Da der Wortschatz und die Satzkonstruktion in der Cambridger Hs. vom Deutschen nicht abweichen, nenne ich die Sprache deutsch. Die erste Frage, die sich aus dem Fund des Cambridger Ms. ergibt, ist die folgende: Hat der Schreiber dieser Sammelhandschrift deutsch lesen und daher das deutsche Epos Dukus Horant aus einer in deutschen Buchstaben geschriebenen Handschrift abschreiben können? Diese Frage ist nicht nur literaturgeschichtlich, sondern auch kulturgeschichtlich von größter Bedeutung. Unsere Hs. könnte uns eine Antwort auf die obige Frage geben, wenn in ihr die Orthographie deutscher Wörter buchstabengemäß nachgeahmt wäre. Im allgemeinen ist dies nicht der Fall. E s gibt jedoch einige — wenn auch nur wenige — Übereinstimmungen mit deutschen Hss. Verdoppelung eines deutschen Buchstaben wird mit einem einzigen hebräischen Buchstaben umschrieben, ζ. B . deutsch geselle = Cambr. Hs. gesele (42. 3. 1.), aber es gibt einige, wenn auch nur wenige Ausnahmen dieser Regel, ζ. B . deutsch verre ist auch in hebräischen Buchstaben mit zwei r geschrieben (ζ. B . FUKS, p. 16, Zeile 89 und 90). Liegt hier deutscher Einfluß vor? Nur genaue Untersuchungen des gesamten bis heute noch unveröffentlichten Materials könnten zu einer Antwort führen. Die andere Übereinstimmung ist die Schreibung des mittelhochdeutschen Wortes unde. Dieses Wort wird in deutsch geschriebenen Handschriften immer un abgekürzt. Diese Abkürzung wird, worauf mich Dr. P. F . Ganz aufmerksam machte, in allen Gedichten der Cambridger Hs., auch in denen jüdischen Inhalts, verwendet. Daraus folgt, daß sie von deutschen Hss. übernommen worden ist. Aber der gegenwärtige Stand der Forschung ermöglicht es nicht festzustellen, wann diese Übernahme erfolgt ist. Die Abkürzung un findet sich nämlich auch in hebräisch geschriebenen Glossen, die vielleicht älter sind als unsere Hs., ζ. B. in einer in Hamburg befindlichen Hs. vom Anfang des 13. Jahrhunderts. In Steinschneiders Katalog werden die

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Glossen als „deutsche Übersetzung von alter Hand" bezeichnet. In der Ausgabe dieser Glossen von Staerk-Leitzmann werden sie ins 14. Jahrhundert verlegt8. Es wird notwendig sein, die Glossen, von denen bisher nur ein geringer Teil bekannt ist, herauszugeben, so genau wie möglich zu datieren und Gemeinsamkeiten der Schreibung festzustellen. Aber schon jetzt kann man zwei Folgerungen ziehen. 1. Das Vorkommen der Abkürzung un in verschiedenen Hss. deutet darauf hin, daß für die Umschrift des Wortes unde in hebräische Buchstaben eine Tradition bestand, der der Schreiber der Cambridger Hs. folgte. Man könnte vielleicht sogar die Vermutung aussprechen, daß es Institutionen wie scriptoria für die Transskription deutscher Wörter ins hebräische Alphabet gegeben haben mag. 2. Derjenige oder diejenigen, die die hebräische Umschrift von un eingeführt haben, kannten zum mindesten diese deutsche Abkürzung, ja aller Wahrscheinlichkeit nach konnten sie deutsch geschriebene Hss. lesen. Der Gebrauch der Abkürzung durch spätere Schreiber ist kein Beweis für ihre Kenntnis des deutschen Alphabets. Ob der Schreiber, der zuerst den Dukus Horant in hebräischen Buchstaben schrieb, einer deutschen Vorlage gefolgt ist, scheint mir mehr als zweifelhaft. Es läßt sich mit Bestimmtheit feststellen, daß in unserer Hs. deutsche Laute phonetisch genauer wiedergegeben werden, als dies in deutschen Hss. der Fall ist, z. B. wird zwischen stimmlosen und stimmhaften s, zwischen / und v, zwischen stimmhaftem und stimmlosem h und einem Laut, der zwischen h und ch liegt, und zwischen offenem und geschlossenem e-Laut in der Cambridger Hs. unterschieden. Der Schreiber hat also nicht versucht, deutscher Schreibweise zu folgen. Für Einzelheiten möchte ich auf meine Untersuchungen über den Lautstand in der Ausgabe des Dukus Horant verweisen9. Eine Abschrift einer vor ihm liegenden Hs. würde sich, wie ich vermute, in seiner Schreibweise widerspiegeln. Daher kann man das Vorhandensein einer schriftlichen Vorlage des Duktis Horant nicht postulieren. Vom literarischen Gesichtspunkt aus will ich später die Annahme, daß der Schreiber aus dem Gedächtnis geschrieben hat, zu erhärten suchen. Wir wenden uns nun den Gedichten jüdischen Inhalts in der Hs. zu. Es mag unnötig erscheinen, den Beweis zu erbringen, daß diese 8 M. STEINSCHNEIDER, Catalog der hebräischen Handschriften in der Stadtbibliothek zu Hamburg, Hamburg 1878, no. 9. W. STAERK-A. LEITZMANN, Die jüdisch-deutschen Bibelübersetzungen von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/ Main 1923, 26 ff. 9

§ 6, 7, 1 0 , 1 3 , 1 7 ,

18, 29,

37.

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Gedichte von Juden verfaßt sind. Aber da unlängst der Versuch gemacht worden ist, das Gedicht Joseph hazzadik als eine Transliteration eines deutschen Gedichtes zu erklären10, muß ich einige Worte hierüber sagen. In Joseph hazzadik finden wir ein auf dem hebräischen Alphabet beruhendes Akrostichon, woraus sich zur Genüge ergibt, daß dies ein literarisches Werk ist, das keine Transliteration aus einer in deutschen Buchstaben geschriebenen Hs. ist11. Diese Gedichte sind offensichtlich für ein jüdisches Publikum bestimmt. Ein christliches Publikum war sicher nicht daran interessiert, daß ζ. B. Rabbi Jochanan ben Sakkai ganz allein in einer besonderen Abteilung des Paradieses saß12. Aus dem Gedicht über Abraham möchte ich hier zwei Strophen zitieren, die in dem lehrhaft-populären Ton der Predigt geschrieben sind: „Wene ich den himel breit schone uf gezirkelt mak gesehen sa mus ich ime ( = Got) der meisterschaft unde ales prises jehen unde ander sine hant getot di ich nicht kan genenen. das (des) mus ich ime aler meisterschaft bekenen. Wër da vrogt wo ist got dër hot dër toren pflicht. sa vroge ich in hin widere, wo eniát ër nicht ? ër hot mit seiner gotheit die werelt gar deket. ër ist ein tor dër sinen ( ? zorn) erweket"13. Das Ende dieser Gedichte ist besonders interessant, nicht nur weil die Namen von zwei schribëre, nämlich ISAK und ABRAHAM, erwähnt werden, sondern weil diese letzten Zeilen in gewisser Weise Übereinstimmungen mit deutscher Literatur aufweisen. Man vergleiche die Ähnlichkeit des Gedankenganges in den letzten Zeilen des Gedichtes über das Paradies: „Isak dër schribëre dër uns dise mëre unde dise rede kunt tët dën nëmet ale in uwer gebët." mit den letzten Worten der Vorrede von Hartmanns von Aue Der arme Heinrich : „und swer nach sinem ( = Hartman) libe si ( = die Erzählung) hoere sagen ode lese, 10

J . W . MARCHAND-F. C. T U B ACH, i n : ZfdPh,

11

Vgl. P. F . GANZ, F . NORMAN, W. SCHWARZ, in: ZfdPh, FUKS, 10, Zeile 170 ff.

12

8 1 (1962)

30—52.

82 (1963) 86.

13 FUKS, 13, Zeile 14—25. Fuks' Text ist an einigen Stellen verbessert. Die Umschrift der hebräischen Buchstaben ist in der Ausgabe des Dukus Horant erklärt.

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daz er im bitende wese der sele heiles hin ze gote" 14 . Die moralische Schlußfolgerung wird in dem Gedicht über Abraham und in der Fabel vom Löwen besonders hervorgehoben : ,,nu wartet sinen ( = Gottes) wilen die wile ir das lëben hot. isak dër schribëre dër gibet uch dën rot. unde tut ir das sa mak uch nicht geáwichen, sa komtir in das ewige himel riche." (so kommt ihr bestimmt . . ,)15. Und: „wer dër loite vintschaft hot dër hot grosen has von got. di engel ime himel sint ime gram, unde och dër schribër Abraham." 16 Diese volkstümlichen Moralpredigten sind vielleicht von christlichen Vorbildern beeinflußt, wie man sie in der Exemplum-lAterddxLT findet. Insbesondere wird die moralische Aufforderung an das Publikum am Ende des Gedichtes, das von Joseph und der Frau des Potiphar handelt, betont : „durch Got, liben loite, hi kiset bilde bi das ir uwer libe schult kusche si. nu weset uwer libe kusche al geliche, sa wirt uch zu teile daá vrone himel riche" 17 . Derartige moralisierende Aufforderungen finden wir natürlich besonders in späterer Zeit, z. B. in Hans Sachs: „Das stäte lieb und trew aufwachs Im ehling stand, das wünscht Hans Sachs 18 ". Der stärkste Einfluß christlicher Gedankengänge findet sich aber in dem Gedicht Abraham, in dem Abraham fünfmal der „heilige Abraham" genannt wird19. Auch Michael und Gabriel erhalten das Epithet „heilig"20. Man denkt unwillkürlich an ein Bild in einem jüdischen Gebetbuch des 15. Jahrhunderts aus Italien, in dem König 14 FUKS, 12, Zeile 217—220. Das auslautende e des am Zeilenende stehenden Wortes mere ist in der Hs. nicht lesbar. Dey arme Heinrich, Zeile 22—25. " FUKS, 33, Zeile 475—483. 16

F U K S , 3 8 , Zeile 4 3 — 4 6 .

17

F U K S , 3 6 , Zeile 7 3 — 7 8 .

1 8 Herausgegeben von A. VON KELLER-GOETZ, in: Bibl. des Literarischen Stuttgart, Bd. 140, 185, Zeile 29—30: vgl. z. B. ibid. 402, Z. 36—37.

«

fol. 8 v , l O v , 1 4 v , 1 5 v ( z w e i m a l ) = F U K S , 1 6 , Z. 7 6 ; 2 0 , Z. 1 6 8 ; 2 8 , Z. 3 6 1 ; 3 0 ,

Z. 400; 30, Z. 408. 20

Vereins,

fol. 1 6 r = F U K S , 3 1 , Z. 4 3 4 , 4 3 9 — 4 4 0 .

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David mit einem Heiligenschein dargestellt ist 21 . Unzweifelhaft war der Dichter dieser jüdischen Gedichte von den Vorstellungen seiner christlichen Umwelt beeinflußt. Unzweifelhaft konnte er damit rechnen, daß sein jüdisches Publikum an diesen Gedanken keinen Anstoß nahm. Wir wenden uns nun zu der letzten Dichtung in der Cambridger Hs., der epischen Dichtung Dukus Horant. Dieses Epos, dessen Ende nicht erhalten ist, stellt uns vor so viele Probleme, daß wir es mit größerer Genauigkeit betrachten müssen. Zuerst der Inhalt: Dem mächtigen sechzehnjährigen deutschen König Etene oder Itene — die hebräische Schreibweise dieses Namens kann nicht eindeutig erklärt werden — wird von Herzog Horant von Dänemark geraten zu heiraten. Deshalb ladet Horant zu Pfingsten 12 ihm untergebene Herzöge ein, und am 12. Tage wird der Heiratsplan besprochen. Etene hört von Hilde, der Tochter des „wilden Hagene", des Königs von Griechenland. Man weiß an Etenes Hof, daß Hagene sich einer Heirat seiner Tochter widersetzt, ja daß die Werbung mit Lebensgefahr verbunden ist. Nichtsdestoweniger beschließt Etene, Hilde zu heiraten (45, 5, 3—4) : ,,ër áprach, mir werde dene das schone mëgetin, ader ich mus vor lirn daá lëben min." Statt aber selbst u m die Königstochter zu werben, bittet er Horant, Hilde mit Hilfe seines Gesanges zu ihm zu bringen. Horant lehnt anfangs das Verlangen des Königs wegen der damit verbundenen Gefahr ab, fährt aber schließlich mit einem märchenhaft ausgestatteten Schiff mit 200 Mann, zwei oder drei Riesen und einigen Begleitern in 28 Tagen nach Griechenland, wo er und seine Gesellen bei einem reichen Kaufmann wohnen. Horant gibt sich als Verbannter aus, der ohne seine Habe aus Deutschland vertrieben worden sei. Auf Horants Bitte ist der Kaufmann bereit, ihm 100 000 Mark zu borgen, aber wir erfahren nicht, ob Horant dieses Geld erhält. Das Haus des Kaufmanns in all seinem Glanz und die Linde, die in dem Hofe steht, werden besonders ausführlich beschrieben. Nach 28 Tagen — man beachte die typischen Zahlen 12 und 28 — ist es wiederum Pfingsten, und Hagene gibt ein großes Fest, um seine eigene Macht zur Schau zu stellen und zu beweisen, daß seine Tochter nicht ihresgleichen in der Welt habe. Auf dem Gang zur Kirche und wiederum auf dem Heimweg sieht Hilde Horant und ist von ihm beeindruckt und grüßt ihn. Horant beschließt nun, durch die Macht seines Gesanges Hilde in seinen Bann zu ziehen. Unter der Linde im Hause seines Gastgebers singt er ein Lied, das seine Wirkung auf die Prinzessin nicht verfehlt. Sie schickt 21 Die Hs. ist in Tübingen : Ms. or. Hamilton 547. Eine Abbildung ist in dem oben erwähnten Katalog des Joods Historisch Museum Amsterdam, 18.

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eine Botin zu Horant und bittet ihn, zu ihr zu kommen. Sie werde ihm „10000 Mark rotes goldes" geben und (67. 1. 3—4): „och scholde ër hint haben ein schönes mëgetin di muste sin Üof geselin sin." Horant lehnt diese Einladung ab, verlangt aber von der Prinzessin, daß sie zu der Linde zu ihm komme, wenn er noch einmal für sie singen solle. Hilde stimmt zu, geht zu Horant, der vor ihr niederkniet und singt. Wiederum wird die Macht seines Gesanges geschildert. (Da der Text an dieser Stelle nicht gut lesbar ist, zitiere ich die Parallelstelle 66, 3—4) : ,,ër hup uf alse lute ein stime unde sank, das ës sa wuneklichen durch di wölken drank, unde das di kleinen vogelin ir vligen musten losen sin unde begunden ale zu dër linden dringen, si horten aise gërne dën kunen Horanden singen, unde das di wilden ëber swin ir woilen muáten losen sin." Der weitere Fortgang der Erzählung ist nicht ganz deutlich, da diese Seiten der Hs. oft kaum lesbar sind. Aber man kann erkennen, daß Hilde Horant einen magischen Ring gibt und daß er ihr von Etenes Werbung erzählt. Hildes Antwort — nur teilweise lesbar — ist, daß sie Horants Geliebte werden wolle und daß sie bereit sei, mit ihm das Land ihres Vaters zu verlassen. Hier erreicht die verfängliche Situation ihren Höhepunkt. Die Erzählung leitet zügig und ohne Abschweifungen zu dieser Situation: die Macht des Gesanges, das Stelldichein und wohl auch die symbolische Bedeutug der Linde als Treffpunkt der Liebenden22. Der so sorgsam geknüpfte Knoten wird mit Leichtigkeit gelöst : alles endet ebenso moralisch wie die religiösen Geschichten jüdischen Inhalts ; denn Horant erklärt der Prinzessin, er sei ihr nicht ebenbürtig, er sei verheiratet — das war der Prinzessin schon früher mitgeteilt worden (68, 5, 3—4) — und er sei bereit, für sie zu singen, wenn sie einwillige, Etene zu heiraten. Sie stimmt zu, wie könnte es auch anders sein ? „diner bète wil ich gewërn, dines suáen sanges mak ich nicht enpërn23." Das Angebot der Prinzessin — denn es ist offensichtlich, daß sie selbst das „schone mëgetin" sein wollte, die als „slof geselin" ver22 A. T. HATTO, The lime-tree and early German, Goliard and English lyric poetry, in : Modern Language Review, X L I X (1954) 193—-209. 23 72, 1, 3—4.

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sprochen war —· wird abgelehnt. Horant ist der Versuchung nicht erlegen, und das Publikum, das offensichtlich eine Geschichte mit moralischem Ausgang erwartete, konnte beruhigt wieder aufatmen und sich auf die Fortsetzung konzentrieren24. Hilde geht in ihre Gemächer zurück. Hagenes Fest nimmt seinen Fortgang. Horant nimmt an einem Turnier teil und schenkt einem Spielmann ein kostbar ausgerüstetes Pferd. Hagene erfährt davon und ladet Horant zu einer Audienz ein, in welcher Horant ihm seine eigenen Dienste und die seiner Gesellen anbietet. Hiermit endet die Hs. Wir können das Ende nicht rekonstruieren, wohl aber mit Bestimmtheit annehmen, daß Horant und Hilde entfliehen. In dieser Inhaltsangabe habe ich vieles ausgelassen, ζ. B. die burschikos-drolligen Streiche des Riesen, die Schilderungen von Festen und Prozessionen, Waffen und Kleidern, Beschreibungen des Schiffes, des Hauses, der Linde usw. Alles dies ist wichtig, denn es bereichert das Epos und schafft die Atmosphäre, die für die Charakterisierung eines literarischen Werkes von größter Bedeutung ist. Der Dukus Horant ist eine Brautwerbung, also ein literarischer Typus, der seit altersher überall in der Weltliteratur bekannt ist 25 . Die Namen in unserem Epos kommen auch im König Rother und in der Gudrun vor, aber es mag zweifelhaft erscheinen, ob der Name des Königs Etene oder Itene im Dukus Horant wirklich mit dem Namen des Königs Hetele in der Gudrun identifizierbar ist. Da sowohl König Rother als auch Gudrun Brautwerbungen enthalten, hat man versucht, quellenanalytisch Zusammenhänge zwischen diesen drei Epen zu konstruieren26. Hier will ich methodisch einen anderen Weg einschlagen, wie ich es bereits 1961 in einem Vortrag in der Philologischen Vereinigung in Amsterdam getan habe. Ich möchte nämlich versuchen zu beweisen, daß der Dukus Horant die Niederschrift eines mündlich überlieferten Werkes ist, ohne daß die mündliche Überlieferung vom Schreiber in die Buchform eines literarischen Werkes umgewandelt worden ist. Dieser Beweis kann nur unter der Voraussetzung geführt werden, daß mündlich überlieferte Dichtung gewisse charakteristische Eigenschaf24 Die Worte der Prinzessin zu Horant sind in der Ausgabe von FUKS ausgelassen. Sie sind schwer lesbar : 71, 4, 1—2 : „da sprach die schone maget, vil liber here min, ich wolde dir sëlber sin." Nur L. W. FORSTER, Dukus Horant; in: German Life and Letters, X I (1958), 282—3, hat den Zusammenhang richtig gesehen. 2 5 F. GEISSLER, Brautwerbung in der Weltliteratur, Halle, 1955. 2 6 Vgl. insbesondere F. NORMANS Ausführungen in der Einleitung zur Ausgabe des Dukus Horant, 90 ff.

Med. IV

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ten besitzt, die sich von der uns geläufigen Literatur, die für die Veröffentlichung in Manuskript oder Buchform konzipiert ist, wesentlich unterscheiden. Die charakteristischen Züge mündlich überlieferter Dichtung sind in den letzten Jahrzehnten von Milman Parry und Albert B. Lord in Amerika und von C. M. Bowra in England eingehend untersucht worden27. Die Aufgabe der folgenden Auseinandersetzungen besteht also darin, auf Grund dieser Forschungen zu erklären, was mündlich überlieferte Dichtung ist, und welches der dichterische Schöpfungsakt ist, der der Überlieferung von Generation zu Generation zugrunde liegt. Vorerst ein Wort zur Terminologie. Wir können den Träger mündlicher Überlieferung nicht Spielmann nennen, da der Begriff „Spielmann" in der deutschen Literaturgeschichte entwertet worden ist; man hat ihm nämlich jedes literarische Schaffen abgesprochen28. Ich will daher lieber ein Wort, das kein Werturteil enthält, verwenden, nämlich „Sänger". Der Sänger kann weder lesen noch schreiben und kann daher nicht von einem geschriebenen oder gedruckten Text abhängig sein. Er trägt ein Gedicht, das er von einem oder mehreren Sängern gehört hat, einem Publikum vor, das, allgemein gesprochen, weder lesen noch schreiben kann. Die Untersuchungen, besonders die von Parry und Lord, beruhen auf Studien mündlich überlieferter, also nicht niedergeschriebener Dichtung, wie sie noch heute in Jugoslawien und Bulgarien gesungen wird. Bowra hat dieses Material erweitert, indem er heroische Gesänge aus fast der ganzen Welt in seine Forschungen einbezog. Parry und Lord machten phonographische Aufnahmen in den Jahren 1934, 1935, 1950, 1951, 1958 und 1959. Diese Aufnahmen ermöglichen es, den Wortlaut eines und desselben Liedes, das von verschiedenen Sängern oder auch von einem Sänger zu verschiedenen Zeiten gesungen wurde, zu vergleichen. Da viele dieser Lieder auf historische Ereignisse zurückgehen, die sich vor langer Zeit abgespielt haben, müßte man vermuten, daß man eine gemeinsame Quelle rekonstruieren könnte. Dies ist aber, wie wir sogleich sehen werden, nicht der Fall. 2 7 M. P A R R Y , L'Epithète traditionelle dans Homere, Paris, 1928; idem, Les formules et la métrique d'Homère ; idem, Studies in the epic Technique of oral Verse-Making, in : Harvard Studies in Classical Philology, 41 (1930) and 43 (1933) ; idem, The traditional Metaphor in Homer, i n : Classical Philology, 28(1933) 30—43; C. M. B O W R A , Heroic Poetry, London, 1952; M. P A R R Y - Α . B . L O R D , Serbocroatian Heroic Songs, I and I I , Cambridge Mass. and Belgrad, 1954; A. B . L O R D , The Singer of Tales, Cambridge Mass., 1960. 2 8 H. NAUMANN, Versuch einer Einschränkung des romantischen Begriffs Spielmann, i n : Deutsche Vierteljahrsschrift 2, (1924) 777ff.

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Aus Gesprächen mit den Sängern dieser Lieder ergibt sich, daß ein Sänger mit langjähriger Erfahrung ein ihm unbekanntes Lied wiederholen kann, wenn er es nur ein einziges Mal gehört hat. Dies würde ein phänomenales Gedächtnis des Sängers voraussetzen, wenn er imstande wäre, das Lied wortwörtlich wiederzugeben. Die Untersuchungen von Parry und Lord beruhen also nicht auf abstrakten Theorien, sondern auf Beobachtungen von heute noch lebenden Sängern. Die Ergebnisse dieser Forschungen sind allgemein gültig, da Vergleiche von Epen seit der Zeit des Gilgamesch bis zum modernen russischen Epos über Lenin gezeigt haben, daß alle diese Epen gewisse charakteristische Eigenschaften gemeinsam haben. Einige Ergebnisse dieser Untersuchungen mögen hier kurz zusammengefaßt werden. 1. Der Inhalt eines von mehreren Sängern vorgetragenen Gedichtes ist im allgemeinen derselbe, obgleich ein junger Sänger, der seine Kunst noch nicht beherrscht, ihn bisweilen verändert, weil er Teile der Erzählung vergessen hat. 2. Einzelheiten, die nur als Verzierung dienen, können ausgelassen, zugefügt, erweitert oder an einer anderen Stelle des Gedichtes berichtet werden. Jeder Sänger kann also individuell nach seiner eigenen Neigung und Veranlagung Episoden einfügen und ausschmücken. Daher ist die Länge eines Gedichtes bei jedem Vortrag verschieden 29 . 3. Verschieden ist auch der Wortlaut jeder Rezitation, selbst wenn ein einzelner Dichter ein Gedicht zweimal an demselben Tage vorträgt. Der Sänger hat also das Gedicht nicht auswendig gelernt, sondern formt den Wortlaut, während er es vorträgt. Lord unterscheidet zwischen zwei scharf voneinander zu trennenden Begriffen: der allgemeinen abstrakten Vorstellung, die einer Geschichte zugrunde liegt und die die verschiedenen Rezitationen umfaßt, und der individuellen Rezitation oder dem individuellen Text, der von einem individuellen Sänger an einem bestimmten Tage gesungen wird. „Wir können nur mit Mühe etwas begreifen", schreibt Lord, „was verschiedengestaltig ist. Wir glauben, wir müßten einen Prototyp konstruieren oder nach einer Quelle suchen, und wir sind unbefriedigt, wenn sich eine Erscheinung fortwährend verändert. Ich glaube, daß wir den Versuch aufgeben müssen, nach der Quelle einer mündlich überlieferten Dichtung zu suchen, wenn wir einmal die Tatsachen literarischen mündlichen Schaffens kennen. Einerseits ist jede Rezitation eine individuelle Neuschöpfung, andererseits ist es unmöglich, das Schaffen von Generationen von Sängern bis zu dem Augenblick zurückzuverfolgen, in dem ein Sänger zum erstenmal eine bestimmte Dichtung vorgetragen hat 3 0 ." 29 30

Α. B. LORD, The Singer of Tales, 78. Α. B. LORD, The Singer of Tales, 100. 6*

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Diese Erklärung der mündlich überlieferten Dichtung weicht so sehr von der traditionellen Auffassung der Literaturgeschichte ab, daß ich einige Punkte besonders hervorheben will. Wir streben immer danach, die Urquelle zu rekonstruieren und selbst zeitlich festzulegen, wann der Inhalt einer Geschichte geändert worden ist. Wir nehmen keinen Anstoß daran, daß in unseren Rekonstruktionen der Inhalt, die Motivierung und die Charaktere umgewandelt werden. Wir glauben also, daß es einen festgelegten Text von Anfang an gegeben hat, der von Dichtern bewußt geändert worden ist. Die Bedeutung der Erforschung mündlich überlieferter Dichtung liegt darin, daß kein Sänger einen festgelegten Wortlaut einer Geschichte kennt, sondern daß er den Inhalt, den er von anderen Sängern gelernt hat, wiedergibt, daß er aber das Gedicht bei jedem Vortrag neu erschafft. Er trägt also nicht, wie der moderne Vortragskünstler, ein Gedicht vor, dessen Wortlaut er genau wiedergeben muß, sondern er wiederholt die Geschichte, die er gehört hat, in der ihm eigenen, charakteristischen Weise. Jeder Vortrag, wenn ich dies wiederholen darf, ist also eine individuelle Einzelleistung. Ein Vergleich verschiedener Vorträge desselben Gedichtes kann also nicht dazu führen, den Wortlaut einer Quelle zu rekonstruieren, da eine derartige Quelle nicht existiert. Das Gedicht ist in ewigem Wandel begriffen. Es ist nicht nötig darauf hinzuweisen, daß eine Änderung des Wortlautes auch eine Änderung des Gedichtes zur Folge haben kann. Der Sänger hat, wie Parry 3 1 ausführt, keine Achtung vor dem Wort, das unverändert wiederholt werden muß. Dieser Mangel an Achtung vor dem geschriebenen Wort ist jedem bekannt, der bemerkt hat, daß mittelalterliche Schreiber ihre Vorlage verändern und daß Zitate höchst ungenau wiedergegeben werden. Die genaue Wiedergabe eines Textes ist, wie wir alle wissen, eine relativ junge Erscheinung. Warum sollte also ein Sänger, der keine geschriebene Vorlage besitzt, daran denken, einen Text wortwörtlich für seine Rezitation auswendig zu lernen ? Da jeder Vortrag eine Neuschaffung der Dichtung ist, wird die so lange diskutierte Frage, wie ein Sänger ein großes Repertoire im Gedächtnis behalten kann, hinfällig. Aber gleichzeitig taucht ein neues Problem auf, nämlich, wie der Sänger im Augenblick des Vortrages metrische Gebilde formulieren kann. Dies ist um so schwieriger, als er während seiner Rezitation kaum die Zeit hat, über den Inhalt und die metrische Form seines Gedichtes nachzudenken. Ein langsamer, stockender Vortrag würde von seinem Publikum nicht geduldet werden. Es hört ihm nur zu, wenn er das Interesse an der Dichtung erwecken und wachhalten kann. Er muß also den Aufbau der Erzählung genau kennen, er muß den Inhalt in chronologischer Reihenfolge 31

Harvard

Studies,

X L I I I (1932) 8—9.

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darstellen können, auch wenn die einzelnen Episoden nicht immer klar miteinander verbunden zu sein brauchen. Dies schließt Beschreibung von Festen, Gewändern, Häusern usw. nicht aus. Er muß im Augenblick die Worte finden, die metrisch in die Einheit der Zeile oder Strophe passen und die inhaltlich eine gegebene Situation darstellen und charakterisieren. Parry und Lord haben festgestellt, daß der Sänger in seiner Jugend von einem anderen Sänger lernt, er lernt den Inhalt und gewisse sprachliche Formeln, die rhythmisch und inhaltlich zu einem bestimmten Zusammenhang gehören. Ebenso wie der heranwachsende Mensch seinen Wortschatz erweitert, so kann der heranwachsende Dichter im Laufe der Jahre seinen Schatz von Formeln vergrößern, indem er von anderen Sängern, deren Dichtungen er zuhört, ihm unbekannte Formeln übernimmt. Der Rhythmus der Zeile wird ihm so geläufig, daß er die Formeln an der metrisch notwendigen Stelle einfügen kann. Parry hat die Formel in den Homerischen Epen folgendermaßen definiert: „The formula in the Homeric poems may be defined as a group of words which is regularly employed under the same metrical conditions to express a given essential idea 32 ." Refrains, Wiederholungen wie die Anrede der Hexen in Macbeth „Hail thee, Macbeth . . . Hail thee, Macbeth . . . " und Zitate sind also nicht Formeln. Θεά γλαυκώπις Άθήυη ist eine Formel, die in Homer fünfzigmal als Abschluß der Zeile nach der Zaesur des dritten Fußes vorkommt. Eine Formel in Homer ist also in erster Linie metrisch bedingt, der Wortlaut kann sich in gewisser Weise ändern, obgleich die zugrunde liegende Idee erhalten bleiben muß, ζ. Β. ίερόυ τττολίεθρον επερue(Od. α 2) und ιερόν πτολίεθρου έλόντες (Od. 1 165)33. J e erfahrener ein Sänger wird, desto größer wird seine Beherrschung der traditionellen Formeln. Aber gleichzeitig kann er neue Varianten innerhalb der Formeln entdecken und vielleicht sogar neue Formeln erfinden. Die von Parry entdeckte Bedeutung der Formel in mündlich überlieferter Dichtung führt zur Vertiefung der oben gegebenen Erklärungen. Der Sänger folgt der Tradition der dichterischen Sprache, die er von seinen Lehrern gelernt hat, aber er kann die Formeln in der ihm eigenen individuellen Weise verwenden. Sein Gedicht ist nur ein Glied in der Kette mündlicher Überlieferung, und doch wird es erst geschaffen, wenn es von einem bestimmten Sänger vorgetragen wird. Hieraus folgt wiederum, daß die Frage nach der Quelle und besonders nach der Urquelle nicht beantwortet werden kann, selbst wenn Übereinstimmungen zwischen den Gedichten bestehen. Wir können jetzt von der 32 33

Harvard Studies, PARRY, Harvard

XLI (1930) 80. Studies, XLI (1930) 85.

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mystischen Vorstellung der Romantiker, die glaubten, daß das Volk dichtete, absehen. Stattdessen erkennen wir den individuellen Sänger, der innerhalb der Tradition sein neues Werk schafft. Dies ist von A. B. Lord in seinem Buch The Singer of Tales (102) erörtert worden. Die Formel ist für mündlich überlieferte Dichtung charakteristisch. Da, wie an einigen Beispielen gezeigt werden wird, derDukus Horant nichts ist als eine Zusammenstellung von Formeln — der genaue Beweis wird an anderer, geeigneterer Stelle erfolgen —, so wird man annehmen müssen, daß der Schreiber der Cambridger Hs. selbst ein Sänger gewesen sein muß, oder aber, daß ein anderer Sänger ihm den Text diktiert hat. Die Möglichkeit besteht, daß er eine andere in hebräischen Buchstaben geschriebene Hs. abgeschrieben haben könnte. Dies würde das Problem nur zeitlich verschieben, ohne den Sachbestand selbst zu ändern. Wegen der besonders schwierigen metrischen Bedingungen wird formelhafte Sprache in den homerischen Gedichten in sehr großem Maße verwendet. Parry hat in den ersten 25 Zeilen der Odyssee ungefähr 33 Formeln gefunden34. Derartige Unmengen formelhafter Wendungen, die aus Zusammenstellungen aus nur zwei Worten bestehen können, dürfen wir im Dukus Horant nicht erwarten. Die metrische Freiheit, mit der die Strophe in deutscher Sprache gehandhabt wird, ermöglicht es, Formeln innerhalb einer Zeile verhältnismäßig leicht zu verschieben. J a man könnte annehmen, daß der Sänger sich über das metrische System entweder nicht im klaren war oder daß seine Fähigkeit eine Strophe zu formen oft nicht ausreichte. Auf jeden Fall ist das metrische System der Dukus Horant im Zustand des Zerfalls. Der Dukus Horant ist wie andere überlieferte deutsche Heldenlieder in vierzeiligen Strophen verfaßt, und zwar in zwei Langzeilen, denen zwei Kurzzeilen folgen. Jede Langzeile besteht aus zwei Halbzeilen. Die Zahl der Hebungen ist festgelegt, aber die Anzahl der unbetonten Silben zwischen den Hebungen ist frei. Der Sänger besitzt also die Freiheit, die Homer nur in beschränktem Maße besaß, unbetonte Silben in verhältnismäßig großer Zahl einzuschalten. Jede Halbzeile besteht aus vier Hebungen, aber da die erste Hälfte klingend und die zweite stumpf ist, können die am Ende dieser Halbzeilen stehenden Worte nicht ohne weiteres vertauscht werden. Ein Beispiel der ersten Zeile: 41. 1. 1: ,,Es was in tutschen riehen / ein kunik wit erkant", mit zusätzlichen Silben 41. 2. 1: „ime dinten gewaldeklichen / ale tutschen lant" und 41. 5. 1: ,,dër truk ein steheline stange / di was zwölf kloftern lank". Die beiden letzten Zeilen der Strophe sind auch vierhebig, voll oder klingend: 34

Harvard Studies in Classical Philology (1930) 118ff. BOWRA, 232ff.

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voll 42. 6. 3—4:

„so werde wir zu rote dan urne eine vrouen wol getan", klingend 42. 1. 3—4: „di dinten eigentkliche Etene dëme vursten riche." Das Reimschema der Strophe (a a b b) übt einen größeren Zwang aus als das metrische System der Zeile. Formel und Reim ergänzen und verstärken einander, traditionelle Formeln und traditionelle Reimwörter schaffen die Grundlage für den Vortrag des Sängers. Innerhalb dieser Tradition hat er völlige Freiheit, die ihm vererbte Sprache zu variieren und der gegebenen Situation anzupassen. Aber da er als Sänger die Zeile und Strophe im Augenblick des Vortrags mit größter Schnelligkeit gestalten muß, so wird er notwendigerweise mehr von Formel und überliefertem Reim Gebrauch machen, als derjenige, der vorsichtig seine Worte niederschreiben und später überprüfen kann. Nun einige Beispiele. Die einfachste Formel besteht aus Substantiv und qualifizierendem Adjektiv. Die folgende Formel steht immer im Reim am Ende der Zeile: „der vurste rieh" (43. 2. 3), ,,dër kunik rieh" (81. 7. 1). In erweiterter Form: „zwene kunege rieh" (64. 3. 1), „zehen kunege rieh" (64. 6. 1), „den edelen vurste rieh" (55. 1. 4), „eime edelen kunege rieh" (53. 5. 4). Die Formel kann in verschiedenen Kasus vorkommen. Sie kann in leichter Veränderung auch klingende Kadenz haben, „dëme edelen vursten riche" (65. 1. 4) usw. Der Sänger drückt mit dieser Formel in allen ihren Varianten den Gedanken aus, daß jemand Macht besitzt. Sie kann sogar auf Gott übertragen werden: „got von himel rieh" (53. 2. 1). Insgesamt kommt diese Formel 18mal im Horant vor. Aber das mhd. Wort rieh wird auch in der Bedeutung „reich" zur Bezeichnung der Kostbarkeit von Steinen und Stoffen gebraucht, und zwar 17 mal in Verbindung mit samit rieh, ftfelil rieh, golde rieh, gesteifte rieh. Diese Formel ist also 35 mal von dem Sänger in den uns erhaltenen 260 Strophen (1040 Zeilen) gebraucht worden. Ich muß es mir versagen, hier eine vollständige Liste der Formeln zu geben. Aber ich will doch noch eine andere besonders aufschlußreiche Formel, die 7 mal im Dukus Horant vorkommt, zur Diskussion stellen. Sie ist zwei Zeilen lang und füllt mit einer einzigen Ausnahme immer den dritten und vierten Vers der Strophe aus. Sie beginnt mit ër (der) wa& oder ër iét, es folgt ein Adjektiv im Superlativ (Zeile 3). Zeile 4 enthält einen Relativsatz, in dem nach dem Relativpronomen der Stand des in der dritten Zeile Genannten erwähnt wird (42. 2. 3—4) : ,,ër waá dër aler mildeste man dër kuneges namen i ge wan." Die Variationen des Adjektives sind aler kunéte, aler schonite, aler hofertigeáte, aler hubeschte, und in einer wohl falsch geschriebenen

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Stelle : dër aler baê singeáte. Statt des Wortes kunegeá numen lesen wir vuréten namen dreimal, und burgeri namen%b. Die Abhängigkeit der Dichtung von formelhafter Sprache kann am besten dadurch bewiesen werden, daß der Sänger immer wieder diese Formel bevorzugt, wenn eine seiner Gestalten besonders gepriesen werden soll. In den sechs soeben erwähnten Fällen hat er die Formel in verschiedenen Varianten in der dritten und vierten Zeile der Strophe verwendet, d. h. an der Stelle, wohinein sie metrisch paßt. Vielleicht sollte man nicht behaupten, daß eine Formel in ein Gedicht, dessen metrische Struktur sehr oft völlig verwirrt ist, metrisch nicht hineinpassen könnte. Aber es wäre wohl zu erwägen, ob die Verwendung einer Formel an einer falschen Stelle zur Zerstörung des metrischen Systems führen könnte. Erst Sonderuntersuchungen könnten diese Frage klären. Daher soll hier nur mit großem Vorbehalt der Versuch unternommen werden, an einer Stelle im Dukus Horant falsche Metrik dadurch zu erklären, daß der Sänger eine formelhafte Wendung an einer metrisch verkehrten Stelle verwendet habe. Er wollte Hagene preisen, die geläufige Formel war ihm gegenwärtig, aber er mußte sie in die erste und zweite Zeile der Strophe einfügen, wo sie metrisch nicht hineingehörte. Er änderte sie daher, und wirklich glückte es ihm, die Formel zu verlängern, so daß sie die zweite Halbzeile der ersten und sogar die gesamte zweite Zeile der Strophe ausfüllt (45. 2. 1—2). ,,. . . dër aler kunste man dër in diser wërelde das leben i gewan." Die grammatische Struktur ist kaum geändert. Anstatt der vursten namen i gewan schafft er mit Hilfe der Variante der in diser wërelde das leben i gewan zwei Halbzeilen. Aber der Sänger muß vor der Verwendung der Formel erklären, auf wen sich die Zeile bezieht. Dafür hat er nicht genügend Platz zur Verfügung. Die beiden Zeilen lauten : ir vater heiát der wilde Hagene (5 oder 6 statt 4 Hebungen), der aler kunste man, der in diser wërelde da& leben i gewan36. ( = Etene) was dër aler mildeste man/dër kuneges namen i gewan (== Etene) ist der aler schonáte man/dër kuneges namen i gewan ( = Etene) ist sëlber dër kunste man/dër vursten namen i gewan (Horant) was der aler baz singeste man/dër vursten namen i gewan (Horant) ist der aler hofertigeste man/dër vursten namen i gewan (der Kaufmann) ist der aler hubeschte man/dër burgers namen i gewan 3 6 Die genauesten Parallelen zu dieser Formel findet man in HARTMANN VON AUE, Iwein, 3037: „her Gawein was der höfschte man, der riters namen ie gewan." Vgl. Iwein, 1454—6; WIRNT VON GRAVENBERC, Wigalois, 995—6 und 3921—2, wo wahrscheinlich Hartmann zitiert ist. Varianten dieser Formel : WOLFRAM VON ESCHENBACH, Parzival, 209, 11—12, Willehalm, 50, 5—7. Eine Variante mit einem ähnlichen Text wie in Dukus Horant 45. 2. 1—2 findet sich in der Kaiserchronik 4303 „der was der 35

42. 71. 82. 42. 68. 54.

2. 1. 2. 3. 4. 5.

3—4 3—4 3—4 3—4 3—4 3—4

ër ër ër ër ër ër

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Der Sänger verließ sich also auf die Formeln und wiederholte einen bestimmten Gedanken immer in denselben Wendungen. Er konnte im Augenblick des Vortrages den Gedanken nur in diesen Worten formulieren. Das bedeutet also, daß die dem Gedicht innewohnende Metrik ihn dazu zwang, die ihm bekannte Formel zu variieren und so nahe wie möglich den Gegebenheiten der Strophe anzupassen. Die Umwandlung der Formel an dieser Stelle beweist die Abhängigkeit des Sängers von dem ihm von der Tradition bekannten sprachlichen Gebilde. Hätte er das Gedicht langsam und überlegend niedergeschrieben, dann hätte er, vermute ich, diese beiden Zeilen in völlig anderem Wortlaut wiedergeben können. Noch ein Wort über die Varianten des Adjektivs in dieser Formel. Die Adjektive charakterisieren nämlich die vom Sänger gepriesene Person: der burger ist der hubeschte man. Horant der aler baz singeéte und der aler hofertigeéte man, Etene der mildeète man, der aler schonsteman und der aler kunéte man. Und schließlich wird Hagene der oler kunête man genannt. Niemand anders wird im Dukus Horant mit dem Wort der aler kunéte man charakterisiert. Das bedeutet, so möchte ich vermuten, daß der Sänger hiermit ausdrücken will, daß Etene und Hagene in ihrer Tapferkeit gleichwertig sind. In dem Epos will Etene nur die Tochter eines Königs heiraten, der ihm ebenbürtig ist. Die Wahl des qualifizierenden Adjektivs im Superlativ deutet doch sicher darauf hin, daß Etene die richtige Wahl getroffen hat. Der Vater der Frau, um die er wirbt, ist ihm, dem tapferen König, gleichwertig. Man könnte einwenden, daß in dem Fragment des Dukus Horant weder Etene noch Hagene einen Beweis ihrer Tapferkeit ablegen. Hagene ist ein Schwächling, der nichts gegen die überschäumende Kraft von Horants Riesen tun kann. Etene zieht es vor, Horant auf die gefährliche Brautwerbung zu schicken. Aber das Adjektiv kune ist, so vermute ich, mit dem Typus König traditionell fest verbunden. Daher benutzt der Sänger derartige traditionelle, formelhafte Ausdrücke, selbst wenn sie nicht in den Zusammenhang hineinpassen. Es wäre ein Nichtbeachten der Aufgabe des in größter Schnelligkeit schaffenden Sängers, wenn wir, was in heutiger Zeit oft geschieht, annehmen, daß der Sänger diese Formeln ironisch verwenden würde. Es gibt meines Wissens keine Ironie in mündlich überlieferter Dichtung, denn Ironie würde die Formel und mithin das Schaffen des Sängers vernichten 37 . ubermuotigeste man der ie von muoter in dise werlt bekom". Vgl. 4086. (In einigen Hss. ist an beiden Stellen von muoter ausgelassen, siehe die textkritischen Noten in E . SCHRÖDERS Ausgabe.) In WOLFRAM, Parzival 276. 19 ist die Syntax des Relativsatzes geändert. Vgl. Alexanderlied, (VORAU) 49—50, Straßburg 51—2. 3 7 Vgl. Α. B. LORD, The Singer of Tales, 65—66.

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Hier möge ein von Bowra zitiertes Beispiel erwähnt werden, das die Lebenskraft der Formeln beweist. Der Gebrauch der Formel führt in den Augen des modernen Lesers zu grotesken Vorstellungen, z. B. wenn in einem bulgarischen Gedicht ein Mohr blonde Haare hat 3 8 . Ich möchte hier eine Vermutung aussprechen. Oben habe ich erwähnt, daß die Zahl der Senkungen zwischen den metrischen Hebungen im Dukus Horant nicht festgelegt ist. In der deutschen mittelalterlichen Literatur bestand diese metrische Freiheit, bis sie unter dem Einfluß der französischen höfischen Literatur einer strafferen Regelung wich. Dürfte man annehmen, daß in nicht höfischen Kreisen in mündlich überlieferter Dichtung die alte Form metrischer Freiheit erhalten blieb ? Wie sehr auch die Kunst mündlich überlieferter Dichtung entartete, sie lebte fort, wie Dukus Horant beweist, verlor immer mehr den Charakter des Heldenliedes und ebnete den Weg für die späteren Volksbücher und wohl auch die Schwänke. Jetzt erst können wir fragen, ob das Epos Dukus Horant etwas zu der Problemstellung jüdisch-christliches Gespräch beitragen kann. Ich glaube j a ; zwar spielen religionsgeschichtliche oder philosophische Fragen in dieser Hs. keine Rolle, aber wir erhalten einen Einblick in jüdische und christliche Bevölkerungsschichten, die in mittelalterlicher Literatur nur selten erwähnt werden. Dukus Horant ist unzweifelhaft ein Epos deutschen Inhalts, das mit jüdischer Gedankenwelt nichts zu t u n hat. Es gehört, wie ich hoffe, bewiesen zu haben, zur mündlich überlieferten Tradition. Da die Hs. in hebräischen Buchstaben, also von einem Juden geschrieben ist, so muß man schließen, daß der jüdische Sänger es von einem christlichen Sänger hat vortragen hören. Dieser jüdische Sänger muß die Fähigkeit besessen haben, das Epos vortragen zu können, d. h. er muß die Technik mündlicher Uberlieferung — offensichtlich von christlichen Sängern — gelernt haben, oder ein christlicher Sänger muß es ihm diktiert haben. Auf jeden Fall hat er also in engen Beziehungen zu christlichen Sängern gestanden. Aber gleichzeitig war er auch an jüdischer Tradition interessiert, da er sonst weder die Gedichte jüdischen Inhalts noch ein Verzeichnis der Wochenabschnitte des Pentateuch, noch eine Liste der Edelsteine, die der Hohepriester trug (fol. 20v), aufgezeichnet hätte. Die Mundart der Hs. ist mitteldeutsch, läßt sich aber nicht genau lokalisieren. Man könnte glauben, daß er in einer Stadt gelebt hat 3 9 , aber wir haben keine Beweise hierfür. Wir können nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob die in Kairo gefundene Hs., die rund 30 Jahre nach den Pogromen des Schwarzen Todes datiert ist, in Deutschland geschrieben ist. 38

39

BOWRA, 2 3 9 .

H. MENHARDT denkt an Regensburg. Mitteilungen aus dem Arbeitskreis für Jiddi-

stik 1 1 (1961) 3 3 — 3 6 .

Die weltliche Volksliteratur der Juden

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Die Gedichte der Cambridger Hs. wurden für Juden geschrieben, also für ein Publikum, das nicht zum hohen oder niedrigen Adel gehörte. Ich vermute, daß der jüdische Sänger den Dukus Horant von einem Sänger hat vortragen hören, der keine Beziehungen zu den höheren Klassen der Gesellschaft unterhielt, und daß sein Publikum zu den ärmeren Schichten der Bevölkerung gehörte und daher gerne Geschichten hören wollte, in denen märchenhafter Reichtum und Glanz der anderen Gesellschaftsgruppen geschildert wurde. Zu unseren Zeiten haben die Filme der Traumfabrik Hollywoods dieses Bedürfnis der menschlichen Sehnsucht erfüllt; die Schilderungen im Dukus Horant bieten mit anderen Mitteln dasselbe, und die Schichten der armen Bevölkerung — Juden oder Christen — wurden hiervon gepackt und konnten es immer wieder hören. In anderen Worten: Der jüdische Sänger hat diese Geschichte von dem christlichen Sänger übernommen, weil das jüdische Publikum genau wie das christliche an denselben Dichtungen interessiert war. Hiermit soll nichts darüber ausgesagt werden, ob ein jüdischer Sänger seine Vorträge vor einem christlichen Publikum halten konnte. Wir können feststellen, daß im Dukus Horant spezifisch christliche Ausdrücke wie Teufel, Hölle und Amt für heilige Messe beibehalten sind. Nur zweimal ist das Wort „Kirche" als tifie wiedergegeben. Der jüdische Sänger hat das mündlich überlieferte Epos niedergeschrieben, ohne eine jüdische Atmosphäre hineinzutragen. In späterer Zeit werden in volkssprachlichen jüdischen Dichtungen christliche religiöse Ausdrücke vermieden. Man kann, glaube ich, eine Entwicklung zum Jüdischen in der Entwicklung dieser Literatur feststellen: wiederum ein Beitrag zum jüdisch-christlichen Gespräch.

LE „VADEMECUM" D'UN RABBIN ALLEMAND DU X l I I e SIÈCLE PAR COLETTE SIRAT

Le manuscrit hébreu 1408 de la Bibliothèque nationale de Paris porte gravé au dos le mot Encyclopédie et ce titre est assez juste si l'on considère que, dans les 195 folios de notre manuscrit, se trouvent réunies presque toutes les connaissances nécessaires à un rabbin du X l I I e siècle1. La date du manuscrit, du moins de la plus grande partie, est assez précise: elle se situe entre 1237 et 1256; cette partie a été écrite par Elqana, élève de Méïr b. Barükh de Rothembourg, célèbre rabbin qui vécut de 1223 à 1293, et mourut en prison. Une seconde partie (3 cahiers) est d'une écriture différente mais doit être de la même époque que la partie précédente. Enfin, un troisième scribe, qui vivait après la mort de Méïr de Rothembourg a écrit des Novelles sur certains traités du Talmud et il semble que ce soit une compilation personnelle. Considérons d'abord la partie la plus ancienne: Le premier folio porte la fin d'un poème didactique sur les règles d'abattage rituel. La forme rimée des prescriptions rituelles, et morales également, était très goûtée par les juifs du Moyen-Age; sans aucun doute, elle permettait de retenir plus facilement des règles assez rébarbatives, et nous verrons plus loin un autre exemple du genre. Nous trouvons au verso du fol. 1, un glossaire des termes difficiles contenus dans Midras Tanhuma; on y trouve deux mots français (en caractères hébraïques) ce qui n'a rien d'étonnant car les communautés de la France du Nord et de l'Allemagne étaient très étroitement liées; nous voyons les rabbins allemands fréquenter les écoles fran1 Ce manuscrit a été décrit par M. SCHWAB : Le manuscrit hébreu no. 1408 de la Bibliothèque nationale. Notices et Extraits des Manuscrits de la Bibliothèque nationale, X I X , 1, 409—438; mais cette description comporte trop d'erreurs pour qu'elle soit utilisable. J'en ai publié une notice nouvelle dans: Revue des Etudes Juives 123, 1964, Juillet—décembre 1964, 335—358; sur le glossaire du Tanhûma, voir ma note: Un vocabulaire de mots d'emprunt gréco-latins dans un manuscrit hébreu du X I I I e siècle, dans: Bulletin d'Information de l'Institut de Recherche d'Histoire des Textes, no. 12, 1963, 103—112. — L'étude du ms. 1408 a été faite dans le cadre des travaux de la Section Orientale de l'Institut de Recherche et d'Histoire des Textes, sous la direction et avec l'aide de M. Georges Vaida, chef de la Section Orientale.

Le Vademecum d'un rabbin allemand

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çaises et vice-versa, de sorte que la langue romane leur était à tous une langue commune. Les folios suivants contiennent des oeuvres d'Eliézer b. Yoel Halevi, célèbre Rabbin né à Mayence et qui mourut en 1225. Nous avons ici: «Les lésions qui rendent les animaux impropres à la consommation rituelle» et un commentaire des termes du contrat de mariage. Notre savant Rabbin cite de nombreuess autorités et surtout son père : Yoel b. Isaac Halévi et son grand père du côté maternel : Eliézer b. Natan. Il fait aussi grand cas des coutumes locales, les discute, relate les circonstances dans lesquelles tel ou tel rabbin a été amené à prendre telle décision et l'on peut dire que l'érudition n'étoüffe pas le sens du réel dont Eliézer b. Yoël Halevi était particulièrement doué. Par ailleurs, les pièces que nous avons ici ne sont que des extraits d'un ouvrage encyclopédique écrit par Eliézer, ouvrage qui contenait toutes les règles et les décisions rabbiniques, disposées suivant l'ordre des traités talmudiques 2 . La pièce suivante (fol. 13vo) est l'oeuvre de Méïr b. Barükh de Rothembourg, dont nous avons déjà parlé; appelée par euphémisme: Livre des Joies, elle résume en 160 paragraphes toutes les lois concernant le deuil 3 . A la suite, nous trouvons un texte assez court intitulé Réponses aux hérétiques', il s'agit d'une polémique entre un prêtre chrétien et un juif : l'auteur donne au juif les arguments qu'il peut opposer à un convertisseur éventuel. Voici une liste rapide des arguments: — Hanokh et Elie ne sont pas morts, Dieu les a gardés vivants près de lui, pourquoi Jésus n'a-t-il pas agi de même avec sa mère et l'a-t-il laissée mourir? — Vous dites que c'est par une femme que le monde périt et par une femme qu'il sera sauvé, c'est la raison pour laquelle, Dieu s'est introduit dans une femme, mais depuis plus de mille ans que cela s'est produit, le monde n'est toujours pas sauvé. — Dieu a défendu aux bêtes de s'approcher du mont Sinaï lors de la révélation, comment aurait-il monté un âne ? — De même il a défendu de s'approcher des femmes, comment serait-il entré dans une femme ? — Tu demanderas au prêtre, pourquoi n'es-tu pas circoncis; es-tu supérieur à ton Dieu ? — Il est dit d a n s les Psaumes

(CXVI, 11) tout homme meurt, J é s u s

a donc menti . . . et après un certain nombre de preuves scripturaires,

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Ed. par V. APTOWITZER: Sefer Rabiah IV vol. Berlin et Jérusalem 1912 à 1939. éd. dans Mahane Leviya, Livourne, 1789.

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Colette Sirat

dont une attribuée à Isaac de Troyes (Rabbin que je n'ai pas réussi à identifier), l'auteur pose encore une objection théologique: si Jésus était à la fois homme et Dieu, comment se fait-il qu'on ait vu son visage puisqu'il est dit: l'homme ne peut me voir et vivre (Ex. X X X I I I , 20) ? Si l'on objecte: Jacob a dit: j'ai vu Dieu face-à-face (Gen. X X X I I , 31) tu répondras, il s'agit pas de Dieu mais de Seigneur suivant le verset: je t'ai fait Seigneur du Pharaon (Ex. VII, 1); Ce problème de la possibilité des visions divines a fortement préoccupé les juifs du X I I I e siècle et ce n'est pas un hasard si notre polémiste fait ici une distinction entre le Dieu caché et le Dieu qui se révèle; c'est un point central de la doctrine hassidique. Le second scribe justement consacre les fol. 39—46 à des considérations de Saadia et d'Eléazar de Worms sur le problème de la prophétie. Quant à notre polémique, après quelques considérations scripturaires, elle s'interrompt de façon abrupte. Ce qui est assez remarquable dans ce texte, c'est que l'auteur ne se défend pas sur son propre terrain mais qu'il attaque la divinité de Jésus, il prend appui sur l'Ancien Testament mais aussi sur l'Evangile («nulle part dans votre livre saint, Jésus ne s'est proclamé Dieu») et l'on peut supposer que si notre Rabbin s'est donné la peine de copier ce texte, c'est qu'il pensait s'en servir un jour; ceci confirme donc que des controverses assez libres avaient lieu entre Juifs et Chrétiens dans l'Allemagne du X I I I e siècle. Nous avons ensuite (fol. 47—56) un traité du calendrier, puis (fol. 57 vo —66) des extraits du Iioqéah, ouvrage rituel d'Eléazar de Worms (1160—1230), élève de Juda le Pieux, pour lequel il suffit de renvoyer au livre de M. G. Scholem4. Au fol. 67 et 68, nous trouvons quelques notes sur des sujets rituels dans lesquelles le scribe mentionne son maître Juda (b. Moïse b. Salomon) ha-Cohen de Mayence (1175—1241) et il accompagne son nom d'une formule réservée aux défunts. Juda ha-Cohen fut le maître de Meïr de Rothembourg; notre Elqana était donc un contemporain plus jeune et moins illustre que Meïr, lequel conquit, dès sa jeunesse, une très grande renommée. A la suite, Elqana a copié des extraits de midrasim et les a groupés autour de quelques grands thèmes : le repentir, la paix, etc . . . Suivent des discussions sur des points talmudiques et un commentaire suivi sur la Misnah de Τamid) ce commentaire est de tendance littéraliste et ressemble à ceux de Salomon b. Isaac de Troyes, (Rasi). Mais il n'y a pas de commentaire de Rasi sur Tamid; d'autre part, notre

4

Les Grands Courants de la Mystique Juive, Payot, 1950, 94—133.

Le Vademecum d'un rabbin allemand

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texte, sans s'écarter beaucoup des commentaires médiévaux imprimés dans le Talmud de Vilna, est de rédaction nettement différente. Si le texte a été jusqu'à présent inconnu, son auteur ne l'est pas moins, du moins jusqu'à ce qu'un spécialiste des commentaires talmudiques ait réussi à l'identifier. Les autorités mentionnés sont Rasi, Samuel b. Isaac (d'Evreux), Isaac et Moïse, frères du précédent; tous trois rabbins français du début du X I I I e siècle. Les gloses en langue vulgaire sont des mots français mais, comme nous l'avons vu, cela ne prouve aucunement que l'auteur n'était pas allemand. Les considérations talmudiques se terminent au fol. 87™. La copie d'Elqana réprend au fol. 147 avec un recueil de bénédictions composé par Meïr de Rothembourg, que suivent des décisions légales et des Consultations, Elqana précise à la fin du fol. 154vo : «Ceci est une copie d'un texte autographe de notre Maître: Rav Mei'r, qu'il vive et que ses jours se prolongent!» La dernière pièce copiée par notre Rabbin est un abrégé du Grand Livre des Préceptes de Moïse b. Jacob de Coucy. Cet ouvrage volumineux expose les 365 préceptes négatifs et les 248 préceptes positifs contenus dans la Loi de Moïse et que chaque juif se doit de connaître. Mais en raison de sa longueur, il était difficile et de le copier et de l'apprendre par coeur. Il fut composé juste avant 1250 et dès 1277, Isaac b. Joseph de Corbeil en publia un abrégé; ce compendium se répandit assez vite et vers 1290—1300 il était entre toutes les mains. Entre-temps, un autre rabbin beaucoup moins célèbre: Abraham b. Ephraim avait lui aussi rédigé un résumé du Grand Livre des Préceptes, oeuvre qui eut peu de retentissement. C'est justement ce résumé que nous avons ici ou du moins une partie car une bonne moitié de l'ouvrage manque. Abraham b. Ephraim avait pour maître R. Tobia b. Elia de Vienne en Bourgogne et lorsqu'Elqana copia l'ouvrage d'Abraham, R. Tobia était vivant; c'est ce que nous apprend la bénédiction qui suit son nom. Un autre manuscrit de la Bibliothèque Nationale contient cette pièce: le ms. 392; c'est un manuscrit français daté de 1271 et il nous apprend qu'en 1271, R. Tobia était toujours en vie, ce qui précise un petit problème chronologique: car d'une part, nous savons que Tobia assista en 1210 à l'enterrement d'Isaac b. Meïr de Düren, et d'autre part que Yehiel de Paris lui rendit visite avant de se rendre en Palestine en 1260. Nous savons maintenant qu'en 1271, il était toujours en vie et qu'il mourut très vieux à près de quatre-vingts ans5. Par ailleurs notre manuscrit montre que c'est peu après 1250 qu'Abraham b. Ephraïm a écrit son résumé du Grand Livre des Préceptes. 5

H. GROSS: Gallia Judaica

Paris, 1897, 556 sqq.

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Colette Sirat

Le second apport est anonyme mais contient des matériaux non moins intéressants et significatifs. D'abord un extrait de la paraphrase hébraïque du Livre des Croyances et des Opinions de Saadia6, puis un développement sur la prophétie, coupé par des réflexions sur le mérite et le démérite. Ces pages sont un abrégé de la doctrine d'Eléazar de Worms sur les visions surnaturelles, dans une rédaction jusqu'à présent inconnue. Elles contiennent l'essentiel de la doctrine hassidique dont notre scribe souligne le caractère traditionnel à propos du passage suivant (attribué à Rabbenü Hananel, début du X I e S.): «Il est écrit: car vous n'avez vu aucune figure (Deut. IV, 15) ils ont vu Sa Gloire ; la Gloire est au-dessus de la Gloire mais la Gloire qui est la Majesté Eminente se tient auprès de la Présence Divine et aucun homme ne l'a vue; à son propos, le Texte dit: l'homme ne peut me voir et vivre (Ex. X X X I I I , 20) c'est aussi l'interprétation du 'Arükh 7 , celle de Rabbenü Nissim dans Megillat-Se-arim8 c'est l'explication reçue en tradition par Eléazar de Worms de Juda le Pieux, lequel l'avait reçue de Samuel le Pieux». En effet, la doctrine hassidique a réussi à intégrer, en une synthèse très originale, presque tous les éléments de la tradition. L'anthropomorphisme du texte biblique était difficile à concilier avec l'incorporalité divine; les hassidim ont résolu le problème en mutipliant les entités intermédiaires, sauvegardant ainsi la lettre du texte et l'immatérialité divine. S'il n'apporte pas d'idées nouvelles, notre texte, du moins, est remarquablement correct; il est aussi l'un des témoins les plus anciens que nous possédions. Notre scribe inconnu revient à des questions pratiques avec un texte sur les bénédictions (fol. 155—158™) que je n'ai pu identifier, mais il est possible que ce soit simplement un extrait du même ouvrage que la pièce suivante : les lois rituelles pour les jours de fêtes lesquelles ont pour colophon: «ici se termine [un extrait du livre intitulé] Perichot (Commentaires) du Rav. Yehiel b. Joseph». Yehiel b. Joseph de Paris succèda vers 1224 à Juda Sire Léon, son maître, comme chef de l'Ecole Talmudique de Paris. Nous savions qu'il avait composé un ouvrage rituel mais nous n'en avions jusqu'à présent qu'un court extrait 9 . Enfin la copie d'une lettre adressée par Hayyim Paltiel b. Barükh distingue définitivement Hayyim Paltiel de Falaise, rabbin 6 7

La Bibliothèque en possède une copie plus complète: P.-B. N.-H. 669. Dictionnaire des mots étrangers et des termes difficiles de la littérature talmu-

dique, p a r ELIEZER B. NATHAN de R o m e . E d . p a r A . KOHUT V i e n n e

1878—1898;

réimpr.: N. Y . 1955; cf. tome VI, 110, sub verbo: Spaqlaria 8 Ed. S. Α. POZNANSKI : Hasofe le Jiokhmat Israel. 9 Si du moins les décisions contenues dans le ms. Opp. Add. 4° 127 fol., 57 à Oxford font bien partie du même ouvrage.

Le Vademecum d'un rabbin allemand

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du début du X I I I e siècle de son contemporain: Hayyim Paltiel b. Jacob de Magdebourg,10 confirmant une hypothèse avancée par H. Gross. Deux extraits talmudiques, l'un tiré des oeuvres de Yehiel de Paris, l'autre de Joseph Bekhor Sor b. Isaac d'Orléans (milieu du X I I e siècle) terminent la contribution que notre second scribe a apportée au manuscrit 1408. La troisième partie est l'oeuvre d'un savant talmudiste de la fin du X I I I e siècle. Il nous donne d'abord des notes et discussions sur différents traités du Talmud, aucune autorité citée n'étant protérieure à 1250; dans les Lois du divorce qui viennent ensuite, l'eulogie qui suit le nom de Peres b. Elia de Corbeil est celle dédiée aux vivants, or Peres b. Elia de Corbeil mourut vers 1298. D'autre part, le nom de Meïr de Rothembourg est suivi de l'eulogie réservée aux défunts. Il semble donc que ce merceau a été écrit entre 1293 et 1298. Nous trouvons aux fol. 93 et 94 des consultations de Meïr de Rothembourg. Deux cahiers contiennent des considérations homilétiques groupées suivant les thèmes des péricopes du mois de Tifri; ce sont des extraits du Midras, dont notre scribe a dû tirer partie pour ses sermons des Grandes Fêtes. Après les commentaires de deux poèmes liturgiques, nous trouvons des extraits aggadiques du Talmud, sans doute des matériaux pour la préparation d'homélies, et un abrégé du Commentaire sur la Misna Erubin de Moïse Maïmonide. Au fol. 131, un lexique des termes rares de la littérature talmudique et rabbinique n'est pas exactement un abrégé du 'Arükh de Nathan b. Yehiel de Rome; d'autre part, les nombreuses additions qu'on lit sur les marges sont surtout des gloses en langue française. Notre troisième Rabbin continue (fol. 137vo—139) avec des formules de Repentir de Juda le Pieux mais ce sont en réalité des compositions rimées décrivant les pénitences que doivent s'infliger ceux qui se sont rendus coupables de péchés graves. J e ne sais si l'attribution à Juda le Pieux est véridique mais les pénitences sont très rigoureuses et l'esprit qui les anime est nettement hassidique. Relevons qu'un des mots employés : Sehiyôt semble signifier : délectation morose, ce qui est un des termes spécifiques du langage théologique chrétien11. Des notes sur des points liturgiques et des coutumes précèdent un autre ouvrage que le scribe attribue à Juda le Pieux Les significations [que revêtent les bénédictions]. Le texte concorde sur le fond avec ce qu'Eléazar de Worms dit au nom de son Maître dans le Roqéah mais la forme diffère. Il est cependant difficile de dire si c'est là une com-

10 11

Cf. Gallia Judaica, 480—482. Hypothèse émise par M. G. Vajda.

Med. IV

7

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Colette Sirat

position de Juda le Pieux, dont les oeuvres ont été perdues, ou bien s'il s'agit de notes prises par l'un de ses élèves. Des extraits divers et une formule de Consultation onirique terminent la troisième partie de notre manuscrit. La brève description que nous venons de donner ne rend pas un juste compte de la masse de matériaux inédits et inconnus du manuscrit 1408, seules des études approfondies pourront en dégager la valeur, elle esquisse cependant une image des préoccupations professionnelles et intellectuelles des rabbins d'Allemagne qui ont écrit et utilisé ce manuscrit durant le X I I I e siècle.

DIE WIRTSCHAFTLICHE BEDEUTUNG UND SOZIALE STELLUNG DER SEPHARDISCHEN JUDEN IM SPÄTMITTELALTERLICHEN SPANIEN VON HERMANN

KELLENBENZ

I. Die Sonderstellung der Juden Spaniens in der mittelalterlichen jüdischen Geschichte Wenn man die Geschichte der Juden in Spanien und Portugal und ihren ganz andersartigen Verlauf als in den übrigen Ländern des Abendlandes richtig verstehen will, muß man vor allem die Auswirkungen der arabischen Eroberung in Betracht ziehen. Sie schuf für eine Reihe von Jahrhunderten fast für die ganze Halbinsel politische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse, die so ganz verschieden waren von denen der übrigen europäischen Länder. Die Anzahl der Juden, die man von Italien, Frankreich, Deutschland und England für die frühen mittelalterlichen Jahrhunderte kennt, war doch verhältnismäßig bescheiden, und die Betätigung der Juden war, abgesehen von ihrem religiösen Aufgabenkreis und dem Beruf des Arztes, begrenzt auf den wirtschaftlichen Sektor, auf den Handel, das Gewerbe und den Grundbesitz. Die weitere Entwicklung, die Herausbildung einer bürgerlich-christlich betonten städtischen Wirtschaft und die verschärfte Anwendung des kanonischen Zinsverbots ergab, daß die Juden mehr und mehr in das Geldgeschäft hineingedrängt und überhaupt früh aus Zentren verwiesen wurden, in denen sich die bürgerliche Wirtschaft stark regte, ζ. B. in Italien aus Venedig. Es ist auch sehr bezeichnend, daß die Juden in den wirtschaftlich so aktiven Niederlanden und im hansischen Bereich kaum in Erscheinung traten. Da, wo sie im Wirtschaftsleben einen bedeutsamen Platz einnahmen, ζ. B. im Rheinland und in Süddeutschland, erfolgte — wenn man von den frühen Reaktionen in der Kreuzzugszeit absieht — ein großer, vieles vernichtender Schlag gegen sie angesichts des Herannahens des Schwarzen Todes. Auf der Iberischen Halbinsel sind die Dinge ganz anders verlaufen1. Zuerst haben wir die jahrhundertelange Herrschaft der Araber und 1 Vgl. an neuerer Literatur besonders A B R A H A M A . N E U M A N , The Jews in Spain, their social, political and cultural life during the Middle Ages I / I I , Philadelphia 1948 ; dazu: J O S É M A . M I L L A S V A L L I C R O S A , Historia de los Judíos españoles, in: Sefarad V I ( 1 9 4 6 ) 1 6 3 — 1 8 8 ; siehe auch F R I T Z B A E R , Die Juden im christlichen Spanien I / I I , Berlin 1929.

τ

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Hermann Kellenbenz

Mauren. Der Abwehrkampf der christlich gebliebenen Territorien im Norden, die Rückeroberung, die Reconquista, nahm die allgemeinen Kräfte so in Anspruch, daß sich ein Wirtschaftsleben christlicher Prägung erst mit einer entsprechenden Verspätung herausbilden konnte. Man mußte zunächst froh und dankbar sein, daß die Juden ein so wichtiges wirtschaftliches Potential darstellten. Als sich dann aber die eigenen christlichen Wirtschaftskräfte regten, war das spanische Temperament so stark von den Gedankengängen der Reconquista geprägt und erfüllt, daß die unerbittliche Haltung schließlich nicht nur den Mauren, sondern auch den Juden gegenüber zu den so verhängnisvollen Maßnahmen des ausgehenden 15. und des beginnenden 16. Jahrhunderts führte. II. Soziale und wirtschaftliche Lage der Juden bis zum 14. Jahrhundert Nachdem die Juden in der letzten Zeit der Westgotenherrschaft harte Verfolgungen erlitten hatten2, konnten sie sich in der maurischen Zeit auf der Iberischen Halbinsel starke Positionen schaffen, und bezeichnenderweise waren sie hier nicht nur in der Wirtschaft tätig, sondern in einem weiteren sozialen Milieu. Wenn man auf der Suche ist nach dem jüdischen Volk im Mittelalter, das nicht nur aus Händlern und Rabbinern bestand, dann muß man sich die Verhältnisse im maurischen Spanien, Al-Andalus genannt, näher ansehen. Hier findet man auch jüdische Krieger. So scheinen die Araber bei ihrem Vordringen zum Teil jüdische Garnisonen zurückgelassen zu haben3. Juden aus Asien und Afrika, die im arabischen Heer gedient hatten, wurden jetzt in Spanien seßhaft4. Es gab blutige Aufstände, die davon zeugen, daß die Juden mit den Waffen umzugehen wußten; ein Teil dieser Juden ging allerdings wieder zurück nach Afrika. Diejenigen, die auf der Halbinsel blieben, erlebten unter dem Kalifat von Córdoba im 10. und 11. Jahrhundert ihre „goldene Zeit". Es blühten die Talmudgelehrsamkeit, die profanen Wissenschaften, namentlich die 2 Über die westgotische Zeit vgl. J . J U S T E R , La condition légale des Juifs sous les rois visigoths, in: Etudes d'histoire juridique offertes à P. E. Girard, vol. II, Paris 1913, 273—335; Historia de España, dirigida por R A M Ó N M E N E N D E Z P I D A L , Tomo I I I , España Visigoda (414—711 de J. C.) por M A N U E L T O R R E S etc., Madrid 1940, 179—184, IV, España musulmana hasta la caída del Califado de Córdoba (711—1031 de J. C.), por E. L É V I - P R O V E N C A L , Madrid 1950, 49 f. 8 Historia de España, IV, 50. Vgl. auch jüdische Soldaten zur Zeit Alfons VI.: MAN U E L V A L L E C I L L O A V I L A , Los judíos de Castilla en la alta Edad Media, in: Cuadernos de Historia de España X I V (1950), 44. 4 The Universal Jewish Encyclopedia, New York 1948, Bd. 9, S. 686ff.: Artikel: Spain.

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Sephardische Juden im spätmittelalterlichen Spanien

Medizin, und die Künste. Juden waren in der Finanzverwaltung tätig und wurden zu diplomatischen Missionen ins Ausland gesandt. Die Handelsbeziehungen der spanischen Juden erstreckten sich tatsächlich bis an die Grenzen der damaligen Welt. In jedem bedeutenden städtischen Zentrum gab es jüdische Niederlassungen, namentlich in der Hauptstadt des Kalifats, Córdoba, und in Lucena, das dank des verhältnismäßig nahen Hafens von Almeria einer der aktivsten Plätze jüdischer Handelstätigkeit war 5 . Neben den bekennenden Juden, die gewöhnlich in gesonderten Vierteln lebten, gab es auch, entsprechend den zum Islam übergetretenen Christen, eine Schicht von Juden, die den islamischen Glauben angenommen hatten. Das Kalifat von Córdoba zerfiel, und es bildeten sich verschiedene Teilreiche. In dem Teilreich von Granada gelang es dem aus Córdoba geflohenen Samuel Ibn Nagdela (993—1066), zwei Königen als Wesir zu dienen, und sein Sohn Joseph folgte ihm in Ämtern und Würden nach 6 . Doch ist sein und anderer Juden gewaltsames Ende bezeichnend für die Unsicherheit der Verhältnisse. Es war die erste Verfolgung, die unter der mohammedanischen Herrschaft in Spanien vorkam. Die Juden Granadas mußten ihre Güter verkaufen und auswandern, doch sind sie später wieder zurückgekehrt. Auch in den Teilreichen von Sevilla und Saragossa gelang es denjenigen, die aus Córdoba ausgewandert waren, einflußreiche Stellungen zu erlangen. Außer den finanziellen Interessen waren es immer wieder auch andere Fähigkeiten, die den Juden zu hohen Posten verhalfen 7 . Vermutlich gelangten schon im 11. Jahrhundert Juden häufiger in die Stellung von Steuer- und Zolleinnehmern, denn später war dies eine allgemeine Erscheinung. Einzelheiten über diese wirtschaftliche Betätigung sind allerdings kaum bekannt, mit Ausnahme der Nachrichten über ihre weltweiten Handelsbeziehungen8, wobei es nicht nur um Sklavenhandel und entsprechende Verbindungen nach Mittelund Osteuropa hinein geht, sondern vor allem auch um afrikanische Beziehungen9. Dazu kommen Angaben in den Responso, von Aliasi 5 Vgl. dazu Historia de España, dirigida por RAMÓN MENÉNDEZ PIDAL, Tomo V, España musulmana hasta la caída del Califado de Córdoba (711—1031 de J. C.), Instituciones y vida social e intelectual por E . LÉVI-PROVENCAL, Madrid 1957, 93 f. u. 1261, 282. 6

Vgl. H . GRAETZ, History

of the Jews,

vol. I l l , 1 9 2 7 , 2 5 4 — 2 6 1 ; SASSOON,

Diwan

of Shemuel Hannagihd, 1934; The Universal Jewish Encyclopedia 9, New York 1948, 348. 7 Samuel Ibn Nagdela lebte zunächst als Flüchtling in Málaga vom Kleinhandel, doch verstand er, schön zu schreiben, und er beherrschte auch das Arabische gut, und so weckte er die Aufmerksamkeit des Wesirs, neben dessen Palast er seinen Laden hatte. 8

Vgl. HERMANN KELLENBENZ, Die Juden

in der Wirtschaftsgeschichte

des

rheinischen

Raumes. Von der Spätantike bis zum Jahre 1648, in: Monumenta Judaica. Handbuch im Auftrag der Stadt Köln herausgegeben von KONRAD SCHILLING, Köln 1963, bes. 104f.

102

Hermann Kellenbenz

und den Schriften von Ibn Migash, die in die Zeit vor dem ersten und zweiten Kreuzzug zurückgehen und von einem ziemlich gut entwickelten Stand der Geldwirtschaft zeugen10. Noch spärlicher ist die Uberlieferung über ihre Verhältnisse in dem christlich gebliebenen Teil der Halbinsel bzw. in dem von den Mohammedanern zurückeroberten. Zuverlässigere Nachrichten besitzen wir seit der Zeit Alfons VI. (geb. 1030, gest. 1109), der den Mauren die alte Westgotenhauptstadt Toledo wieder abnahm. Eine der Tätigkeiten der Juden auf christlicher Seite lag in der Versorgung der Truppen, die gegen die Mauren kämpften, oder in der Beschaffung von Geld für ihre Ausrüstung. Bekannt ist die Geschichte vom Cid, der sich von den Juden Raquel und Vidas Geld für seinen Zug nach Valencia geben ließ, und König Alfons hat sich in noch ausgiebigerem Maße der Unterstützung der Juden bedient, um sein Staatswesen zu organisieren. Die fanatische Haltung der Almohaden trug dazu bei, daß die Juden den duldsameren christlichen Norden bevorzugten, obwohl es auch hier gelegentlich Ausschreitungen gab. So wie Alfons VII. (geb. 1104, gest. 1157) die tolerante Politik seines Großvaters verfolgte, war es auch bei Ferdinand I I I . (1199—1252),der markantesten Gestalt der frühen Reconquista, der 1236 den ehemaligen Sitz der Kalifen, Córdoba, und 1248 Sevilla einnahm, womit die christlich beherrschten Gebiete einen Umfang erlangt hatten, der erst am Ende des 15. Jahrhunderts wieder entscheidend verändert werden sollte. Unter Alfons X . (geb. 1221, gest. 1284), dem Weisen, entstand das große gesetzgeberische Werk der Siete Partidas, in dem, auf römisches und kanonisches Recht sich stützend, auch das Verhältnis der Juden zu den Christen festgesetzt wurde; dabei wurde der Unterschied in erster Linie als religiöser und nicht als nationaler aufgefaßt. „Jude wird genannt, wer an das Gesetz Moses glaubt und es nach dem Buchstaben hält, die Beschneidung übt und alles andere tut, was das Gesetz befiehlt . . . " u . Die Vorschriften zur Durchführung der Absonderung der Juden von den Christen waren allerdings so streng wie in den übrigen Teilen des Abendlandes. Hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Betätigung wurden indessen keine genaueren Vorschriften gemacht, es sei denn die Beschränkung im Sklavenhandel, die aus der Bestimmung sprach, daß sie keine christlichen Sklaven besitzen durften. Und wenn der Ausschluß der Juden von Staatsämtern gefordert 9 Bezeichnenderweise heiratete Samuels Sohn Joseph die Tochter eines Rabbi aus Kairouan. 10

NEUMAN, a . a . O . , I , 1 6 2 f . V g l . VALLECILLO AVILA, LOS judios

de Castilla

EN la alici

Edad Media 140ff. 11 GEORG CARO, Soziel- und Wirtschaftsgeschichte der Juden im Mittelalter und in der Neuzeit I/II, Leipzig 1909/10, II, 240.

Sephardische Juden im spätmittelalterlichen Spanien

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wurde, so bewies der König selbst, wie wenig ernst er es mit dem Verbot meinte, denn sein Schatzmeister, Don Mair, war ein Jude. Eine Regelung hinsichtlich der jüdischen Geldleihe traf der König kurz nach seinem Regierungsantritt 1253 12 . Neben den Juden betrieben auch die Mauren das Geldgeschäft. Ist auch über die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden im Kastilischen im 13. Jahrhundert nicht viel bekannt, so scheint jedoch das sicher zu sein, daß die berufsmäßige Geldausleihe nicht in dem Maße ihr vornehmster Erwerbszweig war wie in Mitteleuropa. Sie waren Handwerker und seit alters Grundbesitzer. Ein beträchtlicher Teil der eroberten Burgen war Juden überlassen worden13. Am meisten wissen wir über die Tätigkeit der Juden in Verbindung mit dem Hof14. Die Reihe beginnt bei Alfons VI., der Aben Isaac ibn Salib als Gesandten verwendete und sich der Dienste des Joseph Cidellus bediente. Alfons VII. ließ seine Einkünfte durch seinen jüdischen Almojarifen Judah ibn Ezra verwalten. Alfons V I I I . hatte Ibn Susán als Almojarife mayor. Am Hofe Alfons X . verkehrten eine Reihe von gelehrten Juden. Unter den einflußreichen Almojarifes standen Don Coulma und dessen Sohn Zag de la Maleha voran. Als in Kastilien Sancho IV. (1257—1295) die Regierung übernahm, half ihm Don Abraham el Barchilón aus den Schwierigkeiten, indem er die Pacht von Steuergeldern übernahm. Allerdings mußte der Herrscher 1288 den Cortes zu Haro das Zugeständnis machen, fortan keinen Juden zum Einnehmer, Obereinnehmer oder Pächter irgendeiner Abgabe oder eines Servicium zu setzen. Doch haben sich die Juden im Kastilischen im allgemeinen weniger mit der Pacht von direkten Steuern befaßt als mit der Verwaltung von Zöllen und sonstigen Gebühren, wie sie den Almojarifen oblag. Auch hier sollten, nach einem Zugeständnis, das Sancho gegenüber den Cortes von Valladolid machte, nicht Juden, sondern ortsansässige Männer, Adlige, Alcaldes und Merinos diese Gelder einheben. Ähnliche Zusicherungen machten die Vormünder von Sanchos unmündigem Nachfolger, Ferdinand IV., (1295—1312), im Jahre 1295, als die Cortes wiederum in Valladolid versammelt waren. Gute Männer aus den Städten sollten die Abgaben erheben und Verpachtungen unterbleiben, so daß die Juden nichts mehr damit zu tun hatten. Man wünschte, daß auch am Hofe nur gute Männer aus den Städten angestellt würden, kein Jude sollte dort künftig etwas zu tun haben. Doch hielt man sich am Hof nicht streng an diese Zusagen. Das zeigt die Tatsache, daß Ferdinand einige Jahre später im Juden Simuel 12 E r verlangte, daß die Juden „binnen Jahresfrist 3 für 4 geben", was einem Zinsfuß von 3 3 % % gleichkam. 13

Vgl. dazu NEUMAN, a. a. O., I, 1 6 5 f .

11

V g l . NEUMAN I I ,

239F.;

VALLECILLO AVILA,

39ff.

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Hermann Kellenbenz

einen Vertrauten hatte, während die Renten, die die Königsmutter Doña Maria de Molina aus dem Königreich Murcia bezog, Don Zag Abenaix verwaltete. War in Kastilien Toledo das geistige und wirtschaftliche Zentrum der Juden, so waren die Schwerpunkte im östlichen Spanien Barcelona und später Saragossa. In der vielgestalten Eigenschaft des alfaqui kommen Juden am Hof der Grafen von Barcelona und der Könige von Aragon vor15. In der katalanischen Grafschaft war so Sheshet Perfecto, der den fürstlichen Titel Nasi trug, eine einflußreiche Persönlichkeit. Jüdische Bailes dienten unter Ramon Berenguer IV., während dessen Herrschaft (1137) Katalonien und Aragon vereinigt wurden, und in der Folgezeit, voran Angehörige der Familie der Sheshet oder Profet. Reichlicher fließt die Überlieferung erst aus der Zeit Jakobs I. (1208—1276), der, wie sein kastilischer Zeitgenosse Ferdinand, den Beinamen des Eroberers erhalten hat. Da ist nicht selten von jüdischem Grundbesitz die Rede. Bezeichnenderweise kam in Aragon das Wucherverbot auch nicht zur Durchführung. Jakob I. setzte lediglich 1228 in Barcelona mit der Zustimmung der Großen eine Zinstaxe fest, die nicht überschritten werden sollte. Dazu erfolgten auf den Cortes zu Tarragona im Jahre 1240 noch ausführliche Erläuterungen, die insgesamt bewirkten, daß der Kampf gegen den Wucher der Juden in Aragon keine solchen Formen annahm wie in den nordischen Ländern. Außerdem kamen die Juden nicht allein als Darlehensgeber in Betracht. Auch sonst finden wir sie im Gewerbeleben vertreten, es gab Färber und Schuhmacher in Saragossa, Weber in Huesca, jüdische Kaufleute, Wechsler und Tuchhändler. Wenn Jakob I. 1228 vor den Cortes zu Barcelona erklärte, daß den kanonischen Vorschriften entsprechend Juden keine Staatsämter bekleiden sollten, so meinte er, wie er erläuternd hinzufügte,solche Ämter, die eine richterliche oder eine Straf-Gewalt in sich schlossen. Der König hatte auch Juden als Sekretäre und Diplomaten, als finanzielle Berater und gelegentlich als Bankiers, vor allem Benveniste de Porta, einen Bruder des Talmudisten Bona Astruc, der vorübergehend das Amt eines Bajulus von Barcelona und Gerona bekleidete, wobei offenbar die Einkünfte des Amts zur Deckung der geleisteten Zahlungen dienten. Ähnlich war es bei Jehuda de la Cavalleria, der so zeitweilig Bajulus von Saragossa und, wie es scheint, auch von Valencia war16. Vermutlich verwandt mit Jehuda war Salomon de 15

Vgl. dazu a u c h

NEUMAN, I I , 2 2 1 f . u n d CARO, a . a . O . ,

II, 267f.

Vgl.

J.LEE

SHNEIDM AN, Protection of A y agon Jewry in the Thirteenth Century, in : Revue des Etudes juives 4e Serie I = C X X I (1962), 49—58; ders. : Jews in the Royal Administration of thirteenth Century Aragon, in: Historia Judaica X X I (1959), 52. 1 6 Auch andere Einkünfte fielen Jehuda zu: der Ertrag der Salinen von Aragon, das Weidegeld des Merinats Saragossa. Dazu kaufte er die Münze Teruel. Jehuda machte

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Cavalleria, dem 1273 Murviedro und andere Balleien übertragen wurden. Hier stoßen wir auf eine der aristokratischen Familien, die später noch eine große Rolle spielen sollten. In diesen Kreis gehört auch Astrug Jakob Hixon, dem 1267 die Bailei Tortosa auf Lebzeiten übertragen wurde. Unter Pedro II. sicherte sich die Familie der Ravagna den Haupteinfluß17. Doch können diese Tatsachen nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich im Laufe des 14. Jahrhunderts die Juden in Aragon wie auch in Navarra in stärkerem Maße Schwierigkeiten ausgesetzt sahen als in Kastilien. Immerhin konnten sich in Navarra unter Karl II. Juda ha-Levi, und unter dessen Sohn Karl III. Abraham Aben-Joseph von Estalla als Generalpächter der Renten betätigen. In Kastilien übertrug der junge Don Fernando (1285—1312) im Jahre 1300 dem Don Samuel, seinem frivado, die Leitung über die Einnahmen der öffentlichen Renten mit dem Titel eines Almojarife Mayor18, während den einträglichen Almojarifazgo von Sevilla Juda Abarbanel bekam, und sie beauftragten wieder Leute ihres Vertrauens mit den damit zusammenhängenden Pacht- und Verwaltungsaufgaben. Juda Abarbanel wurde der eigentliche Begründer dieser für die zwei nächsten Jahrhunderte auf der Iberischen Halbinsel so einflußreichen Familie. Auf den Positionen, die der Vater schuf, konnte dann der Sohn Samuel Abarbanel aufbauen. Freilich lieferten zur selben Zeit die ständigen Klagen von seiten der Cortes über den Wucher der Juden und ihre Tätigkeit in der Steuerpacht Stoff zur Besorgnis. Dies veranlaßte Fernando erneut zum Zugeständnis, daß die Juden nicht mehr Pächter und Einheber öffentlicher Abgaben sein sollten. In der Praxis hielt er sich aber nicht daran. So erscheint von 1311 ab als Pächter Abraham Aben-Xuxen, ein Schwiegersohn des einst mächtigen Çag Aben-Mayer, Almorjarife des Rey Sabio19. Im Jahre 1313 ordnete eine Kirchenversammlung in Zamora aufgrund der allgemeinen Haltung der Kirche und des Wucherverbots Clemens V. auf dem Konzil in Vienne an, daß die Juden von Ämtern und Würden der Könige wie auch anderer weltlicher Fürsten ausgeschlossen sein sollten. Aber Doña Maria de Molina und die für den jungen Ferdinand die Vormundschaft führenden Regenten gingen nur soweit mit, daß sie sich auf die Ordenamientos Alfons des Weisen beriefen; Ferdinand selbst hat sich bei seinen finanziellen Anlieferungen für das Heer des Königs, er unterhielt Viehherden und hatte ausgedehnten Landbesitz. Noch zu Lebzeiten des Vaters beteiligte sich sein Sohn, Chisdai, an diesen Geschäften. 17

NBUMAN, II,

1 8

JOSE

España 1 9

233.

AMADOR

y Portugal,

D E L O S R Í O S , Historia Madrid 1960, 317 f.

AMADOR D E LOS R Í O S ,

326.

social, politica y religiosa de los Judios

de

106

Hermann Kellenbenz

gelegenheiten doch wieder auf die Mitarbeit der Juden gestützt, und das gleiche tat Alfons XI., der im Jahre 1322 das alte System der Zusammenarbeit mit jüdischen Almojarifen wiederherstellte, um die Unternehmungen durchführen zu können, die ihm den Beinamen des Conquistador eingetragen haben. Diesmal war es Don Jusaph de Ecija 20 , der als Berater und Bankier des Königs freilich nur wenige Jahre einflußreich war; 1327 auf den Cortes von Madrid gelang es seinen Gegnern, Anklage gegen ihn zu erheben, worauf ihm der König sein Amt entzog und anordnete, daß künftig die Verwaltung der Renten Christen und nicht mehr Juden anvertraut werden sollte und daß die Bezeichnung dementsprechend nicht mehr Almojarife, sondern Tesorero sein sollte. Aber kurz darauf gelang es dem jüdischen Arzt Don Samuel Aben-Huacar, so weit das Vertrauen des Herrschers zu gewinnen, daß er ihm die Leitung des Münzwesens übertrug. Ausdruck der liberalen Gesinnung Alfonsos ist das Ordenamiento von Alcalá vom Jahre 1348, das im wesentlichen die Siete Partidas des Rey Sabio bestätigte. Das Ordenamiento verbot den Juden zwar den Wucher, gestattete ihnen aber ausdrücklich, heredades, fincas zu erwerben, im königlichen Gebiet jenseits, südlich des Duero, bis zu 30 000 mrs, diesseits bis zu 20 00021, so daß sie einen gewichtigen Anlaß hatten, sich der diskriminierenden Betätigung der Geldleihe zu entschlagen und damit die Spannungen zwischen Klerus bzw. städtischem Bürgertum und Juden zu mildern. Ein Ausdruck der günstigen Verhältnisse in der alfonsischen Epoche ist auch das Erblühen einer geistigen Kultur, die sich in verschiedenen Wissenszweigen, namentlich der Astronomie, aber auch der Dichtkunst äußerte. Der Nachfolger Pedro ging in seiner Begünstigung der Juden soweit, daß er Don Simuel ha-Levi, den Juan Alfonso de Alburquerque vermutlich aus Portugal herübergebracht und der zunächst in dessen Diensten gestanden hatte, den hohen Posten eines Tesorero Mayor übertrug. Er war einer der intimsten Berater des Königs in dessen Auseinandersetzung mit den rebellischen Bastarden Alfons X I . Von den Schlössern Trujillo und Hita aus organisierte er mit Hilfe seiner Verwandten und sonstigen Mitarbeiter die Einhebung der Renten, zog aber eben dadurch den Haß weiter Bevölkerungskreise auf sich. Er war es auch, der es durchsetzte, daß die Judenschaft in Toledo eine neue Synagoge bekam. Schließlich wurde er, der reichste Jude, den seine Zeit kannte, vermutlich das Opfer jüdischer Rivalen, gestürzt und mit seiner ganzen Anhängerschaft verhaftet. Der Trastamara Heinrich, aus der Bastardlinie, der seit 1366 die Krone Kastiliens trug, brachte das Land durch seine Günstlingswirtschaft in große finanzielle Schwierigkeiten, aber auch er, der in der 20

ANTONIO BALLESTEROS, Don Juçaf

21

A M A D O R D E LOS R I O S , 3 4 2 f.

de Ecija, in: Sefarad VI (1946), 253—287.

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107

Zeit der Rebellion gegen Pedro die Juden seinen Anhängern preisgegeben hatte, bediente sich ihrer nun als Pächter der Renten und machte den Jusaph Pichón zum Contador Mayor, scheute sich aber gleichzeitig nicht, mit den bedenklichsten Mitteln die Judenschaft von Toledo zu schröpfen. Er gab der Forderung der Cortes nach und verpflichtete die Juden, dem Laterankonzil von 1215 entsprechend, ein Zeichen zu tragen, und wiederum sollten die Juden von jedem königlichen Amt ausgeschlossen sein. Sein Sohn und Nachfolger Juan I. mußte den Procuratoren der Cortes auch da nachgeben, wo der Vater Widerstand geleistet hatte: Ricoshombres, Caballeros, Escuderos und nun auch Prälaten sollten keine Juden in ihre Paläste aufnehmen, wobei es natürlich um die Tätigkeit der Verwaltung ihrer Renten ging. Fünf Jahre später, auf den Cortes von Valladolid, wurde das Verbot noch erweitert auf die Häuser der condes, dueñas y doncellas, und zu den verbotenen Betätigungen sollten nun auch diejenigen der recaudadores, subrecaudadores y contadores gehören. So waren also die Juden von 1385 ab von der Einhebung und Verwaltung öffentlicher wie privater Renten ausgeschlossen. Zu den weiteren Einschränkungen ihrer bisherigen Rechte gehörte die, daß sie von ihren heredades künftig pechos zahlen sollten wie die übrigen Christen. Ebenso erfolgten Eingriffe in die jüdische Beweisführung vor Gericht, wenn Juan I. auch noch nicht so weit nachgab, daß er die Forderung der Cortes erfüllte, die Juden sollten auf ihre eigenen Richter verzichten und vor den christlichen Gerichten erscheinen. Immer wieder gingen die Procuradores gegen den Wucher an und wurden die Judenschulden gesenkt, den Schuldnern neue Termine zugebilligt, ja verschiedene Male der Versuch gemacht, die cartas judiegas überhaupt zu annullieren. Schließlich erließ Juan I. auf den Cortes in Soria im Jahre 1380 ein neues Ordenamiento, das die Situation der Juden klarstellen sollte. Dabei wurde ihnen nun zunächst einmal ihre private Gerichtsbarkeit in Kriminalsachen genommen. Juan I. hatte einen jüdischen Leibarzt Mosséh Aben-Abraham Aben-Zazal, den Sohn des Leibarztes von D. Pedro. Der Erzbischof von Toledo, D. Pedro Tenorio, hielt seine schützende Hand über D. Hayan ha-Léon, den Oberrabbiner Toledos und der Erzdiözese, während der Erzbischof von Sevilla, Pedro Gomez Barroso, gegen den judenfeindlichen Erzdekan von Ecija, Ferrán Martinez, einschritt. Jene 10 500 mrs, die König Heinrich für den Unterhalt von 7 neuen Kapellaneien in der Kathedrale von Toledo gestiftet hatte und die alljährlich von der jüdischen Gemeinde Toledos aufgebracht wurden, schienen das Symbol eines Zustandes von Dauer zu sein. Nach dem Synagogenbau von Toledo errichteten auch die Juden von Córdoba einen neuen Bau 22 . 22

AMADOR D E LOS R I O S ,

462.

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Über ihre Zahl ist für die frühen Zeiten nichts Genaueres auszusagen. Tatsache ist, daß sie in größerem Umfang in den Gebieten von Kastilien lebten als in Aragon, wo das mudejare Element überwog. Charakteristisch ist ihre starke Aufsplitterung in zahlreiche Niederlassungen. Es gab Judengemeinden und -niederlassungen in den großen Städten wie in vielen kleinen und kleinsten Ortschaften. In der von Vicens Vives herausgegebenen Wirtschafts- und Sozialgeschichte Spaniens und Amerikas wird die Zahl der Juden in den Ländern der Krone Kastilien für das ausgehende 13. Jahrhundert auf 200 000 geschätzt, was einem Prozentsatz von 4 oder 5 der Gesamtbevölkerung gleichkam. Für die Länder der Krone Aragon werden folgende Zahlen für dieselbe Zeit angenommen: Katalonien 25 000 20 000 Aragon 10 000 Valencia Mallorca 4—5 000 zusammen etwa 60 000, oder 6,5 % der Gesamtbevölkerung. Die weitaus größte Niederlassung hatte Barcelona mit etwa 5000 Seelen23. Die im Lauf des 14. Jahrhunderts spürbar werdende Intoleranz bewirkte ein Abnehmen vieler Niederlassungen, sowohl in den Ländern der Krone Kastilien als auch in denen der Krone Aragon und in Navarra, während andere jedoch wieder zunahmen. So erreichte die Niederlassung von Saragossa jetzt 2000 Seelen. III. Die Verfolgung von 1391 und ihre Stellung der Conversos

Folgen.

Abgesehen von den Pestverlusten, sind die Juden der Iberischen Halbinsel auch von den blutigen Ausschreitungen des Jahres 1349 keineswegs ganz verschont geblieben. Namentlich in den Grenzbereichen, in Gerona und Barcelona, kam es zu Tumulten. Amador de los Rios verzeichnet etwa 500 Tote 24 . Aber dies läßt sich nicht vergleichen mit der Katastrophe, die über Spaniens Juden im Jahre 1391 kam, als der Haß des spanischen Volkes in einer Flutwelle von Grausamkeiten zum Ausbruch kam. Der Tod Juans I . von Kastilien im 23 Historia Social y Economica de España y América, dirigida por J . VICENS VIVES, Tomo II, Patriciado urbano, Reyes Católicas, Descubrimiento de América, Barcelona 1957, 54f. ; nach J . LEE SHNEIDMAN, Jews in the Royal Administration a. a. O., 52 betrug die Gesamtbevölkerung von Aragon in der 2. Hälfte des 13. Jhs. nicht mehr als 1 y 2 Millionen. 24

AMADOR D E LOS R I O S , 4 0 8 f .

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109

Oktober 1390 gab den Auftakt 25 . Der Erbe war erst lljährig. Ein Vormundschaftsrat von 6 Prälaten und Magnaten und 6 Bürgern aus den großen Städten sollte das Regiment führen. Uneinigkeit innerhalb dieses Gremiums ließ die königliche Autorität zerfallen und gab den Leidenschaften der extremen Bevölkerungsteile Gelegenheit, sich zu entfalten, wobei Ferrán Martinez eine führende Rolle spielte. Dem bisherigen Brauch entsprechend, kamen anläßlich des Zusammentritts der Cortes in Madrid Anfang 1391 die angesehensten Juden ganz Kastiliens zusammen, um die Pacht der öffentlichen Renten zu ersteigern, als die ersten Nachrichten von Ausschreitungen gegen die Juden Sevillas und Córdobas verbreitet wurden. Der eigentliche Schlag erfolgte dann am 6. Juni gegen die Judenschaft Sevillas, der über 4000 Menschen vernichtet haben soll. Dem Beispiel der Hauptstadt Andalusiens folgten die anderen Orte mit jüdischen Niederlassungen mit Mord, Brand und Plünderungen. Córdoba wurde erfaßt und weiter fegte der Sturm über Kastilien, Aragon und Katalonien hinweg bis an die Grenzen der Pyrenäen. Bis zum 13. August dieses Jahres 1391 waren die jüdischen Niederlassungen fast ganz Spaniens heimgesucht. Die Zahl der Opfer wurde auf über 150 000 geschätzt, doch fehlen genaue Angaben. Der Nordamerikaner Walsh nahm unlängst noch etwa 50 000 an 26 , aber auch das dürfte viel zu hoch sein27. Amador de los Rios verweist auf die unglückseligen Folgen dieser Untaten für die spanische Wirtschaft, daß die jüdischen handwerklichen Betriebe in Sevilla und Toledo, Lérida und Valencia, Teruel und Mallorca zerstört wurden, daß das gleiche Schicksal die berühmten Gerbereien Córdobas, die Goldschmiedewerkstätten, die Anstalten für die Herstellung bedruckten Leders und farbiger Tuche erfuhren, daß es ebenso mit den Messen erging, auf denen die Juden die Erzeugnisse von Orient und Okzident feilboten, die Seidenstoffe von Persien und Damaskus, das Leder desTafelelt und die Filigranarbeiten der Araber28. Dies alles war ein umso größerer Verlust, als die Spanier nicht in der Lage waren, selbst einen gleichwertigen oder besseren Ersatz zu liefern. An einer anderen Stelle meint er, bis dahin hätten die Tücher von Aragon und Katalonien, die curtidos von Ocaña und Córdoba, die Seiden von Valencia und Sevilla, von Talavera und Murcia, die Teppiche von Borja und Salamanca, die Goldschmiedearbeiten von Toledo und Córdoba mit hundert anderen kostbaren Artikeln der handwerklichen Produktion dank des Einsatzes jüdischer Fabri25

AMADOR D E LOS R I O S , 4 7 3 .

26

W. T. WALSH, Isabel de España, Madrid 1943, 255 f. Historia Social y Economica de España y America, Tomo II, 59. Vgl. zum folgen-

27

d e n M I L L A S VALLICROSA, 28

163ff.

AMADOR D E LOS R I O S , 4 7 3 F.

110

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kanten und Kaufleute mit den entsprechenden Erzeugnissen von Lombay, Brüssel, Echilon, Cambray, Gent, Ypern, Montpellier, London, Mailand und Genua konkurrieren können, nun aber habe den spanischen Erzeugnissen der Markt gefehlt, hätten die ausländischen Erzeugnisse fabelhafte Preise erreicht zum Schaden der Bevölkerung und des Staates 29 . Er betont, daß die Auswirkungen der Ausschreitungen auf die Einkünfte der Krone, der Magnaten, der kirchlichen Institutionen verheerend gewesen seien — „Todo decaía, se aniquilaba o reducía a la nulidad". Mag Amador de los Rios damit übertreiben, so war doch der Schaden, den sich das spanische Volk selbst zugefügt hatte, insgesamt unermeßlich. Hinsichtlich der Frage der Schuld steht zweifellos fest, daß Ferrán Martinez, dem Erzdekan von Ecija, eine Haupt Verantwortung zufiel mit seiner Agitation. Hinzu kam der Umstand, daß die Krone während der langen Jahre nicht energisch genug gegen ihn eingeschritten war, so daß ihre Autorität beträchtlich geschwächt war, als der Thron dem unmündigen Nachfolger zufiel. Aber auch die lokalen Behörden sind offenbar nicht von Anfang an energisch genug vorgegangen. Bezeichnend für die Haltung am Hof ist auch (eine Parallele zu den Vorgängen etwa in Deutschland 1349) die Tatsache, daß Heinrich I I I . (1379·— 1406), ein Jahr, nachdem er selbst die Zügel der Regierung ergriffen hatte, 1396, seinem Favoriten Diego López de Estuniga und Juan Hurtado de Mendoza die Juderia, sowie alle Synagogen, Ländereien, Häuser und übrigen Güter und Erben, die die Juden in Sevilla und in seinem Bezirk besaßen, überließ. Des weiteren wurde dafür gesorgt, daß diejenigen, die sich der Ausschreitungen gegen die Juden schuldig gemacht hatten, möglichst milde behandelt wurden. In Aragon hingegen ließ König Juan I. (1350—1393) wohl einige exemplarische Strafen verhängen. Unter den Bestraften befanden sich z. B. einige Kaufleute von Lérida. Andere konnten sich indessen mit Geldsummen von der Strafe freikaufen, so besonders in Barcelona 30 . Mit den Verfolgungen von 1391 und deren Auswirkungen, namentlich der Taufbewegung, war das jüdische Leben in Spanien keineswegs erloschen. Viele Juden konnten sich retten und blieben Juden. Von der jüdischen Niederlassung in Sevilla ist überliefert, daß deren Bewohner sich weiterhin als Lanzenschmiede, Silberschmiede, Schneider31, Guadamecileros32, Chirurgen und Kaufleute betätigten. Der Nachfolger König Juans, Martin (1356—1410), schärfte das Gesetz bezüglich des Judenabzeichens wieder ein. In den Grenzberei29

A M A D O R D E LOS R I O S ,

559.

Außerdem erteilte er den Juden von Barcelona Privilegien in einem Ausmaß, wie sie kein König zuvor gegeben hatte. Vgl. dazu A M A D O R D E LOS R I O S , 478 f, 486 f. 31 Auch „jubeteros" = juboneros; A M A D O R D E LOS R I O S , a. a. O., 478 u. 559 Anm. 1. 32 Guadamecileros : Hersteller von verzierten Lederwaren. 30

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111

chen gegen den mehr oder weniger unabhängig gebliebenen maurischen Staat Granada machte sich als Folge der Ereignisse von 1391 eine Abwanderung namentlich wohlhabender Juden aus Cordoba bemerkbar, die König Heinrich III. aber abzustellen verstand33. Dieser König, der 1406 starb, vertraute die Steuerpacht wiederum Juden an, obwohl er sich in der Öffentlichkeit gegen diese Praxis ausgesprochen hatte. Auch hielt er sich einen jüdischen Leibarzt, Don Mosseh Aben-Zarzal, und später Don Mayr. Bezüglich des Wuchers stellte er das Ordenamiento von Alcalá wieder her, in dem der Wucher verboten, den Juden aber der Erwerb von Grundbesitz gestattet wurde34, und hob außerdem die alten Privilegien bezüglich der alcaldes porteros und entregadores der Juden auf, ebenso verbot er jede Obligation oder eidliche Bestätigung von Christen gegenüber jüdischen Geldgebern. Er ordnete u. a. an, daß von Darlehen, die in der gleichen Höhe zurückgefordert wurden — in der Annahme, daß bereits die Hälfte als Gewinn gerechnet war — die Rückzahlung in halber Höhe erfolgen und die Christen von jeder Strafe befreit werden sollten, wenn sie ihren Schuldverpflichtungen gegenüber Juden nicht nachkamen. Hinzu kamen noch Kleidervorschriften und die Kennzeichnung mit der rodela bermeja. Eine der bemerkenswertesten Erscheinungen der Ereignisse von 1391 und der Folgezeit ist die Taufbewegung unter den Juden. Sie führte zu einer ganz neuen Gesellschaftsschicht, den Conversos, die für die politische, wirtschaftliche und soziale Geschichte Spaniens im 15. Jahrhundert von größter Bedeutung wurde. Um dem Schrecken zu entgehen, ließen sich zahlreiche Juden taufen, wobei sich von Valencia aus insbesondere der Einfluß von Fray Vicente Ferrer 35 geltend machte. Diese Bekehrungsaktion wurde dann von Don Pedro de Luna aufgegriffen, der als Gegenpapst Benedikt X I I I . in die Geschichte eingegangen ist. Er und sein ehemaliger jüdischer Leibarzt Jerónimo de Santa Fe taten alles, um das Werk, das Fray Vicente eingeleitet hatte, zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Die Ergebnisse zeigten sich in entsprechender Weise in den Jahren 1413 und 1414 unter den führenden Rabbinern und der übrigen, namentlich der wohlhabenden Judenschaft Spaniens. Es kam dabei zu Massentaufen. Wenn Walsh ihre Zahl auf 21/¡¡ Millionen schätzte, dann griff er allerdings viel zu hoch36. Vicens Vives nimmt 35 000 für Kastilien und 15 000 für Aragon an und rechnet für 1420 mit etwa 100 000 Menschen mosaischen Glaubens37. Den Getauften, den Conversos, 33

A M A D O R D E LOS R I O S ,

489f.

31

A M A D O R D E LOS R I O S ,

493.

Vgl. dazu jetzt F R A N C I S C A V E N D R E L L , La actividad proselitista de San Vicente F errer durante el reinado de Femando I de Aragona, in: Sefarad X I I I (1953), 87—104. 35

36

WALSH, a. a. O.,

37

VICENS VIVES, a. a. O.,

255f. 60.

112

Hermann

Kellenbenz

gelang es dank ihres Wohlstandes und ihrer Bildung, dank auch ihrer ζ. T. aristokratischen Abstammung, in die gehobenen Gesellschaftsschichten Zugang zu finden, ganz im Gegensatz zu den conversos mudejares, die weiterhin in den bescheidenen Verhältnissen lebten, in denen sie sich bei der Taufe befunden hatten. Das Mittel war die Einheirat von Töchtern mit reicher Mitgift in die vornehmsten Familien und umgekehrt. Es war dies ein Vorgang, der in den Einzelheiten noch viel zu wenig bekannt ist und deshalb als Ganzes genommen gerne auch wieder überbewertet wird, etwa wenn Amador de los Rios meint, die Conversos gelangten „in die hohe Kurie des Papstes38, wie in die privaten Gemächer, in die Staatsratsgremien, in die königlichen Aulen und Kanzleien, an die Spitze der Verwaltung der öffentlichen Renten wie in die oberste Rechtssprechung, auf die Lehrstühle und in die Rektorate der Universitäten wie auf die Sessel der Diözesane, der Äbte und sonstigen kirchlichen Würden" 39 . Dieser bedeutsame Wandel hatte eine Verlagerung der bisherigen Schwergewichte zur Folge: Bis dahin führende jüdische Niederlassungen verloren ihre Bedeutung, während sich die Positionen der Conversos auf Burgos und Segovia konzentrierten, die eben damals ihrer großen Blüte entgegengingen. Unter ihnen spielte Selomo ha-Levi oder Pablo de Santa Maria mit seinen Söhnen und Verbündeten eine ganz besondere Rolle. Er wurde Großkanzler, dann machte ihn der Papst zu seinem Legaten a latere für die ganze Halbinsel. Schließlich wurde er Bischof von Burgos. Sein ältester Bruder Pedro Suárez wurde Prokurator von Burgos bei den Cortes und (1406) beauftragt mit der Wahrung und Ausführung des Testaments von Heinrich III. Der zweite der Brüder, Alvar García, erhielt 1410 den Titel eines noble ciudadano de Burgos. Er wurde Kammersekretär und Mitglied des königlichen Rats sowie Chronist des Königreichs. Ihn beauftragte der Regent Fernando (1373—1416)40 mit der Führung des königlichen Registers. Der älteste Sohn Don Pablos, Gonzalo García de Santa Maria brachte es (1412) zum Erzdekan von Bribiesca und vertrat 1414 das Königreich Aragon auf dem Konzil von Konstanz. Ein weiterer Sohn, Alfonso García de Santa Maria, wurde zunächst Dekan von Santiago und Segovia, ein anderer, Pedro de Cartagena, erlangte Gemeint ist der Gegenpapst Don P e d r o de L u n a . AMADOR DE LOS RIOS, a. a. O., 5 6 2 f . Die neuere L i t e r a t u r dazu vgl. NICOLAS LOPEZ MARTÍNEZ, LOS judaizantes Castellanos y la Inquisición en tiempo de Isabel la Católica, Burgos 1954, 104ff. 4 0 Gemeint ist der spätere König v o n Aragon (König v o n 1 4 1 0 — 1 4 1 6 ) . LUCÍAN O SERRANO O S E , Los conversos D. Pablo de Santa Maria y D. Alfonso de Cartagena (— Publicaciones de la Escuela de Estuedos Hebraicos) Madrid 1942, 9 f f . ; FRANCISCO CANTERA, Alvar Garcia de Santamaria. Historia de la judería de Burgos y de sus conversos más egregios, Madrid 1 9 5 2 ; ders., La judería de Burgos, i n : Sefarad X I I , (1952), 59—104. 38

39

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113

schon früh den Grad eines Guarda des Königs, um dann die militärische Laufbahn einzuschlagen und Regidor von Burgos zu werden. Der jüngste, Alvar Sánchez de Cartagena, wurde schließlich Jurist und Diplomat. In den Kämpfen zwischen Don Enrique und Don Juan suchten die Conversos ihren Einfluß in vermittelnder Weise geltend zu machen. Interessant ist dabei, daß zu dem Triumvirat, auf das sich Juan II. (1405—1454) stützte, außer Juan Furtado de Mendoza und Alvaro de Luna auch Abraham Benveniste gehörte, einer der wohlhabenden Juden, denen es gelungen war, die Katastrophe zu überstehen und sich in der Einhebung öffentlicher Renten zu behaupten. Was nun folgt, ist ein dramatisches Spiel um Positionen, ein ständiger Wechsel von Aufgaben. Der Aufstieg der Santa Maria ging weiter : Gonzalo García de Santa Maria wurde Bischof von Astorga, Plasencia und Siguenza, während der Dekan von Santiago Kastilien auf dem Konzil zu Basel vertrat und später seinem Vater als Bischof von Burgos nachfolgte. Noch in seinen letzten Jahren bemühte sich Pablo de Santa Maria um eine konsequente Verfolgung der Politik, die durch das Ordenamiento von 1412 und die Bulle von 1415 gegeben war, indem er 1434, ein Jahr vor seinem Tod, mit den Dialogos den Juden erneut den Kampf ansagte. Im selben Jahr begab sich auch sein Sohn, Alfonso García de Santa Maria, von Alvaro de Luna ausersehen, aufs Konzil von Basel, wo er erreichte, daß die Bulle des Gegenpapstes Benedikt bestätigt wurde und der neue Papst Eugen IV. dementsprechend den Bischöfen Spaniens und Portugals ihre Befolgung nahelegte. Dies trug wesentlich dazu bei, daß der alte Groll gegen die Juden wieder lebendig wurde. So kam es (1438) zu neuen Verfolgungen im Gebiet von Cordoba und seiner Umgebung41. Im Gegensatz dazu schuf die Pragmatica Johanns II. von Arévalo vom 6. April 1443, entsprechend der Einstellung seines Ministers Don Alvaro, neue Erleichterungen. Amador de los Rios ist der Ansicht, daß dies mit dazu beigetragen habe, die Spannung zwischen dem Kreis der Santa Maria und dem Condestable, Don Alvaro, zu erhöhen. Hatte Alvar Sánchez de Cartagena noch zu Don Alvaro gehalten, so verließ auch er den Condestable schon Ende der dreißiger Jahre 42 . Zu dieser Gruppe gesellten sich Alfonso García de Santa Maria nach seiner Rückkehr nach Kastilien, der sich als Bischof von Burgos künftig Alfonso de Cartagena nennen sollte. Bezeichnenderweise erfolgte die Verhaftung Don AJvaros in Burgos, wo der König im Palast des Bischofs Don Alfonso wohnte, während Alvaro de Luna sich in den Gebäuden aufhielt, die dem Bruder des Bischofs, Don Pedro, gehörten. Übrigens stammten 41

AMADOR D E LOS R I O S , 5 7 8 , A n m . 2 .

42

AMADOR D E LOS RIOS, 5 8 0 , A n m .

Med. IV

2. S

114

Hermann Kellenbenz

alle Schreiben, mit denen Don Juan I I . die Verhaftung und Hinrichtung Don Alvaros in Valladolid gegenüber der Öffentlichkeit rechtfertigte, aus der Feder eines Converso: Fernando Diaz de Toledo 43 . Außer ihm, der Referendario und Sekretär des Königs war, nennt Amador de los Rios noch weitere neófitos als Mitglieder des Consejo Real 44 . Auch in den Gebieten von Aragon ist im Laufe des 15. Jahrhunderts ein deutlicher Niedergang der jüdischen Niederlassungen festzustellen 48 . Nicht nur, daß viele der Wohlhabendsten konvertiert waren, auch andere — und gerade die Vermögendsten — verließen die alten Aljamas und begaben sich in die Señoríos von Infanzones und sonstigen Privilegierten, um hier den Abgaben zu entgehen. 46 In der Mitte des 14. Jahrhunderts erscheinen die Aljamas von Barcelona, Gerona, Lérida noch mit beträchtlichen Beträgen von Steuergeldern der cenas reales, wobei Barcelona mit 24 000 sueldos barceloneses vorangeht und Gerona wie Lérida mit 13 300 und 11 000 jaqueses folgen. 1438 ist die Situation ganz anders. Von Katalonien bezahlt jetzt nur Gerona Steuern, von Valencia sind die Aljamas Castellón, Burriana und Murviedro dabei, aber die Beträge sind niedrig, der höchste, der von Gerona, erreicht 550 sueldos barceloneses. In Aragon ist die Zahl der Aljamas größer, an der Spitze stehen Barbastro mit 400, Calatayud und Monzón mit je 350, und Saragossa sowie Huesca mit je 300 sueldos jaqueses 47 . Die Aljamas von Barcelona, Lérida und Valencia erscheinen gar nicht mehr. Einen der Hauptgründe müssen wir im Zusammenschrumpfen durch die Taufen sehen. Die Verurteilung einiger Rabbiner in Palma auf Mallorca im Jahre 1435 führte zu einer späten Bekehrungswelle, die die ganze Judenschaft Mallorcas erfaßte. Über die Auswirkungen, die die Taufen im Aragonesischen hatten, gibt uns der berühmte 1507 43

AMADOR DB LOS R Í O S , 5 8 7 .

Außer den Brüdern Gonzalo García de Santa Maria, Don Alfonso und Alvar Sánchez de Cartagena, Dr. Diego Gonzales Franco, die Brüder und Doktoren Pero Yanez und Juan Alfonso de Toro, Söhne des Converso Juan Esteban aus Rempusa in Galicien, der, ein pellejero, in Toro zum Christentum übergetreten war, Dr. Fernando Diaz de Toledo, Referendario des Königs, und sein Neffe Pedro Díaz; Dr. Pedro Gonzalez Dávila, Sohn des Converso Fernán González, und sein Bruder Alfonso Dávila (später Sekretär der Kathol. Könige), der Fiskal Dr. Juan Gómez de Zamora. Als de estirpe dudosa erwähnt er die Doktoren Alfonso García de Guadalajara, Juan Sánchez Zurbano, Gonzalo Ruiz de Ulloa, den I ic. Alfonso Sanchez de Logroño und den bachiller Fernán Gómez de Ferrara: AMADOR DE LOS Ríos, 588, Anm. 2. 44

45

AMADOR D E LOS R Í O S , 5 9 0 f.

46

F ü r Teruel vgl. FRANCISCA VENDRELL DE MILLAS, La aljama judaica

de Teruel

y

la proclamación de Fernando de Antequera, in: Homenaje a Johannes Vinche para el 11 de mayo 1962, Vol. I, Madrid 1962/6B, 279—284. 47

AMADOR D E LOS R Í O S , 5 9 8 , A n m . 2 ; A N D R E S J I M E N E Z S O L E R , LOS Judíos

españoles

a fines del siglo XV. y principio del XIV., = Publicaciones de la Facultad de Filosofía y Letras, Serie I, Nr. 5, Zaragoza 1950, 45f.

Sephardische Juden im spätmittelalterlichen Spanien

115

verfaßte Libro Verde de Aragon Auskunft. Zu den bekanntesten Täuflingen gehörten die Santa Fe, die auf die Rabbiner Jehosuah Ha-Lorqui und Ezechiel Azaniel zurückgehen. Von ihren Söhnen wurde Francisco de Santa Fe Assessor general des Gouverneurs von Aragon, während der andere, Pedro de Santa Fe, besonders bei der Königin Maria in der Gunst stand. Hinzu kamen die Ram aus Monzón, die Santangel aus Calatayud, die Santa Maria, Cruyllas und Cabra. Da waren ferner, durch ihren Reichtum ausgezeichnet, die Villanova von Calatayud, die Maluenda, de Ribas, de Jassa, die aus Tauste und Hijar stammten, oder die Ortigas, Espés, Vidal und Esplugas, die in Saragossa beheimatet waren. Sie betrieben ihre wirtschaftlich-kaufmännische Tätigkeit weiter, während eine dritte Gruppe, zu der die Paternoy, Del Rio, Ruiz, Coscón, Pomar, Albion, Clemente, Cabrero, Torrero, Zaporta, Ixar, de la Caballería gehörten, die alle, weil sie auf die Stämme Juda und Levi zurückgingen, adlige Traditionen pflegten48. Rasch ergaben sich Familienverbindungen mit führenden Häusern Aragons, wobei das Königshaus selbst voranging. Don Alfonso de Aragon, ein Bastardsohn von König Johann von Navarra, verliebte sich in Saragossa in Estenza, die Tochter des reichen Tuchhändlers Aviasa ha-Cohen oder Coneso, und aus dieser Verbindung gingen drei Söhne hervor, die künftig den Namen Aragon tragen sollten49. Nachdem dieses Beispiel gegeben war, zögerten Angehörige anderer Familien nicht mehr. Diese Verbindungen nahmen im Laufe weniger Generationen ein solches Ausmaß an, daß in der Mitte des 15. Jahrhunderts schon zahlreiche Familien von Caballeros und Infanzones jüdisches Blut hatten und solche Fälle auch unter dem ersten Adel nicht selten waren. Amador de los Rios nennt eine ganze Reihe: voran die Moneada, Gurrea, Mendoza, Moncayo und noch andere50. Besondere Aufmerksamkeit widmet er den de la Caballería. Von diesem Geschlecht bestand der Zweig, der von Don Bonafós oder Pedro de la Caballería angeführt wurde, aus 7 Brüdern, die ihre Karriere im Dienste der Kirche, des Hofes und der städtischen Verwaltung machten. Einer, Luis, wurde Tesorero Mayor des Königs Juan von Navarra, und in dieses Geschäft führte er dann auch seine Neffen und andere Conversos ein. Besonders glänzend war aber die Laufbahn des Hauptes der Familie: Bonafós oder Micer Pedro. Er war Kommissar der Königin auf den Cortes von Monzón und Alcañiz (1436, 1437 und wiederum 1442). Zwei Töchter versippten sich mit den reichen Familien der Zayas und Ayerbe, die Söhne Alfonso und Jaime heirateten in den 48

AMADOR D E LOS RIOS, 6 0 4 f .

49

AMADOR D E LOS RIOS, 6 0 6 .

50

Ebd. 607 Anm. 2.

116

Hermann

Kellenbenz

Kreis der Eraso, Haro und Urries ein, womit sie sich die höchsten Ränge im aragonesischen Adel gesichert hatten 5 1 . Und wie die Santa Maria, so zeichneten sich auch die Santa Fe und die de la Caballería durch ihren Eifer für die christliche Sache gegen die Juden aus. In der Mitte des Jahrhunderts eröffneten in Kastilien der Tod von Don Alvaro de Luna, der Tod Juans II. und der Thronantritt Heinrichs IV. (1427—1474) gewisse neue Perspektiven. Der letztere stellte beim Thronantritt einige der alten Privilegien wieder her. Seinen Leibarzt Rabbi Jakob Aben-Nuñez machte er zum Rabb Mayor, was sich namentlich hinsichtlich der zu entrichtenden Steuern und sonstigen Abgaben auswirkte. Am Hof Heinrichs gelangten verschiedene Conversos zu einflußreichen Stellungen. So Alvar Pérez de Orosco, Alvar Pérez de Castro, Juan de Zuñiga, Hernando de Tovar, Pero Méndez und Pedro de Bobadilla. Leider verstand es dieser so schwache, mit so vielen Fehlern behaftete König nicht, den Ehrgeiz und die Maßlosigkeit der Conversos zu zügeln; eine Wiederholung der Vorgänge, die sich 1449 in Toledo abgespielt hatten, ließ sich so nicht vermeiden5131. Von den Santa Maria hatte wohl Pedro de Cartagena seinen Platz im Rat des Königs, aber an Einfluß überragten jetzt andere, voran Diego Arias Dávila und Fray Alfonso de Espina. Der letztere tat sich als Theologe hervor mit einer berühmt gewordenen Arbeit Fortaleza de la Fe, die sich gegen die ungetauften Juden richtete. Der erstere hatte die Verwaltung der königlichen Renten in seiner Eigenschaft als Contador Mayor inné. Ihm gelang es, als Herr des Schlosses Puñonrostro und der umliegenden Ländereien ein großes Majorat zu schaffen. Sein ältester Sohn Pedrarias Dávila sollte ihm in der Contaduría und im Einfluß beim König nachfolgen 52 . Mit seiner Ehe konnte er keine bessere Partie machen. Er heiratete Marina de Mendoza, Tochter von Pedro Lasso de la Vega und Juana Carrillo, die Enkelin des ersten Marqués von Santillana und Nichte des ersten Duque del Infantado, d. h. er versippte sich mit der kastilischen Hocharistokratie und bekam vom Vater den Señorío Torrejón de Velasco53. Der zweite Sohn, Juan Arias Dávila, wurde Bischof von Segovia. Für die Einhebung der königlichen Renten schuf sich Arias Dávila einen Apparat von Contadores, ebenfalls meist Conversos, die über das Königreich verteilt waren. Als Rentenpächter ließ er auch bekennende Juden zu 54 . 51

A M A D O R D E LOS R I O S , 6 0 7 f .

51

& Vgl. dazu

9 3 ff. 62 63

51

(alboroto

ELOY BENITO RUANO,

de

Toledo en el siglo XV, Madrid

1467).

U b e r i h n vgl. Sefarad V I (1946), 201—203. 623f. Cortes de León y Castilla, Tomo II, 716.

A M A D O R D E LOS R I O S ,

1961,

47ff.,

Sephardische Juden im spätmittelalterlichen Spanien

117

Adel und Kirche bedienten sich in der Verwaltung ihrer Einkünfte ebenfalls jüdischen Personals55. Trotz der Verbote war man beim Adel um die Mitte des 15. Jahrhunderts wieder zum früheren Brauch zurückgekehrt, und Beispiele dafür gibt es auch aus der kirchlichen Verwaltung, so beim Bistum Roa, beim Kloster San Salvador de Ona56. Trotz der Bemühungen des Contadors Diego Arias Dávila, die bis zu seinem Tod 1466 festzustellen sind, trotz der gleichen Haltung seines Sohnes Pedro Arias, der dem Vater in seiner Stellung nachfolgte, trotz der Bemühungen des Rabbi Jahacob Aben-Nuñez, die jüdische Bevölkerung in den großen Städten Kastiliens zurückzuhalten, hat sich die Situation zu Ende der Regierung Heinrichs IV. gegenüber dem, was früher war, wesentlich verändert. Das zeigt am deutlichsten der repartimiento del servicio y medio servicio, der 1474 den Juden in Kastilien auferlegt wurde. Dabei ergibt sich die Feststellung, daß einst so bedeutende Aljamas wie die von Toledo, Burgos, León, Valladolid, Córdoba und Sevilla keinesfalls mehr die größten Summen entrichteten. Das Schwergewicht hatte sich auf andere Niederlassungen verlagert, nach kleineren Orten, in denen die Juden sich des Schutzes von Adligen oder Klöstern erfreuen konnten. Bedeutender waren noch die Aljamas von Avila57 und Segovia, die 12 000 und 11 000 mrs entrichteten, während diejenigen von Burgos nur 700 und die von Toledo und seiner Umgebung nur 3500 zahlten. 11 300 mrs erbrachte die Aljama von Ocaña, einer der Hauptplätze des Ordens von Santiago.58 Die Juden von Sevilla und Umgebung mitsamt den Juden von Algarve steuerten 2500 mrs, diejenigen von Córdoba 1200 mrs bei. Insgesamt gab es noch etwa 217 jüdische Niederlassungen in Kastilien, die die Gesamtsumme von 450 000 mrs zahlen mußten. Amador de los Rios rechnet aufgrund dieser Summe mit etwa 12 000 Familienhäuptern und rund 60 000 Juden in ganz Kastilien59. Während es in Navarra von bedeutenderen Niederlassungen nur noch diejenigen von Pamplona und Tudela gab, ist für die Verhältnisse 55

AMADOR D B LOS R Í O S , 6 2 5 A n m .

56

SÁEZ, Demostración histórica del valor de la moneda durante el reinado de Enrique 1 9 5 1 ; A M A D O R D E LOS R Í O S ,

IV.,

1.

663.

Vgl. P. LEÓN, La judería de Avila durante el reinado de los Reyes Católicos, in: Sefarad X X I I I (1963), 36—53. Um 1440 lebten noch etwa 23 Familien mit „fumo" in Burgos. LUCIANO HUIDOBRO SERNA, Sentencia arbitral de Don Alfonso de Cartagena referente a la aljama judia de Burgos, in : Sefarad V I (1946), 130—136. F. CANTERA, La judería de Burgos, in: Sefarad 12 (1952), 59—104, hat Seite 92 nur 22 humos und hogares. 57

58

AMADOR DE LOS RÍOS, 9 9 6 f . ; vgl. dazu a u c h F . FERNANDEZ Y GONZALEZ,

ciones jurídicas del Pueblo de Israel en los diferentes estados de la Peninsula Madrid 1881, 305 f. 59

A M A D O R D E LOS R Í O S ,

645.

Institu-

Ibérica,

118

Hermann Kellenbenz

in Aragon um diese Zeit das starke Gewicht der Conversos bezeichnend. Juan I L übergab das Amt des Tesorero Mayor von Aragon Luis de la Caballería, einem Bruder von Micer Pedro dem Älteren 60 . Fray Vicente demente machte er zu seinem Rat, Kammersekretär wurde Mosén Felipe demente, sein Bruder. Beide waren Söhne des Juden Mosse Chamoro. Bischof von Mallorca mit der Residenz am Hof aber wurde Pedro de Santangel, Sohn von Asarius Jinillo. Die Rolle eines Assessors des Generalgouverneurs von Aragon nahm Micer Francisco de Santa Fe, der Sohn des Rabbi Jehosua ha-Lorqui ein. Auf Luis de la Caballería als Tesorero folgte Luis Sánchez, Sohn von Alasar Usuf, während Alfonso de la Caballería, Sohn des berühmten Bonafós, Vizekanzler des Königreiches wurde. Als Pächter der öffentlichen Renten bemerken wir Francisco, den Sohn von Juan del Rio aus Fraga, der sich als Jude Asach oder Isahak Barro genannt hatte und 1465 die generalidades del reino, d. h. die Zölle, gepachtet hatte, sowie Pedro de la Caballería, der sie 1477 hatte 61 . Auch im übrigen politischen Leben traten die Conversos auffallend in Erscheinung, so bei den Cortes von Fraga, die 1460 einberufen wurden. Hier waren sie vertreten unter der nobleza, unter den infanzones und caballeros und unter den procuradores62. Auch bei den Cortes, die 1461 in Calatayud zusammentraten, spielten sie eine beachtliche Rolle, und man spürt ihre Vermittlung bei der Festlegung der Gesetze namentlich hinsichtlich der wucherischen Betätigung der Juden. Unter den weiteren Betätigungen von Conversos in führenden Ämtern darf hervorgehoben werden, daß Pedro de la Caballería der Jüngere die Heiratsverbindung zwischen Ferdinand, damals König von Sizilien, und der Prinzessin Isabella von Kastilien zustande brachte und ihr im Auftrag Ferdinands ein kostbares Collier überreichte. Nicht zu vergleichen mit diesem hohen Ansehen der Conversos ist die Lage der Juden in Aragon, wenn es ihnen auch besser erging als in anderen Gebieten der Krone. Juan I I . hielt sich jüdische Astrologen und Leibärzte, von denen Abiatar Aben-Crexcas der bekannteste war 63 . Auch hört man von jüdischen Ärzten in Reus und Tarragona. Als Ferdinand seinem Vater Juan als König von Aragon nachfolgte, beließ er die verschiedenen Conversos, die als Berater und Diener in seiner Umgebung geweilt hatten, in ihren Stellungen, ja sie gelangten jetzt zu noch stärkerem Einfluß. Alfonso de la Caballería, Sohn von 60 61

Ebd. 665. Ebd. 666.

Historia de la economía politica en Aragón, Zaragoza 1947, 409; 670 Anni. 2. 6 3 Vgl. über die Crescas: A M A D A L O P E Z D E M E N E S E S , Crescas de Viviers, astrólogo de Juan I. el casador, in: Sefarad X I V (1954), 99—115, 265—293. 62

IGNACIO D E ASSO,

AMADOR

DE

LOS

RÍOS,

Sephardische Juden im spätmittelalterlichen Spanien

119

Don Bonafós, wurde Vizekanzler, sein Bruder Jaime erhielt eine Ratsstelle. Sekretärposten bekamen Miguel de Almazán und Gaspar de Barrachina; die Eltern des ersteren waren noch Juden, der Vater des letzteren bereits Converso. Baile General in Aragon wurde der Tesorero Luis Sánchez, während sein Bruder Gabriel die Tesorería übernahm. Der Mundschenk Guillén Sánchez avancierte zum maestre racional von Aragon. Die Stelle des Despensero Mayor erhielt Francisco Sánchez, und Stellvertreter des Tesorero General, insbesondere für das Königreich Valencia, wurde Alonso Sánchez, alle fünf waren sie Brüder, Söhne von Pedro Sánchez, dem Bruder von Alazar Usuf. Gonzalo de Paternoy, Sohn von Sancho und Aldonza Gordo, wurde maestre racional, offenbar als Nachfolger von Guillén Sánchez; Francisco Gurrea, Schwiegersohn von Gabriel Sánchez, erlangte den Posten des Gouverneurs von Aragon; Luis Santangel wurde zunächst escribano racional und später Kronrat. Das sind nur die Ämter, die uns hier besonders interessieren. Andere der Justiz, des Verteidigungsrates, der Kirche kamen noch hinzu. Auch in Kastilien waren die Conversos stark vertreten. Zum Königlichen Rat gehörten Pedro de Cartagena und Pedro Arias Dávila, der Contador Mayor wurde; Gonzalo Franco, Sohn des Doktor Garci Franco, war Contador de Cuentas, dazu hatten sie verschiedene wichtige kirchliche Ämter. Es ist hier nicht die Aufgabe, die Entwicklung bis zur Einführung des Santo Officio zu verfolgen. Am 11. Februar 1482 stellte Papst Sixtus IV. die Bulle aus, die das Tribunal der Inquisition in Spanien sanktionierte, und der Consejo de la Inquisición, der im Werden war, sollte sich einfügen in das 1480 geschaffene System der Consejos Supremos, die das oberste Instrument des spanischen Einigungswerkes darstellen und damit auch die verschiedenen Zweige der königlichen Verwaltung erfassen und dem Einfluß der Conversos entziehen sollten64. Lediglich die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Vorgänge sollen uns hier beschäftigen. Die bemerkenswerteste Tatsache ist dabei wohl die, daß die ersten Opfer der Inquisitoren die vermögenden Conversos waren, daß die konfiszierten Vermögen der Königlichen Kammer zufielen und daß man am Hof diese Beträge als einen rechtmäßigen Zuschuß zum Unternehmen gegen Granada betrachtete. Den am Hofe einflußreichen Conversos gelang es, ihre Positionen zunächst zu halten, aber gegen einzelne ging die Inquisition rasch vor. Schon 1482 lief ein Verfahren gegen die Eltern des Protonotars von König Ferdi64 Vgl. A. S. TURBERVILLE, La inquisición española, 3 a ed., Mexico, Β. Aires 1954, 36 ff. ; LOPEZ MARTINEZ, LOS judaizantes castellanos y la Inquisición en tiempo de Isabel la Católica, Burgos 1954, 253 ff. Im Königreich Valencia gab es ein Tribunal der Inquisition schon seit 1420.

120

Hermann Kellenbenz

nand, Felipe Clemente, das alarmierte. Als in Saragossa einer der einflußreichsten Conversos, Leonardo de Eli (mit seinem jüdischen Namen Don Simuel), verhaftet wurde 65 , beschlossen Juan Pedro Sánchez, Sancho de Paternoy, Luis de Santangel und Jaime de Montesa, ihren Einfluß am Hof geltend zu machen, war doch Sánchez einer der bekannten fünf Brüder. Aber die Brüder am Hof wie auch verschiedene verwandte Magnaten wußten keine Hilfe — es sei denn, den Rat, sich mit Gewalt der Inquisitoren zu erwehren. Es kam hier zu einer Verschwörung, an der sich auch Conversos aus Calatayud und Barbastro beteiligten; 1485 wurde der Maestro Abrues in der Kathedrale ermordet. Torquemada zögerte nicht mit den Strafmaßnahmen. Unter denjenigen, die noch im Jahre 1486 den Feuertod erlitten, befanden sich Luis de Santangel, Francisco de Santa F e 6 6 und Alonso Sánchez. Der Vizekanzler von Aragon, Alfonso de la Caballería, der sich auch unter den Verdächtigen befand, wandte sich an den Papst, der seinen Prozeß an sich zog; er wurde, nachdem er der Gefahr entgangen war, vom Geschworenenkolleg des Königreiches zum juez mayor und Haupt der Hermandad von Aragon ernannt. Wie in Saragossa schritt die Inquisition in Barcelona und anderen Plätzen ein, so in Tudela, wohin viele der in das Komplott von Saragossa Verschworenen geflohen waren. Der einflußreiche Don Juan Arias Dávila wurde 1491 mit seinen Brüdern und Verwandten des Verbrechens der heregia judaica geziehen. Auch hier konnte der Papst helfen. Don Pedro de Aranda, ebenfalls Bischof, mußte es erleben, daß über den Leichnam seines Vaters Gonzalo Alfonso das Urteil gesprochen wurde. In einigen Fällen griff die Kurie mit Erfolg ein, und die Katholischen Könige sahen sich zuletzt selbst genötigt, sich an den Papst zu wenden, um die Inquisitoren, die die Prozesse entfacht hatten, zu zügeln. Das Ergebnis waren die Ordonanzas del Santo Officio. Freilich blieb die Ausführung der Reform in den Händen des bisherigen Generalinquisitors Torquemada, und so kam es im wesentlichen nur zu einer Sanktion des bisher Geschehenen in der Form der Instrucciones von 1488 und der Ergänzungen von 1490 und 1498. Wie stand es in der Zeit der Katholischen Könige mit den Juden selbst ? Wir finden sie am Hof bzw. in enger Verbindung mit diesem ; so Don Abraham Senior und Andres de Cabrera, Alcaide von Segovia, dessen Ratschläge die Heiratsverbindung zwischen Isabel und Fernando mit vermittelt hatten. Trotz dieser persönlichen Verbindungen zu Juden ließen sich weder Isabella noch Ferdinand von all jenen Maßnahmen gegen Conversos und Judios abhalten, die ihrem Gewissen 65 66

E r wurde 1 4 9 1 verbrannt, A M A D O R D E L O S R I O S , 6 9 2 Anm. 3 . Francisco de Santa Fe hatte, bevor er verbrannt wurde, Selbstmord begangen,

AMADOR D E LOS R I O S , 6 9 5 . A n m .

4.

Sephardische Juden im spätmittelalterlichen Spanien

121

die Glaubensüberzeugung und die Idee der Staatsraison auferlegten, so die Ausweisung der Juden aus Córdoba und Sevilla und ihren Diözesen um 1478, um jeden Verkehr zwischen Conversos und Juden zu unterbinden. Die Bewohner von 4020 Häusern sollen auf diese Weise ausgewandert sein, was für das Gewerbe und den Handel eine starke Beeinträchtigung hervorrief. Unter dem Einfluß der berühmten Coplas de Mingo Revulgom und der Haltung der Conversos wirkten sich die Freiheiten, die die Juden unter Enrique genossen hatten, zu ihren Ungunsten aus, zumal die üblen Folgen des Finanzzustandes, in dem der König das Land hinterlassen hatte, noch jahrelang spürbar waren. Jetzt stimmten die Könige dem Gesetzesvorschlag der Cortes von Toledo (1480) zu, daß alle Juden nicht mehr frei, sondern in geschlossenen Bezirken wohnen sollten. Offenbar verärgerte auch der Handel der Juden mit den Mauren, denn es wurde weiter bestimmt, daß jeder Jude, der Waffen in das Gebiet der Mauren bringe, dem Tod verfallen sei. Trotz dieser wachsenden Schwierigkeiten berichtet die Chronik eben nach den Cortes von Toledo von dem Empfang des Königspaares in Saragossa durch die dortige Aljama mit reichen Geschenken68, dazu die tatkräftige Beteiligung der Juden am Gelingen des letzten Unternehmens der Reconquista auf spanischem Boden. Dabei gingen Abraham Senior und Isahak Abarbanel voran, der erstere in seiner Eigenschaft als Rabb Mayor der kastilischen Königreiche. Abarbanel stammte aus einer alten Toledaner Familie, die nach den Verfolgungen 1391 nach Portugal ausgewandert war. Als 1482 in Lissabon die Juden verfolgt wurden, begab sich Abarbanel nach Spanien, und hier assoziierte er sich mit Abraham Senior, um die königlichen Renten zu verwalten. Ihnen wurden die Organisation und Versorgung der Truppen übertragen, die das Königreich Granada erobern sollten. Es ging dabei also in erster Linie um die Beschaffung von Lebensmitteln und Waffen, wobei Senior und Abarbanel noch weitere Juden heranzogen. Ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zeigte sich besonders bei der Eroberung von Malaga, wo Abraham Senior 20 000 doblas jaqueses aufbrachte, um die judíos moriscos freizukaufen, die man dort gefangengenommen hatte 6 9 . Bei der Belagerung von Baza, das sich hartnäckiger verteidigte als Málaga und die deshalb langwieriger wurde, bildete sich ein beträchtliches und buntes Lagerleben, bei dem Juden und Conversos miteinander wetteiferten in der Herstellung und Herbeischaffung all dessen, was die Krieger brauchten, bis hin zu ausgesprochenen Luxusartikeln. 6 7 Vgl. Coplas de Mingo Revulgo, Edición de L u i s DB LA CUADRA ESCRIVÁ DE ROMANI, Madrid 1963. 68

AMADOR D E LOS R Í O S , 7 1 0 .

69

AMADOR D E LOS R Í O S , 7 1 3 .

122

Hermann Kellenbenz

Als es zur Belagerung von Granada kam, sammelte sich hier ein Heer von 50 000 Kriegern mit 10 000 Pferden, das dann mit der Zeit noch mehr anwuchs und als Lager von Santa Fe in die Geschichte eingegangen ist. Und alles wurde versorgt von den beiden jüdischen Heereslieferanten und ihren Leuten. Umsomehr überraschte die Tatsache, daß wenige Wochen nach dem Fall des letzten Bollwerkes von Granada, nämlich am 31. März 1492, ein Dekret erging, das die Juden aus Spanien auswies. In der Präambel des Dekrets wurde darauf hingewiesen, daß die Conversos mit den Juden verkehrten, was durch das Segregationsgesetz von 1480 verboten worden war, und daß es das Bestreben der Juden sei, die Conversos wieder vom katholischen Glauben zu trennen; da die bisher in Andalusien ergriffenen Maßnahmen nichts nützten, glaubten die Katholischen Könige aus Gewissensgründen nun die ganz radikale Lösung ergreifen zu müssen. Das Dekret gab den Juden 4 Monate Zeit ; bis Ende Juli sollten sie das Land verlassen haben. Bis dahin hatten sie die Möglichkeit, ihren Grundbesitz und ihre bewegliche Habe zu veräußern. Was sie mitnehmen wollten, konnten sie mitnehmen, mit Ausnahme von Gold und Silber und anderen verbotenen Waren. Die Härte des Edikts wurde unterstrichen durch eine Anordnung des Generalinquisitors, der denjenigen Christen hohe Strafen auferlegte, die nach Ablauf des Termins, dem er noch 9 Tage hinzufügte, Juden bei sich aufnahmen. In Aragon, Valencia und Katalonien kam hinzu, daß Bailes und Procuradores für die Censos und Tribute, die die Juden und Aljamas jährlich entrichteten, Entschädigung verlangten und auf die Sequestierung des jüdischen Besitzes drängten, um sich vorher noch bezahlt zu machen. Die Richter machten sich sofort daran, entsprechende Urteile zu fällen. So wurden in Hijar, Barbastro, Huesca, Saragossa, Lérida, Manresa, Valencia und Barcelona Werkstätten verkauft, mit denen die Juden bisher zur spanischen Textilproduktion beigetragen hatten 70 . Asso hat in seiner Geschichte der Wirtschaft des Königreiches Aragon verschiedene Angaben über die Inventare gemacht, die in diesem Zusammenhang angefertigt wurden, um die Werkstätten, Werkzeuge und hergestellten Waren, namentlich Textilien, zu erfassen. Zu den bekanntesten Textilfabrikanten in Huesca gehörte Salomon Abenaqua, in Hijar Samuel Auping71. Ihre Einrichtungen wurden nun zum Teil zu billigsten Preisen versteigert und verschleudert72. 70

71

AMADOR DB LOS R Í O S , 7 1 8 f.

Asso, a. a. O., 210, 256;

Sefarad IX, 1949, 351—392. 72

A M A D O R D E LOS R Í O S ,

719 Anm. 1; vgl. auch R I C A R D O Nuevas noticias de la aljama judaica de Huesca, in :

A M A D O R D E LOS R Í O S ,

DEL ARCO Y FEDERIGO BALAGUER, 720.

Sephardische Juden im spätmittelalterlichen Spanien

123

Anfang August setzten sich die Emigrantenscharen in Bewegung. Die meisten wanderten aus, einige ließen sich zuletzt wohl noch taufen. Aus Kastilien und Estremadura suchten sie Portugal, im Norden Navarra auf. Diejenigen von Alava, Guipúzcoa und den Montañas schifften sich in Santander und Laredo ein. Im Süden waren Cádiz, Puerto de Santa María 73 , Málaga und Cartagena die Ziele, im Osten Valencia 74 , Tortosa, Tarragona und Barcelona. Afrika, die mittelmeerischen Gebiete, Neapel, Venedig, Griechenland und der Balkan, türkische Häfen, das waren die Ziele. Uber die Zahlen der Auswanderer ist man sich nicht im klaren. Einige zeitgenössische Chronisten sprachen von 440 000 Vertriebenen. Andere wollen nur bis 170 000 gehen. Nach einer zeitgenössischen Angabe lebten im Zeitpunkt der Vertreibung in Kastilien über 30 000 verheiratete Juden, in Aragon — mit Katalonien und Valencia — 6000. Das ergäbe, wenn man die Familie zu 5 Häuptern rechnet, die Zahl 180 000 75 . Vicens Vives möchte nur 150 000 annehmen 76 . Über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Emigration kann man sich schwer eine genauere Vorstellung machen. Zweifellos war der Schaden, den die Wirtschaft Spaniens erfuhr, noch größer als 1391 und in den Jahren danach, wobei für das Ausmaß des Schadens nicht allein die Zahlen maßgebend sein können, da es sich vielfach um auf ihrem Gebiet hochqualifizierte Kräfte mit weitreichenden Beziehungen handelte. Unter den Emigranten befanden sich viele Kaufleute, Handwerker und Verleger, voran so wirtschaftlich aktive Persönlichkeiten wie Isak Abarbanel und Abraham Senior. Hinzu kam, daß die Inquisition jetzt nach der Ausweisung der sich bekennenden Juden ihre Aufgabe darin sah, das geheime Judentum unter den Conversos zu bekämpfen. Auch hier wurden in den folgenden Jahren wirtschaftlich aktive Kräfte beeinträchtigt oder gar ausgemerzt. IV.

Ergebnisse

Ich möchte die wichtigsten Feststellungen unserer Ausführungen zum Schluß noch einmal zusammenfassen. Die Geschichte der Juden 7 3 Vgl. H I P O L I T O S A N C H O D E S O P R A N I S , La judería del Puerto de Santa Maria, de 1483 a 1492, in: Sefarad X I I I ( 1 9 5 3 ) , 3 0 9 — 3 2 4 ; J . C A B E Z U D E A S T R A I N , La expulsión de los judíos zaragozanos, in: Sefarad X V ( 1 9 5 5 ) , 1 0 3 — 1 3 6 . 74 L E O P O L D O P I L E S , La expulsión de los judíos en Valencia. Repercusiones económicas, in: Sefarad X V (1955), 89—101. 75

AMADOR D E LOS R I O S , 7 2 1 f.

Historia Social y Económica de España y America, I I , 5 4 ; vgl. auch N . L O P E Z M A R T I N E Z , Los judaizantes Castellanos y la Inquisición en tiempo de Isabel la Católica, Burgos 1954, 89. 76

124

Hermann Kellenbenz

auf der Iberischen Halbinsel hat einen ganz anderen Charakter und eine andere Bedeutung als in den übrigen Ländern Europas. Wir haben es hier mit ganz anderen Zahlenverhältnissen, aber auch mit einem in vielem verschiedenen sozialen Status zu tun. Diese Verschiedenheiten wurden in erster Linie bedingt durch die Tatsache, daß es den islamischen Arabern und Mauren gelang, fast ganz Spanien zu erobern und diese Gebiete mehrere Jahrhunderte lang zu beherrschen, wobei die Juden am wirtschaftlichen wie auch am allgemeinen sozialen und kulturellen Leben einen starken Anteil erlangten. Gleichzeitig wird innerhalb der jüdischen Bevölkerung eine starke soziale Gliederung erkennbar, innerhalb der eine aristokratische Schicht mit Kriegern, Grundbesitzern und hohen Beamten auffällt. Das Haupthema der hoch- und spätmittelalterlichen Geschichte des christlichen Spaniens ist die Reconquista, die Wiedereroberung des den Mohammedanern zugefallenen Gebiets der Halbinsel. Im Zusammenhang damit kommt zur christlichen Bevölkerung ein starker Prozentsatz maurischer und jüdischer Bevölkerung hinzu, der sich in Zahlen allerdings nicht genau feststellen läßt. Schon früh übten diese christlichen Staaten eine besondere Anziehungskraft auf die Juden der maurischen Gebiete aus, zumal seit der Herrschaft der unduldsameren Almohaden. Es gab die Möglichkeit, die Truppen, die alljährlich an die Front gingen, mit Waffen und Lebensmitteln zu versorgen, den Truppenführern und den Herrschern Geld vorzuschießen. In der Zusammenarbeit mit den Herrschern konnten die Juden ihren wirtschaftlichen Einfluß ausweiten, am Hof, in der Verwaltung, in der Einhebung der Zollgefälle und der Steuern, die alljährlich entrichtet werden mußten. Im Kreditgeschäft, im Geldwechsel sind sie nicht die einzigen, Mauren und Christen sind daneben tätig, namentlich im östlichen Spanien. In umfangreichem Maße verfügen sie über Grundbesitz, und eine Zeitlang ist man bestrebt, sie im Erwerb von Grundbesitz zu ermuntern, um sie von anderer wirtschaftlicher Betätigung wegzuziehen. Wichtig ist auch ihre Rolle im Warenhandel und Handwerk. Wenn sie in der Zeit des Kalifats von Córdoba einen beherrschenden Platz im Sklavenhandel einnahmen, so hat sich das Bild später doch gewandelt. Im Fernhandel treten sie weniger stark hervor, da sie im Hoch- und mehr noch im Spätmittelalter die Aragonesen, Katalanen und Valencianer nicht verdrängen konnten, ebensowenig die Kaufleute aus Burgos (etwa in den Niederlanden), dazu, von außen hereinkommend, die Italiener, Oberdeutschen, Niederländer, Engländer und Franzosen, Rege waren ihre Handelsbeziehungen allerdings zum maurischen Gebiet und nach Nordafrika hinüber 77 und von da nach dem Orient. Stark sind ihre Positionen im Binnenhandel und im Handwerk. Was "

NEUMAN,

1,168.

Sephardische Juden im spätmittelalterlichen Spanien

125

das Handwerk oder in einem umfassenderen Sinn die gewerbliche Produktion betrifft, so füllten die Juden auch hier neben den Mozárabes einen wichtigen Platz aus. Die gewerbliche Produktion der bedeutenden Zentren wie Sevilla, Córdoba, Toledo und anderer Plätze ist ohne sie nicht zu denken. Hier zeigte es sich offenbar deutlich, daß sie, nüchterner, praktischer, Aufgaben zu erfüllen hatten, die die christliche Bevölkerung gerne anderen überließ, um es nicht so kraß auszudrücken, wie Américo Castro es getan hat 7 8 . Sie müssen, was noch gar nicht näher untersucht worden ist, mit Hilfe des Verlagswesens die Produktion stark gefördert haben. Es gibt also keinen Zweifel, sie waren in verschiedener Hinsicht der von den Idealen der Reconquista geprägten christlichen Bevölkerung gegenüber in wirtschaftlichen Dingen die Überlegeneren. Das erkannten ganz klar die Träger der monarchischen Gewalt, aber auch die Inhaber von geistlichen und weltlichen Herrschaften. Wenn die Procuradores auf den Cortes darüber klagten, die Krone bevorzuge Juden als Steuerpächter, so war die Antwort der Krone einleuchtend genug : sie würde wohl die Christen den Juden vorziehen, aber die Juden machten immer das bessere Gebot und in vielen Fällen das einzige 79 . So kam es auch, daß das reiche Erzbistum von Toledo, daß die Ritterorden mit ihren ausgedehnten Besitzungen jüdische Pächter bevorzugten. Die den Juden feindlichen Kräfte kamen schon seit dem 13. Jahrhundert auf den Cortes zum Ausdruck. Es waren aber doch in erster Linie die Procuradores der Städte, die das Wort führten, also die Vertreter des Bürgertums, das, seiner eigenen Kraft bewußt werdend, in den Juden die Konkurrenz erkannte und sie deshalb bekämpfte. Erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, seit den Cortes von 1367, wurde die Stimme dieser Opposition mahnender, dringender. Es bedurfte indessen noch der Assistenz gewisser kirchlicher Kreise und der ungeklärten politischen Verhältnisse des ausgehenden 14. Jahrhunderts, um es zur Katastrophe von 1391 kommen zu lassen. Gewisse kirchliche Kreise: das waren Angehörige der Geistlichkeit, die zum Bürgertum, zu den Massen in den Städten guten Kontakt hatten, aktive, jüngere Persönlichkeiten, so wie der Erzdekan von Ecija, Ferrán Martínez, im Gegensatz etwa zum greisen Erzbischof von Sevilla, Pedro Gómez Barroso. Die Ereignisse von 1391 und danach, und die von Fray Vicente Ferrer eingeleitete Massenbekehrung schuf die neue Schicht der Conversos, deren Zahl Walsh auf nicht weniger als 2 1 / 2 Millionen schätzte. War dies auch weit übertrieben, so war diese Schicht doch zahlenmäßig und wirtschaftlich, aber auch gesellschaftlich und politisch so 7 8 AMÉRICO CASTRO, S. 457 ff. 79

Spanien.

VICENS VIVES, a. a. O . , 2 2 9 .

Vision und Wirklichkeit,

Köln—Berlin

(1957),

126

Hermann

Kellenbenz

einflußreich, daß sie die spanische Geschichte des 15. Jahrhunderts ganz entscheidend mitprägte. Man wäre schlecht beraten, wollte man die zahlreichen Versippungen dieser Conversos mit führenden Familien namentlich Aragons mit vordergründig-materiellen Erwägungen allein erklären. Die Taufe brach hier Schranken um Sippen, in denen offenbar alte adlige Traditionen sehr sorgsam gepflegt wurden und die aufgrund des Reichtums dieser Familien auch würdig gepflegt werden konnten. Nicht nur das Bewußtsein war in ihnen lebendig, daß sie Angehörige der Stämme Juda und Levi waren. Die Familientradition wußte offenbar auch, die Geschlechterketten weit zurück zu führen, und die stolzesten führten die direkte Linie bis auf David hin. Besonders deutlich wird dies bei den de la Caballería und den Santa Maria, wo es beidemale der Name andeutet. Am 20. Februar 1438 schickte König Alfons von Gaeta aus dem Pedro de la Caballería ein Privileg, in dem er seine auf das alte Palästina zurückgehende Genealogie anerkannte und ihm alle die Freiheiten bestätigte, die seine Familie, als sie noch jüdisch war, von den Königen erlangt hatte 80 . Die vornehme Abstammung der Santa Maria war so berühmt, daß ausländische Reisende davon berichteten. So verzeichnet der Sekretär Schaschek des böhmischen Ritters Leo von Rosmithal auf einer spanischen Reise: „Außerhalb von Burgos sieht man ein neues und elegantes Kloster, das von einem Bischof gegründet wurde, der von der Familie der Mutter Gottes abstammt. Er hatte vier Brüder, die alle den Glauben an Christus bekannten und die Taufe erhielten, aber ihre Väter waren Juden." Von ihnen lebte noch einer, der Angehöriger des Ordens de Caballería war, was sich vermutlich auf einen der Ritterorden bezieht. Er besuchte die Reisegesellschaft und erzählte ihr, daß er einst auch in Böhmen gewesen und von König Albrecht bei der Eroberung der Stadt Tabor die Ritterwürde erhalten habe 81 . Bei vielen der Conversos war die Taufe zweifellos nur ein Ausweg gewesen, und sie blieben weiterhin im stillen dem Judentum treu. Es gibt auch verschiedene Anzeichen für eine insgeheime Zusammenarbeit zwischen Conversos und Juden. Andere meinten es mit ihrem Christentum jedoch ernst und wurden in ihrem Bekehrungseifer zu regelrechten Gegnern derjenigen, die dem jüdischen Glauben treu geglieben waren. Ihrem Eifer ist auch die Einführung der Inquisition im wesentlichen zuzuschreiben. Auch in anderer Hinsicht haben sie dazu beigetragen, daß die Atmosphäre beunruhigt Und die Abneigung der Christen gegen Juden und Neugetaufte wach gehalten wurde:- da waren mancherlei Unvorsichtig8 0

AMADOR D E LOS R I O S , 6 0 9 .

Viajes de Extranjeros por España y Portugal desde los tiempos más remotos hasta fines del siglo X VI, Reconpilación, traducción, prólogo y notas por J. García Mercadal, Madrid 1952, Tomo I, 263 f. 81

Sephardische Juden im spätmittelalterlichen Spanien

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keiten in ihren Stellungen, vor allem die beiden Verschwörungen von Sevilla und Saragossa. Daß es dann zu der Ausweisung von 1492, im Jahre der Eroberung Granadas, kam, ist ohne die besondere Mentalität der Menschen der Reconquista nicht zu verstehen. Nach dem, was von seiten der Juden im Krieg gegen die Mauren getan worden war, mußte die Austreibung der Juden als Ausdruck der höchsten Undankbarkeit erscheinen. Wer aber die religiöse Haltung der Menschen der Reconquista kennt, weiß, daß die Ausweisung aufgrund der alles bestimmenden religiösen Erwägungen, der Gewissensgründe, erfolgte, die alles menschliche Leid und alle wirtschaftlichen Nachteile, die die Vertreibung mit sich bringen mußte, als zweitrangig zurückstellte. Daß auch Erwägungen der Staatsräson hereinspielten, darf wohl nicht von der Hand gewiesen werden. Das Ereignis von 1492 bildet dann den Anfang jener Politik eines zentralistischen Staatsdenkens, das später auch die Vertreibung der Moriscos als notwendig erachtete. Schwierig ist es, die Frage zu beantworten, in welchem Umfang das Volk positiv hinter den Maßnahmen der Katholischen Könige stand. Man muß da, abgesehen von der theologischen Diskussion, vor allem an die Opposition denken, die auf den Cortes von Seiten der Procuradores der Städte als Fürsprechern des Bürgertums zum Ausdruck kam. Diese Kräfte des Bürgertums waren im Laufe des 15. Jahrhunderts gewachsen und stellten ein Potential dar, das auch über die Ausweisung hinweg bis in die Zeit Karls V. hinein diese Epoche prägte. Allerdings darf wiederum nicht übersehen werden, daß in diesem Bürgertum, soweit es wirtschaftlich aktiv war, — so unter den Burgalesen, unter den Kaufleuten von Valladolid, Medina del Campo und anderen Plätzen — mancher Nachkomme eines Converso sich befand.

AUS DER ÄRZTLICHEN GEISTESWERKSTÄTTE DES MAIMONIDES V O N SÜSSMANN

MUNTNER

1. Die Bedeutung des Maimonides als Arzt Moses Maimonides war nicht, wie manche Biographen schreiben, „auch Arzt", sondern Arzt nach seinem ganzen Wesen, das heißt auch dort, wo er nicht gerade medizinische Werke verfaßte oder körperlich bzw. geistig Kranke behandelte. Er war Arzt sowohl für den Körper als auch für die Seele, für den einzelnen wie für das ganze Volk, Wegweiser für die Verirrten und Lehrer für die Suchenden. Er war nicht nur Arzt am Hofe der Königsfamilie Saladins, sondern auch von seinen Zeitgenossen sehr anerkannt. Manche schätzten ihn höher als den Abgott jener Epoche, Galenos, indem sie betonten: Galenos heilte den kranken Körper, Maimonides aber den Körper und den Geist zugleich. In dem theoretischen und auch in dem praktischen Lebenswerk des Maimonides nimmt die Medizin einen hervorragenden Teil ein. Sie ist in das System seines Wissens, seiner Philosophie und seiner Religionslehre als markanter Pfeiler eingebaut. Die Erkenntnis über das Wesen des Krankheits- und Heilprozesses war den großen Lehrern des Altertums nicht unbekannt. Es fehlte ihnen aber das heute vorhandene wissenschaftliche Rüstzeug, um alles zu bestätigen und zu erhärten, was man mit Intuition erfaßte. Das gedanklich richtig Erahnte konnte mit den damaligen unzureichenden Methoden der Naturbetrachtung nur andeutungsweise demonstriert werden. (Eukrasie, Homoiostasis, Physis). Die übernommenen Begriffe Eukrasie, Dyscrasie etc. wendet Maimonides sinngemäß auf das Leben des Individuums in Harmonie mit dem überindividuellen Kosmos an, um seelisch gesund und glücklich zu sein. Eukrasie bedeutet für ihn nicht nur das harmonische Zusammenspiel aller Körperorgane und -flüssigkeiten, sondern in Harmonie mit den Gesetzen der Natur und Ethik (Religion) leben. Nach dieser Lehre besteht eine grundsätzliche Verbindung zwischen seelischer und köperlicher Erkrankung, die sich gegenseitig beeinflussen. {Aphorismus VII. 20 besagt : „so wie Säfte [Hormone] auf die Tugenden des Menschen Einfluß haben, so haben Tugenden Einfluß auf die Säftemischung . . ."). Es besteht also eine gemeinsame beiderlei Er-

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Ärztliche Geisteswerkstätte des Maimonides

krankungen zugrunde liegende Ursachenreihe. Darin liegt eine seiner modern anmutenden „psychosomatischen" Theorien für die Medizin. Diese Theorie, besonders der Seelenkrankheit, muß besonders hochgewertet werden, da zur Zeit des Maimonides Exorcismus das Denken und Empfinden der Laien und auch der Ärzte ebenso wie ein hemmungsloser Dämonenglaube beherrschte. Besessenheiten vom Teufel und bösen Geistern waren an der Tagesordnung. Beschwörung gehörte zum „wissenschaftlichen" Rüstzeug der damaligen Ärzte. Maimonides verurteilte sowohl aus wissenschaftlichen als auch jüdisch-religiösen Gründen diese Irrlehren als Aberglauben und Irrsinn. Seine Therapie in Form von systematischer Behandlung von Gemütsstörungen, von seelischem Zuspruch, Beruhigungsmitteln, Milieuwechsel, Arbeitstherapie, Bädern, klimatischen Kuren, Musik, Kunstgenuß, Unterhaltung sind rational und entsprechen heute geltenden Behandlungsweisen1. Die meisten seiner medizinischen Werke existieren nur in Handschriften und Inkunabeln. Einige sind in hebräischer Sprache erschienen, aber auch diese in unvollkommenen unkritischen Ausgaben. Die meisten sind ins Lateinische übersetzt worden. Am populärsten waren seine im Mittelalter vielfach zitierten Aphorismen und sein Regimen sanitatis. Sein Hauptwerk an Umfang und Wert ist das Compendium der Schriften des Galenus. Es ist bisher noch in keine andere Sprache übersetzt worden und noch nie — auch nicht im arabischen Original erschienen. Von diesem Werk existieren, wie bisher bekannt ist, nur drei Handschriften, die alle zusammen noch nicht einmal den dritten Teil des Gesamtwerkes darstellen. Der Rest dieses Werkes ist bisher noch nicht aufgefunden worden. Die Handschriften dieses Hauptwerkes befinden sich in Berlin, Paris und im Escorial (Madrid) und werden gegenwärtig zur Herausgabe in moderner hebräischer Übersetzung vorbereitet. Von den übrigen medizinischen Schriften sind manche kleinere in arabischer, hebräischer und deutscher Übersetzung (3, 4, 7) von Rabbiner Dr. H. Kroner herausgegeben worden. Eine Schrift über die Synonyma der gebräuchlichsten Medikamente (Simplicia) seiner Zeit ist in arabisch und in vorzüglicher französischer Übersetzung mit reichlichem wissenschaftlichen Apparat, mit Unterstützung der ägyptischen Regierung von Max Meyerhof herausgegeben worden. Andere Werke sind vom Verf. erstmalig herausgegeben worden (in hebr. Sprache und englischem Summary). Asthma (1) in hebr. und englischer Sprache, Gifte und Gegengifte (2), 1 Wer sich eingehender mit den Neuerungen des Maimonides in der Medizin beschäftigen will, lese den Artikel von S. MUNTNER, Über die Neuerungen des Maimonides in der Medizin, in: Medizinische Klinik 49, München 1964.

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Kommentar zu den Aphorismen des Hippokrates (6), Aphorismen Aphorismi Moysis (5), Regimen Sanitatis (7), erscheint z. Z. in deutscher Sprache im Verlag Karger-Basel, zusammen mit Responsa 8 und der Ethik des Maimonides. Im Druck: De Haemorrhoidibus (3) hebr., Im Druck: De coitu (4) hebr., Gifte und Gegengifte in englisch, z. Z. im Druck. Um die Ausgabe in einer europäischen Sprache zu ermöglichen, hat der Verf. einen Großteil der medizinischen Werke des Maimonides ins Deutsche übersetzt. Die Titel der medizinischen Werke des Maimonides, von denen mehrere Armengaud Blasius ins Lateinische übersetzte, sind wie folgt : 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Asthma [De Asthmate), Gifte und Gegengifte {De Venenis), Haemorrhoiden, De Coitu (Ms. Jerusalemer Staatsbibl., Abt. Friedenwald), Aphorismen Aphorismi Moysis (als Inkunabel mehrfach gedruckt), Kommentar zu den Aphorismen des Hippokrates, Regimen Sanitatis (als Inkunabel mehrfach gedruckt), Responsa medicinalia, Glossarium de materia medica, Compendium Operum Galeni (7 Bücher, nur 3 in Ms. vorhanden).

Der 5. Abschnitt des Regimen kommt auch selbständig unter dem Titel De causis accidentium vor. Maimonides war nicht der erste jüdische Arzt, der größere medizinische Abhandlungen hinterlassen hat. Er war aber der erste große jüdische Praktiker und Lehrer der Medizin zugleich, der in der Welt uneingeschränkte Anerkennung fand. Ihm gingen voraus : Rufus v. Samaria, der im 2. Jh. in Rom wirkte und Kommentare zu Hippokrates schrieb, die von Galen zitiert werden, aber im Original verlorengegangen sind. — Assaph harophe (6.—7. Jh.), der ein umfangreiches medizinisches Werk in hebr. Sprache schrieb und dessen Ärzte-Schwur, den Eid des Hippokrates an ethischem Inhalt weit übertrifft. Isaac Israeli (850—953), der erste Vermittler der Medizin vom Ost- zum Westkhalifat. Sein Übersetzer war der Mönch Constantinus Africanus, somit wurde Isaac auch der erste Vermittler arabischgriechischer Medizin nach dem Abendland. Maimonides schätzte Isaac in einem seiner Briefe an Tibbon als großen Arzt, nicht aber als Philosophen. Im 10. Jh. treffen wir im byzantinischen Süditalien den ersten jüdischen Arzt, Schabtai Donnolo, der auf christlich-europäischem Boden ein medizinisches Werk in hebräischer Sprache schrieb. Dieses

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Werk ist das älteste Zeugnis eines Vorläufers der ältesten Universität Europas in Salerno. Maimonides lernte nicht nur aus Büchern, wie es damals üblich war, wonach Buchweisheit allein genügte, um die Berühmtheit des Arztes zu kennzeichnen. Während seines Aufenthaltes in Amiria kam Maimonides mit dem Arzt R. Jona ibn Biklarisch in Berührung. Wie von verschiedenen Forschern überliefert wird, soll der aus Kordova vertriebene Muselman Averrhoes, der Arzt und Philosoph war, im Vaterhaus des Maimonides Zuflucht genommen haben. Er hat den zehn Jahre jüngeren Rambam stark beeinflußt. Seine Hauptstudien in Medizin aber scheint Maimonides erst in Fez in Marokko begonnen zu haben. Dort lernte er auch Physik, besonders Optik, Mathematik, Astronomie und Biologie. Wissenschaften, deren Kenntnis sich auch in allen seinen religiösen Werken widerspiegeln. Autoritäten, die er in seinem medizinischen Werk erwähnt sind: Hippokrates, Galenos, Messue, Razi, Issac Israeli, ibn Sina, Alfarabi, Reg'van, Altamimi, Abu Mervan ibn Zohr, ibn Rushd. Vor allem verehrte er seinen direkten Lehrer ibn Zohr, den er am häufigsten zitiert. In einem Brief an ibn Tibbon berichtet er, daß alles, was ibn Zohr sagt, geläuterte Perlen sind, in leicht verständlicher Sprache, wie sie einem so großen Geiste entspricht. Des weiteren erwähnt Maimonides im Asthmabuch seine medizinischen Lehrer in Marokko, Ben Jehuda Hacohen, Abu Jussuf ben Almualim haaschbeli (Sevilla), Hajisraeli, abu Bekr ibn Zohr (Sohn des Abu Merwan ibn Zohr). Maimonides studierte Medizin etwa 20 Jahre, bevor er sie praktisch ausübte. Er lernte sie zuerst nicht, um Geld zu verdienen, sondern aus Wissensdrang. Er forderte von jedem Gelehrten (Acht Kapitel 5. 8) die Beschäftigung mit dem Medizinstudium, das den Menschen demütig, gottesfürchtig und sozialgesinnt macht. Er findet in dem Medizinstudium eine der Vorstufen der Gotteserkenntnis. Körperhygiene ist einer der Gründe zur Vervollkommnung der Seele. Der Zweck der körperlichen Gesundheit ist, daß der Seele gesunde und vollkommene Organe zur Verfügung stehen, durch die sie sich Wissen und hohe moralische und geistige Eigenschaften erwerben kann. (Hüchoth Deoth 4). Der Mensch ist verpflichtet, auf seine Gesundheit zu achten, da die körperliche Gesundheit die Wege zur göttlichen Erkenntnis ebnet. Man kann die Taten Gottes nicht begreifen, wenn man krank ist. Maimonides verlangt aber auch von jedem großen Arzt, daß er nicht nur Medizin studierte, sondern auch ein selbständiger Denker sei. Wie eingehend er medizinischen Problemen nachgeht, schildert er selbst im 13. Kapitel seines Asthmabuches. Einer der Hauptgründe, die ihn bewogen haben, die Medizin auszuüben, war der Verlust jeglicher Einnahmensquellen nach dem 9*

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plötzlichen Hinscheiden seines Bruders David. Trotzdem ihm das einträgliche höchste Rabbineramt angeboten wurde und obwohl er fast 15 Jahre, in der Zeit der Abfassung seines Hauptwerkes Mishne Tora, in schwerer Not lebte, nahm er diese Stelle nicht an, treu dem Ausspruch der Weisen (Aboth I. 49) : „Liebe die Arbeit und hasse das rabbinische Beamtentum". Auch ein anderer Ausspruch beeinflußte ihn (Aboth II. 42) „Tora ohne Handwerk führt zum Nichtstun und zieht Vergehen nach sich". Am meisten aber, behauptete er, verhinderte ihn die Lehre der Weisen (Aboth 4. 46) : „Mache die Lehre der Tora nicht zur Krone, um dich groß zu tun und nicht zur Schaufel, mit der du das Geld scheffelst." In Nedarim 62b lernt er, jeder, der sich durch die Tora bereichert, verliere sein wahres Leben. Und selbst lehrt er (Hilchoth Deoth III. 10) : „Wenn ein Mensch arbeitet und verdient, so soll er das Geld nicht verwenden, um eitle Güter zu erwerben, sondern um sein Wissen zu vervollkommnen, sowie zu edlen Zwecken, wie es heißt: Und alle deine Taten seien um des Himmels willen!" (Dort III. 2). Für seine rabbinische Tätigkeit und für seine Tätigkeit als Nagid hat er nie ein Entgelt bekommen. Für seine Bücher bekam er kein „Autoren-Honorar". In einem Brief an seinen Schüler Josef Aqnin schildert er, daß es besser sei, einen Heller (Dirham) auf anständige Weise zu verdienen, als Tausende durch Verkauf seiner Gesinnung. Maimonides begann seine ärztliche Tätigkeit um 1170. Doch nicht sofort war er der berühmte Arzt. Eigene Sorgen und die Sorgen um das jemenitische Judentum bedrückten ihn. Erst 1186 stand er auf der Höhe seines ärztlichen Rufes. Er wurde Hofarzt beim Wesir Alfadhel. Er machte auch Besuche im Krankenhaus Nasiri, dem damals berühmtesten im Vorderen Orient, das 1181 von Saladin begründet worden war. Zu dieser Zeit war der Vorsteher des Krankenhauses, nach der Aussage des ibn Ozeibias, der jüdische Arzt R. David ibn Schiomo (el Sadir ibn Beijan), dessen Schüler Ozeibia, der Verfasser der Geschichte der arabischen Ärzte, wurde zu gleicher Zeit mit dem Sohne Maimonides', des R. Abraham. Nach einem Brief an Josef Aqnin aus dem Jahre 1189 war damals der Rambam Arzt der vornehmsten Gesellschaft und dort erwähnte er, daß er gerade beim Studium eines Werkes des Averrhoes sei (Über Sinne und Sinnesorgane). Alqifti, ein Zeitgenosse, berichtet von Maimonides, daß er am Hofe Saladins beschäftigt war, wenn auch anscheinend nicht bei Saladin selbst, der dauernd in Kriege verwickelt war. Er behandelte dessen Familie und seinen Beamtenstab. Derselbe Bericht erwähnt, daß Maimonides zum englischen König Richard Löwenherz, dem Gegner Saladins in den Kreuzzügen, berufen wurde (1192), daß aber Maimonides die Behandlung abgelehnt habe. Abi Ozeibia, der nicht genug Lobsprüche über Maimonides finden kann, berichtet, daß

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Saladin ihn zum Hofarzt und zum Ehrenvorsteher des ägyptischen Judentums ernannt habe. Wie sehr der ärztliche Beruf ihn in Anspruch nahm, geht aus einem Brief an seinen hebräischen Übersetzer, Samuel ibn Tibbon, in Marseille hervor, der ihn zu besuchen beabsichtigte. Maimonides schildert einen Ausschnitt seiner Tagesarbeit: „. . . was dein Herkommen anbelangt, so sei willkommen und gegrüßt in Gottes Namen. Ich freue mich sehr und sehne mich danach, dein frohes Gesicht zu sehen. Ich sehne mich nach deiner Freundschaft. Trotzdem rate ich dir, dich nicht in Gefahren der Seefahrt zu begeben, denn leider wird dein Kommen nicht der Mühe wert sein, außer, daß du mich gerade siehst und dich von meiner Arbeitslast überzeugst. Aber lernen oder dich mit mir eine Stunde bei Tag oder Nacht zurückziehen, wirst du leider nicht können, denn meine Beschäftigung ist wie folgt : Ich wohne in Fostat, einer Vorstadt von Kairo. Der König wohnt in Kairo. Zwischen den beiden Orten ist eine Entfernung von zwei Sabbatmeilen. Ich habe ein schweres Amt beim König. Ich muß ihn täglich bei Tagesbeginn untersuchen. Wenn er sich aber schwach fühlt oder eines seiner Kinder oder eine seiner Frauen krank sind, kehre ich nicht heim oder bleibe den größten Teil des Tages im Königshaus. Ähnlich ist es, wenn höhere Beamte erkranken, und ich sie behandeln muß. Im allgemeinen reite ich täglich am frühen Morgen nach Kairo, wenn dort nichts besonderes vorliegt, kehre ich am Nachmittag nach Fostat zurück, niemals vorher. Ich komme hungrig an. Ich finde die Wartebänke voll mit Menschen, Juden und Nichtjuden, berühmte und weniger berühmte, Richter und Offiziere, Freunde und Feinde. Sie alle erfahren, wann ich zurückkomme. Dann steige ich vom Reittier, wasche mich, gehe zu ihnen hinaus, um sie zu beruhigen und wegen des Wartens um Verzeihung zu bitten, weil ich einen Imbiss zu mir nehmen möchte. Ich lese nur einmal am Tage. Dann gehe ich hinaus, sie zu behandeln, Rezepte gegen ihre Leiden zu verordnen. Das geht so bis in die Nacht, manchmal, bei der Heiligkeit der Tora, bis zwei Uhr in der Nacht und darüber. Ich rede ihnen zu, während ich selbst kaum gegessen habe, spreche mit ihnen, während ich mich vor Müdigkeit flach hinlegen muß. Ich bin dann so müde, daß ich kaum noch sprechen kann. Daraus geht hervor, daß niemand mit mir privat etwas besprechen oder sich mit mir zurückziehen kann, es sei denn am Schabbat. Dann kommt fast die ganze Gemeinde nach dem Gebet zu mir. Ich gebe Anleitungen, womit sie sich die ganze Woche beschäftigen mögen und halte bis Mittag eine kleine Ansprache. Dann gehen sie fort. Ein Teil kommt wieder zum Lernen zurück nach Mincha bis zum Abendgebet. Das ist mein Tagesprogramm. Du hast nur einen Teil davon erfahren, was du sehen wirst, wenn du mit Gottes Hilfe hier eintriffst." Als Entschuldigung für die verspätete Antwort schreibt er im selben Brief: „Der Schöpfer allein weiß, unter welchen

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Umständen ich diesen Brief schreibe. Ich fliehe vor der Menschenmenge, ziehe mich unbemerkt zurück, muß mich manchmal an die Wand anlehnen und manchmal schreibe ich liegend vor lauter Schwäche." Trotz dieser Schwächeanfälle verfaßt er gerade in den Jahren anstrengendster ärztlicher Tätigkeit alle seine medizinischen Werke. Der berühmte Arzt und Philosoph Abdul Latif kam aus Bagdad nach Kairo, um den Rambam einmal von Angesicht zu Angesicht zu sehen (1201). In sein Heimatland zurückgekehrt berichtet er Wunder über ihn. Quellen über sein Leben und Wirken sind vor allem seine medizinischen Werke, ferner seine Briefe und Responsen, seine Zeitgenossen ibn Ozeibia, ibn Latif, Alsaid ibn Sina el Muluk und Alqifti, ein Originalbrief des Königs Alfadhel an den Maimonides (Ms. München arab. 402) und sein Schüler Josef Aqnin. Hundert bis zweihundert Jahre später erwähnen ihn die Ärzte Guy de Chauliac und Henri de Mondeville in lateinischer Sprache, außerdem gibt es eine reichliche hebräische Literatur über sein ärztliches Wirken im 13.—16. Jh. Eine genaue Liste der wichtigsten Arbeiten über den Rambam als Arzt erschien in meiner Würdigung Der Arzt Rabenu Mose ben Maimón, die als Vorrede zu meiner hebr. Ausgabe des Asthmabuches erschien (p. 25—28), (Jersualem 1940).

2. Der medizinische Schriftsteller Von 1190—1204 schrieb der Rambam außer Responsen fast nur medizinische Werke. Seine Sprache ist einfach und ohne Umschweife, ebenso wie in seinen religionsphilosophischen Werken. In seiner Vorrede zu seinem Kommentar zu den Aphorismen des Hippokrates, setzt er an Galenos aus, dem zu jener Zeit geradezu göttlicher Autoritätsglaube zuteil wurde, daß er zu langschweifig sei. Maimonides verfaßte daher ein Kompendium zu sechzehn der wichtigsten Werke des Galenos, von denen jedoch nur Auszüge aus drei Werken auf uns gekommen sind. Die Materie ist wohlgeordnet. Das Wichtigste wird hervorgehoben. Zu fast jedem seiner Werke gibt er eine Inhaltsangabe. Ein klarer Geist schwebt über jeder seiner Arbeiten. Er bringt die während vieler Generationen erprobten Arznei-Mittel. Nur wenige große Ärzte wie Razi, ibn Zohr sind zuverlässige Gewährsmänner für Maimonides. Von ihnen weiß er, daß sie nicht blind nachschreiben, sondern selbst Versuche angestellt haben, um sich zu überzeugen. Manche seiner Bücher waren für seinen eigenen Gebrauch als Ms. gedacht. Er erwähnt alte Lehren und fügt eigene Beobachtungen und Gedankengänge hinzu („Es spricht der Verfasser . . ."). Aussprüche

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über Medizin und Hygiene sind aber nicht nur in seinen medizinischen, sondern in fast allen seinen Schriften verstreut und eingeflochten, in den religiösen, den philosophischen und in seinen Briefen. Sein Stil Ein französisches Sprichwort sagt: „Le style c'est l'homme". Kürze und Klarheit kennzeichnen Maimonides' Stil. In der Vorrede zu dem Kommentar zu den Aphorismen des Hippokrates schreibt er: „Könnte man seine Gedanken in hundert Worten klar ausdrücken, so tue man es nicht in hundert und einem Wort." Nicht der Klang der Worte, sondern ihre Anordnung, um einen Satz klar zu machen, ist seine Absicht. Er ist der größte Systematiker des Judentums. Wie klar ist sein Hebräisch in der Mishne Tora, wie unklar und mit Arabesken durchsetzt ist die Ausdrucksweise der übrigen Schriftsteller seiner Zeit, so auch die Sprache der Tibboniden, seiner Übersetzer aus dem Arabischen ins Hebräische. Seine medizinische Methode Die Methode des Verhaltens großer Ärzte zu ihren Patienten hat sich seit den Zeiten des Hippokrates bis zum heutigen Tage kaum geändert. Nur die Kenntnis um den Menschen und die auf ihn einwirkende Umwelt haben sich vermehrt. In dieser Hinsicht war Maimonides ein Kind seiner Zeit. Seine medizinische Bildung ist in der damals herrschenden Humoralpathologie verankert, wie sie Hippokrates und Galen gelehrt haben. Trotz deren damals uneingeschränkten Autorität bewahrte er sich seine eigenen medizinischen Anschauungen, die er im Kommentar zu den Aphorismen des Hippokrates, in den Compendien der Schriften Galens und besonders im 25. Kapitel seiner eigenen Aphorismen zum Ausdruck brachte. In letzterem verstieg er sich sogar zu einer Kampfansage gegen Galenos. Rambam war nicht ein Arzt, der sich mit Krankenbehandlung allein befaßte. Er hatte ein Fingerspitzengefühl für soziale Medizin, für Wohlfahrtseinrichtungen, Krankenhauswesen, öffentliche Staatsapotheken, für Hygiene und Vorbeugung von Krankheiten. Seine Bücher über Gifte und Gesundheits-Regimen sind Meisterwerke auf diesem Gebiet. Für ihn ist Medizin kein Handwerk, sondern eine Verbindung von Kunst und Wissenschaft in höchstem Ausmaß. Die praktische Ausübung der Hilfe an seinem Nächsten war ihm göttliches Gebot. (Hilchoth Nedarim 6. 8., Kommentar zu Mishna Nedarim 38a.) Die biologischen Geschehnisse sind göttliche Erscheinungen (Moreh 3, 32). Gegen die frommen Laien, die da behaupteten, „Heilung durch den Arzt bedeutet Störung der Absicht des Schöpfers", schrieb er (Comment. Pessachim 56b) : „In Angelegenheit des Verbergens des Medizin-

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buches durch König Chiskijahu gibt es solche, die behaupten, daß es Chiskijahu, gleich der Kupferschlange, verschwinden ließ, weil es voll von Aberglauben war. Und nun höre man den Unsinn der Eiferer . . . Wenn der Mensch hungrig ist, hingeht und Brot ißt, so wird er sicher von der Krankheit genesen, welche Hunger heißt. Bedeutet das, daß er nicht auf Gott vertraut ? Nein, — weh dem Unwissenden ! So wie ich beim Essen dem Schöpfer danke für das Brot, das er mir gab, das mich sättigt, meinen Hunger verscheucht und mich am Leben erhält, so danke ich ihm für jedes Medikament, durch das ich geheilt werde. Ich würde mich nicht darüber auslassen, wären die irrigen Ansichten nicht so weit verbreitet." (Pessachim 4. 9; Joma 8. 6.). Im Asthmabuch (Kap. 13) sagt er über die Medizin: „Wisse, daß die Medizin jederzeit und allerorts eine wichtige Wissenschaft ist, nicht nur während der Krankheit, sondern auch während der Gesundheit." An anderer Stelle (p. 40) sagt er: „Medizin gleicht nicht dem Tischleroder Weber-Handwerk, das durch Übung erlernt werden kann. Hier herrscht Logik, Kunst und Intuition. Jeder einzelne Kranke braucht aufs neue Bedacht und Überlegung. Kein Fall ist genau so wie der andere." Was seine Ansicht über den Einfluß der Seele auf den Körper anbelangt, so steht Rambam ganz nahe der Anschauung der Gelehrten unserer Zeit. (In einem besonderen Artikel habe ich die Psycho-Somatologie in den Schriften des Rambam behandelt2.) In dieser Hinsicht war und blieb er der erste und bis in die letzte Zeit der einzige, der die gegenseitige Einwirkung von Psyche und Soma so scharf betonte. Hätte er keine anderen Verdienste als die Erkenntnis und Betonung dieser Wechselwirkung, würde es genügen, ihn zum größten Arzt seiner Zeit zu erheben. Maimonides behandelt im Regimen sanitatis die Wirkung der Affekte beim Akt des Krankwerdens und Gesundens. Er kennt das autonome (vegetative) Nervensystem. In den 8 Kapiteln Kap. 1 nennt er dieses System das vegetative (tsomeach), er kennt die Aufbaustoffe (Gene), die für jede Tierart und Familie verschieden sind. In der Pathologie gebraucht er Ausdrücke für Konstitution (Szug hammezeg), Disposition (Hikonuth haguf). Wenn der Arzt verständig ist, so weiß er den Kranken zu lenken. Maimonides verlangt vom behandelnden Arzt genaue Untersuchung und Diagnose. (Hilchoth Chowel umaziq, 2. 8.), besonders in Fällen von Simulation und Schadenersatz-Forderung. Ebenso kämpft Maimonides gegen Polypragmasie (Regimen 4) und tritt für die Anwendung einfacher, möglichst wenig toxischer Mittel ein. Überall (Regimen 2, Asthma Ende) tritt er gegen die gefährlichen und „starken Medikamente" auf, er ist für eine allgemein roborierende, die Widerstands8 Vgl. meinen Artikel: Die Psychosomatologie des Maimonides, in der: Mediz. Klinik 37 (1964).

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kraft des Kranken hebende Medizin (Reaktionstherapie) durch allgemeine Krankenpflege, angemessene Diät, gute Luft, angenehmes Milieu, Berücksichtigung der Gewohnheiten des Kranken, Seelenhygiene, im allgemeinen und als Ausgleich bei körperlichen Ausfallerscheinungen, Gymnastik, Bäder, Massage u. s. w. Über die Eigenschaften

des Arztes

In dem ersten Abschnitt seines Kommentars zu den Aphorismen des Hippokrates fordert Maimonides außer Buchweisheit intuitives Erfassen des Gesundheits- bzw. Krankheitszustandes vom Arzt. Das Wissen von Namen von Krankheiten und Medikamenten genügt in dieser Wissenschaft nicht, die den ganzen Menschen betrifft. Der behandelnde Arzt muß Wissenschaft mit intuitivem Denken und Schauen verbinden, dann wird er leicht die Allgemeindiagnose des Kranken und seiner einzelnen Organe erfassen. Er wird begreifen, welche Diät, Medikamente oder Apparate in dem vorliegenden Falle nötig sind. Maimonides erörtert dort weiterhin die Pflichten eines Arztes gegenüber dem Kranken. Durch Aneignung von außermedizinischem Wissen schult der Arzt sein intuitives Eindringen in die Leiden der Kranken. Der Arzt muß ein Vorbild körperlicher und geistiger Vollkommenheit sein, er muß mit seinen gesamten Gedanken und seinem ganzen Wesen bei seiner heiligen Arbeit sein. Er darf niemals eigennützig denken, selbst dann, wenn er sich in Gefahren begeben muß. Rambam spricht davon, daß Sozialhygiene allgemein gehalten werden kann, ohne den Einzelfall zu berücksichtigen, Krankenbehandlung aber ist Individualbehandlung (lephi isch-isch). Vom Kranken verlangt der Rambam volles Vertrauen zum Arzt seiner Wahl. (Igereth Teyman) : „Wisse, wie der Blinde sich auf den Sehenden verläßt, ihm folgt, weil ihm bewußt ist, daß er selbst keine Augen hat, jener sie aber besitzt und ihm den richtigen Weg zeigen wird, wie der Kranke gerettet wird, der von Medizin nichts versteht, indem er den Rat seines Arztes annimmt, . . . so vertraut Israel auf seine Propheten, die das Organ hatten, die göttliche Gerechtigkeit zu schauen, — das Organ, das wir leider nicht besitzen." Maimonides teilt die Medizin in drei Hauptabteilungen (Asthma 13, Regimen 2). „Die erste und wichtigste ist die Präventiv-Medizin, die Erhaltung der Gesundheit, damit sie keinen Schaden erleide. Die zweite Kategorie ist die Behandlung der Kranken, Behandlung, Beratung, um die verlorene Gesundheit mit Hilfe des Arztes wieder zurückzugewinnen." Die dritte nennt Maimonides Rekonvaleszentenbehandlung. Die Nachbehandlung derjenigen, die zwar noch nicht völlig gesund sind, aber auch nicht mehr als krank zu bezeichnen sind, „die Behandlung von Krüppeln und Altersbeschwerden." „Narren

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nur glauben, daß sie den Arzt nur zur Zeit der Krankheit brauchen und nicht auch zu anderer Zeit." (Asthma 13). Die Aufgabe des Arztes ist es, die Natur- und Widerstandskraft des Kranken durch Mittel aller Art zu kräftigen. Gelegentlich tut der Unerfahrene aber das genaue Gegenteil. Darum soll man den Arzt wählen, zu dem man Vertrauen hat. Wenn man das nicht tut, ist es besser, der Kranke verläßt sich auf seine Natur. „Der Arzt darf nicht geldgierig sein und soll sich nur der Wissenschaft und Wahrheit widmen. (Vorrede zum Kommentar der Aphorismen des Hippokrates). Demgegenüber räumt Maimonides dem Arzt das Recht ein, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen.

3. Sein Verhältnis zu den Kollegen Rambam zollte den großen Ärzten seiner Zeit und ihren Vorgängern große Ehrfurcht. Dort aber, wo sie seiner Meinung nach irrten, scheute er sich nicht, das zu sagen. Wo der Irrtum offensichtlich ist, geht er rücksichtslos vor, wie z. B. bei Galenos (im 25. Kap. seiner Aphorismen und der in Vorrede zu seinem Commentar zu den Aphorismen des Hippokrates etc.). Im Mor eh begründet er sein Benehmen: „Wir müssen wissen, daß sie Sterbliche waren, Menschen, die zwar große Gelehrte waren, aber keine unfehlbaren Propheten oder Söhne der Propheten. Daher haben wir das Recht, sie zu kritisieren, wenn die Ergebnisse unserer Versuche beweisen, daß sie nicht im Recht sind. Jeder Verzicht auf solche Kritik bedeutet eine Sünde gegen die Wahrheit und gegen die leidende Menschheit." Maimonides' Kritik ist stets eine gelassene, belehrende. Nur dort, wo Galenos einmal gegen Moscheh Rabbenu spricht, über ein Gebiet der Seelenkunde und Prophetie, wovon er nichts versteht und wofür ihm jeder Sinn abgeht, ereifert sich der Rambam in bei ihm ungewohnter Heftigkeit gegen den Abgott Galenos. Er wirft ihm vor, daß eine Sache, obwohl er sie nicht begreift, doch sehr wohl vorhanden sein kann. Hier hat der Arzt Galenos die Ehre Gottes, die Ehre des jüdischen Volkes verletzt, über Dinge gesprochen, die seinen Beruf und seine Kenntnis überschreiten. Im letzten Kapitel des Asthmabuches berichtet Maimonides über die Sitten des Krankenbesuches in Ägypten zu seiner Zeit, wie Kranke, die zu mehreren Ärzten zugleich gehen, die voneinander nicht wissen, — sich und den Ärzten schaden, wie umgekehrt, wenn Ärzte ein Konsilium einberufen und gemeinsam beraten — alle Teile, in bezug auf die Beratung des Kranken davon Nutzen ziehen. In der Schrift De causis accidentium bespricht er die Rezepte der meisten Kollegen wohlwollend. Wenn er dagegen einen ungenügend gebildeten Polypragmatiker entdeckt, weist er ihn mit einer feinen Zurechtweisung ab.

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Maimonides tritt in seiner Schrift Über Hämorrhoiden gegen die meist schädlichen Kurpfuscher auf. Man höre nur auf den Rat berühmter Ärzte und Spezialisten, die sicher in ihren Diagnosen und Verordnungen sind. Das demokratische Verhalten des Rambam beim Konsilium der Ärzte geht aus folgendem Entscheid (Hilchoth Schewithath cassor 2. 8) hervor : Wenn bei einem Ärzte-Konsilium beraten wird, ob der Kranke am Jom Kippur-Fasttag Nahrung zu sich nehmen muß oder nicht, so neigen die meisten Rabbinen dazu, wenn wenigstens zwei Ärzte der Meinung sind, daß er essen kann, ihm Essen geben zu lassen, selbst wenn hundert Ärzte behaupten, daß er fasten darf, denn bei Lebensgefahr gehe man nicht nach der Mehrheit! (Tur Orach Hayim 6. 18). Der Rambam dagegen behauptet, wenn ein Teil der Ärzte sagt, er darf, ein anderer Teil er darf nicht fasten, und alle erfahrene Ärzte sind, entscheidet die Mehrheit. Wenn die Mehrheit behauptet, er darf nicht essen, so besagt das schon, daß er außer Lebensgefahr ist.

4. Der Rationalist

im Kampf

gegen Aberglauben in der

Medizin

Besprechen, Beschwören, Amulette und astrologische Prognosen waren im 12. Jh. an der Tagesordnung. So wie Rambam auf dem Gebiete der Religion, der Philosophie und Wissenschaft gegen Vorurteile kämpfen mußte, so war sein Kampf in der Medizin diesbezüglich noch schwerer, wo der Kranke selbst noch in heutigen Tagen häufig dem Aberglauben zugeneigt ist. Über seinen Kampf gegen die frommen Einfältigen, die ärztliche Hilfe als vom Menschen kommend ablehnten, ist schon berichtet worden (Pessachim 56, Kommentar). Maimonides stellt im Gegensatz dazu die ärztliche Handlung als höchstes Gebot der Menschlichkeit dar, (Moreh 3. 37), indem er den Ausspruch unserer Weisen anführt: „Es ist verboten, an einem Ort zu wohnen, wo kein Arzt, keine Badeanstalten u. s. w. vorhanden sind." (Hilchoth Deoth 4. 25, Sanhédrin 17). Im Moreh (1. 61) kämpft er gegen den Unsinn der Amulette. Nur ein Unwissender glaubt an die Heilkraft von Namen und Aussprüchen, mögen sie auch von Heiligen herrühren. Sie beeinflussen vielleicht die Einbildung und werden gegeben, nur damit überhaupt etwas geschehe (ut aliquid fiat). (Vgl. Joma 8. 5 und Tossaphot dort.) Maimonides verbietet, wie der Talmud, das Heilen durch Besprechung (Sanhédrin 90 a). In seinem Kommentar (Joma 8. 5) geht er sogar gegen die Weisen der Gemara vor, die in dem Fall nicht so streng urteilen, wie die Weisen der Mischna. „Wenn jemand von einem tollen Hunde gebissen wurde, so gebe man ihm nicht die Gallenblase und Leber des Hundes zu essen. Rabbi Mattia ben Choresh erlaubt es". Der Rambam schreibt :

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„Es ist aber nicht so wie R. Mattia meint, denn hier wirkt das Mittel nur auf sympathetischem Wege. Die Weisen aber sagen, man übertrete kein Gebot, höchstens bei Medikamenten, d. h. mit Mitteln, die rational d. h. wissenschaftlich erprobt sind". (Vgl. Aphorismen Mösts 22. Schulchan Aruch, Joreh Deah 179. 8.) Andererseits gibt er zu, daß in Fällen, wo keine Mittel vorhanden sind, aus psychischen Gründen, ut aliquid fiat, das Besprechen zu gestatten sei (Hilchoth Akurn 11. 11). „All diese Dinge mögen die Götzendiener in Urzeiten getan haben, das schickt sich aber nicht für Juden, die weise und vernünftig sein sollten." (Dort 16). Maimonides rät in einem Brief an seinen Schüler Efraim (Responsen Freimann 87), manche Mittel durch Tierexperimente auszuprobieren. Er beschreibt den Vorgang des Experimentes und empfiehlt seinem Schüler, es mehrfach zu wiederholen an Geflügel sowie an Rindern. In seinem Kommentar zu Gittin 67. tritt er der Meinung der Weisen entgegen, die glaubten, daß bei Epilepsie ein Dämon die Krankheitsursache sei. Maimonides führt diese Krankheit auf einen Überdruck im 3. und 4. Gehirnventrikel zurück. Über die Astrologie sagt Rambam in seinem berühmten Brief an die Weisen von Lunel: „Wisset, daß all die Dinge, von denen die Astrologen behaupten, daß sie so . . . oder nicht so sein werden, mit Wissenschaft nichts zu tun haben, wohl aber mit — Schwachsinn." Ebenso gewaltig wie als Philosoph und Forscher wie auch im Kampf gegen Unwissenheit und Astrologie sehen wir Maimonides in seiner ganzen medizinischen und wissenschaftlichen Größe als einen Vorkämpfer für Recht und Wahrheit. Daher ist sein Andenken so unauslöschlich über sein Zeitalter hinaus, über Schranken von Ländern, Rassen und Religionen. Nur so große Geister leben j e n s e i t s von Raum und Zeit. Rambam konnte als Schriftsteller und Denker ein guter Araber sein, und dennoch war er nach Moses der größte Jude aller Zeiten. 5. Einzelprobleme Über Asthma Vom Asthma bronchiale nimmt Maimonides an, daß es eine große nervöse Komponente hat, daß außerdem manche Menschen dieser Veranlagung auf gewisse Reizkörper (Allergene) besonders stark reagieren. Durch Diät und seelische Behandlung ist eine Beeinflussung zum Guten möglich. Wenn wir heute anstatt von Reizkörpern von „Allergenen" sprechen, haben wir trotzdem praktisch auf diesem Gebiet in diagnostischer und therapeutischer Hinsicht nicht viel mehr erreicht.

Ärztliche Geisteswerkstätte des Maimonides

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Hygiene des Städtebaus Maimonides fordert als einziger in seiner Zeit in seinem Hygienewerk, sowie in seinen religiösen Schriften sanitäre Einrichtungen, Körper-, Arbeits-, Familien-, Sexual-, Nahrungsmittel- und Städtebauhygiene. Er schreibt: „Der Vergleich der Stadtluft zur Luft der Wüste und unbebauter Wiesen ist etwa wie das Verhältnis des trüben Schmutzwassers zu dem klaren Quellwasser. Die Stadt mit ihren hohen Bauten und schmalen Straßen, dem Schmutz, der auf die Gasse geschüttet wird, den Abfällen, die weggeworfen werden, den toten Tieren (Aas), die oft liegen bleiben, — ist von trüber, dicker, stehender, schlechter Luft erfüllt. Keinem fällt der Gestank mehr auf, wenn er sich nicht gerade aufs Land gerettet hat und dann den Unterschied merkt. Die meisten Menschen sind in den Städten groß geworden und merken das Übel infolge der Gewohnheit nicht mehr. Man wohne wenigstens in einer Stadt mit weitem Horizont, besonders in der Richtung gegen Nordosten, oder am Fuße von Bergen mit viel Wasser und Bäumen. Wenn keine andere Möglichkeit ist, wohne man am Rande der Stadt, in östlichen Vororten und fürchte sich nicht davor. Die Wohnung sei in einem hohen Stockwerk, breit, luftig und der Sonne zugewendet. Denn die Sonne tötet die Fäulniserreger der Luft und macht diese rein und klar. Die Toilette soll möglichst weit entfernt vom Hause sein. Die Luft soll täglich durch Gewürze und Wohlgerüche verbessert werden. Es soll täglich geräuchert werden . . . " Turnen und Sport Die sportlichen Verordnungen des Maimonides stehen auf einer in seiner Zeit ungewöhnlich hohen Stufe 3 . Rambam kannte den hohen Wert körperlichen Trainings, das die körperlichen und seelischen Eigenschaften stählt und fördert. „Die Unbeweglichkeit ist von großem Schaden für die Gesundheit, die Bewegung ist förderlich." {Aphorismen 10. 7.) „Es ist wichtig, Sport zu treiben und sich nicht zu benehmen, wie die gelehrten Leute es tun, die Tag und Nacht an ihrem Schreibtisch sitzen. Es ist ferner wichtig, daß alle Gliedmaßen gleichmäßig trainiert werden, einzelne sollen nicht bevorzugt werden, damit jedes Organ seine Funktion gleichmäßig verrichte und damit alle Organe, die äußeren sowohl als auch die inneren, gleichen Nutzen ziehen . . . " „Es gibt keine Sache, welche das Training übertrifft. Durch das Training kommt die Zirkulation der Körpersäfte ins Rollen und alle 3 Vgl. mein Buch Geschichte der Leibesübungen bei den Juden ; dazu : sanitatis 1 und 3; Moreh 3. 25; Aphorismen des Hippokrates 17—18.

Regimen

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Süssmann Muntner

Schlacken werden entfernt. In der Bewegungslosigkeit erstickt der Stoffwechsel (das natürliche Feuer) und die Schlacken stauen sich dort . . . " (Regimen 1). „Nicht jede körperliche Arbeit ist eine Leibesübung im Sinne der Ärzte. Gymnastische Übungen sind abgezielte Bewegungen mit geordneter Atmung . . . " In Hilchoth Deoth 14 schwingt sich Maimonides sogar zu einem richtigen Lob der Leibesübungen auf und sagt: „Solange ein Mensch turnt und Sport treibt, befällt ihn nicht so leicht eine Krankheit, seine Kräfte nehmen zu. Turnen und Sport sollen sogar die Greise treiben" (Aphorismen 18). Demgegenüber verurteilt Maimonides die Athleten. „Die athletischen Turner trocknen ihre Körpersäfte aus, werden steifmuskelig, gefühllos und sind wenig gebildet. Daher haben die Boxer und Schwerathleten einen Bauernverstand" (dort). Lobend wird hingegen die Leichtathletik hervorgehoben, da sie mit Spiel verbunden ist und das Herz erfreut. Die damit verbundene Freude ist im Stande, viele körperliche und geistige Störungen zu verscheuchen. Das Spiel und die Freude sind beim Sport von großer Wichtigkeit. Es sollen die körperlichen und vor allem die seelischen Kräfte gestählt werden. So spricht der Arzt für Leib und Seele zugleich. Der Seelenarzt Das subjektive Einfühlen des Arztes, die Wunderwirkung seiner Persönlichkeit auf die Seele des Kranken, diese beiden irrationalen Momente, ohne die ein echter Arzt nicht auskommt, sind materialistisch nicht erklärbar, obwohl sie, wie die unwägbare Seele selbst, sicher vorhanden sind. Diese Eigenschaften sind dem Arzt angeboren. Er kann sie entwickeln, veredeln oder nicht besitzen, — dann ist alle seine Mühe, sie zu begreifen, umsonst, so wenig wie augenlos Geborene das Sehen begreifen können. Intuition ist eine Sinnesbegabung, vergleichbar mit den fünf Sinnen. Dieser Sinn, der dem Künstler besonders zueigen ist, soll auch beim Arzt vorhanden sein. Sein Arbeitsgebiet erfordert Wissenschaft und Kunst, Verstand und Intuition. Diese beiden Anlagen waren bei Maimonides auf das Schönste gepaart. Er, der aus dem „Westen" kam, verknüpfte okzidentale Wissenschaftsanlage mit orientalischer Anlage zu Intuition und Prophétie. Diese hat er, wie Augenzeugen berichten, in Praxis und in Theorien — in seinen Werken an den Tag gelegt. Die wichtigsten Zeugnisse auf diesem Gebiet sind sein Buch Regimen santatis und die Acht Kapitel. Im Mittelalter sind zahlreiche Regimen sanitatis in allen Sprachen verfaßt worden. Keines reicht aber an die Größe dieses Werkes von Maimonides heran. Seine Schlüsse als Arzt und Weiser auf dem Gebiete der Psycho-Physiologie und Psychotherapie sind originell. Sie sind so

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interessant, daß sie dieses Buch noch heute lesbar machen, sowohl für den modernen Arzt als auch für den gebildeten Leser. Maimonides schlägt eine besondere Art von Psycho-Gymnastik vor. Er gibt dem Arzt Anweisungen, durch affektbetonte Erlebnisse die Seelenstimmung des Kranken zu heben, die verantwortlich ist für alles biologische, für das physiologische, pathologische und therapeutische Geschehen. Hier vermischen sich griechische Wissenschaft, orientalische Weisheit, sowie die Grundsätze jüdischen Glaubens zu einer neuen Einheit. Maimonides spricht von Suggestion und Autosuggestion und deren Wirkung. Er spricht von der gegenseitigen Wirkung von Psyche und Soma, die in der Natur komplementär sind. Die Medikamente, die er empfiehlt, sind: Gymnastik, Sport, Fechten, Atemübungen {Moreh 3. 25), die wichtige Faktoren zur Erzielung der Gesundheit sind, ferner Musik, Gesang, Spaziergänge in Parks, Anblick schöner Gärten, Bilder, angenehme Gesellschaft, kurz alles, was das Herz erfreut. Alles das ist wichtig zum Zwecke, um gut und weise zu sein. In den Acht Kapiteln (Kap. 5) beschreibt er den Zweck der körperlichen Gesundheit, damit die Seele gesunde und vollkommene Organe besitze. Sein Motto lautet nicht : „Mens sana in corpore sano", sondern : „Corpus sanum pro mente sana", körperliche Gesundheit, damit man eine gesunde Seele habe. Interessant ist, was Rambam als Schlafmittel für den orientalischen König, der an Schlaflosigkeit und Depressionen litt, verordnete (Medizinische Responsen Kap. 21) : „Seine Majestät möge sich bemühen, am Morgen mit Sonnenaufgang oder schon früher aufzustehen, nehme dann von dem .Getränk' 2—3 Unzen und ruhe eine Stunde. Dann folge ein Ritt in leichtem Trab, sodann einige leichte Gymnastik, langsam ansteigend, bis sich die Glieder erwärmen und sich die Stimmung ändert. Dann unterbreche er und ruhe, bis er nichts mehr von der körperlichen und seelischen Anstrengung durch die Gymnastik spürt. Danach nehme er von den erwähnten säuerlichen Früchten zu sich oder einige Nüsse und Rosinen oder von den getrockneten Datteln oder von den eingemachten Rosen. Alles in gewohntem Maß. Dann lege er sich nieder. Der Sänger spiele auf der Harfe, erhebe seine Stimme zum Gesang, dann senke er langsam seine Stimme bis zu leisen Tönen und schwäche die Klänge der Saiten und Melodie bis der König eingeschlummert ist, sodann höre er auf . . . Wenn der König später aufwacht, beschäftige er sich mit leichter Lektüre oder unterhalte sich mit Menschen, die ihm lieb sind. Die Unterhaltung mit einem erwünschten Menschen ist sehr anregend, sowohl zur Verfeinerung des Seelenzustandes als auch rückwirkend auf die körperliche Erholung, für Gedankenreflexionen und ihre leichte Beschwingtheit. Sie erfreut das Herz und hält es fern von bösen Gedanken."

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6.

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Überschau

Seit den Tagen des Hippokrates bis Maimonides hat die Medizin keine wesentlichen Fortschritte, eher einige Rückschritte gemacht. Seit Maimonides bis zu unserer Zeit, besonders im letzten mechanistischen Zeitalter hat die Medizin, verglichen mit den Erungenschaften der Vorzeit, enorme Forschritte gemacht. Die Fortschritte sind meist technischer Natur, sowohl in der Diagnostik, als auch in der Therapie und besonders in der Hygiene und Präventiv-Medizin. Weltanschaulicher Art sind zwar viele Einzelkenntnisse hinzugekommen, aber nicht in dem Maße, wie auf den übrigen Gebieten. Von einer Ontologie (der Alten und Primitiven) über die Humoralpathologie (HippokratesGalenos), von einer Reaktionspathologie (Morgagni-Virchow) ist die medizinische Denkweise der letzten Jahre durch Hormone, Immunbiologie, Mesenchym-Reaktion wieder zu einer Art „Humoralpathologie" zurückgekehrt, jedenfalls von der Alleinherrschaft der streng materialistischen Zellular-Pathologie abgekommen. Von einer lokalistischen analysierenden Organ-Pathologie gelangt die Medizin zu einer synthetischen Ganzheitsschau des Individuums nach Art des Holismus in der Biologie. (Es sei nur an den Ausdruck Korrelation, Schock-Reaktion u. s. w. erinnert.) Von einer rein materialistischen naturwissenschaftlichen Medizin ist man zurückgekehrt zu der Betonung einer komplementär wissenschaftlich intuitiven Schau der Medizin der Jetztzeit (wie sie bei Maimonides und bei allen echt hippokratischen Ärzten anzutreffen war) — ohne in den krassen mystischen Vitalismus zurückzufallen. Von besonderer Bedeutung war die universelle Geistesbildung des Maimonides für seine Ansichten über das menschliche Seelenleben und über die seelischen Störungen. Hier waren seine naturwissenschaftlichen und psychologischen Erfahrungen sowie seine religiösen Gedankengänge auf das innigste miteinander verwoben. Die physikalischen, biologischen, moralischen, sowie ethischen Gesetze gingen in seiner Welt der Werte ineinander über. Den Natur-Biologie-Gesetzen der Welt Ordnung sich bewußt einzugliedern, das bedeutete für Maimonides die Verwirklichung der Idee, auf dem Wege der Wissenschaft und Weisheit zu schreiten, — zur höchsten Erkenntnis und zu wirklicher Glückseligkeit zu gelangen. Die „Technik der Medizin" zu Maimonides Zeiten war noch unentwickelt. Die Ärzte waren damals „Humoral-Denker", ohne Mikroskop und ohne Röntgenstrahlen, auch ohne chemische Untersuchungsmethoden, dennoch waren sie erfolgreiche Beobachter und Therapeuten. Aus der genauen körperlichen und seelischen Verfassung, aus dem Verhalten des Kranken leiteten sie die Gesetze der Krankheit, ihre Ursachen, ihren Verlauf (Prognose) und ihre Heilung ab.

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Ärztliche Geisteswerkstätte des Maimonides

Sich gegen die Gesetze der religiösen Moral und Sittlichkeit zu vergehen, hat nach Maimonides dieselbe verhängnisvolle Wirkung wie der Verstoß gegen die Gesetze der physikalischen und biologischen Natur und der Hyiene. Das allumfassende Gesetz äußert sich in moralischen, biologischen und physikalisch-naturwissenschaftlichen Manifestationen. In diesem umfassenden Gesetz ist auch die Lehre des Maimonides über Gesundheit und Krankheit verankert. So führte seine vielfältige Gedankenwelt zu einer schöpferischen Synthese. So wurde er durch seine ideologisch festgebaute Gelehrsamkeit zum erfolgreichen Arzt und Führer für kranke Individuen und ganze Völker. Eine weitere Synthese ist aber auch in der Verbindung der medizinisch-philosophischen Kenntnisse des Okzidents (Hippokrates, Galen, Aristoteles) und denen der arabischen und jüdischen Welt des Orients zustande gekommen. In seinen methodisch durchdachten Schriften bezieht sich Maimonides auf die hauptsächlichsten Ansichten der griechischen Lehrmeister. Er erklärt ihre Thesen, bespricht auch ihre Widersprüche bzw. Irrtümer, verweist sie in ihre Grenzen und rückt von ihnen ab, wenn sie seinen eigenen medizinischen Erfahrungen oder seinen philosophischen Prinzipien widersprechen. Er leitet seine medizinische Einstellung zum Krankheitsprozeß und seiner Heilung vom Grundprinzip menschlichen Lebens ab, von Sein und Schein, vom Leben und Vergehen, von Endlichkeit und Unendlichkeit. Darum müssen seine Gedanken aus seinen medizinischen sowie religiösen und philosophischen Schriften studiert und dem modernen Bewußtsein näher gebracht werden. Auch das Weltbild unserer Gegenwart müßte, wenn auch nicht allumfassend, so doch mindestens alles-berücksichtigend sein, und Fortschritte der Technik, der Wissenschaft mit den ehernen Gesetzen der Moral und Sittlichkeit verbinden und so: W i s s e n und G l a u b e n v e r s ö h n e n und zu einer schöpferischen Synthese führen. So gesehen wird uns die Gedankenwelt und die Leistung eines Maimonides mit seiner Suche und seinem Finden von Wahrheit und Glückseligkeit gerade heute wieder mustergültig und nachstrebenswert.

Med. IV

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D I E GESCHICHTE D E S MAIMONIDES IM LATEINISCHEN ABENDLAND ALS B E I S P I E L E I N E R CHRISTLICH-JÜDISCHEN BEGEGNUNG VON WOLFGANG

KLUXEN

I Was heißt im Mittelalter ,,christlich-jüdisches

Gespräch?"

Falls man unter Gespräch nur solche Auseinandersetzung verstehen wollte, in der lebendige Wechselrede gleichberechtigter Partner stattfindet, die dem gegenseitigen Verstehen und der gemeinsamen Wahrheitsfindung dient, so würde man im Mittelalter schwerlich echte Beispiele dafür finden; und sollte man sie finden, so wären es nicht Ereignisse, welche geschichtlich maßgebliche Charakterzüge des christlichen Abendlandes markieren. Die geschichtlich maßgebliche Haltung der Christen gegenüber den Juden war die missionarische. Von ihr sind die Glaubens,,gespräche" mit feststehenden Ausgang ebenso bestimmt wie die obligatorischen Judenpredigten, die Zwangsbekehrungen wie die Pogrome der Kreuzfahrer. In dieselbe Richtung weist, daß der Jude in der Theorie gelegentlich dem Häretiker gleichgestellt wird, bis hin zu der Forderung, seinen Unglauben gewaltsam auszurotten. Daneben gilt jedoch die Forderung der Toleranz, deren hervorragendster Vertreter der sonst so unerbittliche Bernhard von Clairvaux ist. Dafür gibt es allgemein-moralische Gründe (die durchaus im Vordergrund stehen), aber auch geschichtstheologisch-symbolische: Die allgemeine Bekehrung der Juden wird im Römerbrief (Kap. 11) als eschatologisches Ereignis prophezeit, und so würde ihre Ausrottung dem göttlichen Geschichtsplan zuwiderlaufen. Der Gedanke, daß die Juden als das ursprünglich erwählte Gottesvolk auch in der geschlossen christlichen Gesellschaft eine ganz andere Stellung haben als die Ketzer, ist nie ganz aus dem christlichen Bewußtsein verschwunden. Freilich, erst in allerjüngster Zeit ist erkannt worden, daß die Situation überhaupt nicht als missionarisch verstanden werden kann. Die Theologie hat gelernt, sie als ökumenisch aufzufassen, und erst damit kann es im eigentlichen Sinne ein christlich-jüdisches Gespräch geben: wo Christen als Christen und Juden als Juden Partner sind.

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Maimonides im lateinischen Abendland

Ist ein Gespräch in solchem Sinne im Mittelalter überhaupt nicht zu erwarten, so wird man desto mehr jene christlich-jüdischen Kontakte werten, in denen es, wenn schon nicht zur /lwerkennung, so doch zumindest zu einem .Erkennen des anderen kommt. Dazu bedarf es der Einsicht, daß die fremdartige Gestalt des Partners nicht bloß negativ zu werten ist, als Irren und Verfehlen oder gar als böswillige Obstination, sondern daß sie auch und zugleich eine positive Ausprägung geschichtlichen Lebens ist, mit eigener Sinnfülle und mit Elementen der Wahrheit : einer Wahrheit, die ihrem Wesen nach allgemein und gemeinsam ist. Erst wo solche Einsicht gewonnen ist, kann es auch Befruchtung geben — Einfluß, wie man zu sagen pflegt — , oder jedenfalls ernsthafte geistige Auseinandersetzung. Dabei ist nicht notwendig erforderlich, daß sich dies Verhältnis wechselseitig gestaltet, also schon die Gestalt des Gesprächs annimmt. Auch wo dieser weitere Schritt nicht getan wird, spreche ich schon von Begegnung. Dieser Terminus soll hier nicht im modern-anthropologischen Verstände genommen werden, wo er einen ausgeprägt personalen Sinn hat, sondern nur in einer geschichtstheoretischen Bedeutung. Es geht um die Begegnung kollektiver Größen, wie wir sie in den Namen christliches Abendland oder Judentum nennen. Das setzt voraus, daß man den Blick auf die Großgestalten geschichtlichen Lebens richtet, auf Kulturen oder Gesamtgesellschaften, und in ihnen maßgebliche Gestaltungen und beherrschende Formen von geprägter Individualität anerkennt, die den Charakter von Subjekten der Geschichte haben. Diese Sichtweise mag man morphologisch nennen, ohne deshalb den speziellen Theorien der Spengler und Toynbee folgen zu wollen (gegen diese sind kritische Vorbehalte höchst angebracht, gerade wenn man die Fruchtbarkeit morphologischer Sicht anerkennt; es sei erinnert, daß es für Spengler überhaupt keine Begegnung von Kulturkreisen geben kann, während Toynbee zumindest keine adäquate Theorie der Kulturkontakte entwickelt hat). Es scheint mir klar, daß — in unserem Falle — die Frage nach einem christlich-jüdischen Gespräch oder seinen Vorstufen überhaupt nur sinnvoll zu stellen ist, wenn eine morphologische Sichtweise grundsätzlich als berechtigt anerkannt wird. Das schließt nun nicht aus, sondern erfordert, daß sich der makroskopische Vorgang im historischen Detail finden und aus ihm konstruieren läßt. Wie alle Geschichte, so vollzieht sich auch geschichtliche Begegnung nur in und durch Individuen : nicht beliebige freilich, sondern solche, die wechselseitig als Repräsentanten der kommunizierenden Kulturgestalten auftreten können. Es käme darauf an, vor allem den repräsentativen, den exemplarischen Fall aufzusuchen; denjenigen, an dem sich die weitestgehende Möglichkeit der Begegnung beispielhaft aufzeigen läßt. Um dieses Beispiel einer christlich-jüdischen Begegnung im Mittelalter soll es im Folgenden gehen. 10'

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Wolfgang Kluxen

Die Darstellung hält sich im Bereich der Philosophiegeschichte, ohne jedoch das Theologische auszuschließen, das zu ihrem Thema unumgänglich gehört. Sie hält sich vornehmlich an die Epoche der Hochscholastik, also im Ganzen an das 13. Jahrhundert, zu dessen Anfang Maimonides starb. Die sachlichen, inneren Gründe für diese Beschränkung werden sich im Verlauf der Darstellung zeigen. II Den christlichen Denkern der Hochscholastik sind Namen und Werk von vier jüdischen Denkern geläufig. An erster Stelle ist hier Philo zu nennen, dessen Werke, soweit sie bekannt waren, zusammen mit Unechtem als Liber Philonis1 gelesen wurden. Ohne Frage ist Philo ein vielgelesener und vielzitierter Autor. Freilich, wenn man die Frage stellt, ob seine Geschichte im Abendland den Beispielfall einer Begegnung im gesuchten Sinne darstellen kann, wird man zu einer verneinenden Antwort kommen müssen. Denn auf der einen Seite repräsentiert Philo ein Judentum, das noch keineswegs die Gestalt angenommen hatte, die das dem lateinischen Mittelalter zeitgenössische Judentum kennzeichnete. Der von manchen so genannte Judaismus, die wesentlich durch den Talmud bestimmte Lebensform der Judenheit „von Hillel bis Mendelssohn", besteht noch nicht und ist kaum in Ansätzen sichtbar. Gerade auf ihn aber käme es als Partner des Abendlandes an ; denn nur im Verhältnis zu einem lebendig in der Geschichte Anwesenden kann von Begegnung die Rede sein. Auf der anderen Seite haben die christlichen Denker des Mittelalters Philo wohl kaum als Sprecher der Judenheit angenommen. Seiner geschichtlichen Fernstellung sind sie sich wohl bewußt, und so erscheint er vorzüglich als geschichtlicher Zeuge, den man in theologischphilosophischen Fragen nicht wesentlich anders heranzieht als andere antike Zeugnisse. Seinen Einfluß als Denker wird man nicht hoch veranschlagen dürfen (spezielle Untersuchungen darüber stehen noch aus), jedenfalls in der Hochscholastik ist er sicher äußerst gering. Philos Wirkung im christlichen Bereich liegt in der Frühzeit — wo sie wohl auch von Forschern wie Wolfson stark überschätzt sein dürfte 2 —, und selbst da wird man schwerlich von Begegnung sprechen dürfen. Denn es ist den Christen möglich, ihn noch der praeparatio evangelica zuzurechnen, ihn als Vorläufer sich zuzueignen, was ein 1

Vgl. P. WILPERT, Philon bei Nikolaus von Kues, in: Antike und Orient im Mittelalter = Miscellanea Mediaev. I, Berlin 1962, 69—79. 2 Wieviel Mißtrauen gerade die Arbeiten von WOLFSON verdienen, zeigt die Arbeit von K. BORMANN, Die Ideen- und Logoslehre Philons von Alexandrien (Diss. Köln 1955) ; nach den Ergebnissen dieser Untersuchung ist es kaum mehr möglich, Wolfson zu den ernst zu nehmenden Forschern zu zählen.

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Verhältnis der partnerschaftlichen Begegnung ausschließt. Vom Mittelalter aus gesehen, erscheint dann Philos Hinterlassenschaft als ein Teil des Erbes der Antike ; noch mehr fehlt ihm dann das Moment des geschichtlichen Gegenüberstehens, das zu einer Begegnung erfordert ist. Ein Erbe — dies gilt allgemein — wird beansprucht, übernommen, angeeignet (oder vielleicht abgelehnt, zurückgewiesen), man begegnet ihm nicht als einem anderen. In solchem Falle wäre von Rezeption oder Renaissance zu reden, und so spricht man mit Recht von einer Renaissance des 12. Jahrhunderts oder von der Rezeption des Aristoteles, nicht aber von einer Begegnung mit dem Griechentum— es handelt sich um die abendländische Überlieferung selbst und um die Wiederaufnahme von Eigenem. Man kann sich in diesem Zusammenhang überhaupt fragen, ob die mittelalterliche Judenschaft, sofern sie in den christlichen Gemeinwesen eingeordnet war und einen Rechtsstatus genoß, nicht ebenso dem Abendland zugehörig war und deshalb auch nicht in der Situation echten Gegenüberstehens erscheinen konnte. Morphologisch kann man ihren Status, mit einem Terminus Toynbee's, als den eines inneren Proletariats bezeichnen. Es ist zu erwarten, daß die gesellschaftlich maßgeblichen Kräfte einer solchen Gruppe nicht begegnen, sondern sie höchstens richterlich beurteilen. Das ist tatsächlich der Fall, so wenn etwa 1248 in Paris eine Kommission zur Beurteilung jüdischer Bücher eingesetzt wird (der auch Albert der Große angehört) — ein Vorgang, der bekanntlich keineswegs einmalig war. Noch mehr gilt es, wenn die Judenschaft selbst ein solches Urteil wünscht und herbeiführt: ich erinnere an die berühmte Episode aus dem Streit um Maimonides, in dem die konservativen Rabbiner von Montpellier und Lyon 1233/34 die Inquisition zur Verurteilung der maimonidischen Schriften aufforderten — auf dies Ereignis werde ich noch zurückkommen. Anders liegt die Sache, wenn nun ein jüdisches Denken von Rang von außerhalb des eigenen Kulturbereichs an das Abendland herantritt. Die Situation des Gegenüber, der möglichen Partnerschaft und der möglichen Begegnung ist dann ohne weiteres gegeben. Es ist daher kein Zufall, daß die gleich zu nennenden drei weiteren Namen solchen jüdischen Denkern angehören, die dem islamischen Kulturbereich zuzurechnen sind, und daß ihr Bekanntwerden im Abendland ein Teilvorgang in jenem geschichtsmächtigen Prozeß ist, in dem sich das Abendland der Begegnung mit dem islamisch-arabischen Kulturkreis öffnet. Zwar hat auch in diesem die Judenschaft, morphologisch gesehen, die Stellung eines inneren Proletariats (wenn auch in einer Weise, die eine freiere Entfaltung als im lateinischen Abendland ermöglicht) ; doch spielt das im Verhältnis zum Abendland selbstverständlich keine Rolle mehr.

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Die drei Denker, die nun zu nennen sind, sind Isaak Israeli, Avicebron und Maimonides. Von Isaak Israeli (zw. 845 und 940) lasen die Scholastiker das Buch der Definitionen und das Buch der Elemente in der Übersetzung des Gerhard von Cremona (gest. 1187), die in Toledo entstanden ist3. Bei beiden handelt es sich um Kompilationen, die sich ganz im Umkreis des neuplatonisch gefärbten Aristotelismus der arabischen Philosophen halten. Es gibt in ihnen nichts, was Isaak spezifisch als jüdischen Denker ausweist: daß dieser Isaac Judaeus, wie er oft genannt wird, ein Jude ist, spielt nur als factum brutum eine Rolle, und so ergibt sich, daß wir ihn auf der Suche nach dem Beispielfall einer Begegnung ausscheiden müssen. Noch mehrgiltdasfürAvicebron oder Avencebrol(etwa. 1020—1070), dessen Fons vitae ebenfalls in Toledo im 12. Jahrhundert, und zwar von Dominicus Gundissalinus und Johannes Hispanus, ins Lateinische übersetzt worden ist4. Dies Werk ist so wenig jüdisch, so wenig kam auch nur der Verdacht auf, daß sein Verfasser Jude sein könnte, daß erst 1845 durch S. Münk der Nachweis erbracht wurde, er sei mit dem bekannten Autor Salomon ibn Gabirol identisch5. Für die Scholastiker war er ein arabischer Philosoph. Daher muß er überhaupt für jede Betrachtung der christlich-jüdischen Kontakte des Mittelalters ausscheiden: Avicebrons Geschichte im Abendland geht vollständig in der Geschichte der arabisch-christlichen Begegnung auf. So bleibt uns denn noch Maimonides (1135—1204) übrig. Bei ihm nun verhalten sich die Dinge tatsächlich wesentlich anders, und man mag das schon ganz äußerlich an der Namensnennung absehen: Er erscheint bei den Lateinern stets als der Rabbi Moyses, vereinzelt gar — so bei Wilhelm von Ware6 — als Rabbi schlechthin, so wie Aristoteles als Philosophus und Averroes als Commentator ohne Zusatz erscheinen. Schon darin zeigt sich, daß ihn das Abendland als Repräsentanten jüdischen Denkens erkennt. Wie sehr das berechtigt ist, zeigt ein Blick auf die übersetzten Maimonides-Texte, welche der Scholastik des 13. Jahrhunderts vorlagen. Von den drei Dokumenten, die uns bekannt sind — es wird unten im einzelnen über sie zu reden sein —, ist das wichtigste und umfangreichste die Übersetzung des berühmten Führers der Unschlüssigen, die beiden anderen sind Übersetzungen bzw. Bearbeitun3 Kritisch ediert ist nur der Liber de definicionibus, von J . T. MÜCKLE, in : A HOLM Α, vol. 12—13 (Paris 1937—38), 299—340; sonst wird Isaac nach dem Druck Lyon 1515 zitiert. 4 CL. BAEUMKER (Ed.), Avencebrolis (Ibn Gebirol) Fons Vitae . . . = BGPhMA I, H. 2—4, Münster 1895. 5 S. M Ü N K , Mélanges de Philosophie juive et arabe, Paris 1857, 3—302; erste Veröff. in: Literaturblatt des Orients, 1845. 6 Vgl. folgende Anm.

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gen von Stücken desselben Werkes. Zu dessen Charakterisierung — unter dem Gesichtspunkt unserer Fragestellung — muß nun einiges gesagt werden 7 . III Bei den Unschlüssigen oder Schwankenden, für welche Maimonides seinen Führer schreibt, handelt es sich um Juden, welche im Geiste des Gesetzes und des Talmud erzogen sind, zugleich aber in ständigem Kontakt mit der profanen Wissenschaft der arabischen Welt leben und deren überzeugende Überlegenheit als Mittel des Welt-Verstehens erfahren. Natürlich stellen diese unmittelbaren Adressaten des maimonidischen Werkes keinen zufälligen Sonderfall dar. Sie bezeichnen vielmehr die allgemeine Situation des Judentums zu der Zeit, da es sich im arabischen Kulturbereich zu einer positiven Auseinandersetzung mit der profanen Wissenschaft — konkret mit dem Aristotelismus der Philosophen — herausgefordert findet und es unternimmt, sich auf eine neue, geschichtlich angemessene Weise geistig zu behaupten. Das talmudische Judentum, dem Maimonides entstammt, bringt zu einer positiven, offenen Lösung dieser Aufgabe keineswegs die besten Voraussetzungen mit. Es hat seine Stärke, seine bewahrende Kraft eher aus entgegengesetzten Antrieben: aus der Konzentration auf die eigenen geistigen Grundlagen und dem Abschluß nach außen hin. Es weiß sich als das Volk, welches geschichtlich von Gott angesprochen und zu einer abgesonderten Existenz berufen ist. Der Anspruch Gottes, des Herrn der Geschichte, geschieht in der Form des Gesetzes, das diesem Volk seine bestimmte geschichtliche Gestalt vorschreibt. Seine geschichtliche Aufgabe sieht es darin, diese Gestalt zu bewahren bis hin zur messianischen Endzeit, in der dasselbe Gesetz zur universalen Geltung kommen wird. Nichts ist deshalb heiliger als das Gesetz — daß es gar nötig wird, einen Zaun um das Gesetz zu bauen —, nichts ist unantastbarer ; seine Geltung ist absolut, und zwar auch in dem Sinne, daß der Versuch einer rationalen Beherrschung des Gesetzes, wie ihn ein Wesensverstehen im Sinne der philosophischen Ethik fordert, von vorn herein unter dem Verdacht stehen muß, diese Absolutheit antasten zu wollen. Gott als der Herr und das Gesetz als seine Herrschaft sind nur hinzunehmen, nicht zu diskutieren, nicht zu durchdringen. Schließlich ist die extreme Folgerung, daß jedes einzelne Gesetzesgebot als unmittelbarer Ausdruck eines unverstehbaren, gänzlich positiven und grundlosen göttlichen 7 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf meine Artikel : Maimonides und die Hochscholastik, in: Philos. Jahrb. 63 (1955), 151—165 (Die dort bereits gegebene Deutung wird hier im Sinne des Themas Begegnung vertieft) und: Literargeschichtliches zum lateinischen Moses Maimonides, in: RThAM 21 (1954), 32—50 (dort sind die literargeschichtlichen Daten und Belege zu finden, die ich hier voraussetze).

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Wollens geltend ist, jedes einzelne von gleicher unantastbarer Absolutheit. Ein solch extremer theologischer Gesetzespositivismus tritt freilich nur selten in reiner Form, und meist polemisch, auf; er charakterisiert aber eine Tendenz, die allen Versuchen rationalen Weltverständnisses und damit allgemeiner Weltoffenheit die radikale theologische Bestimmtheit der geschichtlichen Existenz entgegenstellt. Auch das ist eine Weise der geschichtlichen Selbstbehauptung. Sie hat das Judentum der Diaspora als geistige Einheit festgehalten. Aber sie hat notwendig zur Folge, daß es ins Ghetto eingeschlossen und auf sich selbst isoliert wird. Dies Judentum ist einer Begegnung und einem Gespräch durchaus verschlossen. Und wer doch als Jude zugleich Recht und Notwendigkeit wissenschaftlicher Weltdeutung und philosophischer Wesenseinsicht erkennt, wird sich alsbald in der Rolle eines Schwankenden, Unschlüssigen finden und nach einem Führer Ausschau halten. Die Leistung des Maimonides besteht nun darin, einerseits das Prinzip des talmudischen Denkens — die Absolutheit des geschichtlichen Gesetzes — streng festzuhalten, andererseits den Erweis zu erbringen, daß damit eine rationale Auslegung der Welt, des Menschen und auch des Gesetzes selbst, sofern es doch in die Welt des Menschen hinein gegeben wurde, vereinbar ist. Gott selbst bleibt jenseits der Verstehbarkeit, so daß man nur in Negationen von ihm reden kann ; und auch Gottes Tun — die Schöpfung der Welt und die Setzung des Gesetzes — ist undurchdringliches, positiv hinzunehmendes Geheimnis. Der theologische Positivismus bleibt so erhalten, nur ist er gleichsam zurückverlegt; er markiert Grenze und Horizont des Denkens, das sich in ihm hält, ihn selbst aber nicht zu erreichen, geschweige denn zu umfassen und zu begreifen vermag. Doch auf der Ebene dessen, was da gesetzt ist, zeigen sich Zusammenhänge, Gestalten, einsichtige Wesenheiten, die zur rationalen Durchdringung auffordern. Auf dieser Ebene ist es möglich und notwendig, sich mit den heidnischen Weltweisen auseinanderzusetzen, ja auch mit den islamischen Theologen des Kalam, die einen islamischen Positivismus bis zur völligen Leugnung innerweltlicher Strukturen vorantreiben und damit scheinbar eine der jüdischen Geistigkeit nähere Lösung versuchen. Ersichtlich ist das maimonidische Denken der Kommunikation offen. Es stellt eine Möglichkeit dar, wie der Jude an der Grundlage seiner geschichtlichen Existenz festhalten und doch zugleich in der Offenheit einer profan verstehbaren Welt leben kann; wie er geistig emanzipiert werden kann, ohne aufzuhören, Jude zu sein. Der Führer der Unschlüssigen zeigt diese Haltung in der Behandlung einer Fülle von Themen, die insgesamt die wesentlichen Probleme jüdischer Religiosität in der geistigen Welt des arabischen Aristotelismus umfassen. Ich führe die wichtigsten an :

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1. Die Redeweise der Heiligen Schrift: Das Gesetz spricht die Sprache der Menschen — ein Gemeinplatz zunächst, doch bei rechtem Verständnis ein brauchbares Prinzip; es besagt die Möglichkeit, in methodischer Klärung den rationalen Sinn einer Fülle von Aussagen über Gott und göttliches Tun zu bestimmen. Nicht nur die Sprache, auch der Inhalt wird deutlich. 2. Die Theologie des Kalam: Die Widerlegung des reinen theologischen Positivismus bestätigt das Recht innerweltlichen, weltförmigen Wissens. 3. Die Schöpfung: Es wird nachgewiesen, daß die philosophische Lehre von der Ewigkeit der Welt nicht zwingend, ihre Zeitlichkeit wahrscheinlicher ist. Die Kritik trifft ebenso Aristoteles selbst wie das Notwendigkeitsdenken der Araber. Das aristotelische Weltbild wird mit dem biblischen in Einklang gebracht, so besonders die Lehre von den Himmelsbewegern (den Intelligenzen) und die Engellehre. 4. Die Prophetie: Sie wird als intellektueller Aufschwung erklärt; jedoch wird dabei dem Moses eine Sonderstellung eingeräumt. 5. Die Gotteslehre: Ihr rein negativer Charakter wird herausgestellt, das eigentliche Gottverstehen dem Menschen streng abgesprochen. 6. Das Gesetz: Maimonides gibt eine Gesamtübersicht über den Inhalt des Gesetzes, bei dem es auf eine rational bestimmte Gliederung und Ordnung der Gebote nach ihrem Gewicht und ihrer Stellung zueinander ankommt. Das Ganze nun stellt weder eine theologische noch eine philosophische Summe dar und schon gar nicht ein System. Es handelt sich um den stets erneuerten, immer wieder angesetzten Versuch, jüdisches religiöses Gut in aristotelischen Begriffen auszudrücken, aristotelisches Philosophieren auf jüdische Inhalte zu beziehen. Man hat deshalb von Religionsphilosophie gesprochen und damit wohl, trotz der Mißverständlichkeit des Ausdrucks, das Richtige getroffen: Es ist nicht möglich, diese Philosophie rein als solche, etwa als boße Instanz des Aristotelismus, zu betrachten — wie das bei Isaak Israeli und, mutatis mutandis, bei Avicebron möglich ist; wer dem Rabbi Moyses begegnet, kann nicht umhin, dem Judentum zu begegnen. Freilich mag er willkürlich aus dem vorliegenden Ganzen an Materialien auswählen, was ihm gerade beliebt — aber dann verfehlt er das Wesentliche dieses Denkers, er erkennt ihn überhaupt nicht. IV Es ist zu erwarten, daß das Bekanntwerden des Führers der Unschlüssigen im lateinischen Abendland Aufmerksamkeit erregt. Aber die erste Spur des Maimonides bei einem Scholastiker ist von merk-

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würdiger Anonymität 8 . Jacob Guttmann hat sie bei Wilhelm von Auvergne nachgewiesen, der in seiner Schrift De legibus (vor 1230) bei der Behandlung des alttestamentlichen Gesetzes, besonders des Opferkultes, Schritt für Schritt Maimonides — nicht immer zustimmend — folgt. Es ist nicht anzunehmen, daß Wilhelm die Gesamtübersetzung des Führers der Unschlüssigen gekannt hat, von der wir sonst vor 1240 keine Spuren haben. Aber es existiert in einer Pariser Handschrift des 13. Jahrhunderts (die auch die vollständige Übersetzung enthält: Bibl. de l'Univ. 601) ein Text, der gerade die Kapitel über das Gesetz aus dem Führer enthält. Sie bilden etwa vier Fünftel einer Schrift, die sich mit den zwei Aussageweisen der Bibel befaßt: Diese spreche einmal in Gleichnissen, zum anderen in Geboten. Der 1. Teil über die Gleichnisse ist kurz; er arbeitet mit maimonidischen Gedanken und teilweise auch Materialien, ist aber sicher die Arbeit eines wenig selbständigen Geistes und nicht von dem hohen Niveau, welches der echte maimonidische Text zeigt. Der letztere zeigt Spuren einer leichten Bearbeitung, die sich damit erklären lassen, daß auf christliche Leser Rücksicht genommen wird. Dennoch ist das Ganze sicher einem jüdischen Kompilator zuzuschreiben, der vermutlich mit einem christlichen Übersetzer zusammenarbeitete. Entstanden ist das Ganze, wie das Initium angibt, in den Jahren 1223/24 und an einen gewissen Romanus gerichtet. Ich bin geneigt, diesen Adressaten mit dem Kardinal Romanus zu identifizieren, einem aufgeschlossenen, an der Philosophie interessierten Mann ; wir kennen ihn als Legatus in Francia bis 1229 und Freund des Wilhelm von Auvergne, ferner als großen Förderer der Universität Toulouse, die sich zur selben Zeit als Freistatt aristotelischen Lernens und Lehrens empfiehlt. Dies nun dürfte der Text sein, den Wilhelm von Auvergne benutzt hat, durch den also erstmals ein Stück maimonidischen Denkens dem Abendland bekannt wurde. Dieser literargeschichtlichen Schilderung, in der ich lediglich bereits Publiziertes zusammenfasse, sei unter der jetzigen Fragestellung eine Bemerkung zur Deutung des Vorganges angeschlossen. Sicher ist es bemerkenswert — wenn meine Hypothesen zutreffen —, daß ein römischer Kardinal über exegetische Fragen bei einem Rabbiner Auskunft sucht; weit bemerkenswerter ist jedoch, daß diese Auskunft gehört und beachtet wird, und zwar in einer systematischen und vollständigen Diskussion. Das ist, wie mir scheint, etwas Neues im lateinischen Mittelalter. Es ist mir nicht bekannt, daß der Talmud und das talmudische Denken, das doch überall, wo es Juden gab, prinzipiell zugänglich war, in einem vergleichbaren Sinne vorher christüche Beachtung gefunden hat 9 . Maimonides findet sie sofort, beim ersten 8 8

Vgl. Literargeschichtliches (Anm. 7) 41—46. Wenigstens ist mir kein überzeugender Nachweis dafür bekannt.

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anonymen Auftreten. Sollte es daran liegen, daß erst in seinem Denken eine Ebene betreten ist, auf der Kommunikation möglich ist? Sollte es gerade das gegenüber der talmudischen Tradition Neue bei ihm sein, das den Christen verständlich ist und dann auch zum Verständnis talmudischer Aussagen den Weg öffnet? — nämlich das RationalPhilosophische, und zwar auch dies nicht in einem allgemeinen Sinne von Rationalität, sondern in der geschichtlich-konkreten Gestalt des Aristotelismus ? Dieser Aristotelismus tritt in dem zweiten Dokument, das hier zu nennen ist, ganz in den Vordergrund10. Es führt den vollständigen Titel : Liber Rabbi Moyse Hebraei Philosophi de uno deo benedicto, quod nec est corpus nec virtus in corpore. Es enthält die Einleitung zum II. Buch des Führers der Unschlüssigen, worin Maimonides in 25 (bzw. 26) Leitsätzen (Praeparatoria principia) die wesentlichen Thesen der Physik und Metaphysik des Aristoteles in Absicht auf einen Gottesbeweis zusammenfasst, sowie desselben Buches 1. Kapitel, worin der Gottesbeweis in vier Wegen ausgeführt wird. Die Schrift taucht kurz nach 1240 in Paris auf. Albert der Große zitiert sie in der frühen Summa de resurrectione: Maimonides heißt dort philosophus quidam Rabbi Moyses, wird also als noch nicht allgemein bekannte Größe eingeführt. Auch Alberts gleichzeitige Summa de quatuor coaequaevis enthält einige Zitate daraus. Aus späterer Zeit gibt es nur wenige Zeugnisse: Alberts Summa theologiae nennt das Werk nochmals (bei dem kompilatorischen Charakter dieser Summa heißt das recht wenig), ferner wird ein einzelner Satz bei den Franziskanern Wilhelm de la Mare und Vitalis des Fumo (Pseudo-Scotus De rerum principio) zitiert. Diese geringe Benutzung des Büchleins — das immerhin in drei vollständigen Handschriften und zwei Fragmenten11 überliefert ist, also einigermaßen verbreitet war — ist gewiß kein Zufall. Es handelt sich bei den Leitsätzen und den Gottesbeweisen, wenn man sie isoliert betrachtet, um ein Stück peripatetischer Schulmeistere!; erst im Zusammenhang des ganzen Führers der Unschlüssigen wird ihr Gewicht eigentlich fühlbar. Dessen Gesamtübersetzung erscheint aber fast zur gleichen Zeit wie der Liber de uno deo benedicto, sodaß dieser überflüssig wird, außerdem in einer sprachlichen Fassung, die der jenes Werkchens überlegen ist. Dies verschwindet deshalb aus der Diskussion und wurde erst vor wenigen Jahrzehnten durch J . Koch wieder entdeckt12. Vgl. Literargeschichtliches (Anm. 7) 86—41. Seit der Veröffentlichung von Literargeschichtliches habe ich ein zweites Fragment gefunden in der Hs. Genf, Bibl. de la Ville, 76, f. 335 rb—vb; vgl. die Einleitung meiner Textausgabe in diesem Band. 10 11

12

Vgl. GILES OF ROME, Errores

philosophorum.

Critical t e x t . . .

English transi, by J . O. RIEDL, Milwaukee 1944, xlviiii.

by J .

KOCH,

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Damit kommen wir nun auf das dritte und entscheidende Dokument zu sprechen, den Dux neutrorum vel dubiorum, wie der Titel der vollständigen Übersetzung des Führers der Unschlüssigen heißt 13 . Der Text liegt in einem Druck von 1520 vor, den der Dominikaner Giustiniani mit so zweideutigen Vorbemerkungen herausgegeben hat, daß man ihn selbst für den Übersetzer halten konnte. In Wirklichkeit hat er nur eine ziemlich fehlerhafte Handschrift — schlechter als die uns vorliegenden — abdrucken lassen, dazu mit beträchtlichen zusätzlichen Druckfehlern. Der schlechte Ruf des lateinischen Dux neutrorum ist zu einem nicht geringen Teil diesem schlechten Druck zu verdanken, dessen Original zudem extrem selten ist 14 . Einen besseren Eindruck gewinnt man aus den erhaltenen Handschriften: Wir besitzen nicht weniger als 12 davon, und dazu noch drei Exzerpte 15 , eines davon von Gottfried von Fontaines. Die Zahl und Verbreitung dieser Handschriften zeigen, daß der Dux neutrorum praktisch jedem Scholastiker, mindestens in den großen Zentren, zugänglich war. Bekanntlich beruht die lateinische Ubersetzung auf der hebräischen Fassung, die Al-Charisi dem arabischen Original gegeben hat. Diese gilt zwar als weniger genau im Vergleich zu der sehr exakten Wiedergabe Ibn Tibbons, der dafür aber arabisiert und den nicht-arabischen Juden schwerer verständlich war. Der Gebrauch des Al-Charisi-Textes weist uns daher auf nicht-arabische Juden als Vermittler. Deutlich zeigt ferner der lateinische Text selbst, daß überhaupt eine aktive Mitteilung von jüdischer Seite am Werke ist. Höchst bemerkenswert ist eine Stelle (II, 30), wo der Übersetzer einen längeren Zusatz zum Text macht, in dem er es ablehnt, gewisse esoterische Gedankengänge zu übertragen: Einmal bedürfe es dazu genauer Rücksicht auf den hebräischen Bibeltext, zum anderen seien diese Geheimnisse überhaupt dem Volke vorzuenthalten: wer Einsicht hat, suche selbst den Weg und schreite dann auf ihm fort. Es ist klar, daß eine solche Bemerkung einen Rabbiner zum Urheber haben muß, der als Mitarbeiter bei der lateinischen Textfassung zu denken ist. Auch sonst tritt zuweilen der translator neben den compositor', im Text werden, besonders im I. Buch, manche Worterklärungen gestrichen, die sich auf den hebräischen Bibeltext beziehen, am lateinischen aber ihre Bedeutung verlieren; manche spezifisch talmudische Diskussion wird ebenfalls gestrichen (2. Teil der Einleitung; III, 44). 13 Vgl. Liter argeschichtliches 23—35. 14 Ein photomechanischer Nachdruck ist v o m Verlag Minerva (Frankfurt) vorgelegt worden (1964). 15 Den beiden Exzerpten, die ich in Liter ar geschichtliches 29—30 genannt habe, ist ein drittes hinzuzurechnen, das bereits F. Stegmüller beschrieben hat: vgl. F. STEGMÜLLER, Neuaufgefundene Quaestionen des Siger von Brabant, in: RThAM 3 (1931), 158—182; in der dort 162ff. beschriebenen Hs. von Lissabon, Bibl. Nac., Fondo Geral cod. 2299 (saec. XIV) findet sich f. lr—46r eine ,,Abbreviatiti rabbi Moysis.

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So ist der Dux neutrorum eine Bearbeitung des Originals, die offenbar aus der Zusammenarbeit jüdischer und christlicher Gelehrter hervorgeht. Man darf also sagen, daß der lateinische Text selbst mehr ist als ein Dokument eines Einflusses oder einer Übernahme ; er ist schon in sich selbst Dokument einer christlich-jüdischen Begegnung. Übrigens ist diese Arbeit gänzlich unabhängig von den beiden oben genannten Maimonides-Dokumenten, wie auch das Umgekehrte gilt. Der Text tritt ungefähr gleichzeitig mit dem Liber de uno deo benedicto auf. Albert zitiert ihn ebenfalls schon in der Summa de quatuor coaequaevis, und auch die Summa fratris Alexandri erwähnt ihn schon im I. Teil. So ist er kurz nach 1240 in Paris bekannt. Dennoch scheint es, daß Paris nicht die absolute Priorität zuzusprechen ist. Denn gleichzeitig stützt sich auf ihn, bei der Behandlung der Schöpfungslehre, der in Bologna lebende Dominikaner Moneta von Cremona, der eine große Summa adversus Catharos et Waldenses kurz nach 1240 schreibt. Er bezieht sich auf Maimonides als quidam Judaeus dictus Rabbi Moyses, offenbar also auf einen noch wenig bekannten Denker. Nimmt man nun dies zusammen: Moneta ist Dominikaner, wie Albert; er schreibt über die südfranzösischen Häresien, denen der Hauptkampf der Dominikaner galt; der Dux neutrorum fließt aus Al-Charisis Fassung, die bei den südfranzösischen Rabbinern verbreitet war — und erinnert man sich schließlich, daß bereits 1233/34 die dominikanischen Inquisitoren von den antimaimonistischen Rabbinern Montpelliers aufgefordert wurden, gegen Maimonides vorzugehen ·— was zur Verbrennung seiner Schriften in Lyon 1234 geführt hat —, so erkennt man, daß sich hier sehr schwache Spuren auf einen Ort, auf eine Landschaft hin vereinen. Sollte vielleicht das Ereignis von 1234 Anlaß gewesen sein, daß die Christen aufhorchten über das Geschehen in der Judenheit, daß sie nähere Kenntnis zu nehmen wünschten von den Dokumenten, die dort so große Bewegung hervorriefen ? Selbstverständlich läßt sich da nichts beweisen, denn soweit reichen die Zeugnisse nicht. Aber es ergibt sich, wie mir scheint, ein sinnvoller Zusammenhang: man möge ihn als den Versuch zu einer konkreten Konstruktion eines Vorganges innerer, wesentlicher Art gelten lassen. Soweit es ein Vorgang auf jüdischer Seite ist, möchte ich ihn so zusammenfassen: Im maimonidischen Denken hat das Judentum eine neue Weise der Weltoffenheit, eine Möglichkeit der Kommunikation mit anderen, eine Möglichkeit zu geschichtlicher Begegnung gewonnen ; diese neue Öffnung zur Welt und zu einer welthaften Vernünftigkeit bildet den eigentlichen Gegenstand des Streites um Maimonides in den jüdischen Gemeinden. Die Ereignisse von Montpellier und Lyon bedeuten den radikalen Versuch der konservativ denkenden Juden, die geschichtliche Abgeschlossenheit des eigenen Volkes notfalls mit Hilfe der Gesellschaft, gegen die man sich abschließt, fest-

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zuhalten und als die Bedingung der eigenen Existenz zu wahren. Die Teilnahme anderer Juden an der Vermittlung des Maimonides für die abendländische Welt bedeutet dagegen den Versuch, die neuerrungene Weltoffenheit zu betätigen und zu steigern, die mögliche Begegnung mit der christlichen Gesellschaft auf den Weg zu bringen. Wenn das richtig gedeutet ist, so liegt hier der, von jüdischer Seite aus, weitestgehende Versuch vor, den Ansatz zu einem christlich-jüdischen Gespräch zu bewerkstelligen. V Dieser Versuch hätte nicht gemacht werden können, wenn nicht die christliche Gesellschaft zu einem Punkt ihrer Entwicklung gekommen wäre, wo sie von sich aus in gleichem Sinne geöffnet, zur Begegnung bereit gewesen wäre. Dem inneren Vorgang auf jüdischer Seite kommt einer auf christlicher Seite entgegen. Dieser ist nun kurz zu kennzeichnen. Der Hintergrund, von dem sich der gemeinte Vorgang abhebt, ist jene vor allem im Frühmittelalter vorherrschende, gemeinhin als charakteristisch mittelalterlich geltende Weltauffassung, die durch Symbolismus und Typologie gekennzeichnet ist. Natur und Geschichte sind danach wesentlich Stätte der Heilsgeschichte, und zwar in dem konkreten Sinne, daß Ereignisse, Erscheinungen und Gestalten Träger von Bedeutungen, von Sinn im Zusammenhang des göttlichen Wirkens sind. Der Sinn ist inhaltlich ausgelegt durch die biblische Offenbarung, durch die kirchliche Tradition, aber auch durch die profane antike Tradition: ein Schatz von anerkanntem Symbol- und Auslegungsbestand liegt vor, der teils deutend angeeignet, teils auch prophetisch erweitert werden kann. Der Kern dieses Weltbildes ist die christozentrische Typologie einerseits, die liturgische Symbolik andererseits, beides Grundbestände christlicher Existenz, die aber nun zu Prinzipien kosmischer Gesamtschau ausgeweitet werden. Dadurch ergibt sich ein wirkliches Bild von eindrucksvoller Abrundung und Geschlossenheit, das umfassende Weite und bestimmte Konkretheit vereinigt. Zugleich aber ist diese Schau streng gebunden an die christliche und überhaupt die historische Bildungsgrundlage, aus der allein die Deutung des Sinnes möglich ist. Darin zeigt sich nun, daß diese Weltauslegung alles andere als universal ist. Sie ist eindeutig bezogen und beschränkt auf die eigene Gesellschaft, auf deren religiösen und Bildungszustand. Sie schließt sich ein in die eigene Geschichte und ist zur kommunikativen Öffnung gegen eine andersartige Gesellschaft unfähig. Gegen diese, sogenannte mittelalterliche, Weltsicht setzt sich nun das scholastische Denken, das wir gewöhnlich mit Anselm von Canterbury beginnen lassen. Dies ist bestimmt — und das ist gerade bei Anselm ganz deutlich — durch den entschlossenen Willen, die gesamte

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Wirklichkeit, die heilsgeschichtliche wie die naturhafte, mit den Mitteln des Vernunftbegriffs, zu bewältigen. Der Begriff nun zielt nicht auf das Konkret- Typische, sondern auf das Allgemeine, und in dessen Dimension trifft er das Wesen. Das Geschichtlich-Bestimmte ist dann das Faktische, das es zu überschreiten gilt in Richtung auf das Beweisbar-Notwendige. Ganz konsequent versucht Anselm, auch die Heilsgeschichte, die doch wesentlich faktisch ist, als notwendig zu begreifen und so die Notwendigkeit des Begriffs universal zur Geltung zu bringen. Die spätere Zeit wird, in anderer Weise folgerichtig, die Faktizität der Heilsgeschichte mehr und mehr einem eigenen Bereich zuweisen: Die Theologie wird sich von den anderen Wissenschaften zunehmend abscheiden, sie wird — obzwar noch als höchste Weisheit anerkannt — doch nicht mehr die allein alles beherrschende Erkenntnis sein, sondern auch besondere Wissenschaft unter anderen besonderen Wissenschaften. Darin wird sich zeigen, daß diese Zeit im Gegensatz zu dem übernatürlichen Heilswirken Gottes das begrifflich faßbare und allgemeine Wesen der Dinge als ihre reine Natur entdeckte. Die Entdeckung des Begriffs, die Entdeckung des allgemeinen Wesens und die Entdeckung der reinen Natur werden dem Abendland nicht von außen — etwa durch arabischen Einfluß — zugetragen. Vielmehr hat der Einfluß von außen bereits zur Voraussetzung, daß diese Entdeckungen in Gang gekommen sind, damit er überhaupt stattfinden kann. Zweifellos ist aber die Begegnung mit der arabischen Wissenschaft und der arabischen Philosophie in dem Sinne entscheidend, daß hier die verwirklichte Möglichkeit eines rein profanen und nichtchristlichen Weltverständnisses mit dem Anspruch universaler Geltung erlebt wird. Jetzt erst wird auch Aristoteles entdeckt, durch die Vermittlung der arabisch-christlichen Begegnung, obwohl er doch zum eigenen Überlieferungsgut des Abendlandes gehört. Charakteristisch ist, daß die Metaphysik des Aristoteles im 13. Jahrhundert erst dann durchbricht, als Avicennas Metaphysik ihr den Weg geebnet hat. Trotzdem ist es sinnvoll, die ganze Entwicklung als Rezeption des Aristoteles zu kennzeichnen. Damit weist man auf das entscheidende und charakteristische Ereignis hin: denn die neue Universalität des christlichen Denkens, seine neue Weltoffenheit findet ihre Gestalt im Aristotelismus, und zwar so sehr, daß selbst die Gegner der neuen Entwicklung sich aristotelischer Sprache und Denkform bedienen. Der Aristotelismus stellt so das allgemeine Medium dar, in dem sich das Mittelalter zu universaler Kommunikation öffnet. In diesem Medium können sowohl die arabisch-christliche als auch die jüdischchristliche Begegnung stattfinden. Bis hierhin kann man nun die jüdische und die christliche (übrigens auch die arabisch-islamische) Situation in Parallele sehen; denn die neue, profane Weltsicht ist irgendwie mit der positiv-geschichtlichen

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Bestimmtheit einer Offenbarungsreligion in Harmonie zu bringen — eine Aufgabe, die man traditionell unter dem Titel des Problems von Glauben und Wissen rubriziert, und die bei Maimonides als die Aufgabe erscheint, die Unschlüssigen zu führen. Die Besonderheit dieser Aufgabe im Bereich des christlichen Denkens ergibt sich aber aus der Tatsache, daß die christliche Tradition über eine bereits spekulativ ausgestaltete Dogmatik verfügt, die eine Fülle von Wesensaussagen über Gott und Welt enthält. Man denke an die Trinitätslehre ; die Christologie ; die Fülle dogmatischer Lehren zur Anthropologie. Auch der frühmittelalterliche Symbolismus war auf seine Weise geeignet, diese spekulativen Gehalte zu bewahren. Nun aber gilt es, angesichts der neuen Entwicklung eine neue Lösung zu finden. Hier bieten sich grundsätzlich drei Möglichkeiten an. Die radikal konservative wäre der Versuch, das traditionelle geschichtliche Weltbild gleichsam auf den Begriff zu bringen, es so zu interpretieren, daß die neuen sprachlich-begrifflichen Mittel auf den Ausdruck der eigenen Geschichtlichkeit angewandt und darauf beschränkt werden. Der hervorragendste Versuch in dieser Richtung ist das Werk Bonaventuras, wie es besonders in den Collationes in Hexaëmeron vorliegt. Die eindringlichen Untersuchungen von J. Ratzinger haben diese Position Bonaventuras ganz klar gemacht 16 . Die zweite Möglichkeit ist die radikale Trennung von Natur und Heilsgeschichte, die Selbständigsetzung beider gegeneinander —• notfalls bis zu dem Punkt, wo es nicht mehr gelingt, eine verstehbare Einheit beider auch nur als regulative Idee festzuhalten. Das ist die Position des sogenannten lateinischen Averroïsmus. Dieser läßt Glauben und Theologie unangetastet ; er beansprucht aber das Recht, im Bereich des Naturhaften, des begrifflichen Wesens, im Sinne gleichsam einzelwissenschaftlicher Forschung so fortzuschreiten, daß die Wahrheit einer Aussage nur noch im Rahmen der angesetzten Begrifflichkeit zu bestimmen ist 17 . Nicht ganz zu Unrecht — mit Einschränkung zu sagen — hat man den Vertretern dieser Haltung eine Lehre von der doppelten Wahrheit zugesprochen. Jedenfalls wird hier das denkerische Problem des Mittelalters als eines christlichen nicht gelöst, das vielmehr eine Lösung auf mittlerem Wege zwischen den Extremen verlangt. Diese mittlere Lösung, als die dritte Möglichkeit, läßt sich formal kennzeichnen als die Synthese — von Glauben und Wissen, von Theo1β Vgl. J . R A T Z I N G E R , Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura, München 1959, bes. 4. Kapitel. 17 Vgl. dazu neuestens P. W I L P E R T , Boethius von Dacien : Die A utonomie des Philosophen, i n : Beiträge zum Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Menschen, — Miscellanea Mediaev. I I I , Berlin 1964, 135—152.

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logie und Philosophie, von heilsgeschichtlicher Faktizität und natürlicher Wesenseinsicht. Es kommt dabei darauf an, den Eigenstand beider ebenso wie ihre Bezogenheit aufeinander zu einer — wie immer gearteten — Einheit gleichmäßig festzuhalten. Vielen Heutigen mag es scheinen, als sei bei Thomas von Aquin die gültige Lösung der Aufgabe zu finden. Aus der Sicht der Zeitgenossen war das keineswegs der Fall, vielmehr erscheint der Thomismus nur als eine der möglichen Lösungen, deren sich viele im breiten Felde zwischen den extremen Positionen finden lassen. Die Aufgabe der Synthese ist für die Scholastik des 13. Jahrhunderts auch nach Thomas durchaus noch ein Problem, dem man in immer neuen Ansätzen, neuen Entwürfen nachgeht. Es läßt sich erwarten, daß gerade im Bereich der Bemühung um das Problem der Synthese jene Offenheit zu finden ist, die dem Problematiker Maimonides Gehör schenkt; denn auch dieser erscheint im Führer der Unschlüssigen gewiß mehr als Problematiker denn als Löser und Systembauer. VI Den so skizzierten Umrissen ist nun die Wirkungsgeschichte des Maimonides einzuzeichnen, und zwar so, daß der Charakter, der Ort und das Ausmaß der Begegnung deutlich wird. Ich kann mich im Stofflichen auf wenige entscheidende Fakten beschränken, da es nicht auf Ausbreitung, sondern Deutung des Materials ankommt18. Die erste Phase dieses Vorgangs ist natürlich die Übersetzung des Textes selbst, von der bereits das Nötige gesagt ist. Ich habe betont, daß schon in ihr der Charakter der Begegnung sichtbar wird. Allein, sie gehört doch noch einer Stufe an, die man eher als vorbereitend, als Unterbau bezeichnen möchte: der Stufe der gelehrten Arbeit, in der man sich im weitestmöglichen Umfang über Daten, Diskussionen und vorliegende Problemlösungen zu informieren sucht. Der spekulative Aufbau, in dem wir die eigentliche Leistung der Scholastik zu sehen gewohnt sind, stellt erst die zweite Stufe dar. So sehr beide Stufen einander voraussetzen und bedingen und in ihrer Bezogenheit betrachtet werden müssen, so sehr gilt doch, daß erst auf der zweiten Stufe die Entscheidungen fallen; wie weit die Begegnung wirklich wird, kann sich erst auf dieser Stufe erweisen. So ist zwar grundlegend, daß Maimonides durch die Übersetzung zugänglich ist; wichtiger ist aber, daß sich die scholastischen Denker — wie zuerst Wilhelm von Auvergne — auf ihn stützen, mit ihm auseinandersetzen und sich auch ausdrücklich auf ihn beziehen : dadurch erst ist er in der geistigen Welt der Zeit wirklich und wirksam anwesend. 18

Für alle Nachweise setze ich hier wieder die Anm. 7 genannten Artikel voraus.

Med. IV

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Für Paris, als das Hauptzentrum, bezeugen diese Anwesenheit schon die frühen Zitate bei Albert dem Großen und in der Summa fratris Alexandri, aus dem 5. Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts. Für die Folgezeit mögen als Hauptzeugen wiederum Albert, dazu Thomas von Aquin und Aegidius Romanus gelten, der in den Errores philosophorum dem Rabbi ein eigenes Kapitel widmet und über Übersetzungsmaterial zu verfügen scheint, das uns nicht mehr zugänglich ist. Für das Ende der Epoche mag Meister Eckhart genannt sein, ein eifriger Leser des Dux neutrorum. Nicht minder als in Paris, beschäftigt man sich in Oxford mit Maimonides. Kurz nach 1250 lernt Thomas von York, der führende Kopf der Oxforder Franziskaner, den Dux neutrorum kennen — unter dem Titel Mater philosophiae, der auch sonst für England bezeugt ist — und benutzt ihn ausgiebig. Die Summa philosophiae (PseudoGrosseteste) nennt ihn nicht selten. Daß Wilhelm von Ware vom Rabbi schlechthin spricht, habe ich bereits erwähnt. Schließlich bezieht sich noch Duns Scotus auf ihn, zwar vermutlich nur aus sekundärer Kenntnis, aber doch damit seine Anwesenheit in Oxford bezeugend. Es ergibt sich, daß Maimonides an beiden großen Zentren der Hochscholastik stets gekannt und gelesen wurde. Man darf den Dux neutrorum zum ständigen Bildungsgut der Epoche rechnen. Dem entspricht, daß auch die Enzyklopädien der Zeit ihn nennen : so am Anfang der Epoche Vinzenz von Beauvais in seinem Speculum, so am Ende Heinrich Bate von Mecheln in seinem entsprechenden Werk. Keinem der gelehrten Scholastiker konnte der Rabbi unbekannt bleiben. Von hier aus scheint es mir kein zufälliger Umstand, daß wir bei vielen gerade der konservativen Theologen dem Namen des Maimonides nicht begegnen. Das gilt etwa für Bonaventura, Matthaeus von Aquasparta, John Peckham, auch für Roger Bacon und für Petrus Johannis Olivi. Wenn man nicht Unkenntnis annehmen kann, muß man das als Verweigerung der Kenntnisnahme deuten: den extremen Konservativen geht es nicht um Partnerschaft und Synthese, sondern um Behauptung der innerchristlichen Geschlossenheit. Aus genau entgegengesetzten Gründen wird man im sogenannten Averroïsmus der Zeit — oder bei den integralen Aristotelikern, wenn man diese Bezeichnung vorzieht — wenig Wirkung des Maimonides feststellen. Gelegentlich hat Siger von Brabant ein Maimonides-Zitat, eine unbedeutende Bezugnahme. Gravierender scheint mir, daß ein Boethius von Dacien nicht einmal bei der Diskussion der Ewigkeit der Welt — einem Zentralthema des maimonidischen Einflusses — den Rabbi erwähnt, ebensowenig wie Bonaventura oder Matthaeus von Aquasparta, aber ganz im Gegensatz zu schon Moneta von Cre-

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mona und Thomas von York, zu Albert dem Großen und Thomas von Aquin. Das ist ganz folgerichtig: sofern es um reine Herausarbeitung des spezifisch philosophischen Gedankens, unter Abwehr theologischer Ansprüche und Angriffe geht, ist der Rabbi nicht zuständige Autorität. Sein Wirkungsbereich liegt dort, wo das Problem der Synthese angegangen wird. Hier muß vorzüglich von Albert dem Großen und Thomas von Aquin die Rede sein. Einmal sind sie die bedeutendsten Vertreter des Strebens nach der Synthese und als solche geschichtsmächtig geworden, zum anderen sind gerade sie es, bei denen die Auseinandersetzung mit Maimonides am eindringlichsten geschehen ist. Daher stellen sie zwei Varianten des exemplarischen Falles dar. Albert benutzt in vielen Fällen den Dux neutrorum einfach als jüdische Quelle, als Gelehrter Information suchend. Er entnimmt ihm auch Namen und Ansichten rabbinischer Autoritäten, so daß manchmal eine jüdische Front ins Treffen geführt wird. Das heißt, das Judentum wird als der christlichen gegenüberstehende Einheit zur Diskussion zugelassen, mit Maimonides als Hauptvertreter. Albert bezeichnet diese Rabbiner als philosophi: das ist kein Mißverständnis, sondern eine genaue Wertung — sie werden aus dem engeren theologischen Bereich ausgeschlossen und nur als Träger natürlicher Vernunft anerkannt. In diesem Sinne läßt Albert die maimonidische Prophetielehre nur als Lehre von einer natürlichen Divination gelten und übersieht geflissentlich ihre exegetisch-historische Absicht. In der Kosmologie verurteilt er — wie alle christlichen Scholastiker — des Maimonides Lehre von der Beseeltheit der Sphären und die Tendenz, die Engel als deren Beweger physikalistisch zu deuten. Am deutlichsten wird aber der Sinn der Auseinandersetzung in der Schöpfungslehre, die Albert mehrfach im Anschluß an Maimonides behandelt: Wenn Maimonides die Unbeweisbarkeit der Ewigkeit der Welt lehrt und so den Aristotelismus von diesem Lehrstück löst, so lehrt Albert darüber hinaus die Beweisbarkeit der Zeitlichkeit der Welt unter Voraussetzung der Offenbarung. Für ihn ermöglicht also die Offenbarung die Einsicht in die wesensmäßige Zuordnung von Schöpfung und Zeitlichkeit, sie lehrt Wesenseinsicht ; für Maimonides gilt eine Wesenseinsicht nur im Bereich des natürlich-physikalisch erhebbaren Weltseins, das von der Offenbarung rein positiv, ohne neue Wesenseinsicht, begrenzt wird. Bei Thomas von Aquin finden wir nicht minder unterscheidende Auseinandersetzung mit dem Rabbi Moyses, womöglich aber noch mehr bereitwilliges Hören als bei Albert. Vor allem dringt Thomas durch zur Anerkennung des Maimonides selbst im theologischen Bereich. So übernimmt und modifiziert er seine Lehre von der Notwendigkeit der Offenbarung, sofern darin auch an sich natürlich 11*

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erkennbare Wahrheiten beschlossen sind. Er bezieht sich auf seine Exegese des Tetragrammatons. Er übernimmt Teile der Prophetielehre, so die Stufeneinteilung der Prophetie und die Sonderstellung des Moses; er versteht sie richtig im exegetischen Sinne. Auch die Gesetzesauslegung des Dux neutrorum wird sehr eingehend berücksichtigt. In der Gotteslehre lehnt er natürlich die rein negative Attributenlehre des Maimonides ab, aber ist doch — scheint mir — davon beeindruckt. Mir scheint auch — trotz neuerlich vertretener anderer Meinung —, daß von den Quinqué viae des thomistischen Gottesbeweises mindestens der dritte seine unmittelbare Quelle nicht bei Avicenna, sondern bei Maimonides hat. Endlich ist die Lehre von der Schöpfung zu nennen — erwähnt sei hier, daß Thomas auch die maimonidische Kritik der Mutakallimun übernimmt —, in der freilich Thomas über Maimonides und Albert weit hinausgeht: Für ihn hat das Welt-Wesen als solches keine notwendige Beziehung zur Zeitlichkeit, so daß es sehr wohl als ewig, ebensowohl aber auch als zeitlich gedacht werden kann. Entscheidend ist, daß es in jedem Falle als geschaffen zu denken ist. Die geoffenbarte Zeitlichkeit trägt also zur Wesenserkenntnis der Welt nichts bei; aber die Erkenntnis muß über die gesetzte Washeit hinaus bis zu einer Einsicht vordringen, in der das Sein selbst des Seienden, das ipsum esse, als die eigentümliche Wirkung Gottes erblickt wird. Die Möglichkeit, bis in diese Dimension vorzustoßen, schließt bei Thomas auch die Möglichkeit ein, eigentliche Gotteserkenntnis in der Analogie zu gewinnen, metaphysische Gotteserkenntnis. Damit ist der tiefste Unterschied zum Denken des Maimonides gegeben, für den gerade diese Möglichkeit in der Unerkennbarkeit der Transzendenz des rein setzend, gesetzgebend gedachten Gottes verschwindet. Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß gerade die negative Theologie des Maimonides am Ende unserer Epoche nochmals stark gewirkt hat, bei Meister Eckhart. Er fand in ihr Motive, die ihn aus ganz anderen Gründen bewegten: nämlich aus einer Metaphysik heraus, welche Gott so sehr als das eigentliche Sein faßte, daß er eben dadurch der Ganz andere wurde. Es ist ein neuplatonisches Denken, das sich hier nochmals eine große Gestalt erwirbt, und mit Sicherheit zitiert Meister Eckhart aus dem Dux neutrorum gerade solche Stellen, welche die negative Theologie mit neuplatonischen Mitteln zum Ausdruck bringen. Der Maimonides,den Eckhart liest, bietet einen merkwürdigen Anblick: alle Einzelzüge entstammen dem vorliegenden Bilde, geben aber zusammen etwas Neues — nichts anderes als das Spiegelbild der eigenen Geistigkeit des Meisters. Kehren wir zurück zu Albert und Thomas von Aquin. Die Einzelheiten zu ihrer Auseinandersetzung mit Maimonides, die ich aufgezählt habe, zeigen klar, daß der gesamte Themenkreis des Dux neutro-

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rum von ihnen berücksichtigt wurde. Die Problemstellung wird diskutiert, die Lösung geprüft, es wird kritisch oder zustimmend Stellung genommen. Bei Thomas wird dabei die eigentliche, die theologische Ebene erreicht. So wird man sagen müssen, daß der Rabbi eigentlich erkannt, j a sogar anerkannt wird. Darüber hinaus ist deutlich, daß Albert und Thomas — beide maßgebliche Repräsentanten des christlichen Denkens — sich sehr wohl bewußt sind, daß sie einem maßgeblichen Repräsentanten des jüdischen Denkens gegenüberstehen. Es scheint mir nicht zu viel gesagt, daß sie, indem sie diese Repräsentanz des Maimonides erkennen, zugleich das Judentum als geistige Größe und als möglichen Partner erkennen. Man wird, wenn irgendwo, hier von einem Beispielfall christlich-jüdischer Begegnung sprechen müssen. VII Der Höhepunkt, den die Begegnung im Werke von Albert und Thomas von Aquin hat, setzt sich nicht in ein Gespräch fort. Im späteren Mittelalter, wo sich die verschiedenen Lösungen der Aufgabe der Synthese zu Schulmeinungen verfestigen, spielt sich die Diskussion im wesentlichen innerchristlich ab. Der Rabbi Moyses, dem im Anfangsstadium der Problemerarbeitung eine Rolle zufiel, erscheint nur mehr im gelehrten Beiwerk. Freilich mag in dieser Zeit Jüdisches Beachtung finden, z. B . in der Exegese, und das darf man auf die Horizonterweiterung zurückführen, die das 13. Jahrhundert vollzogen hat. Aber es bleibt stets am Rande, ohne —• wie Maimonides in der Hochscholastik — bei zentralen Fragen mitzuspielen. Der Beitrag des Maimonides zur abendländischen Geistesgeschichte ist in der geschilderten Begegnung geschehen. Sicher prägt dieses Ereignis dem Gesamtbild der Scholastik einen betrachtenswerten, für das Ganze charakteristischen Zug ein. Doch es ist wichtig, seine geschichtliche Bedeutung nicht zu überschätzen. Wäre etwa Thomas von Aquin ein anderer gewesen, wenn er nicht dem Rabbi begegnet wäre ? Wäre die Geschichte der Scholastik anders verlaufen ohne den Einfluß des jüdischen Denkens? Diese Fragen muß man eindeutig mit Nein beantworten. Keins der fundierenden oder strukturierenden Elemente scholastischen Denkens entstammt dieser Begegnung, auch wenn viele davon angerührt werden. E s handelt sich um freie Anerkenntnis auf einer bestimmten Stufe und in bestimmten Bereichen, in denen morphologische Affinität Begegnung ermöglicht, aber nicht notwendig gemacht hat. Daher konnte das Ereignis ohne Fortgang bleiben, der es hätte vertiefen und fruchtbar machen können. Auch allgemein-geschichtlich zeigen sich keine Folgen. Wie ich glauben möchte, vor allem deshalb nicht, weil die Identifikation der anerkannten geistigen Größe des Judentums mit der gegenwärtigen,

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der eigenen Gesellschaft als Proletariat eingeordneten Judenheit nicht gelang. Die Begegnung geschah auf Distanz, sie ereignete sich als Teilvorgang der geschichtsmächtigen arabisch-christlichen Begegnung, und dieser ihr wesentlicher Bezug ermöglichte sie und schränkte sie zugleich ein. Dazu kam, daß die abendländische Judenheit ihrerseits die maimonidische Denkgestalt der Synthese verwarf. Sie sucht ihre Selbstbehauptung in der Mystik, im Rückgang auf das eigene Erbe und dessen verinnerlichte Aneignung ; sie schloß sich geschichtlich ab. Die christlich-jüdische Begegnung, als welche ich die Geschichte des Maimonides im lateinischen Abendland deute, ist somit ein historisch höchst begrenztes Geschehen. Dennoch ist das keine bloße Episode, die man übergehen könnte. Diese frei sich ereignende Begegnung läßt Einsichten zu, welche die geschichtliche Wesensgestalt der Partner und die Möglichkeiten der Partnerschaft tiefer erkennen lassen. Sie ist bedenkenswertes, denkwürdiges Beispiel.

RABBI MOYSES (MAIMONIDES) : L I B E R DE UNO DEO BENEDICTO H E R A U S G E G E B E N VON WOLFGANG K L U X E N

Der Liber de uno deo benedicto des Rabbi Moyses, dessen Text ich hier erstmalig veröffentliche, enthält eine Übersetzung von Einleitung und 1. Kapitel des II. Buches von Maimonides' Führer der Unschlüssigen. Diese ist von der bekannten Gesamtübersetzung des Dux neutrorum (Inc. „Dixit Rabbi Moyses"; dort entsprechen Buch II, Kap. 1 und 2) unabhängig und etwa zur gleichen Zeit, um 1240, entstanden. Über die literarhistorische Arbeit am lateinischen Maimonides, bei der ich mich auf Forschungen und Materialien von Josef Koch und John O. Riedl stützen konnte, habe ich bereits 1954 berichtet und auch alle bis dahin bekannten Daten zum Liber de uno deo benedicto mitgeteilt1. Hinzugekommen ist lediglich das unten zu nennende Fragment Y, das ich in einer Genfer Hs. gefunden habe. Im übrigen kann ich im Folgenden nur die Angaben wiederholen, die im zitierten Artikel zu finden sind, soweit sie für das Verständnis dieser Textausgabe nicht entbehrt werden können. Zunächst möchte ich aber zur Begründung dieser Textmitteilung bemerken: Es war meine Absicht, den Liber de uno deo benedicto erst in der Gesamtedition des Dux neutrorum zu veröffentlichen, die noch weitere Materialien zum Maimonides Latinus umfassen soll und die ich nach wie vor zu erstellen beabsichtige. Erst in diesem Zusammenhang, vor allem im Vergleich zu den Paralleltexten der Gesamtübersetzung, läßt sich die kleine Schrift voll würdigen. Doch einerseits wird es noch Jahre dauern, bis ich die Gesamtedition vorlegen kann, und andererseits ist der Mangel, daß bisher überhaupt kein Text des Dux neutrorum allgemein zur Verfügung stand, durch den Nachdruck der Pariser Ausgabe Giustinianis von 1520 (Frankfurt 1964), wie immer unvollkommen dieser Text sein mag, nunmehr behoben. Daher scheint es mir sinnvoll, den Liber de uno deo benedicto schon vorab zugänglich zu machen. Selbstverständlich soll er auch in die Gesamtedition wieder aufgenommen werden.

Im Folgenden gebe ich 1. die Handschriften an, erläutere 2. die Handschriftenverhältnisse und die Grundsätze der Textherstellung, schließe daran 3. Bemerkungen zu einzelnen Textstellen an. 1 Literargeschichtliches zum (1954), 23—50, bes. 36—41.

lateinischen

Moses

Maimonides,

in:

RThAM

21

168

Moses Maimonides

1. Handschriften X

1.

BRESLAU,

Stadtbibliothek, Rehdigeranus 459, f. 93r—95r.

Für Inc. und Expl. vgl. den Text unten. Der Liber de uno deo benedicto steht in Zusammenhang mit dem folgenden De differentia spiritus et animae des Costa ben Luca ; beide Stücke zeigen dieselbe Hand, die sonst in dem Codex nicht vorkommt, und die Blätter, auf denen sie stehen, sind wohl erst beim Binden eingefügt. Obwohl die Hs. sonst dem 14. Jh. zugehört, scheinen diese Stücke aus dem 13. zu stammen. Beschreibung: K . ZIEGLER, Catalogus Codicum Latinorum. Classicorum qui in Bibliotheca Urbica Wratislaviensi adservantur, Breslau 1915, 199—202. Τ

2.

ERFURT,

Stadtbibliothek, Amplonianus F. 335, f. 89rb—91 va.

13. Jh., „frühere 2. Hälfte". Beschreibung : W. SCHUM, Beschreibendes Verzeichnis der A mplonianischen tensammlung zu Erfurt, Berlin 1887, 231—232. V

3.

VENEDIG,

San Marco, L.

VI.

Handschrif-

LH. (No. 54), f. 321 rb—324ra.

14. Jh. — Fol. 321 rb steht am rechten Rand von der 1. Hand, am oberen Rand von einer 2. Hand der Titel: „Incipit Liber Raby Moyses Ebrey phy De Uno condicto quod non est corpus nec virtus in corpore." Beschreibung: J . V A L E N T I N E L L I , Bibliotheca manuscripta ad S. Marci Venetiarum, Venedig 1868—73, Bd. IV, 35—38.

Diese drei Hss. enthalten den vollständigen Text. Nur die 25 Praeparatoria principia (bis 175, 30 des Textes) enthält die Hs. : W 4. V E N E D I G , San Marco, L. 14. Jh. Beschreibung: J .

VALENTINELLI,

a. a.

VI. C L X I V

(No. 179), f. 50va—51rb.

O., 126—130.

Während man bei W unterstellen darf, daß der Schreiber sich auf die Wiedergabe der 25 Leitsätze beschränken wollte und also kein eigentliches Fragment vorliegt, ist dies der Fall bei der Hs. : Y

5.

GENF,

Bibliothèque de la Ville,

76,

f. 335rb—335vb.

13. Jh. Keine Uberschrift; der Text bricht ab mit den Worten: „Decimum septimum est quod", 174, 15 dieser Ausgabe. Beschreibung: L. MINIO-PALTJELLO, Aristoteles Latinus, Codices, Supplementa altera, Paris 1961, 121—122.

Ein vereinzeltes, aber nicht unwichtiges Zeugnis für eine kleinere Textstelle findet sich in der Hs. F der Gesamtübersetzung des Dux neutrorum. Diese nimmt den Wortlaut des Liber de uno deo benedicto für die drei Sätze dieser Ausgabe 181, 1—8 auf, anstelle des entsprechenden Textes der Gesamtübersetzung, mit leichten Änderungen (die ich nicht im Apparat berücksichtige); dies Zeugnis gestattet, eine Lücke von XTV zu schließen (vgl. Text 181, 7). Es handelt sich um die Hs. :

169

Liber de uno Deo benedicto

F

6. CAMBRIDGE,

Universitätsbibliothek,

Ii. I.

19 (1711).

13. Jh. — Die Hs. enthält f. l r — 1 8 3 vb den vollständigen Text des Dux neutrorum (die Katalogangabe, sie sei unvollständig, trifft nicht zu). Beschreibung : A Catalogue of the Manuscripts preserved in the Library of the University of Cambridge, Bd. III, Cambridge 1858, 334—335. Als verloren gelten muß eine Hs. des Dominikanerklosters in Wien (T 42), in deren Inhaltsverzeichnis der Katalog von 1513 den Titel nennt: „Rabby Moyses de eo quod est unus deus"; vgl. Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs, Bd. I : Niederösterreich, von TH. GOTTLIEB, Wien 1915, 406.

Die wenigen Zitate aus dem Liber de uno deo benedicto bei Autoren des 13. Jh. (vgl. meinen Anm. 1 zit. Art. 39—40) geben für die Textkritik nichts her. 2. Handschriftenverhältnisse·,

Grundsätze der

Textherstellung

Von den drei Hss. X T V , die den vollständigen Text bieten, gehören Τ und V sehr eng zusammen. V ist die jüngere Hs. und weist eine große Zahl von Lesarten auf, die leicht als Fehler zu erkennen sind. Τ ist dagegen sorgfältig geschrieben, durchkorrigiert und hat wenig Fehler. Nur an einer einzigen Stelle, nämlich S. 176, 36 (infinitis), hat V als einzige Hs. die richtige Lesart; nur an wenigen Stellen, so S. 172, 19; S. 174, 14; S. 177, 13—14; S. 177, 38, geht V mit X (W, Y) gegen T — immerhin genug, um eine unmittelbare Abhängigkeit des V von Τ auszuschließen. An auffälligen Einzelheiten seien notiert: S. 173, 27; S. 174, 9; S. 176, 29; ferner S. 175, 21, wo ein erläuternder Zusatz (Glosse?) vorliegt; an allen diesen Stellen — denen sich weitere anfügen ließen — folgt V der Lesart von T. Schließlich gibt es eine Anzahl gemeinsamer Auslassungen von Τ und V, am gewichtigsten die Homoioteleuta S. 173, 21—22; S. 180, 11; S. 182, 7; wie mir scheint, handelt es sich bei diesen kaum um zufällige Gemeinsamkeiten. V ist demnach nur der jüngere Zeuge der gleichen Überlieferung, die in Τ ursprünglicher vorliegt. Zur Textherstellung trägt V so gut wie nichts bei, seine zahlreichen Eigenfehler (Schreibfehler usw.) würden nur den Apparat belasten: ich habe daher V (außer S. 176, 36) im Apparat überhaupt nicht berücksichtigt (die hier genannten Belege kann der Leser leicht finden). Die Gruppe TV muß, vor allem wegen ihrer Homoioteleuta, für weniger ursprünglich gelten als X , das diese nicht aufweist und überhaupt ziemlich fehlerfrei ist. Zudem kann X im ersten Teil öfters durch W (und Y) gestützt werden. Das ist vor allem der Fall bei den Stellen: S. 172, 17 (quantitatum X W Y gegen quantitatis TV; letzteres muß wegen 172, 20 quantitatum als geändert gelten) ; S. 173, 9 (simplex X W gegen simpliciter TV -— mit denen allerdings diesmal Y geht) ;

170

Moses M a i m o n i d e s

S. 173, 27 (haben TV sichtlich geändert); S. 174, 9 (de ilio XW gegen idem TV); S. 175, 10 (Imperfekt in XW gegen Präsens TV). W kann jedoch nur dann ausschlaggebend sein, wenn es von X unabhängig ist. Dafür sprechen die Varianten: S. 172, 8 (X läßt — wie auch Y — das omnes von TV aus, W hat alii) ; S. 172,12 (quod est unus deus W kann nicht von der Lesart von X stammen) ; S. 173, 26 (continuus TV: divinus X ist geändert, communis W (und Y!) weist auf continuus zurück) ; S. 174, 19 und S. 175, 9 (an beiden Stellen geht W mit TV gegen X). Über Y läßt sich mit Sicherheit nicht viel ausmachen, da es allzu wenig Text bietet; jedenfalls gehört es nicht zur Gruppe TV, sondern ist eher geeignet, den Vorzug von X zu stützen. Aus den geschilderten Handschriftenverhältnissen ergeben sich die Grundsätze der Textherstellung : X ist als führende Hs. zu Grunde zu legen. Bei Zweifel an der Richtigkeit des Textes muß W den Ausschlag geben, soweit es den Text bietet. Offensichtliche Fehler und Versehen von X sind nach Τ (V) zu korrigieren. Y kann nicht entscheidend, sondern nur als Stütze berücksichtigt werden. Die römischen Ziffern im Text sind von mir eingesetzt. X hat arabische Ziffern, korrekt gesetzt (außer S. 179, 28, wo die Ziffer in allen Hss. fehlt) ; Τ hat anfangs römische, später auch arabische Ziffern, mehrfach sind sie ausgelassen; V schreibt Zahlen in den Leitsätzen aus, später stehen meist arabische Ziffern, jedoch sehr ungenau, mit zahlreichen Auslassungen; W und Y schreiben alle Zahlen aus. Den aus den Hss. gewonnenen Text habe ich möglichst wenig angetastet, also auch die „lectio ardua" belassen; über einige Textstellen ist unten einiges gesagt. Da es sich um einen Übersetzungstext handelt, kann ja nicht einmal die „Richtigkeit" des Archetyps unterstellt werden, und über diesen darf die Kritik nicht hinausgehen. Die Zeichensetzung ist sparsam gehandhabt, angelehnt an moderne Prinzipien, jedoch ohne rigorose Regel; ich versuche, kein Vorurteil zu schaffen. Durchgehend ist moderne Orthographie angewandt, wie es Praxis der Scholastikforschung ist (ich bin jedoch bereit, künftig auch „mittelalterliche" Orthographie anzuwenden, wenn sich eine solche allgemein durchsetzen würde). Der Apparat benutzt die üblichen Abkürzungen, die wohl keiner Erläuterung bedürfen. Nicht notiert habe ich Textumstellungen, die den Textbestand selbst nicht ändern. 3. Zu einzelnen

Textstellen

Der Text, der in der geschilderten Weise hergestellt ist, stellt das Resultat dar, das sich bei kritischer Bearbeitung der Überlieferung

Liber de uno Deo benedicto

171

ergibt. Diese insgesamt weist aber einige Unsicherheiten und auch Fehler auf, deren einige durch Konjektur zu heilen wären. Ich habe in dieser Vorausgabe Konjekturen unterlassen, möchte aber auf die Schwierigkeiten einzelner Stellen hinweisen S. 172, 8: „omnes" ist in der besseren Tradition X W Y nicht enthalten, kann in T V eine — naheliegende — Konjektur sein; ist daher in < > gesetzt. S. 173, 11: Statt „motio" wäre „mutatio" zu erwarten, vgl. 3, 10 u. 4, 18 (ebenso im Paralleltext des ,,Dux neutrorum") ; Fehler des Archetyps ? S. 173, 14: Das zum Textverständnis unentbehrliche zweite „quidam" ist in T l (fehlt in V!) sicher konjiziert, daher von T 2 getilgt. Fehler des Archetyps ? S. 174, 28: Der Text des Nachsatzes (,,nisi . . .") ist kaum verständlich, W sucht zu heilen; Mißverständnis des Übersetzers ? S. 175, 2: Dem Sinne nach müßte „obstaculum" zum vorhergehenden Nebensatz gehören, etwa mit dem Zusatz „et si non haberet obstaculum" (vgl. 175, 4) ; es scheint also eine Textlücke zu bestehen. Die von mir gewählte Interpunktion sucht einen Sinn des überlieferten Bestandes zu sichern. S. 175, 17: Durch Einsatz von „est "vor „causatum" wäre die grammatische Schwierigkeit des Nachsatzes zu beheben; Fehler des Archetyps ? S. 175, 21: „virtus" bleibt unsicher, wegen „habitus" W und des Zusatzes „vel situs" T V ; es handelt sich möglicherweise um eine Glosse schon des Übersetzers. S. 176, 21: ^generabiles . . . corruptibiles" verlangen das Subjekt „caeli"; Fehler des Archetyps? S. 176, 29: „cum sensu motuum" ist schwer verständlich; die Lesart von Τ „est sensu motivus" scheint mir jedoch ein wenig glücklicher Heilungsversuch. Wahrscheinlich liegt eine Unsicherheit des Archetyps vor. Eine einleuchtende Konjektur vermag ich nicht vorzuschlagen. S. 176, 36: Obwohl das „infinitis" von V zweifellos richtig ist, dürfte es sich dennoch um eine .zufällige" Richtigkeit handeln, also eine Konjektur; die Überlieferung hat den Fehler .finitis". S. 177, 20: Statt „motus" erwartet man, wegen 177, 22, „motor"; ich halte jedoch für möglich, daß hier ein Fehler des Übersetzers vorliegt (der nicht beseitigt werden dürfte). S. 177, 38: Hier fehlen mehrere Sätze : die Rückführung der Bewegung des Stockes auf die Himmelsbewegung, die im Originaltext und im Dux neutrorum, geschieht, ist hier ausgelassen. Ich vermag nicht zu entscheiden, ob der Fehler beim Übersetzer oder erst im Archetyp unserer Überlieferung liegt; die Stelle halte ich für unheilbar. S. 179, 28: Das Fehlen des von mir eingesetzten „ V I I 0 " dürfte auf den Archetyp zurückgehen; in diesem Falle hielt ich die Konjektur für völlig unvermeidbar.

172

Moses M a i m o n i d e s

S. 180, 25: Vor „generabiles" wäre noch ein „non" einzusetzen; Fehler des Archetyps? oder nur grammatisches Ungeschick ? S. 181, 7: Das nur in F überlieferte „quod impossibile est" ist für den Zusammenhang unentbehrlich; möglicherweise ist seine Auslassung ein Fehler des Archetyps von XTV, so daß F eine unabhängige Überlieferung verträte.

Liber Rabbi Moyse Hebraei philosophi DE UNO DEO

BENEDICTO,

qui nec est corpus nec virtus in corpore Praeparatoria principia, quibus indigetur ad stabiliendum esse dei bene5 dicti et ad demonstrandum quod ipse non est corpus neque virtus in corpore et quod ipse sit unus, sunt X X V ; et quodlibet eorum notum est per demonstrationem, in qua non est aliqua ambiguitas. Etiam Aristoteles et sequaces eius peripatetici, scilicet massabini, composuerunt demonstrationem in quolibet istorum. E t Aristoteles io dedit eis unum principium, quasi et nos unum praeparatorium concedemus Aristoteli quasi per hypothesim; cum quo praeparatorio ostendetur quae ostendere quaerimus pro dono non completo ; probato enim praeparatorio de facili ostendetur; et illud principium est antiquitas mundi. 15 Primum ergo praeparatorium est quod nullum subiectum quantitatis est infinitum quantitate. Secundum est quod impossibile est esse actu infinita subiecta quantitatum et hoc quod sint simul. Tertium est quod infinitus numerus sit causarum et causatorum, hoc 20 similiter est impossibile, etiam licet non sint subiecta quantitatum illa. Exemplum huius est quod huius intelligentiae sit alia intelligentia 1—3 Inscr. om. XY, sed X habet in fine libri textum quem propono (ibidem eundern praebet T) : R a b y m o y s e s de d e o u n o etc. in marg. sup. cuiusque folii m 2 T; Incipit r a b y

moyses de deo benedicto in marg. sup. wfi W 5 neque: nec X 6 et 2 om. W 7 etiam: et W 8 omnes X, om. XY: alii W 8 scilicet peripatetici transpos. TY, et add. Y 10 concedimus W 11 Aristoteli om. W (sed relinquit spatium) 11 quasi: quod Y 11 ypostasym W 11 praeparatio X 12 ostendere om. X: ostendemus TY; quae ostendere quaerimus: quod est unus W; per demonstrationem add. Y 12 pro: de Χ 13 ostenditur TY 13 et om. W 15 est om. W 17 est 1 om. Y 17 quantitatum: quantitatis T; exemplum huiusmodi est Quod huius intelligentiae sit alia intelligentia add. Y. 19 causatorum: creatorum TY 20 etiam om. TW (erasit T) : et Y 20 sint om. Τ 21 illa: Et add. WY 21 quod : quia X quid Y 21 intelligentiae : —a Τ 21 alia ex illa corr. s. I. T : illa W

Liber de uno Deo benedicto

173

causa, et illius intelligentiae sit causa intelligentia tertia, et tertiae quarta, et sic in infinitum procedere est impossibile. Quartum est quod motus est in quatuor praedicamentis, scilicet in praedicamento substantiae, et ille motus proprie est mutatio secun5 dum generationem et corruptionem. E t inventus est in praedicamento quantitatis, et est secundum augmentum et diminutionem. E t reperitur in praedicamento qualitatis, et illud est secundum viam alterationis. E t est inventus in praedicamento ubi, et iste est motus localis ; et propter istum motum in ubi dicitur simplex motus et absolute, sine io adiectione specifica. Quintum est quod omnis motus est motio et exitus de potentia ad actum. Sextum est quod motuum quidam sunt per se, quidam per accidens, quidam violenti