Judenrollen: Darstellungsformen Im Europäischen Theater Von Der Restauration Bis Zur Zwischenkriegszeit [Annotated] 3484651709, 9783484651708

Der Band versammelt Beiträauml;ge zu der theatralen Darstellung von Juden im europäischen Theater zwischen 1830 und 1940

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Judenrollen: Darstellungsformen Im Europäischen Theater Von Der Restauration Bis Zur Zwischenkriegszeit [Annotated]
 3484651709, 9783484651708

Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Väterliche Liebe und Christenhass
Der jüdische Tenor als Éléazar
Die ›Schöne Jüdin‹ in Oper und Schauspiel
Der Jude Almamen und seine Tochter Leila auf der Opernbühne
»Weil ich ein Jude bin«
Der Weg des ›erstbesten Narren‹ ins »Planschbecken des Volksgemüts«
Bedrohte Idylle
»Bleib zurück, geh nicht in’ Garten!«
Judenfiguren bei Richard Wagner
Worte oder Werke?
Im Schatten Mimes?
»Wer kommt heut’ in jedem Theaterstück vor? Ä Jud!«
Die komödienhafte Inszenierung einer antisemitischen Affäre
»Du aber halte meinen Bund«
Ernst Tollers Stationendrama Die Wandlung auf der expressionistischen Experimentierbühne »Die Tribüne«
Eine antisemitische Oper?
»Mir is wat unheimlich«
Die »Zahlenmagie des Heiligen Mehrwerts«
Drei ›unjüdisch-jüdische‹ Künstler
Der Gottesgedanke auf der Bühne
›Das Urlicht über der Finsternis‹
Backmatter

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Conditio Judaica 70 Studien und Quellen zur deutsch-jdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing

Judenrollen Darstellungsformen im europ+ischen Theater von der Restauration bis zur Zwischenkriegszeit Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdçrfer und Jens Malte Fischer, unter Mitarbeit von Frank Halbach

Max Niemeyer Verlag Tbingen 2008

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-65170-8

ISSN 0941-5866

( Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul=ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielf=ltigungen, >bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbest=ndigem Papier. Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Inhaltsverzeichnis

Hans-Peter Bayerdörfer/Jens Malte Fischer Vorwort ...................................................................................................

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Sieghart Döhring Väterliche Liebe und Christenhass Die Rollengestalt des Éléazar in Halévys La Juive.................................. 21

Daniel Jütte Der jüdische Tenor als Éléazar Heinrich Sontheim und die La Juive Rezeption im 19. Jahrhundert ........ 41

Annemarie Fischer Die ›Schöne Jüdin‹ in Oper und Schauspiel Heinrich Marschners Der Templer und die Jüdin, Salomon Hermann Mosenthals und Josef Bohuslav Foersters Debora(h).............................. 57

Sabrina Cherubini Der Jude Almamen und seine Tochter Leila auf der Opernbühne Drei Adaptionen von Bulwer-Lyttons Roman Leila or The Siege of Granada (1838) ..................................................... 77

Anat Feinberg »Weil ich ein Jude bin« Albert Dulks Lea ..................................................................................... 89

Anette Spieldiener Der Weg des ›erstbesten Narren‹ ins »Planschbecken des Volksgemüts« Gustav Raeders Robert und Bertram und die Entwicklung der Judenrollen im Possentheater des 19. Jahrhunderts ................................. 101

VI

Inhaltsverzeichnis

Sebastian Stauss Bedrohte Idylle Die Judenfrage im Elsaß als Dramensujet ............................................... 113

Florian Krobb »Bleib zurück, geh nicht in’ Garten!« Grillparzers Jüdin von Toledo als Traktat über die »Judenfrage« ............ 125

Ulrich Drüner Judenfiguren bei Richard Wagner............................................................ 143

Sabine Busch-Frank Worte oder Werke? Hans Pfitzners Judenbild in seinen Opern Die Rose vom Liebesgarten und Das Herz............................................... 165

Frank Halbach Im Schatten Mimes? Jüdische Opernkarikaturen in Richars Strauss’ Salome und Ferruccio Busonis Die Brautwahl..................................................... 179

Marion Linhardt »Wer kommt heut’ in jedem Theaterstück vor? Ä Jud!« Bilder des ›Jüdischen‹ in der Wiener Operette des frühen 20. Jahrhunderts....................................................................................... 191

Nikolaj Beier Die komödienhafte Inszenierung einer antisemitischen Affäre Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi .................................................. 207

Simone Lutz »Du aber halte meinen Bund« Die Bibel als Paradigma jüdischer Identität in Beer-Hofmanns Jaákobs Traum ........................................................................................ 221

Andreas Englhart Ernst Tollers Stationendrama Die Wandlung auf der expressionistischen Experimentalbühne Die Tribüne .............................. 237

Annie-Laure Drüner Eine antisemitische Oper? Vincent d’Indys La Légende de Saint Christophe.................................... 255

Inhaltsverzeichnis

VII

Itta Shedletzky »Mir is wat unheimlich« Dissonantes ›Versöhnungs-Theater‹ zwischen Ohnmacht und Selbstbehauptung. Jüdische Figuren in Else Lasker-Schülers Schauspiel Arthur Aronymus ..................................................................................... 275

Georg-Michael Schulz Die »Zahlenmagie des Heiligen Mehrwerts« Nationalsozialismus, Inflation und der Ostjude Kaftan in Walter Mehrings Der Kaufmann von Berlin ............................................ 293

Karin Kowalke Drei unjüdisch-jüdische Künstler Kurt Weills und Franz Werfels Bibelspiel The Eternal Road in der Inszenierung Max Reinhardts in New York................................... 305

Ferdinand Zehentreiter Der Gottesgedanke auf der Bühne Schönbergs Oper Moses und Aron als Form der geistigen Synthese ....... 325

Sigrid Bauschinger ›Das Urlicht über der Finsternis‹ Nelly Sachs Eli ........................................................................................ 339 Personenregister ........................................................................................... 351

Hans-Peter Bayerdörfer/Jens Malte Fischer

Vorwort

I Rollengeschichte ist ein traditioneller Zweig historischer Theaterforschung, der lange Zeit sich von der literarischen oder musikdramatischen Seite der Werke aus angehen ließ. Zur Frage stand, wie sich die Schauspieler- oder Sängerindividualität der Darsteller auf das Profil der dramatis personae auswirkte, und in welchem bühnenästhetischen Kontext so die Rollenperson in Erscheinung treten konnte. Abgesehen von den biografischen Interessen, die sich bei solcher Fragestellung zur Geltung bringen ließen, gab es aber zugleich den methodischen Weg, von der textlichen Analyse der dramatischen Vorlage her – unter Berücksichtigung der szenischen Anweisungen – die spielerischen Verkörperungen an den literarischen Qualitäten und Anforderungen zu messen und so Werktreue mit individueller Interpretationsleistung des Akteurs in direkten Zusammenhang zu bringen. Die weitere vergleichende Betrachtung der Rolle in der Verkörperung in verschiedenen Schauspieler- oder Sänger-Generationen konnte sich anschließen und zu einer Interpretationsgeschichte der szenischen Umsetzung führen. Ohne weiteres ließen sich weitere geschichtliche Faktoren der Bühnen-, der Sprech- und Gesangsästhetik, der Regieentwicklung etc. zur Verdeutlichung und Abrundung einbeziehen. Bildete bei der geschilderten Betrachtungsweise die an der literarischen Vorgabe bemessene künstlerische Eigenart und Leistung der Darsteller die Leitlinie, so geht es in den hier vorgelegten Untersuchungen primär um eine dramaturgisch akzentuierte Rollengeschichte, die bereits der in den Textvorlagen wirksamen Figuration von Spielrollen, wie sie auf die Bühne und deren Produktionsbedingungen hin angelegt werden, nachgeht. Rollenfächer entscheiden über inhaltliche und darstellungsästhetische Umrisse der dramatis personae im Vorfeld aller konkreten Handlungs- und Personengestaltung in Drama oder Libretto. Dieser dezidiert theaterhistorische Ansatz ist freilich nur dann haltbar, wenn von vornherein in Betracht gezogen wird, wie die Rollenfächer und ihre Systeme dem geschichtlichen Wandel unterworfen sind, zumal in dem hier thematisierten Zeitraum nach und nach eine weitgehende Unterwanderung und letztlich die Auflösung der Fachbindung die Entwicklung bestimmen. Dennoch gilt zunächst – wie Hans-Joachim Neubauer mit Bezug

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Hans-Peter Bayerdörfer/Jens Malte Fischer

auf das Allgemeine Theaterlexikon von 1840 betont1 –, dass die Ästhetik der Rollenfächer »die semantische Matrix des dramatischen Handelns und Geschehens« bildet. Obwohl seit der Sturm und Drang-Zeit die durchgehende Individualisierung der dramatischen Rollen über alle Fachanlage hinaus verlangt wird und die im Zeichen der seit Schröder, Iffland und Brühl, Goethe und Schreyvogel sich entwickelnden Regie die Belange der Gesamtdisposition der Aufführung gegenüber allen vorgegebenen Spielschemata in den Vordergrund der Bühnenkunst rücken, bleiben die Vorgaben der Fächer noch auf lange Zeit in Kraft. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts ist für das Schauspieltheater vorauszusetzen, dass es »mehr die Summe seiner Fächer als das ganze, ästhetisch geschlossene Theatererlebnis« bedeutet, stellt Neubauer fest.2 Dass sich für das Musiktheater die Stimm-Rollen-Fächer noch wesentlich länger erhalten, obwohl für die zunehmenden Bedeutung der Regie gerade von dieser Seite mit dem Konzept des so genannten Gesamtkunstwerks ja ein alle Theatersparten übergreifender ästhetischer Horizont vorgegeben wurde, verlangt weitere Klärung. Insgesamt ist zu beobachten, dass in diesem Bereich der Veränderung stärkerer Widerstand entgegengebracht wird, weshalb sich speziell die Maßgaben realistischer und zunehmend psychologischer Rollenprägung gegenüber den ästhetischen Eigenmöglichkeiten der Singstimme weniger direkt durchsetzen konnten als im Falle der Sprechstimme. Entscheidend ist jedoch für beide Seiten, dass die langen Jahrzehnte der allmählichen Unterhöhlung, Verschiebung und Auflösung der Rollenfachbindung eine Fülle von einzelnen Veränderungen und herausfordernden Verstößen mit sich brachten, welche – auch im Falle von Neuinszenierungen von Repertoire-Werken – die Faszination und die Provokation der individuellen Rollengestaltung, wie auch der Gesamtdisposition der Spielrollen entscheidend erhöhten. Bühnengeschichtlich gesehen, kommt als weiterer Gesichtspunkt hinzu, dass die Rollenfächer außer der dramaturgischen Bedeutung auch eine direkt szenisch-visuelle Wirkung entfalten, da mit ihnen mehr oder minder detaillierte Festlegungen von Gestalt, Habitus, Bewegungs- und Ausdrucksverhalten gegeben sind. Bildgeschichtliche und körpergeschichtliche Vorprägungen bilden einen wirkungsmäßig wichtigen Teil des Systems, da sie nicht nur die sinnliche Erscheinung, sondern auch die von ihr ausgehende affizierende Energie der Bühnengestalt mitbestimmen, noch ehe die spezifisch inhaltlichen Faktoren des betreffenden Stückes ausgespielt werden können. Nicht nur bezüglich Handlung und Figurencharakteristik, auch hinsichtlich der szenischen 1

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Robert Blum/Karl Herloßsohn/Hermann Marggraf: Allgemeines Theater-Lexikon oder Encyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreunde. Altenburg 1836, 2. Aufl. 1840. Hans-Joachim Neubauer: Judenfiguren. Drama und Theater im frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt/New York 1994, S. 39 und S. 38. Eine Untersuchung, die sich ausschließlich mit dem Judenbild im französischen Sprechtheater von 1880 bis in unsere Zeit beschäftigt, wurde jüngst von Chantal Meyer-Plantureux vorgelegt: Les enfants du Shylock ou l’antisémitisme sur scène. Paris 2005.

Vorwort

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Wirkungsbasis, nach grundlegenden stimmlichen und körperlichen Bewegungsmustern, sehen sich der Dramatiker, bzw. Librettist und Komponist in Bezug auf den dramatischen oder musikdramatischen Theatertext daher mit Bedingungen konfrontiert, denen sie Rechnung tragen müssen, und das umso mehr, je stärker sie gerade – wie im Falle etwa der Sturm und Drang-Autoren – die konventionellen Schichten der Rollen durchbrechen oder abtragen möchten.

II Im Zusammenhang der Epoche, die vom Beginn der Emanzipation der Juden in Deutschland über die symbiotische Annäherung bis zu deren nationalsozialistischem Widerruf reicht, legt sich die theatergeschichtliche Ausgangsfrage nahe, an welchen Stellen der etablierten Rollenfächersysteme und auf welche Weise jüdische Gestalten auftreten. Dabei ist ebenso von Belang, welche Möglichkeiten ihnen im Zeichen von Emanzipation und Akkulturation eingeräumt werden, wie die Frage, von welchen Positionen sie ferngehalten, oder welche speziellen Änderungen im Rollenprofil ihnen auferlegt werden. Dass sich hier die Konstellationen im Verlauf der wechselhaften Entwicklung des deutschjüdischen Miteinanders dann von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gravierend verändern, steht ebenso zu erwarten, wie zu fragen bleibt, welche Bedeutung den jüdischen Themen und Gestalten innerhalb der Modifikationen der Rollenfächer zukommt. Wenn im folgenden dazu Schauspiel- und Musiktheater – und beide in der relativen Breite ihrer verschiedenen Genres – zusammengeführt werden, so aufgrund der Einsicht, dass sich im Rahmen der Fächersysteme tragende Gemeinsamkeiten ergeben haben und herausstellen lassen. In der Tat teilen die beiden Großbereiche eine Vielzahl der bereits aus der langen Wirkungsgeschichte der commedia dell’arte stammenden und sich vielseitig entwickelnden Muster der Rollentypen, was insbesondere bei den Komödien- und im weiteren Sinne bei allen theatralen Unterhaltungsformen auf der Hand liegt. Hinzu kommt aber, dass auf Seiten des Musiktheaters im Zeichen der Aufklärung gerade im Felde der ›hohen‹, d.h. der tragischen und heroischen Genres, entscheidende Verschiebungen stattgefunden haben. Mit der Auflösung des Kastratenfaches ergeben sich Übergänge in andere Stimmfächer, die das Rollensystem neu ordnen und eine Annäherung an die Schauspielseite mit sich bringen. Hinzu kommt die Ausbildung der tragischen Varianten der großen historischen und mythischen Sujets, d.h. die Auflösung der Verbindlichkeit des lieto fine zugunsten einer Vielfalt von Katastrophen-finali, welche die Annäherung an Tragödien- und Trauerspiel-Verläufe vollziehen. Schließlich ist das starke Anwachsen des Singspiel-Sektors anzuführen, der am offensichtlichsten zwischen den beiden Bereichen vermittelt und – quantitativ ständig zunehmend –

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Hans-Peter Bayerdörfer/Jens Malte Fischer

für die städtisch-außerhöfischen Theaterformen des neuen Jahrhunderts die Wege ebnet.3 Wendet man sich nun der Frage nach den konkreten Judenrollen im deutschen Theater der Aufklärung und der Folgezeit zu, so springt zunächst erneut eine – bis weit in das 19. Jahrhundert hineinreichende – Gemeinsamkeit zwischen Schauspiel- und Musiktheater ins Auge. Die verbreiteten Stoffe und Figuren aus dem Alten Testament, großenteils auch der sogenannten Apokryphen, werden als Patriarchen-Themen behandelt. Sie sind als Väter-Geschichten Teil der christlichen Tradition und werden prinzipiell nicht mit dem nachexilischen oder gar zeitgenössischen Judentum in Verbindung gebracht. Überwiegend haben sie den Status der antiken Heroenstoffe, ihre Bedeutung als Traditionsbestand und Grundlage jüdischer Kultur bleibt ausgeblendet – erst Mitte des 19. Jahrhunderts, unter dezidiert säkularen Prämissen, kommt etwa mit Hebbels Judith und Nestroys Parodie Judith und Holofernes eine Übertragung in die Gegenwart zustande, so dass dann von Fall zu Fall ein Vergleich mit expliziten ›Judenrollen‹ der Zeit sinnvoll ist. In einem Punkt freilich ist ein Nebengleis der Entwicklung zu verzeichnen, welches belegt, dass auch die Operngeschichte des 18. Jahrhunderts mit den Gesamttendenzen in Verbindung steht. Für die Hamburger Barockoper sind Belege erhalten, dass selbst innerhalb biblischer Themen, die insgesamt mittels seriöser musikdramatischer Rollenentwicklung entfaltet werden, jüdische Episodenrollen in Gestalt von Dienerfiguren auftauchen, welche mit der gleichzeitigen Rollengeschichte der burlesken Judengestalten der Wandertruppen weitgehend überein kommen: dass dieser Typus dann ab 1710 im Genre des so genannten Lokalsingspiels – mit Titeln wie Leipziger Messe (1710) oder Hamburger Jahr-Marckt (1725) – überhand nimmt,4 belegt die übergreifende Bedeutung der Judenrollen für das gesamte Theaterwesen der Zeit. Denn in der Tat stammen die gängigen jüdischen Stoffe und Figuren, wie man sie Ende des 18. Jahrhunderts dann antrifft, und wie sie auch in die literarische Dramatik zunehmend eindringen, zum größten Teil aus dem Repertoire der Wandertruppen, das ausnehmend breit entwickelt ist. Sieht man von Übernahmen aus dem elisabethanischen Fundus ab, wie den Juden von Venetien oder von Malta, so bleiben nicht nur umfängliche Kollektivnummern zu nennen, wie die elaborierten Judenballette, denen in der weiteren musikalischen Unterhaltungskultur ausdifferenzierte Judennummern in Chorform, wie etwa in Madrigal-Spielen oder in Tafelkonfekt-Folgen, etwa bei Valentin Rathgeber 3

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Jörg Krämer hat mit seiner Untersuchung Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert (Tübingen 1998) die vielseitigen dramaturgischen Konzepte sichtbar gemacht, die den Zeitraum bestimmen, und damit auch auf die theatergeschichtlichen Aufgaben verwiesen, die mit Blick auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts für die theatergeschichtliche Forschung noch bestehen. Gunnar Och: Imago judaica. Juden und Judentum im Spiegel der deutschen Literatur 1750–1812. Würzburg 1995, S. 57–62. Innerhalb des einleitenden Kapitels »Jüdische Figuren in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts« (S. 50–67).

Vorwort

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unter dem Titel Der Juden Tantz, entsprechen.5 Dabei ist bemerkenswert, welch starke Gemeinsamkeiten die musikalischen und die sprachlichen Verballhornungen im Madrigal des beginnenden 17. Jahrhunderts und im TafelConfekt der vierziger Jahre des 17. Jahrhunderts aufweisen. Hinzu kommen die im Spielfundus der Wandertruppen in zahlreichen Varianten auftretenden Händler- und Schacher-Figuren, die diversen Matronen-Typen, so dass sich auch ganze Familienszenare entwickeln lassen, und – nicht zuletzt – die »Rabbinen«,6 welche explizit den religiösen Bereich einzubeziehen erlauben. Dieselbe Vielfalt lässt sich auch im Musiktheater der Singspielformen verfolgen. Der überregional berühmte Wiener Bernardon (Johann Joseph Felix Kurz) präsentiert ein »komisches Singspiel« Die Judenhochzeit oder Bernardon der betrogene Rabbiner (1770), und für die nächsten Jahrzehnte sind dann Titel wie Der Jude, oder Betrug für Betrug, und Die christliche Judenbraut, oder: Die Alte muß bezahlen belegt.7 Seit Mitte des 18. Jahrhunderts nehmen aber auch die Gegentypen, die aus der Aufklärungsdramatik stammenden dezidierten Rollen jüdischer Emanzipation überhand.8 Bis zum Jahrhundertende werden sie auch auf den Bühnen in steigendem Maße vorgestellt, darunter Lessings Reisender aus Die Juden oder Kaufmannsrollen wie Richard Cumberlands Shewa aus The Jew oder Nathan der Weise. Dass dessen Bekanntheit auch durch zahlreiche literarische Parodien vermittelt wird, die sich großenteils der älteren Rollenmuster aus dem Fundus der vagierenden Truppen bedienen, verweist bereits auf die einschlägige Rollenproblematik des neuen Jahrhunderts.9 Es versteht sich, dass sich bei 5

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Als Beispiele seien genannt: Adriano Banchieri: Barca di Venetia per Padova (1605, rev. 1623, Neuausgabe 1969). Sowie Valentin Rathgeber: Ohrenvergnügendes und Gemüth-ergötzendes Tafelconfekt (1733–1746), in dem eine Nummer mit Der Juden Tantz überschrieben ist. In beiden Fällen gehören schematisch arrangierte Verballhornungen im Sprachlichen und auskomponierte stimmliche Entstellungen zum jüdischen Genre. Der bekannteste Beleg für diese szenischen Stereotype, »die Karikatur eines jüdischen Rabbinen«, findet sich in Goethes Wilhelm Meister-Romanen (Lehrjahre II,9; Theatralische Sendung VI,12 ), wobei sowohl der vermeintliche Realitätsbezug als auch der Wirkungseffekt der Szene beschrieben werden: »Den vertrackten Eifer, den sinnlichen ekelhaften Enthusiasmus, die verrückten Gebärden, das verworrene Gemurmel, das scharftönende Geschrei, die weichlichen Bewegungen und augenblicklichen Anspannungen, die Verschrobenheiten eines veralteten Unsinns hatte er so fürtrefflich ergriffen […], daß diese Abgeschmacktheit einen jeden geschmackvollen Menschen auf eine Viertelstunde glücklich machen konnte.« Vgl. das von J. Krämer (a.a.O.) erstellte Titelverzeichnis zu den Jahren 1770, 1783, 1788. Dazu liegt die umfangreiche Textsammlung von Helmut Jenzsch vor: Jüdische Figuren in deutschen Bühnentexten des 18. Jahrhunderts. Eine systematische Darstellung auf dem Hintergrund der Bestrebungen zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden nebst einer Bibliographie nachgewiesener Bühnentexte mit Judenfiguren der Aufklärung. Diss., Hamburg 1971. Vgl.: Hans-Peter Bayerdörfer: »Judenrollen und Bühnenjuden. Antisemitismus im

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Hans-Peter Bayerdörfer/Jens Malte Fischer

zunehmender dramatischer Produktion auch gemischte Rollen ergeben, in denen burleske mit seriösen Zügen verbunden und gemäß den dramatischen Konstellationen ausgearbeitet werden.10

III Zum Rollenbestand im Schauspielbereich, wie er sich zu Beginn und für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts dann abzeichnet, liegt die eingehende Aufnahme und Analyse von Hans-Joachim Neubauer vor. Was die Männerrollen betrifft, so ist ein breites und gefächertes Weiterleben des burlesken Bühnenjuden der vorangehenden Epoche zu verzeichnen, zunächst im Fach der Chargen, d.h. der mehr oder minder differenzierten Nebenrollen; sie nehmen eine Vielzahl von dramaturgischen Funktionen wahr, als Boten, Informanten, Episodenfiguren, wobei der Komikanteil in allen komödiennahen Genres sehr hoch ist. In diesem Sinne lagern sich an die dramaturgischen Funktionen gängige Körper- und Bewegungsstereotype an, die ebenfalls rollenprägend werden. Besonders in den Chargen sind sie im Wesentlichen invariant. Dasselbe gilt auch für den großen Sektor der sprachlichen Judenstereotype, die geradezu zu einer einschlägigen ›Erfindung‹ der jüdischen Sprechstimme führen,11 wobei eine ähnliche rollenbedingte Stimmfestlegung auch im Musiktheater zu beobachten ist. Die Spielarten des Schacher- und Wechsler-Juden, wie die Bedientenrollen sind dabei in zunehmendem Maße auch als Aufsteiger und Parvenus ausgewiesen, so dass an die Stelle der Hausierer, Trödler etc. die entsprechenden höheren Erwerbszweige, Geschäftsmann, Börsenmakler etc., treten können. Als Episodenfigur tritt der Bühnenjude daher auch ohne weiteres in die seriösen bis tragischen Bereiche der Dramatik ein, wofür die Judenszene aus Büchners Woyzeck das heute bekannteste Beispiel bietet, während für die Nachmärz-Zeit die dramaturgisch als Zwischenträger fungierende Judenfigur Schmock aus Gustav Freytags vielgespielter literarischer Komödie Die Journalisten (1853) das Paradebeispiel bildete12. Kommt der Bühnenjude dieser Prägung dann als Vater- und Alten-Rolle, d.h. in einem familiären Kontext vor, so treten alle Familienmitglieder, bis zu der jüngeren Generation und den entfernteren Angehörigen, im Status der dis-

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Rahmen theaterwissenschaftlicher Fremdheitsforschung«. In: Antisemitismusforschung in den Wissenschaften. Hg. von Werner Bergmann und Mona Körte. Berlin 2004, S. 315–351. G. Och (a.a.O.) stellt »Mischtypen« anhand von Stücken von Christian Gottlob und Johann Gottlieb Stephanie, Der Weiberfeind und die schöne Jüdin (1773) sowie Die abgedankten Offiziers (1774) dar (S. 104–118). S. Neubauer: a.a.O., S. 147ff. Noch im Jahre 1900 erfindet Gerhart Hauptmann für den Episodenjuden in Gestalt eines Pelzhändlers eine Szene im ersten Teil seines ›Scherzspiels‹ Schluck und Jau, mit zwar dezenter sprachlicher Kennzeichnung, die aber keineswegs deftigere szenische Realisierung ausschließen dürfte.

Vorwort

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kreditierenden Stereotyp-Komik auf, wobei das Fach der älteren Frauen und der Mütter dann spezifische burleske Matronentypik der komischen Alten entfaltet. Alle genannten Rollen finden ihr Wirkungsfeld in den zahlreichen Genres des Unterhaltungstheaters, insbesondere im Leitgenre des Jahrhunderts, der Lokalposse, die ab 1812/13 ihren Siegeszug antritt und mit ihrer gattungsbestimmenden Regionalisierung aller Rollen – wie später die Operette – prägnante Kontexte für Bühnenjuden anbietet. Dies gilt dann auch für stücktragende Komiker-Hauptrollen, zumal bereits im ersten Jahrzehnt, um 1816, in Berlin der Vorschlag unterbreitet wird, Judenrollen könnten die frühere Funktion der spezifischen Burleskkomiker wie Harlekin, Thaddädl und Hanswurst übernehmen.13 Diese Insinuation stellt bereits eine Reaktion auf das Skandalstück der Spielzeit 1815/16, Die Judenschule/Unser Verkehr von Karl Borromäus Alexander Sessa, dar, dessen gesamtes Personal – einschließlich Assimilanten, Konvertiten und Parvenus bis zum ›Kapitalisten‹ – von Bühnenjuden der alten Typologie bestritten wird und daher das Musterbild einer ›Judenposse‹ für die Folgezeit abgibt.14 In diesem Stück hat außer der Matrone – in der die krassen Züge der komischen Alten bei weitem alle Rollenanteile des Mütterlichen zurückdrängen – auch das wichtigste weibliche Rollenfach, die junge Liebhaberin als Jüdin, ihre bezeichnende, die negativen Züge bündelnde Ausprägung gefunden. Die junge Frau ist schön, aber sexuell unangemessen freizügig, in Liebesdingen lasziv und berechnend, und außerdem als Emanzipationsjüdin von aufdringlichem Übereifer, so dass von der Kleidung bis zu Bildung, Sprache und Kunstverständnis alles in dünkelhafte Anmaßung umschlägt – auch die Liebhaberin wird als kulturelle Parvenu-Figur denunziert. Wechselt man von den possenhaften Genres15 zu den stärker problemhaltigen Gattungen, so ändert sich hinsichtlich der Nebenrollen und Episodenfigu13

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Zu Lessings Bemerkung über das mutmaßliche Weiterleben des Harlekins unter anderem Namen, wie er in der Hamburgischen Dramaturgie (18. Stück) feststellt, sowie zu der genannten antijüdischen Berliner Schrift eines Anonymus von 1816, Geschichte eines Heißhungers [...] über den endlich gefundenen Mimus der Norddeutschen, vgl.: G. Och: a.a.O., S. 113f. Sowie Neubauer, a.a.O., S. 98ff. Sessa (Erstpublikation anonym 1815). Dazu Neubauer, a.a.O., S 113ff. Was die Komik der Posse angeht, so mag man sich an Lessings Komödienpoetik erinnert fühlen, der zwischen dem Verlachen der älteren Tradition und dem sympathetischen (Mit-)Lachen einer zeitgemäßen Komödie unterscheidet. Die alten Bühnenjuden unterliegen auch auf den Bühnen des 19. Jahrhunderts der Verlachkomik, die ihre Inhalte keineswegs auf harmlose Weise bloßstellt. Über die speziellen Wirkungsmechanismen, die der Bühnenjude auf dem Hintergrund der allgemeinen Vergnügungs- und Lachstrategien der Lokalposse auslöst, vgl.: Neubauer, a.a.O., S. 162ff. Vgl. außerdem: Hans-Peter Bayerdörfer: »›Lokalformel‹ und ›Bürgerpatent‹. Ausgrenzung und Zugehörigkeit in der Posse zwischen 1815 und 1860«. In: Maria Porrmann u. Florian Vaßen (Hg.): Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. 1/2002. Tübingen 2002, S. 139–173.

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Hans-Peter Bayerdörfer/Jens Malte Fischer

ren wenig. Sie bleiben auf einige als jüdisch ausgegebene Eigenarten beschränkt, gehen in Funktionen auf. Beruflich zentrierte Figuren, etwa im Schauspiel, zeigen kein Privatleben, Bediente, etwa in der comédie sérieuse, bilden nie eine erotische, als Paarproblem exponierte Parallelhandlung zu den Hauptfiguren. Erst auf der Ebene zentraler konflikttragender Dreiecks- oder Viererkonstellationen zeigen sich andere Rollendimensionen, die eine vertiefte Problementfaltung erlauben. Auch jüdische Väter- oder Altenfiguren zeigen dann ethische, historische oder soziale Motive in Entscheidungssituationen, d.h. tragen im 19. Jahrhundert dann den Anforderungen charakterlicher Präzisierung, wie sie die Aufklärungsdramatik mit Nathan oder Shewa erhoben hat, Rechnung. Dies gilt auf längere Sicht auch für Shylock, obwohl hier die Gefahr der Übermalung mit Zügen des alten Bühnenjuden nie gebannt ist. Jedoch sind Väterrollen als Widerpart in der Auseinandersetzung um Liebes- und Heiratsintrigen der Töchter als liebende und denkende Figuren möglich, selbst gerade dann wenn sie auch aus religiöser und ethnischer Position widersprechen. Freilich zeichnet sich in solchen Konstellationen ein doppeltes Ungleichgewicht ab. Zum einen fehlen – wie übrigens auch sonst häufig im Schauspiel oder Trauerspiel – die entsprechenden Mutterrollen, was sich immerhin mit der patria potestas in der familiären Entscheidungsfindung hinsichtlich der dramatischen Konfliktstrategie, bei Heirats- oder Berufsfragen etc., einigermaßen erläutern lässt. Wichtig ist hingegen, dass es sich bei jüdischen Konfliktkonstellationen dieser Art – wie schon in Nathan oder in Merchant of Venice – ausschließlich um Vater-Tochter Konflikte handelt. Sie haben zudem ihr eigenes Gefälle im Rollenfach der Liebhaberin, wenn es jüdisch besetzt ist. Wenn es sich nicht ohnehin um eine Art Scheinverhältnis, eine adoptierte Nichtjüdin handelt, liegen in der Regel zwei Rollenfach-Erweiterungen vor. Die jugendliche Liebhaberin tendiert entweder zur schönen Jüdin, deren erotische Natur exotisch-orientalische Fremdheit ausstrahlt und zumeist so die Anziehungskraft erhöht. Häufig aber wird die seriöse Bindungsfähigkeit dem Zweifel ausgesetzt, was dann etwa Komplikationen für ein herkömmliches Komödienoder Schauspielfinale mit sich bringt, weil es zu erotischen Verwicklungen führt, die besonders von Stereotypen belastet sind. Kaum weniger aporetisch verläuft die alternative Rollengestaltung: der jungen jüdischen Frau wird als Liebhaber ausschließlich der nichtjüdische Mann zugeteilt, was entweder in die tragische Verwicklung führt, welche auch die Vaterrolle einschließt, oder zu einer Konversionsbereitschaft, welche sich mit dem Kuss des Geliebten eine ›Erlösung‹ vom Judentum erwirbt.16 Jedoch tritt in diesem rollengeschichtlichen Entwicklungsfeld nun auch das Gegenbild der positiv gesehenen ›schö16

Neubauer (a.a.O., S. 64–68) bietet eine beeindruckende Analyse dieses Problemfeldes anhand eines anonymen Stückes Aaron in der Klemme oder der Bräutigam als Braut, das gattungsmäßig bezeichnenderweise als Schauspiel mit Ernst und Scherz ausgewiesen wird.

Vorwort

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nen Jüdin‹ auf, eine Figur, die dann zwar wieder durchaus antisemitisch abgetönt werden kann, aber auch in sich variationsfähig bleibt. Dieser Rollentypus wird durch Walter Scotts Ivanhoe-Roman und seine Rebecca europaweit literarisch etabliert und durch seine seinerzeit durchaus erfolgreiche Veroperung durch Heinrich Marschners Der Templer und die Jüdin auch im Musiktheater populär. Die Weiterentwicklung des Typus führt dann zu den interessantesten Konfliktlagen der folgenden Jahrzehnte. Umso schärfer tritt damit innerhalb der Analyse, die das Rollenfachsystem mit Blick auf jüdische Besetzung sichtet, das zentrale Defizit vor Augen: das korrespondierende männliche Rollenfach des jungen Liebhabers und Helden wird im Theater des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts nicht mit jüdischer Identität realisiert.17 Diese frappante Lücke belegt – im Kernbereich theater- und literaturgeschichtlicher Überschneidung –, welche Vorbehalte die deutsche bzw. europäische Mentalität gegen die Gleichberechtigung der Judenheit im symbiotischen Miteinander aufbietet. Kaum muss hinzugefügt werden, dass die dazu symmetrische Konstellation zwischen jüdischem Liebhaber und nichtjüdischer, konversionsbereiter Geliebter in der Dramatik der Zeit nicht auffindbar ist. Dem jüdischen Mann wird die im europäischen Rollenfach grundlegende erotische Faszination ebenso verweigert wie der damit verbundene handlungstreibende Elan, der gegen Grenzen angeht und Widerstände bricht und so ein menschliches Idol verkörpert, unabhängig davon, ob er das Liebesziel als Lebensziel erreicht oder am Ende tragisch scheitert. Letztlich steht die Rolle des liebenden Helden im Theater für den Sieg der Geschichte. […] Größe des Unglücks und Größe des Glücks – beides verweigert die Bühne ihren Juden als müsse sie mit den Schicksalen geizen, die sie zu vergeben hat.18

Der Ausweg, die Problematik der jüdischen Situation stofflich zu kaschieren, zugleich aber allegorischer Deutungsmöglichkeit anzunähern, schien sich anzubieten, wenn es um eine uneingeschränkte Männerrolle im Sinne des heroischen Liebenden ging. Michael Beer hat in seinem Stück Der Paria (1823) mit einem indischen Stoff – und der Transposition des ethnischen Problems in ein soziales – diesen Weg beschritten – was aber nun jüdischerseits gleichsam als ein Akt der Kapitulation verstanden werden konnte. Heinrich Heine fand »fatal […], daß der Paria ein verkappter Jude ist«.19

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»Auf der Suche nach dem jüdischen Liebhaber und Helden wird man enttäuscht. Wer an einem deutschen Theater das entsprechende Fach besaß, konnte bis weit in die vierziger Jahre sicher sein: einen ernsthaften Juden würde er kaum zu geben haben.« ( Neubauer, ebd., S. 85). Neubauer, ebd., S. 90. Brief an Moses Moser vom 21.1.1824. Siehe dazu: Neubauer, ebd., S.86.

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IV Indessen verbindet auch dieses Defizit an heroischen Rollen für jüngere Männer, d.h. die eigentliche Rollenfach-Problematik hinsichtlich der Emanzipation und Akkulturation, Schauspiel- und Musiktheater des 19. Jahrhunderts, und zwar mit einer weitreichenden Konsequenz. Wenn jüdische Liebhaberrollen auch in der Opernwelt nicht zu vergeben waren, so wurde das dafür vorgesehene Tenorfach gleichsam frei und disponibel für andere inhaltliche Ausdruckswerte. Dass auch im Falle der Grand Opéra, in Eugène Scribes Libretto für La Juive, der jüdische Tenor-Liebhaber entfiel, da die Ziehtochter des Juden zur Geliebten des christlichen Verführers wurde, inspirierte den Komponisten Jacques Fromental Halévy dazu, die beiden Väterrollen des Stücks stimmlich einander exzessiv entgegenzusetzen und damit der jüdischen Vatergestalt eine völlig neues Ausdrucksprofil von erregender Intensität zu verleihen. Die nahezu heroische tenorale Anlage dieser Figur, Éléazar, verhinderte freilich in der weiteren Entwicklung der Opernbühne nicht, dass auf Jahrzehnte die hohe männliche Stimme diskreditierend im Sinne der Stereotype vom unmännlichen jüdischen Mann verwendet wurde. Die Bedeutung von Halévys und Scribes Oper La Juive ist in unserem Zusammenhang schwer zu überschätzen. Durch ihren enormen Erfolg und ihre für das Genre der Grand Opéra basisbildenden Funktion war sie Wegbereiterin für die ›Karriere‹ jüdischer Figuren in der Oper. Es verwundert nicht, dass Judengestalten (von karikierten Nebenfiguren-Ausnahmen abgesehen) in die Oper später und zögernder Einkehr halten, als in das Sprechtheater. Es liegt auf der Hand, dass der repräsentative Zuschnitt, der auf überzeitlichen Gehalt abzielende Grundcharakter der Oper durchweg langsamer und zögerlicher auf gesellschaftliche Entwicklungen reagiert, als der Bereich des Schauspiels. Auch waren die mythologischen, bukolischen oder sich mit weit zurückliegenden historischen Stoffen beschäftigenden Opern des 17. und 18. Jahrhunderts nicht der Platz, um Judenfiguren einzufügen. Die biblischen Stoffe, die hinsichtlich ihrer jüdischen Figuren – wie bereits dargelegt – eine Änderung mit sich hätten bringen können, machten nur sehr langsam auf der Opernbühne Karriere und wenn sie es taten, dann wurden die alttestamentlichen Gestalten vielfach unter der Maßgabe des orientalisierenden Exotismus behandelt. Das ändert sich grundlegend mit der historischen Oper des 19. Jahrhunderts und hier speziell mit der Grand Opéra. Dass es ein jüdischer Komponist wie Halévy war, der hier die Dämme gebrochen hat, denn sein Éléazar ist etwas kategorial Anderes als gelegentliche jüdische Nebenfiguren in der Oper des Barocks, die erwähnt wurden, ist von erheblicher Sprengkraft. Dass der jüdische Komponist und der nichtjüdische Librettist Scribe hier eine ungewöhnlich-neuartige Judengestalt schaffen, in der aber das traditionelle Judenbild des rächenden, ›alttestamentarischen‹ Juden aus seiner Zweideutigkeit und Problematik keineswegs erlöst wird, dass anders gesagt dieser Gestalt ebenso antijüdische wie projüdische Argumente eingeschrieben sind, und auch die Rezep-

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tion der Figur entsprechend zweideutig verlief, wirkte prägend auf die weitere Karriere von jüdischen Figuren in der Oper des 19. und 20. Jahrhunderts. Wie vielfältig und facettenreich diese verlief, stellt dieser Band wohl zum ersten Mal in der ganzen Breite, wenn auch exemplarisch, dar. Die Vergessenheit einiger dieser Opern heute darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Werke in ihrer Zeit teilweise durchaus erfolgreich waren. Auch die nicht endenwollende Diskussion über die camouflierten Judenfiguren im Werk Richard Wagners gewinnt in dem hier hergestellten Kontext eine neue Brisanz. Auf jeden Fall wird in der Summe der hier vorgelegten Studien klar, dass es sehr früh bereits auch musikalisch stereotypisierte Modelle der Charakterisierung von Jüdischem in der Oper, im Musiktheater gab, die nicht allein mehr durch orientalisierende Elemente gekennzeichnet sind. Der als typisch prägend anzusehende, die Sprech- und Singweise der Juden karikierende meckernde Rhythmus ist am besten zu beobachten in Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung, wo in der Episode »Samuel Goldenberg und Schmuyle« der arme Jude Schmuyle eindeutig durch eben diese Elemente (Staccato-Rhythmus mit kreischend-meckernder Charakteristik, hohe Lage des Instruments, bzw. der Instrumente) sowohl in der Klavieroriginalfasssung als auch in den späteren Orchestrierungen charakterisiert wird. Diese Tradition ist in der Kennzeichnung der Figur Mimes in Wagners Rheingold und Siegfried ebenso zu erkennen wie auch die andere Tradition der orientalisierend-melismatischen Windungen in der Figur des Beckmesser in den Meistersingern – in beiden Fällen ist ein wissenschaftlicher Konsens allerdings bis heute nicht hergestellt – schließlich auch in dem zu Unrecht normalerweise kommentarlos hingenommenen so genannten »Judenquintett« aus Richard Strauss’ Salome. Dass man Richard Strauss im Gegensatz zu Wagner nicht als eingefleischten Antisemiten bezeichnen kann, zeigt die Schwierigkeit der Diagnosen. Wagners und Strauss’ Judenkarikaturen fallen, mit welcher Intention auch immer, hinter die im Vergleich erheblich differenziertere Gestaltung (die gleichwohl ihre problematischen Seiten hat), die wir bei Halévy finden und dort nicht nur in La Juive, zurück. Ein gewisser Endpunkt der Entwicklung wird bei Franz Werfels und Kurt Weills The Eternal Road und bei Arnold Schönbergs Moses und Aron erreicht. Insgesamt ist für die weitere Entwicklung der Judenrollen auf den Bühnen für das gesamte 19. Jahrhundert auch die Wirkung der antijüdischen Komponenten innerhalb der europäischen Romantik in Rechnung zu stellen. In Deutschland bildet die »Berliner Tischgesellschaft« einen der Brennpunkte, von denen aus diese Wirkung zu verfolgen ist. Die bezeichnende romantische Formation der Judenrollen leistet bekanntlich Achim von Arnim in seinem Doppeldrama Halle und Jerusalem (1811). In das Studentenspiel des ersten Teils eingebunden ist die deftige Revitalisierung – und damit literarische Rechtfertigung – des alten Bühnenjuden in Gestalt des Wechslers und Wucherers, begleitet von der ihm ebenbürtigen Alten; hinzu kommt eine Schar von

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Enkeln, die zur großen Zufriedenheit des Alten bereits in ihren jungen Jahren Spiele von Wechseln, Prozenten und Verfallsdaten spielen. Für den Geldjuden, der hier mit deutlichem Affront gegen Lessing den Namen Nathan trägt, dokumentiert sich im kindlichen Spiel die gleichsam naturwüchsig sich fortsetzende Verdienstmentalität, die dem Judentum auch über eine allenfalls unumgängliche Assimilation hinaus erhalten bleiben und gesellschaftlich-ökonomische Sicherung gewährleisten wird. Diese in das romantische Spiel eingelagerte Judenposse nimmt den rassistischen Antisemitismus gleichsam vorweg und verbindet ihn mit dem Rollenfach. Sein inhaltliches Gegengewicht findet diese Episode in einer Hauptrolle des Doppeldramas, zu welcher der mythische Ahasver (von Anfang an durchweg aus christlicher Sicht revitalisiert) erhoben wird. Als Leitfigur der Erlösungsbedürftigkeit schließt er sich der Wallfahrt an, zu der die jungen Christen der romantischen Generation nach Jerusalem aufbrechen, um dort endgültig seiner jüdischen Identität zu entsagen. Die Christianisierung als Zielperspektive der Akkulturation ist damit zum Programm erhoben, und in dieser Prägung findet Ahasver zu seiner literarischen wie theatralen Bedeutung als Jahrhundertthema, wobei die Gestalt als Inkarnation romantischer Erlösungssehnsucht im weiteren Verlauf auch stets als Anlagerungsfigur für alle alten und neuen antijüdischen Stereotype dienen kann.20 Auch die tragischen Aspekte der Rolle begründen Theatertraditionen, so etwa mit August Klingemanns Ahasver-Trauerspiel (1827). In der Operngeschichte taucht Ahasver nicht nur in Richard Wagners Der fliegende Holländer auf – dort allerdings seiner jüdischen Konnotationen völlig entkleidet – sondern auch als Titelgestalt in Halévys Oper Le Juif errant von 1852 und schließlich in Ferruccio Busonis Die Brautwahl von 1912.21 Eine weitere Komponente der antijüdischen Stereotypisierung hat mit den politischen Umständen der nationalromantischen Bewegung zu tun. Das durch Revolution und napoleonische Herrschaft dynamisierte Nationalbewusstsein hat in Verbindung mit den Erhebungen und Kämpfen gegen das Empire eine militärische Komponente erhalten, die durch u.a. nationalromantische Gesinnung weiter popularisiert wurde. Betroffen ist davon die im Konzept der Emanzipation enthaltene Vorstellung vom Juden als Staatsbürger, der den militärischen Pflichten und Möglichkeiten ebenso nachkommt wie jeder andere. Die antijüdische Reaktion bringt in diesem Bereich die Stereotype von der Unfähigkeit des Juden zu Waffen- und Wehrdienst aufgrund seiner Feigheit hervor. Die eminente Bedeutung dieser Stereotyptradition reicht bekanntlich bis in die Ära der Weltkriege. Dasselbe gilt für das im Schatten der Wehrthe20

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Vgl.: G. Och: a.a.O., S. 273–280. Sowie Frank Halbach: Ahasvers Erlösung. Das Motiv des Ewigen Juden im Opernlibretto des 19. Jahrhunderts. Phil. Diss., München 2003 (im Druck). Eine weitere Anlehnung an Rollenvorgaben des 19. Jahrhunderts dürfte – camoufliert – in Busonis Doktor Faust in der Rolle des Mephistopheles gegeben sein, dessen tenorale Diskantlage wohl auf Judenklischees anspielt.

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matik gedeihende männerbündische Ausgrenzungsklischee, das den Juden die Satisfaktionsfähigkeit abspricht. Für die Bühnen bedeutet dies eine weitere doppelte Belastung für das Rollenfach des – jugendlichen – Helden. Diese Bürde, sowie die ihr zugewachsenen mentalen und geistigen Hintergründe, wird gegen Ende des ersten Weltkrieges u.a. in Ernst Tollers Wandlung thematisiert und mit der Kriegserfahrung und der Integrationszuversicht der jüdischen Kriegsteilnehmer verbunden, so dass sie in die Grundfragen einer neuen Friedens- und Sozialordnung mit eingeht.

V Spätestens ab 1820/30 muss mit Blick auf die dramatisch und musikdramatisch entworfenen Judenrollen davon ausgegangen werden, dass die Vorgaben des alten Rollenfachsystems nach und nach modifiziert und aufgehoben werden. Dies entspricht zum einen den literar- und bühnenästhetischen Voraussetzungen, welche in den vorausgehenden Jahrzehnten geschaffen wurden, zum anderen den politischen, sozialen, geistigen und mentalitätsmäßigen Verschiebungen, wie sie zwischen 1789 und 1815 eingetreten sind. Für das Verhältnis der jeweiligen Majorität zu der jüdischen Minorität, für Emanzipation und Akkulturation, aber auch für sozial oder weltanschaulich motivierten Antijudaismus haben sich neue Bedingungen und Impulse ergeben; dass dabei unter neuem Vorzeichen die alten Haltungen weiterleben oder sogar Dynamisierung erfahren, ist nicht von der Hand zu weisen. Hinzu kommt aber für den Theaterbereich als entscheidende Neuerung, dass Autoren, Komponisten, Schauspieler und Sänger jüdischer Herkunft (wie etwa Heinrich Sontheim) in der Öffentlichkeit große Bekanntheit erlangen und nach und nach Führungspositionen bei der künstlerischen Entwicklung einnehmen. Auch diesem öffentlichen Hervortreten jüdischer Künstler und Theatermacher tritt in denselben Jahren das korrelative Diskreditierungsklischee an die Seite. Es unterstellt den Juden einen Mangel an künstlerischer Originalität und Kreativität, so dass ihnen allenfalls parasitäre künstlerische Tätigkeit übrig bleibe. Diese Unterstellung reaktiviert die herkömmliche Herabsetzung von Deklamation und Gesang der Juden, indem die Bemühungen der Akkulturation, auch in ästhetischen Zusammenhängen mitzuhalten und beizutragen, parodiert und als Erweis der Unfähigkeit ausgegeben werden. Judenpossen werden ab 1815 zunehmend erweitert um das Rollenfach des Salonjuden und der Salonjüdin, die ihren Assimilationsstatus durch Kunstsinn und Kunstproduktion unter Beweis stellen wollen und dabei über ihre Unfähigkeit stolpern.22 Auch hier ist die Tragweite, bis zur Rolle Beckmessers in den Meistersingern und den entsprechenden Pamphleten, vor allem Wagners Das Judentum in der Musik (1850), aber darüber hinaus bis zu Stichworten des 20. Jahrhunderts, wie »entartet« oder »dekadent-formalistisch«, absehbar. 22

Zu Sessas Judenschule und die Invektiven gegen die Berliner literarischen Salons, s.: Neubauer, a.a.O., S. 119 und S. 181.

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Indessen gehen von den jüdischen Literaten und Theatermachern selbst wichtige Impulse für die Entwicklung jüdischer Rollen aus. Gegen die mit dem Siegeszug der Lokalposse verbundene Konstanz der Chargen und Spielfächer gehen ab den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts Autoren wie O.F. Berg und David Kalisch an, die mit differenzierten Charakterrollen gegensteuern. Einschneidende Neuerungen sind der geistigen und sozialen Situation zwischen den Revolutionen von 1830 und 1848 zu verdanken. So lässt Christian Dietrich Grabbe in seinem Napoleon-Drama von 1831 seinen – im übrigen mit den geläufigen sprachlichen Klischees gekennzeichneten – jungen Berliner Juden immerhin als Frontsoldaten von Waterloo den Soldatentod für das Vaterland sterben; er präludiert damit die Nobilitierung, die Kalisch seinem Juden in der Revolutions-Posse Berliner auf Wache als regulärem und allseits anerkanntem Mitglied der Bürgerwehr zuteil werden lässt. Die künstlerische Gleichstellung, die Halévy der Rolle des Éléazar für die Grand Opéra einräumt (1835), wird noch im selben Jahrzehnt durch Heinrich Heine, im Jessica-Porträt seiner Galerie von Shakespeares Mädchen und Frauen (1839), sowie durch Julian Schmidt in einem Artikel in den Grenzboten (1848), jeweils mit Blick auf Shylock, weitergeführt. Das Rachemotiv wird dabei nicht mehr als charakterlicher Mangel des jüdischen Individuums, sondern psychohistorisch als Verfassung einer durch Jahrhunderte im christlichen Europa unterdrückten und diskriminierten Minderheit verstanden. Eine vielseitige charakterliche Vertiefung erfährt das Fach der Liebhaberin in Gestalt der schönen Jüdinnen in mehreren Dramen der Vormärzjahrzehnte. Nachdem mit Heinrich Marschners Rebecca in seiner Ivanhoe-Oper Der Templer und die Jüdin eine positive Frauenrolle geschaffen ist, rückt Grillparzers Die Jüdin von Toledo an die Seite seiner in gewissen Grundzügen analogen Frauengestalten der antiken Stoffkreise, Medea und Hero.23 Sie vertreten einen von Natur und Leben gleichermaßen gerechtfertigten Liebes- und Erfüllungsanspruch der Welt der Institutionen, der gesellschaftlichen und politischen Normensysteme, ohne dass ihre jeweiliger Partner, bzw. die männliche Instanz der Ordnung, dieser Radikalität gewachsen wäre und mit den Mechanismen der organisierten Weltverfassung brechen könnten. Dass Grillparzer mit der jüdischen Rolle – in exotistischer Ausstattung – zugleich den dramatischen Rahmen von Lope de Vegas christlich getragenem Reconquista-Stoff übernimmt, legt freilich den Verdacht nahe, dass auch sein Werk gegen antijüdische Anlagerungen nicht gefeit ist, zumal im Falle der Vaterfigur die Überblendungen mit den herkömmlichen Klischees mit Händen zu greifen sind. Immerhin zeigt das neue Format der Nebenrolle der Schwester Esther, der als Instanz der Reflexion und Rationalität wichtige Passagen zufallen, dass der Problemansatz von Grillparzers Tragödie – ähnlich dem Entwurf von Halévy –

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Konzeption und Entstehung des Stücks liegen rund drei Jahrzehnte vor der Veröffentlichung und Uraufführung.

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auch wichtige Signaturen der Zeit aufweist. Dasselbe gilt für Hebbels Judith (1840) mit der Thematisierung der Rolle der Frau in der Geschichte und der tiefgründigen Motivationsproblematik, die in alle Schichten zwischen gemeinschaftlich-ethischen und individuellen Komponenten reicht und in die tragische Aporie führt. Das Niveau, auf dem hier grundlegende Probleme der Zeit und der menschheitlichen Entwicklung an der Rolle einer Jüdin entfaltet werden, markiert den Abstand von allen einschlägigen Rollenklischees. Judith steht so in einer Reihe mit anderen Hebbelschen Figuren, die der Dialektik von Geschichte und Individuum unterliegen, d.h. die von dem, was sie geschichtlich bewirken, zugleich überrollt werden. Dass freilich auch bei diesem Stoff, mit der Zeichnung der Bethulier, nicht zuletzt mit der Geschichte vom Nichtvollzug der Hochzeitsnacht der jungfräulichen Witwe, reichlich die Anhaltspunkte für antijüdische Eintragungen gegeben sind, belegt unter anderem die Nestroysche Parodie, die nicht ohne Grund zunächst anonym veröffentlicht wurde. Es kennzeichnet den Aufbruchscharakter des im engeren Sinne als Vormärz zu bezeichnenden Jahrzehnts, dass nun auch die Rolle des Liebhabers, in kämpferischer und ideeller Akzentuierung, als jüdisches Individuum gestaltet wird: Karl Gutzkows ganz in der jüdischen Gemeinde Amsterdams im 17. Jahrhundert spielende Tragödie erhebt den Titelhelden von Uriel Acosta (1846) zum idealistischen Kämpfer für freie Religionsauffassung und – Praxis gegen die Orthodoxie und das traditionelle Regiment der Gemeinde. Vom »Märtyrerthum einer idealen Anschauung des Lebens« spricht Gutzkow selbst in einer späteren Vorrede in Bezug auf seinen jüdischen Helden.24 Diese breite Verankerung der Gestalt in einem kontroversen Thema der Vormärzzeit zeichnet sich auch in der allgemeinen Rezeption ab, etwa darin, dass kirchliche Instanzen gegen Aufführungen einzuschreiten suchen, weil sie entsprechende Liberalisierungstendenzen und Autoritätskritik im eigenen Bereich befürchten. Eine ähnliche Direktwirkung ist dem zweiten Drama der vierziger Jahre, das eine jüdische Hauptgestalt in neuer Beleuchtung zeigt, Albert Dulks Lea, nicht zuteil geworden. Mit seinem Stoff vom Hofjuden Joseph ›Jud‹ Süß Oppenheimer wird nicht nur dessen historische Rolle – gegenüber seiner Legende – thematisiert, sondern zugleich Grundlage und Berechtigung von Akkulturation, da sich der Held angesichts seiner Verurteilung mehr und mehr zu seinem jüdischen Herkommen und den traditionellen religiösen Bindungen bekennt.

VI Es ist nicht verwunderlich, dass diese ersten seriösen dramatischen Auseinandersetzungen mit der Situation des akkulturierten Judentums in den Jahren nach der Revolution von 1848 keine nachhaltige Rezeption auf den Bühnen 24

K. Gutzkow, in: Gutzkows Werke. Hg. von Reinhold Gensel, Berlin 1912, Bd. 3, S. 342.

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fanden. Zunächst wurden alle Räder zurückgedreht. Nestroys Hebbel-Parodie Judith und Holofernes spielt das Thema in die Darstellungsformen der Possenjuden zurück und denunziert das Wiener Judentum als Inbegriff all jener städtischen Kräfte, die in der Bedrängnis durch die Reaktion, das heißt während der Belagerung, die innere Stabilität der Stadt untergraben haben. Mit Wagners pseudonymer Publikation über das Judentum in der Musik (1850) wird eine antisemitische Diskussionsebene über die künstlerische Tätigkeit von Juden eröffnet und gleichsam salonfähig gemacht,25 wie sie bis dahin öffentlich nur in Ansätzen bestand. Wenig später fügt Gustav Freytag seiner Literatur- und Pressesatire Die Journalisten (1853) die Judengestalt Schmock hinzu, die, verdächtig nahe bei den alten Handlungsjuden angesiedelt, auf Jahrzehnte als Verlachfigur des Judentums sprichwörtlich geworden ist. Erst nach und nach geben sich andere Akzente zu erkennen. Die Wiener und Berliner Posse hebt teilweise das Niveau ihrer Judengestalten an, was aber nicht hindert, dass Gustav Raeder für die Leipziger Volksbühne in sein HandwerksburschenVaganten-Stück Robert und Bertram einen pointierten Akt über Geschäftsjuden und deren kulturelle Ambitionen einfügt. Er fällt so deftig aus und bewegt sich so genau auf den Wegen des populären Antijudaismus in Zeitschriften, Karikaturblättern und politischen Diskreditierungsstrategien, dass die NS-Verfilmung des Stoffes von 1939 (Regie: Hans Heinz Zerlett) daraus ein antisemitisches Propagandastück in possenhafter Verkleidung machen kann. Für die Nachmärz-Jahre gilt freilich, dass inzwischen Autoren und Theatermacher jüdischer Herkunft so stark mit eignen Belangen am Theaterleben der Zeit teilnehmen, dass die Probleme der Akkulturation, auf realistischer und milieubezogener Grundlage, in die Texte eingehen, so etwa in Salomo Hermann Mosenthals Deborah (1849), aus dem Josef Bohuslav Foerster später seine Oper Debora (1893) macht. Damit ist eine Richtung gewiesen, deren Bedeutung sich in einer Zeit, in der jüdische Theatermacher und Autoren eigene Unterhaltungstheater mit jüdischen Sujets betreiben, in der aber auch jüdische Theaterkünstler in verschiedensten Funktionen in den Theatern Geltung und Renommee erlangen, unter neuem Vorzeichen herausstellen wird. Das Aufkommen des rassischen Antisemitismus, seine europaweite Brisanz innerhalb der europäischen Nationalstaaten, findet in der Berliner Reichstagsdebatte 1880 ebenso sein Signal wie im Pariser Dreyfus-Prozess oder im Waidhofener Beschluss der östereichischen Burschenschaften. Diese radikale Infragestellung von Emanzipation und Akkulturation fordert die Reaktion des europäischen Judentums heraus und verleiht der jüdischen Erneuerungsbewegung, darunter auch dem politischen Zionismus, Dringlichkeit und Brisanz. Es versteht sich, dass im Rahmen dieser weitgespannten Bemühungen um eine jüdische Neuorientierung innerhalb der europäischen Staaten- und Nationen25

Vgl. dazu: Jens Malte Fischer: Richard Wagners ›Das Judentum in der Musik‹. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des europäischen Antisemitismus. Frankfurt a. M., Leipzig 2000.

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welt auch Kunst und Theater in der Reflexion großes Gewicht zugemessen werden. Bezeichnend für das Theater und seine Rollenmöglichkeiten ist eine Äußerung im ersten Jahrgang der als kulturzionistisches Organ des europäischen Judentums gegründeten Zeitschrift Ost und West, welche für jüdische Bühnenpräsenz eine neues Leitbild vorgeschlägt: Fabius Schach, der Autor, regt an, die bisherigen polaren Leitbilder Nathan und Shylock durch ein neues zu ersetzen, Scribes und Halévys Éléazar, der nun als Inbegriff einer historisch begründeten und mental geprägten jüdischen Distanz-Haltung zur europäischchristlichen Umwelt aufgefasst wird.26 Mehr und mehr schlägt sich diese neue Konstellation in der Art und Weise nieder, wie jüdische Autoren ihre Bühnenwerke konzipieren, indem sie die Probleme jüdischer Existenz im Europa der Jahrhundertwende aufgreifen. Prominentestes Werk der Vorkriegsjahre ist Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi, in dem eine bis dahin beispiellose Breite von jüdischen Berufs- und Lebensbildern aus der zeitgenössischen großstädtischen Wirklichkeit vorgestellt wird. Auf dem Hintergrund vielfach akzentuierter und gebrochener individueller Haltungen zeichnen sich auch die psychosozialen Folgen der angespannten Situation in den mentalen Profilen der Judengestalten ab. Diese dramatische Sicht aus der Innenperspektive wird umso eindrücklicher, je mehr man sich die breite Teilhabe und Gestaltungsenergie jüdischer Theaterkünstler klar macht, wie sie um die Jahrhundertwende in der öffentlichen Kulturwelt der Metropolen – vom repräsentativen bis zum Unterhaltungssektor – anzutreffen ist. Das Ineinander der Selbstverständlichkeit, mit welcher die ›Symbiose‹ gelebt wird, und der Infragestellung, die es an subtilen oder deftigen Invektiven nicht fehlen lässt, weist ein breites Spektrum an privaten und öffentlichen Tonlagen auf. Es dominiert in mancher Hinsicht die kulturelle Situation der Zeit und illustriert deren prekären Charakter. Besonders innerhalb der von Operette und Tingeltangel bestimmten Darstellungssektoren, etwa Wiens, gewinnt die Komik der exotisierenden bis karikierenden fremden Rollen besondere, immer wieder modische Anziehungskraft. Es lässt sich zeigen, wie damit auch neue jüdische Rollenvarianten entstehen, die mit Tanz- und Song-Stereotype ganz anderer Herkunft, vor allem der so genannten ›Niggertänze‹ und der diversen orientalisch inspirierten Tanzformen, überlappen. So entstehen Darstellungsformen, die später, im Zeichen zunehmender rassistischer Diskreditierung, an ideologischer Bedeutung gewinnen, bis hin zur pauschalen Abwertung der Republikzeit nach 1918, als einer »jüdisch-negroiden Epoche«.27 26 27

Fabius Schach: Das jüdische Theater und seine Geschichte. In: Ost und West, Jahrgang 1, 1901, Heft 5, S. 348. Von der »jüdisch-negroiden Epoche« sprach der deutschnationale Abgeordnete Koch am Ende der Weimarer Republik in der Diskussion um die Berliner KrollOper. Vgl. dazu: J.M. Fischer: »›Die jüdisch-negroide Epoche‹. Antisemitismus im Musik- und Theaterleben der Weimarer Republik«. In: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Theatralia Judaica. Emanzipation und Antisemitismus als Momente der Theatergeschichte. Von der Lessingzeit bis zur Shoah. Tübingen 1992, S. 228–243.

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Diese theatrale Vielstimmigkeit des Vorkriegsjahrzehnts bezüglich der Gestaltung von Jüdischem ist immer wieder irritierend. Während Professor Bernhardi in Deutschland uraufgeführt, in Österreich zunächst aber verboten wird, geht Richard Strauss’ Salome, deren Titelpartie zwar die schöne Jüdin in einem nachsymbolistischen Exotismus neutralisiert, deren so genanntes Judenquintett aber alle herkömmlichen Stimmextravaganzen der Judenrollen aufbietet, in dieser Hinsicht ohne Probleme über die Bühne, während allenfalls der Erotismus des Stückes Schwierigkeiten macht. Zur Debatte steht aber auch ein neues Drama, das den Impulsen jüdischer Selbstfindung im Zeichen einer Rückversicherung über Herkommen und kulturelles Erbe Rechnung tragen soll. Richard Beer-Hofmanns programmatischer Versuch unter dem Titel Jaákobs Traum wird aber nach langer Erarbeitungszeit erst 1918 erscheinen. Zu diesem Zeitpunkt, als mit dem Ende des Weltkriegs und der Ausrufung der Republiken sich eine neue Epoche ankündigt, sind jüdische Künstler in allen Bereichen des Theaterschaffens bereit und entschlossen, die Themen des Zusammenlebens, der Symbiose, wie auch der jüdischen Erneuerung für die Bühnen zu thematisieren. Nachdem Stefan Zweig mit dem Stoff aus dem alttestamentlichen Buch Jeremias bereits eine universale Botschaft von Gewaltverzicht und Friedensordnung entworfen hat, legt Ernst Toller sein programmatisches Stationendrama Die Wandlung vor, das als Manifest einer neuen jüdisch-deutschen Gemeinsamkeit auf der Basis von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit gelten kann. Mit der Uraufführung eröffnet er 1919 eine Sequenz von Theaterwerken jüdischer Autoren, welche die Geschichte der zwanziger und dreißiger Jahre begleitet. Diese Serie widmet sich von Jahr zu Jahr, jeweils den konkreten Umständen gemäß, nicht nur dem Bestand von Demokratie, Recht und sozialer Zukunft, sondern ebenso den Möglichkeiten und der Gefährdung des deutschjüdischen Zusammenlebens im Rahmen einer europäischen Staatenordnung. Damit ist als Ziel die gemeinsame Abwehr der rassistischen Bedrohung, auf sozialer und mentaler wie auf politischer und ideologischer Ebene, verbunden. Diese Intentionen erreichen ihren Höhepunkt mit den auf die Ästhetik der ›neuen Sachlichkeit‹ folgenden Formen des Zeitstücks.28 In den kritischen Jahren nach der Weltwirtschaftskrise beschwören so Hans-José Rehfisch und Wilhelm Herzog mit der Dramatisierung der Affäre Dreyfus die Gefahr einer erneuten Militarisierung, die mit einer radikalen Diskriminierung der Minderheit einhergeht. Walter Mehring gestaltet in Der Kaufmann von Berlin (1929) das so genannte Scheunenviertel-Pogrom des Jahres 1923, eingebettet in Inflation und illegale Reichswehr-Organisation, als Menetekel erneuter Umsturz28

In der sog. Zeitoper jener Jahre spielen hingegen jüdische Figuren keine explizite Rolle – Anklänge mag man allenfalls in Brechts Peachum aus der Dreigroschenoper erkennen; an ihre Stelle tritt in gewissem Sinne der schwarze ›Jazz‹-Geiger Jonny in Ernst Kreneks Oper Jonny spielt auf (1927), die den heftigen Widerspruch der NSRassisten hervorrief.

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versuche, die aus der Krise von 1929 hervorgehen könnten. Paul Kornfeld bietet mit seinem Jud Süß (1930) ebenfalls ein historisches Paradigma an, nachdem sich in der Gegenwart neue Verfahren der Ausgrenzung von SündenbockMinderheiten denken lassen. Dass gleichzeitig die Fragen einer jüdischen Erneuerung im kulturzionistischen oder politischen Sinne eine besondere Dringlichkeit erlangen, ist offensichtlich. Die verschiedenen Bühnenwerke von Arnold Schönberg, das 1927 abgeschlossene Drama Der biblische Weg und das zunächst als »Oratorium« bezeichnete Libretto von Moses und Aron (1928), geben ebenso Einblick in die schöpferischen Anforderungen, denen sich die Künstler damit stellen, wie Else Lasker-Schülers Drama Arthur Aronymus und seine Väter, welches historisch, aus der Perspektive von »Vaters Kinderjahren«, die Situation der jüdischen Minderheit im Rahmen der christlichen Mehrheitskultur subtil nachzeichnet (1932). Ab Januar 1933 findet die Weiterführung der Gestaltung von Judenrollen, wie sie sich in der Republikzeit theatral entwickelt hat, innerhalb Deutschlands nur noch im Theater des Jüdischen Kulturbunds statt, der auf die Eröffnung mit Nathan der Weise 1933 im nächsten Jahr die Inszenierung von Zweigs Jeremias folgen lässt und bis 1941 in dieser Richtung weiter arbeitet. Sieht man von Werken ab, die – wie Gertrud Kolmars Robespierre-Stück Cécile Renault in der Schublade bleiben müssen, so ist die weitere Produktion nur in den Ländern möglich, in denen die Emigranten Zuflucht und an der Seite der jeweiligen literarischen und künstlerischen Schicht des Gastlandes Publikations- oder Aufführungsmöglichkeiten finden. Franz Werfels Emigranten-Komödie Jakobowsky und der Oberst gestaltet zwischen Realistik und Komödien Charme ein denkwürdiges Porträt des deutschen Juden auf dem gefahrvollen Weg ins Exil. Später entwirft er, zusammen mit Max Reinhardt und Kurt Weill, die theatrale Antwort auf das weltweit sich vollziehende jüdische Galuth-Schicksal in The Eternal Road/Der Weg der Verheißung. Else Lasker-Schüler widmet dem NS-Staat ihre virtuose Satire, indem sie zugleich Exilerfahrung und jüdische Erneuerung thematisiert und in der Titel-Doppelung von IchundIch verdichtet. Nelly Sachs konzipiert mit Eli noch vor Kriegsende das ganz aus jüdischer Traditionsmotivik entfaltete, lyrische Klagedrama über die Shoah.

Sieghart Döhring

Väterliche Liebe und Christenhass Die Rollengestalt des Éléazar in Halévys La Juive

Die historische Oper konnte sich jahrzehntelang als musikdramatische Leitgattung behaupten, weil sich in ihr Musiktheater als künstlerischer Schmelztiegel der bewegenden Fragen der Geschichte, ihrer gesellschaftlichen und religiösen Kontroversen artikulierte. Dabei ging von der Historie mitnichten eine distanzierende Wirkung aus, vielmehr fungierte sie, indem sie das Geschehen ins Exemplarische rückte, als Brennspiegel aktueller Ideen. So traf Eugène Scribe und Fromental Halévys Oper La Juive, als sie am 23. Februar 1835 in der Pariser Opéra (damals Académie Royale de Musique) erstmals auf der Bühne erschien,1 mit der Thematisierung religiöser Intoleranz am Verhältnis zwischen Juden und Christen (ein Jahr später sollten am gleichen Ort Meyerbeers Les Huguenots die nämliche Frage am Verhältnis von Katholiken und Protestanten exemplifizieren) den Nerv einer Epoche, in der von fortschreitender Judenemanzipation einerseits, von einem sich dazu als Gegenbewegung formierenden Antisemitismus andererseits höchst widersprüchliche gesellschaftliche und politische Signale ausgingen.2 Dies gilt auch für das Werk selbst, dessen beeindruckende jüdische Couleur nicht frei von antisemitischen Stereotypen ist, zumal in der Charakterzeichnung des Protagonisten Éléazar. Gerade hier sollte man den theatralen Aspekt keinesfalls ausblenden, das Streben der Autoren – und in diesem Falle auch des Interpreten, der sich in den Kompositionsprozess direkt einschaltete – an der Schaffung bühnenwirksamer Rollen und Situationen selbst um den Preis psychologischer Schlüssigkeit. Ausschlaggebend für den breiten Erfolg der Uraufführung waren denn auch in erster 1

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Maßgebliche Quelle ist die Kritische Ausgabe der Partitur: Fromental Halévy: La Juive […]. Hg. von Karl Leich-Galland. 2 Bde., Kassel-Weinsberg 1999/2005; vgl. auch: La Juive. L’Avant-scène Opéra, Nr. 100. Paris 1987 (mit Orginallibretto und textlich-musikalisch kommentiert von Karl Leich-Galland). Zur Entstehung und Rezeption der Oper in ihrem gesellschaftlichen Kontext vgl. die grundlegenden Untersuchungen von: Diana R. Hallman: The French Grand Opera ›La Juive‹ (1835). A Socio-Historical Study. 2 Bde., Phil. Diss., City University of New York 1995. Dies. Opera, Liberalism and Antisemitism in Nineteenth-Century France. The Politics of Halévy’s ›La Juive‹. Cambridge-New York 2002. Dies. »Halévy, judaism and La Juive«. In: Francis Claudon, Gilles de Van, Karl LeichGalland (Hg.): Actes du colloque Fromental Halévy, Paris, Novembre 2000. Saarbrücken 2003, S. 117–130.

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Linie die Besetzung, die gesanglich wie darstellerisch keine Wünsche offen ließ (Éléazar: Adolphe Nourrit, Rachel: Marie-Cornélie Falcon, Brogni: Nicolas-Prosper Levasseur, Eudoxie: Julie Dorus-Gras, Léopold: Marcelin Lafont), sowie die ebenso prächtige (Einzug des Kaisers im I. Akt) wie imaginative Mise en Scène (Hinrichtungsszene im V. Akt), für die Edmond Duponchel verantwortlich zeichnete.3 Dass man hier von Seiten der Opéra in puncto Besetzung und Ausstattung aus dem Vollen schöpfte, hängt gewiss auch damit zusammen, dass man dem Komponisten gegenüber eine begründete Vorsicht an den Tag legte. Fromental Halévy, geboren 1799 in Paris als Sohn eines aus Fürth in die französische Hauptstadt ausgewanderten deutschen Juden, hatte nach Kompositionsstudien am Conservatoire u.a. bei Luigi Cherubini und dem Gewinn des Rompreises eine anerkannte Stellung im Pariser Musikleben erworben: als Professor für Harmonielehre am Conservatoire, als maestro al cembalo am Théâtre-Italien sowie als chef de chant an der Opéra. Auch als dramatischer Komponist war er erfolgreich, jedoch vor allem an der Opéra-Comique und dem Théâtre-Italien, an der Opéra lediglich mit einem Ballett (Manon Lescaut, 1830, Choreographie: Jean-Pierre Aumer) und einer Ballett-Oper (La Tentation, 1832, zusammen mit Casimir Gide). Auf dem Felde der großen Oper verfügte er noch über keinerlei Erfahrungen, und diese Tatsache begrenzte verständlicherweise seinen Einfluss innerhalb des aus hochkarätigen Spezialisten bestehenden Produktionsteams, das die Opéra für La Juive bereitgestellt hatte. Jedenfalls besaß er in diesem Kreis nicht im Entferntesten die Gestaltungsmöglichkeiten eines Meyerbeer, der den Entstehungsprozess seiner Opern in allen Bereichen von Musik, Text und Szene durchgehend konzeptionell steuerte und unabhängig genug war, sein Werk auch zurückzuziehen, wenn ihm dessen adäquate Realisierung nicht gewährleistet erschien (so geschehen mit Les Huguenots fast zeitgleich zur Arbeit an La Juive). Insbesondere gegenüber Scribe, dem unbestritten führenden französischen Librettisten der Zeit, gab es für Halévy Grenzen der Einflussnahme, sofern er überhaupt Willens gewesen sein sollte, diese zu testen. Dass Scribes Text, ohnedies ein ›Werkstatt‹-Produkt, im Zuge des Kompositionsprozesses sukzessive weiterbearbeitet wurde – in diesem Falle auch durch Halévys Bruder Léon4 und teilweise auch durch Adolphe Nourrit, den Darsteller des Éléazar5 – war gängige Praxis. Allerdings konnten dadurch grundlegende sprachliche und dramaturgische Schwächen nicht behoben werden. So hatte es sich der mit Arbeit überlastete Scribe vor allem in den Ensembles vielfach dadurch leicht gemacht, dass er verschiedenen Personen oft denselben, lediglich in den Per3 4 5

Zum Presseecho der Uraufführung vgl.: Karl Leich-Galland (Hg.): La Juive. Dossier de presse parisienne (1835). Saarbrücken 1987. Léon Halévy: F. Halévy. Sa vie et ses œuvres. Récits et impressions personnelles – simples Souvenirs. Paris 1862, 21863, S. 22–27. Louis Quicherat: Adolphe Nourrit. Sa vie, son talent, son caractère, sa correspondence. Paris 1867, Bd. 1, S. 165–178.

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sonalpronomen angepassten Text zuordnete, zum Schaden ihrer individuellen Charakteristik. In der Personen- und Rollenkonstellation übernahm er zudem das Modell von Aubers La Muette de Portici (1828) und mit ihm das Problem einer weitgehend privaten Motivation des historischen Konflikts.6 Die nämlichen Schwächen wiesen auch Scribes Libretti für Meyerbeers historische Opern auf, freilich nur in den ersten Entwürfen und solange der Komponist nicht selbst auf ihre diesbezügliche Umgestaltung Einfluss genommen hatte. Für La Juive ist eine solche Initiative ausgeblieben, so dass die Privathandlung und der Ideenkonflikt auch im fertigen Werk nur unvollkommen miteinander verbunden erscheinen: Jude wie Christ agieren auch als Repräsentanten ihrer Religionen vorwiegend aus der Emotionalität ihrer Väterrollen; Éléazar, der einst von Brogny verfolgt und mit dem Bann belegt wurde, rächt sich an diesem, indem er ihm die Identität seiner Tochter erst im Augenblick ihres Todes offenbart. Diese ›Enthüllungsdramaturgie‹ mit einem Dénouement, das mit dem Schluss des Stücks zusammenfällt, funktioniert als solche auch unabhängig vom Antagonismus Christentum-Judentum und könnte auf historischer wie privater Ebene auch ganz anders motiviert werden, man denke etwa an Verdis Trovatore (1853). In La Juive ist es der Machtapparat der Kirche, dem die Unschuldigen zum Opfer fallen, attestiert vom Beifallsgeheul eines pogromsüchtigen Mobs. Die Erfahrung von dessen unversöhnlicher Feindschaft gegenüber den Juden gibt denn auch letztlich den Ausschlag für die Entscheidung Éléazars, die geliebte Ziehtochter seiner Rache zu opfern und in den Märtyrertod zu schicken. Die lediglich lockere Verbindung zwischen Stoff und Dramaturgie spiegelt sich in der Wahl von Ort und Zeit der Handlung. In einer frühen Phase der Planung war dafür das indische Goa unter portugiesischer Besetzung zur Zeit der Herrschaft der Inquisition vorgesehen gewesen. Die Verlegung nach Konstanz zur Zeit der Eröffnung des berühmten Konzils (1414–1418) sollte Gelegenheit geben zu ausgedehnten Massenszenen und üppiger theatraler Prachtentfaltung im architektonischen Ambiente einer spätmittelalterlichen Stadt, was die Direktion der Opéra denn auch ausgiebig nutzte.7 Historische Ungenauigkeiten, wie etwa den Einzug des ›Kaisers‹ im Finale des I. Aktes (tatsächlich wurde Sigismund erst 1433 gekrönt) nahm man als genretypisch in Kauf, sofern sie – wie hier – zur Verstärkung der szenischen und musikalischen Couleur beitrugen. Schwerer wiegt der Einwand, dass die Thematik des Konstanzer Konzils – das Kirchenschisma – mit dem Ideenkonflikt der Oper rein gar nichts zu tun hat. Warum Scribe die Wiederbegegnung von Éléazar (jetzt ein reicher Goldschmied) und Brogni (jetzt Kardinal und Präsident des 6

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Auf die dramaturgischen Beziehungen zwischen beiden Opern verweist Maria Birbili: ›Opere senza amore‹ und die Attraktion des Politischen (Diss. FU-Berlin 2006; Druck in Vorb.). Arnold Jacobshagen: »Analysing ›mise-en-scène‹. Halévys ›La Juive‹ at the Salle Le Pelletier«. In: Mark Everist/Annegret Fauser (Hg.): Stage Music and Cultural Transfer: Paris 1830–1914. Chicago 2007 (im Druck).

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Konzils) nach ihren früheren traumatischen Erfahrungen in Rom gerade in der Konzilstadt Konstanz stattfinden lässt, wird erst verständlich vor dem Hintergrund des französischen Antiklerikalismus, der nach dem Ende der Restaurationsepoche und dem Beginn der Julimonarchie in der Literatur wie in der Kritik einen neuen Höhepunkt erlebte. Geistiger Bezugspunkt war dabei Voltaires Religions- und Kirchenkritik, die sich in besonderer Weise am Konstanzer Konzil entzündet hatte, das durch die ›Ketzerverbrennungen‹ von Johann Hus und Hieronymus von Prag zum Symbol für die blutige Gewaltherrschaft der Kirche geworden war.8 Voltaires Gedanken waren während der 1830er Jahre in Frankreich Gegenstand breiter öffentlicher Diskussionen, die vielfach auf die literarischen und dramatischen Genres abstrahlten und in deren Kontext auch La Juive zu sehen ist.9 Beiläufige Anspielungen darauf finden sich auch im Text der Oper selbst, so wenn Albert gegenüber Léopold die Verurteilung der »hérésie« von »Jean Huss« als Aufgabe des bevorstehenden Konzils bezeichnet (I/1), oder wenn der Ausrufer (ebenfalls I/1) und Eudoxie von Léopold als dem »Sieger über die Hussiten« (»des Hussites vainqueur«; II/2) sprechen. Im Verlauf der Oper wird dieser Faden aber nicht wieder aufgenommen; anstelle von Hus und Hieronymus übernehmen Éléazar und Rachel als Juden die Rollen der ›Ketzer‹, über die das Konzil – historisch inkorrekt, aber symbolisch zutreffend – das Todesurteil fällt. Interpretiert man La Juive auf diese Weise im Sinne der zeitgenössischen antiklerikalen Denktradition, so kann man die Oper in der Tat, wie es in einer Rezension heißt, »un véritable petit chef-d’œuvre dans le genre voltairien« nennen.10 Eine derartige Sichtweise setzt allerdings voraus, dass man zahlreiche weitere Aspekte des komplexen Ideenzusammenhangs der Oper ausblendet. So folgt aus der Anklage des Verfolgers nicht zwangsläufig die Parteinahme für den Verfolgten. Vielmehr hat es der wendige Scribe meisterhaft verstanden, in der Darstellung des Jüdischen unterschiedliche Akzente zu setzen und widersprüchliche gesellschaftliche Befindlichkeiten – die Akzeptanz des Juden als eines gleichberechtigten Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft einerseits, seine Ausgrenzung aufgrund nach wie vor virulenter Vorurteile gegenüber dem vermeintlich Fremden andererseits – subtil auszubalancieren.11 Darüber hinaus bediente sich Scribe in der Charakterisierung der

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Als kanonischer Text zu dieser Thematik galt Voltaires ›Essay sur l’histoire générale et sur les mœurs et l’esprit des nations depuis Charlemagne jusqu’à nos jours‹. Genf 1756. Ausführliche Belege dazu bietet: Hallman, Kapitel: »The Council of Constance and the Voltairean critique«. In: Opera, Liberalism and Antisemitism in NineteenthCentury France. The Politics of Halévy’s ›La Juive‹, a.a.O., S. 108–149. So in La Gazette de France vom 27. Februar 1835. Zitiert nach Leich-Galland (Hg.): La Juive. Dossier de presse parisienne (1835), a.a.O., S. 50–60, hier: S. 50. Als politisch-gesellschaftliche Fixpunkte der gegensätzlichen Tendenzen in den ersten Jahren der Julimonarchie nennt Hallman die 1831 verabschiedete »loi du culte

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beiden Protagonisten gängiger Topoi der Judendarstellung: des ›bösen‹ Vaters und seiner ›schönen‹ Tochter, für die Christopher Marlowe (The Jew of Malta, ca. 1590: Barabas-Abigail), William Shakespeare (The Merchant of Venice, ca. 1600: Shylock-Jessica), sowie in jüngster Zeit Walter Scott (Ivanhoe, 1819: Isaac-Rebecca) attraktive Vorlagen geliefert hatten. Shakespeares Stück war 1827 durch das Pariser Gastspiel einer englischen Truppe, Ivanhoe durch das gleichnamige Pasticcio Antonio Pacinis nach Musik Rossinis ein Jahr zuvor im Odéon zu frischen Theaterehren gekommen.12 Während das positive Bild der ›schönen Jüdin‹ im Wesentlichen feststand, erfuhr das negative ihres männlichen Counterparts gerade in diesen Jahren eine Veränderung und Vertiefung, und zwar durch die romantische Umdeutung des Shylock ins schicksalhaft Tragische. Aus dem eindeutig bösen oder komischen wurde ein gebrochener, moralisch gespaltener Charakter, der eher Mitleid als Abscheu erregte. Das neue Shylock-Bild hat in Éléazar seine direkte Entsprechung, nur dass hier nach den Wirkungsgesetzen des musikalischen Theaters die Gegensätze noch plakativer herausgearbeitet und ins Extreme übersteigert erscheinen. In dieser Widersprüchlichkeit der Figur findet der problematische Judendiskurs von Scribes und Halévys Oper seine adäquate musikdramatische Umsetzung. In allen fünf Akten von La Juive ist Éléazar szenisch präsent, jedoch mit unterschiedlicher dramaturgischer Gewichtung. Besondere Bedeutung kommt seinen Auftritten im I., IV. und V. Akt zu, insofern dort in den Begegnungen mit seinem Widerpart Brogni die katastrophische Vorgeschichte ihrer Beziehung sukzessive enthüllt wird, um in eine neuerliche, nunmehr endgültige Katastrophe zu münden. Eine Begegnung der beiden Väter gibt es auch im III. Akt, doch ist sie hier eingebettet in eine Massenszene und ohne retrospektive Momente. Die musikalische Gewichtung der beiden Partien ist jeweils höchst unterschiedlich, worin sich eine dramatische Absicht erkennen lässt: Der I. und V. Akt präsentieren Éléazar ausschließlich aus der Handlung heraus in Pantomime, Rezitativ und Ensemble, ersterer mit einer Arie Brognis als emotionalem Gegen- und Ruhepol; der IV. Akt führt beide zusammen in einem ausladenden Duett, auf den als dramatische Fortsetzung und affektiver Höhepunkt eine große den Akt beschließende Arie des Éléazar folgt. Dass der Protagonist bei seinem ersten Auftritt nicht mit einer Arie eingeführt wird, stellte in den 1830er Jahren längst kein Novum mehr dar, dennoch überrascht hier das Ausmaß seiner musikalischen und auch dramatischen Zurücknahme. Scribe und Halévy geben in La Juive ein neuerliches Beispiel für jene ausgefeilte Introduktionsdramaturgie, wie sie von Rossini und Meyerbeer zunächst für die italienische Oper entwickelt und sodann auf die neue Grand opéra über-

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israélite« und die »Affaire Damas« von 1840 (Halévy, judaism and ›La Juive‹, a.a.O., S. 118). Zum Kontext vgl.: Hallman, Kapitel: »Éléazar and Rachel as literary stereotypes«. In: Opera, Liberalism and Antisemitism in Nineteenth-Century France. The Politics of Halévy’s ›La Juive‹, a.a.O., S. 210–252.

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tragen worden war und deren Kennzeichen die Exposition der gesellschaftlichpolitischen Grundthematik in konzentrierter Form bildet. Dies ist hier der Umschlag von Religiosität in Gewalttätigkeit, musikalisch repräsentiert durch den abrupten Wechsel vom Orgelklang und »Te deum« in der Kirche zum Pogrom des Pöbels auf der Straße, der sich an den aus Éléazars Werkstatt vernehmbaren Arbeitsgeräuschen entzündet. (Dass ein Jude in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kirche ein Geschäft unterhält, gehört zu den historischen Ungereimtheiten des Stücks.13) Der harte Schnitt zwischen den beiden Klangebenen konstituiert eine dialektische Beziehung zwischen den von ihnen repräsentierten Inhalten als Profanierung des Heiligen und Sakralisierung der Gewalt. Damit wird auf die Judenverfolgung gleich zu Beginn in bündiger Weise angespielt, und die unmittelbare Reaktion der Betroffenen ist Angst, der Rachel bei ihrem ersten Auftritt an der Seite des stummen Éléazar in bewegenden Worten Ausdruck verleiht.14 Als bald darauf beide angesichts einer inzwischen zunehmend feindseligen Menschenmenge dem Stadtvogt Ruggiero zum Verhör vorgeführt werden, erhebt Éléazar erstmals die Stimme, wenn er auf die Frage, wie er es wagen könne, an einem Festtag zu arbeiten, in provokativer Weise seine jüdische Identität herausstellt und aus ihr ein eigenes Recht ableitet: »Und warum nicht? Bin ich nicht ein Sohn Israels und hat der Gott der Christen mir zu befehlen?« (»Et pourquoi pas? Ne suis-je pas fils d’Israël et le Dieu des Chrétiens m’ordonne-t-il à moi?«). Das »heilige Gesetz« (»sainte loi«) der Christen, auf das Ruggiero verweist, habe ihm nur Unglück gebracht: »Und warum sollte ich es lieben? Euretwegen habe ich auf dem Scheiterhaufen meine Söhne zugrunde gehen sehen, während sie nach mir ihre Arme ausstreckten!« (»Et pourquoi l’aimerais-je? Par vous sur le bûcher et me tendant les bras j’ai vu périr mes fils!«). Der schneidende Ton von Éléazars Worten findet seine adäquate musikalische Entsprechung im Deklamationsmelos des Rezitativs. Er wird auch beibehalten in der anschließenden Begegnung mit Brogni, der beim Verlassen der Kirche nach dem »Te deum« der Streitenden gewahr wird und sogleich die Befragung des Delinquenten übernimmt. Als Éléazar, vom Kardinal dazu aufgefordert, seinen Namen nennt, kommt dieser ihm bekannt vor. Der Jude hilft seiner Erinnerung auf: Zusammengetroffen waren 13

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Hans Ulrich Becker (»Dieu de nos pères – traces du passè dans l’œuvre de Fromental Halévy«. In: Actes du colloque Fromental Halévy, a.a.O., S. 1–8, hier: S. 5) sieht darin einen Reflex auf die Herkunft von Halévys Familie aus Fürth, wo die Juden nicht in einem Ghetto lebten. Auf die Introduktion als dramaturgischen Schlüssel für die thematische Idee der Oper verweist auch Ulrich Schreiber (Opernführer für Fortgeschrittene. Eine Geschichte des Musiktheaters. Das 19. Jahrhundert. Kassel 1991, S. 378): »Da ist in wenigen Minuten die Musikbühne zum Welttheater geworden […]« Vgl. dazu auch, mit ausdrücklichem Bezug auf Schreiber: Gerhard Scheit: Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus. Freiburg im Breisgau 1999, S. 393ff.

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beide einst in Rom, wo Brogni – damals noch weltlicher Beamter – seine Frau und seine Tochter durch den Tod verloren hatte,– für ihn der Anstoß, die geistliche Laufbahn einzuschlagen. Was Éléazar freilich verschweigt, ist die Tatsache, dass er Brognis Tochter damals das Leben gerettet, sie unter dem Namen Rachel als seine eigene Tochter angenommen und im jüdischen Glauben erzogen hat. Er beschuldigt Brogni, ihn aus Rom verbannt zu haben, aber dieser, durch die Konfrontation mit der für ihn traumatischen Vergangenheit tief bewegt, reagiert auf die Provokation nicht mit Zorn, sondern mit Milde: Er begnadigt Éléazar, bietet ihm seine Freundschaft an und bittet ihn um Vergebung, sollte er ihn beleidigt haben, doch der Jude weist ihn brüsk zurück: »Niemals!« (»Jamais!«), – im Uraufführungslibretto noch mit dem Zusatz: »Nein, niemals Ver-gebung den Christen, die ich hasse!« (»Non, jamais de pardon aux chrétiens, que je hais!«).15 Freilich ist auch ohne diese Passage das Bild Éléazars als eines unversöhnlichen Gegners der Christen unmissverständlich gezeichnet, ebenso wie dasjenige Brognis als eines menschenfreundlichen Weisen. Diesen Gegensatz der Charaktere vertieft die nun folgende Cavatine Brognis (»Si la rigeur et la vengeance«) mit der er in feierlichem Sarastro-Ton für »pardon« und »clémence« plädiert, während Éléazar in einem A-parte Rache an den Christen fordert und jede Verbindung zu ihnen ablehnt (»Je garde en mon cœur la vengeance, point d’alliance entre eux et moi«). Der die Umstehenden überraschende konziliante Umgang des Kardinals mit dem »Ketzer«, als Folge der ihn aufwühlenden Erinnerungen psychologisch glaubhaft, wirkt im dramatischen Kontext tendenziös und dürfte auch gerade so gemeint gewesen sein: Dem Christen wird die Fähigkeit zur Läuterung zugebilligt, dem Juden nicht. Am Schluss des I. Aktes kommt es zu einer neuerlichen Konfrontation Éléazars und Rachels mit der Bevölkerung, als die beiden im Trubel der den Einzug des Kaisers erwartenden Menge auf die Stufen der Kirche abgedrängt werden, – ein Tabubereich für Juden. Aus ihrer bedrohlichen Lage befreit sie der Jude ›Samuel‹, tatsächlich der mächtige Reichsfürst Léopold, der sich mit dieser falschen Identität Zugang zum Hause Éléazars verschafft und die heimliche Liebe Rachels gewonnen hat; er gibt sich dem Anführer der kaiserlichen Garde vertraulich zu erkennen und erwirkt so deren Schutz für die Bedrängten. Das allgemeine Erstaunen über die unerklärliche Wende weicht schnell gespannter Erwartung angesichts des sich nähernden Festzuges, während Éléazar im Überschwang der Freude über Rachels Rettung seinen Vatergefühlen emphatischen Ausdruck verleiht: O ma fille chérie, Viens, Rachel, mon seul bien. Mon trésor, mon amour. 15

Zur komplizierten Quellenlage für diese Passage vgl. Hallman: Opera, Liberalism and Antisemitism in Nineteenth-Century France. The Politics of Halévy’s ›La Juive‹, a.a.O., S. 172.

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Durch die musikalische Ausformung mittels einer subtil chromatisierten Melodik setzt die Phrase im Kontext der brillanten Finalstretta, wie Carl Dahlhaus einfühlend festgestellt hat, einen ambivalenten Ausdrucksakzent gefährdeter Leidenschaftlichkeit,16 der in dieser Bedeutung bekräftigt wird mit der späteren Wiederaufnahme durch Rachel, die mit derselben musikalischen Wendung ihre Ratlosigkeit angesichts des »Geheimnisses« (»secret«) ihrer Rettung artikuliert. So wird denn, nachdem zuvor ausgiebig der Christenhass als Konstante von Éléazars Charakter vorgeführt worden ist, am Schluss des I. Aktes die Liebe zu seiner Ziehtochter als nicht minder bestimmende Triebkraft seiner gespaltenen Natur zur Anschauung gebracht. Der im Hause Éléazars spielende II. Akt enthält an seinem Beginn mit der Darstellung des Seder-Mahles im Rahmen des Pessach(Passah-)festes den direktesten Bezug auf ›Jüdisches‹ innerhalb der Oper. Dass es sich tatsächlich um jenes Fest handelt, mit dem die Juden alljährlich den Auszug der Israeliten aus Ägypten feiern – als kollektive Erinnerung wie als Verheißung der Beschützerrolle ihres Gottes für sein Volk – ergibt sich zweifelsfrei aus einer Bemerkung Rachels im I. Akt, die den Geliebten für den Abend zur Feier der »pâque sainte« ins Haus ihres Vaters einlädt, wie aus dem Ablauf des Geschehens selbst, insbesondere der Verteilung der »mazzôt« (der ungesäuerten Brote) durch den der Feier präsidierenden Éléazar. Seine Apostrophierung als ›Judenoper‹ – ob in bewundernder oder polemisierender Absicht – verdankt das Werk vor allem dieser in der Geschichte des Musiktheaters singulären Szene von atmosphärischer Dichte, die den fremdartigen Zauber einer alttestamentlichen Patriarchenwelt beschwört.17 Für die musikalische Umsetzung haben sich direkte Zitate jüdischer Musik bislang nicht nachweisen lassen; offenbar verfuhr Halévy hier nach dem Grundsatz der herrschenden Couleurlocale Ästhetik, nämlich ein Milieu bzw. eine Epoche mit zeitgenössischen Kunstmitteln symbolisch zu imaginieren. So wies er im Entr’acte und während der gesamten Szene der Harfe (dem Instrument Davids) die Führungsrolle zu und gestaltete die erste vokale Nummer (Prière, im Autograph Cantique: »O Dieu, Dieu de nos pères«) in responsorischer Satzstruktur mit Éléazar als ›Vorsänger‹, einer Struktur, die auch in der zeitgenössischen Synagogenmusik, darunter Werke von Halévy, gängig war.18 Das folgende Solo Éléazars (»Si tra16 17

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Carl Dahlhaus: Die Musik des 19. Jahrhunderts (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 6). Wiesbaden-Laaber 1980, S. 107. Eine an der Uraufführungsinszenierung orientierte Darstellung dieser Szene findet sich im Juive-Kapitel von Philarète Chasles. In: Les Beautés de l’Opéra, ou chefs d’œuvre lyriques illustrés par les premiers artistes de Paris et de Londres sous la direction de Giraldon, avec un texte explicatif rédigé par Théophile Gautier, Jules Janin et Philarète Chasles. Paris 1845. Zu Details vgl.: Ruth Jordan: Fromental Halévy. His Life and Music 1799–1862. London 1994, S. 204. Hallman: Opera, Liberalism and Antisemitism in NineteenthCentury France. The Politics of Halévy’s ›La Juive‹, a.a.O., S. 177–180; Dies. Halévy judaism and ›La Juive‹, a.a.O., S. 121ff. Notenbeispiele: S. 126–130.

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hison ou perfidie… Et vous tous, enfants de Moїse«) sowie seine in der gedruckten Partitur gestrichene Cavatine (»Dieu, que a voix tremblante«) halten sich melodisch und satztechnisch an den modernen Opernstil, wie überhaupt der gesamte dreisätzige Komplex rollenspezifisch als ›Szene und Arie‹ des Éléazar angelegt ist. Auch im Rahmen der religiösen Feier zeigt Éléazar Züge abweisender Strenge, so wenn er gegen »Verrat« und »Treulosigkeit« (s.o.) Gottes Zorn heraufbeschwört. Natürlich reflektiert diese Passage die allgemeine historische Situation der Juden als Verfolgte und zielt darüber hinaus auf den Betrüger Léopold, der sich als ›Samuel‹ ebenfalls im Kreis der Feiernden befindet (dessen Identität freilich nur der Zuschauer kennt), gleichwohl bekräftigt sie das bisherige Bild Éléazars als eines kompromisslosen Streiters für seinen Glauben. Das nun folgende Trio (Prinzessin Eudoxie erscheint, um für ihren Bräutigam Léopold eine wertvolle Kette zu erstehen, die ihr der Goldschmied zu einem überhöhten Preis verkauft: »Tu possèdes, dit-on«) fügt dem Bild Éléazars einen weiteren, besonders unsymphatischen Zug hinzu: Habgier. Dass Scribe sich nicht zu schade war, dieses abgegriffene Klischee der Judendarstellung hier erneut aufzugreifen, belegt einmal mehr seine Arbeitsweise als Montage motivischer Versatzstücke, und gerade auf dieses glaubte er dort nicht verzichten zu dürfen, wo es ihm um die Schaffung von ›jüdischer Couleur‹ ging. Jedenfalls war er von Anfang an bestrebt, dies bezeugen frühere noch weit krassere Entwürfe der Szene,19 das Motiv der Habgier als ›jüdischen‹ Zug im Charakter Éléazars zu verankern und mit demjenigen des Christenhasses emotional zu verknüpfen: Übervorteilung der Christen als Vollzug des Hasses, Liebe zum Gold als Ausdruck höchsten Vergnügens: Je tremblais que cette femme Ne surprit tous mes secrets Et je maudissais dans l’âme Tous ces chrétiens que je hais. Mais pour moi plaisir extrême Et quel heureux avenir, Ces bons écus d’or que j’aime Chez moi vont donc revenir!

Die musikalische Umsetzung von Scribes dramatischer Textvorlage im Sinne der Integration einer neuen ›Farbe‹ ist Halévy gründlich misslungen, verfällt er doch während des gesamten Trios in einen werkfremden oberflächlichbrillanten Opéra comique-Ton. Dies gilt nicht allein für die Partien Eudoxies und Léopolds, bei denen ein derartiges Idiom allenfalls angemessen sein könnte, sondern auch für Éléazar; gerade die oben zitierte Passage und ihre Wiederkehr in der Coda – in einem buffonesken Sechszehntel-Parlando mit neckischen Punktierungen – charakterisieren ihn als eine komische Figur ohne die in 19

Vgl.: Hallman: Opera, Liberalism and Antisemitism in Nineteenth-Century France. The Politics of Halévy’s ›La Juive‹, a.a.O., S. 237–243.

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ihr angelegte hintergründige Bosheit. So erweist sich das Trio trotz seiner dramatischen Bedeutsamkeit und Unverzichtbarkeit in der verharmlosenden Vertonung als peripher und könnte einen wohlwollenden Betrachter auf den Gedanken bringen, Halévys scheinbares Versagen sei in Wahrheit ein Akt der Verweigerung angesichts der librettistischen Zumutung. Der weitere Verlauf des II. Aktes und der gesamte III. Akt zeigen Éléazar in dramatischen Standardsituationen (als liebenden und zürnenden Vater) und bereichern sein Figurenprofil um keine neuen charakterlichen Facetten. Dafür vollzieht sich in der Entwicklung des Plots mit dem Zusammenbruch von Léopolds Täuschung, die von Rachel öffentlich gemacht wird, die entscheidende, zur finalen Katastrophe führende Wende. Dem christlichen Verführer, seiner jüdischen Geliebten und deren Vater droht die Hinrichtung; für Éléazar zeichnet sich die Möglichkeit ab, durch den gemeinsamen Märtyrertod mit seiner Ziehtochter an deren leiblichem Vater Rache zu nehmen; gleichzeitig versucht Eudoxie, Rachel zu einer Falschaussage zu bewegen, um Léopolds Leben zu retten, und ist Brogni bestrebt, Rachel durch ihre Konversion zum Christentum vor dem Tod zu bewahren. In dieser Situation kommt es im IV. Akt zwischen Éléazar und Brogni zu einer neuerlichen Begegnung (Schauplatz ist der Empfangsraum eines Gefängnisses): Éléazar allein, so bedeutet es ihm Brogni, habe es in der Hand, das Leben der Tochter zu retten, wenn er sie dazu bringe, ihrem Glauben abzuschwören, – eine Offerte, die Éléazar brüsk zurückweist. Sein Gott, der Gott Jakobs, sei der »einzige wahre« (»le seul véritable«) und wie dieser einst die Makkabäer zum Sieg geführt habe, so werde er auch künftig die Söhne Israels triumphieren lassen. Und dann beginnt Éléazar mit Brogni sein grausames Spiel, indem er einen weiteren Schritt – aber noch nicht den letzten – zur Aufdeckung seines Geheimnisses unternimmt: Nein, er fürchte nicht den Tod, vielmehr sei dieser seine Hoffnung, aber zuvor werde er sich an einem Christen rächen, und dieser werde er – Brogni – sein. Anknüpfend an ihr früheres Gespräch über die Vorgänge in Rom berichtet er, dass bei dem Brand von Brognis Haus zwar dessen Frau, aber nicht dessen Tochter ums Leben gekommen sei; »ein Jude« habe sie lebend geborgen, diesen Juden kenne er, werde ihn aber niemals nennen: »Und mein Geheimnis wird mit mir sterben« (»Et mon secret va mourir avec moi«). Hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung wirft sich Brogni Éléazar zu Füßen, um ihn umzustimmen, doch dieser bleibt hart. Das Bild des vor dem Juden knieenden Kardinals hat wegen des ihm innewohnenden Symbolcharakters und seiner historischen Sprengkraft das zeitgenössische Publikum aufgewühlt: »C’est une scène, il faut l’avouer, dont le pathétique est puissant. un des chefs de la catholicité tombe en suppliant aux genoux de celui que la catholicité maudit!«20 Ist Éléazar hier wirklich noch das »Opfer« (»victime«), als das er sich gegenüber Brogni bezeichnet, oder ist er nicht schon dabei, zum Täter zu werden? Dramaturgisch steht die Oper an 20

Chasles: Notice sur La Juive, a.a.O., S. 21.

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dieser Stelle vor dem Höhe- und Wendepunkt, und da der Fortgang der Handlung abhängt vom Ausgang des Kampfes zwischen den beiden widerstreitenden ›Seelen‹ in Éléazars Brust, der Liebe zu seiner Ziehtochter und dem Hass auf die Christen, kann der Konflikt psychologisch und dramatisch plausibel nur in einer Arie des Protagonisten aufgelöst werden. Eine solche war ursprünglich nicht vorgesehen gewesen, und es ist das Verdienst des ebenso musikalisch gebildeten wie theatererfahrenen Darstellers des Éléazar, Adolphe Nourrit, dies als Problem für das Rollenprofil, aber auch für die Gesamtdramaturgie der Oper rechtzeitig erkannt sowie auf den Abschluss des IV. Aktes mit einer Solonummer des Éléazar hingewirkt und für diese auch den Text verfasst zu haben.21 Das Ergebnis ist eine große zweisätzige Arie nach dem zeitgenössischen italienischen Modell (also mit Cabaletta samt Überleitung und Wiederholung), das in der französischen Oper eher selten begegnet, hier jedoch auf die dramatische Situation des Schwankens zwischen den beiden »sentiments«22 wie angegossen passt: Die einleitende Szene und der erste Ariensatz (Andantino) schildern Éléazars wachsende Bereitschaft, Rachels Leben den Vorrang vor seinen Rachegefühlen zu geben; in der Überleitung fasst er diesen Entschluss, rückt aber sogleich wieder von ihm ab, als er von draußen die Pogromrufe der Menge vernimmt; in der Cabaletta (Allegro) bekennt er in rauschhafter Begeisterung seine Bereitschaft zum Märtyrertod an der Seite der ›geliebten Tochter‹. Das Rezitativ spannt einen weiten Gefühlsbogen von Todesentschlossenheit zu väterlicher Milde. Der Anfang mit seinen sprachlichen Anklängen an den romantischen Satanismus zeigt Éléazar in der Rolle des mythischen Rächers, der sein Gegenüber zu immerwährendem ›Leid‹ verdammt und dessen »ewiger Haß« noch über den Tod hinaus (dies besagt das furchtbare Wort) seine Wirkung entfalten wird: Va prononcer ma mort; ma vengeance est certaine. C’est moi qui pour jamais te condamne à gémir! J’ai fait peser sur toi mon éternelle haine Et maintenant, je puis mourir!

Indes lässt ihn der Gedanke an die Tochter und ihren bevorstehenden Tod innehalten und sich seiner eigenen Schuld bewusst werden: Mais ma fille!... O Rachel! Quelle horrible pensée Vient déchirer mon cœur. 21

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Auf Nourrits mitschöpferische Rolle verweist der Komponist selbst (Derniers souvenirs et portraits précédes d’une notice par P.-A. Fiorentino. Paris 1863, S. 166). In seiner Nourrit-Biographie nimmt Quicherat direkt auf diese Stelle Bezug und ergänzt sie um weitere biographische und interpretatorische Details (a.a.O., S. 166ff. und S. 171f.). »Éléazar et dominée per deux sentiments, la haine des chrétiens et l’affection paternelle.« (Quicherat, a.a.O., S. 170).

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Sieghart Döhring Délire affreux, rage insensée, Pour me venger c’est toi qu’immole ma fureur!

Der langsame Ariensatz fasst Éléazars Bindung an Rachel23 in einen imaginären Dialog des Vaters mit der geliebten Tochter. Zweimal wendet er sich an die ihm von Gott zum Schutze Anvertraute, deren Glück er sein ganzes Leben geweiht hat, und die er nun bereit ist, dem Henker zu überantworten. Dazwischen glaubt er ihre Stimme zu vernehmen, die in Todesangst nach ihm ruft und um Rettung ihres jungen Lebens – des Lebens seines Kindes – fleht: Rachel, quand du Seigneur la grâce tutélaire A mes tremblantes mains confia ton berceau, J’avais à ton bonheur voué ma vie entière Et c’est moi qui te livre au bourreau! Mais j’entends une voix qui me crie: Sauvez-moi de la mort qui m’attend! Je suis jeune et je tiens à la vie, O mon père, épargnez votre enfant! Ah! Rachel, quand du Seigneur la grâce tutélaire [...]

Der bogenförmigen Textstruktur entspricht musikalisch eine dreiteilige Reprisenform (a-b-a'). Für die Rahmenteile verwandte Halévy eine um die Dominante kreisende melancholische Melodie jüdischer Provenienz24 in Moll (f), deren Lamento-Ton im Duo zweier Englischhörner aufgenommen wird. Den Mittelteil, dessen zunächst verhaltene Erregung sich am Ende in einem Verzweiflungsausbruch entlädt, gestaltet er als einen weiten melodischen Spannungsbogen in der Durparallele (As). Die Reprise könnte als Antiklimax wirken, hätte der Komponist es nicht verstanden, in der kurzen Coda durch deklamatorisches Aufbrechen der Melodie einen überraschenden Affektwechsel von Resignation zu Auflehnung, von Selbstmitleid zu Selbstanklage zu vollziehen: »c’est moi, moi, moi, qui te livre au bourreau!« – »ich bin’s, ich, ich, der dich dem Henker überantwortet.« Der Kontrast zwischen der ›oriental color‹25 der Rahmenteile und der klaren diatonischen Affektsprache des Mittelteils vor dem Hintergrund der Dialogstruktur des Textes wird von Cormac Newark als verschlüsselte Aussage über Rachels gespaltene Identität – Christin durch Geburt, Jüdin durch Bekenntnis – verstanden: Da im Augenblick allein Éléazar diesen Zwiespalt ihrer Person kenne, empfinde auch nur er den Kon23

24 25

In einer früheren Phase der Textentstehung hatte Scribe an anderer Stelle des IV. Aktes als Ausdruck von Éléazars hingebender väterlicher Liebe eine Arie an der Seite der schlafenden Rachel vorgesehen: »O fille chérie! Âme de ma vie!«, – eine überdeutliche Reminiszenz an Masaniellos ›Berceuse‹ für Fenella in Aubers La Muette de Portici (dort ebenfalls im IV. Akt), die einmal mehr auf die dramaturgische Vorbildfunktion dieser Oper für La Juive verweist. Vgl. Abraham Zebi Idelsohn: Jewish Music in Its Historical Development. New York 1929 (Reprint: 1967), S. 473. Hallman: Opera, Liberalism and Antisemitism in Nineteenth-Century France. The Politics of Halévy’s ›La Juive‹, a.a.O., S. 191.

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flikt, der musikalisch dadurch chiffriert werde, dass der Vater mit der Tochter im ›orientalischen‹, die Tochter mit dem Vater im ›europäischen‹ Idiom kommuniziere. Insofern es sich in Wahrheit um ein Selbstgespräch Éléazars handele, sei die Stimme der Tochter zu verstehen als sein schuldbewusstes alter ego, das die Besinnung auf Rachels Herkunft anmahnt: What seems at first glance simple paternal anguish over a daughter’s cruel fate turns out to be more complicated: the reason Éléazar is so tortured over the fate of Rachel is that she is not, after all, his biological daughter and therefore not Jewish, an irony with implications for what the audience may think about blood […].26

Allerdings unterstellt die Annahme, Éléazar würde bei dem Gedanken ›leiden‹, Rachel sei nicht seine leibliche Tochter, diesem ein ›biologistisches‹ Denken, das mit dem Charakter der Figur schlechterdings unvereinbar erscheint. Tatsächlich bedeutet Rachels Abstammung als solche für Éléazar keinerlei Anfechtung; so lange jene sich selbst als ›Jüdin‹ versteht und an dieser Überzeugung festhält, ist sie seine, nicht Brognis ›Tochter‹. Nur dann würde er sie an ihn verlieren, wenn sie sich von ihrem Glauben lossagte; anzunehmen, dass sie dies je täte, hat Éléazar zwar keinen Grund, aber es bleibt bei ihm offenbar ein Rest von Zweifel, ob das Wissen um ihre Herkunft Rachel nicht doch in ihrer Entscheidung schwanken machen könnte, und deshalb enthält er es ihr vor, selbst noch angesichts des Schafotts. Da aber allein Rachels Abkehr vom jüdischen und Hinwendung zum christlichen Glauben ihre Rettung bedeuten würde, stellt sich für Éléazar die Frage: Opfert er Rachels Leben ihrem Glauben, oder ihren Glauben ihrem Leben? Für den Juden, der die Christen mit »ewigem Haß« verfolgt, steht die Antwort im Grunde von vornherein fest, und weil er das weiß oder zumindest ahnt, fühlt er sich gegenüber der Tochter in der Schuld. Vergegenwärtigt man sich die Unausweichlichkeit von Éléazars Entscheidung, so wird deutlich, dass die dramaturgische Funktion seiner ›Szene und Arie‹ nicht in der Herbeiführung einer Peripetie bestehen kann, vielmehr allein in der Nobilitierung der Figur des Protagonisten als eines an seinen Widersprüchen leidenden Charakters. Dies ist denn auch mit dem langsamen Ariensatz auf beispielhafte Weise gelungen. Umso weniger überzeugt die Dramaturgie des nachfolgenden ›tempo di mezzo‹, wirken doch Éléazars Entscheidungen zunächst für, dann gegen das Leben der Tochter weder in sich noch in ihrer schnellen Abfolge psychologisch überzeugend motiviert. Unglaubwürdig erscheint zumal, dass das Pogromgeschrei der Menge – für Éléazar gewiss keine neue Erfahrung – in der Lage sein sollte, einen so schwerwiegenden Entschluss, wie er ihn gerade gefasst hat, sogleich wieder umzustoßen. Nicht dass der Christenhass über die Vaterliebe erneut die Oberhand gewinnt, wirkt befremdend, sondern die Schnelligkeit und Leichtigkeit, mit der dieser abermali26

Cormac Newark: »Ceremony, Celebration, and Spectacle«. In: Roger Parker/Mary Ann Smart (Hg.): Reading Critics Reading. Opera and Ballet Criticism in France from The Revolution to 1848. Oxford-New York 2001, S. 155–187, hier: S. 162.

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ge Gefühlsumschwung vonstatten geht. Von nun an bis zum Schluss der Szene (und zugleich des Aktes) steigert sich Éléazar in eine alle Grenzen sprengende religiöse Ekstase und Todesbereitschaft, die Züge von Hysterie, ja Wahnsinn annimmt (»avec exaltation« lautet die Vortragsanweisung am Beginn der Cabaletta): Gott möge ihn erleuchten, wenn er die ›geliebte Tochter‹ auffordert, an der Seite des Vaters in den Tod zu gehen, und sie um Vergebung bittet, dass er ihr die Märtyrerkrone überreiche; Furcht und Klage bedeuteten nichts angesichts der heiligen Begeisterung, die ihn für den Sieg des Gottesreiches beseele. Dieu m’éclaire,/Fille chère, Près d’un père/Viens mourir Et pardonne/Quand il donne La couronne/Du martyr! Vaine crainte,/Plus de plainte, Plus de plainte/En mon cœur, Saint délire/Qui m’inspire, Ton empire/Est vainqueur! Dieu m’éclaire/Fille chère, Près d’un père/Viens mourir Et pardonne/S’il te donne La couronne/Du martyr!

In der Überleitung vor der Wiederholung der Cabaletta erfahren die Pogromrufe der Menge eine klangliche Intensivierung; bestanden sie zuvor nur aus Männerstimmen, so treten nun auch Frauenstimmen hinzu. Éléazar fühlt sich dadurch erst recht herausgefordert, die Entscheidungsgewalt über das Leben der Tochter auszuüben: Israel fordere sie von ihm, der Gott Jakobs, dem er ihre Seele geweiht habe; niemals werde er – Éléazar – es zulassen, um einer kurzen Verlängerung ihres irdischen Lebens willen, sie des ewigen Lebens zu berauben, da der Himmel sie bereits erwarte: Israël la réclame, C’est au Dieu de Jacob que j’ai voué son âme! Elle est à moi, c’est notre enfant Et j’irais en tremblant pour elle, Prolongeant ses jours d’un instant, Lui ravir la vie éternelle Et le ciel qui l’attend!

Es ist deutlich: Nach seinem Glaubensverständnis sieht sich Éléazar im Recht und in der Pflicht, über das Seelenheil seiner Tochter zu entscheiden, und dieses hängt – so seine unumstößliche Überzeugung – allein davon ab, dass Rachel ihrem jüdischen Glauben treu bleibt, selbst um den Preis der Opferung ihres Lebens. Fraglich erscheint allerdings, ob sich Éléazar für diese Haltung tatsächlich so umstandslos, wie er es tut, auf die Religion seiner Väter berufen kann, war es doch in biblischen Zeiten nicht der »Gott Jakobs«, sondern

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»Baal«, der Menschenopfer forderte. Zum Zerrbild des Jüdischen, das der Text hier entwirft, gehört auch die Vermischung von Éléazars vermeintlicher Rettung von Rachels Seele und seiner Rache an Brogni. Von letzterer, am Beginn der ›Szene und Arie‹ machtvoll beschworen, ist zwar im weiteren Verlauf der Nummer nicht mehr die Rede, doch bleibt sie als Motiv von Éléazars Handeln unverändert präsent, wie sich im V. Akt erweist. Der ›tragische‹ Schluss der Oper mit der öffentlichen Hinrichtung der beiden Juden und der Aufdeckung von Rachels Herkunft durch Éléazar im Augenblick ihres Todes (vorausgegangen ist die Umwandlung des Todesurteils für Léopold in Verbannung, nachdem Rachel sich selbst der Falschaussage bezichtigt hatte) steht am Ende intensiver und langwieriger Bemühungen um ein dramaturgisch plausibles, dabei bühnenwirksames Denouement der komplizierten Handlung. Vorrang hatte lange Zeit die Idee eines ›lieto fine‹ mit weitgehenden Auswirkungen auf die szenische Struktur vor allem der letzten beiden Akte, die in zahlreichen Textvarianten durchgespielt wurden. Grundgedanke war die Konversion Rachels zum Christentum, ihre Hinwendung zum leiblichen Vater und ihre Abkehr vom Ziehvater, sowie der Ausschluss Éléazars aus der allgemeinen Versöhnung. Der Jude – so heißt es – entfernt sich mit einem zornigen Blick auf Rachel (»…s’éloigne en jettant sur elle un regard de courroux«), – vergleichbar dem Abgang Beckmessers in der Festwiesenszene am Schluss von Wagners Meistersingern von Nürnberg (1868).27 Die Außenseiterrolle Éléazars und damit diejenige des ›Juden‹ innerhalb der ›christlichen‹ Gesellschaft erscheint damit von Beginn an vorgegeben, und Scribe brauchte denn auch, als er von einem ›lieto fine‹ Abstand nahm, in der Charakterisierung des Éléazar lediglich dessen negative Eigenschaften zu verstärken und ihr zerstörerisches Potential noch deutlicher hervortreten zu lassen. Auch der Horror-Schluss mit dem Sturz der Verurteilten in einen Kessel mit kochendem Wasser (oder Öl; die Quellen sind hier nicht eindeutig) war nach dem Zeugnis Vérons, des damaligen Direktors der Opéra,28 die Idee Scribes, dem es hier einmal mehr darauf ankam, dramatische Effektivität durch szenische Mittel zu erhöhen.29 Für das Bild des Juden Éléazar liefert die Schluss-Szene eine letzte sinistre Facette. 27

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Die wichtigsten Textvarianten für das Finale werden vorgestellt von Hallman: Opera, Liberalism and Antisemitism in Nineteenth-Century France. The Politics of Halévy’s ›La Juive‹, a.a.O., S. 193–198. Louis-Désiré Véron: Mémoires d’un bourgeois de Paris comprenant la fin de l’Empire, la Restauration, la Monarchie de Juillet, la République, jusqu’à rétablissement de l’Empire, 6 Bde., Paris 1853–1855, hier: Bd. 3 (1854), S. 181. Jacobshagen hat nachgewiesen, dass die bühnentechnische Realisierung des Schlusses der Juive bei der Uraufführung keineswegs perfekt war und dass die spektakuläre Version aus Louis Paliantis Livret de Mise en Scène (Faksimile-Edition von H. Robert Cohen: The Original Staging Manuals for Twelve Parisian Operatic Premières. Stuyvesant/New York 1991, S. 137–150) den Aufführungsstand der 1840er Jahre wiedergibt (a.a.O.).

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Unmittelbar vor der Hinrichtung wendet sich Éléazar an Rachel mit der Frage, ob sie leben wolle, allerdings ohne ihn und als Christin: »Ils veulent sur ton front verser l’eau du baptême, le veux-tu, mon enfant?« Das für Rachels Entscheidung grundlegende Faktum ihrer Herkunft freilich enthält er ihr nicht nur vor, sondern verschleiert es sogar noch, indem er sie mit »mein Kind« anredet. Für diesen Preis weist Rachel ihre Rettung zurück und bekennt sich zum Märtyrertum. Damit ist für Éléazar der Weg frei, seinen Racheplan in die Tat umzusetzen. Noch einmal erweckt er bei Brogni die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit der Tochter, indem er dessen Frage, ob sie noch lebe, bejaht, aber nur um ihn gleich darauf zum Augenzeugen ihres furchtbaren Todes werden zu lassen. Dargestellt wird dies mit den Mitteln einer ausgefeilten ›Suspense‹Dramaturgie, die sich nicht in der perfekten Realisierung eines grellen Theatereffekts erschöpft, sondern der Charakterzeichnung des Protagonisten einen bislang noch fehlenden Zug hinzufügt: Grausamkeit, zweifelsohne auch gegen sich selbst. Éléazars Worte und Gesten, letztere ablesbar an den minutiösen Regieanweisungen, bezeugen die Eiseskälte, mit der er das erforderliche Timing seiner Enthüllung sicherzustellen bestrebt ist, indem er während seiner Antwort an Brogni die letzten Schritte Rachels an den Rand des Kessels beobachtet, um erst im Augenblick ihres Sturzes in denselben dem Kardinal sein triumphierendes »Da ist sie!« entgegenzuschleudern. Das letzte Wort freilich hat der Mob, der ebenso brutal wir ahnungslos die Ermordung der Juden als ›Rache‹ feiert. BROGNI: Prêt à mourir, réponds à la voix qui t’implore: Cet enfant que ce Juif aux flammes arracha… ÉLÉAZAR (froidement): Eh bien? BROGNI Réponds: ma fille existe-t-elle encore? ÉLÉAZAR (regardant Rachel qui vient de monter sur la plate-forme au-dessus de la cuve): Oui! BROGNI (avec joie): Dieu! Où donc est-elle? ÉLÉAZAR (lui montrant Rachel que l’on précipite dans la cuve bouillante): La voilà! (Brogni pousse un cri et tombe à genoux en cachant sa tête dans ses mains. Éléazar jette sur lui un regard de triomphe, puis marche d’un pas ferme au supplice.) CHŒUR: Oui, c’en est fait, et des Juifs nous sommes vengés! (Pendant ce temps Éléazar monte l’escalier qui conduit à la cuve d’airain, et la toile tombe.)

Es fällt schwer, den Text wie die Bildsprache des Schluss-Tableaus anders zu ›lesen‹ denn als emotionalen Appell an antisemitische Vorurteile. Der Triumph des Juden und der Schmerz des Christen haben ihren gemeinsamen Grund im Tod derjenigen, die Jüdin nach ihrem Bekenntnis, Christin nach ihrer Ab-

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stammung ist. Da diese erst im Augenblick ihres Todes vom Juden als Akt der Rache gegenüber dem Christen offen gelegt wurde, verlagern sich die Sympathien des Zuschauers nahezu zwangsläufig vom Verfolgten auf den Verfolger, in den Worten Ulrich Schreibers: Unser Mitleid für die geopferte Rachel wird gerade dadurch verstärkt, daß sie ihren Tod als Christin erleidet, als Rassegenossin der überwiegenden Mehrheit des Publikums. Und sie erleidet diesen Tod, weil sie den Haß ihres jüdischen Ziehvaters auf die Christen teilt. Da wird im Rezipienten sacht, aber unerbittlich die Pogromsituation verkehrt: die Juden als reale Opfer werden zu den wahren Tätern diffamiert.30

Sollte diese Darstellung einem Kalkül entspringen, so unterstellt dieses beim zeitgenössischen Publikum eine ›biologistische‹ Denkweise und eine solche dürfte, wenn auch noch nicht in Form eines rassenideologischen Systems, in der Tat verbreitet gewesen sein. Karl Leich-Gallands gegenteilige Auffassung31 wird von der aktuellen Antisemitismusforschung nicht bestätigt.32 Zwar existieren Zeugnisse für die Wahrnehmung Rachels als ›Jüdin‹ seitens des zeitgenössischen Publikums, jedoch erweisen gerade sie sich als ›biologistisch‹ geprägt, beziehen sie sich doch unmissverständlich auf den vertrauten literarischen und bildnerischen Topos der ›exotischen Frau‹ und seine Verkörperung durch eine Reihe jüdischer Sängerdarstellerinnen, die während der frühen Aufführungsgeschichte dieser Oper das Rollenprofil Rachels maßgeblich bestimmt haben.33 Ob es sich dabei um repräsentative Meinungen handelte, lässt sich aus heutiger Sicht kaum mehr entscheiden, zumal sie sich auf ephemere Theatereindrücke und nicht auf die Analyse der Rolle und ihres dramatischen Kontextes stützen. Aber auch für diesen ergibt sich ein zwiespältiges Bild. So sind die dramatis personae als Christen wie als Juden zwar durch ihr Bekenntnis zur jeweiligen Glaubensgemeinschaft definiert, aber die Zugehörigkeit zu 30 31

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Ulrich Schreiber, a.a.O., S. 375. »Der Zeit Halévys war der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu großem Einfluß gelangte biologische Determinismus, der den Menschen jeder Wahlfreiheit beraubt, noch fremd« (Vorwort zur Kritischen Ausgabe, a.a.O., S. XVII). Die aufgrund der späten Prägung des Begriffs »Antisemitismus« (1879) vertretene Auffassung, auch das damit bezeichnete Phänomen der rassischen Judenfeindschaft habe sich erst im späten 19. Jahrhundert herausgebildet und vom zuvor herrschenden religiös begründeten »Antijudaismus« abgesetzt, lässt sich nicht halten. Vgl. dazu: Johannes Heil: »›Antijudaismus‹ und ›Antisemitismus‹. Begriffe als Bedeutungsträger«. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 6 (1997), S. 92–114. Sowie Jens Malte Fischer: Richard Wagners ›Das Judentum in der Musik‹. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus. Frankfurt a. M. Leipzig 2000, S. 33–45, hier: S. 35f.: »Es gibt […] parallel zur jüdischen Emanzipation eine Emanzipation antijüdischer Vorstellungen von religiösen Begründungen, einen schleichenden Prozeß der Herausbildung des rassischen Antisemitismus, der als Parallelprozeß zur jüdischen Emanzipation zu verstehen ist und sich wie diese über den Zeitraum von etwa 100 Jahren erstreckt.« Vgl. dazu die Elogen auf Falcon und Treilhet-Nathan in: Les Beautés de l’Opéra (Chasles, Notice sur La Juive, a.a.O., S. 4f.).

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ihr erlangten sie aufgrund ihrer Abstammung, – eben mit der einzigen Ausnahme Rachels, die als Christin geboren wurde (ihre Taufe darf man unterstellen) und ohne Wissen um ihre Herkunft als Jüdin aufwuchs. Die Fokussierung der Schluss-Szene auf ebendieses Faktum und seine schockhafte emotionale Aufladung lösen dann geradezu zwangsläufig beim Publikum jenen Sympathie-Swing von den Juden zu den Christen aus, der ihre historischen Rollen als Opfer und Täter zwar nicht vollends negiert, aber doch in der Wahrnehmung relativiert, weil austauschbar macht. Offensichtlich war Scribe daran gelegen gewesen, das Stück weder als antiklerikales Pamphlet, noch als Apotheose des Judentums wirken zu lassen. Beide Tendenzen, die sich gegenseitig stützen, sind dem Stoff inhärent und begegnen denn auch immer wieder als einseitige Lesarten der Oper je nach dem Standpunkt des Betrachters. Scribes Strategie bestand nun darin, einen Ausgleich zwischen ihnen dadurch herbeizuführen, dass er die widerstreitenden Parteien nicht im Schwarz-Weiß-Kontrast einander gegenüberstellte, sondern Licht und Schatten unter beiden gleichmäßig verteilte. Angesichts des historisch gegebenen Machtgefälles zwischen den herrschenden Christen und den von ihnen beherrschten Juden konnte dies nur heißen, bei ersteren positive, bei letzteren negative Gegenakzente zu setzen, konkret: den zur Versöhnung bereiten Brogni und den Fanatiker Éléazar als Repräsentanten ihrer Religionen zu konfrontieren. Eine ausgewogene Darstellung der Konfliktparteien wurde von Scribe in seinen Historienstücken stets angestrebt, und mag man auch geneigt sein, ein solches Verfahren als ›kompromisslerisch‹ zu bezeichnen, so sollte man doch zugleich bedenken, dass es der Differenzierung dient: im Theater wie im Musiktheater die Voraussetzung für fesselnde Stücke und Rollen. Die Autoren der Juive – und zu ihnen gehörte auch der Darsteller des Protagonisten – sahen in dem zwischen väterlicher Liebe und Christenhass hin- und hergerissenen Juden zwar auch den geistigen Repräsentanten eines historischen Ideendramas, mindestens ebenso sehr aber die bravouröse Rolle von ausgeprägter Eigenart. Als ihr Interpret war ursprünglich Levasseur vorgesehen gewesen: ein Bassist also (er kreierte dann den Brogni). Dass der damals 33jährige Nourrit, der Tenorstar der Opéra, die Vaterrolle des Éléazar übernahm, war ein doppeltes Wagnis, widersprach es doch stimmlich wie darstellerisch gängigen Besetzungskonventionen. Allein sein exzeptionelles künstlerisches Renommee ermöglichte es Nourrit, diese Entscheidung eigenverantwortlich zu treffen und darüber hinaus auf die kompositorische Gestaltung der Rolle – gleichsam als ihr Mitschöpfer – persönlich einzuwirken. Auf Nourrits Einfluss dürfte auch das figurenspezifische musikalische Rollenprofil zurückgehen, das eine tiefere Tessitura mit nur wenigen, zudem nicht extremen Spitzentönen und eine deutliche Reduzierung der virtuosen Anforderungen (gemessen an den von Nourrit kreierten Partien in Opern Rossinis, Aubers und Meyerbeers) vorsah. Zeitgenössische Kritiker überboten sich in Bewunderung für die stimmlichen Farbwechsel und deklamatorischen Finessen, die der Sän-

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ger aufzubieten wusste, um den widersprüchlichen Seelenregungen Éléazars nachzuspüren. Bei der Analyse der Figur sollte daher nie außer Acht gelassen werden, dass an ihrer Konzeption einer der größten Sängerdarsteller des 19. Jahrhunderts mitbeteiligt war und dass er hier seine eigene Rolle gestaltete. Bestimmte Züge der Figur, wie etwa die Affektwechsel auf engstem Raum in der ›Szene und Arie‹ des IV. Aktes, die unter rollenpsychologischem Aspekt nicht völlig überzeugen (s.o.), entfalten ihre dramatische Plausibilität erst im hic et nunc des theatralen Augenblicks und der Gestaltungskraft des Interpreten. Der Charakter des Éléazar in seiner extremen Gespanntheit zwischen widerstreitenden Empfindungen weist der Figur einen Platz zu in der langen Reihe ganz ähnlicher Figuren des romantischen Theaters und Musiktheaters mit vielfältigen Rückbezügen auf die mythische Gestalt des ›leidenden Bösen‹ in seinen verschiedenen literarischen Ausformungen. Im Rahmen der Judendarstellungen hatte Shakespeares Shylock diese Linie vorgegeben und nicht zufällig fand erst die Romantik zu einem tieferen Verständnis der Figur, erprobte für sie neue differenziertere Deutungsmodelle. Scribes Éléazar knüpfte an die Motivklischees des traditionellen Judenbildes an – im Sprachgebrauch der Zeit ist er damit ein juif im Gegensatz zum modernen, vom Liberalismus geprägten israëlite – übersteigerte diese aber ins Romantisch-Phantastische: Der jüdische Goldschmied aus Konstanz, der als Opfer zum Täter wird, indem er diejenige, die er über alles liebt, um seines und ihres Seelenheils willen dem Tod überantwortet, versetzt sich in die Rolle eines mythischen Rächers seines Volkes. Diese Überzeichnung des Jüdischen ins Dämonische, die als solche ebenfalls eine antisemitische Klischeevorstellung bedient, wird hier freilich in die Geschichte zurückgeführt durch die Konfrontation des Juden mit der »Menge« (›foule‹, nicht ›peuple‹), welche die Vernichtung des Außenseiters fordert, ihren Vollzug mit sadistischer Lust genießt (»Oui, ce spectacle nous enchante!« = »Ja, dieses Schauspiel entzückt uns!« artikuliert der Mob seine Vorfreude auf die Hinrichtung, deren grässliche Details er begierig ausmalt). Aus der Sicht des Juden ist dies die reale Situation des Pogroms als Gegenstand seiner kollektiven Erfahrung, und es spricht für Scribes und Halévys unbestechlichen Blick auf historische Zusammenhänge, dass sie diesen Gedanken zum Schlüssel für die Psychologie der Rolle wie für die Dramaturgie des Stücks insgesamt gemacht haben. Éléazars Christenhass findet, wenn nicht seine Rechtfertigung, so doch seine Erklärung in der Pogromhaltung des Pöbels, die sich zwar christlich drapiert, tatsächlich aber einem kollektiven Aggressionstrieb zum Durchbruch verhilft. So wird gleich am Beginn der Oper eine Drohkulisse errichtet, die sich zum Schluss hin mit tödlicher Wirkung zusammenschiebt. Die ›Psychologie der Masse‹, in der französischen Oper von Lesueur bis Meyerbeer eine Konstante der Tableau-Dramaturgie, erfährt hier in der Anwendung auf die Judenthematik eine inhaltlich überzeugende überzeitliche Legitimierung.

Daniel Jütte

Der jüdische Tenor als Éléazar. Heinrich Sontheim und die La Juive-Rezeption im 19. Jahrhundert

Heinrich Sontheim (1820–1912), heute fast völlig vergessen, zählte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den bedeutendsten Tenören seiner Zeit. Nicht weniger als 101 Partien beherrschte Sontheim, der in seinem Repertoire zeitlebens der französischen und italienischen Oper treu blieb; nicht weniger als 1933 Mal stand der Tenor in seinem Leben auf insgesamt 37 Bühnen in Europa. Der ebenso berühmte wie gefürchtete Kritiker Eduard Hanslick sah in ihm das »Ideale eines Heldentenors« verkörpert.1 Doch nicht nur musikgeschichtlich ist Sontheims Erfolg von Interesse. Vor allem besticht seine Lebensgeschichte durch ihren Wert als ungewöhnliche deutsch-jüdische Biographie.2 Zugleich schimmern in der zeitgenössischen Rezeption von Sontheim und seiner Darstellung des Éléazar Momente durch, die im 19. Jahrhundert für die Konstruktion von »Judentum in der Musik« konstitutiv waren. Sontheims Karriere, von ihren Anfängen im Synagogengesang bis hin zum Erfolg als Heldentenor, war – wie zu zeigen sein wird – immer wieder Projektionsfläche für Vorurteile, die bei Zeitgenossen gegenüber jüdischen Musikern und deren Aufstieg im 19. Jahrhundert bestanden.3 In seiner Paraderolle als Éléazar in Fromental Halévys La Juive (1835) geriet Sontheims Darstellung in den Augen des Publikums zu einer solch eindrücklichen Repräsentation von Judentum, dass sich die Glaubenszugehörigkeit des Sängers mit dem Schicksal der Bühnenfigur auf ungewöhnliche Weise verschränkte. Eine keineswegs marginale Beobachtung: Immerhin trat Sontheim in seinem Leben 1 2

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Zitiert nach Leo Adler: Heinrich Sontheim. Stuttgart 1916, S. 90. Vgl. dazu ausführlich: Daniel Jütte: Der jüdische Tenor Heinrich Sontheim. Aufstiegschancen und Antisemitismus in der bürgerlichen Musikkultur des 19. Jahrhunderts. Göppingen 2006. Teile des umfangreichen Nachlasses des Sängers befinden sich heute im Leo Baeck Institute in New York (LBI Sontheim Collection AR 520). Die Stuttgarter Personalakte Sontheims im Staatsarchiv Ludwigsburg (StAL) enthält aus unerfindlichen Gründen nur ein einziges Aktenstück (E 18 II Bü 859). Vgl. dazu auch: Daniel Jütte: »...heißt eigentlich, wie sein Bruder – leiblicher – Levi. Der deutsch-jüdische Konservatoriumsgründer Sigmund Lebert (1821-1884) und der ›geistlose Fingerdrill‹ als Zielscheiben antisemitischer Anfeindung im 19. Jahrhundert«. In: Joachim Kremer/Dörte Schmidt (Hg.): Zwischen bürgerlicher Kultur und Akademie. Zur Professionalisierung der Musikausbildung in Stuttgart seit 1857. Schliengen 2007, S. 115-131.

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Daniel Jütte

nicht weniger als 145 Mal als Éléazar auf und feierte in dieser Rolle seine größten Erfolge in Europa. Sontheim wurde zumindest situativ als genuin ›jüdischer Sänger‹ gesehen – und er sah sich selbst als solcher. Der vorliegende Aufsatz unternimmt den Versuch, am Beispiel Sontheims die Frage nach der Rezeption eines jüdischen Sängers in der Rolle der zweifellos bekanntesten Judenfigur4 des 19. Jahrhunderts zu beantworten. Hierzu erscheint es sinnvoll, in einem ersten Abschnitt zunächst kurz zu umreißen, in welcher Weise Sontheim in seinem beruflichen Umfeld immer wieder mit Antisemitismus konfrontiert war.

»Das arme Judenbüblein aus Jebenhausen«.5 Bühnenkarriere und Antisemitismus Sontheim verbrachte seine Jugend im heute zu Göppingen gehörenden Jebenhausen, damals eine der bedeutendsten Siedlungen des württembergischen Landjudentums. Die musikalische Befähigung des jungen Sontheim, die ihm Mitte der 1830er Jahre eine Empfehlung des württembergischen Ministers Vellnagel an das Stuttgarter Hoftheater einbrachte, hatte ihre Wurzeln in der synagogalen Liturgie.6 Sontheims Vater lehnte jede Berührung mit säkularer Musik ab.7 Für den Sohn war die Entscheidung zur Sängerausbildung daher ein sozialer und religiöser Bruch. Als Sohn armer Eltern, zumal als einzig männlicher Nachwuchs, wurde er von der Kindheit an zur Arbeit herangezogen. Vor diesem Hintergrund ist Sontheims spätere Bemerkung zu sehen: »Ich wollte einen freieren Beruf haben, ohne daß ich damals daran gedacht hätte, Sänger zu werden.«8 Die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs, der seit dem Erlass des so genannten Erziehungsgesetzes in Württemberg (1828) näher gerückt war, scheint den jungen Sontheim wie viele andere Juden seiner Generation fasziniert zu haben.9 Der Gesang erwies sich für Sontheim, wie das oben angeführte Zitat belegt, als Vehikel für den sozialen Aufstieg.

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Grundlegend zur Frage von Judendarstellungen in der Musik vgl.: Alfred Einstein: »Der Jude in der Musik«. Neudruck mit einer Einleitung von Daniel Jütte. In: PaRDeS. Informationsblatt der Vereinigung für Jüdische Studien e.V. 10 (2002), S. 11–27. Theodor Ebner: Unsere Künstler. Heinrich Sontheim [Nachruf auf Heinrich Sontheim]. In: Neue Musik-Zeitung, 1912, S. 460. Adler, S. 2. Ebd., S. 3. Ebd. Vgl. dazu auch: Daniel Jütte/Anat Feinberg: »Un des meilleurs violons d’Allemagne. Der Violinvirtuose Edmund Singer – ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts«. In: Marion Kaplan/Beate Meyer (Hg.): Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Göttingen 2005, S. 177–206.

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Während der ersten Jahrzehnte seiner Karriere blieb Sontheim eine vor allem im südwestdeutschen Raum bekannte Größe. Nach dem Abschluss seiner Ausbildung am Stuttgarter Hoftheater wurde er 1839 nach Karlsruhe verpflichtet. An seine Familie und das jüdische Milieu scheint ihn zu dieser Zeit wenig mehr als Pflichtschuldigkeit gebunden zu haben: »Der Anfänger Sontheim hatte keine große Gage und mußte das Erübrigte seinen Angehörigen zukommen lassen.«10 Leo Adler, dessen 1916 erschienene Biographie Sontheims von dem Bemühen gekennzeichnet ist, den Sänger für das Judentum zu reklamieren, spart in diesem Zusammenhang ein Detail geflissentlich aus, das belegt, wie sehr sich Sontheim zu dieser Zeit von seiner Herkunft entfremdet hatte. Wie nämlich ein Nachruf in der Jüdischen Woche anmerkt, trat Sontheim 1844 zum Christentum über.11 Die Gründe hierfür dürften auf der Hand liegen, wie überhaupt eine Konversion, zumeist mit pragmatischer Intention, für nicht wenige deutsche Juden im 19. Jahrhundert nach Heines berühmten Diktum als entrée-billet in die bürgerliche Gesellschaft galt. Viel erstaunlicher ist daher, dass Sontheim bereits wenige Jahre später wieder zum Judentum zurückkehrte. Während sich aus den vorhandenen Quellen nicht ersehen lässt, was Sontheim letztlich zur Rekonversion veranlasst hat, so erlaubt die Tatsache selbst doch den Schluss, dass Sontheim seine Herkunft aus einem traditionellen jüdischen Milieu spätestens seit 1848 als integral für sein Selbstverständnis ansah. In den Augen seiner Zeitgenossen bewies der Sänger fortan »seine Treue zur Religion« nicht nur durch regelmäßige Gottesdienstbesuche, sondern auch durch »die Mitgliedschaft in vielen jüdischen Vereinen«.12 Wie sehr Sontheim in der Lebenswelt des Landjudentums verwurzelt war, wird unter anderem daran deutlich, dass er in seinen Briefen – bewusst oder unbewusst – jiddische Ausdrücke, die in assimilierten Kreisen verpönt waren, verwandte. In der Wahrnehmung durch seine Umgebung, zumal unter seinen jüdischen Bekannten und Kollegen, muss Sontheims Judentum ein wichtige, fast selbstverständliche Rolle gespielt haben. Im Gegensatz zu solchen Rekursen auf Sontheims Judentum von jüdischer Seite steht eine Vielzahl von Charakterisierungen mit eindeutig antisemitischer Stoßrichtung. Bereits 1854 klagte der aufstrebende Sontheim bei seinem neuen Arbeitgeber, der Stuttgarter Hoftheaterintendanz, über die Mechanismen antisemitischer Diskriminierung. Ein »gewisser Schöttle« hatte dem Sänger »absolute Bedürftigkeit« vorgegaukelt und von der »Mildthätigkeit« Sontheims eine zeitlang profitiert.13 Nachdem er die finanzielle Alimentation Schöttles beendet hatte, stellte Sontheim fest, dass in der Hamburger Theater-Chronik die Be10 11 12 13

Adler, S. 28. Vgl. dazu: Aron Tänzer, [Nachruf auf Heinrich Sontheim]. Auszugsweise in: Israelitisches Wochenblatt vom 23.08.1912, S. 528. N.N.: [Nachruf auf Heinrich Sontheim]. In: Der Gemeindebote. Beilage zur Allgemeinen Zeitung des Judentums vom 18.08.1912, S. 2f. Sontheim an die Hoftheaterintendanz [Entwurf, Januar 1854]. LBI Sontheim Collection AR 520.

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richte aus Stuttgart mit Blick auf Sontheims Leistungen zunehmend böswilliger ausfielen. Einen Höhepunkt erreichte die Pressekampagne in Sontheims Augen, als in einem Artikel die Frage aufgeworfen wurde, »ob ich eigentlich deutsch oder hebräisch singe«. Wie Sontheim herausfand, stammten die diffamierenden Artikel von Schöttle, der sich Vorteile von dieser Erpressungsstrategie versprach. In diesem Zusammenhang hatte Schöttle mittlerweile auch journalistisch Partei für die am Stuttgarter Hoftheater angestellten Sänger und Brüder Albert und Franz Jäger genommen. Die Gebrüder Jäger wiederum scheuten nicht davor zurück, den Erfolg ihres Rivalen Sontheim auf jede Weise zu untergraben. Sontheim berichtete der Intendanz, wie die Anhänger um den jüngeren Bruder Albert »durch Poltern mit Stöcken, Füßen u. eklatant[es] Klatschen bei Opernvorstellungen [dem] Bruder einen Triumph [zu] bereiten suchen, um den ich ihn nicht beneide, auf der anderen Seite aber durch laute Äußerungen, u. wiederholtes Zischen, woran selbst die Umstehenden widrig berührt werden, mir in der Meinung des Theater-Publikums zu schaden suchen«. Wie der Streit zwischen Sontheim und seinen Gegnern entschieden wurde, ist nicht bekannt. Die Rivalitäten zwischen den Gebrüdern Jäger und Sontheim hielten jedenfalls an. 1871 verklagte der jüdische Tenor seinen Kollegen Franz Jäger, der ihn im Beisein von Zeugen nach einer Aufführung in der Garderobe aufs heftigste beschimpft hatte. Sontheim berichtete: Der 60jährige Stinker, tobte Herr Jäger, singt meine Rolle in der Nachtwandlerin! Der Saujud, der Schuft, der Hund! Der schickt Leute in das Theater, um mich auszuzischen! Dieß waren die hauptsächlichen Verwünschungen, die er unter einem Schwall von andern gegen mich ausstieß.14

Zeugen stützen die Darstellung Sontheims, wonach Jäger auch weitere Hoftheatermitglieder mit judenfeindlichen Ausdrücken bezeichnet habe. Nachdem man auf der Hoftheater-Kanzlei eine Entscheidung in der Klagesache über Monate hinweg vertagt hatte, und Sontheim auf ein Urteil drängte, verurteilte die Intendanz den Hofsänger Jäger im Juni 1872 schließlich zu einer Geldstrafe von sieben Gulden. Die Tatsache, dass es sich um dezidiert antisemitische Beschimpfungen gehandelt hatte, wurde bei der Urteilsfindung nicht als erschwerender Umstand gewertet. Ein symbolischer Erfolg dürfte das Urteil für Sontheim gleichwohl gewesen sein. Weitaus vergeblicher waren die Versuche des jüdischen Tenors, journalistische Diffamierungen zu unterbinden. Was den bereits erwähnten Vorwurf aus dem Jahre 1854 angeht, man wisse nicht, ob Sontheim »deutsch oder hebräisch« singe, so handelte es sich jedenfalls nicht um einen Einzelfall journalistischer Schmähung mit antisemitischer Stoßrichtung. Bereits seit 1851, als Sontheim nach übereilter Auflösung seines Vertrags in Karlsruhe am Hoftheater in 14

Protokoll der Hoftheaterintendanz, 28.10.1871. StAL Personalakte Franz Jäger, E 18 II Bü 492.

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Stuttgart engagiert wurde, häufen sich die Belege für eine antisemitisch getönte Rezeption in der lokalen Presse. Angeblicher Grund hierfür waren vor allem seine als überzogen erachteten Gagenforderungen. Die lokale Presse machte in den 1860er Jahren Sontheim, der mittlerweile mit seiner Pensionierung drohte, zur Zielscheibe der Kritik. Unter der Überschrift Die Theater-Reklame, Herr Sontheim und die Königl. Hoftheater-Intendanz erschienen 1865 in der Schwäbischen Volkszeitung eine Reihe von diffamierenden Artikeln:»[...] ›Aber was will dann Herr Sontheim eigentlich?‹, so wird nach allen Seiten der geneigte Leser fragen. ›Will er sich wirklich von der Bühne zurückziehen und in Jebenhausen als einfacher Landwirth seinen Acker düngen, seinen Kohl bauen und dabei seine 1200 fl. Pension in Ruhe und Frieden verzehren? Dagegen ließe sich doch im Grunde Nichts einwenden.‹ Ganz gewiß nicht, aber will uns scheinen, als ob Herr Sontheim nichts weniger als das wolle. Herr Sontheim kann nicht nur gut singen, sondern noch viel besser rechnen. Beides ist ihm angeboren. [...]«15 Die hier angedeutete, rassisch begründete Affinität Sontheims zum Geld fügte sich nicht nur für den Autor der Schwäbischen VolksZeitung trefflich in das Klischee vom habgierigen Juden. Allen voran der Herausgeber und Theaterkritiker des Stuttgarter Neuen Tagblatts, Adolf MüllerPalm, benutzte immer wieder antisemitische Diffamierungen, um eine persönliche Rechnung mit dem Tenor zu begleichen. Sontheim hatte nämlich MüllerPalms Sohn, der mit Sängerambitionen zum Vorsingen erschienen war, ein vernichtendes Urteil ausgestellt. Sontheim schrieb rückblickend: »Von dieser Zeit erschienen im Tagblatt böse, böse Kritiken über mich, und zwar so, daß ich vom Jahr 1865 an keine mehr las. Je mehr mir nun von auswärts Anerkennung und Auszeichnung geworden, desto gehässiger wurden die Kritiken über mich, was ich aber erst später erfuhr.«16 Ein eindrückliches Bild von der Vehemenz, mit der dieser Journalist Musikkritik und Antisemitismus miteinander verschränkte, geben seine 1881 erschienenen Briefe aus der Bretterwelt. Auch Müller-Palm verband die Gagenforderungen Sontheims mit dem Stereotyp vom habgierigen Juden.17 Geradezu leitmotivisch benutzt der Theaterkritiker dieses Klischee.18 Dass Sontheims Gagenforderungen indes keineswegs unberechtigt waren, betonte noch Jahrzehnte später Rudolf Krauß in seiner Chronik des Stuttgarter Hoftheaters: »Er bezog 4000, später 5000 Gulden Gage. Man sprach von einem Ministergehalt; heute müsste man ihm mindestens das Sechsfache zahlen.«19 Die Honorarfrage blieb ein hochgradig mit Vorurteilen aufgeladenes Problem in Sontheims Karriere. Ein unveröffentlichter Brief des Dirigenten Heinrich Esser aus Wien an seine Ehefrau Marie aus dem Jahre 1868 lässt erahnen, in welch aggressiver Weise auch in Sontheims späteren 15 16 17 18 19

Schwäbische Volks-Zeitung vom 4.10.1865, S. 919ff. Adler zitiert eine nicht erhaltene handschriftliche Aufzeichnung Sontheims, S. 61. Adolf Müller-Palm: Briefe aus der Bretterwelt. Stuttgart 1881, S. 112. Ebd., S. 111f. Rudolf Krauß: Das Stuttgarter Hoftheater von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Stuttgart 1908, S. 220.

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Wiener Erfolgsjahren menschliche Schwächen des Sängers als dezidiert jüdische Eigenschaften ausgelegt wurden: […] Noch eine hübsche Geschichte: Sontheim ließ sich neulich den Operndiener Franz kommen und händigte ihm 50 fl. für das Chorpersonale ein. Bald darauf begegnete ihm Weinkopf, welchen er fragte, wie viele Personen beim Chor seien. Als er nun erfuhr, dass es 87 seien, wurde er stutzig. Er ließ sich von Franz die 50 fl. zurückgeben und schickte am andern Tage dem Weinkopf ein Paquet, enthaltend 87 Photographien des Saujuden, mit der Bitte, sie unter sein Personale zu vertheilen. Weinkopf war Trottel genug, diesen Auftrag zu übernehmen. Sontheim hat in einem Vierteljahr hier circa 10 000 fl. eingenommen.20

»Jene gleichsam animalische Wärme«. Sontheim und der Diskurs über Das Judentum in der Musik Während die oben angeführten Zitate vor allem mit klassischen antisemitischen Vorurteilen, nämlich dem Topos des Geldes, arbeiten, zeigt sich, dass zumindest der einflussreiche Theaterkritiker Müller-Palm bereits auch die Stereotype des rassischen Antisemitismus – und auf die Musik bezogen: Wagners Schrift über Das Judentum in der Musik – rezipiert hatte. In einer Passage über Gesangstechnik sinniert Müller-Palm über das Geheimnis von Sontheims Erfolg: »Es lag in dem Ton, in dem Gesang jene gleichsam animalische Wärme, jene Seele, die, mit Moses zu reden, im Blute steckt.«21 Unverkennbar ist hier der Einfluss Wagners, der in Das Judentum in der Musik auf die angeblich deformierte Sprachlichkeit der Juden hingewiesen hatte.22 Ebenfalls mit Blick auf Wagners Schrift und die darin ausgeführte These vom Juden, der nur »nachsprechen, nachkünsteln«23 kann, scheint die folgende Bemerkung Müller-Palms verfasst zu sein: Sontheim nahm längere Zeit Gesangsunterricht, [...] kam dann in Karlsruhe ans Hoftheater und profitirte dort viel von dem tüchtigen Haizinger, dem er mit seiner unglaublichen Spürkraft und seiner Findigkeit die Mundstellung, den Tonansatz und Vortrag abguckte und ablernte.24

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Heinrich Esser an Marie Esser, 11.08.1864. Österreichische Nationalbibliothek Wien, Handschriftenabteilung, Autograph 976/16–6. Müller-Palms Schmähungen fanden auch über Südwestdeutschland hinaus Leser. Selbst die renommierte Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung (AMZ) schreckte nicht davor zurück, die antisemitischen Diffamierungen Müller-Palms in aller Ausführlichkeit und im Wortlaut abzudrucken. Vgl.: AMZ vom 7.09.1881, S. 574. Dort auch wortwörtlich die Passage über Sontheims »animalische Wärme«. Jens Malte Fischer: Richard Wagners ›Das Judentum in der Musik‹. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus. Frankfurt a. M. 2000, S. 150. Ebd. Müller-Palm, S. 112.

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Ähnliche Ressentiments schimmern in einer Kritik der Schwäbischen VolksZeitung anlässlich einer Aufführung von Meyerbeers Der Prophet durch. Sontheim, der die Titelrolle gab, wurde vorgeworfen, in einer entscheidenden dramatischen Szene den notwendigen Ernst der Darstellung vermissen zu lassen: »Herr Sontheim mag das wohl einmal gesehen haben, denn er lächelte auch, aber schlau und pfiffig wie Einer, der im Handel den Andern über’s Ohr gehauen!«25 Obgleich vier Jahre vor der Neuveröffentlichung von Das Judentum in der Musik verfasst, bedient der unbekannte Theaterkritiker der Schwäbischen Volks-Zeitung die auch bei Wagner anzutreffenden Ressentiments vom Juden, der sich »uns nur mit lächerlich wirkender Leidenschaftlichkeit, nie aber mit sympathisch berührender Leidenschaft zu erkennen geben kann [...].«26 Sontheim begegnete den journalistischen Diffamierungen mit Selbstbewusstsein. Besonders interessant und bezeichnend ist sein Verhalten Richard Wagner gegenüber. In Sontheims Repertoire, das 101 Partien umfasste, findet sich nur eine einzige Wagner-Partie: Als Tannhäuser hatte Sontheim nämlich 1859 in der Stuttgarter Erstaufführung insgesamt zehnmal auf der Bühne gestanden. Fortan weigerte er sich, in Wagner-Opern mitzuwirken.27 Dass diese Abneigung gegen Wagners Musik nicht nur musikalisch begründet war oder mit der Spezialisierung Sontheims auf das italienische und französische Fach zusammenhing, betont Leo Adler: »[...] So haben wir doch seine große Antipathie gegen Wagner und seine Musik in ganz anderen Ursachen zu suchen.«28 Angeblich soll es im Mai 1864 in Stuttgart zu einem Eklat zwischen dem Komponisten und dem Sänger gekommen sein.29 Hierauf soll Sontheim Wagner »unverhohlen entgegengehalten [haben], wie er ihn dazu ermuntern könne, seine Opern zu singen, nachdem er […] dem Juden jede musikalische Begabung und Produktivität absprach?«30 Es ist anzunehmen, dass Sontheim durch die angeführten antisemitisch getönten Erlebnisse in seiner Berufslaufbahn für den Wagnerschen Antisemitismus in besonderer Weise sensibilisiert war. Besonders auffallend ist, dass der erfolgreiche Tenor bereits im zeitgenössischen Diskurs über Wagners Schrift als deren treffendste Widerlegung angeführt wurde. Eduard Hanslick merkte 1869 in seiner Besprechung von Das Judentum in der Musik an: »Ob sich Wagner’s christliches Gemüth wirklich gesträubt hätte, durch das Talent der Bettelheim, Csillag, Sontheim’s Erfolge zu erringen?«31 25 26 27 28 29 30 31

Sonntagsblatt zur Schwäbischen Volks-Zeitung vom 31.12.1865, S. 1247f. Fischer, S. 152. Eingabe Sontheims an den württembergischen König vom 11.10.1864. Auszugsweise bei Adler, S. 58. Adler, S. 56. Ausführlich dazu Jütte: Sontheim, S. 20f. Adler, S. 57. Eduard Hanslick: »Richard Wagner’s ›Judenthum in der Musik‹«. In: Wilhelm Lübke und Eduard Hanslick über Richard Wagner. Berlin 1869, S. 16.

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»Dein unerreichter Eleazar«. Der jüdische Tenor im Kontext der La Juive-Rezeption Sontheims offizielle Weigerung, in den Musikdramen Wagners mitzuwirken, erfolgte – vielleicht bezeichnenderweise – wenige Monate nach Wagners kurzem Aufenthalt in Stuttgart. Sontheims Entscheidung gegen den WagnerGesang war aber auch musikalisch konsequent. Sie ging einher mit einer besonderen Vorliebe des Tenors für die Grand Opéra. Sontheim zog es vor, in den Opern Meyerbeers und Halévys seine größten Erfolge zu feiern. Seit den 1860er Jahren wuchs jedoch die Unzufriedenheit des Heldentenors mit dem württembergischen Hoftheater. »Die Gehässigkeit der Kritik, die sich seit diesem Jahr [1865] zu der schon früher gerügten Teilnahmslosigkeit gesellte«,32 trug dazu bei. Deutlich spürte Sontheim die antisemitische Tendenz der Kritik: Man sieht, Jude vorn, Jude hinten! Als ob es ein Verbrechen wäre, als Jude in die Welt gekommen zu sein! Ich sollte meinen, auch Herr Müller-Palm müsste von der Ueberzeugung durchdrungen sein, dass man Jude, und doch ein guter, ja vortrefflicher Künstler sein kann, zumal in der Sphäre der Musik und des Theaters.33

Immer öfter bemühte sich Sontheim daher um Gastspiele an anderen Bühnen. Der Durchbruch gelang Sontheim 1868 in Wien. Es war zugleich sein erstes Gastspiel in der Habsburger Metropole. Zu diesem Zeitpunkt stand Sontheim bereits im 48. Lebensjahr, einem Alter, das bei vielen Tenören damals wie heute bereits den Herbst der Karriere markiert. Umso erstaunlicher sind die Zeugnisse, die sich vom phänomenalen Erfolg Sontheims vor allem als Éléazar in La Juive erhalten haben. Besonders anschaulich schilderte der renommierte Kritiker Ludwig Speidel den Erfolg: Der berühmte Gast sang den Eleazar in Halevys ›Jüdin‹, eine seiner glänzendsten Rollen seit ein paar Jahrzehnten. Sein Beispiel hat viele Eleazars gemacht, aber sie waren, an Sontheim gemessen, wie Katzen gegen einen Löwen. [...] Sein Eleazar ist eine tief leidenschaftliche Gestalt voll dramatischen Lebens. Auch das Wiener Publikum konnte sich ihrer Wirkung nicht entziehen und brach dem Gast gegenüber wiederholt in einen wahren Jubel aus.34

Dieser Erfolg, der Sontheim schlagartig Angebote selbst aus London und New York einbrachte, führte den Tenor in den folgenden Jahren noch zu insgesamt sieben Gastspielen nach Wien. Insgesamt stand er neunzig Mal auf Wiener Bühnen. Und immer wieder war es vorzüglich eine Partie, mit der er die Wiener zu begeistern wusste: die des Éléazar in Halévys La Juive. Der österreichische Komponist Franz von Suppé zeigte sich von Sontheims Darstellung 32 33 34

Adler, S. 60. Maschinenschriftliche Aufzeichnungen Sontheims [o.D., nach 1900]. LBI Sontheim Collection AR 520. Speidel, zitiert nach Adler, S. 69.

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(»Dein unerreichter Eleazar«35) ebenso hingerissen wie die Wiener Kritiker, darunter Eduard Hanslick. Auch von Seiten des Publikums wurde »dem größten lebenden Eleazar« in zahlreichen Zuschriften Bewunderung zuteil.36 Doch was machte – abgesehen von der sängerischen Meisterung der Partie – Sontheims Erfolg als Éléazar aus? Ausgeschlossen, dass die Partie Sontheim technisch eben nur besser ›lag‹ als andere. Er selber empfand vielmehr eine besondere Identifikation mit der Rolle. An seinen Freund Broda schrieb er: Aus [Deinem Brief] entnahm ich, daß Dir mein photographischer Eleazar große Freuden verursachte. Auch ich halte dieses Bild für ein gelungenes und ist dasselbe das einzige Kostümbild, welches eingerahmt in meinem Klavierzimmer hängt und was ich beim Anblick desselben empfinde, kannst Du – der mich so oft in dieser Partie gehört und gesehen – Dir wohl denken!!37

Ausweislich der erhaltenen Zeugnisse und Theaterkritiken scheint der Tenor, der aus seiner Glaubenszugehörigkeit keinen Hehl machte, der dargestellten Figur einerseits eine Aura von Authentizität verliehen, andererseits dem Publikum eine stereotype Projektion von Judentum ermöglicht zu haben. Halévys La Juive, zu deren berühmtesten Szenen die Feier des jüdischen Pessachfestes gehört, bot dafür zweifellos den geeigneten Rahmen. Sontheims Éléazar war eine durch und durch glaubwürdige Repräsentation von Judentum und dürfte als solche vom Publikum verstanden worden sein. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner eigenen Biographie gewann Sontheims Darstellung des Éléazar in den Augen des Publikums besondere Glaubwürdigkeit: »Daß Du in dieser Rolle Bedeutendes leisten wirst, war ich im voraus überzeugt«, schrieb sein Freund Kaibel dem erst 27jährigen.38 Sontheims Einfühlung in die Partie des Éléazar, die er in seinem Leben nicht weniger als 145mal verkörperte und von allen Rollen »am liebsten sang«,39 drückte sich auch in der gestischen Darstellung des Tenors aus – eine Feststellung, die im Kontext antisemitischer Klischees von jüdischer Körperlichkeit der Präzisierung bedarf. Sontheims Körpersprache auf der Bühne präfigurierte jene Stereotype, welche die Theaterwissenschaftlerin Jeanette Malkin in anderem Zusammenhang bezeichnet hat, als »the very thing that had so often been excoriated and cursed in Jews: emotive power and the over-expressive body«.40 Sontheims unmittelbare Körpersprache entsprach – so viele Kritiker – eben nicht den »strengeren ästhetischen 35 36 37 38 39 40

Franz von Suppé in einem Brief an Sontheim vom 16.10.1889. Abgedruckt bei Adler, S. 84f. Hier: Georg Kovats, Pressburg, an Sontheim, 18.01.1877. LBI Sontheim Collection AR 520. Sontheim an Broda (o.D.). Abgedruckt bei Adler, S. 63. Kaibel an Sontheim vom 20.09.1847. Abgedruckt bei Adler, S. 36. Adler, S. 98. Jeanette R. Malkin, Typoskript für den in Vorbereitung zum Druck befindlichen Sammelband Jews and the Emergence of Modern German Theatre. Ich danke Frau Dr. Malkin, Jerusalem, die mir ihren anregenden Artikel vorab zur Verfügung stellte.

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Anforderungen«, sondern war von »impulsiver Kraft«.41 Insbesondere in der Partie des Éléazar machten leidenschaftliche Gestik und ein ungezügeltes Temperament bereits zu Beginn von Sontheims Bühnenkarriere die Stärken – und wohl auch Schwächen – seiner Darstellung aus. Bezeichnend ist das Urteil des Karlsruher Hoftheaterdirektors Eduard Devrient, der 1854 nach einer Aufführung von La Juive über den 34jährigen Tenor in seinem Tagebuch vermerkte: Sontheim erregte Sturm von Beifall, aber ich überzeugte mich, daß er schlechterdings nicht zu uns paßt. Der vollkommene Gegensatz, in dem er zur Garrigues steht, ist der simple Beweis davon. Bei ihr alles Adel, Harmonie, Poesie, Maß, Würde und anmutvolle Regel, bei ihm alles gemein, regellos, unmäßig, voll Prätention und alle Harmonie des Ensembles zerstörend.42

Seine Zustimmung für ›Maß‹ und ›Würde‹ der Sopranistin Garrigues unterstreicht Devrient durch sein harsches Urteil über Sontheims ungestüme, daher maßlose Interpretation: » – und daneben der Pferdeknecht!« Die »rohe Seite«, die Sontheim in Devrients Augen verkörperte, stand dem »edlen Geschmack« entgegen. Die Grundsätzlichkeit, die der Karlsruher Hoftheaterdirektor dieser Unterscheidung beimaß, deutet darauf hin, dass Devrient nicht nur in musikalischen Kategorien dachte: »Das beschäftigt mich sehr ernst; ich will ein schriftliches Gutachten abfassen, die Sache ist zu wichtig.« Es ging Devrient wohl um eine, über Fragen der musikalischen Interpretation hinausgehende Beschäftigung mit dem »Rohen« und Maßlosen in der Kunst. Stereotype jüdischer Körperlichkeit und Kunstausübung dürften hierbei zumindest latent von Belang gewesen sein. Wenn der Kritiker der Wiener Neuen Freien Presse, Ludwig Speidel, über Sontheim schreibt: »Sein Eleazar ist eine tief leidenschaftliche Gestalt voll dramatischen Lebens«, dann lässt dies erahnen, dass der jüdische Sänger die Erwartungen, die das Publikums an die Darstellung von Judenfiguren stellte, erfüllte. Ludwig Speidels »physiognomisch-biographische Feuilletons«43 bieten jedoch auch ein eindrückliches Beispiel dafür, wie der überdurchschnittliche Anteil von Juden auf den Bühnen des 19. Jahrhunderts – in Speidels Worten: der Eintritt des »jüdische[n] Genius in der Welt der Bretter«44 – zu dieser Zeit erklärt wurde. Sontheims Erfolg eignete sich in Speidels Augen par exellence dazu, seine eigene These zu unterfüttern: Speidel, der 41 42

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Krauß, S. 220. [Eduard Devrient]: Aus seinen Tagebüchern. Karlsruhe 1852–1870. Hg. von Rolf Kabel, Bd. 2, Weimar 1964, S. 107–109. Devrient scheint mit den Jahren an Zufriedenheit mit Sontheim gewonnen zu haben. Anläßlich einer Aufführung von Verdis Il Trovatore im April 1869 verzeichnet Devrients Tagebuch jedenfalls ohne Kritik und Ironie: »Im Theater [...], das übervoll und voll von Beifall und Kränzen für den Gast Sontheim.« (S. 546). Hildegard Kernmayer: Judentum im Wiener Feuilleton (1848–1903). Exemplarische Untersuchungen zum literarästhetischen und politischen Diskurs der Moderne. Tübingen 1998, S. 191. Vgl. zu Speidel dort ausführlich: S. 191–204. Zitiert nach Kernmayer, S. 203.

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selbst einer jüdischen Familie aus Ulm entstammte, vertrat in zahlreichen Artikeln die Ansicht, die »sozusagen leibliche Phantasie« der Juden sei einer gewissen »deutschen Unbeholfenheit« gegenüber im Vorteil bei der Darstellung von Affekten und Emotionen.45 Jene Darstellung einer »tief leidenschaftlichen Gestalt voll dramatischen Lebens«, die der Feuilletonist Speidel in Sontheims Éléazar sah, entspricht der Logik des zeitgenössischen Diskurses über den vermeintlichen Konnex von Rasse und Kunst: Wo der Deutsche seine Seele mühsam wie aus einem Futteral hervorholt, ist sie bei unseren Brüdern aus dem Osten schon in lebhafter Bewegung. Indem der Jude ›mauschelt‹, das heißt an Leib und Seele zappelt, ist er für uns ruhigere Naturen ein Schauspieler, und wenn man einen jüdischen Rosskamm mit einem deutschen Bauer um ein Pferd handeln sieht, springt der Blutunterschied beider Leute deutlich genug ins Auge.46

Für die Literaturwissenschaftlerin Hildegard Kernmayer ist der »judenfeindliche Grundtenor dieser Aussage« offensichtlich.47 Tatsächlich offenbaren die reichlich verallgemeinernden Ausführungen des Feuilletonisten Speidel ein vom Rassenbegriff geprägtes Kunstverständnis. Speidels enthusiastisches Lob für Sontheim belegt jedoch auch, dass der Feuilletonist zwar rassisch argumentierte, aber mit seiner Prämisse einer Polarität von jüdischer und nicht-jüdischer Eignung zur Bühnenkunst keineswegs auf ein antisemitisches Urteil abzielte. Rasse – daran kann kein Zweifel bestehen – war vielmehr ein zentrales Wahrnehmungskriterium in der Kunst- und Musikrezeption des 19. Jahrhunderts.48 Der Umkehrschluss vom Faktum einer rassisch gefärbten Kunstauffassung auf einen unverhohlenen Antisemitismus oder – im Falle Speidels – auf einen ›jüdischen Selbsthass‹ greift mit Blick auf den komplexen Diskurs über Rasse und Kunst im 19. Jahrhundert zu kurz. Zwischen Ludwig Speidel, der in Sontheims Judentum vornehmlich ein authentisches Moment der Darstellung sah, und seinem Stuttgarter Kritikerkollegen Adolf Müller-Palm, dessen Abneigung gegen den Sänger auf jenem weltanschaulichen Boden stand, den Wagner in Das Judentum in der Musik geebnet hatte, klafft ein Graben. Die »animalische Wärme« Sontheims, von der Müller-Palm schwadronierte, ist bereits durch die Wortwahl als eine antisemitische, in Wagners Begrifflichkeit gekleidete Diffamierung bezeichnet. 45 46 47 48

Ebd. Speidel, zitiert nach Kernmayer, S. 203. Ebd. Dies gilt beispielsweise auch und insbesondere für die Rezeption des dunkelhäutigen Geigenvirtuosen Claudio José Domingo Brindis de Salas im deutschsprachigen Raum. Vgl. dazu: Daniel Jütte: »Schwarze, Juden und die Anfänge des Diskurses über Rasse und Musik im 19. Jahrhundert. Überlegungen anhand von Claudio José Domingo Brindis de Salas’ Reise durch Württemberg und Baden im Jahre 1882«. In: Archiv für Kulturgeschichte 88 (2006), S. 117–140. Auf dieser Tournee trat übrigens auch Heinrich Sontheim auf.

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Ehrensachen. Sontheim und der Stuttgarter La Juive-Skandal (1862) Sontheims Éléazar-Darstellung war jedoch keineswegs nur – wie die bisherigen Beispiele nahe legen könnten – Gegenstand für feuilletonistisch-kunsttheoretische Betrachtungen im weitesten Sinne. Die Zeugnisse von Devrient, Speidel und Müller-Palm sind in all ihrer Unterschiedlichkeit auch Belege für die Schwierigkeiten, die Rezipienten des 19. Jahrhunderts mit der Einordnung der überaus problematischen Bühnenfigur Éléazar hatten. Wie Diana Hallman in ihrer Studie über die Entstehung von La Juive im Zeitalter Louis-Philippes gezeigt hat, erschien die Figur des Éléazar – die für den Librettisten Scribe zweifellos in der Tradition von Glaubensfanatikerfiguren stand – vielen Zeitgenossen als extremes Beispiel des »unassimilable Jew«49. In der Tat musste Éléazar nach den Maßstäben des 19. Jahrhunderts, wie Hallman anmerkt, weitaus mehr als »Jude« denn als »Israelit« – wie der bevorzugte Terminus des Emanzipationszeitalters lautete – erscheinen.50 Die Figur des Éléazar besaß und besitzt zweifellos eine politische Dimension. Die Oper La Juive verdient daher nicht nur aufgrund ihrer jüdischen Thematik Beachtung, sondern auch weil die Figur des Éléazar zum aufgeklärten Zeitgeist der Entstehungsepoche gänzlich quer steht. Weder Halévy noch Scribe war bei der Konzeption der Oper daran gelegen, Juden oder Christen in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Vielmehr wurden beide Religionsgruppen als zutiefst intolerant vorgeführt. Liberalismus und Aufklärung wurden in La Juive am düsteren Gegenbeispiel propagiert.51 Die solchermaßen der Aufklärung verpflichtete Programmatik des Stückes beruhte auf der Zeichnung von Extremen auf dem Theater, bis hinein in die Gestik der Bühnenfiguren.52 Stereotypisierung – nicht zuletzt auch in den Details der Kostüme – war von entscheidender visueller Bedeutung, um die zentrale Polarisierung zwischen der intoleranten Lebenswelt des 15. Jahrhunderts und dem eingeforderten aufgeklärten Standpunkt des Publikums zu unterstreichen. »In its vivid portrayal of stereotypes blended with elements of Judaism and clerical history the opera gains in power and complexity.«53 Die Figur des Éléazar, die Anleihen bei Shylock und einem verzerrten Nathan nicht verhehlt, beruht in hohem Maße auf solchen konzeptionellen wie äußerlichen Stereotypen – und Kostümbilder des 19. Jahrhunderts geben hiervon ein eindrucksvolles Bild. Erst wenn man sich vergegenwärtigt, 49 50 51 52

53

Diana R. Hallman: Opera, Liberalism and Antisemitism in Nineteenth-Century France. The Politics of Halévy’s La Juive. Cambridge 2002, S. 236. Vgl. ebd., S. 211. Vgl. auch den Beitrag von Sieghart Döhring in diesem Band. Vgl. auch: Scott Lerner: »Jewish Identity and French Opera. Stage and Politics, 1831–60«. In: Historical Reflections 30 (2004), S. 255–282, hier: S. 265. Ausführlich dazu: v.a. Hallman, sowie auch Isabelle Moindrot: »Le geste et l´idéologie dans le »grand opéra« ›La Juive‹ de Fromental Halévy«. In: Romantis-me. Revue du dix-neuvième siècle 102 (1998), S. 63–79. Hallman, S. 257.

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von welch zentraler Bedeutung gerade das Äußere Éléazars für den gesamten Handlungszusammenhang ist, in dem diese Bühnenfigur mit Unbedingtheit den noch nicht assimilierten Juden par exellence verkörpert, lässt sich die Tragweite ermessen, die 1862 ein eigentlich harmloses Geschehnis auf der Bühne erhielt. Nach einer Aufführung von La Juive am Stuttgarter Hoftheater machte Sontheim am 19. Juni 1862 eine Eingabe bei der Intendanz. Die Sängerin Leisinger hatte Sontheim auf offener Bühne, angeblich »versehentlich«, Bart und Kippa weggerissen. Ausgerechnet also jene Requisiten, die maßgeblich das Äußere der Bühnenfigur Éléazar als jüdisch kennzeichneten. Sollte es sich um eine absichtliche Desavouierung Sontheims auf offener Bühne gehandelt haben, so wäre dies durchaus ›nur‹ einer von mehreren Vorfällen mit antisemitischer Tönung, die Sontheim in seiner Bühnenkarriere erlebte. Bezeichnend ist, dass bereits zwei Tage nach dem Vorfall auf der Hoftheaterbühne der Streit zu einer ›Ehrensache‹ geworden war. Der Ehemann der Sopranistin – Regimentsarzt Dr. Leisinger – teilte der Intendanz mit, dass er hoffe, den Streit »auf einem andern Wege als dem von ihm [Sontheim] eingeschlagenen zu erledigen, da ich die ganze Angelegenheit nicht vor ein Gericht gezogen wünsche.«54 Obgleich sich die Intendanz solche »dienstliche Einmischung« verbat,55 musste sie bereits am 26. Juni an den württembergischen Kriegsminister melden, dass »Dr. Leisinger und der Hofsänger Sontheim im Begriff stehen, sich auf Pistolen und zwar in gefährlicher Weise zu schlagen«.56 Schließlich schaltete sich sogar der württembergische König Wilhelm I. in die »Affäre Sontheim« ein und verordnete den Duellanten eine »gütliche Einigung«, zu der es schließlich nach langem Ringen und unter Androhung eines »ernsten Verweises« für die Sängerin erst 1863 kam.57 Die Vehemenz des Streites verdeutlicht, dass der desavouierende Vorfall während einer La Juive-Aufführung von Sontheim als ein unmittelbar seine Ehre tangierender Akt ausgelegt wurde. Die Herabsetzung und Lächerlichmachung der Bühnenfigur Éléazar scheint in ehrenrühriger Weise den jüdischen Sänger Sontheim getroffen zu haben. Diese augenscheinliche Diffusion zwischen Bühnenfigur und ihrem jüdischen Sänger-Darsteller lässt sich allerdings ebenso bei den Rezipienten feststellen. Denn nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Alltag färbte die Darstellung des Éléazar auf die Wahrnehmung des Sängers ab. Zeitgenössische Karikaturen belegen, wie sehr Sontheim in der öffentlichen Meinung mit der Rolle des Éléazar gleichgesetzt wurde. Auch von jüdischer Seite sah man in Sontheims Darstellung weit mehr als nur schauspielerisches Geschick. Berthold Auerbach, mit dem Sänger befreundet, dichtete zu dessen Ehren Verse, in denen er Sontheims Darstellung zur Verkörperung zweitausendjähriger jüdischer Leidensgeschichte stilisierte: »[...] Des unterdrückten Stammes Leid und 54 55 56 57

Dr. Leisinger an die Intendanz, 21.06.1862. StAL, E 18 II Bü 627. Intendanz an Dr. Leisinger, 22.06.1862. StAL, E 18 II Bü 627. Intendanz an den Kriegsminister, 26.06.1862. StAL, E 18 II Bü 627. Intendanz an Bertha Leisinger, 17.01.1863. StAL, E 18 II Bü 627.

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Haß,/hast du, der Herrscher in dem Reich der Töne,/Gestaltet vor dem Aug’ entzückter Menge [...].«58 Auch vielen Nichtjuden galt Sontheim – freilich unter umgekehrten Vorzeichen – als ein genuin jüdischer Sänger. Bezeichnend ist die Tatsache, dass Sontheim in der Stuttgarter Künstlergesellschaft Bergwerk den Mitgliedsnamen »Castrato« erhielt,59 der bei aller Scherzhaftigkeit doch auch eine Form von abschätziger Außenwahrnehmung darstellt. Möglicherweise spielt in die Bezeichnung ›Castrato‹ auch der Hinweis auf die Beschneidung hinein. Der Sozialhistoriker Sander Gilman hat seine These von der Konstruktion des ›jüdischen Körpers‹ als ein »beschädigter männlicher Körper« im 19. Jahrhundert vor allem am Faktum der Beschneidung festgemacht.60 Den Eindruck einer solchen angeblich jüdischen Körperlichkeit kolportierte der Stuttgarter Violinprofessor Alexander Eisenmann noch in den 1960er Jahren: »[…] Alte Stuttgarter, die ich in meiner Jugend kennen lernte, wussten Ergötzliches von seiner [Sontheims] Darbietung als Schwanenritter [wohl eher: Tannhäuser] zu erzählen, von seiner ungünstigen Figur, seinem dicken Hals, seinen Plattfüssen, die ihn zu einem watschelnden Gang nötigten […].«61 In dieser Beschreibung erscheint Sontheim als Karikatur, deren dezidiert als jüdisch betrachteten Körpermerkmale – nicht zuletzt die im Rassendiskurs als Klischee beliebten ›jüdischen‹ Plattfüße62 – in toto das Gesamtbild defizitärer Männlichkeit ergeben. Nach seinem Rückzug von der Opernbühne scheint Sontheim jedoch in mancher Hinsicht die Rollenerwartung von Publikum und Presse – bewusst oder unbewusst – enttäuscht zu haben. Die Jahre nach seiner Pensionierung im Jahre 1872 verbrachte er bis 1889 in seiner Villa Wieseneck in Jebenhausen, wo er einen Alltag im Gutsherrenstil inszenierte.63 Er fand Vergnügen darin, bei Gastspielen in Stuttgart und auswärts mit Pferd und Wagen aufzutauchen. Sontheims Lebensbild reicht von dieser Facette eines praktizierten, betont ländlich-bäuerlichen Deutschtums bis hin zum auf der Bühne zur Schau gestellten, im Alltag nicht verleugneten Judentum. Eine Spanne, die sich mit der abgegriffenen Bezeichnung »assimilierter Jude« nicht befriedigend deuten 58 59 60

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Adler, S. 101. Vgl. dazu: Gisela Hengstenberg: Rübezahl im Königsbau. Die Stuttgarter Künstlergesellschaft ›Das Strahlende Bergwerk‹. Stuttgart 2003, S. 83f. Sander L. Gilman: »Der ›jüdische Körper‹. Gedanken zum physischen Anderssein der Juden«. In: Julius H. Schoeps/Joachim Schlör (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. München 1995, S. 167–179. Alexander Eisenmann: Autobiographie [unveröffentlichtes maschinenschriftliches Manuskript mit handschriftlichen Ergänzungen]. In: Nachlaß Eisenmann, Stadtarchiv Stuttgart, Nr. 2015, Fasz. 22. Eine vom Verfasser kommentierte Teiledition erscheint demnächst in »Musik in Baden-Württemberg« 14 (2007). Vgl.: Sander Gilman: The Jew’s Body. Darin: »The Jewish Foot. A Foot-Note to the Jewish Body«, S. 38–59, New York 1991. Sowie insbesondere zur Plattfüßigkeit: Julia Schäfer: Vermessen – gezeichnet – verlacht. Judenbilder in populären Zeitschriften 1918–1933. Frankfurt a. M. 2005, S. 257. Adler, S. 80.

Der jüdische Tenor als Éléazar

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lässt. Vielmehr kann Sontheims Lebensweg als ein aufschlussreiches Beispiel für situative Ethnizität dienen. Sontheims komplexe Erscheinung ist als austarierte Balance zwischen den Ansprüchen und Erwartungen seiner Umwelt zu begreifen. Sontheims Biographie ist im Kontext der Geschichte des deutschen Judentums und des Wirkens jüdischer Musiker im deutschsprachigen Raum ebenso aussagekräftig wie im Rahmen der Frage nach kultureller Repräsentation von Judentum im 19. Jahrhundert.

Annemarie Fischer

Die ›Schöne Jüdin‹ in Oper und Schauspiel Heinrich Marschners Der Templer und die Jüdin, Salomon Hermann Mosenthals und Josef Bohuslav Foersters Debora(h)

Ein gängiger Typus jüdischer Frauenrollen ist die so genannte ›Schöne Jüdin‹, ein Begriff – oder eine »Sprachformel«, wie Florian Krobb es formuliert1 – der eine Vielzahl von Figurentypen in sich vereint, deren Provenienz nicht selten bis auf das Alte Testament zurückgeht. Im Folgenden sollen zwei weibliche Figuren hinsichtlich ihrer jüdischen Bestimmung untersucht werden, die jedoch dezidiert dem 19. Jahrhundert entstammen und keine direkten Ursprünge in der Mythologie oder im Altertum haben: Rebecca aus Marschners Vertonung von Walter Scotts Ivanhoe und die von Mosenthal zum Bühnenleben erweckte Deborah, die als Debora2 zur Titelfigur einer Oper des böhmischen Komponisten Josef Bohuslav Foerster wurde.3

Judenfiguren im historischen Roman Scotts Marschner und sein Librettist Wilhelm August Wohlbrück wählten als Stoff für ihre Oper einen Roman von Walter Scott, der nicht nur enorm erfolgreich und weit verbreitet zum Zeitpunkt der Uraufführung, sondern auch stilprägend für die Entwicklung des historischen Romans war, welcher dann das gesamte

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Florian Krobb: Die schöne Jüdin. Tübingen 1993, S. 18. Die Schreibweise der Namen entspricht jeweils der Schreibweise im Originaltext: Mosenthal schreibt »Deborah«, »Joseph«, »Hanna«, »Jakob«, Foerster hingegen »Debora«, »Josef«, »Hana«, »Jakub«. Der Scottsche »Isaac« wird bei Marschner zu »Isaak«. Zwar lässt sich die eine der Figuren, Mosenthals Deborah, bezüglich ihres Namens durchaus auf das Buch der Richter beziehen (Richter 4 und 5), über den Namen und ihre Religion hinaus haben jedoch die alttestamentarische Richterin und die aus Böhmen vertriebene Dramenfigur wenig gemeinsam. Rebecca trägt ebenfalls einige Zuschreibungen aus der jüdischen Geschichte. Sie ist beispielsweise bewandert in Heilkünsten, die Scott selbst als jüdische Tradition erläutert (vgl.: Sir Walter Scott: The Waverley Novels. Edinburgh 1889–1891, Bd. 9, S. 72–73). Seit dem Mittelalter lässt sich die Verbreitung medizinischer Berufe unter den Juden nachweisen und viele berühmte jüdische Mediziner gingen in die Geschichte ein. Auch eine Erfindung des 19. Jahrhunderts ist die Rachel aus Halévys La Juive deren Schicksal, abgesehen vom hier tragischen Ende, jedoch stark an Lessings Rahel aus Nathan der Weise erinnert.

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Jahrhundert bestimmen sollte.4 Im Bereich der Erzählliteratur widmete man sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst dem späten Mittelalter, so dass Scotts Roman mit seinem historisch früheren Stoff eine Besonderheit darstellte.5 Ritterstoffe waren auf der Bühne schon etwa ein halbes Jahrhundert vorher, in der Zeit, aus der auch Goethes Götz von Berlichingen stammt, auf der Bühne äußerst beliebt. Der Götz von Berlichingen gilt dabei auch als das erste deutsche historische Drama im Sinne des neuen individualisierten Geschichtsverständnisses der Goethezeit.6 Von besonderer Bedeutung für die historische Dichtung war insbesondere im 19. Jahrhundert ihr Bezug zur jeweiligen Gegenwart. So hatten die politischen Veränderungen großen Einfluss auf Geschichtsdrama, -roman und -lyrik. Thematisiert wurden nationale Fragen, das Verhältnis zu anderen Nationen, aber auch die Stellung von Minderheiten, so auch die der jüdischen Bevölkerung.7 Scotts Ivanhoe birgt in seinem Figurenarsenal zwei Juden: den alten Isaac und seine im Text immer wieder explizit als ›Schöne Jüdin‹ titulierte Tochter Rebecca.8 Bevor diese ›Schöne Jüdin‹ 4

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Vgl. u.a.: Wolfgang Beutin: »Historischer Roman und Zeit-Roman«. In: Gerd Sautermeister/Ulrich Schmid (Hg.): Zwischen Revolution und Restauration 1815–1848. München 1998, S. 175–194. Den Stoff des scottschen Romans haben einige weitere europäische Komponisten des 19. Jahrhunderts bearbeitet. Vgl. hierzu: Heinrich August Marschner: Der Templer und die Jüdin. Romantische Oper in drei Aufzügen. Dichtung nach Walter Scotts Ivanhoe von August Wilhelm Wohlbrück. Vollständiges Buch. Durchgearbeitet und herausgegeben von Carl Friedrich Wittmann. Leipzig 1896, S. 18. Und vgl.: Jerome Mitchell: The Walter Scott Operas. Alabama 1977, S. 145–200. Sowie: Ders.: More Scott Operas. Further analyses of operas based on the works of Sir Walter Scott. Lanham u.a. 1996, S. 169–179. Vgl.: Beutin, S. 181. Vgl.: Friedrich Sengle: »Das historische Drama in Deutschland«. Stuttgart 1969 (Erstauflage: Das deutsche Geschichtsdrama. Geschichte eines literarischen Mythos. Stuttgart 1952) und dessen Kommentierung in: Walter Hinck (Hg.): Geschichte als Schauspiel. Frankfurt a. M. 1981, S. 9. Georg Münzer bezeichnet 1901 Marschners Oper als Werk der ›historischen Romantik‹: »Die Musik zum Templer ist nicht anglisierend; aber es tönt der Klang ferner Zeit.« (Georg Münzer: Heinrich Marschner. Berlin 1901, S. 36). Marschner füllte seine Oper mit Schlachtliedern, Jagdliedern und Volkszenen. Bekannt ist, dass er sich von Eduard Genast ein Buch ›Schottischer Schlachtgesänge‹ aus dem 18. Jahrhundert geben ließ, das in Edinburgh erschienen war. (Vgl. hierzu: Marschner, S. 7). Der Schlachtgesang der Sachsen taucht in der Oper mehrmals auf. Allerdings finden sich keine musikalischen Hinweise auf Jüdisches. Beutin, S. 179. Auch Marschners Oper war in ihrem politischen Duktus zeitabhängig. Gegen Ende des Jahrhunderts änderte sich das Interesse an der Emanzipation der Juden immens und so auch das Interesse an Marschners Oper: »Heute klingen wohl noch jene Lieder an, aber die Schwärmerei für die Jüdin ist geschwunden. Wagners lichte Frauengestalten haben sie fast aus der Gunst des Publikums verdrängt. Auch die politische Sehnsucht jener Tage ist nicht mehr die unsere.« (Münzer, S. 42). Rebecca wird in Scotts Roman als »beautiful daughter of Zion« (S. 86), »fair jewess«

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Scotts näher betrachtet wird, sei kurz erläutert, wie das Judentum im Allgemeinen und die Figur des Isaac in diesem Erfolgsroman des 19. Jahrhunderts dargestellt werden. Rebeccas Vater erfüllt nicht nur das Klischee eines Juden als reicher Händler, er wird auch als verfolgter und unterdrückter Vertreter seines Volks dargestellt. Bereits die erste Handlungsepisode, an der Isaac beteiligt ist, endet mit einer Flucht, da er Gefahr läuft, vom Templer Brian de Bois-Guilbert entführt zu werden.9 Scott erläutert bei der Beschreibung des Erscheinungsbildes von Isaac die Situation der Juden im England des 12. Jahrhunderts: […] a tall thin old man, who, however, had lost by the habit of stooping much of his actual height, approached the lower end of the board. His features, keen and regular, with an aquiline nose, and piercing black eyes; his high and wrinkled forehead, and long grey hair and beard, would have been considered as handsome, had they not been the marks of a physiognomy peculiar to a race which, during those dark ages, was alike detested by the credulous and prejudiced vulgar, and persecuted, by the greedy and rapacious nobility, and who, perhaps owing to that very hatred and persecution, had adopted a national character, in which there was much, to say the least, mean and unamiable.10

Der gebeugte Mann mit stechend schwarzen Augen und Adlernase, den Scott beschreibt, entspricht den gängigen Zuschreibungen vermeintlich typisch jüdischer Hässlichkeit. Dabei bestätigt der Literat sowohl das Verständnis des Judentums als Rasse, die anhand äußerlicher Zeichen erkennbar ist, als auch das Schicksal der Juden als stets Unterdrückte und Verfolgte. Er weist darauf hin, dass nicht Isaacs spezielle Physiognomie den Juden hässlich erscheinen lässt, sondern die mit diesen äußeren Zeichen einhergehende Zuschreibung ›jüdisch‹ umgekehrt die Wahrnehmung seiner Erscheinung als nicht attraktiv bestimmt. Das Urteil über Schönheit resultiert hier also aus der rationalen Zuschreibung eines Stereotyps, nicht aus ästhetischer Empfindung. Zwar entschuldigt Scott den vermeintlich schlechten jüdischen ›Nationalcharakter‹ als Folge einer prekären Situation, entlarvt ihn jedoch nicht als äußerliche Zuschreibung, sondern bestimmt ihn als generell zu verstehende Eigenheit der Juden. Isaac bleibt innerhalb der Romanhandlung meist ausgeschlossen; er agiert außerhalb des zentralen Konflikts. Neben der Auseinandersetzung zwischen Sachsen und Normannen durchspielt diese Figur ihr eigenes Schicksal und greift lediglich diesbezüglich ein: Ivanhoe verhilft er aus Dankbarkeit für seine Rettung vor Brian de Bois-Guilbert zur Teilnahme am Turnier, Prince John leiht er aus Geschäftssinn Geld und Ivanhoe ruft er seiner Tochter zur Hilfe, nicht um der Willkür der Templer Einhalt zu gebieten. So wie er in der Hand-

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(z.B. S. 87) und »lovely jewess« (z.B. S. 204) bezeichnet. (zitiert nach: Scott, Bd. 9). Zu den verschiedenen Formulierungen in der englischen Literatur, die als ›Schöne Jüdin‹ zu verstehen sind vgl.: Krobb, S. 15–18. Vgl.: Scott, Bd. 9, S. 70ff. Ebd., S. 57–58.

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lung nicht eindeutig auf die Seite des Guten oder des Bösen zu stellen ist, ist er auch charakterlich nie eindeutig bestimmt. Zwar erfährt der Leser, dass er – trotzdem er sich immer wieder auf seine Armut beruft – sehr wohlhabend ist; an keiner Stelle des Romans zeigt er jedoch extreme Gier oder versucht jemanden geschäftlich zu übervorteilen. Allerdings offenbart sich des Öfteren die Liebe zu seinem Geld. So in Scotts erschütternder Szene, in der Reginald Front-de-Boeuf – ein Ritter, welcher der Ivanhoe und Löwenherz feindlichen Partei angehört, und in dessen Schloss die Entführten gefangen gehalten werden – versucht, von Isaac eine erhebliche Summe Geldes durch Folter zu erpressen.11 Dabei wird gleichzeitig die herzliche Liebe zu seiner Tochter deutlich. Scott, der jedem seiner Kapitel ein literarisches Zitat vorausschickt, wählte hier Shylocks Reaktion auf die Flucht Jessicas12, die bekanntlich ebenfalls eine Mischung aus Liebe zur Tochter und zum Geld zeigt. Auch die Menschlichkeit eines Juden zitiert er aus The Merchant of Venice. Er führt seine Figur Isaac of York ein, indem er ihrem ersten Auftritt die berühmte Passage aus Shylocks Monolog am Anfang des dritten Aktes voranstellt: »Hath not a Jew eyes? Hath not a Jew hands, organs, dimensions, senses, affections, passions […]«.13 Isaac zeigt sich weniger bösartig oder gutmütig, als pragmatisch und seinem Schicksal entsprechend handelnd. In Wilhelm August Wohlbrücks Libretto zu Marschners Oper, das sich an Jacob Michael Reinhold Lenz dramatischer Bearbeitung des Stoffes mit dem Titel Das Gericht der Templer orientiert, ist die ausführliche Romanexposition einschließlich des ersten Auftritts von Richard Löwenherz14 als ›Schwarzer Ritter‹ (Black Knight) beim Turnier ausgespart und das Figurenarsenal drastisch reduziert. Trotz der Vereinfachung der Handlungsstränge, weist die erste gedruckte Fassung von 1829 ein starkes Übergewicht des Dialogs auf, so dass ganze Szenen gesprochen und dementsprechend einige Rollen in der Regel mit Schauspielern besetzt wurden.15 In Marschners überarbeiteter, nicht ganz konsequenter Rezitativfassung war die Handlung nicht weniger kompliziert nachzuvollziehen, so dass weiterhin meist die Urfassung gespielt wurde. Die Handlung dieses Librettos beginnt unmittelbar mit einem kurzen Dialog der Ver11 12

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Ebd., S. 211ff. Eine weitere Erpressung eines Juden durch Folter berichtet Scott als Tat King Johns (S. 75). Berichtet von Solanio: »My daughter! O my ducats! O my daughter!/Fled with a Christian! O my Christian ducats!/Justice! the law! my ducats, and my daughter!/ A sealed bag, two sealed bags of ducats,/Of double ducats, stol'n from me by my daughter!« (William Shakespeare: The merchant of Venice, 2. Akt, 8. Szene). Bei Scott heißt es: »My daughter – O my ducats – O my daughter!/ – O my Christian ducats!/Justice – the Law – my ducats, and my daughter!« (Scott, Bd. 9, S. 211). Vgl.: Scott, Bd. 9, S. 57. Im Original wird er folgendermaßen benannt: »Richard of the Lion's Heart«/»the lion-hearted King«/»Richard the Lion-hearted«/»Richard Coeur-de-Lion«. Vgl.: Marschner, S. 17.

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schwörer, dem Zusammenschluss der Sachsen um Ivanhoes Vater Cedric mit den beiden Juden Isaak und Rebecca für die weitere Wegstrecke und gleich folgend der Entführung. Die Figur des Isaak ist dabei nicht nur um ihren ersten Auftritt und ihre ausführliche Erstcharakterisierung gebracht, sondern auch im weiteren Verlauf der Oper gegenüber ihrer Darstellung im Roman stark reduziert. Nichtsdestotrotz bleibt er jüdisch gekennzeichnet. In der Dialogfassung zeigt Isaak leichte Reste jüdischer Sprachformen.16 An zwei Stellen verwendete Wohlbrück die diesbezüglich typische Inversion: bei seinem ersten Auftritt in der Oper heißt es: »Ich habe gemietet eine Sänfte [...]«;17 später, im dritten Akt, wiederholt er immer wieder: »mach’, daß ich kann sprechen mit Wilfried von Ivanhoe«.18 Gemessen daran, dass Isaak nur viermal auftritt und zweimal davon stumm, lässt sich anhand der erwähnten Stellen durchaus eine Tendenz zum jüdischen Sprachduktus feststellen. Seine explizite Charakterisierung durch den Juden zugeschriebene Klischees entfällt jedoch und wird in die Phantasie des Zuschauers und seine Kenntnis des scottschen Romans verlagert. Beim ersten Auftritt Isaaks und Rebeccas in Marschners Oper werden beide durch die im Nebentext angewiesene Geste als orientalisch gekennzeichnet: sie küssen Rowena den Saum ihres Kleides, erst Rebecca, dann beide.19 Diese Geste dürfte vom zeitgenössischen Publikum als orientalisch erkannt worden sein. Es ist davon auszugehen, dass viele der Zuschauer den Roman gelesen hatten, in dem explizit erläutert wird, dass dieses Verhalten derart zuzuordnen sei. Die Orientalisierung jüdischer Figuren ist im 19. Jahrhundert durchaus üblich. So wird gerade die ›Schöne Jüdin‹ gerne mit orientalischer Pracht und Exotik ausgestattet.20 Die Wohnung von Rebecca und Isaac beschreibt Scott ebenfalls als orientalisch: »[…] an apartment, small indeed, but richly furnished with decorations of an oriental taste, […]«21 In Marschners Oper kommt allerdings keine Wohnung der jüdischen Figuren als Schauplatz vor. Die Möglichkeit einer in dieser Art prächtigen Ausstattung ließ er aus. Es ist jedoch davon auszugehen, dass das Kostüm der Rebecca in irgendeiner Form, sei es 16

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Die Erstfassung Marschners enthält einen großen Dialoganteil, so dass bestimmte Rollen – i.e. Isaak, Rowena, Löwenherz und Locksly – meist mit Schauspielern besetzt wurden. Die spätere Rezitativ-Fassung wurde, anscheinend wegen der nochmals erschwerten Zugänglichkeit ihrer Handlungszusammenhänge, selten gespielt. (Vgl.: Marschner, S. 17). Ebd., S. 34. Ebd., S. 96 (3. Akt, 3. Auftritt); der Ausspruch wird kurz darauf noch zweimal wiederholt. Ebd., S. 34. Dies gilt insbesondere für die alttestamentarischen Figuren wie Salome und Judith. Dementsprechend gestaltet sich vor allem das Kostüm, wie es beispielsweise auf Rollenportraits von Sarah Bernhardt oder auch Charlotte Wolter in diesen Rollen zu erkennen ist. Scott, Bd. 9, S. 115.

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durch einen Schleier, einen Turban oder durch türkische Pumphosen, mit orientalischen Elementen angereichert wurde.22 Diese Orientalisierung geht mit einem Attribut einher, das in der Stoffgeschichte des Ivanhoe allein der weiblichen Judenfigur zukommt, mit ihrer außergewöhnlichen Schönheit. Die ›Schöne Jüdin‹ ist sowohl in der Literatur und auf der Bühne als auch in der Bildenden Kunst meist versehen mit orientalischer Erotik. Bevor Rebecca in der Oper auftritt, wird sie von dem Templer Brian de Bois-Guilbert beschrieben und zugleich der dramatische Konflikt um sie angekündigt: Sah’st du die schöne Jüdin nicht/Mit holdem Engelsangesicht?/Jedwede Schönheit beim Turnier/Verdunkelte ja neben ihr!/Sie solle und muß mein Liebchen heißen,/ Und müßt ich Riesen sie entreißen.23

Während Rebecca bei Scott eine von mehreren Hauptfiguren ist, machten sie Wohlbrück und Marschner zur größten weiblichen Partie – sie ist die einzige weibliche Figur mit einer Arie, Rowena tritt in den Hintergrund, die Frau des Reginald Front-de-Boeuf, Ulrica, ist, genau wie die Dienerin Rowenas, vollkommen gestrichen. Rebeccas Schönheit ist keine subjektive Wahrnehmung des Templers Bois-Guilbert, sie wird allseits bemerkt und verleitet im Roman sogar beinahe Prince John dazu, sie beim Turnier zur »fair Sovereign of Love and of Beauty« zu machen.24 Mit ihrer Schönheit und der sich daran knüpfenden tragischen Handlung stellt Marschner den Motivbereich der belle juive ins Zentrum seiner Oper.

Jüdinnen und andere Schöne Häufig wird die ›Schöne Jüdin‹ als Subkategorie der femme fatale (vor)schnell auf ein übergreifendes Rollenschema festgelegt. Beide Begriffe variieren in ihrer Bedeutung und schließen sehr unterschiedliche Figurentypen ein. Mit einer nicht weiter eingeschränkten Auffassung der femme fatale als besonders reizvolle Frau, deren Existenz einen Mann ins Verderben stürzt, ließe sich bezüglich der Oper beispielsweise auch Tosca in dieses Rollenschema einfü22

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In der Theaterwissenschaftlichen Sammlung Schloß Wahn existiert ein leider nicht datierbarer Kupferstich – offensichtlich eine Illustration des Werks – mit dem Titel Der Templer und die Jüdin. In dieser trägt Rebecca eine turbanartige Kopfbedeckung und einen Schleier. Mitchell bildet in seinem Werk zu verschiedenen ScottOpern eine Darstellung der Rebecca von 1829 aus Rossinis Ivanhoe ab, die Schleier, Turban und Hosen trägt (vgl.: Mitchell, S. 147). Dabei ist allerdings zu beachten, dass in Rossinis Pasticcio Rebecca und Isaac zu den ›Mohammedanern‹ Léila und Ismael wurden. Mitchell vermutet, dass der Grund für diese Änderung in der Scheu vor einer Darstellung von Antisemitismus auf der Bühne zu suchen ist. Offenbar wird die Austauschbarkeit jüdischer Fremdheit mit orientalischer. Marschner, S. 29. Scott, Bd. 9, S. 91.

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gen.25 Carola Hilmes, deren »Minimaldefinition« des Topos ähnlich lautet, verweist allerdings auf die Bedeutung der Verführungskünste einer entsprechenden weiblichen Figur, die häufige Funktion der femme fatale als »Racheengel« und den nicht selten mit einer Bestrafung der Frau endenden Verlauf der Handlung.26 Die Unschuldige, wie sie Tosca darstellt, fällt damit aus dem Motivbereich der femme fatale heraus. Ganz im Gegensatz zur häufig an ihrer Situation unschuldigen ›Schönen Jüdin‹, deren Topos sich ebenfalls weit ausdehnen lässt, so dass die belle juive gelegentlich nahezu dem Fach der jugendlichen Liebhaberin jüdischen Zuschnitts gleichkommt. Die Zusammenschau einiger Figuren mit der Zuschreibung ›Schöne Jüdin‹ erschließt spezifischere Grundelemente, die zum Verständnis verschiedener weiblicher Figuren beitragen. So birgt die schon in ihrer Bezeichnung festgehaltene Schönheit nicht nur obligat erotische Reize, sondern auch stets Gefahr für sie selbst und für die männliche Pendant-Rolle. Diesbezüglich ist die belle juive häufig kongruent mit der femme fatale,27 deren Vernichtung am Ende als Eliminierung weiblicher Sinnlichkeit häufig die Erlösung für sich selbst und ihren Liebhaber bringt. Die Erlösung durch Selbstvernichtung in Form der Verneinung der eigenen Identität wird im 19. Jahrhundert, beispielsweise von Richard Wagner, auch den Juden als Option angetragen.28 So geschieht es dann bisweilen mit der ›Schönen Jüdin‹, wenn sie einerseits wie Salome am Kampf um ihren Eros scheitert und zu Tode kommt, andererseits wie Mosenthals Deborah vor die Wahl gestellt wird, sich als assimilierte Dorfbewohnerin in der christlichen Gemeinschaft zu verlieren, wie es ihr Glaubensgenosse, der Schulmeister getan hat, oder für immer (aus)zuwandern. Die besondere Bedeutung fremder Erotik anderer Welten,29 welche schon in der Benennung als Jüdin impliziert ist, deckt sich ebenfalls mit Vorstellungen von einer femme fatale. Anders als letztere definiert sich die ›Schöne Jüdin‹ allerdings nicht allein durch ihre Verführungskünste. Elvira Grözinger verortet sie zwischen Opfer und Heldin, in ihren Beispielen ausgedrückt zwischen Susanna im Bade und Judith.30 Oft ist in der Grundkonstellation einer – aufgrund ihrer Fremdheit – nicht zu verwirklichenden Liebe oder dem nicht erwiderten Begehren eines Mannes schon das fatale Ende der ›Schönen Jüdin‹ als Opfer 25 26 27

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Vgl.: Stefan Wurz: Kundry, Salome, Lulu. Frankfurt a. M. 2000, S. 8. Carola Hilmes: Die femme fatale. Stuttgart 1990, S. 10. Die bis heute für alle Untersuchungen der femme fatale unumgängliche Abhandlung von Mario Praz zeichnet detailliert die verschiedenen Ausformungen der femme fatale von der Antike an, insbesondere aber für die Romantik, auf. Vgl.: Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. München 31988, S. 167–251. Vgl.: Jens Malte Fischer: »Verführung und Erlösung in der Oper der Jahrhundertwende«. In: Helmut Kreuzer (Hg.): Don Juan und Femme fatale. München 1994, S. 143–154, insbesondere: S. 153. Praz, S. 175. Elvira Grözinger: Die schöne Jüdin. Berlin 2003, S. 7–28.

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vorprogrammiert; auch der heldenhafte Einsatz ihrer Schönheit zum Nutzen ihres Volkes ist ein gängiger Handlungsverlauf. Rebeccas Verhalten der ewig tugendhaft widerstehenden ist eines der vielen Rollenmuster der ersten dieser beiden Figurengruppen.31 Zum Typus der ›Schönen Jüdin‹ als Opfer gehört außerdem die Gefahr für den christlichen Angreifer ihrer Unschuld, dessen Faszination für die Jüdin fast bis zum Wahnsinn geht und zerstörerisch endet. Sein Tod ist bei Scott und Marschner sogar ein Gottesurteil, wie es in Form des Zweikampfes bis ins 16. Jahrhundert üblich war.32 Die tugendhafte Rebecca ist, so wie die meisten Opferrollen der ›Schönen Jüdin‹, passive Verführerin, die noch dazu bis zum Ende – sogar im Angesicht des Scheiterhaufens – widersteht. Hier scheidet sich die belle juive von der femme fatale im Sinne einer verhängnisvollen Verführerin, aber auch von einem anderen Typus gefährlicher Weiblichkeit: von der verführerischen ›Zigeunerin‹.33 Florian Krobb wählt in seiner Auseinandersetzung mit dem Topos der ›Schönen Jüdin‹ Jessica aus Shakespeares The Merchant of Venice als Modellbeispiel und zitiert den ersten Dialog zwischen ihr und Lanzelott. Letzterer bezeichnet Sie nicht nur als »sweet Jew«, sondern auch als »beautiful pagan«.34 Diese Koinzidenz zwischen ›Schöner Jüdin‹ und verführerischer ›Zigeunerin‹ durchzieht die Geschichte beider auch in Bezug auf die jeweilige Verbindung zur femme fatale. Dabei ist bemerkenswert, dass sowohl die ›Zigeunerin‹, als auch die ›Schöne Jüdin‹ im Gegensatz zur ›schönen Polin‹, ›Italienerin‹ etc. keine geographische Verortung haben. Offensichtlich gibt es einen besonderen Typus der Schönen und Verhängnisvollen der ›fahrenden Völker‹. Krobb stellt jedoch die ausschlaggebenden Unterschiede zwischen Jüdin und ›Zigeunerin‹ heraus, indem er auf das mangelnde Bekehrungspotential der ›Zigeunerin‹ und die fehlende gemeinsame Geschichte mit einem christlichen Theater- und Lesepublikum hinweist. Hinzu kommt, wie bei der femme fatale, der fehlende Typus der schönen Unschuld in der Figur einer ›Zigeunerin‹ auf der Bühne. 31

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Hinsichtlich dieser positiven jüdischen Hauptfigur ist es kaum verwunderlich, dass über die Frankfurter Erstaufführung von Der Templer und die Jüdin in der Leipziger Allgemeinen berichtet wurde, dem jüdischen Publikum habe das Stück gefallen (vgl.: Münzer, S. 42). Das heute bekannteste Beispiel für ein Gottesurteil auf der Bühne ist wohl das in Wagners Lohengrin. Wagner, der Marschners Oper gut kannte – er hatte sie bereits als Kapellmeister in Magdeburg 1834 einstudiert – und schätzte, nimmt in seiner Komposition, ob bewusst oder unbewusst sei dahingestellt, eindeutig musikalisch Bezug auf die Szene im Templerorden. (Vgl.: Richard Wagner: Lohengrin, I, 3, Klavierauszug: Leipzig (Edition Peters) o.J., ab [56] und Heinrich Marschner: Der Templer und die Jüdin, Introduktion zum Finale). ›Zigeunerin‹ ist hier und im Folgenden nicht als herabwürdigende Bezeichnung einer Volksgruppe, sondern als Name eines literarischen Typus bzw. einer Bühnenfigur zu verstehen. Vgl.: Krobb, S. 15.

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Allerdings lassen sich trotz der Unterschiede offensichtlich ›Zigeunerinnen‹ leicht in Jüdinnen verwandeln.

Die zeitgenössische Brisanz der böhmischen Jüdin ›Deborah‹ So geschah es bei Salomon Hermann Mosenthal, als er anhand einer Idee des Wiener Theaterautors Otto Prechtler, mit dem er befreundet war und häufig literarische Ideen besprach, Deborah erschuf.35 Prechtlers ›Zigeunerin‹ wurde so zur erfolgreichsten Bühnenjüdin der kommenden Jahrzehnte.36 Einige Züge ihrer Herkunft blieben der Jüdin in Form der oben erwähnten Gemeinsamkeiten jedoch erhalten; so identifiziert unter anderem ein Rezensent der Allgemeinen Zeitung des Judenthums das Element des Wanderns als den ›Zigeunern‹ eigen.37 Mit der Akzentverschiebung in Richtung Judentum bekam das Stück, das im politisch nicht unbedeutenden Jahr 1849 entstand, aktuelle Brisanz. Auch im liberalen Hamburg, wo die Uraufführung stattfand, blieb das neu errungene Gleichstellungsgesetz wie vielerorts unverwirklichtes Papier. Die politische Relevanz des Stücks fand ihren Niederschlag in der Rezeption. So kritisiert beispielsweise ein Rezensent der Berliner Vossischen Zeitung: Wenn wir als Boden des genannten Volksschauspiels die Zustände Oesterreichs zu betrachten haben, so dürfen wir sagen, daß der Verfasser dort selbst in Bezug auf die 35

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Prechtler überließ Mosenthal seine dramatische Skizze Die Tochter der Haide. Die Handlung des Mosenthalschen Dramas ist zugunsten der Nachvollziehbarkeit der Argumentation am Ende dieses Artikels angehängt. Dies gilt auch international. Im Almanach der Gesellschaft Deutscher Bühnenangehöriger wird von einer Übersetzung in 13 Sprachen und von je 400 Aufführungen in New York und in London gesprochen. (Hrsg. von Ernst Gettke, Berlin, 6. Jg., 1978, S. 111). Andernorts wird von 500 oder sogar 600 Aufführungen in London gesprochen. Kreuz- und Querzüge In: Allgemeine Zeitung des Judenthums. 14. Jg. (1850), S. 2. Die These Karbusicky’s (vgl.: Vladimir Karbusicky: »Salomon Mosenthals und Josef B. Foersters ›Deborah‹ und Gustav Mahlers ›Auferstehungssymphonie‹«. In: Kritische Musikästhetik und Wertungsforschung. Otto Kolleritsch zum 60. Geburtstag. Wien und Graz 1996, S. 78), der Aberglaube, Juden würden Kinder stehlen bezöge sich rein auf das ›Fahrende Volk‹ lässt sich leicht durch einen kurzen Blick in Luthers antisemitische Hetzschrift Von den jüden und iren lügen (1543) widerlegen. Dort heißt es: »Darum wisse Du, lieber Christ, und Zweifel nichts dran, daß Du, nähest nach dem Teufel, keinen bittern, giftigern, heftigern Feind habest, denn einen rechten Jüden, [...] Daher gibt man ihnen oft in den Historien schuld, daß sie die Brunnen vergiftet, Kinder gestohlen und gepfriemet haben, wie zu Trient, Weissensee usw. Sie sagen wohl nein dazu; aber es sei oder nicht, so weiß ich wohl, daß es am vollen, ganzen, breiten Willen bei ihnen nicht fehlet, wo sie mit der Tat dazu kommen konnten, heimlich oder offenbar.« Glaubhafter scheint Karbusicky’s musikalische Analyse des Fluchs der Deborah und anderer Szenen bei Foerster, indem er Schubarts Lehre von den Charakteren der Tonarten anwendet (vgl.: ebd., S. 80ff.). Seine Interpretationen unterstützen die jeweilige Charakterisierung der entsprechenden Situationen im Libretto.

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Annemarie Fischer neuere Zeit sichtlicher im Recht ist, als bei uns, seiner Heimath näher steht als den norddeutschen Ländern, namentlich Preußen, wo die Gleichstellung der Juden im Menschenrecht seit lange schon gefördert wurde.38

Auch in Preußen war die Diskussion um die Gleichstellung, obgleich die Reformen durchaus weiter gediehen waren, als in der politisch schwerfälligen Habsburger Monarchie, noch lange nicht abgekühlt. Auch wenn nun, wie Eugen Isolani zu Mosenthals 100. Geburtstag verkürzt berichtet, nicht nur in Berlin »Jede Aufführung [...] zu schallenden Demonstrationen benutzt«39 wurde, erregte das »Judenstück« auf beiden Seiten, jener der Antijudaisten einerseits und der jüdischen sowie philosemistischen andererseits, Proteste. Der oben bereits erwähnte Rezensent der Allgemeinen Zeitung des Judenthums warf Mosenthal, der selbst jüdischer Abstammung war, beispielsweise vor, zu ›christeln‹, indem er durch die negative Darstellung der Judenfiguren und der Überhöhung ihrer christlichen Gegenspieler das Judentum verrate.40 Auch bei der sehr erfolgreichen Wiener Erstaufführung41 wurde Mosenthal von Seiten jüdischer Honoratioren, die bei der Vorstellung zugegen waren, des Verrats bezichtigt. Etwa zwanzig Jahre danach konnte er allerdings für seine Deborah eine Ehrung als der erste, der für Akzeptanz der Juden in der Steiermark, dem Spielort des Dramas, gekämpft habe, entgegennehmen.42 Deborah wurde eben durchaus auch als jüdische Heldin akzeptiert: Es [das Spiel der Bertha Thomas als Deborah] war ein Silberton aus David’s Saiten, /Ein Strahl aus Zions Morgenroth!//[...] Es hob errettend sich aus ihren Fluten, ein Tempelbild in der Heidenzeit.43

heißt es in einem Sonett anlässlich der Berliner Aufführung. Im Gegensatz zu Rebecca widersteht Deborah nicht der Anziehung durch den christlichen Liebhaber. Allen religiösen Gegensätzen abschwörend wollen Sie und der Dörfler Joseph gemeinsam fliehen. Eine Vorstellung, die nicht nur für die Bewohner des dargestellten Dorfes unvorstellbar, sondern auch für das zeitgenössische Publikum der Uraufführung problematisch war. Die konfessionsübergreifende Heirat war, sowohl von christlicher Seite, als auch von jüdischer, noch lange nicht akzeptiert. Diese Problematik reichte bis weit ins 20. Jahrhundert, in dessen frühen sechziger Jahren eine Heirat außerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft immer noch als Loslösung vom jüdischen 38

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Zitiert nach: Allgemeine Zeitung des Judenthums. 13. Jg. (1849), S. 302f. (Über Salomon Hermann Mosenthals ›Deborah‹, Berliner Aufführung, nach der Vossischen Zeitung). Eugen Isolani: Der Dichter der Deborah. In: Die Deutsche Bühne. 13. Jahrgang (1921), Heft 7 (14. Februar), S. 116–117, hier: S. 117. Vgl.: Kreuz- und Querzüge, S. 2f. Theater an der Wien 1849. Vgl.: Josef Weilen: »S.H. Mosenthal. Ein Lebensbild.« In: S.H. Mosenthal’s gesammelte Werke. Stuttgart und Leipzig 1878, Bd. 6, S. 1–72, insbesondere: S. 36. Über(...) ›Deborah‹, Berliner Aufführung (...), S. 303.

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Glauben galt.44 Auch von christlicher Seite verstand man lange Zeit eine so genannte ›Mischehe‹ – auch unter Christen, die lediglich unterschiedlichen Bekenntnissen anhingen – als problematisch.45 Die jüdische Orthodoxie sieht die Ehe einer Jüdin oder eines Juden mit einem ›Goj‹ oder einer ›Gojette‹ als nichtig an. So bedarf eine solche Verbindung auch keiner Scheidung, um sie zu beenden, und es gehen aus ihr bei einer Trennung keinerlei Rechte hervor. Erst das Reformjudentum ließ interreligiöse Eheschließungen nach und nach zu. Die Trennung von Deborah und Joseph erfolgt allerdings nicht durch ihre Einsicht in diese glaubensbedingte Problematik. Im Gegenteil, sie sind beide drauf und dran, ihrem Glauben abzuschwören, um eine Verbindung eingehen zu können.46 Erst die Intrige des Schulmeisters, der verkündet, Deborah habe Geld genommen, damit sie verschwinde, obwohl er es einer anderen Jüdin gegeben hat, zerstört die Liebe der beiden. Der Schulmeister selbst ist eine weitere Judenfigur im Stück. Im Gegensatz zu Deborah, die keine bösartigintriganten Züge trägt, zeigt er sich jedoch als verschlagen. Seit Jahren assimiliert, getauft und seine jüdische Herkunft verleugnend führt er den Judenhass an und hetzt gegen Deborah.47 Wie die von Scott charakterisierten Juden zeigen auch einige der Judenfiguren Mosenthals, sobald sie bedrängt und ausgestoßen werden, negative Eigenschaften. Der Schulmeister wird äußerlich zum Antisemit, um seine eigene Identität nicht zu verraten; die zweite Jüdin im Flüchtlings-Treck nimmt im Namen aller Geld an, dafür, dass sie weiterziehen.48 Deborah selbst stößt, im Gegensatz zu ihrer christlichen Konkurrentin, die durchgehend Nächstenliebe, Mitleid und Verzeihung aufbringt, einen wilden Fluch aus. Genau bei diesem Kontrast setzt die bestehende Kritik an Mosenthal an. Charlene A. Lea, erläutert ausführlich, inwiefern Mosenthals Darstellung die christliche Sicht einnimmt und alle jüdischen Figuren negativ kennzeichnet.49 Ruth Klüger hingegen gibt in ihrer Untersuchung zum »Antisemitismus im Werk jüdischer Autoren«50 zu bedenken, dass Mosenthal für ein (vorwiegend) christliches Publikum schrieb und in seinem Werk durchaus das Leid, das Juden in dieser Zeit zu ertragen hatten, zur Geltung brachte. Auch die optimistische Schluss44 45

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Vgl.: Susan Weidmann Schneider: Intermarriage. The Challange of Living with Differences Between Christians and Jews. New York 1989, S. 1. Im Gottesdienst. Gebet- und Gesangbuch für das Bistum München und Freising aus dem Jahre 1950 heißt es z.B. unter dem Stichwort »Die glaubensverschiedene Ehe (Misch-Ehe)«, diese sei »recht oft ein Unglück für Ehegatten und Kinder«. (S. 274). Deborah versucht Joseph zu überzeugen und beschwört sogar eine neue »Religion der Liebe«. Vgl.: Mosenthal’s Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 21–22. So schon in der Exposition. Vgl.: S.H. Mosenthal’s Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 9-13. Ebd., S. 42–43. Vgl. u.a.: Charlene A. Lea: Emancipation, Assimilation and Stereotype. Bonn 1978, S. 63–69. Ruth Klüger: Die Ödnis des entlarvten Landes. Antisemitismus im Werk jüdischösterreichischer Autoren. In: Dies.: Katastrophen. Göttingen 1994, S. 57–73.

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utopie, in der Juden und Christen friedlich koexistieren, rechnet sie Mosenthal an. Diese Diskussion, die – wie oben erwähnt – schon die Zeitgenossen Mosenthals führten, zeigt inwiefern Deborah – ähnlich den in Scotts Roman beschriebenen jüdischen Figuren, ausgenommen Rebecca – eine zwiespältige Figur bleibt. Die politische Perspektive des jeweils Urteilenden ließ sie zu einer Figur werden, deren charakterliche Beurteilung ihrer Individualität beraubt wurde. Sie wurde für die einen Sinnbild der rachsüchtigen Jüdin, deren Charakterzeichnung als jüdisch auf ein falsches Bild des Gottes des Alten Testaments rekurriert, für die anderen Symbol für die Ausgrenzung der Juden und deren Überwindung. Die ›Schöne Jüdin‹ Deborah schwankt zwischen der Wahrnehmung als bedrängtes Opfer und verderbliche »juive fatale«.51 Im Zentrum beider Urteile steht der religiös-kulturelle Konflikt. Auch die femme fatale wird häufig Opfer ihrer eigenen Reize,52 die als Imagination männlicher Lust zu ihrer Entpersönlichung führen können. Carola Hilmes spricht vom »instrumentalisierte[n] Eros und reduzierte[n] Subjektbegriff«.53 Sie sieht die femme fatale als »Weiblichkeitsimagination im Spannungsverhältnis von Eros und Macht«54 und versteht sie als Ausdruck der Krise des modernen Individuums, das Ratio und Sittlichkeit über Körperlichkeit und Sinnlichkeit stellt.55 Der historische Konflikt, den die ›Schöne Jüdin‹ reflektiert, ist umfassender. Bei Mosenthal geht es nicht nur um Joseph und die Unterdrückung der erotischen Anziehung, die Deborah auf ihn ausübt, sondern um das gesamtgesellschaftliche Problem von Toleranz, Assimilation und Religion.

Religion auf der Bühne des 19. Jahrhunderts Religion auf der Bühne war im 19. Jahrhundert keine Selbstverständlichkeit. Betrachtet man Regiebücher dieser Zeit, ist jede noch so geringe Andeutung in dieser Hinsicht gestrichen.56 Selbst der uns heute harmlos erscheinende Ausruf »Ach Gott« wurde immer wieder zu »Oh Herr«. Auch Marschners Oper Der Templer und die Jüdin musste mit entsprechenden Einschnitten auf die Bühne 51 52 53 54 55

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Lea, S. 65/66. Hilmes, S. 225. Ebd., S. 74. Ebd. Vgl.: ebd., S. 77. Silvia Volckmann weist anhand des Tanzes der Salome ebenfalls auf die Thematisierung des Körpers durch die femme fatale hin und deutet die Bedrohung durch sie als Repräsentation des Kampfes im innern des modernen Individuums. Vgl.: Silvia Volckmann: »Die Frau mit zwei Köpfen«. In: Kreuzer, S. 127-142, insbesondere: S. 136. Es muss jedoch eingewendet werden, dass innerhalb des deutschsprachigen Theaters je nach Landesfürst regionale Unterschiede bestanden, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, zumal keine umfassende Aufführungsgeschichte beider Stücke vorhanden ist, anhand derer man Vergleiche ziehen könnte.

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gebracht werden. Eine Aufführung durch die Pichlersche Gesellschaft in Osnabrück im Herbst 1840 wurde nur unter der Auflage genehmigt, im Jagdlied des trink- und genussfreudigen Einsiedlermönchs Bruder Tuck,57 die Zeile »ora pro nobis« durch »Im grünen Kleide« zu ersetzen. Anscheinend gab es jedoch keine musikalischen Änderungen, so dass die in diesem Lied offensichtlichen Anspielungen auf kirchenmusikalische Verziehrungen und Harmonien als Kontrast zum Text, der von der Jagd und vom Trinken berichtet, erhalten blieben. Wahrscheinlich maß man der religiösen Sprachformel ein gefährlicheres Potential bei als der Musik. Schließlich brach bei der beschriebenen Aufführung der später hinzutretende Chor die Vorschrift und setzte mit dem originalen Vers wieder ein, das Publikum applaudierte demonstrativ. Dies alles hatte zur Folge, dass die Aufführung durch die Pichlersche Gesellschaft zunächst ganz verboten wurde.58 Auch Mosenthal war von derartigen Zensureinschnitten betroffen. Bei seinem Debüt im Burgtheater mit Cäcilia von Albano 1849 wurde aufgrund einer Anweisung, »von der Bühne alles ferne zu halten, was die Religion oder ihre Diener oder religiöse Gebräuche profaniren könnte« kurz vor der Premiere in die Dekoration eingegriffen und »alle Kreuze beseitigt und alles entfernt, was in der äußeren Erscheinung an das Priesterthum erinnern könnte«.59 Dennoch wurde das Drama Deborah, dessen zentrales Bild gleich zu Beginn eine Kirche darstellt, und in dem ein Pfarrer auftritt, auf den meisten deutschen Bühnen und auch international gespielt. Nicht nur aufgrund des Unterschieds im Glauben der Liebenden zeigt sich hier die religiöse Differenz, auch der Handlungsrahmen und die Figurenkonstellation betten das Drama in einen theologischen Kontext. So spiegelt der oben beschriebene Gegensatz zwischen Hanna und Deborah die Differenz zwischen dem vermeintlichen ›Rachegott‹ der Juden und der dem Christentum allein zugeschriebenen Nächstenliebe. Ebenso stellt der zeitliche und räumliche Rahmen des Dramas Deborah und die christliche Religion direkt gegenüber: Der Beginn des Stückes und ihr erster Auftritt finden am Karfreitag statt, so dass »die letzten Takte des Fastenlieds«60 zu hören sind und Hanna sofort Gelegenheit erhält ihre christliche Güte vorzustellen. Der letzte Dialog zwi-

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Marschner, S. 42 (1. Akt, 5. Auftritt/Nr. 4). Vgl.: Georg Fischer (Hg.): Marschner-Erinnerungen. Hannover und Leipzig 1918, S. 161f. Und vgl.: Münzer, S. 38. Hier wird berichtet, dass der Darsteller des Mönchs selbst in der dritten Strophe wieder in den Originaltext verfallen sei. Außerdem berichtet Münzer darüber, dass man in Dresden die fragliche Stelle mit »ergo bibamus«, in Wien mit »ergo oremus« ersetzte. Der Bassbariton – und Beckmesser der Uraufführung von Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg – Gustav Hölzel wurde 1863 von der Wiener Hofoper entlassen, da er in Bruder Tucks Lied eine Zeile tendenziös geändert hatte. Eduard Wlassack: Chronick des k.k. Hofburgtheaters. Wien 1876, S. 230. S.H. Mosenthal’s Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 3.

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schen Deborah und Joseph – ihr Fluch – findet auf dem Friedhof hinter der Kirche statt, in der Joseph gerade das Sakrament er Ehe empfangen hat.

Religiöser Kontrast in Foersters Dorfoper61 Der Komponist Josef Bohuslav Foerster, der aus einer Kantoren- und Organistenfamilie stammte, vertiefte in seiner Vertonung der Deborah die christlichreligiösen Elemente musikalisch.62 Aus den »letzten Takte[n] des Fastenliedes«63 in der Regieanweisung Mosenthals wurde in Foersters Debora ein vierstimmiger Eröffnungschor zum Karfreitag im Anschluss an das Vorspiel. Die Szene auf dem Friedhof, in der Deborah ihren Fluch ausstößt, wurde auf den Ostersonntag verlegt, während die Hochzeit von Hana und Josef danach, zwischen dem zweiten und dritten Akt, stattfindet. Wahrscheinlich geht diese Änderung auf Foerster selbst zurück, der seinen Librettisten, Jaroslav Kvapil,64 fast mit seiner Komposition einholte, bevor dieser mit dem Textbuch fertig war: So kam es, daß Kvapil, mit dem Text des zweiten Aufzugs noch nicht fertig war, als ich ihm den ersten vorspielte. Willig nahm er meine Vorschläge entgegen: einen 61

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Foersters Oper war in der Zeit der nationalsozialistischen Besatzung in Tschechien verboten (vgl. Vladimir Karbusicky: Co jsme dlu ni Jesefu Bohuslavu Foersterovi. Hudebni veda. Jg. 1998, S. 3–45, hier: S. 43). Auch in der Zeit des Kommunismus wurde Debora von der Bühne verdrängt (ebd.). In Deutschland galt ab 1933 ein Verbot. Seine Religiosität zeigte Foerster auch unter dem Druck des kommunistischen Regimes offen. Er antwortete auf ein Angebot, sich der staatstreuen ›Katholischen Aktion‹ anzuschließen, er sei berechtigt, »dem Ton und dem Kreuz« treu zu bleiben (ebd., S. 44/45). Den Stoff der Deborah kannte Foerster durch eine Aufführung im Neuen Tschechischen Theater in Prag (vgl.: Foerster: Der Pilger, S. 267). Über die erfolgreiche Uraufführung seiner Oper berichtet Foerster selbst in seiner Autobiographie (Ebd., S. 327–329). Debora wurde in Tschechien vorerst nur viermal aufgeführt und dann erst im Jahre 1905 im Rahmen eines Foerster-Zyklus wiederbelebt. Heute ist Foersters Oper weitgehend vergessen. Die Partitur ist nie im Druck erschienen, lediglich ein tschechischer Klavierauszug (Prag 1919) steht zur Verfügung. An dieser Stelle gilt der herzliche Dank Lena Telicsak, die dankenswerterweise den Text des Auszugs ins Deutsche übersetzte. Auch eine Aufnahme ist nicht zugänglich. Allerdings spielte das Studio Rundfunk Prag 1959 die Oper ein. Foerster schrieb noch eine weitere Oper mit einer jüdischen weiblichen Hauptrolle: Jessika, aus dem Jahre 1905, basiert auf einer tschechischen Adaption des shakespeareschen Merchant of Venice. (Vgl.: John Tyrell: Czech Opera. Cambridge, u.a. 1988, S. 93). S.H. Mosenthal’s Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 3. Jaroslav Kvapil, bekannt als Librettist Dvoráks (Rusalka), war außerdem nicht nur Dramatiker und Lyriker, sondern ab 1900 auch Intendant und Dramaturg des Prager Nationaltheaters, wo er einige bedeutende Neuerungen im Repertoire zu verantworten hatte, zu denen die Erstaufführungen von Stücken Tschechows, Ibsens und Gorkis gehörten.

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Auferstehungschor auf dem Friedhof und im dritten Akt ein Schnitterfest und ein Wiegenlied.65

Der erwähnte Auferstehungschor präzisiert die schon bei Mosenthal scharfe Gegenüberstellung des jüdischen Fluchs mit dem christlichen Glauben. Nachdem Josef schmerzlich davon überzeugt wurde, Debora habe ihn betrogen und er davon singt, dass »ein neuer Tag« anbreche, läutet die Kirchenglocke, welche die Gläubigen zur Ostermesse ruft.66 Im Anschluss an Deboras Arie darüber, was sie alles für Josef aufgegeben hat, erschallt der Auferstehungschor, in den Debora sozusagen im Duett mit der Gemeinde der Gläubigen von Hass erfüllt Schuldzuweisungen an das Christentum einwirft: Oh diese Sünder, diese haben unser Reich [Chor] gestohlen und uns erbarmungslos in die weite Welt vertrieben! [Chor] Dein Gotteshaus, mein Herr, ist irgendwo weit weg und zerstört und uns, deinen Kindern, brennt die heiße Erde unter den Füßen [Chor] nur die Blitze deines Zorns sind uns geblieben.67

Danach setzt die Orgel ein während Debora von der Liebe singt. Die Szene endet mit der Begegnung des ungleichen Paares. Es folgen die Auseinandersetzung, in der Josef die Jüdin beschuldigt, sie habe ihn verkauft und Deboras Fluch. Nach einer verzweifelten Arie Josefs, der nun unsicher über ihre Schuld ist, setzt nochmals die Orgel ein, bevor Josef mit den Worten »Oh Hana, mein Schutzengel!«68 endet. Schärfer kann man sich den Kontrast zwischen friedlicher Religiosität und hasserfülltem Fluch kaum vorstellen. Dabei sollte allerdings nicht die musikalische Ausführung einer dramatischen Situation mit unterschwelligem Antisemitismus verwechselt werden. Foerster war nicht nur ein aufrichtiger Freund Gustav Mahlers,69 sondern auch Vorsitzender des Vereins wider den Antisemitismus.70 Die Arie vor ihrer letzten direkten Begegnung mit Josef gibt Debora Raum, ihre Situation darzustellen. Allerdings haben Kvapil und Foerster eine bedeutende Stelle zur Ehrenrettung des Judentums nicht aus dem Drama übernommen, die einzige, in der die im restlichen Drama ständig präsente Vorstellung vom jüdischen Rachegott widerlegt wird:

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Foerster, Der Pilger, S. 267–268. Josef Bohuslav Foerster: Debora. Zpěvorah o 3 Jednánίch. Prag 1919 (Klavierauszug mit tschechischem Text), S. 53–54. Debora wird im dritten Akt, als sie Hanna begegnet, nochmals mit der Kirchenglocke, die acht Takte lang läutet, konfrontiert. Dazu kommt dann das ebenfalls monoton komponierte Vaterunser der Hanna (ebd., S. 97). Ebd., S. 60–61. Der deutsche Text folgt der unveröffentlichten Übersetzung Lena Telicsaks. Ebd., S. 73. Als solcher ist er weit mehr als in seiner Funktion als Komponist heute noch bekannt. In der Mahlerliteratur wird gerade bezüglich Mahlers Auferstehungssymphonie immer wieder auf Foersters Autobiographie Der Pilger verwiesen. Vgl.: Karbusicky, S. 44.

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Annemarie Fischer Ruben. Deborah! Denk’ an Gott, laß die Rache./Deborah. Er spricht: Ich bin ein eifersücht’ger Gott/Und bis in’s dritte Glied währt meine Strafe./Ruben. Und meine Liebe bis ins tausendste. Suchst Du den Haß in uns’rem heil’gen Glauben? Ihn hat das Elend sich hineingedichtet, die Menschen hassen, aber Gott vergibt.71

Dies ist höchstwahrscheinlich nicht einer absichtlich schlechteren Darstellung der Juden geschuldet, sondern vielmehr der praktischen Ökonomie beim erstellen eines Librettos. Foerster schränkte sein Figurenarsenal stark ein. Dabei ist nicht nur der versöhnlich sprechende Jude Ruben gestrichen worden, sondern auch die intrigante Judenfigur: der Schulmeister. Die dramatische Funktion dieses getauften Juden wurde auf zwei andere Rollen verteilt: Jakub, der auch den Part von Mosenthals Jakob übernimmt, schürt anstatt des Lehrers den Judenhass, der Pfarrer übernimmt es, die Bestechung einzuleiten. Dabei wird klar, dass der Pfarrer, der Deborah vor der drohenden Steinigung rettet, eher zum Schutz seiner Gemeinde, insbesondere Josefs, handelt, als aus Judenhass. Auch szenisch ist die Differenz zwischen jüdischer und christlicher Liebhaberin ausgeführt: Während Hanna mit Josef am Ostersonntag Hand in Hand in die Kirche geht72 hält ihn Debora am Karfreitag davon ab, das Haus des ihrer Ansicht nach »erbarmungslosen Gott[es]« zu betreten, der die Juden »auf dieser Welt alleingelassen« hat;73 während des Auferstehungschores scheint im Hintergrund eine Art Prozession stattzufinden: Die Gläubigen kommen singend aus der Kirche heraus. Das Publikum sieht ihre Bewegung nur anhand eines hölzernen Kreuzes, das in die Höhe gehalten wird und das über die Friedhofmauer ragt.

Den Karfreitags-Choral zu Beginn des Werks bezieht Foerster selbst auf seine Zeit in Osenic,74 den Geburtsort seines Vaters, wo er bereits als Grundschüler sowohl das Landleben, als auch tiefe Religiosität kennenlernte. Das Landleben, als zweite Kontrastebene zum heimatlosen Schicksal der ›Schönen Jüdin‹, bestimmt ebenfalls die theaterhistorische Bedeutung seiner Debora, die vor allem in seiner Pionierarbeit in Richtung einer ernsten Dorfoper liegt.75 Dies war für den Stoff naheliegend, bedenkt man, dass Mosenthals Drama, dem er die Gattungsbezeichnung ›Volksschauspiel‹ beigefügt hatte, auch einen Schritt des Volksstücks weg vom kommerziellen Unterhaltungstheater hin zum 71

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S.H. Mosenthal’s Gesammelte Werke. Bd. 2, S. 71. Charlene A. Lea kritisiert, diese Stelle habe zu wenig Gewicht gegenüber der ansonsten negativen Darstellung des Judentums als Anhängerschaft eines Rachegottes. (Lea, S. 67). Foerster: Debora, S. 58. Ebd., S. 28. Vgl. Foerster: Der Pilger, S. 267. Zu seinem ersten Aufenthalt in Osenice vgl. ebd., S. 116–125. Im Stile der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts volksidealistisch überhöht bezeichnen Helfert und Steinhard das Werk sogar als »ein szenisches Bild der Volksseele, mit allen ihren lyrischen Sehnsüchten«. (Vladimir Helfert/Erich Steinhard: Geschichte der Musik in der tschechoslovakischen Republik. Prag 1936, S. 70).

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gesellschaftskritischen Sozialdrama, das auch auf den Nationalbühnen gespielt wurde, darstellt. Die ernste Dorfoper war nach Smetanas Verkaufter Braut eine weitere Neuerung von Seiten der böhmischen Oper. Foerster und Kvapil verlegten die Handlung des Mosenthalschen Dramas von der Steiermark nach Böhmen, allerdings ohne genaue lokale Zuordnung. Man konnte sich bei den Dekorationen trotz der innovativen Gattung im Fundus bedienen. Der Prospekt, der den Dorfplatz darstellte, stammte naheliegend direkt aus der Verkauften Braut; woher die anderen Dekorationen kamen, ist nicht weiter dokumentiert. Abgesehen von der dörflichen Szenerie, die wahrscheinlich auch im Kostüm ihren Ausdruck fand, illustrieren musikalische Elemente das Dorfleben. Das im obigen Zitat aus Foersters Autobiographie erwähnte ›Schnitterfest‹ beginnt nach einem tanzartigen Vorspiel mit einem vierstimmigen Chor und der Überreichung eines Kranzes aus Kornähren.76 Darauf folgt zuerst ein »Tanz der Männer« im »Tempo di Polka« und dann eine Sousedska,77 ein böhmischer Paartanz im Dreierakt, dessen Ursprünge wohl im dörflichen liegen, der aber schnell in das städtische Tanzrepertoire überging. Oft wird er als eine Art. ›langsamer Ländler‹ beschrieben; bei Foerster ist er im Tempo eines langsamen Walzers notiert. Die Sousedska gehört wie die Polka und die Kalamajka zu den böhmischen Tänzen, die der Beseda – einem populären tschechischen Salontanz des 19. Jahrhunderts nach Art der französischen Quadrille, der auf Volkstänzen beruht – zugrunde liegen. Nachdem Josef den Lohn ausgehändigt und die Arbeiter ins Dorf geschickt hat, setzt nochmals der Chor ein, bevor Debora auftritt.78 Die ländliche Idylle, die schon bei Mosenthal Erntesegen und Familienglück zeigt, wird in der Oper in einem tänzerischen Wechsel zwischen Zwei- (Vorspiel und Polka) und Dreivierteltakt (Sousedska und Chorpartien) mit musikalischer couleur locale ausgemalt. In diese Idylle kehrt Deborah zwei Jahre nach dem Ausspruch ihres Fluches zurück und wird durch die überwältigende christliche Güte versöhnt. Erst Foersters zweite Oper, Eva, sollte dieses Konzept der ernsten Dorfoper beim Publikum erfolgreich umsetzen. Sie wurde auch in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts noch gespielt und sogar als Langspielplatte produziert.79

Juden als Fremde im Eigenen Sowohl die dörfliche Ausstattung als auch die Detailliebe der historischen Dichtung bieten Judenfiguren die Möglichkeit konkreter Verortung innerhalb einer christlichen Gesellschaft. Während im Alten Testament ihre Feinde auch 76 77 78 79

Foerster: Debora, S. 74–80. Ebd., S. 82–85 bzw. S. 85–87. Foerster schrieb auch für seine nächste Dorfoper, Eva, und sein Windquintett von 1909 eine Sousedska. Ebd., die Passage endet S. 93. Prag (Supraphon) 1982.

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Annemarie Fischer

Fremde aus christlicher Perspektive sind, zeigen sich neuzeitliche Judenfiguren wie Rebecca und Deborah, aber auch Isaac, im direkten Kontrast zur christlichen Gesellschaft. Dabei bleiben sie im Nationenkonflikt in Walter Scotts Roman Außenstehende. Während unter den Feinden gemeinsame Feierlichkeiten und Turniere auf Augenhöhe möglich sind, spielen die Juden wie die Geächteten und Leibeigenen eine ganz eigene Rolle. Deborahs Außenseitertum zeigt sich dagegen weniger zwischen zwei kämpfenden Fronten: Sie ist räumlich wie gesellschaftlich ausgeschlossen aus der verhältnismäßig homogenen Dorfgemeinschaft.80 In beiden Fällen werden Verfolgung und Unterdrückung thematisiert, sowie die Unvereinbarkeit der beiden religiösen Kulturen. Stellten alttestamentarische Jüdinnen wie Judith, Salome und Esther ein Faszinosum in ihrer Schönheit und ihrem Schicksal dar, zeigen sich Deborah und Rebecca als konkrete Gefahr für die bestehende Ordnung der christlichen Gesellschaft. Die Problematik des Zusammenlebens beider Kulturen findet ihre Lösung in gegenseitiger Toleranz, wie sie sich am Ende der Deborah als Ausdruck christlicher Nächstenliebe, bei Scott und Marschner aufgrund des solidarischen Verhaltens Isaacs, der Tugend und vor allem der Zurückhaltung Rebeccas formiert. Rebecca und Deborah gehen dabei zwei unterschiedliche Wege zum friedlichen Zusammenleben. Während Rebecca sich selbst durch ihr Verhalten und die Fügung in ihre Rolle als Jüdin den Respekt der Christen erwirbt, wird Deborah rein durch die Gnade der anderen versöhnt. Rebeccas letzte Worte in Wohlbrücks Textbuch scheinen als Quintessenz beider Stücke zu gelten: »Ihr habt ja für mich für die Jüdin gefochten! (Schmerzlich.) Was will die arme Jüdin mehr?«81 Eine endgültige Überwindung der Grenzen bleibt ausgeschlossen, lediglich ein sich gegenseitig tolerierendes Nebeneinander ist möglich. Dabei wird die politische Brisanz der Themen Assimilation, Toleranz und Gleichstellung gerade durch die direkte Konfrontation und das damit verbundene Konfliktpotential ins Theater getragen. Die Konflikte zeigen sich allerdings nicht nur in grausamer Verfolgung und Unterdrückung, sondern auch in gesellschaftlich fremden Situationen, wie der einer Liebe zwischen Jüdin und Christ. Letztere sind im interreligiösen Konflikt bis heute – nicht nur das Judentum betreffend – nicht endgültig gelöst. Der Topos der ›Schönen Jüdin‹ transportiert eine Problematik, die unter anderem bezüglich der im Moment vieldiskutierten ›Ehrenmorde‹ am Brennpunkt zwischen türkischer und deutscher Gesellschaft bis heute aktuell ist.

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Sie lebt außerhalb des Dorfes im Wald. Bei Mosenthal wird klar, dass ihr Aufenthalt in der Steiermark über Nacht sogar gesetzlich verboten ist. Marschner, S. 108.

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Zur Handlung der erwähnten Stücke Salomon Hermann Mosenthals Deborah Joseph verliebt sich in die Jüdin Deborah, die sich zusammen mit einigen aus Böhmen fliehenden Juden im Wald nahe seines Heimatdorfes in der Steiermark aufhält. Die gemeinsame Flucht des Paares wird verhindert, indem einige Dorfbewohner Deborah Geld schicken, um sie zum Verschwinden aus der Umgebung zu bewegen. Als eine mitreisende Jüdin ohne das Wissen Deborahs das Geld annimmt, heißt es: »Die Jüdin hat das Geld genommen und geht« (2. Akt, 13. Szene), so dass schließlich auch Josef an Deborahs Verrat glaubt. Als Reaktion darauf belegt Deborah Joseph, seine Braut Hanna und ihre zukünftigen gemeinsamen Kinder mit einem schrecklichen Fluch. Erst als sie fünf Jahre später zurückkehrt und bemerkt, dass Hanna ihr Kind ›Deborah‹ genannt hat, wird sie versöhnt.

Sir Walter Scotts Ivanhoe Ivanhoe und Richard the Lion-hearted kehren inkognito von den Kreuzzügen nach England zurück, wo Richards Bruder, Prince John, inzwischen versucht, die Macht zu übernehmen. Bei einem Turnier überwinden Ivanhoe und Richard, als der ›Enterbte‹ (Disinherited) und der ›Schwarze (Black) Ritter‹ die Anhänger Prince Johns. Beim gleichen Turnier wird von allen Seiten die unglaubliche Schönheit der Jüdin Rebecca bemerkt. Auf der Heimreise werden die Anhänger Richards und die mitreisenden Juden, Rebecca und ihr Vater, von Verbündeten Johns überfallen und entführt. Die Sachsenfürstin Rowena und die Jüdin Rebecca werden jeweils von einem Ritter bedrängt. Robin Hood tritt unter dem Namen Locksley bei Scott auf und befreit gemeinsam mit dem ›Black Knight‹, Bediensteten der Entführten und einer großen Gruppe geächteter Bogenschützen die Gefangenen. Rebecca wird von ihrem Bedränger – dem Templer Brian de Bois-Guilbert – zu seinem Orden verschleppt. Als ihr Vater dort auf die Freilassung Rebeccas drängt, wird sie angeklagt, den Templer behext zu haben und soll auf einem Scheiterhaufen verbrannt werden. Beim von ihr geforderten Gottesgericht tritt in letzter Sekunde Ivanhoe für sie ein und besiegt den für den Orden kämpfenden Bois-Guilbert, der ohne Ivanhoes Einfluss stirbt. Ivanhoe hat inzwischen Rowena, die er von Anfang an liebte, geheiratet. Rebecca, die ihn ebenfalls liebt muss sich damit begnügen, dass er für sie, die arme Jüdin, gekämpft hat. Die Unterschiede zu Foersters Oper Debora und Wohlbrücks Libretto zu Der Templer und die Jüdin werden innerhalb des Textes erläutert.

Sabrina Cherubini

Der Jude Almamen und seine Tochter Leila auf der Opernbühne Drei Adaptionen von Bulwer-Lyttons Roman Leila or The Siege of Granada (1838) Die Popularität des englischen Schriftstellers Edward Bulwer-Lytton1 (1803– 1873) war im 19. Jahrhundert auch außerhalb seines Heimatlandes sehr groß. Auflagen seiner sämtlichen Werke wurden schon 1838 in Paris und 1839 in Leipzig veröffentlicht. Seine historischen Romane lieferten reichlich Stoff für Oper: Wagners Rienzi, der letzte der Tribunen (1842) stellt das bekannteste Beispiel dafür dar. Auch Bulwer-Lyttons Roman Leila or The Siege of Granada, der im Spanien der Reconquista spielt, regte Librettisten und Komponisten zu Bearbeitungen für das Musiktheater an: In Italien entstanden nach dieser Vorlage Giuseppe Apollonis L’ebreo (1855) und Giuseppe Lambertis Leila di Granata (1856), in Tschechien komponierte Karel Bendl 1868 auch eine Lejla. Bulwer-Lyttons Leila or The Siege of Granada erschien 1838.2 Das Werk gehört der Gattung historischer bzw. pseudohistorischer Romane, in denen sich Geschichte und Romanze auf effektvoller Weise mischen. Das Hauptinteresse am Werk liegt in der Darstellung des konfliktreichen Zusammentreffens der drei Weltreligionen Christentum, Judentum und Islam, wobei der Schwerpunkt der Handlung auf der jüdischen Sphäre liegt. Dabei versucht Bulwer durchaus, einen relativ objektiven Standpunkt zu halten, ohne für die eine oder die andere Gruppierung bzw. Figur zu stark Partei zu nehmen. Schon der Romantitel ist dafür bezeichnend: Leila bewegt sich tatsächlich zwischen den drei Welten, ohne sich eindeutig zu einer zu bekennen – ihre finale Konversion zum Christentum erscheint eher als Akt der Anpassung zu ihrer neuen Umwelt, dem katholischen Hof, als Beweis einer innerlichen Überzeugung. Ungeachtet des Titels ist jedoch der Jude Almamen, Leilas Vater, die Hauptfigur des Romans. Seiner Charakterisierung gilt ohne Zweifel die größte Sorgfältigkeit des Autors. Der arabische Vorname darf über Almamens jüdische Zugehörigkeit nicht hinwegtäuschen: Er trägt ihn, um vor der Öffentlichkeit – sogar vor seinen Mitgläubigen – seine jüdische Identität zu verbergen, damit er als Hofberater das Vertrauen des maurischen Königs genießen darf. Almamen hat einen Pakt mit dem Granada belagernden spanischen König 1 2

Zu Edward Bulwer-Lytton vgl.: James L. Campbell: Edward Bulwer-Lytton. Boston 1986. Erste Ausgabe: Edward Bulwer-Lytton: Leila or The Siege of Granada and Calderon the Courtier. London 1838.

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Sabrina Cherubini

Ferdinand abgeschlossen: Er wird durch seinen Einfluss auf den maurischen König Boabdil die arabische Herrschaft abschwächen und somit den Fall der Stadt in die Hände der Spanier beschleunigen. Dafür verlangt er vom spanischen König keine persönliche Belohnung, sondern die Unterschrift unter ein Abkommen, in dem den Juden von Granada dieselben Rechte wie den Katholiken gewährleistet werden. Der Plan schlägt fehl, und Almamen wird selber betrogen. Ferdinand lässt vom Großinquisitoren Torquemada das Abkommen für ungültig erklären, Almamen wird als Ketzer verhaftet, und seine einzige Tochter Leila, die er den Spaniern als Pfand anvertraut hat, wird nicht zurückgegeben, sondern zum Christentum bekehrt. Almamen, der sich durch einen Zaubertrick von der Inquisition zu befreien vermag, schwört, sich an den Spaniern zu rächen, und kämpft gegen sie an der Seite der Araber. Leila enttäuscht ihn auf zweifacher Weise: Erstens verliebt sie sich in den arabischen Heerführer Muza, zweitens konvertiert sie zum Christentum. Er bringt sie deswegen um und wird dann anschließend von den Arabern gelyncht, als sie entdecken, er habe den Spaniern die Stadt verkaufen wollen. Die Figur des Juden wird als eine facettenreiche Persönlichkeit dargestellt und kann den ganzen Roman hindurch nicht als eindeutig negativer Charakter bezeichnet werden. Als Almamens auffälligste Eigenschaft wird sein Außenseitertum hervorgehoben: Er ist ein Einzelgänger, und nicht nur, weil er als Jude zwischen Arabern und Spaniern angesiedelt ist. Er handelt immer auf eigener Initiative und hat auch keinerlei Kontakte zu den anderen Juden der Stadt. Bulwer-Lytton erklärt: »Almamen was of no character common to his tribe.«3 Die jüdischen Nebenfiguren im Roman werden hingegen Stereotype folgend als gierige und geldsüchtige Opportunisten beschrieben, die sich auf Almamens Vermögen stürzen, nachdem er beim maurischen König in Ungnade gefallen ist. Almamens unterscheidendes Merkmal ist seine Bildung: Er hat sich nie wie die anderen Juden mit Handel und Geldgeschäften, sondern immer mit Studien beschäftigt. Diese haben ihn jedoch nicht zum gelehrten und passiven Betrachter gemacht. Sein Ehrgeiz spornte ihn dazu, ins aktive Leben zu stürzen. An dieser Stelle enthält der Titel des Kapitels Ambition distorted into vice by law4 eine wichtige Aussage: Wegen der gesetzlichen Beschränkungen, unter denen die Juden zu leiden haben, kann sich ein talentierter Mann wie Almamen nicht entfalten, was ihn dazu führt, »dunkle Misanthropie« und »intensive Rachegedanken« zu hegen. Almamen ist also ein Opfer der Gesellschaft, welche die Juden ins Abseits drängt. Aus diesem Grund ist er zum Fanatiker geworden: »Perhaps, had his religion been prosperous and powerful, he might have been a sceptic; persecution and affliction made him a fanatic. […] Almamen desires rather to advance, than to obey, his religion.«5 3 4 5

Ebd., S. 19. Ebd., Book I, Chapter V. Ebd., S. 20.

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Er ist nicht religiös, steht aber zur Judensache mit einem unerbittlichen Eifer, der schon an Fanatismus grenzt. Es handelt sich deswegen um eine widerspruchsvolle Figur, die von entgegen gesetzten Gefühlen bewegt wird, was in der schwierigen Beziehung zu seiner Tochter bewiesen wird, bei der auch Fürsorge und Zärtlichkeit an den Tag gelegt werden. Bulwer-Lyttons Interesse für den Okkultismus wird bei der Charakterisierung von Almamen als Zauberer spürbar. Als solcher wird der Jude von den Leuten in Granada bezeichnet, was seine Person mit einer geheimnisvollen Aura umhüllt. Sicher ist, dass Almamen über eine große Verwandlungsfähigkeit verfügt, da er sich bei jedem seiner Auftritte anders gekleidet und anders konnotiert vorstellt: Auf den Strassen von Granada erscheint er als geheimnisvoller Zauberer, beim Besuch des Königs als ernster Ratgeber, neben seiner Tochter als vornehmer Herr. Trotzdem erklärt der Autor, dass Almamen zwar nicht die Elemente beherrschen oder die Zukunft vorhersehen kann, durch seine Studien aber eine profunde Kenntnis der Geheimnisse der Natur erlangt hat, so dass er über Fähigkeiten verfügt, welche die einfachen Leute ins Staunen setzen können. Er ist also eher ein Scharlatan, dem einige Tricks erfolgreich gelingen. Der vorsätzliche Mord an der eigenen Tochter am Ende des Romans kippt jedoch die Konnotation der Figur entscheidend ins Negative um. Eine so grausame Tat ist selbst in der Literatur der Zeit nicht üblich. Ist der Roman deswegen antisemitisch? Bulwer-Lytton zeigt Verständnis für Almamens Forderungen nach Rechten für die Juden und redet von »fanaticism of persecution«.6 Auf der anderen Seite zirkuliert der Geldgier-Stereotyp fast überall im Roman. Almamen selbst wirft seinen Mitgläubigen vor, geizig und geldgierig zu sein, und dass diese Merkmale sein Volk verdorben haben. König Boabdil, der vom Autoren mit viel mehr Sympathie behandelt wird als sein spanisches Pendant König Ferdinand, argumentiert antijüdisch, wenn er behauptet, die Juden hätten ihr Schicksal verdient, weil sie als »thieves of the universe«7 nur auf Geld erpicht seien. Noch weiter geht die ›unschuldige‹ Leila, die sich nicht mit Vorurteilen wie Geldgier beschäftigt, sondern sich die christliche Anschuldigung zu eigen macht, nach der die Juden als Jesus Mörder gerecht bestraft werden. Nach der gründlichen Indoktrinierung, die sie von den Spaniern bekommen hat, sagt sie vor ihrem Vater: »First, in the history of the world, did the stern Hebrews inflict upon mankind the awful crime of persecution for opinions sake.«8 Das europäische Musiktheater kann als Spiegel der Rezeption eines im 19. Jahrhundert aktuellen Themenkomplexes wie der Judenemanzipation betrachtet werden. In den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, also in einer Zeit, in der der Emanzipationsprozess des europäischen Juden6 7 8

Ebd., S. 8. Ebd., S. 9. Ebd., S. 83.

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tums in seine akuteste Phase ging, entstanden drei Opernadaptionen von Bulwers Roman. Dabei wird deutlich, dass die Forderungen nach Emanzipation des europäischen Judentums und die Reaktionen darauf einen Niederschlag auch im Musiktheater gefunden haben. Der Zusammenhang zwischen Judencharakterisierung in den Opern und historischer Konstellation spielt hier eine besondere Rolle. Nach 1848 ging der Emanzipationsprozess des italienischen Judentums in seine akuteste Phase. Zwischen 1848 und 1861, d.h. bis zur Ausrufung des italienischen Nationalstaates, war die Lage der Juden in Italien äußerst gespalten. Zwar wurde 1848 mit der im Königreich Piemont-Sardinien verkündeten Gleichsetzung ein entscheidendes Ziel erreicht. Dieses Gesetz sowie die ganze piemontesische Verfassung wurden allerdings erst 1861 auf das gesamte italienische Gebiet ausgedehnt. Bis dahin ging in den restlichen italienischen Kleinstaaten – vor allem im Kirchenstaat – mit der Repression der patriotischen Bewegungen eine stärkere und unmittelbarere Unterdrückung der Juden einher.9 Giuseppe Apollonis L’ebreo10 (Der Jude) nach Bulwer-Lyttons Roman stellt ein bedeutendes Dokument für die gespaltene Rezeption der Judenproblematik in Italien dar. 1855 wurde die Oper in Venedig uraufgeführt,11 also 19 Jahre nach der Veröffentlichung ihrer Vorlage. Der Textverfasser, der Chirurg Antonio Boni, war kein professioneller Librettist. Trotzdem wurden operndramaturgisch bedingte Aspekte, wie die Beziehungen zu Verdis Opernästhetik, ins Libretto stark miteinbezogen. Die erste auffällige Änderung im Vergleich zum Roman liegt schon im Titel. Die Verschiebung auf die männliche Hauptfigur hängt womöglich mit der Anlehnung an Verdis frühe Dramaturgie zusammen, bei dessen Opern oft eine Bariton- oder Bassrolle als Titelheld agiert (vgl. Oberto, conte di San Bonifacio, Nabucco, Attila, Macbeth, Rigoletto). Wahrscheinlich hat der Librettist dabei auch die Ähnlichkeit mit dem Titel von Halévys erfolgreicher Oper La juive (auf italienisch L’ebrea) ausgenutzt. Der Titel ist aber auch bezeichnend für die schon erwähnte Hervorhebung des Jüdischen: Boni nennt sein Libretto etwa nicht Almamen oder Issachar, oder eventuell Almamen der Jude, sondern mit einem Prozess der Entpersönlichung einfach Der Jude. Die gattungseigenen Mittel des Romans erlaubten eine größere Psychologisierung der Figur, als es in einer Oper möglich ist. In der Handlungsführung lehnt sich der Librettist weitgehend an die Vorlage an. Trotzdem verursacht sein Straffungsprozess eine Vereinfachung, bei der die inneren Motivationen der Figuren auf kurze Sätze, manchmal auf Wörter reduziert werden, so dass die Vorgänge teilweise unverständlich bleiben. Im Libretto werden alle Affek9 10 11

Zum italienischen Judentum im 19. Jahrhundert siehe: Christoph Miething (Hg.): Judentum und Moderne in Frankreich und Italien. Tübingen 1998. Giuseppe Apolloni: L’ebreo. Melodramma tragico in un prologo e tre atti. Bologna 1870. Am 23. Januar 1855 im Teatro La Fenice.

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te akzentuiert, die die Figuren bewegen. Die Vorliebe für extrem rasche Änderungen in den Situationen und überspannte Reaktionen zeigt sich z.B. in den häufigen Maledizione-Szenen, die auch sonst ein Charakteristikum des italienischen melodramma darstellen: Leila wird zweimal verflucht, zuerst von Is-sachar, als sie sich weigert, die Araber zu verfluchen – die Szene kommt zwar im Roman vor, aber ohne Almamens Fluch auf die Tochter – dann noch von ihrem Geliebten, als er entdeckt, sie sei Christin geworden – das ist im Vergleich zum Roman komplett erfunden. Alle Figuren, nicht nur Issachar, reagieren ständig gewalttätig und impulsiv. Die Oper beginnt mit einem markanten Rezitativ Issachars, in dem er seinen Hass auf Christen und Mauren bekundet: Africa! Spagna! o genti abbominate! Sorge tra voi gigante Lo spregiato Israele; Iddio librando La lancia sta che delle orrende vostre Colpe trabocca; a entrambe un’egual sorte; Onta, sterminio e morte!!!12

Afrika! Spanien! O ihr verhassten Völker! Zwischen euch erhebt sich riesig das geächtete Israel; Gott hält die Waage, die mit euren entsetzlichen Sünden überfüllt ist; für beide ein gleiches Schicksal; Schande, Ausrottung und Tod!!!13

Almamen bzw. Issachar wird in Apollonis Werk nicht primär als Individuum vorgestellt, seine Persönlichkeit definiert sich eher über seine religiöse Zugehörigkeit. Bei dieser Akzentverschiebung wird auch der Eigenname der Figur geändert: Almamen wird zum jüdischen Issachar, der in Bulwer-Lyttons Roman nur als Name von Almamens verstorbenem Vater vorkommt. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass der Operntitel von der päpstlichen Zensur für die Aufführungen im Kirchenstaat mit einer Anlehnung an den Romantitel wieder in Lida di Granata geändert wurde, da Erwähnungen von nichtkatholischen Religionsgruppen womöglich zu vermeiden waren – wie es z.B. auch mit Bellinis Puritani und Meyerbeers Huguenots geschah. Interessant ist dabei, dass der Name Issachar wieder in Almamen (›Almame‹ auf Italienisch) zurückverwandelt, Leila in Lida italienisiert, und die historische Figur Ferdinand von Aragon zum erfundenen und neutralen Ruggero wird. Bei der historischen Figur von Torquemada, die im Roman vorkommt, hatte Boni schon Selbstzensur geübt und sie in einen undefinierten Gran Giudice (Großer Richter) umbenannt. Der ideologische Hintergrund, auf dem sich die italienische Oper im 19. Jahrhundert stützt, ist von katholischer Religiosität sehr stark geprägt. Christentum wird im Libretto durchgehend als »der wahre Glauben an den wahren Gott« bezeichnet. Klar definiert im Text ist die stereotypierte Gegenüberstellung zwischen »barmherzigem Gott der Christen« und »rachesüchtigem Gott der Juden«, der Issachar ein so schweres Opfer wie den Mord an die eigene Tochter abverlangt. Es gibt eine bezeichnende Änderung im Vergleich 12 13

Apolloni, S. 5. Alle deutschen Übersetzungen von der Verfasserin.

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zum Roman, was diesen Mord betrifft. In der Oper sinnt Issachar darüber nach, Gott die Tochter zu opfern, noch bevor er entdeckt hat, dass sie konvertiert hat, und erwähnt dabei Jephtas Episode. Für Issachar handelt es sich also um ein religiöses Opfer, wobei er sich bei Gott entschuldigt, da es ein »unwürdiges« ist! Der christliche Glaube wird hauptsächlich von Leila verkörpert, die in der italienischen Oper zur christlichen Fanatikerin wird. Schon am Anfang scheint sie eher der marianisch-katholischen Sphäre anzugehören – in ihrer Anbetungsszene im ersten Akt wendet sie sich an den Geist ihrer verstorbenen Mutter, die unter den Engeln im Himmel auf sie herabschauen würde. Außerdem bekennt sich Leila nie zum jüdischen Glauben. Am Ende wird sie sogar zur christlichen Märtyrerin stilisiert: Halbtot fleht sie noch die Spanier an, ihren mörderischen Vater zu sparen, da der christliche Gott ein barmherziger ist. Sie versucht sogar, als sie schon im Sterben liegt, den moslemischen Adel zu bekehren.14 Auf der anderen Seite schneiden die offiziellen Vertreter der katholischen Religion (Ferdinand, der Große Richter) nicht allzu positiv ab. Sie sind alles andere als barmherzig, am Schluss verurteilen sie Issachar zum Scheiterhaufen. Sie möchten auch den Moslem Adel gerne verbrennen, da greift aber die ›gute‹ Königin Isabella ein, die sich für Issachar nicht gerührt hatte, und rettet ihn. Zusammen mit dem kursierenden Vorurteil eines rachesüchtigen Gottes der Juden geht die Charakterisierung einer extrem rachesüchtigen Judenfigur (Issachar) einher, die sich selber als »angelo sterminator«15 (Würgeengel) bezeichnet. Issachar ist ein Heuchler und ein Manipulator: Zum maurischen König benimmt er sich karikiert unterwürfig und schleimig. Diese Eigenschaft wird dadurch betont, dass er orientalisch ›verweichlichte‹ Musik bestellt, um die Sinne des Königs weicher zu machen. Im Roman kommt der König allein auf den Gedanken, Musik zu hören. Im Vergleich zum Roman ist jedoch der Stereotyp des goldgierigen Juden vollkommen abwesend. Die Juden werden als religiöse, nicht als gesellschaftliche Gruppe betrachtet. Die Darstellung des Jüdischen beinhaltet deswegen auch Anklänge an Nabucco in der Schilderung seines Opferschicksals. Bezeichnend dafür ist eine Szene, die vom italienischen Librettisten erfunden wurde, und zwar die Verschwörungsszene im zweiten Akt, die auch Anlass zu einem Männerchor gibt. Issachar lädt seine jüdischen Mitgläubigen in ein unterirdisches Gewölbe zu einem Eid ein, bei dem sie Tod an die Spanier schwören. Im Roman nehmen die anderen Juden den Kämpfen zwischen Arabern und Spaniern überhaupt nicht teil. In L’ebreo werden also Juden vorgestellt, die hinter Issachars Plan stehen, der Text des Chores – wenn auch nicht 14

15

In diesem Zusammenhang muss berücksichtigt werden, dass die islamische Religion nicht ernst genommen wird: In diesem Bereich sind Vorurteile und Stereotype womöglich noch ausgeprägter als bei der Charakterisierung des Judentums. Apolloni, S. 17.

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die Musik – klingt nach dem großen Chor »Va pensiero« aus Nabucco, d.h. das Schicksal des verfolgten Volkes wird ernst genommen und betrauert: Or voi degli avi nostri ombre sorgete! […] Da que’ salci immortali L’arpe spiccate, onde le mosse corde Dall’aure mesta istoria Gemon di troni e popoli caduti!16

Nun erhebt euch, Schatten unserer Ahnen! […] Hängt von den unsterblichen Weiden die Harfen ab, deren vom Wind bewegte Saiten traurige Kunde von gefallenen Thronen und Völkern geben!

Aufschlussreich für die Rezeption der Oper in der Zeit der Uraufführung sind einige Rezensionen, in denen die Urteile von uneingeschränkter Begeisterung bis hin zum gnadenlosen Verriss reichen. Die Rezensenten betonen die Effekthascherei des Textes und machen dafür den Einfluss der französischen Opernästhetik verantwortlich. Zu bedenken ist, dass die Schöpfungen der Grand Opéra gerade in diesen Jahren die italienischen Bühnen eroberten. Die interessantesten Rezensionen, da sie einen Kommentar zur Dramaturgie der Oper liefern, befinden sich in den Zeitungen Scaramuccia (Scharmützel) und L’Armonia (Die Harmonie), wobei sich nur hinter dem zweiten Titel eine musikalische Fachzeitschrift verbirgt. In Scaramuccia wird die Charakterisierung der Hauptfigur als undeutlich empfunden. Almame17 wird als »gran cattivo soggetto o piuttosto un grand’imbecille«18 (sehr böser Typ, oder eher ein großer Dummkopf19) bezeichnet. Die Interpretation dieser Figur bietet dem Rezensenten erhebliche Schwierigkeiten. »Almame è un essere misterioso; non si sa veramente quale scopo lo fa agire; prima è l’ambizione, poi la vendetta contro gli Spagnoli, in fondo non è più né l’una né l’altra.«20 (Almame ist ein geheimnisvolles Wesen; man weiß nicht wirklich, zu welchem Ziel er handelt; zuerst ist es der Ehrgeiz, dann die Rache gegen die Spanier, im Grunde genommen ist es weder das eine noch das andere). Die Schlussfolgerung des Rezensenten ist: »Pare che quest’uomo l’avesse con tutto il genere umano«21 (Es scheint, dass dieser Mann es auf das ganze Menschengeschlecht abgesehen hat). Interessant ist die auf einem Missverständnis basierende Verdrehung bei der Deutung des Paktes zwischen Issachar und dem spanischen König. Sowohl bei Bulwer-Lytton als auch bei Apolloni verlangt Issachar für den Verkauf der Stadt Granada kein Geld, sondern bürgerliche Rechte für seine Mitgläubigen. Bei Bulwer-Lytton lehnt Issachar empört das Geld ab, das der König ihm anbietet. In der Rezension unterstellt der unaufmerksame oder vielleicht voreingenommene Journa16 17 18 19 20 21

Ebd., S. 18–19. Der Rezensent bezieht sich auf die Florentiner Erstaufführung der Oper (1856), der die Bearbeitung mit dem Titel Lida di Granata zugrunde lag. Scaramuccia, 8. November 1856. Alle deutschen Übersetzungen von der Verfasserin. Scaramuccia, 8. November 1856. Ebd.

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list, Issachar wolle die Stadt Granada den Spaniern verkaufen, und »farsela pagare da vero figlio d’Israele«22 (sie sich als echter Sohn Israels bezahlen lassen). Issachars Motivation wird auch missverstanden: Laut dem Rezensenten will er seine Sklaverei rächen. In der Oper wie in der Vorlage will der Jude aber hauptsächlich seinem Volk dienen. Sicher werden Rachegedanken zur Motivation von Issachars Taten: Er denkt aber nicht an sein persönliches Schicksal, sondern an das Schicksal seiner Gemeinde. Auch in der ausführlicheren und aufmerksameren Rezension aus L’Armonia herrscht Ratlosigkeit über die Deutung von Issachars Figur. Dabei ist der Journalist etwas gemäßigter: »Issachar è buono, o è cattivo? Non è sempre vero che un delitto commesso per fanatismo riveli un cuore al tutto perverso. Il librettista non seppe nel pubblico destare per Issachar né odio, né compassione.«23 (Ist Issachar gut oder böse? Es ist nicht immer so, dass ein aus Fanatismus begangenes Verbrechen auf ein vollkommen verderbtes Herz hindeutet. Der Librettist konnte weder Hass noch Mitleid für Issachar in den Zuschauern erwecken). Nach Bulwer-Lyttons Vorlage entstand das Libretto einer weiteren Oper. Als Pendant zu L’ebreo wirkt das viel schwächere Werk Leila di Granata. Melodramma tragico in tre atti di Felice Osasco,24 das von Giuseppe Lamberti (1820–1894) vertont und 1857 in Cuneo uraufgeführt wurde. Wie schon im Titel angedeutet, rückt die weibliche Figur der Judentochter hier wieder in den Mittelpunkt. Der Librettist Osasco behält den ursprünglichen Namen Almamen (in ›Almame‹ italienisiert) für die männliche Hauptfigur und zeigt eine größere Treue gegenüber der Vorlage – auch die nicht irrelevante Figur des alten Juden Elias, der in Bulwer-Lyttons Roman als geistlicher Führer der Juden von Granada auftritt, zählt wieder zu den Hauptrollen. Die Handlung dient trotzdem als bloße Schablone, auf der der Topos der ›Vendetta‹ (Rache) ausgearbeitet wird. Almames Taten werden ausschließlich durch seinen Hass gegenüber den Arabern motiviert, die in der Oper allerdings durch keine Figur vertreten werden. Die dritte religiöse Sphäre, Islam, die in Bulwer-Lyttons Roman eine große Rolle für das Gleichgewicht der historischen Schilderung spielte, stellt in dieser Oper nur den unsichtbaren Hintergrund der Handlung dar, entzieht sich aber jeder konkreten Charakterisierung. Der Zusammenprall der Kulturen beschränkt sich auf die christlichen und jüdischen Gebiete. Dabei werden die negativen Merkmale, die in Apollonis Oper mit Issachar verbunden wurden, auf die weibliche Figur übertragen. Jenseits der konventionellen Handlungsführung und der abgedroschenen Librettosprache fällt in Lambertis Oper ein neuer Ton in der Charakterisierung der weiblichen Hauptfigur auf. 22 23 24

Ebd. L’Armonia. 13. November 1856. Giuseppe Lamberti: Leila di Granata. Melodramma tragico in tre atti di Felice Osasco. Musica del maestro Giuseppe Lamberti. Da rappresentarsi per la prima volta al Teatro di Cuneo nel carnevale 1856–1857. Cuneo 1856.

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In Bulwer-Lyttons Roman wird Leilas Standhaftigkeit und Treue nicht nur durch die katholische Indoktrinierung der spanischen Königin Isabella, sondern auch durch die leidenschaftlichen Liebeserklärungen vom Königssohn Don Juan zum Schwanken gebracht. Der Librettist Osasco greift auf diesen Strang zurück, der in der ersten Adaption weggelassen wurde. In diesem Zusammenhang taucht das Vorurteil auf, nach dem jüdische Frauen – also orientalische Frauen allgemein – eine starke sexuelle Ausstrahlung ausüben, ja, eine Verhexung des Mannes bewirken können. Der Großinquisitor sieht in Leila eine Art Dalila, deren erotische Reize von der jüdischen Gemeinde gezielt eingesetzt wurden, um (christliche) Männer in ihrer Integrität zu gefährden: Questa donna, che in seno t’ha desto un affetto sì cieco, e fatale, è strumento a delitto infernale, che l’iniqua sua stirpe tramò. Col fascino d’amore funesto del tuo cuore si attenta all’impero, ma dal labbro il nefando mistero coi tormenti strapparle saprò.25

Diese Frau, die in deinem Busen eine solche blinde und verhängnisvolle Zuneigung erwecken konnte, ist ein Instrument zu einem höllischen Verbrechen, das ihr boshaftes Volk plante. Mit dem Reiz einer unheilvollen Liebe wird nach der Gewalt über dein Herz getrachtet, aber ich werde durch Folter das frevelhafte Geheimnis von ihren Lippen reißen können.

Gerade aus dem Mund der ›schönen Jüdin‹ kommt aber nicht die Bekenntnis ihrer Schuld, sondern die schlimmste Verurteilung des jüdischen Volkes: Die Juden haben das Unglück verdient, das es von jeher verfolge, weil sie am Tod Jesu Christi schuldig seien. Leila versucht, es dem Vater beizubringen: Per l’infinito anatema che sovra noi s’aggrava, che d’Israel la patria fè derelitta e schiava, al nobil cuore apprendi che i nostri mali orrendi son giusta pena al popolo che a morte un Dio dannò.26

Bei dem endlosen Fluch, der sich über uns verschärft, der Israels Land unglücklich und sklavisch macht, lerne in deinem edlen Herzen, dass grauenvolles Leiden eine gerechte Strafe für das Volk sind, das einen Gott zum Tode verurteilte.

Mit der »großen romantischen Oper in fünf Akten« Lejla27 von Karel Bendl (1838–1897) erweitert sich die Rezeption von Bulwer-Lyttons Roman auf den tschechischen Sprachraum. Auch in Tschechien wurde das Revolutionsjahr 1848 zu einem Schicksalsjahr für das Judentum, da die Proklamation des Österreichischen Grundgesetzes auch die Gleichberechtigung der Juden vorsah. Ab 1849 wurden das Familiantengesetz und die Bestimmung des Zwangsaufenthalts im Ghetto aufgehoben, und 1859 wurde den Juden das Recht gewährt, Grund und Boden zu besitzen.

25 26 27

Ebd., S. 11. Ebd., S. 17. Karel Bendl: Lejla, Noten mit tschech./dt. Text, Bd. 2, 1874–1875.

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Lejla wurde in ihrer ersten Fassung 1868, in einer zweiten überarbeiteten Fassung 1874 uraufgeführt.28 Verfasserin des Librettos war die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Eliška Krásnohorská, die später die Texte für Smetanas Hubička (Der Kuss, 1876), Tajemství (Das Geheimnis, 1878) und Čertova stĕna (Die Teufelswand, 1882) schrieb. In Bendls Werk, das sich an die Dramaturgie der Grand Opéra stark anlehnt, finden vor allem groß angelegte Szenen mit Chören und Balletten breiten Raum. Das orientalische Element, das in den früheren italienischen LeilaAdaptionen kaum eine Rolle spielte, wird besonders hervorgehoben. Die Betonung der couleur locale bewirkt eine Neubewertung des arabischen Handlungsstrangs. So stellt die große Gesang- und Tanzszene von Boabdils Sklavinnen im dritten Akt einen Höhepunkt der Oper dar. Auch wird die orien-talische Figur der Zorajda, Favoritin des Maurenkönigs, von Bendls Librettistin hinzugefügt, sie spielt eine dramaturgisch und sängerisch wesentliche Rolle. Lejla, die in Bendls Oper in den Mittelpunkt rückt, zeigt ein stärkeres Selbstbewusstsein in ihrer Rebellion gegen die väterliche Autorität. Der Konflikt zwischen Vater und Tochter ist facettenreicher als in den früheren Adaptionen. So begegnen sich die beiden im spanischen Lager: LEJLA entschleiert ihr Gesicht Bevor noch wirst du verlassen mich, um deinen Segen fleh’ ich dich! O strafe mich nach deinem Willen; doch ach! die Rache lass’ nicht fühlen! Ich bin dein Kind, und fremd ist mir die Welt; o segne mich mein einzig Schutz und Hort, o segne mich mit süßem Vaterwort im Leben zum letzten Mal! beugt sich tief vor ihm nieder ALMAMEN Zum letzten Mal? o nein! o nein! dich meine Tochter nicht mehr seh’n? Wenn du auch geirrt, bist mein Trost im Leben, und außer dich kann mir die Welt nichts geben! zeitlich nur scheidest von mir; doch auf ewig verzeih’ ich dir!29

Die Judenproblematik spielt in diesem Zusammenhang eine untergeordnete Rolle. In der Oper wird vor allem die innere Zerrissenheit der männlichen Hauptfigur zwischen väterlicher Liebe und religiöser Anhänglichkeit thematisiert. Schließlich triumphiert jedoch die väterliche Liebe. Deswegen zeigt das Finale auch die auffälligste Änderung in der Handlung: Lejla wird vom Vater zwar verflucht, aber nicht getötet. Mit dem Weglassen des Kindermordes ent28

29

Zu den Unterschieden zwischen den beiden Fassungen vgl.: Pavel Petránek: »Textunterschiede in den Quellen zu der Oper Lejla«. In: Z ceského ráje a Podkrkanosí, Vlastivedny sborník (15) 2002, S. 170–176. Bendl, S. 57.

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fällt das heikelste Element in Bulwer-Lyttons Roman, der eigentliche ›Stein des Anstoßes‹. Dabei werden die negativen Züge von Almamens Figur, die in den früheren Stoff-Behandlungen vorkamen, sichtlich entschärft. Entsprechend der verschärften Problematik jüdischer Emanzipation hatte die Darstellung der Judenfigur in Apollonis L’ebreo besonders prägnante Züge angenommen. Die starke Hervorhebung des Jüdischen ging im Werk mit einer teilweise äußerst negativen Charakterisierung einher: Dem Judentum werden Fanatismus, Rachesucht bis zum angedeuteten Brauch der menschlichen Opfer zugeschoben. Bei einer näheren Betrachtung kann allerdings eine gewisse Ambivalenz festgestellt werden. Der Kampf um Emanzipation wird durchaus ernsthaft thematisiert und verbindet sich mit einer schon in Verdis Nabucco (1842) vorhandenen Darstellung des Mitleid erregenden Verfolgungsschicksals der Juden. 1868 war die Emanzipationsfrage in ganz Europa nicht mehr so vehement wie 1855, dem Jahr von Apollonis Ebreo. Den veränderten historischen Konstellationen entsprechend wird Bulwer-Lyttons Vorlage in Bendls Oper Lejla zur reinen Kulisse für eine orientalisch angehauchte Liebesgeschichte zwischen der schönen Judentochter und dem arabischen Helden. Mehr als die Reflexion über das Schicksal der Juden, das in Apollonis Werk noch thematisiert wurde, werden später exotische Szenerien und verführerische Frauenfiguren mit dem Judentum in Verbindung gebracht. Schon die Charakterisierung der Leila in Lambertis Oper Leila di Granata antizipiert das antisemitisch-misogyne Stereotyp der sexuell bedrohlichen Jüdin, das vor allem auf Gestalten wie Judith, Dalila und Salome übertragen wird. Die Thematisierung der Judenproblematik weicht darüber hinaus immer stärker einem Finde-siècle-Exotismus, der in bekannteren Opern wie Gounods La reine de Saba (1862), Goldmarks Königin von Saba (1875), Saint-Saëns’ Samson et Dalila (1877) sowie Massenets Hérodiade (1881) und Thaïs (1894) Ausdruck finden wird.

Anat Feinberg

»Weil ich ein Jude bin« Albert Dulks Lea

»Mäßig besetzt; mäßiger Beifall«, notiert Albert Dulk in seinem Tagebuch am 23. Februar 1848 nach der Uraufführung seines Bühnenstücks Lea im Stadttheater seiner Geburtsstadt Königsberg.1 Die Premiere steht, trotz der eher zurückhaltenden Aufnahme in Königsberg, am Beginn einer theatergeschichtlichen Entwicklung: Lea war das erste Drama über den Hofjuden Joseph Süß Oppenheimer.2 Dulk betitelte sein Stück nach der fiktiven Schwester Oppenheimers in Wilhelm Hauffs Novelle Jud Süß (1827).3 War diese Verschiebung ein Zeichen künstlerischer Autonomie? Betrachtete Dulk Lea als die gewichtige Hauptfigur? Oder lässt sich dahinter auch ein bewusster Vorsatz Dulks erkennen, sich von Hauffs Vorlage grundsätzlich zu distanzieren? Theaterdirektor Arthur Woltersdorff taufte gleichwohl das Premierenstück in »Josef Süß, der Jude« um. Dulk erklärt diese Entscheidung mit »Speculationsverlangen«.4 Jüdische Figuren aller Couleur – edle einerseits, abstoßende andrerseits – waren, wie der Theaterdirektor und wohl auch der Dramatiker wusste, in Dramen und Possen jener Zeit verbreitet und, zumal im Titel, ein zugkräftiger Faktor.5 Die kommerziellen Überlegungen des Theaterdirektors scheinen je1 2

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Zitiert nach: Jochen Meyer: Albert Dulk, ein Achtundvierziger. Aus dem Lebensroman eines Radikalen. Marbach 1988 (=Marbacher Magazin, Nr. 48, 1988), S. 53. Zur Geschichte der Bühnenfigur Jud Süß vgl.: Alexandra Przyrembel/Jörg Schönert (Hg.): ›Jud Süß‹, Hofjude, literarische Figur, antisemitisches Zerrbild. Berlin 2006. Zur Rezeption siehe: Barbara Gerber: Jud Süß, Aufstieg und Fall im frühen 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur historischen Antisemitismus- und Rezeptionsforschung. Hamburg 1990. Siehe auch: Hellmut G. Haasis: ›Jud Süß‹ – Joseph Süß Oppenheimer. Rezeption und Verdrängung eines Justizmordes. In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 42 (2003), S. 178–184. Zur Darstellung Jud Süß in Hauffs Novelle vgl.: Gabriele von Glasenapp: Literarische Popularisierungsprozesse eines antijüdischen Stereotyps: Wilhelm Hauffs Erzählung ›Jud Süss‹. In: Przyrembel/ Schönert, wie Anm. 2, S. 125–138. Zitiert nach: Meyer, wie Anm. 1, S. 53. Zu Judenfiguren auf der deutschen Bühne im 19. Jahrhundert und deren Rezeption vgl. u.a.: Helmut Jenzsch: Jüdische Figuren in deutschen Bühnentexten des 18. Jahrhunderts. Diss., Hamburg 1974. Charlene A. Lea: Emancipation, Assimilation and Stereotype. The Image of the Jew in German and Austrian Drama (1880–1850). Bonn 1978. Peter R. Erspamer: The Elusiveness of Tolerance: The ›Jewish Question‹ from Lessing to the Napoleonic Wars. Chapel Hill and London 1997.

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Anat Feinberg

denfalls bei Dulks Lea der künstlerischen Absicht des Stückes nicht absolut zuwiderzulaufen, wie in diesem Beitrag u.a. zu zeigen sein wird. Lea ist das dritte6 – und übrigens meistaufgeführte7 – Theaterstück Dulks (1819–1884). Biographisches Wissen über den Autor kann heute kaum noch vorausgesetzt werden, weshalb hier zuerst einige Information zu seiner schillernden Person stehen sollen. Als einen ›Achtundvierziger‹ hat Jochen Meyer den Schriftsteller bezeichnet,8 der jedoch auch ein promovierter Chemiker, Dichter und Revolutionär war. »Sein Leben ist ein Roman, den man nicht schreiben kann, weil er als Erfindung viel zu unwahrscheinlich wäre«, schrieb 1918 Isolde Kurz.9 Dieser oftmals abgedroschene Satz trifft im Falle Dulks voll zu. Ein Jahr nach dem mäßigen Erfolg von Lea zieht der dreißigjährige Dulk Bilanz seines bisherigen Lebens und liefert dabei das ernüchternde Selbstportrait eines Tausendsassas: Was hilft es mir, daß ich in m[einem] Leben, Commentvorsteher, Burschenschafter, Pharmazeut, Postofficiant, Lazarethapotheker, Magnetiseur, Lyriker, Dramatiker, Novellist, Critiker, Zeitungsschreiber, Redacteur sogar, Lustspieldichter, Vorleser, Freicorpsführer, Bürgerwehrlieutenant, Volksklubvorsteher, Chemiker, Turnrath, Schuldirektor [...] und weiß Gott noch was geworden bin...? Wen hat es satt gemacht? Wär es nicht lächerlich, wenn es nicht tragisch wäre?10

Nicht minder exzentrisch erweist sich Dulk in den darauf folgenden Jahren: Zwei Monate lang (1850) lebt er asketisch in einer Höhle am Sinai unweit des biblischen Bergs Horeb, reist nach Lappland (1872), durchschwimmt als Erster den Bodensee (1865) und wird als bester Schwimmer Europas, gar als »Lord Byron des schwäbischen Meers«11 gefeiert. Rastlos zieht er immer wieder um, führt eine Menage à quatre (mit drei Frauen und mehreren Kindern), träumt 6 7

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Davor schrieb Dulk die Dramen Orla (1844) und Tschech (1846). Bereits in Orla wird auch die Diskriminierung der Juden thematisiert. Nach der Uraufführung in Königsberg wurde das Stück am 14. November 1872 am Stadt-Theater in Ulm aufgeführt sowie zum ersten Mal nach der Shoah, am 13. Januar 1988 an der Württembergischen Landesbühne in Esslingen. Für Rezensionen und Materialien zur Aufführung von Lea vgl.: Astrid Schweimler: Albert Friedrich Benno Dulk (1819–1884): Ein Dramatiker als Wegbereiter der gesellschaftlichen Emanzipation. Gießen 1998, S. 208–209. Meyer, wie Anm. 1. Vgl. auch: Ludwig Fränkel: »Albert Dulk«. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 48, Berlin 1971, S. 149–169. Horst Denkler: »Revolutionäre Dramaturgie und revolutionäres Drama im Vormärz und Märzrevolution«. In: Helmut Kreuzer (Hg.): Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Stuttgart 1969, S. 306–337. Isolde Kurz: Aus meinem Jugendland. Stuttgart und Berlin 1918, S. 106. Zitiert nach Meyer, wie Anm. 1, S. 2. Albert Dulk: Brief an Pauline Butter, 26.2.1849. Zitiert nach Schweimler, wie Anm. 7, S. 23. Steffen Prosse und Beate Volmari: Angeklagt! Außergewöhnliche Kriminalfälle in Schwaben. Stuttgart 2005, S. 104.

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von »neuen Formen« des Zusammenlebens von Mann und Frau,12 setzt sich für die Sozialdemokratie ein und verbüßt wegen Vergehens gegen die öffentliche Ordnung und wegen Religionsschmähung eine 14-monatige Haftstrafe im Gefängnis und gründet zwei Jahre vor seinem Tod eine Freidenkergemeinde in Stuttgart. An der schriftstellerischen Tätigkeit hält er neben allen anderen Aktivitäten fest. Wie viele seiner Zeitgenossen betrachtete auch Dulk das Theater als einen Ort des politisch-gesellschaftlichen Diskurses sowie als Sprachrohr für die Verbreitung und Propagierung von neuem, gar revolutionärem Gedankengut. Seine Dramen – ob sie auf zeitgenössischen Ereignissen (wie Tschech, 1846) oder gar auf biblischen Stoffen basieren (wie Simson, 1850) – setzen sich mit dem Zeitgeschehen auseinander und fordern eine umfangreiche politischgesellschaftliche wie auch religiöse Emanzipation ein. »Dulk schrieb Dramen, um die Menschen zu verändern und für gesellschaftliche Problematiken zugänglich zu machen«,13 konstatiert Astrid Schweimler, die das Engagement des Dramatikers für die Emanzipation der Juden im Rahmen seiner »Emanzipationsbestrebungen« für gesellschaftlich Diskriminierte, darunter Arbeiter und Frauen, sieht. Zweifellos von gewichtiger Bedeutung für Dulks Anteilnahme am ›jüdischen Schicksal‹ war seine Freundschaft mit Johann Jacoby (1805–1877), einem Königsberger Arzt, Vorkämpfer der Judenemanzipation und führenden Radikaldemokraten. Womöglich war Jacoby für Dulk, was Mendelssohn für Lessing gewesen war. Auch für Dulks Schaffen war die Freundschaft befruchtend. Zurecht bezeichnet Josef Nadler Dulk als »den eigentlichen Schüler Jacobys«;14 Der Freund und Hausarzt der Familie war nicht nur Dulks Mentor in Sachen Politik; früh ermunterte er den Chemiker auch zur Poesie15 und animierte den etwas jüngeren Dulk u.a., ein Drama über den zeitgenössischen Politiker Heinrich Tschech (der als Bürgermeister von Storkow den Juden »gleiche Rechte und gleiche Achtung« verlieh) zu verfassen.16 Die lebenslange Freundschaft mit Jacoby17 gewährte Dulk Einblick in die oft schwierige Situation deutscher Juden im allgemeinen und im besonderen in die frustrierenden Erfahrungen eines Juden, der immer wieder erleben musste, wie »er in der ›Entwicklung seiner Fähigkeiten gehemmt‹, in dem ungestörten Genuß der Menschen- und Bürgerrechte gekränkt und überdies noch – als natürliche Folge hiervon – der allgemeinen Verachtung preisgegeben wurde«.18 Obwohl er 12 13 14 15 16 17 18

Vgl.: Meyer, wie Anm. 1, S. 66. Schweimler, wie Anm. 7, S. 40–41. Josef Nadler: »Geistiges Leben Ost- und Westpreußens«. In: Deutsche Staatenbildung und deutsche Kultur im Preußenlande. Königsberg 1931, S. 553. Meyer, wie Anm. 1, S. 19. Vgl.: Schweimler, wie Anm. 7, S. 21 und S. 63. Davon zeugt auch der Briefwechsel zwischen den beiden sowie die Rede Dulks zur Totenfeier von Jacoby in Stuttgart. Süddeutsche Volkszeitung 25. April 1877, S. 1f. Edmund Silberner (Hg.): Johann Jacoby. Briefwechsel 1816–1849. Hannover 1974, S. 40.

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kein religiöser Jude war, stellte sich für Jacoby die Taufe nie als realistische Option. Den Reformbestrebungen innerhalb des Judentums nahestehend, verließ er dennoch nicht die eher orthodoxe Königsberger Synagogengemeinde,19 blieb »der Judenheit treu«20 und plädierte sein Leben lang im Geiste der Aufklärung für Toleranz zwischen allen Glaubensrichtungen. Begeistert zeigten sich Jacoby und sein Freund Dulk für Lessing, dem sie »eine so starke persönliche Neigung« entgegenbrachten.21 Dulk bekennt im Tagebuch, dass er sich Lessing »am meisten verwandt« fühle.22 Astrid Schweimler rückt Lea in die Nähe von Lessings Nathan der Weise und spricht von »schwesterliche[n]« Verbindungen beider Dramen.23 Nicht zu bestreiten ist freilich der Geist der aufgeklärten Humanität in beiden Stücken, das Plädoyer für Toleranz und Menschenwürde. Gleichwohl zeigt sich bei genauer Betrachtung der dramaturgischen Konzeption und des Aufbaus von Dulks Lea sowie angesichts der Verwendung von diskreditierenden Klischees auch eine intertextuelle Nähe zu Shakespeares Kaufmann von Venedig, jenem Drama über Liebe und Freundschaft und die »extreame crueltie of Shylocke the Iewe«,24 das seit der deutschen Erstaufführung im Jahr 1777 eine große Popularität auf deutschen Bühnen genoss.25 Dabei lässt sich feststellen, dass Dulks Drama von seiner Vorlage, Wilhelm Hauffs Novelle Jud Süß (1827), längst nicht nur in den letzten beiden Akten abweicht, wie gelegentlich behauptet wird.26 Steht der Auftakt von Hauffs Novelle im Zeichen der Begegnung zwischen den Liebenden, Gustav Lanbek und Süß’ Schwester Lea, während des Karnevals, so verschiebt Dulk das Maskenfest – zweifellos eine Szene von außerordentlichem theatralischen Potential – sowie die Begegnung in den zweiten Aufzug. Im Mittelpunkt des ersten Aufzugs steht vielmehr Jud Süß, der sich mal mit seinem jüdischen Diener (›Meschores‹27) Samuel, mal mit seiner 19 20 21 22 23 24 25

26

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Vgl.: Edmund Silberner: Johann Jacoby. Politiker und Mensch. Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 158. Silberner, Johann Jacoby, S. 551. Schweimler, wie Anm. 7, S. 77. Ebenda, S. 45. Ebenda, S. 77–78. Schweimler verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Eintragungen Dulks in Lessings Sämtlichen Schriften. Vgl. ebenda, S. 172. So auf dem Titelblatt der ersten Quarto-Ausgabe aus dem Jahr 1600. Siehe Elmar Goerden: »Der Andere. Fragmente einer Bühnengeschichte Shylocks im deutschen und englischen Theater des 18. und 19. Jahrhunderts«. In: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Theatralia Judaica: Emanzipation und Antisemitismus als Moment der Theatergeschichte. Von der Lessing-Zeit bis zur Shoah. Tübingen 1992, S. 129–161. Siehe z.B. Schweimler, wie Anm. 7, S. 69. Vgl. auch: Juliane Hansen: Jud Süß im Wandel. Vier Dramenbearbeitungen von Albert Dulk, Ashley Dukes, Paul Kornfeld, Jacques Kraemer. Magisterarbeit. Universität Stuttgart am Institut für Literaturwissenschaft 1988. Albert Dulk: »Lea«. In: Albert Dulks Sämtliche Dramen. Erste Gesamtausgabe.

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Schwester Lea, öfters auch unter christlichen Gegnern und nicht zuletzt alleine dem Zuschauer präsentiert und dadurch die unterschiedlichen Facetten seiner Person enthüllt. Geschickt meidet Dulk in dieser ausgedehnten Exposition eine flache Darstellung des jüdischen Finanz- und Kabinettsministers Herzog Karl Alexanders von Württemberg. Die dramaturgische Strategie Dulks strebt danach, den Zuschauer in seiner vorgefassten Meinung und seinen Vorurteilen zu verunsichern sowie bei ihm mitunter ambivalente Reaktionen hervorzurufen. In einem »prächtig im Renaissancestil« ausgestatteten Zimmer erscheint Süß »in reichem Negligé« (377) als ein gewiefter Macher, der die politischen Verhältnisse und die Gunst der Stunde angeblich nur für »das Land« (380), wie er beteuert, wohl aber auch für sich selbst zu nutzen wusste und zur rechten Hand des Herzogs avancierte. Jedoch werden jene Klischees, die bis dahin vor allem in Pamphleten, aber auch in der gehobenen Literatur dem Juden zugeschrieben wurden und die von den weit verbreiteten Vorurteilen – geldgierig, machthungrig, verräterisch – zeugen, bereits im Verlauf des ersten Aufzugs in Frage gestellt. Dulk präsentiert die christlichen Kontrahenten Oppenheimers – in Hauffs Novelle als »die trefflichsten des Adels und die wackersten der Bürger« genannt28 – als einen moralisch und menschlich fragwürdigen Haufen, hasserfüllt, verlogen und nicht zuletzt von eigenen Interessen getrieben. Hingegen erweist sich Süß, der von seinen Gegnern gemäß judenfeindlicher Tradition mehrfach als Teufel bezeichnet wird (z.B.: S. 383, 398, 413), als scharfsinniger, wachsamer Realist, der der Gefahr ins Auge sieht. Er weiß: Die angemeldeten Geburtstagsgäste würden lieber zu seinem Todestag kommen. Das drohende Unheil des Komplotts ist ihm voll bewusst, wie er auch die Erwartungshaltung der Christen kennt, der Jude könne im besten Fall geduldet werden, und zwar solle er daher »Zerrissen gehn, zu Fuß, und soll demüthig/Den Christen geben, was mein ist« (381). Drei Monologe legt Dulk im einführenden Aufzug Oppenheim in den Mund und gewährt somit dem Zuschauer einen Einblick in die Seele des auf der Bühne letztlich alleinstehenden Protagonisten. In den ersten beiden tritt kein mächtiger Staatsminister hervor, sondern – für den Zuschauer sicherlich überraschend – ein verletzter Jude, der seinem Erfolg zum Trotz weiterhin »verfehmt« (382) und gedemütigt wird. Wie Shylock, bekennt sich Süß, der verhasste ›Andere‹, zu seinem »Stamm« (381),29 betrachtet aber sein Schicksal nicht nur als eine private Angelegenheit: »Ich will doch zeigen, daß der Same Juda’s,/Ob Ihr gleich auf ihn speit, nicht schlechter ist/Als Ihr [...].« (382)30

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Herausgegeben von Ernst Biel. Stuttgart 1893, Bd. 1, S. 375–488, hier: S. 388. Im Folgenden werden die Seitenangaben aus dieser Ausgabe hinter die Zitate in Klammern gesetzt. Wilhelm Hauff: »Jud Süss«. In: Wilhelm Hauff. Werke in einem Band. Herausgegeben von Sibylle von Steinsdorff. Zürich 1973, S. 474–538, hier: S. 509. Vgl.: William Shakespeare: Der Kaufmann von Venedig. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel, 1,3, 105. Vgl. auch: 3,1, 70. Vgl. auch Shylock: »Und speit auf meinen jüd’schen Rockelor.« 1,3, 107.

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Die Kampfansage Süß’ spart keineswegs an Grausamkeit und barschen Ankündigungen (»[...]Muß ich den Fuß auf den Nacken setzen«). Aufgewühlt betrachtet er im zweiten Monolog die Züge seiner Gegner. Den Gang der Gedanken, von Unruhe und Misstrauen geprägt, gießt Dulk in kurze, staccatoähnliche Sätze und zum Teil rhetorische Fragesätze. Ist dies also der wahre Duktus des arrivierten Juden, der in der christlichen Gesellschaft als Ausweis der Weltläufigkeit seine Gespräche mit französischen Einsprengseln schmückt, der Sprache der höfischen Elite? Dass auch die jüdische Minderheit keine homogene Gruppe ist zeigt Szene I.4: Das von Dulk erfundene Gespräch zwischen Süß und seinem jüdischen (!) Diener Samuel erfüllt unter anderem – ähnlich wie die Begegnung von Shylocks Diener Lancelot mit dessen Vater (II.2) – die Funktion der Aufheiterung (comic relief). Der damals populäre Bühnengebrauch eines breiten jüdischen Jargons zielte auf eine Individualisierung der Figur ab und diente gleichzeitig als verlässliche Lacheinlage.31 Mit Schadenfreude berichtet Samuel über das Missgeschick eines »Gallach[s]«, eines Priesters, spickt seine humorvolle Beschreibung mit Worten aus dem Jüdisch-Deutschen – wie z.B.: »das Herz kalescht« (eigentlich: chalescht; das Herz wird schwach), »fetter Chaser« (fettes Schwein), »brach er mit dem Toches, durch den Stuhl« (brach er mit dem Hintern durch den Stuhl) – und erwähnt jüdische Gebräuche, wie »der Chasim [vermutlich: Chasid] den Lulew schaukelt am Suckesfest« ( Der Chassid wedelt mit dem Palmzweig am Laubhüttenfest) oder »aus dem Buch Hiob gedarschent« (Aus dem Buch Hiob gepredigt) (388). Ganz anders wiederum die Ausdrucksweise der jüdischen Geschwister, wie beispielsweise in Szene I.7. Hier stechen die biblischen Bezeichnungen Gottes wie »Adonai« und, »Zebaoth« hervor sowie die Erwähnung jüdischer Sitten und Gebräuche, wie z.B. mit der Formel vom »Tempel heil’ger Sabbathruhe«. Von koscheren Essgewohnheiten oder der Zugehörigkeit zu einer Synagogengemeinde, wie im Falle Shylock, ist bei Dulks emanzipiertem Süß’ – ähnlich übrigens wie im Nathan – keine Rede. Das auffälligste Attribut der jüdischen Identität bei der Charakterisierung der Geschwister ist – neben einem starken Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Glaubens- und Schicksalsgemeinschaft – die Rückbesinnung auf die alttestamentarische Tradition. Das Stück wimmelt von Erwähnungen und Anspielungen auf biblische Episoden. Vom »Leiden Hiob«, den »Cedern […] auf Libanon«, Daniels schützendem Engel, Jakobs Segen ist beispielsweise die Rede. Rief Shylock »O Vater Abraham!« oder griff auf die Geschichte von Jakob und Labans Schafen zurück, so lassen Süß und insbesondere Lea im Verlauf des Stückes gleichfalls eine Reihe von biblischen Episoden einfließen. Erwähnt werden Ruth, Esther und Judith, und auffallend häufig die drei verschiedenen Rettungsgeschichten, in denen der Allmächtige im letzten Moment eine persönliche oder nationale Katastrophe abgewandt hat. Neben dem Sieg Simsons mit einem Eselskinnba31

Siehe Beispiele bei Goerden, wie Anm. 25.

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cken über die Philister (465), erwähnt Süß Isaaks Bindung (459) während Lea die Rolle ihres Bruders an der Seite des Herzogs mit derjenigen Mordechais vergleicht (453).32 Ähnlich wie Shylocks Tochter Jessica fühlt sich auch Dulks Lea – wie in Hauffs Vorlage – einsam und allein im großen Haus, das sie, eine wohlbehütete, edle, kluge und mutterlose belle juive,,33 nicht verlassen darf, um jegliche Berührung mit der christlichen Umgebung zu vermeiden. Leas Liebe und Hochachtung für ihren patriarchalischen Bruder bleiben dennoch ungebrochen. Süß beglückt Lea mit »neuem Schmuck« und überrascht sie mit einer Einladung, ihn zum »Purim-Maskenfest« (387) zu begleiten. Im Ohr des Zuschauers klingt jedoch noch Süß’ Racheplan, den er im dritten Monolog offengelegt hat: »Mit Leas Glück erring ich meinen Sieg!« (391) Erst nach einem ausgedehnten Auftritt von Süß findet die Begegnung der Liebenden – bei Hauff am Auftakt der Novelle – im Schutz der Karnevalmasken statt: Lea als ›Orientalin‹, Gustav als ›Grieche‹.34 Dulk komprimiert im zweiten Aufzug sechs Kapitel – knapp vierzig Prozent der Novelle Hauffs! Die eigentlichen Einzelheiten der Handlung bleiben dieselben, die Akzentuierung jedoch ist eine andere. Zum einen legt Dulk eine Vielzahl gehässiger Bemerkungen aus dem Arsenal der judenfeindlichen Vorurteile in den Mund der Gegner. Immer wieder wird Süß – oft wegen seiner religiös-ethnischen Fremdheit schlicht »Jude« genannt35 – als Satan dämonisiert (397, 398, 413), die Frau an seiner Seite als »Dirne« (398) bezeichnet, denn eine ehrwürdige Jüdin kann es nach diesem Verständnis nicht geben, oder wie es in den Worten Reelzingens heißt: »eine Jüdin und von diesem Anstande? Unmöglich!« (400) Den tief verwurzelten Stereotypen folgend, ist von jüdischer Physiognomie die Rede (411) sowie von jüdischer Verschwörung und Machtübernahme (411). Ja, selbst in den Mund des alten Landschaftsconsulenten Lanbek Senior, dem Ehrenvollsten unter den Patrioten, die – so Hauff – »sich nicht von dem Strome der allgemeinen Verderbnis hinreißen ließen, [...] die vor dem Gedanken nicht zitterten, eine Änderung der Dinge herbeizuführen«,36 legt Dulk judenfeindliche Bemerkungen, so z.B. über das »Blutsaugen« und die Geldgier des »Mausche« (ein Schimpfname für Juden, der mit dem anti-jüdischen modus loquendi »Mauscheln« assoziiert wird). (407 und 409) Vor diesem Hintergrund bekommt die Warnung Gustavs an Lea, sie solle sich niemals in Süß’ Zirkel begeben – bei Hauff ohne eine Begründung und 32 33 34

35 36

Vgl. auch Süß: »Steht doch geschrieben, dass man nicht dem Ochsen/Der drischt, das Maul verbinden soll« (S. 380), ein direktes Zitat aus 5. Mose 25:4. Jochen Meyer meint, Lea sei »eine literarische Schwester der edlen Jüdin Rebecca aus Walter Scotts Roman Ivanhoe (1819)«. Meyer, wie Anm. 1, S. 50. Bei Dulk, wie bei Hauff, tritt Lea in orientalischer Kleidung auf. Dagegen ist Gustav bei Hauff als Sarazene gekleidet (Hauff, S. 477), bei Dulk als »Grieche« (Dulk, S. 399). So auch Shylock, insbesondere in der Gerichtsszene, wie beispielsweise S. 73. Hauff, S. 522. Vgl. auch die Beschreibung des alten Lanbek, ebenda, S. 500.

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daher als Anspielung auf die Verkommenheit von Süß’ – eine völlig andere Gewichtung: Zurecht, mein Lieb’, denn wisse, Daß recht Dein Bruder that, Dir seine Zirkel Streng zu verschließen. Eine Krankheit herrscht In ihnen, die auch Dich ergreifen, schnell Auch Dich verderben kann [...] (403–404)

Gustavs Urteil, das einer Disqualifikation der scheinbar ehrenwerten Patrioten gleichkommt, ist eine deutliche Abweichung Dulks von Hauffs Vorlage. Eine weitere ist Gustavs unverhüllte Verehrung des Gottes Israels: »[...] groß ist Dein Gott« (404–405). Seine Argumentation rührt von seiner Liebe zu Lea her (»weil Du ihn glaubst«, so begründet er seine Stellungnahme: die vollendete Geliebte als »wunderbares Zeugnis« Gottes), doch Gustav – unverkennbar Dulks Sprachrohr für Toleranz und Glaubensfreiheit – führt sein Argument weiter: Und wenn den Gott der Juden Menschen schmähen, Wie soll mich der Gedanke nicht versuchen, Der hochverrätherische, der verpönte, Es hätten diese Menschen selber nicht Den rechten Gott? (405)

Das Schlusswort im zweiten Aufzug hat Süß. Da Gustav verblüfft auf die Zustimmung Süß’ zur Eheschließung »der Jüdin mit dem Christen« (419) reagiert, beschuldigt ihn dieser, die Ehre Leas verletzt zu haben und schwört grausame Rache: »Dich und Dein ganzes Blut würd’ ich vertilgen!« (419) Die Sprache der ungebändigten Wut, mit Tiermetaphern gespickt, erinnert nicht zuletzt an Shylocks Ausdrücke. Gustavs Dilemma – zwischen dem Bekenntnis zu seiner jüdischen Geliebten und dem Pflichtbewusstsein, den Ehrenkodex seiner Familie einzuhalten – markiert von nun an den weiteren Ablauf des Dramas. Gekonnt reizt Dulk im dritten Aufzug das dramatische Potential des Konflikts aus, indem er – im Gegensatz zu Hauff – auch Leas innere Zerrissenheit zwischen ihrer Liebe zu Gustav einerseits und der Treue zum und Sorge um den eigenen Bruder andererseits – im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen führt. Effektvolle theatralische Höhepunkte dieser Ambivalenz sind die Gartenszenen, in denen die mit sich selbst hadernden Liebenden plötzlich von ihren jeweiligen beiden Autoritätspersonen umzingelt werden. Dulk zieht alle Register, nicht zuletzt die melodramatischen. Lea wirft sich zuerst an Gustavs Brust, anschließend zu seinen Füßen, und fällt schließlich in Ohnmacht. Verstummt Lanbeks Sohn bei Hauff, als der Vater ihn schilt,37 so trotzt Gustav bei Dulk seinem Vater und bekennt sich kniend vor Lea zu ihr: »Nicht Ihnen mehr gehöre ich – mir selbst /Und diesem heil’gen Engel nur.« (434) 37

Hauff, S. 514.

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Umso brutaler wirkt nach dieser hochemotionalen Szene der anschließende Monolog Süß’, der »nach vorn kommend« (434), sich direkt an die Zuschauer wendet. Freilich erinnert seine Rachebeschwörung anlässlich der Ehrverletzung Leas in ihrer Vehemenz an Shylocks Wut- und Racheanfall nach der Flucht Jessicas: Herr, Herr der Rache! Deinen grimmen Fluch Den Gojim! Aug’ um Auge, Zahn um Zahn! – Gleich auf! [...] und dann will ich gräßlich Euch wecken, daß ihr All’ an meinem Groll Noch eh’ es tagt, ersticken sollt [...] – Dann, Christen, tritt der Herzog Jud’ euch auf den Nacken! (434)

Beharrt Shylock unnachgiebig auf dem »Schein« – »Sättigt es sonst niemanden, so sättigt es doch meine Rache«38 – so begründet Süß seinen grausamen Vergeltungsplan mit der biblischen Maxime »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Auch der Ruf nach Gott als »Herr der Rache« fußt auf dem biblischen El Nekamot.39 Bemerkenswert ist weiterhin die Aufforderung an Gott: »Deinen grimmen Fluch/Den Gojim!« – ein Zitat aus Psalm 79:6, der ebenso in der Pessach-Haggada, wie in der Exodusgeschichte, vorkommt;40 hier wird Gott gerufen, sein verschmähtes Volk zu retten, nicht zuletzt um »deines Namens Ehre willen!« (Psalm 79:9). Der Gartenszene folgt bei Hauff die Aussprache zwischen Lanbek und seinem Sohn, die zur Versöhnung der beiden und zur Entscheidung, nun gegen »einen furchtbaren Feind [zu] waffnen«, führt.41 Dieser Schulterschluss fehlt gänzlich in Dulks Bühnenstück. Stattdessen folgen zwölf Szenen (3,10–3,21), in denen Lea Gustavs Schwester Käthchen, eine von Dulk erfundene Rolle, aufsucht,42 um ihr Verständnis und ihre Empathie zu gewinnen, die aber vor allem dazu dienen, die Gegner zu Wort kommen zu lassen. In erster Linie ist dies Burggraf von Röder – bei Hauff für seine »kühne Entschlossenheit und beinahe fabelhafte Tapferkeit« gelobt.43 Bei Dulk ist Röders Rolle deutlich erweitert, nämlich die eines niederträchtigen Schurken, der Lea mit falschen Versprechungen belügt und sogar seine Gefährten in Staunen versetzt. Er ist es auch, der – Dulks ironische Anspielung ist unverkennbar! – an Brutus erinnert, Shakespeares »ehrenwerten Mann«, der an der Ermordung Caesars beteiligt war: »Bei Gott, ’s ist nicht so übel/Der Dämon in der Weltgeschichte [zu] 38 39 40 41 42 43

Shakespeare, 3, 1, 48–49. Siehe beispielsweise Psalm 94:1. Die Pessach-Haggadah, übersetzt und erklärt von Dr. Philipp Schlesinger und Josef Güns. Tel Aviv 1976, S. 40. Hauff, S. 517. In Hauffs Novelle versichert Gustav, er habe nie an eine »Verbindung mit Lea« gedacht. Hauff, S. 516. In Hauffs Novelle hat Gustav zwei Schwestern. Zum Bild der Frau bei Dulk siehe Schweimler, wie Anm. 7, Kap. 4. Hauff, S. 504.

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sein!« (440)44 Letztendlich aber ist es bei Dulk nicht die Gruppe der Patrioten, sondern das Volk, ›der Pöbel‹, der das Schicksal Süß’ besiegelt, indem es das Haus des verhassten Juden in Brand steckt. Diese Brandstiftung läutet am Ende des dritten Aufzugs die Peripetie ein. Wie in Shakespeares Kaufmann steht Dulks jüdischer Protagonist am Ende des Dramas nicht als mächtiger Sieger, sondern als Opfer da. Schikaniert und gedemütigt, wird dem jüdischen Angeklagten in den beiden Stücken in ausgedehnten Gerichtsszenen,45 ein Prozess gemacht, den er von vornherein verloren hat. Dulk legt Hauffs Novelle beiseite. Er verzichtet komplett auf die märchenhafte Nachtszene46, ändert die Handlung, z.B. mit dem von ihm erfundenen Gerichtsaufzug, und stellt die dramatis personae in einem völlig anderen Licht dar. Bei Hauff entscheidet sich Gustav gegen seine Liebe mit der formelhaften Begründung: »[...] aber meine Ehre! Gott! Meinen guten Namen!«47 Er überrascht durch seine passive, selbstbemitleidende Haltung und wirkt sogar gefühlsärmer als seine Schwester Kätchen. Bei Dulk imponiert der junge Lanbek durch Entschlossenheit und Tatkraft. Zwar ist Gustavs Liebe zu Lea, die ihn immer wieder um die Errettung ihres Bruders anfleht, ein wichtiges Motiv für sein Engagement. Dennoch beginnt der vierte Aufzug nicht von ungefähr mit einem Monolog Gustavs, in dem die Quintessenz seiner Erkenntnis, die von nun an sein Handeln bestimmt, formuliert wird: Ich seh’ es klar, was Euch Gerechtigkeit bedeutet – : Haß nur ist es, Haß, Ist roher Seelen rohe Leidenschaft! (450)48

Unerschrocken setzt sich Gustav, dem blinden Hass trotzend, für Süß ein, dessen Opfer er selbst einmal war: zwei Mal versucht er, Süß zur Flucht zu verhelfen, prangert die Unrechtmäßigkeit des juristischen Verfahrens an, versucht das Todesurteil durch Wort und Tat, darunter ein Duell in Szene V.4, abzuwenden. Dulk hebt Gustavs Zivilcourage hervor, den kompromisslosen Kampf des Einzelnen für seine Überzeugung. Dies ist auch der Tenor des Monologs, mit dem Gustav, Dulks Alter Ego, den letzten Aufzug eröffnet. Geradezu romantisch wird die Freiheit des Einzelnen beschworen, der zwar stets durch gesellschaftliche Zwänge und Normen »gezähmt, genarrt, gelähmt wird«, sich aber von diesen Fesseln befreien muss: »Nur dem Gewissen soll er dienstbar sein.« (467–468) So lehnt Gustav, in dessen Armen die von Schmerz und Leid verzehrte Lea stirbt, die Versöhnung mit dem eigenen Vater ab (487). 44 45 46 47 48

Brutus wird davor von Lanbek erwähnt (426). Goerden notiert, dass mit der Aufwertung Shylocks Rolle, auf den letzten Akt in Shakespeares Komödie oft verzichtet wurde. Goerden, wie Anm. 25, S. 158. Hauff, Kapitel 13, S. 526–531. Hauff, S. 535. Vgl. auch: Gustavs Rede, S. 431–432.

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In dem Maß, in dem Gustavs Zivilcourage während des willkürlichen Gerichtsverfahrens zum Vorschein kommt, steigert sich Röders Niedertracht. Er, ein selbsternannter Gerichtspräsident, macht aus seinem Judenhass keinen Hehl, verwandelt den Prozess zu einer Hetzjagd und fordert zweimal »des Juden Kopf!« (475), erinnernd an den mehrfachen Ruf des Patriarchen in Lessings Nathan, »der Jude wird verbrannt!« Röder ist es auch, der sich – ungeachtet des Widerstands der anderen Untersuchungsrichter – für die Hinrichtung von Süß »vor allen Augen« entscheidet und damit der vox populi folgt, dem Volk, das »einem wilden Thier« (487) gleicht.49 Deutlich anders als in Hauffs Novelle wird hier durch das Auftreten Röders, des wahrlich »ärgsten Schurken«, die Forderung der Patrioten nach Recht und Gerechtigkeit diskreditiert. Auch dies gehört zu Dulks dramaturgischer Strategie, die offenkundig darauf zielt, den in der Geschichte Württembergs verpönten Hofjuden wenn nicht zu rehabilitieren, so zumindest in neuem Licht erscheinen zu lassen. Die Vielzahl judenfeindlicher Klischees und Vorurteile, die Dulk bewusst einführt, entlarven sich gerade dann als unzutreffend, als Süß von der Höhe seiner Macht abstürzt. Mal erweckt der gedemütigte Süß Mitleid, mal Respekt – so wenn er die Schuld auf sich nimmt und um Erbarmen mit Lea, nicht um Gnade für sich selbst, fleht. Vor allem jedoch imponiert Süß durch seine leidenschaftliche Sprache. Dulk versieht seinen jüdischen Protagonisten mit einer rhetorischen Brillanz, die oftmals durch ein argumentatives Lavieren fast an talmudischen Pilpul oder Rabulistik grenzt. Dies gilt beispielsweise für seine große Verteidigungsrede, nach der ein »längeres allgemeines Schweigen« im Gerichtssaal herrscht (474). Die Vorwürfe gegen sein politisch-wirtschaftliches Handeln widerlegt er mit Argumenten der Staatsraison. Wiederholt betrachtet er sich als Sündenbock, der – »weil ich ein Jude bin« (472)50 – dem Hass der Gesellschaft geopfert wird; eine Meinung, die Lea mit dem Bild des zum Opferaltar geführten Lamms (465) unterstreicht, und die auch Gustav teilt. (450) Insgesamt versucht Dulk, den Hofjuden in seinem Aufstieg wie auch in seinem Fall als Opfer der Umstände darzustellen, als einen der, in den Worten Gustavs (482), »nur schuldig ist als Auswuchs seiner Zeit«,.51 War es nicht Hybris zu glauben, die Zeit sei gekommen, um das Ghetto zu verlassen,52 jenen Raum, der viel mehr als einen Ort bezeichnet? War es nicht verwegen, die Chance auf ein Glück unter Christen auszureizen? Doch nicht nur den Mechanismen von Machterhalt und Machtmissbrauch, der Feindschaft und der Ausgrenzung geht Dulk nach; er setzt sich anhand des Schicksals von Süß auch mit der Glaubensfrage auseinander, die in seinem Werk einen zentralen 49 50 51 52

Ähnlich ist auch Hauffs Urteil, S. 537. Vgl. auch ebenda, S. 457. Vgl.: Meyer, wie Anm. 1, S. 52. Siehe auch die Rezension Achim Wörners zur Aufführung im Jahr 1988. In: Schweimler, wie Anm. 7, S. 76. Bei Dulk wie bei Hauff betrachtet Lea das Leben im Frankfurter Ghetto als ein Leben in Geborgenheit. Vgl.: S. 392.

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Stellenwert hat.53 In der Tat gibt es Momente, in denen der Dialog innerhalb des Dramas wie ein theologisch-philosophischer Diskurs wirkt. Während Gustav dem Gott Israels Respekt zollt und gegen das dogmatische Christentum schwere Vorwürfe erhebt,54 nutzt der Geistliche das Anklagetribunal, um die Juden der Kreuzigung des Gottessohns zu beschuldigen (472). Auch diesem traditionsreichen Vorwurf bietet Süß, der die Taufe nie als eine Option betrachtet hat,55 Paroli: Und Euch hat erst sein Tod erlöst – nicht wahr? Und ohne seinen Tod wär’t Ihr noch Alle Verdammt auf ewig? Nun, so solltet Ihr Statt uns zu fluchen und zu peinigen Uns danken, daß wir Euch Erlösung schafften. (473)

Dem Zuschauer bleibt die Ironie nicht verborgen, wenn Lea in ihrem verzweifelten Wahn den Bruder als »ein Lamm [geschleppt] zum Opferaltare« beschreibt, das von den Christen ermordet wurde (465). Der Jude als der wahre Christ?! Die subversive Stimme Dulks spricht in den abschließenden Zeilen, nämlich in der Argumentation des Rats Bilfinger, der sich im Verlauf des Prozesses immer mehr von der aggressiven Verhandlungsstrategie Röders distanzierte: Nicht Gott! Viel menschlich Arges wagt in eig’nem Namen Der Mensch: unmenschlich Arges nur zu Gottes Ruhm: Nicht Gott seh’ ich, nein, nur des Volkes – ›Christentum‹! (488)

Der Biograph Johann Jacobys berichtet von einem anonymen Pamphlet, in dem behauptet wurde, »Jacoby habe mit der Kopfbildung eines weisen Nathan ›die schmutzigen Gelüste eines Shylock‹ verbunden«. Das Pamphlet stammt aus der Revolutionszeit, also in der Zeit etwa, in der Dulk Lea verfasste.56 Im Spannungsfeld zwischen Nathan und Shylock siedelt auch Dulk seinen Jud Süß an und bezieht tiefverwurzelte antijüdische Topoi und Klischees ein, um sie zu hinterfragen und zu entlarven. Ist die Wirkung eines solchen Stückes heute eher größer als damals?57

53 54 55 56 57

Siehe dazu: Schweimler, wie Anm. 7, Kapitel 3.2 und Kapitel 5. Siehe z.B. Dulk (S. 468). Genau so wie Dulks Mentor, Johann Jacoby. Silberner, wie Anm. 18, S. 552. Über die Arbeit Dulks an dem Bühnenstück im Jahr 1847 und bis zur Uraufführung im Februar 1848 siehe Meyer, wie Anm. 1, S. 50–51. Vgl. die Meinung Jochen Meyers nach der Aufführung von Lea an der Württembergischen Landesbühne Esslingen im Jahr 1988; Meyer, wie Anm. 1, S. 52.

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Der Weg des ›erstbesten Narren‹ ins »Planschbecken des Volksgemüts« Gustav Raeders Posse Robert und Bertram und die Entwicklung der Judenrollen im Possentheater des 19. Jahrhunderts Um sich dem Phänomen des Juden in der Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts zu nähern, ist die Analyse der von ihnen eingenommenen Rollenfächer entscheidend, da das Rollenfachsystem im Theaterbetrieb des 18. und 19. Jahrhunderts neben seiner wirtschaftlichen vor allem eine dramaturgische Funktion hatte. Hans-Joachim Neubauer hat in seiner Studie Judenfiguren. Drama und Theater im frühen 19. Jahrhundert1 aufgezeigt, wie die Dramenfiguren auf die Sozialgeschichte ihrer Zeit zunächst einmal über die Perspektivik der Rollenfächer reagierten. Gerade die Bühne der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellte für jüdische Figuren eine Spieloase dar, da sie sich sämtliche Rollenfächer, vom Komparsen über die Charge bis zum Helden eroberten. Bis ins 20. Jahrhundert kann dann die Karriere der Possenjuden verfolgt werden, was Hans H. Zerletts Verfilmung von Gustav Raeders Posse Robert und Bertram darlegt. Ein Überblick über die Possentradition von 1815 bis 1856 soll nun anhand ausgewählter Stücke die verschiedenen Judenfiguren wie die dramaturgischen Entwicklungslinien vorstellen.

I. Die Possentradition von 1815 bis 1848 Den Reigen der Berliner Possenjuden mit dem von der Forschung viel beachteten Stück Unser Verkehr von Karl Borromäus Alexander Sessa zu eröffnen, bietet sich – neben seiner erfolgreichen und skandalträchtigen Berliner Aufführungsgeschichte2 – aufgrund seines Reichtums an jüdischen Rollen und vor allem aufgrund seiner Sonderstellung innerhalb der Entwicklung der jüdischen Rollen an.3 1 2

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Vgl.: Hans-Joachim Neubauer: Judenfiguren. Drama und Theater im frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M./New York 1994, S. 35ff. Vgl.: Hans-Joachim Neubauer: »Auf Begehr: Unser Verkehr. Über eine judenfeindliche Theaterposse im Jahr 1815«. In: Antisemitismus und jüdische Geschichte. Zu Ehren von Herbert A. Strauss. Hg. v. Rainer Erb und Michael Schmidt. Berlin 1987, S. 317–327. Vgl.: Horst Denkler: Restauration und Revolution. Politische Tendenzen im deutschen Drama zwischen Wiener Kongreß und Märzrevolution. München 1973, S. 142f.

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Alle Kernrollen der Posse, die das Scheitern des Ausbrechens der jüngeren Generation aus dem traditionellen Berufsfeld des Handels vorführt, sind hier nun jüdisch geworden. Ausgangspunkt des Stücks bildet das alte, stereotype Motiv des Finanz- und Machtstrebens: Der jüngere Handelsjude Jakob wird von seinem Vater, dem älteren Handelsjuden Abraham in die Welt entsandt mit der Bedingung, unter allen Umständen reich zu werden. Dem sich nun entfaltenden Generationenkonflikt ist ein Aufeinandertreffen verschiedener Assimilationsstufen eingeschrieben: Denn die jüngere Generation wählt nicht mehr den Weg des Schacherns, sondern will sich Macht und Geltung verschaffen durch Bildung und »Schenie«.4 »Den Jüden bei Seit werfen«5 ist Ziel Jacobs und sein Beschluss »Ich wer doch noch auswendig lernen des Aesthaitisch«6 kennzeichnet sein Bildungsstreben. Weiteren Assimilanten begegnet Jacob dann in der bildungsund kunstbeflissenen Lydie, die in der Kirche Mozart singt, und in dem Studenten Isidorus Morgenländer, der sich nach Taufe und Namenswechsel burschenschaftlichen und romantisch fühlenden Kreisen zugehörig fühlt. Unter den Juden des Stücks herrscht keine Solidarität, vielmehr grenzt man sich scharf von einander ab, um den erreichten Status zu präsentieren und ihn für sich allein zu beanspruchen. Der vermeintliche Akkulturationsgrad wird jedoch durch das Unvermögen, sich des Akzents oder Dialekts zu entledigen, also durch die misslingende sprachliche Anpassung an das Schriftdeutsche, so wie durch unzulängliche und falsche Bildung (z.B. falsches Französisch) oder gestelzte, kommunikativ nicht angemessene Sprache unterlaufen.7 Mit der Präsentation dieser Assimilationsjuden bereitet Sessa neuen Stereotypen den Weg ins Drama: Vor allem das alte ökonomische Klischee wird um das Bildungsstreben jüdischer Figuren erweitert, ja Geld- und Bildungsanspruch sogar eng miteinander verwoben. Der Hauptfaktor für die Emanzipation des deutschen Judentums wird somit diskreditiert, indem die Möglichkeit einer Akkulturation via Sprache, Bildung, Kultur und Kunst ihm abgesprochen wird und der Zugang zur deutschen Nation verschlossen bleibt. Hans-Joachim Neubauer hat

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Neubauer widmet sich ausführlich auch den Rezeptionsprozessen. In: Judenfiguren (1994), S. 113ff. K.A.B. Sessa: Unser Verkehr. Leipzig 21815, S. 18. Ebd., S. 18. Ebd., S. 18. Vgl.: Matthias Richter: Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1750–1933). Studien zu Form und Funktion. Göttingen 1995, S. 155–182. Richter weist auch auf die Bedeutung der Sprachkompetenz bei zunehmender Assimilation als Ausweis von Gruppenzugehörigkeit hin und somit auf die hier vermittelte Botschaft des in Fragestellens der Gruppenzugehörigkeit durch das sprachliche Scheitern. Zur Funktion des Judendeutschen in Zusammenhang mit Strategien des Ausgliederung von jüdischen Figuren vgl. Hans-Peter Bayerdörfer: »›Lokalformel‹ und ›Bürgerpatent‹. Ausgrenzung und Zugehörigkeit in der Posse zwischen 1815 und 1860«. In: Theaterverhältnisse im Vormärz (= Forum Vormärz Forschung. Jahrbuch 2001, 7. Jg.). Hg. von Maria Porrmann und Florian Vaßen. Göttingen 2002; S. 155.

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die dramengeschichtliche Bedeutung von Unser Verkehr als Knotenpunkt aufgefasst, der den antijüdischen Diskurs des 18. Jahrhunderts mit seiner traditionellen religiösen Dimension in den des 19. Jahrhunderts mit seiner Verspottung des jüdischen Akkulturationsstrebens überführt.8 Damit folgt das Theater mit etwas Verspätung der antisemitischen Tendenzliteratur, die bereits im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts ältere judenfeindliche Stereotype mit neueren, die Akkulturation betreffenden koppelt.9 Das Stück Unser Verkehr weist als Schauplatz sämtlichen jüdischen Figuren die Straße als Ort des Handelns zu, eine offene Raumsituation also, die sowohl eine Verweigerung von Innerlichkeit und somit von Sensibilität und Kultur zum Ausdruck bringen kann,10 als auch ortsungebundene Allgemeingültigkeit vermittelt. Die Frankfurter Messe, von Julius von Voß als Reaktion auf Unser Verkehr geschrieben (1816 in Reval uraufgeführt, 1826 in Berlin erstaufgeführt), spielt in Frankfurt an der Oder, ist also dem Ostjudentum näher gerückt. Hier versammeln sich neben anderen Händlern und Kunden Judentypen unterschiedlichster Couleur, von der jüdischen Hausiererin bis zur Emanzipationsjüdin, vom jüdischen Analphabeten, bis zum reichen elegant gekleideten jüdischen Kaufmann, und werden beim Warenhandel oder Heiratsgeschäft vorgeführt. Im Mittelpunkt steht u.a. die in Berlin erzogene, hochdeutsch sprechende, nach der neuesten Mode gekleidete Emanzipationsjüdin Fanny, deren Hauptinteressen trotz aller Bildung im Wirtschaftlichen liegen und die auch vor Betrug nicht zurückschreckt. Macht sie doch, kaum verlobt, zu Lasten ihres Bräutigams Joel, eines erfolgreichen Kaufmanns, überall Schulden. Joel erscheint als Assimilationsjude, der seine Flexibilität auf den sich ständig verändernden Arbeitsmärkten unter Beweis gestellt hat und schließlich sein Vermögen durch Spekulation erworben hat. Sein wirtschaftlicher Aufstieg wirkt daher fragwürdig. Wie bereits bei den Possenjuden in 8

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Hans-Joachim Neubauer: Auf Begehr: Unser Verkehr. (1987), S. 317. Die besondere Bühnenwirkung dieser Figuren beruhte aber auch auf einer erneuten Professionalisierung der Judenrollen. Hans-Peter Bayerdörfer hat als grundlegend für die szenische Gestaltung jüdischer Figuren deren Heraustreten der Körperachse aus der Senkrechten betont. Diese Bewegungscharakteristik wie eine besondere Sprechtechnik und Sprechstilistik trugen neben physiognomischen und Kleidungsstereotypen, die der antijüdischen Tendenzliteratur entsprechen, zur Markierung der Figuren bei. Vgl.: »›Harlekinade in jüdischen Kleidern‹? Der szenische Status der Judenrolle zu Beginn des 19. Jahrhunderts«. In: Conditio Judaica: Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler, Tübingen 1989. So konnte der alte Theaterjude in modernisierter Form sein Comeback auf der Vorstadtbühne des 19. Jahrhunderts feiern und vermittelte den Sonderstatus, der in dem Dramen der Aufklärung erreicht war, wieder rückgängig machte. So beispielsweise in den Pamphleten C.W.F. Grattenauers. Vgl.: Gunnar Och: Imago Judaica. Juden und Judentum im Spiegel der deutschen Literatur 1750–1812. Würzburg 1995, S. 266. Vgl.: Hans-Joachim Neubauer: Auf Begehr: Unser Verkehr. (1987), S. 324

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Unser Verkehr diagnostiziert, fällt auch er bei Erregung in Jiddismen zurück, wodurch seine Assimilation bloßgestellt wird. Interessant ist die SchlussSituation der Posse. Die positiven bzw. nicht jüdischen Paare heiraten in Berlin, während Assimilationsjude und Emanzipationsjüdin in Hamburg leben werden. Die von der Posse formulierte regionale Bezugslandschaft sieht für den Juden, selbst wenn er am Happyend teilhaben darf, einen Ort außerhalb der lokalen Sphäre der Zugehörigkeit vor.11 In den 20er Jahren tritt dann mit Louis Angely (1787–1835) ein Autor auf den Plan, der u.a. für die erste Berliner Vorstadtbühne, das Königstädtische Theater, mit seiner Stückproduktion Akkordarbeit leistet. Angelys Stücke sind exemplarisch für die allgemeine Tendenz der Possenformen des Vormärz, die Judenrolle der komischen Figur anzunähern.12 In seiner Posse Paris in Pommern aus dem Jahr 1820 (UA 1826 am Königstädtischen Theater) wird der kleine, gerade durch ein Dorf ziehende Handelsjude Heimann Levy in einen seltsamen Testamentsfall verwickelt: Von drei Schwestern soll derjenigen das Erbe eines Onkels in Amerika zufallen, die vom nächst besten Schiedsrichter, der zur Hand ist, zur Hässlichsten erklärt wird. Levy, der das Richteramt annimmt, ist zwar kaum antijüdisch markiert, doch eine wirkliche Gleichstellung mit den anderen (durchaus auch komischen) Figuren lässt sich nicht erkennen. Diese Differenz wird zum einen durch den jiddischen Jargon des Levy erreicht, zum anderen durch das Aufgreifen bekannter Klischees aus dem Bereich des Handels. Die für jüdische Possenfiguren typische Konzentration auf das Geld geht hier sogar soweit, dass Levy aus der ihm zugeteilten Hanswurstrolle, der er sich auch völlig bewusst ist, seinen Profit zu schlagen versucht: »[…] daß ich der erste beste Narr bin; das kann ich eben benutzen.«13 Am Ende singt zwar Levy mit den anderen Figuren zusammen das finale Couplet, aber auch in diesem Stück ist der ihm zugeschriebene Ort außerhalb der Sphäre der anderen Possenfiguren. Er wendet sich direkt an das Publikum »[…] so schicken Sie nur nach Meseritz und gleich wird zu Ihren Diensten sein, Heymann Levi«.14 Dies bietet der komische Held bei Bedarf in einem ähnlichen Testamentsfall an und vielleicht auch hinsichtlich künftiger Einsätze als Hanswurst. Dass solche Einsätze innerhalb der Possenproduktion der 30er und 40er Jahre an der Tagesordnung waren und dass dabei den jüdischen Kleinhändler immer häufiger der Börsenjude, der Großkaufmann oder der kulturell angepasste

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Vgl.: Hans-Peter Bayerdörfer: ›Lokalformel‹ und ›Bürgerpatent‹. (2002), S. 156. Hans-Peter Bayerdörfer hat die Annäherung der Judenrolle an die der komischen Figur als genregeschichtliche Leitlinie innerhalb der Possenformen zwischen 1815 und 1848 formuliert. Vgl. ›Harlekinade in jüdischen Kleidern‹? (1989), S. 114. Vgl. Angely: Paris in Pommern oder Die seltsame Testaments-Klausel. Hg. von Carl Friedrich Wittmann. Leipzig o.J., S. 29. Angely: Paris in Pommern, S. 44f.

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Jude ablöst, hat Horst Denkler in seiner vielteiligen Übersicht über Stücke mit jüdischen Figuren gezeigt.15

II. Neuansatz der Possentradition bei David Kalisch Innerhalb der Possenproduktion der Folgezeit erscheint mit David Kalisch (1820–1872) ein Autor, dessen Werke zu Akzeptanz und Rehabilitation der jüdischen Minderheit tendieren. In seiner Posse Einer von unsere Leut’ (1859), einer Adaption des gleichnamigen Originals von O.F. Berg, verabschiedet sich Kalisch von den vorgestellten Ausschluss- bzw. Ausgrenzungsverfahren der ersten Jahrhunderthälfte.16 So erfährt das vormals abgewertete jüdische Idiom eine Aufwertung, ja sogar Auszeichnung für die Zugehörigkeit seines Sprechers Isaak Stern. Dieser erscheint zwar wieder als einfacher Handelsjude, geht aber in seiner Argumentation konform mit dem liberalen zeitgenössischen Judentum, wenn er mit Kantschen Gedanken auf der ethischen Basis der Aufklärung statt nationaljüdischer religiöse Identität proklamiert: »Ob einer Jude oder Christ/Auf diesem Erdenrund,/Tut etwas er, was recht nicht ist,/Mach’s ihm dies Uhrwerk kund!«17 Schließlich wird mit dem Hinweis auf die staatsbürgerliche Integrität die Forderung nach Emanzipation gerechtfertigt. Dieser fortschrittliche, auf Akzeptanz der jüdischen Minderheit zielende Ansatz ist jedoch nicht zukunftsweisend, sondern bleibt singulär. Noch im selben Jahrzehnt greift Gustav Raeders Posse Robert und Bertram die alten Muster der ersten Jahrhunderthälfte wieder auf und gibt erneut Assimilationsjuden der Lächerlichkeit preis. Die Isolation, ja sogar Ausstellung der Figuren wird schon anhand der Dramaturgie der Posse deutlich, die den Juden nur ein episodenhaftes Auftauchen in einer isolierten Judenszene zugesteht. Zwar hat sich auch David Kalisch solcher Episoden bedient, allerdings nicht in derart hermetisch abgeschlossener Form.18 Welcher Judentypen im Einzelnen bei Gustav Raeder vorkommen, soll nun aufgezeigt werden.

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Vgl. Horst Denkler: »›Lauter Juden‹. Zum Rollenspektrum der Juden-Figuren im populären Bühnendrama der Metternichschen Restaurationsperiode (1815–1848)«. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Hans-Otto Horch und Horst Denkler. Tübingen 1988, Teil 1, S. 149–163, hier insb.: S. 153ff. Vgl. Hans-Peter Bayerdörfer: ›Lokalformel‹ und ›Bürgerpatent‹. (2002), S. 170ff. Kalisch: Einer Von unsere Leut’, S. 54. Vgl.: David Kalisch: Junger Zunder – Alter Plunder. Posse mit Gesang in drei Akten. Berlin 1851. Auch in David Kalisch: Hunderttausend Taler. Altberliner Possen 1846–1848. Bd. 1. Hg. von Manfred Nöbel, Berlin 1988.

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III. Gustav Raeders Posse Robert und Bertram (1856) Die Gaunerposse wird 1856 im Dresdener Hoftheater uraufgeführt und ist mit 30 Aufführungen unter Opern, Singspielen und Possen die meistgespielte Neueinstudierung des Jahres.19 Der Titel verweist auf die Hauptpersonen des Stücks, die zwei Landstreicher Robert und Bertram, die zu Beginn der Handlung in einem Gefängnis wieder zueinander finden, den Gefängniswärter übertölpeln und fliehen. Die weitere Flucht vor ihren Verfolgern motiviert nun ein Abenteuer nach dem anderen. So erreichen Robert und Bertram im zweiten Akt ein Wirtshaus. Nach einer Weile kommen zwei Gendarmen auf ihrem Kontrollritt – sie suchen nach passlosen Herumtreibern – des Wegs. Vom Wirt über die Ankunft Roberts und Bertrams informiert, knöpfen die Gendarmen sich beide vor und sperren sie, da sie sich nicht ausweisen können, sicherheitshalber auf den Dachboden. Robert und Bertram beknien nun erfolgreich das Schenkmädel Rösel und können auf den Pferden der Gendarmen sich wieder in die Flucht schlagen. Den dritten Akt bilden nun eine Soiree und ein Maskenball im Hause des jüdischen Bankiers Ipelmeyer und dessen Familie. Robert und Bertram finden sich inkognito – verkleidet als Graf und italienischer Sänger – zufällig unter den Gästen des Bankiers wieder, nachdem sie sich unbestimmte Zeit, jeder für sich durchgeschlagen haben. Sie beschließen, in einer günstigen Minute das eine oder andere Schmuckstück während des Balls mitgehen zu lassen. Das Possenspiel der beiden Gauner scheint aber fast aufzufliegen, als Ipelmeyers erster Commis, Samuel Bandheim, Verdacht an der Authentizität des vermeintlichen Grafen alias Robert schöpft und ihn in dem Moment zur Rede stellt, als Ipelmeyer dazukommt. Dieser hält Bandheims Verdacht für Verleumdung und sieht in der Beleidigung seiner Gäste einen Affront. Allein mit Ipelmeyer versuchen Robert und Bertram den aufgebrachten Gastgeber zu beruhigen, wobei sie ihm unbemerkt von Kopf bis Fuß seiner Preziosen berauben. Wieder im Ballgedränge untergetaucht, gelingt Robert und Bertram erneut die Flucht. Im Kamin der bürgerlichen Wohnung einer gewissen Frau Müller sieht man die Gauner dann im vierten Akt versteckt, bevor sie als Dienstmädchen verkleidet auf den Gefängniswärter aus dem ersten Akt treffen und ihn, immer noch unerkannt, auf ein Volksfest begleiten. Nachdem Bertram dort abermals die Umstehenden beklaut hat, werden die Gauner entdeckt. Ihr letzter Fluchtversuch in einem gerade abhebenden Fesselballon scheitert jedoch, da Soldaten mit mehreren Schüssen Robert und Bertrams Gefährt wieder herunter befördern und die Gauner unter dem Jubel des Volkes abführen. Diese detaillierte Zusammenfassung der Handlung ist zum einen wichtig, um die dramaturgischen Veränderungen, die Hans Zerlett für seinen Film Robert und Bertram vorgenommen hat, später zu erkennen, zum anderen wird 19

Vgl.: Robert Prölss: Geschichte des Hoftheaters zu Dresden. Von seinen Anfängen bis zum Jahre 1862. Dresden 1878, S. 648.

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dadurch offensichtlich, wie additiv die einzelnen Akte dieser Posse – auch unter Inkaufnahme etlicher Unwahrscheinlichkeiten – aneinander gereiht sind. Innerhalb dieses lockeren Aktgefüges erscheint die Szene der Ipelmeyerschen Soirée als isolierte Episode, die den Fortgang der Handlung nur unbedeutend bestimmt. Denn nach dem Raubzug der zwei Gauner tritt nur Ipelmeyers Diener Jack zu Beginn des letzten Aktes nochmals auf, um zusammen mit einem Polizeidiener die Parterre-Wohnung der Frau Müller nach den beiden (im Kamin befindlichen) Ausreißern zu durchsuchen. Alle anderen in der Episode auftauchenden Figuren, fast ausnahmslos Juden und Jüdinnen, kommen nur mit Robert und Bertram in Kontakt und bleiben daher bereits äußerlich durch die Dramaturgie isoliert. Ähnlich wie in Unser Verkehr tut sich im dritten Akt ein Panorama des Judentums auf mit den bekannten jüdischen Possentypen: Der reiche Bankieroder Börsenjude, die Emanzipationsjüdin, der Assimilationsjude und der minder akkulturierte Bühnenjude mit Hang zur komischen Figur. Auffällig ist, dass nur zwei Beziehungsarten unter den Figuren vorherrschen: Die familiäre und die geschäftliche. Die erscheinenden Judenfiguren werden nun in einem Innenraum präsentiert, der sich deutlich von den anderen Szenenorten, Gefängnis, Wirtshaus, bürgerliche Parterre-Wohnung und Volksfest durch seine vornehme Inneneinrichtung und seine Abgeschlossenheit unterscheidet und der im ersten Moment eine Handlung im Adelsmilieu vermuten lässt. Dieser Eindruck erhärtet sich durch die ›klassische‹ Auftrittsfolge Diener-Herr. Zunächst wird das jüdische Panorama eröffnet von Jack, dem Anführer der Dienerschaft. Auffällig ist die englische Umwandlung des traditionellen jüdischen Namens Jakob in Jack. Schon im ersten Monolog ist er mit dem Klagen über seine Herrschaft und der Ausrichtung auf Primärbedürfnisse wie das Essen in die Sphäre des traditionellen Dienertypus und der Hanswurstfigur gerückt. Sein Ziel für den heutigen Abend steht fest: »was rechts zu verdienen«, um sich »empor [zu] schwingen« (52)20. Sprachlich ist er durch starkes Jiddeln gekennzeichnet, zum Verdruss Ipelmeyers, der ihm mit Entlassung droht, wenn er sich den »unausstehliche[n] Dialökt« (53) nicht abgewöhnt. Ipelmeyers Forderung wirkt ungemein komisch, da er selbst jiddelt, dass sich die Balken biegen. Um seine grammatikalischen Schwächen zu verbergen, versucht er einzelnen Wörtern durch nasale Aussprache einen Hauch von Vornehmheit zu verleihen. Die immer wieder eingestreuten Brocken falsch verwendeten französischen Vokabulars (z.B. Trottoir statt Repertoire) geben seine vermeintliche Bildung der Lächerlichkeit preis. Als Bankier, der sich als barocker Herrscher mit »Konzert, dann Souper, dann Maskerade, Illumination, endlich Feuerwerk« (60) und auf dem Maskenball im Kostüm Ludwig XIV. inszeniert, ist er auf dem Höhepunkt seines gesellschaftlichen Aufstiegs angelangt. Das Bankiersgeschäft bleibt daher während der ganzen Szene außen vor und ist der 20

Zitate aus Robert und Bertram werden im Folgenden in Klammer nach Seitenzahl belegt.

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Konzentration auf die Selbstdarstellung innerhalb der höchsten gesellschaftlichen Kreise, der »ganze[n] Hautevolée« (53) gewichen. Die für den Hausherrn so wichtigen Bekanntschaften sind jedoch mit horrenden Summen erkauft und die Zeitungsschlagzeilen über seinen »Kunstsinn« und seine »Gastfreundschaft« (54) durch Bestechung der Redakteure erreicht. Die hier an Ipelmeyer vorgeführte Geltungssucht erweitert die bisherige Stereotypenserie des Aufsteigerjuden. Der Possentradition des 19. Jahrhunderts entsprechend darf auch die Emanzipations- oder Salonjüdin nicht fehlen, deren Rolle Gustav Raeder gleich zweifach vergibt: Sowohl Ipelmeyers Tochter Isidora als auch die Kommerzienrätin Forchheimer, seine Cousine, erscheinen als karikierte Bildungsjüdinnen, wobei die eine mehr zur Liebhaberin, die andere mehr zur komischen Alten hin tendiert. Beiden Rollen ist gemein, dass der Text für sie das Schriftdeutsche vorsieht – wobei aber noch keineswegs auf die Bühnendarstellung geschlossen werden darf. Französische Begrüßungsfloskeln und das Einstreuen von Literaturzitaten verdeutlichen in ihrem affektierten Gebrauch, wie die Figuren ihre oberflächliche und auf Äußerlichkeiten hinzielende Bildung zur Schau tragen. Dabei wird die ältere Bildungsjüdin durch den Gebrauch falscher Komponistennamen (›Flotwell‹) oder Operntitel (›Lucia von Lammermeyer‹) noch um einiges schärfer karikiert als die jüngere (68) Gekrönt wird ihre Präsentation der erreichten Assimilation, indem sie Italien als ihr Lieblingsland ausweist und sich damit sie sich konform mit dem Bildungsbürgertums des 19. Jahrhundert zeigt. Wendet man sich den Kostümempfehlungen für beide Figuren zu, greift Raeder ebenfalls auf die traditionelle Markierung der Emanzipationsjüdin zurück. Während die Kommerzienrätin laut Regiebemerkung »sehr auffallend geputzt und affektiert« (58) erscheinen soll, präsentiert sich Isidora im sehr einfachen und das heißt wohl sehr freizügigen, gelben Kostüm. Nicht umsonst erinnert sie den Vater an »die ganze medizinische Venus« (54). Ist Ipelmeyer zunächst über ihren Aufzug empört und drängt auf Umkleiden, stimmt ihn seine Tochter mit der Erklärung ihrer Farbwahl um: »Aber gelb ist die Farbe der Begeisterung, die aus der Kunst und ihren hohen Werten entspringt; darum kleidete ich mich gelb.« (55) Für den Maskenball später wählen die beiden Jüdinnen wie Ipelmeyer aus der Theatersphäre stammende und Fremdheit bzw. französischen Patriotismus markierende Kostüme: So erscheint die Kommerzienrätin als Mexikanerin Amazilly und Isidora als Jungfrau von Orléans, wobei sie das entsprechende Schillersche Zitat gleich mitliefert, »Mein ist der Helm und mir gehört er zu!«, und es mit der Anspielung auf den errungenen Reichtum der Familie versieht »Harnisch und Helm von Dukatengold« (56). Der Bildungs- oder Emanzipationsjüdin wird nun in Ipelmeyers Buchhalter Samuel Bandheim der Emanzipationsjude als Liebhaber zugesellt. Sprachlich steht er auf der Höhe der Emanzipationsjüdin, ohne jedoch deren französische

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Floskeln zu gebrauchen. Im Gegensatz zu Ipelmeyer fällt er auch in keiner Situation in den Jargon zurück (65). In ihm wird der empfindsame Liebhaber karikiert, der sich in seinem Dauerschmerz und seiner Hypersensibilität gefällt. Sein Werben um Isidora bleibt zweifach vergebliche Liebesmüh, da die Adressatin sich dadurch vom Kunstgenuss abgehalten fühlt und Ipelmeyer in ihm mit nur »600 Thaler[n] Gehalt« (66), keine angemessene Partie für seine Tochter sieht. Bandheims erfolgloses Werben reiht ihn in die Riege der männlichen Judenrollen ein, für die, wie Neubauer aufgezeigt hat, auch als komische Rollenfiguren die Liebe stets tabu ist.21 Durch das Scheitern der Aufnahme in die Ipelmeyerische Familie wirkt die Figur Bandheim deutlich isoliert. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn er als einziger Verdacht an Roberts Authentizität als Graf schöpft, jedoch weder bei Ipelmeyer noch seiner Tochter für das Aufdecken des Gauners Gehör findet. Mit der Wiederaufnahme des Traditionsstrangs karikierter Assimilationsjuden trägt Gustav Raeder zum Weiterleben der besagten Klischees in der zweiten Jahrhunderthälfte bei.

IV. »Planschbecken des Volksgemüts« – Hans H. Zerletts Film Robert und Bertram (1939) Die Raedersche Posse war nicht nur ein Erfolg auf der Theaterbühne des 19. Jahrhunderts,22 sondern eroberte auch mehrfach die Leinwand der Kinos im 20. Jahrhundert. So gab es vor Hans H. Zerletts Film im Jahr 1939 bereits 1915 die erste Verfilmung unter der Regie von Max Mack und 1928 bannte der Regisseur Rudolf Walther-Fein die Posse auf Zelluloid. Wie wurde aus einer ›Posse mit Gesängen und Tänzen in vier Abtheilungen‹ […] ein perfides – und in historischen Abhandlungen lange übersehenes – Hetzwerk der nationalsozialistischen Filmproduktion?

So eröffnet David Kleingers seinen Essay Vagabundierende Volkskörper. Zur Werkgeschichte von ›Robert und Bertram‹ und sieht seine rhetorische Frage mit dem Hinweis beantwortet, Zerlett sei eng an Raeders Szenario geblieben und konnte »auf die bereits vorhandene Schlüsselszene der Vorlage zurück21 22

Hans-Joachim Neubauer: Judenfiguren. (1994), S. 96. So ist auf dem Titelblatt der Erstausgabe von Robert und Bertram bereits werbestrategisch vermerkt: »Zuerst auf dem Königl. Hoftheater in Dresden mit den eminentesten Kassen-Ergebnissen bereits 14 Mal erschienen. Ebenso auf den Hofbühnen zu Hannover und Braunschweig. In Vorbereitung auf den Hofbühnen zu Stuttgart und Cassel. In Berlin an der Friedrich-Wilhelmstadt bei Weitem das beliebteste Repertoirestück der Saison, desgleichen auf dem Thalia-Theater in Hamburg, Leipzig sc. für die nächste Saison fast auf allen, irgend bedeutenden Bühnen in Angriff«. Vgl.: Gustav Raeder: Robert und Bertram, oder: Die lustigen Vagabonden. Posse mit Gesängen und Tänzen in vier Abtheilungen. Berlin 1856.

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greifen«, nämlich das Berauben Ipelmeyers während der Soirée. Einer groß angelegten ideologischen Überarbeitung des Stoffes hätte es demnach nicht mehr bedurft.23 Man muss jedoch die dramaturgischen Veränderungen bedenken, die der Regisseur und gleichzeitige Drehbuchautor Hans H. Zerlett vorgenommen hat, um die Soiree-Episode überhaupt erst zur Schlüsselszene des Films zu erheben. Gustav Raeder gestaltet die Soiree-Szene als eine lose in den Handlungsverlauf integrierte, geschlossene Episode, die beliebig durch eine andere Abenteuerszene ersetzt werden könnte und die für den Fortgang der Handlung bedeutungslos ist. Bei Zerlett hingegen ist sie dramaturgisches Zentrum geworden, indem Robert und Bertram sich ganz bewusst bei Ipelmeyer einschmuggeln, um mit ihrem kalkulierten Beutezug den Wirt Herrn Lips vor dem finanziellen Ruin und seine Tochter Lenchen vor einer Zwangsehe zu bewahren. Die beiden Gauner konnten nämlich in der vorangehenden Szene belauschen, dass ein feiner Herr namens Biedermeier Herrn Lips finanziell unterstützt, um ihn von sich abhängig zu machen, da er Lenchen zur Frau haben will. Ein zufällig aufgefundener Brief klärt dann Robert und Bertram über die wahren Verhältnisse Biedermeiers auf: Biedermeier ist mit dem Berliner Bankier Ipelmeyer ein Wechselgeschäft eingegangen, um mit dem erhaltenen Geld Lips unter Druck zu setzen. Ipelmeyer will nun den Wechsel nicht länger prolongieren und fordert sein Geld zurück. Zerlett verwendet hier das traditionelle Klischeemotiv des Juden, der sein Geld einfordert. Während in Raeders Posse regionale Bezüge eine geringere Rolle spielen, arbeitet Zerlett einen massiven Stadt-Land-Gegensatz heraus. Die tugendhafte, ärmliche Familie ist auf dem Land, die jüdische, reiche Familie in Berlin angesiedelt, wobei Berlin als Stadt der Cafés und der Prostitution negativ konnotiert ist. Durch seine Finanzgeschäfte reicht der Einfluss des jüdischen Bankiers jedoch bis in die Privatsphäre der Familie auf dem Land. Die erste Begegnung der zwei Gauner mit Ipelmeyer findet im Café Kranzler statt, wo sie sich ihm als Graf von Monte Christo und dessen Gesangslehrer Prof. Müller vorstellen, um zu seiner Abendgesellschaft Zugang zu finden. Bereits hier wird als ein zentrales Thema, die Identifizierung des Juden, angeschlagen, denn Ipelmeyer wird sowohl an seiner Physiognomie erkannt als auch anhand seiner Bestellung charakterisiert: Sherry, Kaviarbrötchen und Börsenblatt im Gegensatz zu Bertrams Bier, Schinkenstulle und der Königlich privilegierter Berlinischen Zeitung. 23

David Kleingers: »Vagabundierende Volkskörper. Zur Werkgeschichte von ›Robert und Bertram‹«. In: Die deutsche Filmkomödie vor 1945. Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Hg. von CineGraph (= Hamburgisches Centrum für Filmforschung e.V.) München 2005. Zu Zerletts Verfilmung vgl. auch: Dorothea Hollstein: Antisemitische Filmpropaganda. Die Darstellung des Juden im nationalsozialistischen Spielfilm. München/Berlin 1971, S. 48–53. und Mary-Elizabeth O’Brien: Nazi Cinema as Enchantment. The Politics of Entertainment in the Third Reich. New York 2004, S. 32–45.

Gustav Raeders Posse Robert und Bertram

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Mit der erfolgreichen Maskerade als aristokratische und akademische Autoritäten spiegeln Robert und Bertram persiflierend das Thema der utilitaristischen jüdischen Assimilation, das wenig später auf der Soirée durch das Panorama jüdischer Figuren voll zur Entfaltung kommt. In einem weitläufigen barocken Repräsentationsraum in Ipelmeyers Palais werden die Figuren vorgeführt, wobei Zerlett die Klischees der bekannten Possentypen des 19. Jahrhunderts aufgreift und im Sinne der Naziideologie überformt. Das Filmpersonal wurde gegenüber dem der Posse geringfügig verändert. Die Ipelmeyerische Familie ist nun komplettiert durch Madame Ipelmeyer, die als typische Matrone in einem tief dekolletierten, viel zu engen Kleid mit einer komisch aufgetürmten Hochsteckfrisur. erscheint. Wie ihr Mann, der zum Frack die den Parvenu kennzeichnende Lorgnette und die goldene Uhrenkette trägt,24 wird sie sprachlich dem Assimilationsstreben nicht gerecht. Auch die Kostümwahl beider für den Maskenball unterstreicht das mangelnde kulturelle Wissen. Ipelmeyer verkleidet sich entsprechend der Vorlage als Ludwig XIV. mit Allongeperücke, vollkommen karikiert durch sein überdimensioniertes Jabot, der das ganze Kostüm einnimmt. Dazu kommt sein Fehlgriff bei der Wahl der Reichsinsignien, hält er doch den Reichsapfel mit dem Kreuz in der Rechten. Seine Frau will eigentlich als Madame Pompadour erscheinen, trägt jedoch ein karikiertes Kostüm im Stil der spanischen Mode des 17. Jahrhunderts statt eines Rokokokleides. Der Vorlage entsprechend wird der älteren Generation in Form der Tochter die Emanzipationsjüdin gegenübergestellt, die das Französische so gut wie das Schriftdeutsche beherrscht, allerdings von den Eltern kaum mehr verstanden wird. Zerlett lässt sie sprachlich ihr Niveau solange durchhalten, bis sie durch die Gauner all ihres Schmucks entledigt in höchster Erregung wieder in den Jargon zurückfällt. Während Raeder sie auf dem Maskenball als Jungfrau von Orléans erscheinen lässt, wählt sie im Film als Vorbild Kleopatra aus. Zu ihrem Kostüm steht ihr Liebhaber Samuel in vollem Kontrast, der für den Ball eine Ritterrüstung anlegt. Zur Enttäuschung Isidoras kann er in dieser Montur weder richtig gehen, noch tanzen, geschweige denn den Liebesakt vollziehen, den Isidora, durch den Raubzug völlig die Fassung verloren habend, ihm anbietet. Doch Samuel vernimmt man nur ein klägliches: »Es geht nicht.« (Filmdialog). Als Ipelmeyer kurze Zeit vorher in die Liebesszene der beiden hereinplatzt, würde er am liebsten handgreiflich werden, so dass Samuel zunächst sein Schwert zückt. Im nächsten Moment wird er aber von Ipelmeyer wieder zur Vernunft gebracht, vor allem mit dessen Rat, generell nicht mit dem Schwert zu kämpfen, sondern lieber zu Feder und Tinte zu greifen. Ipelmeyers Cousine, die Kommerzienrätin Forchheimer, wurde gestrichen, dafür aber die Rolle des Assimilationsjuden Herrn Forchheimer kreiert. Forch24

Vgl.: Hans-Joachim Neubauer: Judenfiguren. (1994), S. 94.

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Anette Spieldiener

heimer kommt zur Soirée in eleganter Abendkleidung, mit hoch toupierten Locken und ist sprachlich durch starkes Jiddeln gekennzeichnet. Als Ipelmeyers erster Prokurist scheint er nicht nur im Geschäftlichen relativ freie Hand zu haben, sondern wird von Ipelmeyer sogar als Liebhaber seiner Frau geduldet. Während des Maskenballs macht er sich ungeniert im orientalisierenden Kostüm mit Kaftan, Turban und wallendem Bart an Madame Ipelmeyer heran. Ipelmeyer selbst hält es mit der Treue auch nicht allzu genau, er ist auf ein Abenteuer aus mit einer Dame der engagierten Ballettgruppe, die aber gleichzeitig Dr. Kaftan, Ipelmeyers Arzt, im Visier hat. Aus dieser Konkurrenzsituation geht Ipelmeyer als Verlierer hervor, da Kaftan ihm statt seiner gewünschten Medizin im Verlauf des Abends Schlafpulver verabreicht. Problemlos können so Robert und Bertram den schlafenden Ipelmeyer von Kopf bis Fuß seines Schmucks entledigen. Während bei Raeder die Figur des Doktors überwiegend kommentierende Funktion hat, lässt sie Zerlett als Intrigant Teil der untereinander asolidarisch agierenden jüdischen Gemeinschaft werden. In einem schwarzen, glänzenden Kostüm und mit Insektenfühlern auf der Stirn, schreckt Kaftan nicht zurück, zu seinem eigenen Vorteil Ipelmeyer auszuschalten. Während Raeder mit seiner Posse vor allem das Assimilationsstreben der jüdischen Aufsteiger karikierte, indem er deren Konzentration auf wirtschaftlichen Erfolg und deren Oberflächlichkeit der Bildung dem Spott preisgab, geht es bei Zerlett um die Konstitution eines Feindbildes: Dies umfasst neben dem nutznießerischen jüdischen Assimilationsstreben vor allem Amoralität sowohl im Geschäftsbereich also im zwischenmenschlichen Bereich. Um den Feind zu identifizieren gibt der Film gleichsam eine Schulung in Stereotypen, die trotz Assimilationsbemühungen nicht verborgen werden können: So erkennt Bertram Ipelmeyer am Profil, Madame Ipelmeyer ihren Geliebten Forchheimer an seinen Füßen, der Arzt seinen Patienten Ipelmeyer an seinem Akzent und seinem erotischen Interesse an der Ballerina. Trotz dieser Adjustierung im Sinne des rassischen Antisemitismus haben die Possenjuden aus dem 19. Jahrhundert überlebt. Somit kann Zerletts Film Robert und Bertram in Entsprechung Neubauers Bewertung von Sessas Unser Verkehr als rezeptionsgeschichtlicher Knotenpunkt betrachtet werden, der den antijüdischen Diskurs des 19. Jahrhunderts in den des 20. Jahrhunderts überführt. Zerletts Film Robert und Bertram war annonciert als filmischer Ausflug ins »Planschbecken des Volksgemüts«.25 Eigentlich aber eröffnete er die zweite Welle des nationalsozialistischen Propagandafilms, die den Antisemitismus schüren half, der in der ›Endlösung‹ sein Ziel erblickte.

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Zitiert nach: Karsten Witte: Filmkomödie im Faschismus. Frankfurt a. M. 1986, S. 148

Sebastian Stauss

Bedrohte Idylle Die Judenfrage im Elsaß als Dramensujet

Es war einer der markanten Momente seiner Bühnenkarriere: Spätestens jetzt, am Ende des 1. Aktes war den Zuschauern klar, dass Henry Irving einen von seinem Gewissen gequälten Mörder, einen Psychopathen vorstellte, keinen aufgrund mühsamer Amtsgeschäfte zerstreuten, schrulligen elsässischen Bürgermeister und Familienvater. Doch der Sequenz, in welcher der Antiheld Mathias aus dem Theaterstück The Bells von Leopold Lewis dem Zuschauer sein Innerstes preisgibt – den 15 Jahre zurückliegenden Mord im Schnee an einem reichen und reisenden polnischen Juden – der autosuggestiven Erinnerung an diese Untat war ein regelrechter coup de théâtre vorbehalten, der auf Abbildungen aus Zeitschriftenausgaben vom Dezember 1871, The Illustrated London und The Stage,1 nachvollziehbar wird: Im verdunkelten Hintergrund des Bühnenraums, der die Dorfschenke und das Heim des Bürgermeisters Mathias gezeigt hat, und der zunächst durch eine Rückwand mit Fenster abgeschlossen gewesen ist, wird auf dem Höhepunkt von Mathias’ Vision eine verschneite Landschaft erkennbar, durch die sich der polnische Kornhändler auf einem Pferdeschlitten von links nach bewegt, gefolgt von seinem mit einer Axt bewaffneten Mörder. Eine unheimliche Konfrontation des Protagonisten mit sich selbst im Spiegel seiner düsteren Vergangenheit, der Irving als gefeierter Bühnenstar im Bühnenvordergrund freilich noch einen markerschütternden Schrei und seinen effektvollen körperlichen Zusammenbruch, zeitgleich mit dem Zuschlagen des Vorhanges, hinzuzufügen wusste. Bei einem synästhetisch angelegten Ereignis, als das sich das viktorianische Theater mit seiner Zusammenführung verschiedener Wahrnehmungsebenen bezeichnen lässt, erklang zusätzlich in dieser ›vision scene‹ die Spannung noch steigernde Musik, ein ›Andante mysterioso‹ in d-Moll, mit gleichmäßig wie über der Beute kreisender chromatischer Bewegung in der Bassstimme und darüber, in der Oberstimme, nervös zitternden (Streicher-)Tremoli in kleinen Terzen, kulminierend in einer wuchtigen Coda und dem Presto-Beschluss, in jenem Moment anzuschließen, als sich Mathias alias Irving umdreht, um

1

Abgebildet in: Henry Irving and ›The Bells‹. Hg. von David Mayer. Manchester 1980, S. 48 f.

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dem Bühnenspuk ins Auge zu sehen.2 Überhaupt ist The Bells ein auf die Dämonie des Akustischen ausgerichtetes Theaterstück, wie bereits der Titel ankündigt. Er bezieht sich auf die Glocken, die Mathias im Verlauf der drei Akte immer wieder zu hören glaubt – die Glocken am Schlitten des Juden, die ihn wie ein Läuten zum Gericht verfolgen. Ein Gastspiel bei der Uraufführung von Leopold Lewis The Bells, am 25. November 1871 im Londoner Lyceum Theatre, gab Etienne Singla, der musikalische Leiter des Théâtre Cluny von Paris. Er war auch Komponist der Schauspielmusik, die bei der Premiere erklang, aber keine Neukomposition für The Bells war. Dieser ›Soundtrack‹ war nur eine von vielen Importwaren, die aus Paris für Henry Irving vom Pächter und Manager des Lyceum Theatre, Hezekiah L. Bateman, nach London transferiert wurden. Das Sujet, die Handlung und das Figurenpersonal waren ebenfalls detailgetreu aus der Vorlage Le Juif Polonais vom Autorenduo Emile Erckmann und Pierre Alexandre Chatrian übernommen worden. Diese lag, den Pariser literarischen Gepflogenheiten und Marktbedingungen gemäß, wie auch beispielsweise Alexandre Dumas La dame aux camélias, sowohl in erzählter als auch in dramatischer Textversion vor und hatte drei Jahre vorher, am 15. Juni 1869, im Théâtre Cluny ihre Premiere gefeiert, mit Émile-Laurent Talien als Mathis, wie die Figur im Original heißt. Dramaturgisch hatte sie sich in einem entscheidenden Punkt von Leopold Lewis’ englischer Adaption unterschieden: Anders als hier wurde das Publikum im Théâtre Cluny beim ersten Auftritt von Mathias noch nicht vor vollendete Tatsachen gestellt und ihm klargemacht, dass es einen Mörder vor sich hatte. Stattdessen wurde die Schuld des Bürgermeisters in kriminologischer Manier erst nach und nach enthüllt. Klarheit brachte schließlich ein Monolog von Mathis, Mitte des zweiten Aktes, während die Gegenüberstellung mit der Vergangenheit im Rahmen einer Vision erst im dritten erfolgte: In einer Traumsequenz sah sich Mathias vor Gericht, und wurde dort, von einem Ma-gnetiseur hypnotisiert, seiner Schuld überführt. Auf diesen Effekt haben auch Lewis, Irving und Bateman nicht verzichtet. Dagegen ist zugunsten der vision scene ein Handlungselement geopfert worden, das in Le Juif Polonais maßgeblich den finalen Zusammenbruch des Mathias motiviert: und zwar das Eintreffen eines zweiten polnischen Juden, der auf der Durchreise im elsässischen Städtchen einkehrt. Es mutet aufgrund mehrerer soziokultureller Faktoren konsequent an, dass in The Bells, um den Preis einer auf Irvings Darstellungskünste zugeschnittenen Figurenpsychologie, an sich realistische Phänomene wie der Schlitten des polnischen Juden mit seinem Insassen und das Geräusch der Schlittenglocken, ›internalisiert‹ und zur dämonischen Vision umgestaltet werden. Deutlich im Geiste Michel Foucaults verweist David Mayer in seiner Einleitung zum Stück aus dem Jahr 1980 darauf, dass die Seelenqualen eines kleinbürgerlichen Mör2

Ebd., S. 124 (Die Noten in der angegebenen Dokumentation sind ein Arrangement von Nigel Gardner nach der Original-Partitur).

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ders dem unter dem moralischen Dispositiv ständigen sexuellen Schuldbewusstseins ächzenden viktorianischen Middle-class-Publikum eine besondere Genugtuung verschafften.3 Sicherlich ist die Verschiebung von einem Vorläufer des Kriminalstücks zu einem Psychodrama auf diesem Wege der Argumentation begründbar; im Umkehrschluss sollte aber auch in Erwägung gezogen werden, dass Erckmann-Chatrians Juif Polonais zur dramaturgischen Verhüllung der Untat als theatralisches Referenzmuster auf eine Alltagsrealität bezogen werden konnte, die in London im Gegensatz zu Paris keineswegs geläufig war. Mit dem Elsaß als Handlungsort hatte das Erfolgsduo Erckmann-Chatrian für Le Juif Polonais nämlich einen Rahmen gewählt, in den die Mordtat von der literarischen Mode der Zeit her betrachtet nämlich nicht so recht passen wollte. Das bäuerliche Leben im Elsaß erfuhr zur Zeit der Uraufführung von Erckmann-Chatrians Theaterstück eher eine Idealisierung und Idyllisierung, bis hin zur Verklärung des dortigen Zusammenlebens von Christen und Juden in vollkommener Harmonie, so etwa 1860 in Scènes de la Vie juive en Alsace von Daniel Stauben oder La Vie juive des selbst aus dem Elsaß stammenden, assimilierten Journalisten und Jugendbuchautoren David Léon Cahun. Wenig später, mit Ma Jeunesse von Alexandre Weill aus dem Jahr 1870 findet sich indes auch eine Gegenstimme zu diesen Stilisierungen eines verlorenen Paradieses, die das Elsaß vor allem bei den französischen Bürgern erfuhr, die im Zuge des preußisch-französischen Krieges vom Lande in die Großstadt Paris übersiedelten. Mitunter kompensierten assimilierte jüdische Familien unter ihnen mit einem ausgeprägten Nationalismus die antisemitischen Anfeindungen, »in denen den Juden, die jiddisch sprachen, im Elsaß geboren und stärker den Traditionen verhaftet waren als die in Paris lebenden Juden, vorgeworfen wurde, mit dem deutschen Feind zu paktieren und keine loyalen Franzosen zu sein«.4 Vor diesem Hintergrund ist den Vertretern des Unterhaltungsgenres Erckmann-Chatrian eine bemerkenswerte Verkehrung des gängigen Elsaß-Bildes ihrer Zeit zuzuschreiben, die das Innere nach Außen stülpt: und zwar eben nicht mittels einer individualpsychologischen Dramenkonstruktion wie in der Adaption The Bells, in der die Verbrecherseele an der alles beherrschenden Moral zerbricht; sondern anhand einer sozialgeschichtlichen Perspektive, in der nicht nur das Motiv für den Mord prekäre Selbstverständlichkeit erhält, sondern auch seine Verschleierung. Im Elsaß, wie es Erckmann-Chatrian in Le Juif Polonais entwerfen, fragt und forscht kein Dorfbewohner näher danach, wie der einst arme Bürgermeister mit Namen Mathias bald nach dem Verschwinden des durchreisenden Juden aus dem Osten zu Geld gekommen und 3 4

Ebd., S. 4. »The Victorians publicly enthused over morality. On the subjects of marital and sexual irregularities they were less vocal.« Elisabeth-Christine Mülsch: Zwischen Assimilation und jüdischem Selbstverständnis. Bonn 1987, S. 236f.

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zum Bürgermeister avanciert sein könnte. Erst sein Schwiegersohn in spe, Christian, der neue Gendarm des Dorfes, entwickelt den Ehrgeiz, das 15 Jahre zurückliegende Vergehen aufzudecken. Die dörfliche Idylle wird nicht allein als Fassade enttarnt, sie hat vielmehr einem Parasiten einen Aufstieg eröffnet, der sich letztlich nur durch die Koinzidenz der Ankunft eines zweiten polnischen Juden rächt, die ihm, zwar keine Schuldgefühle verursacht, doch einen letztlich letalen Schrecken versetzt. Das Drama von Erckmann-Chatrian spielt im Jahr 1833, der Mord hat sich Heiligabend 1818 ereignet. Zum einen ist am Jahr, in dem die Handlung von Le Juif Polonais angesetzt ist, bemerkenswert, dass es in eine Phase fällt, in der das Verhältnis im französischen Nationalstaat zwischen Bürgern christlichen und jüdischen Glaubens von einer relativen Entspannung gekennzeichnet ist, die allerdings, vergegenwärtigt man sich die Damaskusaffäre von 1840, auch als Ruhe vor dem Sturm ausgelegt werden kann. Im Februar 1848, noch vor der Revolution, befördern die revolutionären Vorgänge in Paris und die Ernennung zweier jüdischer Minister »im Elsaß die Gewalt des Pöbels gegen die jüdischen Gemeinden«.5 Der Winter 1818/19 wiederum, in dem sich der Mord am polnischen Juden ereignet haben soll, war der vor den deutschlandweiten, überaus heftig etwa in Heidelberg wütenden »Hep-Hep«-Unruhen beherrschte, deren Ursachen »nicht eindeutig auszumachen«, beispielsweise aber in schweren Missernten der Jahre 1816/17 sowie steigenden Brotpreisen nach der Aufhebung der Kontinentalsperre zu sehen sind.6 Das Mordopfer in Le Juif Polonais wie auch der zweite polnische Jude, der am Ende des 1. Aktes von Erckmann-Chatrians Stück in Erscheinung tritt und statt der Vision in The Bells einen Zusammenbruch des Mörders nach sich zieht, ist ein Kornhändler. Die Erzählung des Oberförsters Heinrich im ersten Akt von Erckmann-Chatrians Juif Polonais zielt zum einen auf die katastrophalen natürlichen Bedingungen der Jahreswende 1818/19 ab, die mit denen zu Beginn des Dramas verglichen werden: »[...] Le froid dura jusqu’a la fin de mars. A la débâcle, toutes les rivières étaient débordées, on ne voyait que des souris, des taupes et des mulots noyés dans le champs.« Zur Ankunft des jüdischen Kornhändlers im Dorf bemerkt der Pfarrer Walter, dass alle in der Schenke sich umgedreht und den Reisenden misstrauisch beäugt hätten, da er zwei Monate früher als bei den Kornhändlern üblich im Elsaß eingetroffen wäre.7 Wie in einem Indizienprozess fügt sich ein Teil zum anderen in diesem ländlichen Krimi, der die neue französische Obrigkeit im Grunde dort schon am Ende zeigt, wo sie sich in der Provinz eigentlich erst in der Figur des Christian zu etablieren beginnt. Die erneute Fahndung des Städters Christian nach dem Mörder scheitert nicht daran, dass wie im häufigen urbanen Kontext 5 6 7

M. Brenner/S. Jersch-Wenzel/M.A. Meyer: Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit. Bd. 2., München 1996, S. 288. Ebd., S. 43f. Erckmann-Chatrian: Le Juif Polonais. Paris 5o.J., S. 16ff.

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eines Kriminalromans die Erstellung eines Täterprofils zu schwierig ausfallen würde. Die geschichtlichen Fakten der Jahre 1818 und 1833 legen vielmehr nahe, dass im vermeintlichen dörflichen Idyll von Le Juif Polonais der Mörder hinter nahezu jeder Haustür sitzen könnte: zum einen aufgrund der sozialen Nöte, mit denen die Landbevölkerung auf beiden Seiten des Rheins zum Zeitpunkt des Mordes konfrontiert war; zum anderen aufgrund der im Zuge der jüdischen Emanzipation ohnehin aufgeheizten Stimmung ›rechts‹ des Rheins, die ihre Ausstrahlung auf die Nachbarn ausübte. Das offenkundige Desinteresse der Dorfbewohner an einer Aufklärung des Tathergangs ist analog begründbar. Erstens mit der neuen Bequemlichkeit und Prosperität im Elsaß, die gleich zu Beginn des Stücks illustriert wird, wenn sich Oberförster und Pfarrer in der Schenke treffen, um gemeinsam in einem üppig mit Gütern aller Art beladenen Wagen in die Weihnachtsfeiertage aufzubrechen; zweitens durch die Verdrängung der Armut und sozialen Spannungen in jenen Jahren der frühen Restauration, die sich darin widerspiegelt, dass besagte beiden Dorfhonoratioren es mit Argwohn betrachten, wenn der neue, fremde Wachtmeister aus der Auvergne es missbilligt, wie sein zukünftiger Schwiegervater just den zwei Bettlern und einstigen Schaustellern Unterschlupf gewährt, die einst unter Mordverdacht in Haft waren; und drittens mittels eines nicht restlos überwundenen Aberglaubens, den Mathis erfolgreich nach seinem Zusammenbruch beim Eintreten des zweiten polnisch-jüdischen Kornhändlers beim Dorfarzt als Begründung für den Kollaps vorschiebt: »Ça m’a produit l’effet d’un revenant! Je sais bien qu’il n’y a pas de revenants, et que les morts sont bien morts; mais que voulezvous? on ne pense pas toujours à tout.«8 Beziehen die ersten anderthalb Akte von Le Juif Polonais ihre Spannung beim Zuschauer und Leser aus dem Rätsel, ob sich hinter Mathis der Mörder verbirgt, so wird diese nach dem enthüllenden Monolog durch die Fragestellung aufrechterhalten, ob er sich überführen lässt, oder seine Bauernschläue obsiegt. Dass Mathis am Ende mit der Traumgestalt des Magnetiseurs Opfer einer Ausgeburt seines ›Aberglaubens‹ wird, ist nicht so sehr eine vorweggenommene psychoanalytische Fallstudie als vielmehr eine makabre schwarzromantische Pointe – zur Entstehungszeit von Le Juif Polonais war Paris bereits im E.T.A. Hoffmann-Fieber (das sich zweifelsohne mit einer Freudschen Interpretation verknüpfen ließe). Der Doktor gibt jedenfalls dem Weißwein die Schuld an Mathis Tod, dem schönsten Tod überhaupt, wie Pater Walters letzte Worte des Dramas lauten, mit keinem Leiden verbunden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Le Juif Polonais den Weg auf die Opernbühne finden sollte. Dass er dieses Ziel in Paris erreicht, kommt, um erneut auf die hochkonjunkturellen Dimensionen der Erckmann-Chatrian-Begeisterung seit Le Juif Polonais 1869 am Théâtre Cluny hinzuweisen, einem Re-Import gleich, denn mit L’ami Fritz hatte das Autorengespann bereits fünf Jahre vorher einen weiteren, verzögerten Impuls an eine dramatische Untergattung ab8

Ebd., S. 34f.

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gegeben, nicht das viktorianische Unterhaltungstheater, sondern das veristische italienische Musiktheater. 1891 knüpfte Pietro Mascagni, unterstützt vom Librettisten Nicola Daspuro unter dem Pseudonym Suardon, mit L’amico Fritz in Rom erfolgreich an den sensationellen Durchbruch an, den er ein Jahr zuvor mit Cavalleria rusticana gefeiert hatte. Genau die Verklärung des ländlichen Lebens im Elsaß von L’amico Fritz, das sich in Le Juif Polonais so effektvoll auf den Kopf gestellt findet, fand nach den Gewalttätigkeiten der sizilianischen Dorfwelt von Mascagnis Opernerstling den Beifall des Opernpublikums, das L’amico Fritz schon ein Jahr nach der Uraufführung weltweit in neun Großstädten erleben konnte. Dass mit der Figur des Rabbiners David in diesem Stück immerhin das Stereotyp des Kupplerjuden reproduziert wird, konnte und kann dabei bis heute kaum heftig moniert werden, da die Figur nicht nur in ihrer Spielmacherfunktion beim Zusammenführen des füreinander bestimmten Paares Fritz und Suzel mit einer ungetrübt positiven Sympathielenkung bedacht wird: Vollauf bestätigt wird dieser Eindruck dadurch, dass David am Ende den ihm zustehenden Wetteinsatz, den Weinberg, den Fritz beim Beharren auf sein Junggesellentum aufs Spiel gesetzt hat, der ärmlichen Pächterstochter Suzel quasi als Mitgift weiterschenkt. Eben das Klischee des jüdischen Kupplers wird so durch materielle Uneigennützigkeit mehr als ausgeglichen, die Judenfigur zu einer Integrativkraft im idealisierten elsässischen Landleben. Das Gegenbild hierzu harrte auf der Opernbühne noch seiner Ausgestaltung. Dass die düstere Variante dieses theatralischen Abbildes vom Elsaß in Frankreich auf die Opernbühne gelangte, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch vom tagespolitischen Geschehen ›begünstigt‹. Seit 1894 saß mit der Affäre um Alfred Dreyfus, der ebenfalls aus dem Elsaß stammte, die Verunsicherung in Paris gegenüber den Integrationsschwierigkeiten assimilierter jüdischer Familien im französischen Nationalstaat tief. Aggressiven antisemitischen Vorstößen wie denen von Édouard-Adolphe Drumont stehen neben Émile Zolas berühmtem J’accuse beispielsweise der Einzug in die Politik von Léon Blum gegenüber, dem mit Dreyfus die elsäßische Herkunft gemeinsam war. Im Pariser Theaterbetrieb wurden Anspielungen auf das Schicksal des Offiziers zunächst durch die Zensur unterdrückt oder unter strengsten Auflagen entschärft, so in Stücken wie Les Loups von Romain Rolland oder Fergus von Albert Dupuy. Sarah Bernhardt nutzte im Dezember 1897 die Bühne des Théâtre de la Renaissance zu einer indirekten Reaktion auf die von Zola losgetretene Revision des ersten Prozesses, und zwar mit dem Stück Les Mauvais Bergers von Octave Mirbeau. Wie im Falle der Aufführungen von Ibsens Volksfeind und Joseph d’Arimathie, die Aurélien Lugné-Poë im folgenden Frühjahr 1898 an seinem Théâtre de l’Œuvre auf den Spielplan setzte, musste das Publikum seine innenpolitischen Schlüsse aus den Tertia comparationis ziehen, die ihnen diese Aufführungen im Gewand der Fabel, des Bibeldramas und der Satire auf eine nicht näher bestimmte norwegische Provinz nahe legen konnten. Dass sich demgegenüber Le Juif Polonais mit seinem, noch vor der

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1848er Revolution angesiedelten, historischen Sujet und 30 Jahre nach seiner Uraufführung für eine erneute Aufführung eignen würde, war insofern folgerichtig, vereinte es doch die Qualitäten einer bereits bekannten und somit von der Zensur schwer anfechtbaren Vorlage mit von den Zeitgeschehnissen ›wiederhergestellter‹ Aktualität, die sich allerdings vom Mord an einem Juden und der darüber verdrängten Schuldgefühle des Mörders stets zur Gewissenslast eines Mordes an sich, ohne jeglichen antisemitischen Hintergrund, abstrahieren ließ, so wie in der Affäre Dreyfus »die jüdische Herkunft des Angeklagten« in der französischen Öffentlichkeit »lange tabuisiert«9 wurde. Am 11. April 1900, im milderen, wiewohl nicht restlos entspannten Klima zwischen dem zweiten Prozess gegen Dreyfus (1899) und seiner vollständigen Rehabilitation (1906), war es soweit: Der Vorhang hob sich in der Pariser Opéra-Comique über der Opernadaption von Le Juif Polonais, die Camille Erlanger in einer textlichen Einrichtung von Henri Cain und Pierre-Barthélemy Gheusi komponierte, die aber vor allen Dingen auf den Interpreten des Mathis zugeschnitten war: keinen Geringeren als Victor Maurel, der sich als Uraufführungsinterpret von Jago in Verdis Otello und in der Titelrolle des Falstaff an der Scala, 1887 und 1893, bereits Unsterblichkeit ›ersungen‹, nicht minder aber darstellerisch erworben hatte. 1889 konnte Maurel seinen Triumph als Jago bei der Londoner Erstaufführung von Otello wiederholen, und zwar im Lyceum Theatre, in jenem Haus also, in dem Henry Irving den seit der Premiere von The Bells ungebrochenen Erfolg 1878 mit dem Aufstieg zum actormanager gekrönt hatte, ein Arbeitsverhältnis, das erst 1899 endete. In dieser Zeitspanne war das Lyceum Theatre »das Flaggschiff Englands in der eindrucksvollen Flotte von Schauspielhäusern«10, die erste spätviktorianische Adresse für Shakespeareaufführungen von Rang. Insofern ist es doppelt bemerkenswert, dass Maurel ›in der Höhle des Löwen‹ für seine Operndarstellung des Jago gefeiert wurde. Anlässlich eines weiteren Gastspiels 1891 bemerkte freilich der als Kritiker zu dieser Zeit gefürchtete Bernard Shaw: His performance is to be admired rather as a powerfully executed fantasy of his own than as the Jago either of Verdi or Shakespear [sic!]. If his successors in the part try to imitate him, their wisdom will be even less than their originality.11

Diese Qualität eines Charakterdarstellers für die Operbühne, der sich selbst über Shakespearesche Vorlagen hinwegsetzen konnte, ermöglichte es Victor Maurel, einem Mimen vom Format Henry Irvings auch in Rollen nachzueifern, die über das Repertoire des elisabethanischen Meisterdramatikers hinausreichten. Der Erfolg der musikdramatischen Version des Juif Polonais von Camille 9 10 11

E.-V. Kotowski/J.H. Schoeps/H. Wallenborn (Hg.): Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. Bd. 1, Darmstadt 2001, S. 406. J.M.R. Booth/S. Bassnett: Sarah Bernhardt, Ellen Terry, Eleonora Duse. Berlin 1991, S. 158. Bernard Shaw: The Great Composers. Hg. von Louis Crompton. Berkeley u.a. 1978, S. 212.

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Erlanger war unweigerlich mit der Verkörperung des Mathis durch Maurel verknüpft. Die Oper stand buchstäblich mit ihm und fiel dann dem Vergessen anheim, mag das Werk auch in den folgenden 33 Jahren insgesamt 50 Mal auf der Spielplan der Opéra-Comique gestanden sein, was auch auf die hochkarätige Besetzung der Uraufführung um Maurel herum zurückgeführt werden kann. So stand André Messager am Pult, und in der Rolle des Christian trat mit dem lyrischen Tenor Edmond Clément ein weiterer, heute legendärer Sänger auf, der 38 Jahre zum Ensemble der Opéra-Comique gehörte, später ein gefragter Pädagoge war und dessen stimmliches Können noch heute von Sammlern historischer Aufnahmen nachvollzogen werden kann. Vom geschilderten sozialhistorischen Hintergrund her Interesse verdient die Verwurzelung des Komponisten Camille Erlanger in einer alteingesessenen elsässischen Familie, aus der Erlanger eigentlich als Seidenhändler hätte hervorgehen sollen. Wie sein großes Vorbild Carl Maria von Weber im Freischütz konnte Erlanger somit bei den ›authentischen‹ volkstümlichen musikalischen Elementen nicht weniger aus dem Vollen schöpfen als beim Ausloten der Extreme in der Vokalcharakteristik für die inneren Abgründe seines Protagonisten. Zu diesem Zweck spielt der zweite Akt nicht wie in der Sprechtheatervorlage wenige Tage nach dem ersten. Vielmehr sind Monate vergangen, was Zeit und Raum für elsässische Frühlingsgesänge schafft, die den idyllischen Rahmen für die Hochzeit des jungen Paars schaffen, dabei aber ebenso mit dem düsteren Monolog des Mathis wie mit dem Bericht der Bürgermeistergattin Catherine vom Delirium des Mathis kontrastieren, in welchem er immer den »verfluchten polnischen Händler« gesehen habe12. An dieser Stelle erklingt auch ein einfaches musikalisches Motiv für den Klang der Schellen am Schlitten des Juden, Akkordrepetitionen mit Vorschlägen. Erlanger versäumt es nicht, dieses immer zu verwenden, wenn vom Nahen der beiden Kornhändler berichtet wird, vor allem auf jenem Punkt der Traumsequenz des 3. Aktes, an dem die Partitur bei Mathis Schilderung der Mordtat ankommt. »Frappe! À toi cet or sauveur!«13 Hier wird das Klingen der Schellen eins mit dem der Goldmünzen im Gürtel des Juden, auf denen der Mörder all seinen späteren Wohlstand gründet. Mathis’ Worte an dieser Stelle lauteten bei Erckmann-Chatrian: »Ah! ah! je te tiens... juif!...«14 Ist im Original der Übergriff auf das Mordopfer als Person noch deutlich als solcher gekennzeichnet, verschwindet der ›Jude‹ in der zu großen Teilen wörtlichen Opernadaption hinter dem Stereotyp seines tödlichen Neid provozierenden materiellen Überflusses. Doch diesen Antisemitismus als solchen kenntlich zu machen, das leistet Camille Erlangers Adaption letzten Endes nicht. Die Geldgier des Antihelden bleibt als Motiv isoliert stehen, so wie dessen Frau den polnischen Händler, nicht den jüdischen verwünscht. 12 13 14

Camille Erlanger: Le Juif Polonais. Klavierauszug, S. 141f. »Tu revoyais toujours ce maudit marchand Polonais [...].« Ebd., S. 331. Erckmann-Chatrian, a.a.O., S. 81.

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An einer Beilage zum Gaulois du Dimanche vom 8. April 1900, die sich im Archiv der Bibliothèque de l’Opéra de Paris findet, lässt sich ermessen, wie stark die Uraufführung von Erlangers Vertonung des Juif Polonais auf den Sängerdarsteller Victor Maurel zugeschnitten war. Das umfangreiche Bildmaterial, Portraitphotographien, Zeichnungen und Figurinen aller Beteiligten wird beherrscht von einer Abbildung, die Henry Presseq gestaltet hat und auch als Theaterplakat-Motiv zur Produktion in Paris zu sehen war: der auf einem Stuhl sitzende Maurel als Mathis in der Traumszene des dritten Opernaktes, hinter ihm der Magnetiseur mit erhobenen Händen, ein spukhaftes dürres Männlein in dunklem Gewand mit den Zügen einer skurrilen E.T.A. Hoffmann-Figur – ein Schwarzmagier, den man tatsächlich (wie es Mathis fordert) wohl vor keinem Gericht zulassen würde. Es passt zur Opernadaption Erlangers, dass der Mörder Mathis wie in der Vorlage nur von einem Spuk wie dem zur Strecke gebracht werden kann, den sein Vergehen am jüdischen Kornhändler entfesselt hat. Genau in diesem Punkt der Auflösung unterscheidet sich eine zweite Adaption von Erckmann-Chatrians Le Juif Polonais für die Opernbühne erheblich von der Vorlage und Erlangers textgetreuer Opernfassung: nämlich die des Tschechen Karel Weis, die am Neuen Deutschen Theater von Prag am 3. März 1901 Premiere feiert, also ein Jahr nach Erlangers Vertonung an der OpéraComique. Weis, einerseits musikalisch dem folkloristisch-patriotischen Stil von Smetana, Dvořák und nicht zuletzt von Zdeněk Fibich verpflichtet, bei dem er noch privat Kompositionsunterricht genommen hat, andererseits insoweit mit der Donau-Monarchie arrangiert, als er deutschsprachige Opernlibretti vertont, legt mit dem Polnischen Juden in jeder Hinsicht eine böhmische »Volksoper in zwei Akten« (so die Gattungsbezeichnung im Untertitel) vor. Die Verlobungsfeierlichkeiten von Mathis’ Tochter ›Annette‹ mit Christian werden mit ausgiebigen Volkstänzen begangen, die ebenso aus einer Verkauften Braut stammen könnten wie das Duett, das die beiden zu Beginn des ersten Aktes zu singen haben. Überhaupt ist die Oper von Karel Weis noch stärker in einzelne Nummern gegliedert, weniger dem Parlando-Stil mit ariosen Aufschwüngen und Übergängen verhaftet als Erlangers Musikalisierung des Sprechtheater-Textes. Als umso konsequenter erweist es sich, dass Weis auch einige Operetten komponiert hat und das Libretto zu seinem Polnischen Juden von Richard Batka und Viktor Léon – eigentlich Viktor Hirschfeld – erstellt worden ist, im Klavierauszug zur Weis-Oper von Brockhaus/Leipzig aus dem Jahr 1901 noch »Victor« geschrieben, dessen bekannteste Dichtung der Text zur Lustigen Witwe ist. Dieser, von Léon gemeinsam mit Leo Stein alias Leo Rosenstein geschrieben, basiert ebenfalls auf einer französischen Vorlage, der Komödie L’Attaché d’ambassade von Henri Meilhac aus dem Jahr 1862, aus dem gleichen Jahrzehnt also wie Le Juif Polonais von Erckmann-Chatrian. Diese dermaßen verzögerte deutschsprachige Rezeption französischer Boulevardtheater-Produkte des späten Second Empire sollte nicht unbedingt dazu

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verführen, auch für das Prag der Jahrhundertwende einer neu gewonnenen Aktualität der gewählten Stückvorlagen nachzuspüren, die auf Komponisten wie Librettisten ihre Faszination ausgeübt hat. Doch sie verweist selbstverständlich auf den hohen Kenntnisstand der westeuropäischen Literatur seitens der habsburgischen Gesellschaftsschicht assimilierter jüdischer Intellektueller und Literaten, wie sich etwa an der Offenbach-Begeisterung von Karl Kraus oder eben am Beispiel Viktor Léons ersehen lässt. Sie hatten bei der Umarbeitung ihrer Vorlagen überdies häufig einen Überblick über die bisherige Rezeption, die es ihnen ermöglichte, ihrer Version noch einmal eine ganz eigene Richtung zu geben. So wird in Weis’ Vertonung die Bedeutung der Glocken am Schlitten der Titelfigur von Erckmann-Chatrians Stück und den Opernadaptionen um ein Ausmaß erweitert, das sie in den französischen Paratexten nicht besitzt, sondern eben in The Bells mit Henry Irving, der seinen Mathias bis zwei Tage vor seinem Tod 1905 noch im Repertoire hatte und spielte, mehr als 800 Mal, und das nicht nur auf englischem Boden, sondern auch auf Tourneen durch Amerika. Für die Glocken des Schlittens wird bei Weis, im ersten Akt bei der Erzählung des Försters ›Schmitt‹ vom Verschwinden des jüdischen Kornhändlers im Winter 1818, die dem erwähnten Liebesduett des jungen Paares folgt, ein rhythmisch wie in seiner chromatischen Harmonik seltsam ›irrlichterndes‹ Motiv verwendet, das bereits in der Ouvertüre eingeführt und symphonisch gesteigert worden ist, um sinnigerweise gleichlautend wiederzuerklingen, von Mathis zunächst für sein »Ohrengellen« gehalten, als der zweite polnische Jude im elsässischen Dorfe einkehrt, mitten in der anlässlich der Verlobungsfeier tanzseligen Schenke des Mathis.15 Ebenso wird in der elften und letzten Szene des ersten Aktes die Grußformel des Kornhändlers, ein psalmodierendes »Der Friede Gottes sei mit Euch!« mit einer absteigenden Quint auf den letzten Ton, übernommen, wie sie Schmitt in seiner Erzählung zitiert hat: ein Moment umgehender sakraler Ruhe und Feierlichkeit zu schlichten, in E-Dur schließenden Akkorden in der Orchesterstimme. Sakrale Anklänge sind auch in den dazwischen liegenden Szenen textlich wie musikalisch verstreut – unmittelbar nach dem Auftritt von Mathis etwa, als er seine Tochter bittet, beim Kirchgang für ihn zu beten. Sie waren auch schon im Liebesduett von Annette und Christian zu vernehmen, als ihre erste Begegnung zwei Tage nach dem Osterfest besungen wurde. Vor allem aber nimmt sich die Mitgift für Annette von Mathis als ein regelrechter Sündenablass aus (im Original ein taktisches Manöver, um den um Mord-Aufklärung bemühten Christian beim Ruhenlassen der Ermittlungen auf seine Seite zu bringen), den der Vater als Buße für sein Vergehen entrichtet und der von der ganzen Dorfgemeinschaft beim Eintritt zum Fest mit Erstaunen wahrgenommen wird. Besonders deutlich tritt diese Tendenz aber im Ruf des Nachtwächters hervor, der unmittelbar vor dem Auftritt des zweiten Kornhändlers durchs Fenster 15

Klavierauszug Weis, a.a.O., S. 31 und S. 78ff.

Bedrohte Idylle

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klingt, nachdem der Sturm eine Scheibe zerbrochen hat: »Lauscht her, die neunte Stund’ ist hin! Jetzt betet und sucht den Schlaf, als Christenmensch fromm und brav, der Herrgott wacht die ganze Nacht. Lauscht her! Was Böses auch geschieht, der himmlisch’ Richter sieht!«16 Im zweiten Akt, der im Gegensatz zur französischen Vorlage, jedoch in Übereinstimmung mit dem Text von Leopold Lewis nur ein paar Stunden nach dem ersten spielt, erhält Mathis, anders als bei Erckmann-Chatrian und Erlanger, einen zweiten Monolog, der die Einsicht in die Unabänderlichkeit des Geschehenen bringt, allen Gebeten zum Trotz: eine an Claudius’ Monolog in Hamlet erinnernde Szene in ihrer innerlichen Ausweglosigkeit, die jäh durch das erneute Schellengeräusch unterbrochen wird, offensichtlich wiederum stärker an den zweiten Akt von The Bells angelehnt als die anderen Dramenversionen. Einem Dialog mit dem Knecht Niclas, der von einer Dorfalten die Geschichte eines erst nach 20 Jahren gefassten Mörders aufgeschnappt hat, folgt nun doch ein inbrünstiges Gebet des verängstigten Mörders unter dem Kruzifix, das dem Sänger der Rolle, wie bei Erlanger mit einem Bariton besetzt, eine strapaziöse, ständig in der Terz zwischen dem eingestrichenen C und E kreisende Bewegung abverlangt, die zweimal dynamisch bis ins Fortissimo gesteigert werden muss. Hier beschwört Mathis ganz explizit, was er »Gutes gethan« hat im Ausgleich für die verübte Untat.17 An der analogen Stelle bei Erckmann-Chatrian dagegen, wo der Knecht des Mathis mit Namen Nickel anhand einer Chronik die Hinrichtung von Dieben nach 23 Jahren schildert, beeindruckt dies den ›originalen‹, verschlagenen Mathis wenig, da er ja im Gegensatz zum spät ertappten Gesindel keine Spuren hinterlassen hat, wie er sich alleingelassen stolz bestätigt. Der Traum in der dritten Szene des zweiten Aktes bei Weis ist in konsequenter Weiterverfolgung der vorher entwickelten Dramaturgie ein vom Chor unmittelbar nach der Verwandlung besungener Tag der Vergeltung, kein kriminalistischer Aufklärungsakt mehr.18 Zur Überführung vor dem Gericht Gottes bedarf es keines neoromantischen Magnetiseurs. Das Schellenläuten, die Gegenüberstellung mit der Erscheinung des toten polnischen Juden und schließlich mit der tieftraurigen Familie, Mathis’ Frau Katherine, Christian und Annette zwingen den Träumer zum Geständnis, als er seiner Tochter gegenüber keinen Eid auf seines Kindes Glück ablegen kann. Ein letztes Mal erklingt das Schellenmotiv, als Mathis die Mordtat im Schnee rekapituliert, die er begangen habe, um den Sturz seiner Familie in die Armut zu verhindern. Über die mächtige orchestrale Steigerung, analog zur Ouvertüre, verkündet der Chor ewige Verdammnis, die nur noch von der Verkündigung des Gerichtsprä16 17 18

Ebd., S. 76. Ebd., S. 107f. Denselben Effekt hat Erlanger benutzt, um einen raffinierten Übergang von den volkstümlichen Hochzeitsgesängen zum Gesang von göttlicher Strafe zu schaffen, der dann aber dem bekannten weltlichen Gericht weicht.

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sidenten übertroffen wird, ausgerechnet Christian habe in Mathis als erster den Mörder erkannt. Und noch der letzten Szene drückt das Librettisten-Duo LéonBatka einen eigenen Stempel auf. Zur bekannten Schlusswendung, die das Auffinden des nachts verstorbenen Mathis beinhaltet, wird der Effekt hinzugefügt, dass der zweite polnische Jude, noch nicht wie bei Erckmann-Chatrian und Erlanger abgereist, ans Sterbebett tritt, um mit dem Scheidegruß, »Der Friede Gottes sei mit Euch und mit ihm!«,19 wieder im bekannten psalmodierenden Tonfall, einen letzten überdeutlichen Hinweis zu geben, wer hier Gericht gehalten hat. Man kann es der Oper von Karel Weis als einziger der vorgestellten Varianten des Sujets ankreiden, dass sie eine alte Theologie triumphieren lässt, die dem Mörder nicht die Verwurzelung im dörflichen Aberglauben als vielmehr in der christlich-katholischen Konfession zum Verhängnis werden lässt. Das Problemfeld des Antisemitismus, der gerade von der habsburgischen Amtskirche in Österreich-Ungarn geschürt wurde (was für das Sprechtheater Arthur Schnitzler mit seinem Professor Bernhardi so scharfsinnig wie -züngig vorgeführt hat), ist in der Oper von Karel Weis konsequent (wohl wiederum aufgrund zensurtechnischer Argumente) umgangen. Gleichwohl eröffnet die Adaption von Karel Weis am Ende eine Perspektive, die weder Le Juif Polonais von Erckmann-Chatrian und Erlanger noch The Bells von Lewis bieten: Der das Werk beschließende Auftritt des zweiten jüdischen Kornhändlers rückt das Opfer auf Distanz vom stereotypen Bild eines alttestamentarischen oder dämonischen Racheengels, dem das christliche Ideal der Vergebung über den Tod hinaus fremd wäre.

19

Ebd., S. 157.

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»Bleib zurück, geh nicht in’ Garten!« Grillparzers Jüdin von Toledo als Traktat über die ›Judenfrage‹

Grillparzers Die Jüdin von Toledo macht unterschiedliche, teils durchaus widersprüchliche Verständnisangebote. Sie überlagern und ergänzen sich, sie unterminieren sich oft gegenseitig oder heben einander auf. Dieser Befund kann gewiss auf die lange, von Intervallen unterbrochene Entstehungsgeschichte zurückgeführt werden: Schon 1815/16 findet sich im Tagebuch Grillparzers eine erste Notiz zu dem Stoff; nach seiner Lektüre von Lope de Vegas Las paces de los reyes y Judia de Toledo (1617) führt die Beschäftigung dann 1824 zur Ausarbeitung der ersten zwei Szenen; 1839 und um 1848 sind weitere Arbeitsphasen an dem Werk nachweisbar, aber erst in den 1850er Jahren scheint das Stück seine endgültige Gestalt erhalten zu haben, in der es dann nach Grillparzers Tod 1872 in Prag uraufgeführt und im selben Jahr in Heinrich Laubes und Josef Weilens erster Gesamtausgabe der Werke Grillparzers aus dem Nachlass veröffentlicht wurde. Um der Komplexität des Stückes gerecht zu werden, das immerhin als »zu den gewiß größten und facettenreichsten Bühnendichtungen der deutschen, ja der europäischen Literatur« gehörend bezeichnet wurde,1 muss man der Versuchung widerstehen, eine dominante, übergreifende Lesart herausarbeiten zu wollen. Dies gilt auch für die Untersuchung der jüdischen Gestalten und der jüdischen Thematik des Stückes; auch sind die Verständnismöglichkeiten vielfältig. Dass allerdings die jüdische Thematik überhaupt Aufmerksamkeit verdient, wird erst seit den 1980er Jahren von der Literaturwissenschaft anerkannt.2 Dabei ist doch gerade diese Blickrichtung von dem Titel des Dramas und von der »Gliederung der Akte und Szenen« vorgegeben, wie schon Joachim Kaiser bemerkte: Der I., II. und V. Aufzug beginnen mit Worten des Juden Isaac [sic]. Und wie der I. Aufzug mit einem Gespräch zwischen Isaac, Rahel und Esther eröffnet wurde, so endet der letzte mit einem Dialog zwischen Isaac und Esther. Die Juden bleiben, sie behalten das letzte Wort. […] Nicht die Liebe zwischen König Alphons und Rahel 1

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Dieter Borchmeyer: »Franz Grillparzer: Die Jüdin von Toledo«. In: Harro MüllerMichaels (Hg.): Deutsche Dramen. Interpretationen zu Werken von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Königstein im Taunus 1981, Bd. 1, S. 200–238, hier: S. 234. Vgl.: Ian Roe: Franz Grillparzer. A Century of Criticism. Columbia, SC: Camden House, 1995, S. 110.

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ist das einzige oder allein wichtige Thema des Dramas; die Tragödie hat es vor allem auch mit den Spannungen zwischen Christen und Juden, Großen und Kleinen, Hohen und Niedrigen, Staat und Liebe zu tun.3

Damit wird Sigurd Paul Scheichls These widersprochen, die Jüdin sei »nicht ein vorwiegend einem jüdischen Thema gewidmetes Drama«;4 mit Martha B. Helfer wird die jüdische Dimension dagegen als eine wichtige, wenn auch nicht exklusive Verständnismöglichkeit des Stückes angesehen.5 Wenn man im zeitgenössischen Begriffsverständnis die so genannte ›Judenfrage‹ als Diskussion um die Stellung der jüdischen Minderheit in der christlichen Mehrheitsgesellschaft und im bürgerlichen Staat definiert, dann kann Grillparzers Stück konkret als Verhandlung dieses Fragekomplexes gelesen werden, der ja besonders in der Entstehungszeit des Stückes eine enorme, oft auch tagespolitische Brisanz zukam. Dabei darf man allerdings nicht eine bestimmte Stellungnahme zur ›Judenfrage‹ erwarten, sondern muss das Dargestellte als Versuchsanordnung begreifen, das Theater als Medium für die Exposition eines aktuellen Anliegens, nicht für dessen Lösung. Ob die Jüdin als Staatstragödie gelesen wird, als Historiengemälde oder als Zeitstück, als moralisches Gleichnis.6 oder als psychologische Studie von erotischem Erwachen und adoleszenter Verirrung, hängt maßgeblich davon ab, ob man den König Alphons, dem Titel des Stückes zuwider, als Hauptfigur ansieht oder die Titelgestalt selbst. Das Verständnis des Dramas hängt weiterhin entscheidend davon ab, ob Alphons als unschuldiges Opfer der sexuellen Aggression einer Außenseiterin oder als zeitweiser Weggefährte der eine alternative Lebensweise verkörpernden Titelfigur, ob Rahel selbst also als Zauberin oder als Unschuld bewertet wird. Insgesamt zieht sich bei der Bewertung Rahels das Argumentationsmuster, der Gruppenzugehörigkeit der Jüdin die Relevanz abzusprechen, wie ein roter Faden durch die Sekundärliteratur: »Als impulsives, eigensinniges Kind – nicht als Jüdin – tritt Rahel auf«;7 und: »Erstmals sind der Jüdin positive Züge verliehen. Rassen- und Glaubensunterschiede als die Momente, welche den Konflikt auslösen, treten in den Hinter-

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Joachim Kaiser: Grillparzers dramatischer Stil. München 21969, S. 103f. Sigurd Paul Scheichl: »Franz Grillparzer zwischen Judenfeindschaft und Josephinismus«. In: Hans Otto Horch/Horst Denkler (Hg.): Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Erster Teil. Tübingen 1988, S. 131–148, hier: S. 145. Martha B. Helfer: Framing the Jew. Grillparzer’s Jüdin von Toledo. In: The German Quarterly 75 (2002), S. 160–180. Betonung des Gleichnischarakters des Geschehens, der die Pflichtvergessenheit des Herrschers als Sündenfall schlechthin versteht, etwa bei W.E. Yates: Grillparzer. A Critical Introduction. Cambridge 1972, S. 181. Eric A. Blackall: »Grillparzer: ›Die Jüdin von Toledo‹«. In: Jost Schillemeit (Hg.): Interpretationen 2: Deutsche Dramen von Gryphius bis Brecht. Frankfurt am Main 1965, S. 240–252, hier: S. 241.

»Bleib zurück, geh nicht in’ Garten!«

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grund«.8 Solche Lesart scheint bestätigt durch eine Aussage Garcerans, die immer wieder als Schlüsselzeile des Stückes identifiziert wird,9 welche in Rahel »Das Weib als solches, nichts als ihr Geschlecht« sieht (III, 859).10 Die Alternative zu dieser Sichtweise wäre es, Rahel ganz gezielt als Jüdin aufzufassen, als Vertreterin ihrer Gemeinschaft, welche wiederum über die anderen beiden jüdischen Figuren des Stückes auch als Kollektiv im Drama behandelt wird. Rahel, die Jüdin von Toledo, ist in Kontexte eingebunden, die durch die Identifikation ihrer Zughörigkeit zu einer ganz bestimmten Gemeinschaft in einer identifizierbaren historischen Konstellation bezeichnet sind. Eine Tagebuchnotiz Grillparzers aus dem Frühjahr 1824 kann als Synopse der Handlung und als Schlüssel zur Interpretation des Stückes gelesen werden: Die Geschichte Alonso des Guten von Kastilien und jener Rahel, die ihn nicht ohne den Verdacht der Zauberei, so lange umstrickt, und die zuletzt von den Großen des Reiches im Einverständniße mit der Königin, ermordet wurde.

Zur Auslösung der Ereignisse und zur psychologischen Motivation der Handlung gibt Grillparzer in derselben Tagebuchnotiz folgende Hinweise: alles ist gut, da erscheint jene Jüdin, und ein Etwas wird in ihm rege, von dessen Daseyn er bis jetzt noch keine Ahnung gehabt: die Wollust. In seinem Garten spazierengehend, an der Seite seiner Gattin, von Großen und Volk umgeben, Worte der Güte und Weisheit ausspendend, fällt, von Gartenknechten verfolgt, die das Volk der Ungläubigen abzuhalten Befehl haben, fällt die schöne Jüdin zu den Königs Füßen; ihre Arme umfassen seine Füße, ihr üppiger Busen wogt an seine Kniee gepreßt und – der Schlag ist geschehen. Das Bild dieser schwellenden Formen, dieser wogenden Kugeln […] verläßt ihn nicht mehr. Ungeheure Gärung in seinem Innern.11

Joachim Müller fasst diese Äußerung als »einen ausführlichen Plan« auf, »dessen Intentionen dann im wesentlichen in den 50er Jahren ausgestaltet worden sind«.12 Solche Selbstaussagen eines Autors müssen tatsächlich als Stoffsammlung, Gedächtnisstütze für weitere Beschäftigung und Leitfaden für spä8

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Kerstin Neye: »Versöhnung inmitten der Katastrophe. Die Jüdin von Toledo«. In: Bernhard Budde/Ulrich Schmidt (Hg.): Gerettete Ordnung. Grillparzers Dramen. Frankfurt a. M. 1987, S. 219–237, hier: S. 220. So zum Beispiel in dem Eintrag zur Jüdin von Toledo in Ernst Fischer (Hg.): Hauptwerke der österreichischen Literatur. Einzeldarstellungen und Interpretationen. München 1997, S. 103. Ebenso Yates, S. 182. Nachweise im Text, die den Aufzug in römischen und die Zeilen in arabischen Ziffern angeben, beziehen sich auf die folgende Ausgabe: Franz Grillparzer: Werke. Bd. 3: Dramen 1828–1851. Hg. von Helmut Bachmaier. Frankfurt a. M. 1987. Der Text dieser Ausgabe folgt dem der historisch-kritischen Ausgabe: Franz Grillparzer, Sämtliche Werke. Hg. von August Sauer und Reinhold Backmann. Wien ab 1916, Wien 1909–1048, Abteilung I, Bd. 7. Abgedruckt bei: Karl Pörnbacher (Hg.): Dichter über ihre Dichtungen – Franz Grillparzer. München 1970, S. 97. Ebenso im Anhang von Franz Grillparzer: Werke. Bd. 3, S. 847f. Joachim Müller: Franz Grillparzer, Stuttgart 21966, S. 64.

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tere Ausarbeitungen verstanden werden, nicht aber als verbindliche Interpretationsanweisungen, geschweige denn als Lizenz zur Interpretationsverengung auf den einen Aspekt der »Wollust«. Die Tagebuchnotiz reißt nämlich sehr wohl Aspekte an, die als Wegweiser dienen können für die Untersuchung der jüdischen Gestalten und der von ihnen eingebrachten Problematik: (I) Grillparzer gibt seiner Titelgestalt zwei Nebengestalten bei, den Vater und ihre Halbschwester Esther; über diese Figuren stellt er repräsentativ das gesamte »Volk der Ungläubigen« auf die Bühne. (II) Grillparzer führt weiterhin die »Verführungskünste« der Jüdin in vielschichtiger Weise vor: als Zauberspiel, als Verkleidungsspiel, als Transgression oder als Usurpation eines ihr nicht zukömmlichen Platzes. Diese Handlungselemente können als Allegorien des jüdischen Anspruchs auf Teilhabe und Gleichberechtigung, als Allegorien des Überwechselns von einer gesellschaftlichen Sphäre in eine andere interpretiert werden; für das Publikum des neunzehnten Jahrhunderts konnte dieser Schritt bereits als Fait accompli gelten: »der Schlag ist geschehen«. (III) Und schließlich lässt Grillparzer den König am Anfang des Stückes Grundzüge einer modernen Judenpolitik formulieren, welche der jüdischen Problematik den Anstrich einer Staatsangelegenheit verleihen, die sich in dem Verständnishorizont des neunzehnten Jahrhunderts entfaltet. Dies sind recht eigentlich die »Worte der Güte und Weisheit« der Tagebuchnotiz. Das Ergebnis der dramatischen Exploration der »Judenfrage« kann als Skepsis gegenüber der Validität des Ziels und der Methoden der jüdischen Integration in den christlichen Staat verstanden werden. Ist, in der Metaphorik des Bühnenbildes, der paradiesische Garten als Ort des Begehrens, als Ziel der Assimilationsbewegung zu entschlüsseln, dann definiert schon der erste Satz des Stückes dessen Tenor: »Bleib zurück, geh nicht in’ Garten!« (I, 1) Das Schicksal der schönen Jüdin und ihres christlichen Partners ist die Allegorie des Verhältnisses von jüdischer Gemeinschaft und christlicher Mehrheitsgesellschaft. Es endet tragisch, weil die Jüdin die Mahnung ihres Vaters nicht befolgt.

I. »Das Volk der Ungläubigen«: jüdische Konstellation und Repräsentativität Es ist müßig, die drei jüdischen Gestalten der Jüdin von Toledo definierbaren Stereotypen zuordnen zu wollen. Rahel als juive fatale und Esther als belle juive einzustufen, wie dies Charlene A. Lea tut,13 widerspricht der ständigen Apostrophierung der jüngeren Schwester als »schöne Jüdin« und der völligen Aussparung der äußeren Beschreibung der älteren Schwester. Eher schon mag man Esther als Angehörige des Typs der juive savante, der klugen und gebildeten Jüdin ansehen. Produktiver aber ist es, den auffallenden Hinweisen des 13

Charlene A. Lea: Emancipation, Assimilation and Stereotype. The Image of the Jew in German and Austrian Drama (1800–1850). Bonn 1978, S. 70.

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Textes zur Familiengeschichte nachzugehen, denn diese lassen die Schwestern als alternative Figurationen moderner jüdischer Orientierungsoptionen erscheinen: Absonderung und Öffnung. Die jüdische Frau ist die klassische Figuration, an der die Autoren des neunzehnten Jahrhunderts die Implikationen der jüdischen Befindlichkeit in der christlichen Mehrheitsgesellschaft durchspielen; ihre Schönheit ist das zweischneidige Entréebillet für die bürgerliche Gesellschaft.14 In genau diesem Sinne ist Rahel »schöne Jüdin«;15 Esther vertritt die alternative Position. Es ist auffällig, dass Grillparzer schon in dem das Drama eröffnenden Gespräch Esther und Rahel als Stiefschwestern einführt, die ihre Charaktereigenschaften von ihren jeweiligen Müttern ererbt hätten. Esthers Mutter wird nur mit einem Satz vorgestellt, doch diese knappe Information setzt sie in scharfen Kontrast zu Isaks zweiter Frau: Da lob’ ich mein erstes Weib, Zu Esther: Deine Mutter, brav wie du, Wenn auch arm. (I, 30ff)

Die Signifikanz der Eigenschaften ›brav‹ und ›arm‹ erschließt sich über den Vergleich mit Isaks zweiter Frau, Rahels Mutter. Für diese werden die Merkmale Reichtum und Geltungssucht herausgestellt und mit Hilfe von sexuellem Innuendo, das auf Rahels spätere Rolle voraus weist, moralisch entwertet: Die sah auch nach schmucken Christen, War nach Misraims Töpfen lüstern. Hielt’ ich sie nicht streng bewacht, Glaubt’ ich — nu, Gott wird verzeihen! — Deine Torheit stamme dorther, Sei ein Erbteil schnöder Christen. […] Was nützte mir Auch der Reichtum jener Zweiten? Hat sie nicht damit geschaltet, Schmaus und Gastgebot gehalten, Schmuck gekauft und Edelstein? Schau, sie ist wohl ihre Tochter! Hat sie sich nicht rings behangen, Prangt sie nicht in stolzen Kleidern, Als ein Babel anzusehn? (I, 24–29 und 32–40)

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Vgl.: Florian Krobb: Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen 1993. So auch Dagmar C.G. Lorenz: »Die schöne Jüdin in Stifters Abdias und Grillparzers Die Jüdin von Toledo«. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, 3. Folge, 19 (1996), S. 125–139.

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Diese Kurzcharakteristiken rücken mehrere Gesichtspunkte in den Blick: Die alttestamentliche Allusion auf die Ägyptischen Fleischtöpfe bringt eine historische Parallele des Liebäugelns mit den Attraktionen des Exil- oder Gastlandes ins Spiel. Die Zurschaustellung von Reichtum ist gleichzeitig Signal an die nichtjüdische Umwelt, das Aufmerksamkeit erheischt. Als Kennzeichen indiskreten, parvenuhaften Aufstiegswillens gehört demonstrative Wohlhabenheit zum stereotypen Beschreibungsarsenal von Jüdinnen – und zwar in meist gehässiger Absicht. Durch die biblischen Anspielungen (zu Misraim auch noch auf die Hybris des Turmbaus von Babel) erscheinen diese innerjüdischen Orientierungsoptionen gleichermaßen als historische Konstanten jüdischer Existenz wie als deren zeitgenössische Aktualisierungen. Denn die chronologische Abfolge von erster zu zweiter Frau, von erster zu zweiter Tochter spiegelt auch einen jüdischen Entwicklungsweg von Armut und Selbstgenügsamkeit zu wirtschaftlichem Erfolg und Sichtbarwerdung im christlichen Gesichtsfeld, zu Öffnung und Anspruch auf Partizipation. Das Adjektiv ›stolz‹ – als eigentlicher Kontrast zu ›brav‹ – übersetzt die Orientierungsdebatte in moralische Kategorien. Die Missbilligung wird ganz besonders in der Insinuation der sexuellen Untreue der jüngeren Mutter mit christlichen Liebhabern deutlich; die Konsequenz der biologischen Vermischung mit der Mehrheitsgesellschaft taucht am Horizont auf und wird durch das Wort ›lüstern‹ von der moralischen Verurteilung mit erfasst. Der Verdacht der Untreue, den Isak im Irrealis äußert, in dem allerdings ein Potentialis mitschwingt, wird in der Tochter Rahel zum Realis. Weiterhin kehrt das Verb ›prangen‹, das Rahels Verhalten und Ausstaffierung als aufmerksamkeitserheischendes Signal ausstellt, später in Alphons’ aufmerksamkeitsschenkender Emphase wieder: »Und wie das wogt und wallt und glüht und prangt« (II, 641). Sie markiert den Zeitpunkt, zu dem König Alphons sich den Avancen der Jüdin gegenüber als rezeptiv erweist, auf der übertragenen Ebene: wo sich die Aufnahme der Juden in die nichtjüdische Sphäre vollzieht. Die Parallelen und Anspielungen machen klar: Das sexuelle Geschehen ist die Metapher für den Prozess des jüdischen Eintritts in die Mehrheitsgesellschaft. Die Haltungen Esthers und Rahels werden als »verwandt« aufgefasst, aber eben als Stiefgeschwister, als Orientierungen auf entgegengesetzten Punkten einer Skala. Ganz abgesehen von ihrer Rolle als kluge und klarsichtige Kommentatorin – Borchmeyer spricht von Esthers »chorisch sich über die Handlung erhebende[r] Stimme«16 – wird die Position der älteren Schwester moralisch privilegiert, die der jüngeren von Anfang an als moralisch dubios markiert. Diese Bewertung hat eine politische Nutzanwendung, die später noch zur Sprache kommen wird. Festzuhalten bleibt zunächst, dass es die dritte jüdische Figur des Stückes ist, die dem Publikum diese Beurteilungen nahe legt. Sie wirken damit als innerjüdische, nicht als von außen der jüdischen Gemeinschaft verordnete Urteile. Auch die spätere Wandlung Isaks, der sich einer 16

Borchmeyer, S. 207.

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ähnlichen Immoralität schuldig macht, wie er sie anfangs an seiner jüngeren Tochter kritisiert, ändert nichts an der Tatsache, dass Isak als »Jude schlechthin«, als Inbild des Juden im Stück figuriert. Auch das Verständnis Isaks als Ausformung eines antisemitischen Klischees fasst zu kurz. Er ist selbstverständlich als Verlachgestalt konzipiert, der stereotype Züge aufweist und dessen Sprache der Anhauch des »Literaturjiddischen« gegeben ist, zu dem der so genannte »Jargon« in literarischen Charakterisierungen geronnen war.17 Nicht umsonst hat sich in der Rezeption des Stückes der Vorwurf des Antisemitismus auf diese Figur projiziert, hat sich in der Aufführungspraxis in der Konzeption dieser Gestalt die politische Tendenz der Produktion offenbart.18 In der Tradition Shylocks aus Shakespeares Kaufmann von Venedig weist Isaks Portrait aber auch tragische Züge auf, und diese Tragik speist sich aus einer Zwischenstellung, einer Unerlöstheit, Richtungslosigkeit, Diskrepanz zwischen Ambition und Prätention auf der einen und Rollenfach-Komik auf der anderen Seite. Grillparzer lässt ihn die ominöse Warnung »geh nicht in’ Garten« aussprechen; er lässt den Vater Isak seine erste Frau und deren ›brave‹ Selbstgenügsamkeit den Aspirationen seiner zweiten Frau vorziehen, also die Position der Nichtvermischung zwischen Juden und Christen vertreten. Gleichzeitig lässt Grillparzer ihn aber bei der ersten Gelegenheit dem König gegenüber einen Kupplerton anschlagen, also den Brückenschlag vorantreiben: »Ah ihr seid’s hoher Herr, der uns beschirmt,/mein Rahelchen sie spricht gar viel von euch,/Sie hat euch lieb« (II, 519ff.). Grillparzer zeigt ihn dann, wie er von dem Brückenschlag seiner Tochter profitiert, indem er den Zugang zum König nutzt, um Bestechungsgelder zu erpressen; er zeigt seine ungeschminkte Habgier (»gib nur gib!« III, 802) und seine ›jüdische‹ Okkupation mit Materiellem, wenn noch am Ende seine Sorge den erworbenen Schätzen gilt (»Doch such’ ich erst mein Geld.« V, 1943) anstatt der ermordeten Tochter. Im Vergleich mit seinen beiden Töchtern erscheint er als Bestätigung der Sentenz Alphons’, die geradezu als Definition jüdischer Geschlechterrollen in der christlichen Außensicht des neunzehnten Jahrhunderts gelten kann:19 Die Weiber dieses Stamms Sind leidlich, gut sogar. — Allein die Männer Mit schmutz’ger Hand und engem Wuchersinn. (IV, 1447ff.) 17

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Zum Begriff des Literaturjiddischen vgl.: Matthias Richter: Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1750–1933). Studien zu Form und Funktion. Göttingen 1995. Vgl.: Nicole Metzger: »›Die Jüdin von Toledo‹ – Aufführungen 1930, 1937, 1956«. In: Hilde Haiger-Pregler und Evelyn Deutsch-Schreiner (Hg.): Stichwort Grillparzer. Wien 1994, S. 171–180. Vgl.: Ruth Klüger: »Die Leiche untern Tisch. Jüdische Gestalten aus der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts«. In: Dies.: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen 1994, S. 83–105, hier: S. 100.

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Dass er sich »die Hände dreckig« gemacht, also durch Ausbeuten seiner privilegierten Position desavouiert hat, dass er wegen seines »Wuchersinns« am Ende selbst von seiner überlebenden Tochter bemitleidet wird, dies macht Isak zu einer tragischen Figur, unfähig zum Wandel und wegen seiner Eigenschaften in Isolation geratend. In seiner Gestaltung Isaks macht sich Grillparzer Vorstellungen und Argumente zu eigen, die man nur als gehässige Versatzstücke eines judenfeindlichen Diskurses bezeichnen kann, der zum Ziel hat, die jüdische Verbürgerlichungs- und Emanzipationsfähigkeit zu widerlegen, indem die kulturelle und moralische Inkompatibilität der Juden mit der christlichen Mehrheitsgesellschaft herausgestrichen wird. Diese Gestaltung beleuchtet Isaks Funktion im Handlungszusammenhang: Er ist es, der in den Augen der Zuschauer mit seinem ›jüdischen‹ Verhalten die durch seine Tochter eröffnete Chance verspielt, und er ist derjenige, dessen Außenseitertum, ja Andersartigkeit das ganze Drama hindurch präsent bleibt.

II. »Der Schlag ist geschehen«: Transgression, Symbiose, Mimikry Dies ist ja die Prämisse des Stückes: der Einbruch des Anderen, des Unvorhergesehenen, des Unvorhersehbaren, des nicht Rationalisierbaren. Daher ist der Jude Isak so penetrant als Klischee gezeichnet; deshalb ist Rahel so auffallend anders, nicht einordbar von den Christen. Wie für den Rollenfach-Juden konnte auch für die schöne Jüdin dieses ›anders‹ auf der Bühne sinnfällig gemacht werden. So vermerkte eine Rezension der Aufführung im Deutschen Theater Berlin 1888, wie interessant es sei, die Schauspielerin Agnes Sorma »einmal in Prachtgewändern und bräunlicher Färbung als schöne Jüdin zu bewundern …«.20 Diese »Andere« nun tritt »in’ Garten«, drängt von der Peripherie ins Zentrum, von der Unsichtbarkeit in eine unübersehbare Stellung, die von ihren Feinden als bedrohlich gefürchtet, von ihrem Vater als einflussreich begrüßt wird. Diese Bewegung wird deutlich als Grenzverletzung und als Tabubruch, als Usurpation eines ungemäßen Platzes aufgefasst. Die Metapher für diesen Akt, der sicherlich als symbolisches Analogon für die Bewegung der jüdischen Gemeinschaft als ganzer ins ›Herz‹ der Mehrheitsgesellschaft gelesen werden muss, ist die der Verzauberung. Rahels Handlungsweise und -absicht im II. Aufzug entspricht der klassischen Definition des Bildzaubers: Entweder bewirkt die bildliche Darstellung allein für sich schon den gewünschten Vorgang […], oder es wird eine Handlung mit dem Bild [beim Liebeszauber insbesondere der Wachs- oder Erdfigur] vorgenommen, die zum Gewünschten in Beziehung steht und es hervorbringen soll. [...] im letzteren Fall ist die mimische Darstellung die Hauptsache.21 20 21

Zit. bei Norbert Fuerst: Grillparzer auf der Bühne. Eine fragmentarische Geschichte. Wien 1958, S. 210. Artikel Bild, Bildzauber In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. von

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Rahel selbst stellt auf der einen Seite ihr Handeln als Spiel, als Simulation heraus: Die Hexen sagt man, die zur Liebe zwingen, Sie bohren Nadeln, so, in Wachsgebilde Und jeder Stich dringt bis zum Herzen ein, Und hemmt und fördert wahrgeschaffnes Leben. (II, 586–589)

Auf der anderen Seite scheint sie die Nadeln als tatsächliche Hexenwerkzeuge zu behandeln, wenn sie Garceran in einem Ton warnt, als habe sie die magischen Kräfte schon geweckt: Berühr die Nadeln nicht, noch dieses Bild, Sonst festig’ es mit einem tiefern Stich, Mit einer Nadel nach dem Bilde fahrend: Siehst du? gerad ins Herz. (II, 627ff.)

Das distanzierende ›sagt man‹ und das den Stechgestus abbildende ›so‹ Rahels, ebenso wie Esthers Entschuldigung ihrer Schwester: »Sie ist nur ein verwöhnt, verwildert Mädchen/Und weiß von unerlaubten Künsten nichts« (II, 634f.), stehen in direktem Widerspruch zu Alphons’ physischer und emotionaler Reaktion auf den vermeintlichen Zauber: Wär’s doch als fühlt’ ich in der eignen Brust, Den Stich nach jenem Bild. […] Es trieb bis zu den Augen mir das Blut, Und wie im wirren Licht sah ich die Dinge. (II, 632f. und 638f.)

Die Verwundung in effigie zeitigt reale physische Symptome beim Opfer. Die »Sinnesverwirrung« des Königs suggeriert, dass in der Tat ein »Zauber« seine Wirkung entfaltet hat; der markante Wechsel der Stillage in der Rede des Königs bezeugt, dass in dieser Episode sein Fall vom souveränen, »Worte der Güte und Weisheit« äußernden Staatsmann, zum lyrisch schwelgenden Liebesnarren sich vollzieht: »Und wie das wogt und wallt und glüht und prangt« (II, 641). Kommt dieser Persölichkeitswandel nicht einer Bestätigung von Rahels vermeintlicher Zauberkraft gleich? Muss nicht diese Szene, wenn sie von dem gestischen ›so‹ bis zu Alphons’ alliterierender erotischer Extase voll ausgespielt wird,22 das Publikum zu dieser Annahme verleiten? Und muss der Verdacht nicht auf die Jüdin, anstatt auf das ›verwilderte‹ Mädchen projiziert

22

Hanns Bächtold-Stäubli. Bd. 1., Berlin 1927, S. 1282–1298, hier: Sp. 1293, vgl. auch: Sp. 1294f. Borchmeyer, S. 201f. Er sieht in der »Symbolisierung der szenischen Grundvorgänge«, in der »Spiegelung von Gemütszuständen durch bildhafte Bühnenmomente« und in »sinnbildlichen Aktionen« die »Eigenart« von Grillparzers dramatischem Idiom.

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werden, bedenkt man den verbreiteten Volksglauben, der Juden magische Fähigkeiten zusprach?23 Rahels Schwärmerei für den König ist jedenfalls alles andere als unschuldig, simuliert sie doch nicht nur einen Liebeszauber, sondern imaginiert auch in effigie die sexuelle Vereinigung. Die Implikationen der folgenden Szene sind ja für das neunzehnte Jahrhundert ungeheuerlich; fast könnte man meinen, Grillparzer lege nahe, dass Rahel das Bild des Königs als Masturbierstimulus verwende; ein Vorgriff auf das später tatsächlich stattfindende sexuelle Verhältnis zwischen König und Jüdin ist die Szene allemal, nennt sie das Bild des Königs doch »Gemahl« (II, 546): Ich häng’ es in der Stube nächst zum Bette. Des Morgens und des Abends blick’ ich’s an Und denke mir was man nun eben denkt Wenn man der Kleider Last von sich geschüttelt Und frei sich fühlt von jedem läst’gen Druck. (II, 574–578)

Das Phantasieszenario dessen, »was man nun eben denkt/Wenn man der Kleider Last von sich geschüttelt«, erfüllt sich jedenfalls im Verlauf der Handlung. Wieder wie zur Bestätigung des Angedeuteten manifestiert sich die Sinneswandlung (oder -verwirrung) des Königs in einer einseitigen Betonung von Rahels physischen, erotischen Attributen: In der Alliteration »wogen und wallen« apostrophiert er ihre sekundären Sexualmerkmale; die letzten beiden Glieder der Aufzählung beschreiben das physische Erscheinungsbild des Erregungszustandes der jungen Frau mit »blüht und prangt«. Er ist einem Stimulus erlegen, dessen Abgrenzung zu einem wirklichen Liebeszauber absichtlich unscharf bleibt. Der Augenblick der Verbindung ist für den König somit als Moment der Unzurechnungsfähigkeit, der suspendierten Ratio gekennzeichnet. In der Chronologie des Handlungsverlaufs ging dabei die Initiative von Rahel aus, sie ergeht sich zuerst in sexuellen Begehrens- und Vereinigungsphantasien und sie evoziert die unlauteren Durchsetzungsmittel für ihr Verlangen. Und: mit der sexuellen Vereinigung mit dem König gelangt Rahels allegorische Assimilationsbewegung an ihr Ziel. Ungeachtet der tatsächlichen Zauberkraft der Jüdin erscheint Rahel in diesem Licht als treibende Kraft, ja als Aggressorin, die ihr Opfer willfährig macht. Rahels Mittel werden in den Verdacht der Unlauterkeit gerückt; ihr Assimilationsakt erscheint als gewollt, kalkuliert herbeigeführt, zielstrebig betrieben, überrumpelnd. Damit ist ein fundamentaler Zweifel angemeldet gegenüber dem gesamten Assimilationsunternehmen

23

Der Artikel Jude, Jüdin. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. von Hanns Bächtold-Stäubli. Bd. 4., Berlin 1931–32, Sp. 808–833, hier: Sp. 811f. erwähnt ausdrücklich jüdischen »Wachsbildzauber«. Vgl. zum Kontext, der Verfestigung des Hexereivorwurfs durch Luther und andere Aspekte: Stefan Rohrbacher/ Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek bei Hamburg 1991, z.B. S. 52 und S. 170ff.

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der Gemeinschaft, welche Rahel repräsentiert: Die Symbiose fußt auf manipulierten Voraussetzungen. Mit Federkrone und gesticktem Mantel24 lässt Grillparzer seine Protagonistin weiterhin einen Akt der Mimikry vollführen, der das Ziel des Assimilationsprozesses umschreibt: die Gleichwerdung mit dem und mit den Kopierten. Doch gerät die Inszenierung der Symbiose zur Farce, die Requisiten sind Attrappen »Vom letzten Fastnachtsspiel«, »nicht Gold, vergüldet Blech« (II, 538 und 540). Der Monolog Rahels, in dem sie sich als Königin imaginiert, gerät zur rauschhaften Raserei, zur pathologischen Perversion, die sogar vor kannibalischen Phantasien nicht halt macht (vgl. II, 590f.: »O gäbe jeder dieser Stiche Blut,/Ich wollt’ es trinken mit den durst’gen Lippen«). Die Usurpation des nicht angemessenen Platzes wird nicht nur auf Handlungsebene von Königin und Adel durch den Mord an der Grenzüberschreiterin gestoppt; das ganze Ansinnen wird vom Dramatiker gebannt, indem er die Transgression mit dem größten denkbaren Tabubruch des Kannibalismus in Beziehung bringt, die Mittel in Zaubereiverdacht rückt und das Ziel, die Adaption einer neuen, nichtjüdischen Identität, nur als ekstatische Wunschvorstellung, als Chimäre bloßstellt.

III. »Worte der Güte und Weisheit«: Judenpolitik und Staatsauffassung Die »Worte der Güte und Weisheit«, die Grillparzer schon in der Tagebuchnotiz von 1824 König Alphons zugedacht hatte, beziehen sich im fertigen Drama allesamt auf die jüdische Gemeinschaft und ihre Stellung im christlichbürgerlichen Staat; sie integrieren Elemente eines aufgeklärten Religionsgespräches in das Drama; sie sind als Annäherungsgesten der Christen gegenüber den Juden zu sehen und sie motivieren auf der politischen Verständnisebene die ›Empfänglichkeit‹ des Königs. Alphons’ Ausführungen konnten als ›gütig‹ und ›weise‹ designiert werden, weil sie dem Judentum Verständnis und Bewunderung entgegenbringen. Verständnis dafür, dass die Juden mit ihren (hier vorausgesetzten, in anderem Zusammenhang von Isak exemplifizierten) negativen Eigenschaften Produkte ihrer Umwelt sind: Ich selber lieb’ es nicht dies Volk, doch weiß ich Was sie verunziert es ist unser Werk; Wir lähmen sie und grollen wenn sie hinken. (II, 485ff.)

Bewunderung entfacht die Geschichtstiefe der Juden, ihr Primat in der Formulierung des Monotheismus, welcher religiöse Superioritätsgelüste der Christen relativiert: Zudem ist etwas Großes, Garceran, In diesem Stamm von unstet flücht’gen Hirten: Wir Andern sind von Heut, sie aber reichen 24

Vgl. Regieanweisung vor II, 558.

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Bis an der Schöpfung Wiege […]. So Christ als Muselmann führt seinen Stammbaum Hinauf zu diesem Volk als ältstem, erstem, So daß sie uns bezweifeln, wir nicht sie. (II, 488–491 und 502ff.)

Diese Aussagen verdanken sich der nachaufklärerischen Zeit, nicht der historischen Periode, die das Drama abzubilden vorgibt. Lion Feuchtwanger nutzt in seiner Version der Jüdin von Toledo (1955) den historischen Schauplatz sehr konkret als Spiegel seiner zeitgenössischen Anliegen.25 Die historische Realität blieb Grillparzer dagegen augenscheinlich uninteressant. Die heilsgeschichtliche Interpretation des Stoffes durch Lope de Vega, die Gerhard Neumann herausgearbeitet hat,26 vermochte Grillparzers Blick von der Quelle nicht auf tatsächliche historische Verhältnisse und deren Tauglichkeit als Spiegel für gegenwärtige Zustände zu lenken. Für die Titelgestalt heißt die heilsgeschichtliche Ideologie lediglich, dass die Möglichkeit der Konversion für jeglichen denkbaren Konflikt eine Lösung bereithält, wie Grillparzer an seiner Vorlage bemerkt hat: »selbst den Mackel des Judenthums nimmt er [Lope] für den Zuschauer dadurch hinweg, daß Rahel vor ihrem gewaltsamen Tode begehrt, eine Christin zu werden«, wie er um 1850–1851 schreibt: »Wieder ein Beweis von seiner Vorurtheilsfreiheit.«27 – wenn es denn ein Vorurteil war, Juden per se die Heilsfähigkeit in christlichem Sinne abzusprechen, was jedoch eine ungeschichtliche Annahme darstellt.28 Richtig ist beobachtet worden, dass die Jüdin »keinerlei Einstellung zur Geschichte […] zu enthalten« scheine;29 die jüdische Problematik (Konversion taucht ja für die jüdischen Figuren nicht einmal als Möglichkeit am Horizont auf) wird eben nicht in die historische Ferne projiziert, sondern dezidiert in den Kategorien des 19. Jahrhunderts verhandelt. Insofern ist es genau umgekehrt als Dagmar Lorenz insinuiert: »Grillparzer wählte als Handlungszeit für die Jüdin von Toledo das 12. Jahrhundert und als Ort Spanien, […] wich also allzu großer Aktualität aus.«30 Tatsächlich begünstigt die weitgehende Vermeidung historischen Kolorits und historisch plausibler Konfliktlösungsmöglichkeiten wie der Konversion in Bezug auf die jüdische Problematik ein zeitgenössisches Verständnis. Die »Worte der Güte und Weisheit« sind denn auch nicht nur allgemein aufgeklärten Ansichten des Judentums gewidmet, sondern ziehen die politische 25 26

27 28 29 30

Vgl.: Florian Krobb: Kollektivautobiographien/Wunschautobiographien. Marranenschicksal im deutsch-jüdischen historischen Roman. Würzburg 2002, bes.: S. 105ff. Gerhard Neumann: »Der Tag hat einen Riß. Geschichtlichkeit und erotischer Augenblick in Grillparzers ›Jüdin von Toledo‹«. In: Gerhard Neumann/Günter Schnitzler (Hg.): Franz Grillparzer. Historie und Gegenwärtigkeit. Freiburg im Breisgau 1994, S. 143–177. Franz Grillparzer: Werke. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1987, S. 861. Vgl. in: Krobb, Die schöne Jüdin, das Kapitel zu jüdischen Frauengestalten in barocken Abenteuerromanen, S. 21–48. Blackall, S. 240. Lorenz, S. 134.

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Nutzanwendung, indem sie die Stellung der Juden im Staat und die Verantwortung des Souveräns für diese Untertanengruppe thematisieren; diese Ausführungen offenbaren Alphons als wohlwollend-absolutistischen Herrscher Josephinischer Prägung. Auf Alphons’ Weisung, dass sich das Volk durch Beten auf den bevorstehenden Kampf mit den Mauren vorbereiten solle, entspinnt sich folgender Dialog: GARCERAN Schon ohne Aufruf ward dein Wort erfüllt Die Glocken tönen weithin an den Gränzen Und in den Tempeln sammelt sich das Volk, Nur daß ihr Eifer, irrend, wie so oft Sich gegen jene Andersgläub’gen wendet Die Handel und Gewinn im Land zerstreut. Schon ward ein Jude hier und da mißhandelt. KÖNIG Und ihr, ihr duldet’s? nun beim großen Gott Wer sich mir anvertraut, den will ich schützen. Ihr Glaube kümmert sie, mich was sie tun. GARCERAN Man nennt sie Späher in der Mauren Sold. KÖNIG Niemand verrät zuletzt was er nicht weiß. Und da ich ihren Mammon stets verachtet Hab nie auch noch begehrt ich ihren Rat. Was sein wird weiß nur ich, nicht Christ noch Jude. (I, 281–295)

Grillparzer lässt seinen König hier Positionen formulieren, die für die jüdische Bevölkerung im modernen Staat des neunzehnten Jahrhunderts von zentraler Bedeutung sind: die Trennung von Religion und Politik (»Was sein wird weiß nur ich, nicht Christ noch Jude«; »Ihr Glaube kümmert sie, mich was sie tun«) und die enge Bindung der Minderheit an den Souverän (»Wer sich mir anvertraut, den will ich schützen«). Grillparzer lässt Alphons im Ton hier zwar als mittelalterlichen Herrscher sprechen; seine Aussage lässt ihn allerdings als Sprecher für einen modernen, aufgeklärten Staatsbegriff erscheinen: Erst die konzeptionelle Trennung von Religion und Staat, die Relegation der Religionsausübung in die familiäre oder individuelle Privatsphäre ermöglichte es ja im achtzehnten Jahrhundert, eine rechtliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung mit den christlichen Bürgern überhaupt in Erwägung zu ziehen. Die Bindung der Juden an die gesellschaftliche Kraft, die einzig ihnen ihre Sicherheit zu garantieren in der Lage war – die Staatsgewalt und den diese verkörpernden König – ist eine Orientierung, die in der Tat die Lage des spanischen Mittelalters mit derjenigen der Neuzeit im deutschsprachigen Mitteleuropa verbindet. Wenn Grillparzer Alphons sagen lässt: »Wer sich mir anvertraut, den will ich schützen« (I, 194), und später noch einmal: »Ich weiß zu schützen, wem ich Schutz gelobt« (II, 618), dann kann dies als Niederschlag der speziellen außerständischen Bindung der Juden an den Herrscher im Mittelalter verstanden werden, welche man im Heiligen Römischen Reich als »Kammerknechtschaft« bezeichnete, und welche für Kastilien und andere

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iberische Fürstentümer als »Royal Alliance« beschrieben worden ist.31 Man kann diese Aussagen aber auch als Glaubensbekenntnis eines jeden aufgeklärten, sich der Rechtsstaatlichkeit, dem Schutz seiner Untertanen und der Schaffung eines egalitären Verfassungsstaates verpflichtet fühlenden modernen Souveräns auffassen, als Josephinisches Prinzip also. Als Gegenleistung in diesem Verhältnis ist die unbedingte Staatstreue und das Wohlverhalten der jüdischen Bürger mitzudenken. Da über dieses Wohlverhalten durch die Isak-Gestalt Zweifel gesät sind, erscheint Alphons’ politische Judenfreundschaft als Einbahnstraße und als Irrweg. Die Allianz zwischen König und jüdischen Direktuntertanen historisch gesehen, und die Bindung zwischen dem Rechtsstaat und den jüdischen Musterbürgern, d.h. die offizielle Stellung der Minderheit im Staat, ist der prekären Situation der Juden in der Gesellschaft kontrastiert. Garcerans Bericht spielt darauf an (»schon ward ein Jude hier und das misshandelt«), und später klingt sie noch einmal in einer Klage Esthers an (»Wenn man nicht früher/Uns etwa schon vertrieb.« II, 616f.). Diese Anspielungen, eventuell Reflex tatsächlicher antijüdischer Massenhysterien während mehrerer der Entstehungsphasen des Stückes, sind nicht nur von einem klaren Verständnis des massenpsychologischen Ursachen der Judenfeindschaft getragen: Die durch Bedrohung von außen entzündete Verunsicherung entlädt sich in Aggression gegenüber Sündenböcken im Inneren, gegenüber einer wehrlosen Minderheit, die mit den Ursachen des Krisengefühls gar nichts zu tun hat. Sie verdeutlichen auch die exponierte Position der Minderheit, welche eine obrigkeitliche Schutzpolitik der von Alphons definierten und von den aufgeklärten Herrschern des achtzehnten Jahrhunderts praktizierten Art notwendig machte und die deshalb von der jüdischen Emanzipationsbewegung immer wieder eingefordert wurde. Dieser gesamte Komplex offenbart Grillparzers Vertrautheit mit der jüdischen Problematik seiner Zeit: Auf theoretischer Ebene bringt er Gründe bei für eine größere Gleichbehandlung und Gewährung größerer Rechtssicherheit für jüdische Bürger. Vor diesem Hintergrund könnte man die eigentliche Verbindung zwischen Alphons und der jüdischen Gemeinschaft (die eben nicht nur von Rahel sondern auch von ihrem Vater repräsentiert wird) als Experiment ansprechen, in dem die Validität der Theorie auf dem Prüfstand steht – und die Probe nicht besteht. Im Verlauf des Experiments tritt eine Konsequenz der engeren Verbindung zwischen dem Herrscher und den Beispielgestalten der jüdischen Gemeinschaft klar zu Tage: Das Aufrücken der Juden in privilegierte Kreise kreiert eine Entfremdung zwischen dem Führer und denjenigen seiner Untertanen, die 31

»Kammerknechtschaft«: Wanda Kampmann: Deutsche und Juden. Die Geschichte der Juden in Deutschland vom Mittelalter bis zum Beginn des Ersten Weltkieges. Frankfurt a. M. 1979 [erstmals 1963], S. 20ff. »Royal Alliance«: Esther Benbassa/ Aron Rodrigue: Sephardi Jewry. A History of the Judeo-Spanish Community, 14th-20th Centuries. Berkeley 2000 [erstmals franz. 1993], S. xxvi ff.

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sich als Elite seiner Gefolgschaft, als Träger des Gemeinwesens verstehen und sich in dieser Rolle von den Juden bedroht fühlen. Schon Alphons’ Parteinahme gegen die judenfeindlichen Ausschreitungen deutet auf diese Kluft zwischen dem »Volk« (I, 283) und dem Herrscher hin und ist damit Vorausgriff auf die Entfremdung zwischen Alphons und den Repräsentanten des Gemeinwesens, dem er doch vorzustehen hat. Es ist also, auf der staatstheoretischen Ebene und im geschilderten Einzelfall die ›Judenfrage‹, die das Ideal eines organischen Staatswesens unterminiert, in welchem der Herrscher das Ganze repräsentiert, wie Grillparzer Alphons anfangs, noch vor der Begegnung mit den Juden, aber direkt nach deren Einführung sagen lässt: Laßt näher nur das Volk! Es stört mich nicht. Denn wer mich einen König nennt, bezeichnet Als Höchsten unter Vielen mich, und Menschen Sind so ein Teil von meinem eigen Selbst. (I, 94–97)

Die Ironie in dieser Aufforderung ist natürlich, dass er sich nicht »das eigne Volk« (vgl.: I, 140) in den Park einlädt, sondern »diese[s] Volk« (I, 322), Fremde, Unbefugte, Eindringlinge, die mit unlauteren Mitteln einen Platz erringen wollen und trotz oberflächlicher Anpassung ihr eigentlich ›anderes‹ Wesen nicht abzulegen in der Lage sind. Die Entfremdung des Königs von den ›Menschen‹, dem ›eignen Volk‹ (dieser Begriff begegnet immer wieder in dem folgenden Monolog des Königs), wird nun nicht nur an der ›Verirrung‹ mit der Jüdin exemplifiziert; sie wird über eine monokausale Erklärung hinaus verallgemeinert. Die Trennung wird nämlich am sinnfälligsten am Anfang des III. Aufzuges inszeniert, wo der Vater der Geliebten des Königs gezeigt wird, wie er Kontrolle über den Zugang zum Herrscher ausübt, indem er Bittsteller abfertigt und deren Zwangslage als Mittel zur eigenen Bereicherung ausnützt. Der Jude – und mit dem Stereotyp die gesamte Gemeinschaft, die er repräsentiert – hat sich physisch und metaphorisch, politisch und sozial zwischen den ›Höchsten‹ und diejenigen, die dieser als ›Teil seines Selbst‹ stilisiert, geschoben. In seinen Selbstaussagen rechtfertigt Isak darüber hinaus materialistische Haltungen, wie sie Rahel bei der ersten Begegnung mit Alphons an den Tag gelegt hatte, als sie versuchte, sich aus der vermeintlichen Klemme, auf verbotenem Gelände angetroffen zu werden, freizukaufen: »Und alles, was ich habe […] ich geb’ es hin./Nur laßt mein Leben mir, ich will nicht sterben!« (I, 315-319) Am Anfang des III. Aufzugs sagt Isak entsprechend: Die Zeit wird kommen, Freund, wo jeder Mensch Ein Wechselbrief, gestellt auf kurze Sicht. (III, 842f.)

Durch Parallelen dieser Art wird suggeriert, dass Vater und Tochter zwei nicht eben verschiedene Ausprägungen desselben Vorteils-Prinzips darstellen, dass der ›Fall‹ der Jüdin nicht singulär ist, dass Vater und Tochter Repräsentanten desselben Kollektivs sind, auf das ihre Handlungen und Einstellungen zurückweisen. Isak wird als derjenige vorgeführt, durch dessen Verhalten die zwi-

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schenmenschlichen Beziehungen, die ja das Rückgrat des Gemeinwesens bilden, auf den Tauschwert reduziert werden, und der König, anderer Pflichten entbunden, mit in diesen Strudel gezogen wird. Dieser Umgang markiert den Missbrauch der ursprünglichen herrscherischen Toleranz. Im Gespräch mit dem Königsvertrauten Garceran brüstet sich Isak: »Er [der König] spricht mit mir vom Staat und Geldeswert« (III, 834). Grillparzer lässt den Juden hier die Negation der ursprünglichen königlichen Haltung gegenüber den Juden vornehmen (»Und da ich ihren Mammon stets verachtet/Hab’ nie auch noch begehrt ich ihren Rat.« I, 293f.) – seine Unabhängigkeit, seine Verbindung mit seinen Untertanen und damit auch seine Handlungsfähigkeit sind dahin, geopfert den Juden – und nicht nur der Jüdin. Grillparzer macht Garceran in der Erwiderung zum Sprecher judenfeindlicher Ressentiments, lässt ihn den Verdacht der Geldverschlechterung äußern, der sich historisch auf die Vorreiter des jüdischen Wegs aus dem Ghetto in die Mehrheitsgesellschaft projizierte, auf die Hofjuden, Finanzminister oder Münzpächter wie Veitel Heine Ephraim oder Joseph Süß Oppenheimer, sozialgeschichtlich sind sie die Vorreiter der jüdischen Emanzipation und Bindeglieder zwischen der Royal Alliance des Mittelalters und der bürgerlichen Gesellschaft der Neuzeit. Garceran provoziert mit seinem Angriff ein dezidiert jüdisches Glaubensbekenntnis, welches die Vorurteile des Gesprächspartners und der zeitgenössischen Rezipienten, welche gegen derartige Projektionen nicht immun sein konnten, bestätigt: So rührt von Euch vielleicht die neue Ordnung Nach der ein Dreier nur zwei Groschen gilt? ISAK Geld, Freund, ist aller Dinge Hintergrund. Es droht der Feind , da kauft ihr Waffen euch, Der Söldner dient für Sold, und Sold ist Geld. (III, 835–839)

Damit wird Isaks Gestalt über einen reinen Stereotyp hinausgehoben; über den Vater der Jüdinnen trägt Grillparzer Substantielleres zur Debatte bei. Denn der Autor lässt seinen alten Juden eine Alternative zu dem organischen, auf der Gegenseitigkeit von Führer und Gefolgschaft basierenden Gesellschaftsverständnis formulieren, das sich gerade in Zeiten der äußeren Bedrohung bewähren muss. Diese Alternative kann man, im Gegensatz zu der traditionellen der Gefolgschaft als moderne, kapitalistische Gesellschaftsauffassung definieren. Der Klimax der Isakschen Suada – zur Erinnerung: »Die Zeit wird kommen, Freund, wo jeder Mensch/Ein Wechselbrief, gestellt auf kurze Sicht« (III, 842f.) – formuliert die Zukunftsperspektive der totalen Perversion und Desintegration einer jeden stabilen, dauerhaften Gesellschaftsordnung und eines gedeihlichen Miteinanders der Menschen. Isak formuliert und demonstriert – in den eben gesehenen Szenen der blanken Habgier und der unterbrochenen Verbindung zwischen Führer und Gefolgschaft – das Inbild dieser Schreckvision. Im Verlauf des Stückes werden in einer Art Versuchsaufbau mehrere gesellschaftliche Konstellationen, das heißt Koalitionen innerhalb des Gesellschafts-

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ganzen, durchgespielt. Im Zentrum steht natürlich die zwischen König und Juden, die auf Kosten der Verbindung zwischen dem Herrscher und dem Volk, das er doch zu verkörpern vorgibt, erreicht wird. Angedeutet in den staatstheoretischen Ausführungen, die oben zitiert wurden, kulminiert diese Entzweiung in der Herablassung, mit der Alphons seine Untertanen anlässlich von Meinungsverschiedenheiten zur ›Judenfrage‹ abkanzelt: »Das Volk ist aufgeregt; es liebt, als schwach,/Die Schwäche gern zu prüfen an dem Schwächern./ […] Mich widern an die Deutungen des Schwarms.« (II, 647f. und 652) Macht der ›Einbruch‹ der Juden diese Einheit des Volkskörpers erst problematisch, so entfaltet sich der Handlungsverlauf als Prozess der Rückgewinnung dieser Ganzheit auf Kosten und unter Ausschluss der ursprünglichen ›Eindringlinge‹. Zunächst sucht der König die Verbindung mit dem ›Volk‹ gegen den Adel: Ich selbst entbiete, Wenn’s Morgen erst, durch Schreiben rings mein Volk Der Arbeit Kinder und der harten Mühn. (V, 1638ff.)

Am Schluss erlaubt die Versöhnung mit Königin und Standesherren die Restauration des Idealzustandes eines organischen Gesellschaftsganzen aus König, Adel und ›Volk‹, das sich diesmal auch sinnbildlich auf der Bühne manifestiert, nämlich in dem ›geordneten‹ ›Zug‹, der dem letzten Gefolgschaftsaufruf des Königs folgt, in dem dieser aber tatsächlich dem Ruf des ›Volkes‹ entspricht, dem Willen des kürzlich erst geschmähten ›Schwarms‹: Hört ihr? sie rufen uns. Die ich beschieden Als Beistand gegen euch, sie sind bereit Zur Hilfe gegen unser Aller Feind. (V, 1912ff.)

Die überlebenden Juden bleiben allein auf der Bühne zurück. Der Gesellschaftsverband bestätigt sich durch Demarkation; und wenn auch die Juden hier nicht zu »unser Aller Feind« zählen mögen, so fallen sie doch unter die Vorkehrungen des Herrschers, sein Land »Nach innen und nach außen wohl bewahr[en]« zu wollen (V, 1919); ja im Lichte der bisherigen Handlung muss der Zuschauer folgern, dass der Bewahrungsimpetus im Inneren in der Tat nur gegen die Juden gerichtet sein kann. Die Klugheit und Klarsichtigkeit der älteren Schwester Esther manifestiert sich vor allem anderen in dem Verständnis dieser Dynamik, ein Verständnis, das resignierend seinen Platz am Rande akzeptiert, dass schonungslos das Scheitern des sozialen Experiments der Emanzipation und Symbiose konstatiert: Uns sei der Jammer. Du trenne dich nicht, Herr, von deinem Volk. (V, 1711f.)

Am Ende sind die Sphären also wieder strikt getrennt, da die Protagonistin der Verbindung der Demarkation geopfert worden ist. Ist dies die Grundaussage des Stückes zur ›Judenfrage‹?

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Allerdings: »das merkwürdige Gemisch« aus Bestätigungen »stereotypschlechter[r] Eigenschaften« und »beschwichtigenden[n] Rücknahmen« der Anschuldigungen aus »josefinisch-aufgeklärte[r] Geisteshaltung« zu konstatieren,32 oder darauf aufbauend die Überlappung von Philo- und Antisemitismus im Stück zu bestaunen,33 erklärt rein gar nichts. Angemessener wäre es, Grillparzers kenntnisreiche Ausstellung eines ganzen Systems von Koordinaten aus der Diskussion um die so genannte ›Judenfrage‹ anzuerkennen: von Positionen aufgeklärt-josephinischer Judenpolitik und Respekt vor dem Judentum als monotheistischer Urreligion, über judenfeindliche Massenpsychosen und kollektive Schuldzuweisungen, überzeichnete Karikaturen und Tragik in Shakespearischer Tradition bis hin zu den Positionen der innerjüdischen Orientierungsdiskussion, zugespitzt auf die Alternative zwischen dem Überwechseln aus der Selbstisolation in die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft, d.h. der Assimilation bis hin zur Vermischung, und der Selbstbewahrung und Selbstbeschränkung. Wie der Kenntnis- und Aspektreichtum der Problemexposition anerkannt werden muss, so darf die Befangenheit in irrationalen Denkweisen nicht geleugnet werden, die das Stück auszeichnet. Der Vorwurf jüdischer Hybris und Anmaßung bleibt das gesamte Stück über bestehen; der Gleichwerdungsanspruch der Juden wird als eben diese Anmaßung empfunden und als Bedrohung behandelt, wobei die Abwehr auf der Handlungsebene der psychologischen Abwehr des Autors korrespondiert. Die sexuelle Allegorie verrät die Angst, dass der Einlass der Juden in die bürgerliche Gesellschaft, dass die Symbiose zur Kontamination pervertieren könne, dass die Vermischung die Definition des Eigenen erschweren könne. Die Gestalt Isaks deutet weiterhin an, dass im Bilde der ›Judenfrage‹ die Problematik gesellschaftlicher (besonders wirtschaftlich-kapitalistischer) Modernisierung insgesamt aufgerufen ist. Grillparzer konterkariert diese diffusen Ängste mit einem ebenso diffusen Gegenentwurf eines organischen Staatswesens, das auf Gefolgschaft fußt und den Riss, der sich durch den Einfluss der ›anderen‹ aufgetan hat, in einem konservativen Sinne verkleistert.

32 33

Klüger, S. 101f. So Helfer: Framing the Jew.

Ulrich Drüner

Judenfiguren bei Richard Wagner

I Die Frage, ob es in Richard Wagners Musikdramen Judenfiguren gibt oder nicht, kann nur im rezeptionsgeschichtlichen Kontext beantwortet werden, gehört sie doch zu den heftigsten Streitpunkten der neueren Musik- (und Kultur-)geschichte – genauer: derjenigen, die seit 1945 betrieben wird.1 Denn zuvor herrschte relative Einmütigkeit: Wagner sei ein nationales Vorbild, der in seinem Werk eine genaue Vorstellung von dem entwickelt habe, was ›deutsch‹ und ›undeutsch‹ sei. In der Siegfried-Figur sah man bereits im Uraufführungsjahr des gleichnamigen Musikdramas, 1876, einen »Leitstern [des] deutschen Geistes«,2 die bereits vorher publizierte Dichtung des Rings des Nibelungen spiegele gar den »germanischen Geist« mit der »künstlerischen Wiedergeburt der urheimischen Volks- und Dichterwelt«.3 Die dialektische Grundstruktur der Werke Wagners fiel ebenfalls früh auf. Nietzsche bezeichnete Wagner zwar als den »Erben Hegels«,4 hielt sich jedoch eher zurück bei der Bezeichnung der Antagonisten der auch von ihm monierten Vertreter allzu deutschen Geistes. Da Wagner sein Bühnen-Personal selten öffentlich kommentierte, brauchten Interpreten einiges Bayreuther Insider-Wissen, um genauer zu bezeichnen, was es mit manchen offensichtlich ungermanischen Feindbild-Figuren auf sich habe. Einer von ihnen war der Philologe Arthur Seidl, ein Intimus der Familie Wagner in den letzten Lebensjahren des Meisters. Bereits 1883 schrieb Seidl über Kundry, die Widersacherin des Parsifal, 1

2 3 4

Die Kombattanten des Für und Wider kommen nicht nur aus der Musikszene (C. Dahlhaus, H. Danuser, M. Eger, J.M. Fischer, R. Gutman, B. Millington, D. Schickling, D.D. Scholz, G. Wagner u.a.), sondern fast mehrheitlich aus den Fächern Germanistik, Mediävistik, Politikwissenschaft, Philosophie und Literatur (T.W. Adorno, U. Bermbach, E. Bloch, D. Borchmeyer, M. Gregor-Dellin, J. Katz, J. Köhler, R. Kreis, R. Krohn, B. Magee, T. Mann, L. Marcuse, P.L. Rose, G. Scheit, P. Wapnewski, M.A. Weiner, H. Zelinsky u.a.), weshalb die musikalischen Elemente in der Diskussion nicht immer richtig gewertet worden sind. S. Großmann-Vendrey: Bayreuth in der deutschen Presse. Regensburg 1977–1983 (= 100 Jahre Bayreuther Festspiele, Bde 10/I–III), Bd. I, S. 99. F. Müller: Der Ring des Nibelungen. Leipzig 1862, S. 1. Diese Schrift bezeugt einen der frühesten Ansatzpunkte nationalistischer Rezeption von Wagners Werk. »Er wurde der Erbe Hegels...Die Musik als ›Idee‹.« (F. Nietzsche: Der Fall Wagner)

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Ulrich Drüner

sie sei »die Vertreterin des jüdischen Prinzips«, dem gegenüber Parsifal den »arisch-germanischen Typus des christlichen Erlösers« darstelle.5 Dabei handle es sich keineswegs um Bayreuther ›Geheimwissen‹; vielmehr seien diese Zusammenhänge so »allbekannt«, dass sie kaum »besonders in Erinnerung gebracht werden sollen«.6 Allerdings präzisiert Seidl, es handle sich um einen »Antijudaismus mehr kultureller und ideeller Art«; er verweist gleichzeitig aber auch darauf, dass »die Schrift Religion und Kunst und der Parsifal zusammen« gehören.7 Jener zu den späten Regenerationsschriften des Jahres 1881 gehörige Essay ist von biologischem Antisemitismus allerdings nicht frei. Bleiben wir beim Beispiel Parsifal, um die ideologische Rezeption in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stichprobenartig an zwei Beispielen zu überprüfen. Adolf Hitler machte im Falle Wagner keinen Unterschied zwischen ›Theorie‹ und ›Kunst‹. Hermann Rauschning gibt Hitlers Meinung wie folgt wider: Keiner […] wisse, wer Wagner wirklich sei. Er [Hitler] meine nicht bloß die Musik, sondern die ganze umstürzende Kulturlehre bis dahin in das scheinbar kleine, belanglose Detail […] Er – also Wagner – sei nicht bloß Musiker und Dichter. Er sei die größte Prophetengestalt, die das deutsche Volkswesen habe. Er, Hitler, sei durch Zufall oder Schickung früh auf Wagner gestoßen. Er hätte mit einer geradezu hysterischen Erregung gefunden, dass alles, was er von diesem großen Geist las, seiner innersten, unbewussten Anschauung entsprochen habe […] Das Problem ist: wie kann man den Rassenverfall aufhalten? […] Sie müssen übrigens den Parsifal ganz anders verstehen, als er gemeinhin interpretiert wird […] Nicht die christliche Scho5 6

7

A. Seidl: Richard Wagners ›Parsifal‹. Zwei Abhandlungen. Regensburg o.J.; (lt. Vorwort 1883 verfasst). Ebd., S. 45. Der Bekanntheitsgrad dieser Interpretationen dürfte sich im Wesentlichen auf mündliche Weitergabe beschränkt haben, da vergleichbare schriftliche Dokumente selten sind. Gelegentlich begegnen eher Anspielungen, wie z.B. der Vergleich der Alberich-Figur mit der des Shylock in Shakespeares Der Kaufmann von Venedig (s. Bühne und Welt, XII. Jahrgang 1910, S. 957, wo allerdings in der Bilddokumentation offensichtlichere antisemitische Klischees bei den Figuren des Alberich und des Mime geboten werden). Deutlich dazu äußerte sich 1888 der (ungenannte) Rezensent der ersten Stuttgarter Rheingold-Aufführung. Er kritisiert, Mime sei »mit allzu semitischem Tone« gegeben worden (s. U. Drüner: Schöpfer und Zerstörer. Richard Wagner als Künstler. Köln 2003, S. 211). Ebenso verstand Gustav Mahler die Mime-Figur, wenn er am 23. September 1898 an Natalie Bauer-Lechner schreibt: »Diese Gestalt [Mime] ist die leibhaftige, von Wagner gewollte Persiflage eines Juden (in allen Zügen, mit denen er sie ausstattet: der kleinlichen Gescheitheit, Habsucht und dem ganzen musikalisch wie textlich vortrefflichen Jargon)« (Zitiert nach U. Drüner, ibid.). Dies sind punktuelle Angaben; eine systematische Analyse antisemitischer Klischees in der Wagner-Rezeption liegt noch nicht vor. – Zum mehr oder weniger verdeckten, ›geheimen‹ Charakter antisemitischer Inhalte in Wagners Bühnenwerken: siehe unten. Ebd., S. 96. In jener Schrift wird in der Tat die »Entjudung« der Christus-Figur gefordert und implizit eine Verbindung zur Gestalt des Parsifal hergestellt, wobei Wagner ähnliche Formulierungen wie Seidl verwendet.

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penhauersche Mitleidsreligion wird verherrlicht, sondern das reine, adelige Blut, das in seiner Reinheit zu hüten und zu verherrlichen, sich die Brüderschaft der Wissenden zusammengefunden hat […] Ich kehre auf jeder Stufe meines Lebens zu ihm [also Wagner ] zurück. Nur ein neuer Adel kann uns die neue Kultur heraufführen. Streichen wir alles Dichterische ab, so zeigt sich, daß es nur in der fortgesetzten Anspannung eines dauernden Kampfes eine Auslese und Erneuerung geben kann. Ein weltgeschichtlicher Entscheidungsprozeß vollzieht sich. Wer im Kampf den Sinn des Lebens sieht, steigt allmählich die Stufen eines neuen Adels hinauf. Meine Pädagogik ist hart […] Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich.8

Eine Deckungsgleichheit zwischen den ›Theorien‹ in Wagners Schriften und den in den Musikdramen verankerten ›Ideologien‹, gibt es in Hitlers Sinn selbstverständlich nicht (wir werden später die Gründe dazu skizzieren); dennoch besteht eine prinzipielle Ähnlichkeit zwischen den Ansichten von 1883 und 1941, und es ist schwer, eine Entwicklungslinie zwischen ihnen völlig abzustreiten. Genau dies passierte jedoch nach 1945. Die vordergründigen politischen Gründe dazu liegen auf der Hand – weniger offenkundig jedoch sind die wirtschaftlichen Hintergedanken, um das Familienunternehmen Bayreuth und damit deutsches Kunst- und Tourismusprestige ab 1951 reaktivieren zu können.9 Dazu musste Wagner zunächst als Kulturobjekt gereinigt – gerettet – werden. Die Methode war bald gefunden: Ab 1950 berief man sich zunehmend auf die ›Immanenz‹ des Kunstwerks, der zufolge es sich ausschließlich aus sich selbst zu erklären habe. Da das Wort ›Jude‹ in keinem einzigen Musikdrama vorkomme, gebe es folglich dort auch keine, und deshalb sei Wagners Kunst »frei« von jeglichem Antisemitismus.10 Carl Dahlhaus, welcher der Idee der absoluten Musik durchaus kritisch gegenüber stand, wandte sie indes extensiv auf Wagner an und betrachtete beispielsweise Tristan und Isolde als ein Werk, das teilweise »ohne Handlung und eigentlich sogar ohne Worte« sei,11 sodass es sich »als die Symphonie zeigte, die es eigentlich ist«.12 Im Falle des Rings 8

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11 12

H. Rauschning: Gespräche mit Hitler. Zürich 2005, S. 216ff. Die Authentizität dieser Aufzeichnungen ist zwar angezweifelt worden; allerdings sei hier betont, dass der ›Geist‹ dieser Dokumentation stets als sinngemäß betrachtet wurde und mit den (als authentisch geltenden) Aufzeichnungen in August Kubizeks Autobiographie Adolf Hitler, mein Jugendfreund (Graz 1953) synchron geht. Deshalb ist Rauschning hier als Zeitzeuge des Dritten Reichs weiterhin heranzuziehen. Siehe dazu u.a.: G. Wagner: Wer nicht mit dem Wolf heult. Autobiographische Aufzeichnungen eines Wagner-Urenkels. Köln 1997. D.D. Scholz: Richard Wagners Antisemitismus: Jahrhundertgenie im Zwielicht – Eine Korrektur. Berlin 2000, S. 6, womit zahlreiche frühere Statements bekannter Autoren repetiert werden. Siehe dazu: U. Drüner: Schöpfer und Zerstörer..., S. 1 und S. 327, Anm. 1. C. Dahlhaus: Richard Wagners Musikdramen. Zürich 2/1985, S. 54. C. Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, Kassel 2/1987, S. 38. Die Idee der

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des Nibelungen sind derartige Ausweichungen nicht möglich. Um im dritten Teil, Siegfried, das problematische Verhältnis wischen der Titelfigur Siegfried und dem bösen, ihm nach dem Leben trachtenden Schmied Mime ›ungefährlich‹ zu machen, greift Dahlhaus zu einer deformierenden Verharmlosung, wenn er dieses Werk als »Märchen« betrachtet, in dem sich Mime eines »parodistischen Liedtons« befleißige.13 Diese Art des Herunterspielens von Wagners aggressivem Umgang mit seinen ungermanischen Opfern war nach 1945 freilich äußerst bequem, auch opportun, enthob es doch alle Beteiligten der Frage, ob Wagner bis 1945 nur, wie man nun behauptete, vom Nationalsozialismus ›missbraucht‹ worden war, also ein Opfer darstelle, oder ob er doch mehr war: ein kultureller Vorbereiter, gar ein Stichwortgeber? Wie oberflächlich die Abwiegelungen der Nachkriegszeit waren, zeigt sich besonders deutlich wieder an Parsifal. Zwar ›benennt‹ Wagner seine Figuren in keinem einzigen Libretto offen als ›Juden‹, aber er lässt Kundry doch allzu leicht als solche ›erraten‹: sie sei »Herodias« gewesen; sie harre »seit Ewigkeiten« des Heilands, »den einst [sie] kühn geschmäht«. Obwohl das Verbergen der Absichten ein Hauptmerkmal des kulturellen Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert war,14 gab sich Wagner, der gelegentlich seine Werke diesbezüglich nicht klar genug fand,15 in seinem Bühnenweihfestspiel weniger Mühe beim ideologischen Versteckspiel und bezeichnete Kundry nicht nur als Herodias, sondern – für jeden Kenner romantischer Literatur klar erkenntlich – als eine ›Ahasvera‹, als eine weibliche Form des ›Ewigen Juden‹, den Heinrich Heine bereits in der Person des fliegenden Holländer diagnostiziert hatte.16 Auch im Ring des Nibelungen gibt es jüdische Markierungen von Wagners Hand, aber sie sind schwerer zu fassen. Zwar behauptete Nietzsches Schwager, Bernhard Förster, schon 1881: »Man kann sich etwas ›Antisemitischeres‹ als […] die Meistersinger und den Ring des Nibelungen gar nicht denken«,17 aber die tatsächlichen Hinweise sind nicht gerade offensichtlich. Wenn Alberich in Rheingold nach dem Raub des Rings durch Wotan diesem zuruft: »Ohne Wucher hüt’ ihn sein Herr« (V, 254), so heißt das allerdings, dass der böse Zwerg mit dem Ring zuvor Wucher getrieben, also eine mutmaßlich jüdische Tätig-

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Symphonie streift Wagner in seinen letzten Lebensmonaten, ist jedoch zur prinzipiellen Erklärung der Musikdramen ungeeignet. Dieses nicht zum Thema gehörige Beispiel wird hier als Muster für die Unart angeführt, Unverstandenes als nicht erklärbar beiseite zu legen, statt nach anderen Erklärungsmodellen zu fahnden. C. Dahlhaus: Wagners Musikdramen, S. 124. Siehe dazu: U. Drüner: Schöpfer und Zerstörer..., S. 11. Und Gerhard Scheit: Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus. Freiburg i. Br. 1999, passim, insbesondere: S. 344. U. Drüner: Schöpfer und Zerstörer..., S. 11, S. 13 und S. 84. Siehe dazu: U. Drüner: a.a.O., S. 61ff. Zitiert nach J.M. Fischer: Richard Wagners ›Das Judentum in der Musik‹. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus. Frankfurt a. M. 2000, S. 122.

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keit ausgeübt habe. Was aber ist der Ring, dieses Hauptsymbol, das dem größten Opernzyklus der Musikgeschichte den Namen gab? Wenn Robert Donington diesen Ring ganz aus dem sozialpolitischen Kontext herausnimmt und ihn lediglich als Zeichen des »Selbst« definiert,18 gibt es freilich Schwierigkeiten, damit, wie Alberich, »Wucher« in klingendem Gold zu treiben. An Donington zeigt sich die Gefahr einer jeglichen eindimensionalen (hier: ausschließlich psychoanalytischen) Exegese, und es stellt sich die Frage, wie genau solche Interpreten Wagners Text genommen haben.19 Wesentlich textgenauer und pragmatischer als Donington ging ein Forscher der frühen 1930er Jahre ans Werk. Rudolf Grissons Dissertation Herrscherdämmerung erschien zwar erst 1934, ist jedoch noch ganz frei von national-sozialistischer Anbiederung und erforscht durchaus gediegen die Grundlagen zu Wagners Ring.20 Hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Komponente schließt Grisson an Bernard Shaws The perfect Wagnerite an und bezeichnet Mime – auch im Hinblick auf Wagners Schrift Die Kunst und die Revolution (1849) – »als Sklaven der Industrie« und Alberich als »Fabrikant und Arbeitgeber«. Weiter will Grisson Shaw indes nicht folgen; den Tarnhelm wie Shaw als die »Zylinderhüte« der »Aktionäre und Kapitalisten« zu deuten, sei zwar geistreich, führe aber nicht weiter.21 Grisson verfolgt Wagners Lektüren der 1840er Jahre, weist auch auf Shelleys Entfesselten Prometheus hin, dem Wagner die Erda-Gestalt verdankt. Das auch bei Shelley wirksame Leitmotiv des Rings, der Kampf zwischen ›Macht‹ und ›Liebe‹, gehe indes weiter zurück und komme auch bei Hafis vor, Wagners Lieblingsdichter um 1851. Oft zitiert wird freilich Pierre-Joseph Proudhon, dessen sozialökonomische Lehren Wagner gesprächsweise schon 1841 in Paris kennen gelernt hatte, und Karl Marx, über den Wagner spätestens 1849 über Michael Bakunin gehört haben muss. Konkrete Anhaltspunkte für Personal und Symbolik des Rings fand Wagner, so Grisson, in einem anderen Werk, der 1823–1825 erschienenen sechsbändigen Geschichte der Hohenstaufen Friedrich von Raumers, die Wagner ebenfalls in den frühen 1840er Jahren in die Hände gekommen war und auf die er in seiner Autobiographie Mein Leben anlässlich des Opernprojekts Die Sarazenin 18 19

20 21

R. Donington: Wagner’s ›Ring‹ and its Symbols. The Music and the Myth. London, 2 1969, S. 78ff. Dies soll keineswegs ausschließen, Freud und C.G. Jung bei der Deutung psychischer Zusammenhänge zur Hilfe zu nehmen. Das Problem bei Doningtons dennoch verdienstvoller Studie ist, dass er sich auf psychoanalytische Sachverhalte beschränkt und Ideengeschichtliches vollkommen unberücksichtigt lässt. Ähnliches gilt für andere eindimensionale Analysen, zu denen letztlich auch die G. B. Shaws (als rein sozialutopischer) zählt. (Es gibt manch andere einseitige Ansätze, sogar eine rein anthroposophische von: L. Fremgen: Richard Wagner heute. Heusenstamm 1977.) R. Grisson: Herrscherdämmerung und Deutschlands Erwachen in Wagners ›Ring des Nibelungen‹. Leipzig 1934. R. Grisson: Herrscherdämmerung, S. 112f.

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(1841/43) Bezug nimmt. Die Wagner-Biographik begnügte sich mit des Komponisten eigenen Angaben aus Mein Leben, die im Hinblick auf den Widmungsempfänger König Ludwig II. von Bayern von sozialistisch-revolutionären Implikationen weitgehend gereinigt sind und sich auf eine mittelalterliche Romanze reduzieren. Grisson scheint der einzige Wagner-Forscher zu sein, der Raumers Hohenstaufen gelesen hat, und so berichtet er Erstaunliches: Raumer und mit ihm gleichzeitig Karl Marx sind Vertreter einer ökonomischen Geschichtsbetrachtung, die die Geschichte als Ablauf von Klassenkämpfen deuten. Durch veränderte ökonomische Bedingungen […] kommt eine neue Klasse zur Macht. Die Schicksale solcher Klassen verfolgt nun auch Wagner im ›Ring des Nibelungen‹, und auch die ökonomischen Tatsachen, die die Machtverhältnisse verschieben, treten klar hervor, wie gleich hier bei Alberich. […] Der Raub des Rheingoldes bedeutet nicht einen einmaligen Akt der Gewalt, sondern das Übergehen des Reichtums in andere Hände. […] Verwerflich ist aber nicht die Tatsache dieses Wechsels, sondern die Mittel und Wege, die ihn herbeiführen. Die Liebesentsagung ist Alberichs Hauptvergehen. Es spiegeln sich in ihr deutlich mittelalterliche Verhältnisse. In dieser Zeit war der Jude allerorten äußerst verhaßt. […] So lesen wir bei Raumer (Bd. V, S. 395), daß die Kirche damals jedes Zinsnehmen verbot […] Dem Juden aber erlaubt seine Religion dieses, und so erwächst ihm eine Art Vorrecht, das ihm Reichtum, – aber auch Haß einträgt. Dieses Abseitsstehen gegenüber der Moral der katholischen Kirche kommt nach damaligen Begriffen einer Absage, einer Liebesentsagung gleich, die Alberichs Seelenheil gefährdet. […] Diese Liebesentsagung ermöglicht Alberich das Zwingen des Goldes zu einem Reif, der die Nibelungen zwingt, ihm zu dienen […] Dem Ring wohnt eine ganz besondere Art von Zwang inne. Er versinnbildlicht nicht allein die Kaufkraft des Goldes […]: Der Ring ist das Symbol des Zinses, dieser den Deutschen vordem unbekannten Einrichtung, die die Schätze vermehrt […]22

Auf Raumer basierend bringt der in der Wagner-Literatur bisher völlig vernachlässigte Forscher Rudolf Grisson auf den Punkt, was vor und nach ihm niemand so einleuchtend gelang:23 den Zusammenhang herzustellen zwischen dem Ring als sozialpolitischer Fabel und als philosophischer Parabel von »der Welt Anfang und Untergang«. Dabei ist das Bindeglied die Idee der »Liebesentsagung«, das Zentrum, um das sich weitere Symbole gruppieren: Laut Grisson habe Wagner Wotan (in Entsprechung zu Raumers Geschichtsbild) als die Macht des mittelalterlichen Königtums betrachtet; sein ›Speer‹ sei dessen Rechtsmittel, das letztlich durch das ›Schwert‹ Siegfrieds, das Machtmittel des Volkes der Zukunft, zerschlagen werden. Dieses Volk verkörpere sich in Brünnhilde, die sich mit Siegfried, dem »Revolutionär von unten«, vermählt, nachdem Wotans »Reform von oben« in der Siegmund-Handlung gescheitert war. Alberich sei der Kapitalist; der Ring als sein Instrument sei ein Bild des 22 23

Ebd., S. 132ff. Im Zusammenhang mit dem Ring gibt es weder bei Borchmeyer, Wapnewski und anderen Mediävisten, noch in meiner eigenen Wagnerstudie (Schöpfer und Zerstörer...) Hinweise auf Raumer und Grisson; letzterer war mir 2003 noch nicht bekannt, und Raumer lediglich aus der Erwähnung in Wagners Mein Leben.

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›Zinses‹. Mime sei das von Alberich kontrollierte »Joch der Industrie«, dessen sich Siegfried durch einen Schwertstreich entledigt. Loge, Alberichs Vetter, vertrete den armen Hofadel, der »zu Wagners Zeit oft mit der jüdischen Hochfinanz versippt« gewesen sei. Die Riesen Fasolt und Fafner seien Bürger und Bauer, die lediglich von ihrer Hände Arbeit lebten. Hagen, Alberichs in gekaufter Liebe gezeugter Sohn, sei, wie sein Vater und wie sein Onkel Mime, ein ›Feind des Volkes‹. Auch wenn Wotan Alberichs Ring raubt, so sieht Grisson darin den Reflex des Mittelalters und zitiert aus Raumers, Bd. V, S. 308. Dort wird insbesondere der französische König Philipp August erwähnt, der sich 1180 der jüdischen Kredite entledigte, indem er die Juden des Landes verwies. Grisson zitiert Stellen aus Wagners Pamphlet Das Judentum in der Musik, um zu zeigen, wie genau der Komponist das Werk Raumers gekannt hat. Insgesamt dienen Grisson Raumers Ausführungen dem Nachweis, dass bereits 1825 jegliche sozialistische Überlegung und jede Kapitalismuskritik mit judenfeindlicher Argumentation verquickt sei, was sich bis 1849 steigere und sich zunächst 1843 bei Karl Marx zeige,24 sich dann am vehementesten aber in Wagners Judenpamphlet (1850) niederschlage. Alberichs ›Liebesentsagung‹, dieses von Grisson auf Grund von Raumer hervor gearbeitete Zentralsymbol, hatte zwar auch Houston Stewart Chamberlain als »die eigentliche Grundlage des ganzen Dramas im Ring des Nibelungen« bezeichnet. Doch legte letzterer um sie, ganz im Sinne der ›Edel-Antisemiten‹ des Wilhelminismus, nichts als philosophischen Nebel.25 Das ist teilweise auf der Linie des Komponisten, denn Grissons auf Raumer basierende sozialgeschichtlich-antisemitische Interpretation wird von Wagner selbst nicht immer, aber häufig verschleiert und abwiegelt, und die meisten seiner offiziellen Interpreten taten desgleichen.26 Wagner hatte zu dieser Haltung schon seit 1850 gute Gründe: Im Zürcher Exil wurde er die ganzen 1850er Jahre über von der Dresdener Polizei beschattet, und gesellschaftsrelevante Äußerungen aller Art mussten als kontraproduktiv für Wagners Amnestierungs- und Rückkehr-Bemühungen nach Deutschland bewertet werden. Nach 1864 musste 24 25 26

K. Marx: Zur Judenfrage. In: Ders.: Werke – Schriften – Briefe, Bd. I. Darmstadt 1962, S. 451–487. H.S. Chamberlain: Das Drama Richard Wagner’s. Eine Anregung. Leipzig, 51914, S. 98ff. J.M. Fischer (a.a.O., S. 118) zitiert dazu eine treffende Stelle aus Cosima Wagners Tagebüchern: »Abends besucht uns Freund Wolzogen. Richard sagt ihm, das wir in unseren [Bayreuther] Blättern keine Spezialitäten […] vertreten können, sondern immer nur das Ideal festhalten und zeigen und die da draußen die Spezialitäten verfechten [sollten]; so könnten wir auch an der Juden-Agitation keinen Anteil nehmen.« (24.2.1881) Wagner-Apologeten haben diese Stelle als Wagners späte Distanzierung vom Antisemitismus missverstanden; Jens Malte Fischer interpretiert sie m. E. viel zutreffender: »Die polternden Antisemiten draußen im Lande sollten die Drecksarbeit machen, während Bayreuth für das Allgemeine, Ideale, Grundsätzliche zuständig bleiben sollte« (ebd.) – also einen ›transzendierten‹ Kultur-Antisemitismus zu vertreten hatte, wie das A. Seidl beschrieb (s.o.).

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er ähnliche Rücksichten auf seinen neuen Sponsor, König Ludwig II., nehmen. Öffentliche antisemitische Äußerungen waren vor 1878 ohnehin äußerst unpopulär; diese waren zwar Gang und Gäbe, wurden jedoch vorzugsweise metaphorisch verkleidet: Nur als vorurteilsbildende Emotionen konnte Wagner derartiges dem Publikum in den Kopf setzen, denn »mein ihnen wahrhaft aufgedecktes Ziel würde sie alle kopfscheu machen«, wie er am 30. Mai 1875 an König Ludwig II. schreibt. Seiner Frau Cosima verrät er etwas später: »Der einzige Wert meiner Sprache ist die rücksichtslose Wahrheit« – oder das, was Wagner für wahr hält – »und diese kann ich nicht sagen«.27 Wie Recht Grisson mit seiner judenfeindlichen und gleichzeitig sozialphilosophischen Ring-Interpretation hat, zeigt Wagner selbst in einem Brief an Franz Liszt vom 11. Februar 1853, wenn man das in der Wagner-Literatur überstrapazierte Zitat von »der Welt Anfang und Untergang« in seinen fast immer unterdrückten Zusammenhang stellt: Beachte wohl meine neue Dichtung – sie enthält der Welt Anfang und Untergang! – Ich muß es nächstens noch für die Frankfurter und Leipziger Juden komponieren – es ist ganz für sie gemacht.28

Dass nach 1950 der Zusammenhang zwischen antisemitischem und sozialrevolutionärem Geist um die Mitte des 19. Jahrhunderts und insbesondere bei Wagner übersehen bzw. geleugnet wurde, dass gar ein künstlicher Widerspruch zwischen beidem konstruiert wurde, ist einer der fatalsten Irrtümer in der Wagner-Forschung überhaupt. Noch 1881 – inzwischen existierte die offizielle Antisemiten-Partei, und Wagner brauchte kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen – gab Wagner selbst ein Zeugnis dafür, dass für ihn Sozialkritik und Judenfeindschaft Eins sind. So vergleicht er in der Schrift Erkenne dich selbst den »verhängnisvollen Ring des Nibelungen« mit einem »BörsenPortefeuille«, dem »schauerlichen Bild des gespenstischen Weltbeherrschers«, dem Kapital, an dem »den Juden die Schuld beizumessen« sei.29 Gleichzeitig bereut Wagner nun seine bis dahin restriktive Haltung gegenüber der Aufdeckung der ideologischen Inhalte seiner Musikdramen:

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28 29

C. Wagner: Die Tagebücher. München-Zürich 2/1982, Eintrag zum 19.11.1879. Derartige Rücksichten hielten sich – allerdings mit stark abnehmender Tendenz – bis in das Dritte Reich, denn außerhalb von Karikatur und Satire gehört das Verborgene und Dezente wesentlich zu antisemitischer Kunst. Noch die parteiamtliche Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Frenzel warnt 1942 davor, Judengestalten in »tragischen Erschütterungen« darzustellen, um zu vermeiden, dass jene »das Mitleid des Publikums« erregen! (Siehe: G. Scheit: Verborgener Staat, S. 344.) R. Wagner: Sämtliche Briefe. Hrsg. von G. Strobel/W. Wolf etc. Leipzig-Mainz 1979, Bd. V, S. 189f. R. Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen. 2. Auflage. Leipzig 1887, Bd. X, S. 268.

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Er bedauert es, daß seine Dichtungen nicht in einem etwas weiteren Sinne besprochen worden sind, z.B. der Ring nach der Bedeutung des Goldes und des Unterganges einer Rasse daran.30

II Als Theodor W. Adorno 1952 seinen bereits 1937–38 in der Emigration verfassten Versuch über Wagner publizierte, erntete er Verwunderung ob einer Haltung, in der er neben gedämpftem Lob vor allem harschen Tadel an Wagner formuliert. Da die zwar nicht zahlreichen wissenschaftlich verwertbaren, doch kontinuierlichen Hinweise auf Judenfiguren, die von Wagner selbst bis ins Dritte Reich andauerten, nach der Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele 1951 in der damaligen Vertuschungsgesellschaft unerwünscht waren, bereitete auch Adornos Statement keine Freude: Der Gold raffende, unsichtbar anonyme, ausbeutende Alberich, der achselzuckende, geschwätzige, von Selbstlob und Tücke überfließende Mime, der impotente intellektuelle Kritiker Hanslick-Beckmesser, all die Zurückgewiesenen in Wagners Werk sind Judenkarikaturen.31

Man reagierte auf Adorno mit höflich betretenem Schweigen; die Prügel der Wagner-Gemeinden bekamen eher jene ab, welche Adorno zitierten und fortführten, indem sie auch Hagen, Kundry und Klingsor den Judengestalten zurechneten. Es entwickelte sich ein Pingpong-Spiel mit stetem Crescendo im Frühsommer beim Herannahen der Bayreuther Festspielzeit, wobei sich Angreifer und Apologeten Wagners meist recht sportlich mit nicht kommunizierenden Argumenten gegenüberstanden: Hie diejenigen, die aus Wagners Schriften deduzierten, wie schlimm die Kunst des Bayreuthers sei, hie jene, die Partituren vorwiesen, in denen sich für einäugige Analysten keine judenfeindliche Kennzeichen finden ließen. So verhielt es sich im Grunde vier Jahrzehnte lang. Die Front des auf beiden Seiten mit unzureichenden Argumenten geführten Disputs wurde erst in den 1990er Jahren aufgebrochen, als jüngere amerikanische und österreichische Historiker und Philologen die Frage stellten, ob wir nach 150 Jahren überhaupt noch wissen, wie kulturelle Spuren der Judenfeindschaft beschaffen sein können. Paul Lawrence Rose prägte den Begriff der Archaeology of Revolutionary Antisemitism und beschrieb erstmals systematisch die vielen oft verdeckten Konzepte der Judenfeindschaft in der Kulturlandschaft des 19. Jahrhunderts. Dabei wies er insbesondere darauf hin, dass zur Geschichte des Antisemitismus nicht nur politische Theoretiker wie Bauer, Marr, Marx und Frantz, sondern auch viele Philosophen und schöngeistige Schriftsteller gehören, bei denen man dergleichen nicht unbedingt erwartet.32 30 31 32

C. Wagner: Die Tagebücher, 21.3.1881. T.W. Adorno: Versuch über Wagner. Frankfurt a. M. 21981, S. 19. P.L. Rose: German Question Jewish Question. Revolutionary Antisemitism from

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Die Fragestellung wurde von Marc A. Weiner fortgeführt mit einer Untersuchung der ›Zeichen‹, mittels derer sich die von Rose konstatierten ›Ideen‹ künstlerisch im 19. Jahrhundert niederschlugen. Weiner erstellte ein Repertorium judenfeindlicher Kultur-Codes, mit dessen Hilfe er sodann Wagners Partituren absuchte, wofür er in Amerika Forschungspreise, in Deutschland aber viel Schimpf erntete.33 Weiner klassifizierte die Codes nach optischen Gesichtspunkten (Sprache des Blicks, Ausdruck der Augen), nach der Charakteristik der Stimme, des Körpergeruchs, des Ganges und der Vererbung. So konstituierte er eine vielstimmige Symphonie von Ikonen der Körperlichkeit, die einem bei Wagner auf Schritt und Tritt – d.h., in Wort und Klang – begegnen.34 – Eine weitere, kulturpsychologische Arbeit verfasste der Wiener Forscher Gerhard Scheit, in der er die europäische Kulturgeschichte durchstreift und darstellt, wie eng Kultur und Barbarei beieinander liegen, wobei letztere oft unabhängig von jeglicher Rassenfrage erst die Projektion – das Hassobjekt ›Jude‹ – erschuf, das oft nur sekundär mit der betreffenden Religionsgemeinschaft in Verbindung gebracht wurde. Scheit insistiert auf dem »Bedarf des Menschen, zu hassen«, und zeigt die Wege der Konkretion dieses Bedürfnisses auf.35 Wenn man Scheits Überlegungen konsequent auf Wagner bezieht, so stellt sich in der Tat die Frage, welche ›Funktion‹ der Antisemitismus für diesen Komponisten und für seinen kreativen Haushalt gespielt hat. Dafür gibt es inzwischen zumindest vorläufige Antworten36 – vorläufige, weil einige tausend Briefe immer noch nicht bzw. nicht mehr zugänglich sind. Sicher ist, dass Wagner den Antisemitismus brauchte, dass dieser mal als Antriebsfaktor, mal als Mittel zum Abreagieren herhalten musste – und dass er gelegentlich auch zum Betrieb der Inspirationsmaschine gute Dienste leistete. Das muss Auswirkungen auf die Werkinterpretation haben, denn wenn es einen Künstler gibt, bei dem Leben und Werk untrennbar sind, so ist dies Wagner. Bei ihm sind all die hehren Sprüche unserer Nachkriegs-Wagnerkommentatoren von der Autonomie der Kunst Wunschdenken, das zur Realität der Kunstproduktion keinen Bezug hat. »Ich bin und leiste nur dann etwas«, schreibt Wagner am 16. August 1853 an Liszt, »wenn ich im Affekt alle meine Fähigkeiten zusammen fasse, und rücksichtslos sie und mich darin verzehre«. August Röckel erfährt am 26. Januar 1854: »Ich sehe nur, daß der meiner Natur – wie sie sich

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Kant to Wagner. Princeton, 2/1992. – Ders.: Richard Wagner und der Antisemitismus. Zürich 1999. M.A. Weiner: Richard Wagner and the Anti-Semitic Imagination. Lincoln/London 1995; deutsch als: Antisemitische Fantasien. Die Musikdramen Richard Wagners. Berlin 2000. Man findet sie auch bei anderen Komponisten; siehe dazu: J.M. Fischer, op. cit. und U. Drüner, op. cit. G. Scheit: Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus. Freiburg i. Br. 1999. Siehe U. Drüner: Schöpfer und Zerstörer..., Kapitel 6, 11, 12, 23.

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nun einmal entwickelt hat – normale Zustand die Exaltation ist, während die gemeine Ruhe ihr anormaler Zustand ist.« Wie soll solch ein Künstler säuberlich trennen: hie Judenhass am Feiertag, hie hehre, ›saubere‹ Kunst am Arbeitstag? Wagner konnte und wollte das gar nicht, und so bezeugt er am 18. April 1851 in einem Brief an Franz Liszt, der »Groll gegen die Judenwirtschaft« sei ihm »so notwendig wie Galle dem Blute«. Und noch 18 Jahre später gibt er gegenüber seinem Schwager Oswald Marbach zu, als er dabei war, Musik für Siegfried und Mime zu erfinden: Mein Musizieren ist nun stets nur durch einen andauernden ekstatischen Zustand möglich, während welchem ich eigentlich unter die absoluten Sonderlinge zu rechnen bin. Eine ganz exzentrische Ausschweifung tut mir als Unterbrechung dann wohl, z. B. solch ein plötzlicher polemischer Exkurs, wie ihn J.J. Weber nach Neujahr zugeschickt bekam, und wie er unter dem Titel ›Das Judentum in der Musik‹ Ihnen in Folge meines Auftrages jetzt hoffentlich bereits vorgelegt worden ist.37 (12. März 1869)

III Wenn man Wagner beim Wort nimmt und seinen engsten Gewährsleuten glaubt, sollte es eigentlich klar sein, dass meist zu Beginn des kreativen Prozesses, irgendwo am Anfang jeder seiner Gesellschaftsfabeln, ein mehr oder minder starker antisemitischer Affekt im Spiel ist – mehr oder minder, wohlgemerkt, denn bei Tristan und Isolde ist er beispielsweise nur mit großer Anstrengung auszumachen, und nur, wenn man die romantische Modernismusdebatte einbezieht, die oft einen Konnex zur Judenfeindschaft hatte.38 Doch wie gesagt sind die antisemitischen Affekte bei Wagner keineswegs die einzig wirksamen, oft sind sie nicht einmal die dominierenden. Allerdings besteht derzeit noch keine Aussicht, die deutschen Wagner-Exegeten hinsichtlich der Wagnerschen Antifiguren auf einen Nenner zu bringen – Fragen des deutschen Selbstverständnisses trüben manchen Blick. Den Versuch, die Bedeutungsschichten je nach ihrer jeweiligen Relevanz parallel nebeneinander darzustellen, werten manche Wagner-Apologeten als kulturelle Verunglimpfung und sehen nichts anderes als antisemitische Vorhaltungen, wo ausschließlich das Konzept der semantischen Pluralität weiterzuhelfen vermöchte. Andere Opernliebhaber wiederum haben Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass ›Schön‹ und ›Gut‹ nicht mehr ästhetische Synonyme sind, eigentlich auch noch nie in dem Sinne waren, wie dies im romantischen Idealismus konstruiert worden ist. Auf diese doppelte Schwierigkeit, die Duplizität von ›Gut‹ und ›Böse‹ in Wagners Kunst hinzunehmen, ist bei der Analyse antijüdischer Bedeutungen im Wagnerschen Dramenpersonal zu achten, was indes keine Kompromisse rechtfertigen kann. Deshalb sei hier eine grundsätzliche Bemerkung zu Wagners Büh37 38

Ebd., S. 8 und S. 327, FN 9. Ebd., S. 252f.

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nen-Figuren vorangestellt: Nie bestehen sie aus ›Nur-Germanen‹, und nie aus ›Nur-Judenkarikaturen‹: für solche Eindimensionalität ist Wagner nicht passend. Sein Werk ist wahrhaft ›groß‹, umfasst den gesamten menschlichen Geist – im ›guten‹ wie im ›schlechten‹ Sinne, und es hieße letztlich, Wagner künstlich ›kleiner‹ zu machen, wenn man ihn auch nur eines Teiles seiner Aussage beraubte. Auch steht es uns Nachgeborenen keineswegs zu, eigenmächtig auszuwählen und Teile von Wagners Kunstprogramm zu unterschlagen. Für Wagners grundsätzliche ästhetische Duplizität gibt es zweierlei Gründe. Erstens kommen in seinem kreativen Prozess mehrfache, sehr verschiedenartige Affekte und Intentionen zusammen, die alle dem Kunstwerk ihre prägende Kraft verleihen, weshalb ich vorgeschlagen habe, sich ein im Prinzip dreistufiges semantisches Modell vorzustellen. Dabei sind ideologische, psychologische und philosophische Faktoren am Werk und hinterlassen entsprechende Spuren in seinem Oeuvre. Diese Schichten sind nicht ständig parallel nachweisbar; sie wirken vielmehr intermittierend oder wechselweise, oft aber auch zusammen.39 Zweitens: Wagners Schöpfungsprozesse liefen nur teilweise bewusst ab, weshalb er oft unbewusst rezipiertes Kulturgut assimilierte und ebenso unbewusst in das entstehende Werk projizierte. In der Praxis bedeutete dies, dass er den Schöpfungsprozess nur teilweise unter Kontrolle hatte und gelegentlich im Kunstwerk selbst spürte, dass es nicht seinen Anfangsintentionen entsprach.40 Deshalb ist selbst bei Figuren, zu denen es Hinweise Wagners gibt, Vorsicht geboten: Sie können auch andere, auch allgemeinere Bedeutungen beinhalten, die aus tieferen und älteren Schichten des kulturellen Gedächtnisses stammen, als es dem Autor Wagner selbst zu Bewusstsein gekommen sein konnte. Dies darzustellen, verlangt allerdings Querverweise zu vergleichbaren Äußerungen Wagners, um interpretatorische Willkür zu vermeiden.41

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Ebd., Kapitel 23. Ebd., S. 12. Hinsichtlich des Rings schreibt Wagner am 23. August 1856 an August Röckel, der Künstler stehe vor seinem Kunstwerk »wie vor einem Rätsel«, über das er »in dieselben Täuschungen verfallen kann, wie der andere«. Das ist nicht nur romantische Selbst-Mystifikation, denn das im gleichen Brief Folgende ist der Künstlerlegende eher abträglich: Indem Wagner feststellt, dass im entstehenden Ring »etwas ganz anderes zu Tage kam, als ich mir eigentlich – gedacht hatte«, sei seine künstlerische Anschauung »immer vollständig wieder über den Haufen geworfen« worden! (Sämtliche Briefe, Bd. VIII, S. 152ff.). In den Fällen, in denen dies im Folgenden im Text oder in den Anmerkungen aus Raumgründen nicht geschieht, sei auf die Besprechung der entsprechenden Bühnenfiguren in meiner Studie Schöpfer und Zerstörer…verwiesen.

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IV Die Bühnenfiguren im Einzelnen Der eigentlichen Bestimmung dieses Aufsatzes, Judenfiguren bei Wagner darzustellen, soll im Folgenden nicht im strengsten Sinn entsprochen werden. Wagners grundsätzlicher Polysemantik muss Rechnung getragen werden, indem bei den fraglichen Bühnenfiguren das Antijüdische mit dem konfrontiert wird, was anders oder als darüber hinausgehend zu betrachten ist. Das spezifisch ›Antisemitische‹ erlangt bei Wagner zumeist eine philosophische Signifikanz, die den Bezug auf den Judenhass hinter sich lässt und in allgemeinere Bedeutungsebenen transzendiert, ohne ihn indes aufzuheben. Nur die Figur des Klingsor (in Parsifal) hat etwas Eindimensionales, das ihn fast (aber nicht ganz) zum ›Nur-Juden‹ abstempeln könnte, weshalb er hier von weniger Interesse erscheint.42 Seine Gegenfigur, Kundry, ist ganz anders: An dieser Figur kommt die Vielschichtigkeit der Bedeutungen am eklatantesten zutage; deshalb stehe hier das Bühnenweihfestspiel Parsifal wieder voran. – Die Konzeption der vorliegenden Arbeit erlaubt allerdings nicht, vollständige Inhaltsangaben der Werke Wagners wiederzugeben, weshalb hier einschlägige Opernführer zu Hilfe genommen werden können.43

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Zauberer seines Zeichens, verweist seine Selbstentmannung auf die mittelalterlichen Kastrationsängste, die mit dem beschnittenen Juden verbunden waren (siehe M.A. Weiner, Antisemitische Fantasien, S. 185). Wagner sagt von ihm: »Klingsor [repräsentiert] das Eigentümliche, welches das Christentum in die Welt gebracht; er glaubt nicht an das Gute, ganz wie die Jesuiten, dies seine Macht, aber auch sein Untergang.« (C. Wagner, Die Tagebücher, 2.3.1878) Klingsor ist aber nicht nur das Bild von Wagners Antiklerikalismus, sondern auch des Dogmatismus, der jedoch nicht kirchlich, sondern alttestamentlich, jüdisch ist. »Zauberwerkzeuge und nekromantische Vorrichtungen« gehören laut Wagners Bühnenanweisung zum Inventar seines »nach oben offenen« Sternguckerturms. An den europäischen Höfen des Mittelalters waren die Funktionen von Magiern, Astrologen und Alchimisten vorzüglich Juden vorbehalten, und noch Luther bringt dies zusammen (M. A. Weiner, Antisemitische Fantasien, S. 247). Musikalisch ist Klingsor in h-Moll angesiedelt, der Tonart der jüdischen Finsterlinge und Bösewichter Alberich und Hagen. Das Leitmotiv Klingsors erfährt keinerlei Entwicklung und bleibt sich stets gleich, was eine von Wagner gezielte Charakterisierung des Magiers ist: Sein Wesen ist Invarianz und Hartnäckigkeit, Bosheit und Vernichtungswille. Klingsor ist ein emotionsloser, extremer Rationalist; als ›Jesuit‹ verkörpert er das, was Wagner in seinen Schriften als den intellektuellen Einfluss des Judentums auf das lateinische Christentum denunzierte. Meine Studie Schöpfer und Zerstörer… enthält zwar Inhaltsanalysen, sie sind allerdings mit der Interpretation und anderen Spezialuntersuchungen verschränkt, weshalb sie zur Libretto-Information zeitaufwändiger sind.

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Kundry Die beiden Inkarnationsformen, als Herodias einerseits und andererseits als Ahasvera, die den Heiland verlachte, charakterisieren Kundry als jüdisch. Dazu führt die Parsifal-Prosaskizze von 1865 aus, sie werde »von der Ritterschaft weniger als ein Mensch, sondern mehr wie ein seltsames, zauberhaftes Tier behandelt«. Die spätere Regieanweisung im ersten Akt lautet: »Wilde Kleidung... in losen Zöpfen flatterndes Haar; tief braunrötliche Gesichtsfarbe; stechend schwarze Augen, zuweilen wild aufblitzend, öfters wie todesstarr und unbeweglich.« Kundry ist eine orientalische Jüdin, und zugleich Untermensch, eine Kombination, die Wagner bereits im Judenpamphlet von 1850 zum Besten gab. »Nichts hat sie mit euch gemein«, klärt Gurnemanz seine Knappen auf, die ihr alle dem Gralsreich widerfahrene Unbill anlasten. Und doch verteidigt Gurnemanz sie gleichzeitig, wohl wissend, dass sie als Botin und Helferin unverzichtbar ist. Dieses zwiespältige Bild entspricht Wagners eigener Stellung zum Judentum; denn trotz aller Hass-Tiraden gegen es konnte er der opferbereiten jüdischen Jünger Tausig, Rubinstein, Levi und Neumann nicht entraten. Ist Kundry im ersten Akt Bild des Judentums, so kommt zu ihrer Rolle im zweiten Akt eine weitere Facette hinzu. »Kundry lebt ein unermessliches Leben unter stets wechselnden Wiedergeburten, infolge einer uralten Verwünschung, die sie, ähnlich dem ›ewigen Juden‹, dazu verdammt, in neuen Gestalten das Leiden der Liebesverführung über die Männer zu bringen«, schreibt Wagner in der Prosaskizze von 1865. Im ausgeführten Werk ist ihre Rolle noch weiter gespannt. Indem sie Parsifals früheste Kindheitsempfindungen wachzurufen weiß, schlüpft sie in die Rolle der Urmutter; sie spricht den heldischen Knaben mit dem vergessenen, im Unterbewussten versunkenen Namen an. Die Namensfindung gleicht seelischer Selbstfindung, Bewusstwerdung des Innersten. Kundry will den Knaben nicht um der Verführung, sondern um der Erlösung willen verführen: »in dir entsündigt sein und erlöst!« singt sie Parsifal hingebungsvoll zu. Letztlich will Kundry sich von ihrer Hysterie, von ihrem christlichen Fluch befreien und ihrer ›rassischen‹ Herkunft entfliehen. Doch nicht nur ihre eigene, von christlichem Vorurteil verwunschene AhasverSeele will sie erlöst sehen, sondern auch die des sie faszinierenden, jungen und schönen Mannes, dessen psycho-soziale Verstörung sie sofort erkennt. Dieser ist durch ihren Kuss, typisch Wagnerisches Zeichen ebenso emotionaler wie rationaler Erkenntnis, »Welt-hellsichtig« geworden, das heißt: Er hat durch sie ›Bewusstsein‹ und ›Wissen‹ um die Gralsgesellschaft erlangt. Diese ist durch den Fall des Königs Amfortas kompromittiert: durch dessen Geschlechtsverkehr mit Kundry und die daher rührende unheilbare Wunde als Symbol der (laut Wagner sündhaften) Vermischung ›germanischen‹ und ›ungermanischen‹ (jüdischen) Blutes. Indem Kundry nun auch Parsifal verführen will, küsst sie lediglich seine Anlage als ›Erlöser‹ wach.

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Kundrys Musik ist berückend schön, zunächst jedoch noch nicht erotisch in Sinne Tannhäusers und Tristans. Die Behandlung der Kundry-Musik ist vielschichtiger, raffinierter. Indem Wagner sie die rein sinnliche Liebe in die bei Parsifal aussichtsreichere, die mütterliche Liebe wandeln lässt, treibt der Komponist das Vexierspiel bis ins Extreme, um den für weibliche Sexualität anscheinend gar nicht so sehr empfänglichen Knaben zu verführen. Kundrys Tonfall ist nicht nur derjenige der suggerierten Mutter Parsifals, Herzeleide; zum Klingen kommt vielmehr das hinter ihr verborgene Kulturbild, die Gottesmutter, auch die Barmherzigkeit – Kundry übernimmt letztlich die Rolle der Agape, der Christusliebe. Gegenbildlich erlaubt Wagner seiner Kundry-Figur, die christliche Marien-Metaphorik zu annektieren; Synagoga schlüpft in das Gewand der Ecclesia! Das ist der Gipfel geistlicher Verführung; das ist das Raffinierteste, was die ›verdorbene‹ Kundry aufzubieten hat, um den Knaben in der Begegnung mit dem Heiligen – fast unbemerkt – in die Abgründe der erotischen Verführung zu ziehen! Wagner inszeniert das Gewagteste, was man auf der Bühne des 19. Jahrhunderts darstellen konnte: Kirche und Bordell – wie Nietzsche sagte – in einem! Kundrys Kuss ist ein Eva-Kuss der Erkenntnis, und Parsifal erkennt durch ihn schlagartig die Parallelität seiner Situation zu der des Amfortas. Dieser litt schon bei Wolfram von Eschenbach an einer sexualisierten Form der ChristusWunde, und alsbald weiß Parsifal auch, dass er Amfortas nur erlösen kann, wenn er Kundry widersteht. Doch vom Wissens-Schritt zur Erlösungstat ist es ein langer Weg, den Parsifal noch nicht, wohl aber Kundry kennt – sie hat die Fähigkeit der Grenzüberschreitung zwischen Grals- und Nicht-Grals-Welt. Die Intuition des richtigen Weges, des Pfades zum Gralsgebiet, der ein Weg ins Innere ist, wird Parsifal durch die emotionale Kraft der Liebe Kundrys angeboten. Dass Parsifal sich dieser Liebe verweigert, ist nicht nur für sie, sondern auch für ihn fatal. Denn nach der Zurückweisung ihres Liebesbegehrens verflucht Kundry den Knaben, damit er den Weg des Grals nicht mehr wiederfinde. Die »Intuition« hat Parsifal also verscherzt – solange er sich der Hilfe Kundrys verweigert. Denn trotz ihres verletzten Stolzes ruft sie ihm am Ende des zweiten Akts zu: »Du weißt, wo du mich wiederfinden kannst!« Doch dauert es lange, bis der junge Held sie nach schier endloser Irrfahrt wieder findet. Die Probleme der Intuition, welche die des richtigen Fragens und Wissens – kurz: des Bewusstseins sind, behandelte Wagner leitmotivisch erstmals in Lohengrin. Die abfallende Quinte des »Motivs des Frageverbots«, dem aufsteigende Sekunden folgen, ist Wagners entsprechendes Klangsymbol; im »Licht-Motiv« des Tristan, im »Wehwalt-Motiv« im Ring und im »WundeMotiv« des Parsifal kehrt es wieder. Die Versuche, das Bewusstseinsproblem in Lohengrin, Tristan und im Ring zu lösen, waren gescheitert. Erst Parsifal wird zum erfolgreichen gesellschaftlichen Erlöser, was ihm dank (Schopenhauer-)Wagnerscher ›Askese‹ gelingt. Doch als Konsequenz des daraus folgenden ›selektiven Mitleids‹ (das nur dem gesellschaftlich Eigenen, nicht aber

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dem Fremden, Kundry, gilt) hat Parsifal die wirkliche Fähigkeit der Liebe verloren, er bleibt persönlich unerlöst. Der Text gibt dazu keinen Kommentar; Kundry scheint für Parsifal kaum mehr als ein geschichtlicher Unfall zu sein. Doch gibt die Musik differenziertere Antworten: In den Metaphern von Motivik und Klang vollzieht sich sehr wohl das Wunder psychologischer Erlösung. Das geschieht zunächst in der Entwicklung des »Abendmahl-Motivs«, dessen Zentrum, das schmerzlich sich aufbäumende, mit Tristans »Licht-Motiv« notengleiche »Wunde-Motiv« gelöst, eigentlich aufgehoben wird und fortan nicht mehr existiert. An seiner Stelle steigt nun die melodische Linie siegreich zu einer lang gehaltenen None auf. Das ist die neue, bildhafte Klang-Geste, auf die das »Erlösung dem Erlöser« zu hören ist! Erst die Musik verrät – und nur aus dem leitmotivischen Zusammenhang des Wagnerschen Gesamtwerkes –, dass in Parsifal Erlösung nicht nur die des Blutes sei, sondern auch die des Geistes, der sich, wenn auch um den Preis von Kundrys Leben, mit der Intuition wiedervereinigt und so das Modell des Wagnerschen Menschen der Zukunft bildet.44 Geistige Erlösung heißt bei Wagner demnach, der Intuition wieder teilhaftig zu werden. Dies wird von ihm stets durch harmonische Mittel der Klang-Rückung dargestellt. Auch am Ende des Parsifal gibt es einen solchen Vorgang: auf die zweite Textsilbe des allerletzten gesungenen Wortes »Erlöser« (Partiturziffer 293) findet ein solches harmonisches Gleiten statt, diesmal von es-Moll nach Des-Dur. Nur sechs Takte später folgt die dramaturgische Entsprechung, ein Bewusstseins-Wechsel, genauer, ein Bewusstseinsende: Erst hier sinkt Kundry, den Blick auf Parsifal gerichtet, »entseelt langsam zu Boden«. Ist das die Liebe bis in den Tod? Oder wird in den letzten Tönen von Wagners Gesamtwerk seine Philosophie der Liebe von ihren rassistischen Voraussetzungen eingeholt und zertrümmert? Die Musik plädiert indes gegen Völkisches und Politisches, denn statt Pauken und Trompeten zu Kundrys Tod wollte Wagner diese Stelle »sehr schön geblasen« haben; hier strahle »der Schrekken der Heiligkeit« aus (so in Cosimas Tagebüchern, 13.1.1882). Was kann Heiligkeit anderes sein als echte Selbstaufopferung aus Liebe? Erst ganz am Werk-Ende zeigt die musikalisch tatsächlich auskomponierte »Erlösung«, dass die gefährdete Gabe der Intuition eine endgültige erst durch Kundrys Tod wurde. Eine schillernde, musikbezogene Logik voll gefährlicher Doppeldeutigkeit, die allein durch die Komposition von Kundrys Tod im Piano (statt mit »Pauken und Trompeten«) begründet ist. Im Tod wird Kundry, wie ihre Vorgängerinnen Elisabeth, Elsa, Isolde und Brünnhilde, zur Metapher des Seelischen, des Unersetzbaren.

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Wagners philosophisches Konzept, Wissen und Intuition auszugleichen und zu harmonisieren, weist durchaus auf postmoderne Strömungen des späten 20. Jahrhunderts voraus.

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Alberich, Hagen, Mime Wird Kundry trotz ihres spürbaren, ursprünglich antijüdischen Anfangs-konzepts letztlich zu einer Gestalt von höchster philosophischer Relevanz, so bleiben die Antifiguren im Ring des Nibelungen zwar nicht ganz bei ihren antisemitischen Grundimpulsen, entfernen sich jedoch weniger weit von ihnen. Sie sind Mitglieder der gleichen, zum Volk der Nibelungen gehörigen Familie: Alberich und Mime sind Brüder, Hagen ist Alberichs Sohn. Alberich tritt bereits in der ersten Szene von Rheingold auf. Wagners Rheingold-›Natur‹ ist zunächst sehr lieblich. In ihr tummeln sich die drei Rheinnixen Woglinde, Wellgunde und Floßhilde, während sie das auf einem Riff inmitten des Stromes lagernde Rheingold hüten. Der garstige Zwerg Alberich nähert sich ihnen und versucht, die Mädchen zu haschen; sie lassen sich auf Liebesspiele ein, entwinden sich ihm aber stets. Alberich jagt ihnen nach, gleitet doch immer aus, während die Nixen ihn verspotten. Denn er ist außerordentlich hässlich; mit einer wahren Flut negativer Bilder wird der Zwerg überschüttet: er ist ein »haariger, höck’riger Geck«, »schwarzes, schwieliges Schwefelgezwerg«, er ist »stachlichen Haares« und hat eine »kreischende Stimme«; ferner hat er »strammes Gelock«, »stechenden Blick« und »struppigen Bart«, er ist »koboldartig«, ein »lüsterner Alp« in »Liebesgier«. Die lachenden Mädchen sind ob seiner »Krötengestalt« und seiner »Stimme Gekrächz« nichts weniger als »staunend und stumm«. Ebenso virtuos ist die klangliche Umschreibung der Partitur, in der zahllose japsende und aufstoßende Gleit- und Stolperfiguren den schlurfenden Gang, die Widerborstigkeit und die ganze unästhetische Erscheinung des Zwergs illustrieren (vor allem 1. Szene, Takte 231–245). Für Mime verwendet Wagner ähnliche Attribute und Klänge, weshalb sie hier nicht gesondert dargestellt werden müssen: sie entsprechen alle der textlichen und musikalischen Ikonographie des vorgeblichen jüdischen Körpers und des in ihn projizierten Wesens, wie Marc A. Weiner dies in seiner Fundamentalstudie anhand der Kulturklischees des 18. und 19. Jahrhunderts herausgearbeitet hat. Ist diese Darstellung des Abstoßenden notwendig? Im Prinzip wäre die Rheingold-Geschichte auch mit zwei nicht hässlichen Zwergen denkbar – doch die Folgen, die Zeugung von Alberichs späterem Sohn Hagen, müssten dann konzeptuell anders verlaufen: als Sohn des Hässlichen wird Hagen als »Frucht des Hasses« definiert. Kinder des Nicht-Hässlichen sind bei Wagner jedoch ›Früchte der Liebe‹: Brünnhilde, Siegmund, Siegfried. Alberich aber wird der Liebe abschwören, um sich des Rheingolds bemächtigen zu können. Es wurde ausgeführt, dass dies die dramaturgische Chiffre seines Jüdischseins ist, wie Wagner dies aufgrund von Raumers Hohenstaufen vom Mittelalter her in sein Werk hinein genommen hatte. Alberichs abstoßende Erscheinung hat metaphorische Qualität, und es gilt, weitere Bilder zu entschlüsseln. Ein hervorstechendes lässt aufhorchen: »Ein Schwefelbrand« sei Alberich. Die nicht immer nur lustigen Nixen assoziieren

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den Zwerg also mit Gelb, jener »Farbe des Bösen« (Wilhelm Fraenger), mit der mittelalterliche Christen wie spätere Antisemiten von den KreuzigungsAltarbildern der Gotik bis zum späteren Judenstern das Volk der angeblichen ›Gottesmörder‹ zu brandmarken pflegten. Auch die Kröte, mit der die Nixen den Zwerg assoziieren, ist ein uraltes antisemitisches Bild. Wagner behaftet Alberich vom ersten Anbeginn des Rings an mit judenfeindlichen Codes. Die Behauptung, Wagner habe seine Musikdramen »von antisemitischen Tendenzen durchaus freigehalten«,45 wird ab Rheingold vom Komponisten selbst durch eine Zeichensprache widerlegt, die auf jahrhundertealten Traditionen fußt – eine Sprache, auf die Wagner baute, der sich heute aber gerade seine Apologeten verschließen.46 Alberichs Welt, die der Industrie, ist Nibelheim. Wagner illustriert diesen Ort durch das so einfach-einprägsame Nibelungen-Motiv mit den charakteristischen Anfangspunktierungen in der ersten und dritten Gruppe des Neun-Achtel-Taktes: lang-kurz-kurz, kurz-kurz-kurz, lang-kurz-kurz. Bald vom Großteil des Orchesters vorgetragen, ist dieser Rhythmus von beängstigender Gewalt – gleichzeitig aber auch von größtmöglicher melodischer Armut: pro Takt eine fallende Terz sowie zwei steigende Sekunden, und das wird bis zu acht Takte lang identisch in schier obsessioneller Sterilität wiederholt. Sind das die klanglichen Bilder der Bedrohung und gleichzeitig der kreativen Unfähigkeit, die Wagner seit 1848 sowohl mit dem Judentum als auch mit dem unterirdisch wühlenden Nibelungenvolk verbindet? Die Antwort ist in die Partitur hineinkomponiert: Indem Wagner als Kontrapunkt zum Nibelungengetöse das »Rheingold-« und das »Angstmotiv« wählte, scheint er die Bedeutungskreise Gewalt – Macht – Geld – Kapital mit existentieller Angst zu assoziieren: Jener Angst vor dem Juden – dem Fremden – die Wagner in den Deutschen diagnostizieren zu müssen glaubte. Die noch junge Leitmotivtechnik bietet hier ein Musterbeispiel der semantischen Variation: die individuelle Angst (der Götter/Wagners) wird im gewandelten Leitmotivkontext zu einer kollektiven Angst, zu deren Begründung das Libretto das Motiv einführt, Alberich erstrebe die Weltherrschaft. Wagner benutzte es bereits in dem Dramenprojekt Jesus 45 46

Richard-Wagner-Handbuch. Hg. v. Ulrich Müller/Peter Wapnewski. Stuttgart 1986, S. 160. Prinzipielles über kulturelle Codes: U. Drüner: Schöpfer und Zerstörer… S. 167ff. Marc A. Weiner brachte die Gegensätzlichkeit der ›germanischen‹ und ›antigermanischen‹ Codes anhand des Paares Siegfried-Mime brillant auf den kürzesten Nenner: »Strahlende Augen oder Triefaugen, eine sonore oder eine kreischende Stimme, der Körpergeruch jugendlicher Liebe oder der Gestank von Schwefel und Fürzen, der stetige Schritt eines muskulösen Kriegers oder der schiefe, hinkende Gang einer kleinen, haarigen, ziegenähnlichen Kreatur mit aschfahler oder totenbleicher Haut: Durch solche Körperbilder brachte Richard Wagner seine Theorien metaphorisch zum Ausdruck – Theorien, in denen es um Fehlentwicklungen im Europa des 19. Jahrhunderts und um eine Vision eines besseren zukünftigen Deutschlands ging.« (M.A. Weiner: Antisemitische Fantasien, S. 24).

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von Nazareth (1848): Die Messias-Erwartung der Juden wird dort von Wagner als ein Glaube an eine Zukunft dargestellt, die »das jüdische Volk zur Weltherrschaft führen soll«.47 Folglich ergibt in Rheingold das Weltbeherrschungsmotiv überhaupt erst einen Sinn, wenn man Alberich als judenfeindliche Metapher interpretiert, denn irgendwelche koboldischen Märchenzwerge wären gänzlich ungeeignet, um jene Obsessionen zu verbildlichen, die von Grattenauer (1791) bis zu den gefälschten Protokollen der »Weisen von Zion« (1905) die antisemitische Pamphletliteratur bevölkerten. Alberich ist demnach viel mehr als bloße Judenmetapher; vor allem ist er nicht nur Karikatur – mit dieser Verkürzung irrt Adorno sehr. Gegen solche Schwarz-Weiß-Zeichnungen ist schon aus musikalischen Gründen Einspruch zu erheben. Das ganze unterirdische Nibelungenreich ist auch Bild von Wagners Unbewusstem, in dem er von der unbarmherzigen Obsession fremden Grauens verfolgt wird. Darauf verweist bereits der Name Alberich: Alb oder Alp ist im Mitteldeutschen das gespenstische Wesen, das Angstträume hervorruft. Alberich ist ein Zwerg, Symbol der im Dunkeln lauernden Angst schlechthin. Er ist Wagners Gestalt gewordene Angst vor dem Fremden, vor Unerklärlichem, was er in ›den Juden‹ projizierte. Wagner ist eines der erschütterndsten Beispiele für Gerhard Scheits Feststellung, die Antisemiten förderten in ihren Judenbildern vor allem »ihr eigenes verborgenes Wesen« zutage.48 Alberich ist deshalb zwar zunächst Judenkarikatur, wird dann aber zunehmend zur Ikone des inneren Terrors, den der Mensch vor unerklärlicher Welt und vor sich selbst empfinden kann. Dies übersteigt bei Weitem platten Antisemitismus, und so schuf Wagner in der Alberich-Figur die ergreifendste Darstellung der Finsternis, die der Mensch überhaupt empfinden kann.

Beckmesser Auch Beckmesser, der in den Meistersingern von Nürnberg die Rolle des ›Feindes‹ des Heldenpaares (und, metaphorisch, des ›Volkes‹) inne hat, ist dramaturgisch mehrschichtig angelegt. Beckmesser ist Schreiber der Stadt Nürnberg; er übt einen Beruf aus, der Juden im 16. Jahrhundert unzugänglich war. Diese Verkleidung mochte Wagner Schutz bieten, da er wohl 1880, aber noch nicht 1861, zur Zeit der ersten Meistersinger-Niederschrift, »die rücksichtslose Wahrheit« sagen zu dürfen glaubte (s.o.). Doch trat die mit Beckmesser gemeinte ›Art‹ offener als je zuvor in Wagners Kunst zu Tage, wie lautstarke Proteste bei den frühesten Aufführungen belegen.49 47 48 49

R. Wagner: Jesus von Nazareth. Ein dichterischer Entwurf aus dem Jahr 1848. Leipzig 1887, S. 8. Scheit, Verborgener Staat, S. 15. Bereits bei Meistersinger-Aufführungen in Mannheim (April 1869), Wien (März 1870) und Berlin (April 1870) gab es Proteste, worüber Cosima Wagners Tagebücher berichten (14.4. und 4.7.1869). Die fünfte Mannheimer Meistersinger-Vorstellung geriet zu einer Publikumsschlacht zwischen jüdischen und judenfeindlichen

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In Das Judentum in der Musik behauptet Wagner, dass die »Melismen und Rhythmen des Synagogengesanges« die »musikalische Phantasie« des jüdischen Musikers vollkommen einnehmen.50 Laut Barry Millington stellt Wagner genau dies in der Beckmesser-Serenade als einer »parody of the Jewish cantorial style« dar.51 Die parodistische Absicht ergibt sich bereits aus Wagners Korrespondenz. Die Partie des Beckmesser hat der Komponist einer Bassstimme zugeteilt, schreibt in der Partitur jedoch für eine Stimmlage, die der eines hohen Baritons entspricht. Gustav Hölzel, der bei der Uraufführung die Beckmesser-Partie sang, kritisierte, die hohen Stellen seien außerhalb seines Registers, doch beharrte Wagner auf seiner Wahl mit dem Argument, er benötige für die Rolle einen »kreischenden« Stimmklang. Vom Hamburger Sänger Rudolf Freny verlangte Wagner eine sich »überschlagende Stimme, wenn er [Beckmesser] in Zorn gerät. Die äußerst hohen Noten sind natürlich nur heftige oder lächerliche Sprachakzente, kein Gesang«. Wer ist da nicht an die ›Beschreibung‹ jüdischen Singens erinnert, wie es Wagner in Das Judentum in der Musik als »Sinn und Geist verwirrenden Gegurgel, Gejodel und Geplapper« bezeichnete? Millington gibt hierzu einige relevante Beispiele, z.B. Beckmessers meckernder Extremtriller auf e’ (›neuen Schuh‹) in seinem letzten Einwurf gegen Hans Sachs im 1. Akt, oder das Falsett-a’ (»blüh’ und wachs’!«) am Ende der 3. Szene des 3. Aktes. Von der Sprache der Körperlichkeit her gesehen, auch aus der Sicht der Kultur-Codes des frühen 19. Jahrhunderts, ist Wagners Absicht, Beckmesser als Judenkarikatur zu konzipieren, nur allzu offensichtlich erkennbar;52 dabei scheint dessen gesellschaftliche Rolle als Ratsschreiber lediglich dem typischen Vernebelungseffekt der klassischen Judenfeindschaft zu entsprechen.

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Operngängern, wobei letztere so weit gingen, mit »Hep! Hep!«-Rufen an die judenfeindlichen Ausschreitungen von 1819 zu erinnern. In Berlin gab es eine Presseschlacht, wobei das im März 1869 wiedererschienene Pamphlet Das Judentum in der Musik eine Rolle spielte. Sowohl in Berlin als auch in Wien regten sich jüdische Meistersinger-Besucher darüber auf, dass Beckmessers Serenade ein altes jüdisches Lied parodiere, um es lächerlich zu machen (C. Wagner: Die Tagebücher, 14.3. und 4.4.1870). Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. V, S. 77. B. Millington: Nuremberg Trial: Is there anti-semitism in ›Die Meistersinger?‹. In: Cambridge Opera Journal III, 3, (1992), S. 251. Siehe auch U. Drüner: Schöpfer und Zerstörer…, S. 265ff. und S. 342, FN 1. Zu den antisemitischen Körpermerkmalen, die auf Beckmesser projiziert sind, siehe M.A. Weiner: Antisemitische Fantasien, zusammengefasst in U. Drüner: Schöpfer und Zerstörer…, S. 272f. (aufgrund der von Weiner etablierten Kriterien Gehen (Beckmesser »hinkt«, »knickt mit den Knien«, »taumelt«, »strauchelt«), Blick (er »starrt«), Körperhaltung, Wesen (»unruhig«, »matt und verzweiflungsvoll«, »Dieb«) und Stimme (»sich überschlagend«, »kreischend«). In U. Drüner, a.a.O., werden dem auf S. 273ff. die dazu relevanten kulturkritischen Passagen aus Wagners Judenpamphlet gegenübergestellt.

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Und doch hat man nach einem Aufführungserlebnis der Meistersinger den Eindruck, dass das obig Gesagte nicht alles sein kann. Denn dieses Musikdrama ist gleichzeitig – oder vor allem – ein Traktat über die Kunst, ›Kunst‹ zu machen. Der ideologische Ausgangspunkt, in der Beckmesser-Figur jüdische Kunstmusik zu karikieren und in Misskredit zu bringen, wirkt wie verallgemeinert als Metapher jeglicher missratener Kunstbemühung, als Bild »schlechter Kunst« schlechthin. Dieser Eindruck entsteht insbesondere für heutige Rezipienten, welche die Kulturchiffren des frühen 19. Jahrhunderts naturgemäß nicht mehr erkennen können – was den Forscher nicht der Verpflichtung enthebt, semantische Archäologie zu betreiben. In dem Bestreben Wagners, aus dem Partikularen das Allgemeine herauszukristallisieren, wird Beckmesser Chiffre des Anti-Künstlers und damit Teil der Kunstphilosophie, die Wagner in den Meistersingern darlegt und in Szene setzt. Kunst entstehe, so Wagner, nicht aus rationalistischem Kalkül, das in den Kunstprodukten des Beckmessers als Motor des Missverstehens und deshalb der Verfälschung gebrandmarkt wird. Der wahre Kunstmotor sei der ›Wahn‹, ein Vorwärtsträumen, das die kreative Intuition für das Neue in der Kunst entwickelt. Ideales Aktivierungsmittel des ›Wahns‹ sei die Liebe, die, wie bereits in Walküre, auf dem Wiedererkennen des Gleichen, des Eigenen und des angeblich von Natur aus Zusammengehörigen beruhe und das Fremde, das Andere, verwirft. – Um die Eingebung in ›Kunst‹ zu verwandeln, bedürfe es jedoch einer handwerklichen Verarbeitung, die im Bewusstsein der Tradition wirke, was durch die Vater-Figur des Hans Sachs versinnbildlicht wird. Derartige Kunst müsse ferner dem Urteil des Volkes standhalten, womit Wagner die Illusion des Völkischen ins Spiel bringt, um der eigenen Theorie Allgemeingültigkeit aufzustempeln (für Bach, Mozart und Beethoven hat er nie Volkes Urteil zu Hilfe genommen!). Durch das dialektische Sichtbarmachen von ›Kunst‹ und ›Un-Kunst‹ erhalten die Meistersinger ihre Lebensnähe, gleichzeitig aber auch ihre Gefährlichkeit. Denn die Synthese des Hegelianers Wagner ist nur eine scheinbare: Im Gegensatz zum Bühnenweihfestspiel Parsifal, in dem das Fremde durch die Fixierung auf die Frau (Kundry) nach Wagnerschem Rollenverständnis Träger der Intuition bleibt und somit für die ›Erlösung‹ des Mannes und seiner gesellschaftlichen Rolle unverzichtbar ist, wird in den Meistersingern das Fremde einfach eliminiert. Dass Beckmesser nach der bösartigen Verhöhnung durch die Festwiesen-Gemeinde eine unmögliche Person geworden ist, dass er als Bürger Nürnbergs eigentlich »vernichtet« ist, stört in der Werkdramaturgie niemanden, und scheint auch für Wagner völlig belanglos zu sein. Darin liegt der Zug des Unmenschlichen, den Adorno Wagner zu Recht vorgeworfen hat. In Die Meistersinger liegt das Gefährliche in dem Umstand, dass das Inhumane verdeckt behandelt und durch tiefe, ganz andere gegenläufige Kunsteindrücke immer wieder verstellt wird: Musikalisch kann man nicht intensiver nach dem Grund menschlicher Existenz fragen als im »Wahnmonolog« des Hans

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Sachs, kann man nicht feierlicher in die Zukunft blicken als im Vorspiel zum dritten Akt; die Verinnerlichung des Fühlens ist unübertrefflich im Quintett des dritten Akts ausgedrückt; das Aufkeimen der Liebe wird im ersten Akt meisterhaft getroffen; sich vollendendes Liebesglück ist selten so animierend formuliert worden wie in Evas Wiederbegegnung mit Stolzing im dritten Akt. Ferner gibt es überaus bedeutende Reflexionen zu den Spannungsfeldern Inspiration und Gedanken, Intuition und Lernprozess, Begabung und Handwerklichkeit innerhalb der künstlerischen Arbeit. Doch bewirken all diese musikalischen und reflexiven Höhepunkte keine Umwertung hinsichtlich der Pogromstimmung in der Johannisnacht, hinsichtlich des von Sachs inszenierten Rufmordes und der daraus resultierenden gesellschaftlichen Hinrichtung Beckmessers durch das ›Volk‹. Diese Figur, die historisch nicht zufällig am Übergangspunkt vom kulturellen zum politischen Antisemitismus entstand, erreicht ihre künstlerische Dauerhaftigkeit und ihre ästhetische Allgemeingültigkeit durch die Versinnbildlichung alles ›Fremden‹ und ›Anderen‹, mit dem sich fast alle Gesellschaftsformen des beginnenden 21. Jahrhunderts ebenso intensiv auseinanderzusetzen haben wie in der Zeit der Entstehung des Wagnerschen Musikdramas.

Sabine Busch-Frank

Worte oder Werke? Hans Pfitzners Judenbild in seinen Opern Die Rose vom Liebesgarten und Das Herz

»Die Judenfrage bildete einen Teil der Tragik in Pfitzners Leben. Er setzte sich stets in Wort und Schrift für deutsches Wesen in der deutschen Kunst ein, stand aber jüdischem Wesen, wo es nach seiner Meinung die Reinheit der deutschen Kunst gefährdete, kritisch gegenüber. Damit musste er in einen gewissen inneren Konflikt geraten […].«1 Mit diesen Worten umriss Kurt Levin, Sohn von Pfitzners jüdischen Freund und Mäzen Willy Levin, in einer zu Pfitzners hundertstem Geburtstag erschienenen Festschrift dessen Einstellung. Aus dem heutigen Stand der Forschung2 heraus fällt dieses Urteil milde und zu vage aus. Levin kannte sicher nicht Pfitzners »Glosse zum II. Weltkrieg«, in welcher der Komponist noch 1945 notiert hatte: Das Weltjudentum ist ein Problem und zwar ein Rassenproblem, aber nicht nur ein solches, & es wird noch einmal aufgegriffen werden, wobei man sich Hitlers erinnern wird & ihn anders sehen, als jetzt, wo man dem gescheiterten Belsazar nur zu gern den bekannten Eselstritt versetzt.3

Pfitzners antisemitisch geprägte Xenophobie ist bekannt und vielfach belegt. Seine Schriften, an erster Stelle Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz 1

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3

Kurt Levin: »Erinnerung«. In: Walther Abendroth (Hg.) in Zusammenarbeit mit Karl-Robert Danler: Festschrift aus Anlaß des 100. Geburtstags am 5. Mai 1969 und des 20. Todestags am 22. Mai 1969 von Hans Pfitzner. München 1969, S. 58–65, hier: S. 62. Der – ohnehin politisch etwas zwielichtige – Pfitznerbiograph Walther Abendroth sah sich übrigens als Herausgeber der Festschrift dazu veranlasst, den Autor – in der einzigen Fußnote des ganzen Bandes – zu maßregeln: »Mit dieser Auffassung der ›Tragik in Pfitzners Leben‹ im Zusammenhang mit der ›Judenfrage‹ irrt Kurt Levin insofern, als die ›Bluts-Mathematik‹ für Pfitzner nie bestand und daher aus der Frage bloßer Rassezugehörigkeit ihm niemals Konflikte erwachsen konnten. Es handelte sich bei ihm stets um rein geistige Problemstellungen.« Vgl. beispielsweise: Bernhard Adamy: Hans Pfitzner. Literatur, Philosophie und Zeitgeschehen in seinem Weltbild und Werk. Tutzing 1980, S. 304–311. Detlev Rentsch: Hans Pfitzners Schriften über Musik und Musikkultur. Manuskript, Dissertation an der philosophischen Fakultät der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, 1983. Oder die Dissertation der Verfasserin (Sabine Busch: Hans Pfitzner und der Nationalsozialismus. Stuttgart 1999). Hans Pfitzner: »Glosse zum II. Weltkrieg« In Bernhard Adamy (Hg.): Hans Pfitzner. Sämtliche Schriften, Bd. IV, Tutzing 1987. S. 337.

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(1919) legen Zeugnis ab, wenn er mutmaßt, der »geistige Kampf gegen den musikalischen Einfall« werde »geführt […] von dem jüdisch-internationalen Geist, der dem Deutschen den ihm ganz fremden Wahnsinn des Niederreißens und Zertrümmerns einpflanzt. Das Ganze ist ein Verwesungssymptom«.4 Für Pfitzner war der drohende Niedergang seines Kulturbildes offensichtlich und der moderne, assimilierte, ›internationale‹ Jude, der angeblich durch eine Art globale semitische Verschwörung zu Ansehen, Karriere und Erfolg kommen will, ein Gräuelbild. Juden, die in Anerkennung oder sogar Verehrung gegenüber seinem musikalischen Werk standen, waren Pfitzner hingegen sympathisch; er konnte sich hier als treuer Freund erweisen. Toleranz und Gelassenheit gegenüber anderen Meinungen, Lebensentwürfen oder eben Kunstanschauungen waren Hans Pfitzner generell fremd. Er sah es wohl als Verpflichtung gegenüber seinem eigenen Werk in seinem kulturellen Kontext und dessen Fortbestehen an, sich vehement von allem Andersartigen, Fremden und somit auch gegenüber dem Jüdischen abzugrenzen. Wie viele seiner Zeitgenossen lebte Pfitzner in einem kulturell homogenen Deutschland ohne große Berührungen mit fremden Kulturen. Er war zwar – wie durch eine Laune des Schicksals – in Moskau geboren worden und verbrachte die Kleinkindzeit dort, aber obwohl er auch später, durch Dirigate, Konzerte und Regieaufträge verpflichtet, selten mehrere Wochen am gleichen Ort verweilte, reiste er ungern ins (nicht deutschsprachige) Ausland und definierte sich klar über seine Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkanon. Er verließ – im Gegensatz zu z.B. Max Bruch, Bruno Walter, Gustav Mahler, Richard Strauss, Wilhelm Furtwängler – nie den europäischen Kontinent. Seine persönliche Landkarte, auf welcher er »nordische« Länder durchaus als sympathischer einstufte als südlichere, war bei Pfitzner sicher durch seine musikalischen Vorlieben und Abneigungen motiviert, hatte aber auch politische Züge. So sagt er im Hinblick auf das ihn stark prägende Erlebnis des verlorenen ersten Weltkrieges Alma Mahler eine Einladung nach Italien mit den Worten ab: »[Ich gehe] nicht ohne dringende Not ins Feindesland, als das ich Italien immer noch betrachte, und betrachten werde, solange es Südtirol etc von uns besitzt, nebst anderer Beute aus dem Raub-Überfall.«5 Pfitzner war hier durchaus Kind seiner Zeit und ihrer Gegebenheiten. Aus Straßburg, wo er von 1908–1918 wirkte, floh er, bevor es die Franzosen zurück gewannen – nach Polen und Posen reiste er ausschließlich während der deutschen Besatzung. Pfitzner hatte wenig Kontakt mit und überhaupt kein Verständnis für andere Kulturen – und fürchtete ihre Konkurrenz, was er ungeniert durchblicken ließ: 4

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Hans Pfitzner: Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz. Ein Verwesungssymptom? Wieder abgedruckt in Gesammelte Schriften, Bd. 2. Augsburg 1926, S. 229-230. Brief Hans Pfitzner an Alma Mahler, 23.2.1927. In: Bernhard Adamy (Hg.): Hans Pfitzner Briefe. Tutzing 1991, S. 457.

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Es kann z.Bsp. im Sommer ein Neger eine Oper komponiert haben, deren Aufführung nun das allerselbstverständlichste, notwendigste und kostspieligste ist, was man sich in Deutschland nur denken kann, wo es mir nur geziemt still zu warten, bis – zur nächsten Verschiebung!6

Hier führt eine gedankliche Verbindung vom notorisch polternden Pfitzner bis hin zum radikaleren Ansatz des französischen Rassentheoretikers Joseph Arthur Comte de Gobineau (1816–1882), der allein der »weißen Rasse« kulturschöpferische Fähigkeiten zutraute und im Falle der Vermischung der Rassen Mediokrität oder gar den Niedergang der Kultur voraussagte. Pfitzners Denken war geschult an Schopenhauer, dessen Werk er etwa im Alter von zwanzig Jahren zu lesen begonnen hatte. Er war Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft, besaß mehrere Werkausgaben und behauptete, jede Zeile daraus zu kennen. Er bezeichnet sich gern als »weltkundigen Mann und Schüler Schopenhauers«,7 diese Lektüre war ihm Trost beim Tod seiner ersten Frau. Er erkannte dem Schöpfer der »Welt als Wille und Vorstellung« das Präsidium in seinem philosophischen Götterhimmel zu und dichtete sogar das Epigramm: Du kennst nur ihn und wagst es doch, Den Größten ihn zu nennen? Ja! Wären andre auch so groß, So würde ich sie kennen.8

Schopenhauer seinerseits war durchaus von antijüdischen Vorurteilen geprägt.9 Bürgernahen Agitatoren, wie dem Kopf der Christlichsozialen Partei und evangelische Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909), oblag es später, die Strategie eines bourgeoisen Antisemitismus zu entwickeln, das zeitbedingte Elend der proletarischen und bürgerlichen Gesellschaft zum Nährboden antisemitischer Hetze zu vergären. Vulgäre und plumpe Polemik, die beispielsweise der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund (»Deutschland erwache!«) entfachte, oder die kleinbürgerliche Judenfeindlichkeit der Gartenlaube konnten allerdings als Massenphänomene dem intellektuellen Künstler kaum entsprechen. Dennoch festigte sich Pfitzners antisemitisches Weltbild gerade in jenen Jahren. Er lebte nach 1897 zehn Jahre lang überwiegend in Berlin, von wo aus 1879–1882 die »Berliner Bewegung« als »erste antisemitische Welle das Land überrollte und besonders in der Reichshauptstadt die jüdische Bevölkerung in

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Brief Hans Pfitzner an [Georg] Hartmann, ohne Datum. Nachlass Österreichische Nationalbibliothek, alte Signatur 322/7. Hans Pfitzner Brief an Walter Meyer-Giesow am 20.5.1939. In: Bernhard Adamy (Hg.): Hans Pfitzner Briefe, Tutzing 1991, S. 831. Hans Pfitzner: »Mein Bekenntnis zu Schopenhauer«. In: Bernhard Adamy (Hg.): Hans Pfitzner. Sämtliche Schriften, S. 486. Vgl. z.B. Schopenhauers Wüten über den ›Foetor Judaicus‹ in Parerga und Paralipomena.

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Angst und Schrecken versetzte […] «,10 die inzwischen aber wieder abgeflaut war. Obgleich in der Politik gescheitert war der Antisemitismus in jenen Jahren salonfähig geworden, und Pfitzner erlebte damals explizit in Berlin den Judenhass als durchaus akzeptable Haltung. Die Saat kam in den Jahren während und nach dem ersten Weltkrieg zur Blüte, als Schlagworte vom ›jüdischen Drückeberger‹, dem ›jüdischen Kriegsgewinnler‹ oder der ›Ostjudenfrage‹ kursierten, und Hitlers NSDAP sich den Weg zur Macht bahnte. Pfitzners Antisemitismus war relativ – er konnte gleichzeitig den Juden als Konkurrenten fürchten und mit jüdischen Förderern freundschaftlich verkehren, womit er ja kein Einzelfall war. Aber auch oder gerade als Künstler ist er deswegen nicht rundweg zu amnestieren. Hier gilt auch für Pfitzner, was Jens Malte Fischer für den Antisemitismus Richard Wagners zusammenfasst: Er hat mit dem Gewicht seiner weltweiten Berühmtheit einer schändlichen Gesinnung Umriß und Stimme gegeben, er hat eine Bierkellerideologie zur Salon- und Kulturfähigkeit geadelt.11

Richard Wagners antisemitische Schriften und Spuren dieses Gedankengutes im kompositorischen Schaffen wurden in den letzten Jahren vielfach analysiert. Anders aber als das verehrte Genie des Gesamtkunstwerkes lebte sein Epigone Pfitzner im ›Dritten Reich‹, als der Antisemitismus in Deutschland sich von einem bloßen judenfeindlichen oder sogar nur judenskeptischen Vorurteil zu einer tätigen, aggressiven Weltanschauung wandelte, die schließlich in der Ermordung von etwa 6 Millionen Juden in Konzentrationslagern gipfelte. Aus der im 19. Jahrhundert entstandenen Ideologie des Antisemitismus wurde in den Jahren zwischen 1933–1945 unter dem Regime des Nationalsozialismus, wie Hannah Arendt bemerkt »genau das, was er zu sein vorgibt: eine tödliche Gefahr für Juden und nichts sonst«.12 So stellt sich die interessante Frage, ob auch des Zeitgenossen musikdramatisches Werk Indizien für Judenporträts enthalten könnte, wenn er sich doch als Polemiker, als Musikschriftsteller, als Briefschreiber immer wieder antisemitisch äußerte. Pfitzner war oft von Blindheit seinem Zeitgeschehen gegenüber geschlagen, er blendete lebenslang erfolgreich aus, was nicht mit seiner Person und seinem Werk zu tun hatte – so finden sich bei aller Vielfalt des von ihm Hinterlassenen nur verhältnismäßig wenige Bemerkungen zu dem politischen Geschehen zwischen 1933–1945 in dem Land, in welchem er lebte und das er doch so sehr liebte. Im Jahr 1869 geboren, trat er mit zunehmendem Alter immer seltener als Komponist in Erscheinung. So wurde seine letzte Oper, Das Herz bereits 10 11 12

Helmut Berding: Moderner Antisemitismus in Deutschland. Frankfurt a. M. 1988, S. 99. Jens Malte Fischer: Richard Wagners ›Das Judentum in der Musik‹. Frankfurt am Main 2000, S. 132. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 2001 (Original 1951), S. 38.

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1930/31 uraufgeführt. Pfitzners Alterswerk wird meist bereits mit dem op. 37 des 57-Jährigen angesetzt,13 dem Orchesterlied Lethe (1926). Als op. 38 folgt dann als Markstein des Spätwerkes das Dunkle Reich (1929/30). In den Jahren des Nationalsozialismus war Pfitzners Produktivität erlahmt, sein Schaffen wuchs nach dem 1932 entstandenen op. 36a (das sich auf sein früheres Werk, das Streichquartett op. 36 bezieht und daher die Kontinuität der Opuszahlen bricht) noch bis op. 57. Hinter diesen 16 Ziffern verbergen sich aber nicht mehr die großen oder gar abendfüllenden Werke, sondern schon seit ca. 1935 überwiegend Klavier- oder Kammermusik sowie Liedschaffen. Für die hier vorliegende musiktheatral ausgerichtete Fragestellung muss also auf Werke zurückgegriffen werden, die bereits vor der Herrschaft der Nationalsozialisten entstanden waren; inhaltlich kommen überhaupt nur zwei seiner fünf Opern für eine Analyse in Frage: Die Rose vom Liebesgarten (Uraufführung Elberfeld 1901) sowie Das Herz (Uraufführung München/Berlin 1931). Die Rose vom Liebesgarten, ein Frühwerk Pfitzners auf den Text seines Jugendfreundes James Grun, wird häufig als Beispiel für die ›Jugendstiloper‹ bezeichnet: Hier kann man wirklich von musikalischem Jugendstil reden. Fast die gesamte Handlung dieser höchst kompliziert angelegten Zauberoper ist in eine ständig ondulierende Melodik eingekleidet, was vor allem für das Reich des Nacht-Wanderers (recte: Nacht-Wunderers), die Tropfsteinhöhle und die Szene im Urwald vor dem Liebesgarten gilt, wo sich Waldmänner und Moosweibchen in der ›Jugendkraft des Lenzes‹ haschen und necken, bis sie von Minneleide, einem undinenhaften Quellwesen, zu ›brünstigem Reigen‹ und ›schwebendem Kreisen‹ aufgefordert werden.14

Die komplexe Handlung in zwei Akten mit Vor- und Nachspiel verwirrt mit ihrem personenreichen Aufgebot in den kleineren Solorollen und dem – laut Regieanweisung ständig auf der Bühne herumwuselnden – Elfen, Zwergen und Riesen. Sie findet ihr Zentrum in drei Partien: Minneleide, Elfe vom Quellenstein (Sopran) Siegnot, ein junger Edeling (Tenor) und Nacht-Wunderer, Herr in den Bergen (Tiefer Bass). Für die Frau spielt sich ihr Konflikt in dem Bannkreis dieser beiden Männer ab – angezogen vom idealen, mutigen und der Liebe vertrauenden Helden Siegnot strebt sie nach Höherem (symbolisiert durch den lichtgleißenden Liebesgarten) – doch ihr Vertrauen reicht nicht zum Übergang in die höheren Sphären aus, und der böse Nacht-Wunderer verschleppt sie in seine Tropfsteinhöhle. Erst durch ihre Liebe zu Siegnot und die Überwindung ihrer Angst 13

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So beispielsweise von Wilhelm Mohr: »Hans Pfitzners Sextett Opus 55«. In: Mitteilungen der Hans Pfitzner-Gesellschaft, Heft 7, Oktober 1960, S. 2–12. Pfitzner selbst setzte es allerdings bei op. 43 an. Vgl. dazu: den Brief Hans Pfitzners an Felix Wolfes vom 11.7.1946. Veröffentlicht in: Bernhard Adamy (Hg.): Hans Pfitzner Briefe. Tutzing, 1991, S. 1006. Jost Hermand: Jugendstil. Darmstadt, 1971, S. 482.

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kann sie den Weg in den paradiesischen Garten finden – dort wird der ihretwegen den Heldentod gestorbene Siegnot von einer marienähnlichen Himmelsgottheit wieder zu Leben erweckt. Siegnot findet einen treuen Helfer im Moormann, einer Nebenrolle für einen Charaktertenor, der – halb Tier, halb Mensch – den Glanz des Helden zwar bewundert, aber selbst nicht die gleiche Zivilisationsstufe erreicht. Dieser niedere Helfer des Helden sowie sein Gegenspieler – der Nacht-Wunderer als Antipode Siegnots – kommen für die Spurensuche nach einer Spiegelung von Pfitzners Judenbild in der Oper in Betracht. Aus der Entstehungszeit der Oper stammt ein Brief Pfitzners an seinen – jüdischen – Freund Cossmann, wo es heißt: […] für das Vorspiel & den 1[.] Akt glaube ich jetzt garantieren zu können; weiter ist auch James nicht. ja noch nicht einmal mit dem 1[.] Akt ist er ganz fertig; doch ich bin sehr zufrieden mit dem bis jetzt fertigen. Es ist wunderschön. […] Vielleicht ist das die richtige Stelle, an der ich erwähnen kann, dass ich mich hier in Berlin ganz besonders als Antisemit ausgebildet habe; man hat hier die Gefahr und die Macht so nahe vor Augen. Es ist schon beinahe krankhaft bei mir.– 15

Es wäre also durchaus naheliegend, wenn sich dieses Feindbild im zeitgleich vorangetriebenen Opernprojekt niederschlüge. Hier ist die Gestalt des Moormann in unserem Zusammenhang zu untersuchen: Dieses Halbwesen aus Frosch und Mensch erscheint dem Helden erstmals im 1. Akt, als dieser räsoniert: »Wo plätschernd kühle Wasser geh’n, und selbst die Fröschlein im dunklen Moor heben die Köpflein und hüpfen hervor, zu starren mich an aus dem schwanken Rohr, mich anzuquarken [sic] im traulichen Chor.«16 Für den Helden unsichtbar ist der Moormann in dieser Szene zu Siegnot, der auf einem Plateau lagert, herangeklettert, ist – angezogen von der Schönheit des Liebesgartens – zu ihm in die Höhe gestiegen und äußert in kindisch stammelnden Worten, dass er dort hinein möchte. Siegnot kommentiert ihn: »Stammelnd und quarrend, ein borst’ges Fell, Plattfüße und Pfoten, wer bist du denn, wilder Gesell?« Hier lassen sich Parallelen zu Alberich ziehen, wie er im ersten Bild von Das Rheingold als unförmiger Lüstling versucht, sich den begehrten und überlegenen Wasserwesen zu nähern. Auch lassen sich Parallelen zu den vielen von Richard Wagner formulierten Vergleichen Alberichs/Mimes mit Fröschen und Kröten ziehen17 – gerade die beiden Nibelungen werden in der Wagnerforschung heute aber als jüdisch motivierte Charaktere diskutiert. Auch die ausdrücklich erwähnten »Plattfüsse« und »Pfoten« des Moormannes sind bei Judenkarikaturen verbreitet als ein Juden häufig 15 16 17

Brief Hans Pfitzner an Paul Cossmann vom 1.1.1898. Veröffentlicht in: Bernhard Adamy (Hg.): Hans Pfitzner Briefe, S. 68. Alle Zitate nach dem Klavierauszug: Hans Pfitzner: Die Rose vom Liebesgarten. Leipzig 1901. Vgl. hierzu: Marc A. Weiner: Antisemitische Fantasien. Berlin 2000, S. 120ff.

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zugeschriebenes Stigma, welchem Weiner in seinem Wagnerbuch ein eigenes Kapitel widmet. Richard Wagners Judenkarikaturen sind, so Weiner »nicht nur klein und haarig, habgierig und geil; sie sprechen und singen nicht nur mit nervöser Energie und hoher, nasaler Stimme; und sie verströmen nicht nur üble Gerüche, die mit Pech, Fürzen und Schwefel zu tun haben; nein, sie hinken auch besonders deutlich.«18 Nicht alle diese Merkmale treffen auch auf den Moormann zu, die sexuelle Komponente und der Geruch fehlen, doch Siegnot reagiert auf das erste Auftauchen des »wilden Gesellen« laut Regieanweisung mit »äußerster Befremdung«. Schnell erweist sich aber, dass der so negativ gezeichnete Moormann kompromisslos die Überlegenheit Siegnots anerkennt: »Du bist so schön, nun bin ich Dir Knecht, will nimmer von Dir geh’n.« bekennt das Sumpfwesen, bevor er Siegnots Hand küsst und sich »ihm zu Füssen kauert«. Der Moormann ist es dann auch (Ende des zweiten Aktes), der den geschlagenen Siegnot aufrichtet und von der Bühne führt, im dritten Akt aber – von seiner Angst getrieben – den schwer geprüften Helden verlässt und verabschiedet wird: »So lauf denn, guter Gesell! Im Fernen Wald lebe du friedlich und froh!« Als Statist darf der Moormann später den Leichenzug Siegnots zum Liebesgarten begleiten – ob er selbst darin Einlass erhält, bleibt offen, das Textbuch und die Regieanweisungen scheinen ihn vergessen zu haben. Musikalisch zeichnet sich der Moormann vor allem als Halbwesen aus – ihm ist, adäquat zu der Größe der Rolle, nur ein Motiv zugeordnet, welches ein zeitgenössischer Pfitzner-Musikologe wie folgt beschreibt: Das gutmütig-treue Element der Wald- und Wasserwesen repräsentiert der Moormann. Seine Figur, gemahnend an Hauptmanns Nickelmann in der ›Versunkenen Glocke‹, fordert zu musikalisch-humoristischer Charakterzeichnung heraus. Diese ist nun Pfitzner hervorragend gelungen. Man beachte die lautmalerisch hochinteressante, aber doch absolut musikalisch bleibende Drastik, welche die zwischen Stammeln und Gequak die Mitte haltende Sprache dieses Sumpfbewohners zeigt [...].19

Diese ungewöhnliche Sprechweise liegt in der tierischen Abstammung des Moormannes begründet, weist aber auch auf Richard Wagners Schrift Das Judentum in der Musik hin, die Pfitzner natürlich kannte. Hier heißt es: »Der Jude spricht die Sprache der Nation, unter welcher er […] lebt […] immer als Ausländer. […] Als durchaus fremdartig und unangenehm fällt unserm Ohre zunächst ein zischender, schrillender, summsender und murksender Lautausdruck der jüdischen Sprechweise auf […].«20

18 19

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Marc A. Weiner: Antisemitische Fantasien, S. 309. Roderich von Mojsisovics: Thematischer Leitfaden nebst Einführung in Hans Pfitzners romantische Oper ›Die Rose vom Liebesgarten‹ zum praktischen Gebrauche. Leipzig 1906, S. 38. Jens Malte Fischer: Richard Wagners ›Das Judentum in der Musik‹. S. 149–151.

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Der Moormann, als schwacher – aber gutartiger! – Tiermensch wird nie den Status des mutigen, von Zweifel und Angst unangefochtenen Helden Siegnot erreichen; nur als williger Helfer, als treuer, hündisch ergebener Diener ist er jenem nahe. Ihm ist nur eine geringe Weiterentwicklung vom niederen, tierhaften Wesen beschieden; diese erfolgt durch seine Unterwerfung und Willigkeit – man kann sich hier auch an den frühen Kolonialismus und (der Moormann lebt im Einklang mit seiner Natur und in Friedlichkeit) den Topos vom ›edlen Wilden‹ erinnert fühlen. Man würde Pfitzners Charakter sicher nicht gerecht, wenn man den Moormann als platte Darstellung von ihm befreundeten und stets hilfreich sein Wirken unterstützenden Juden – wie Paul Nikolaus und Lulu Cossmann, Bruno Walter, Willy Levin oder Arthur Eloesser – interpretiert. Der persönliche Verkehr mit seinem jüdischen Freundeskreis war sicher nicht von intellektuellem Überlegenheitsdenken des Komponisten und hündischer Unterwerfung der anderen geprägt. Doch vielleicht kann man in der Figur des Moormanns eine Art Empfehlung Pfitzners an kulturfremde, geistig scheinbar niedrigstehende Wesen erkennen, sich ihrer niederen, dienenden Funktion bewusst zu sein und die Helden der Zeit nach Kräften zu unterstützen: Der Held/der Künstler einerseits und der ›Untermensch‹/der Banause andererseits werden als unvereinbare Gegensätze in klarer Hierarchie gezeichnet. Einen bitteren Geschmack hinterlässt diese Beobachtung auf jeden Fall – und erinnert einmal mehr an Wagners antisemitische Hauptschrift, in welcher der Komponist generell allen Juden die Kompetenz, Kunst zu produzieren, abspricht und ihnen Erlösung durch Assimilation (›Untergang‹) empfiehlt.21 Bedenkt man, dass der mit antisemitischen Gefühlen bedachte Jude für Pfitzner eindeutig der Kulturfeind, der Antipode war, liegt in der gleichen Oper allerdings die Beschäftigung mit der Figur des Nacht-Wunderers näher. Ihren ersten Auftritt beschreibt die Szenenanweisung: Ein greller, roter Schein bricht aus dem Walde, gleich darauf erscheint auf dem untersten Plateau rechts der Nachtwunderer, ein in Purpur prangender, blondhaariger, aber schwarzfarbiger, stiernackiger Mann. Blitzgeschwind entfliehen die Waldvölker. Hinter ihnen her fegt mit grauser Behändigkeit ein Schwarm bewaffneter, barbarisch aufgeputzter Zwerge.

Diese Beschreibung böte einem tiefenpsychologischen Ansatz gewisse Nahrung, zumal gerade die Regieanweisungen sicher von Pfitzner maßgeblich beeinflusst wurden. Pfitzner war ein detailversessener Regisseur und – zumindest bei seinen eigenen Arbeiten – eiserner Vertreter der Werktreue. Er brachte noch 1940 eine – nur 7 Seiten umfassende – Regieanweisungs-Ergänzung zu Details seiner beiden Frühwerke heraus, wobei er klar stellte:

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Jens Malte Fischer: Richard Wagners ›Das Judentum in der Musik‹. S. 162ff und S. 173.

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Zwar ist in den letzterschienenen Klavierauszügen eigentlich alles schon genau angemerkt und vorgeschrieben, jedoch ist mir die Befolgung meiner Vorschriften so wichtig (genauso wichtig, wie dass die richtigen Noten gespielt werden), dass ich noch einmal im einzelnen betonen will, worauf es ankommt.22

Also ist es sicher kein Zufall, wenn diese als tiefer Bass angelegte Rolle in Stimmlage, Maske und Kostüm ausschließlich Elemente kennzeichnen, die Pfitzners eigener Persönlichkeit diametral entgegenstehen: Dunkle Haut- und Stimmfarbe, blondes Haar, offensichtlicher Reichtum und Herrschaftsanspruch (Purpurmantel) und eine virile, körperlich imposante Erscheinung, wie sie dem zierlichen Pfitzner nicht eigen war. Diese Dominanz einer riesenhaften Erscheinung unterstreicht den Nimbus des gefährlichen Feindes. Seine Wohnstatt im »hohlen Berg«, einer Tropfsteinhöhle von märchenhaften Reichtum und erleuchtet von »tausenden flimmernden, bunten Edelsteinen«, lässt Alberichs Nibelheim anklingen. Auch zu Klingsor, dem abgefallenen und verstoßenen Gralsritter aus Parsifal, oder Hunding (Walküre) könnte man Parallelen ziehen, da diese ebenfalls von einem moralisch überlegenen, wenn auch waffenlosen Helden besiegt werden. Tatsächlich ist der Nacht-Wunderer den positiv gezeichneten Elfen wie dem ›Edeling‹ Siegnot von Anfang an und grundlos feindlich gesinnt; sein erster Text gegenüber Siegnot lautet: »Deine Zeit ging um! Nun siegen Söhne der Nacht!«23 Die Rolle korrespondiert somit ihrer Anlage als Vertreter des Dunkels, als grundböse, tief und gefährlich – nicht in den Anforderungen an den Sänger oder dem Ambitus – mit anderen tiefen Basslagen wie z.B. Caspar (Freischütz), Hagen (Götterdämmerung) oder Sparafucile (Rigoletto). Bei Pfitzner – wie anderswo – ist ein tiefer Bass natürlich nicht gleichzusetzen mit einer schwarzen Seele, zum Beispiel hat auch Papst Pius IV im Palestrina die gleiche Stimmlage. Auch musikalisch ist der Nacht-Wunderer als Rivale und Antipode des Helden gestaltet und durch einige charakteristische Musikmotive gezeichnet: Die feindlichen Gewalten, die sich dem Streben des Helden hindernd in den Weg stellen, sind in der Person des Nachtwunderers (und seines Zwerggefolges) verkörpert. Die verschiedenen Phasen dieser feindlichen Tätigkeit sind je durch charakteristische Themen gezeichnet. [...] Das Hämisch-Spottende des Spottmotivs […] ist als ein Meisterstück musikalischer Darstellungskunst besonders hervorzuheben, es wird reich verarbeitet.24

Der unbezwingbare, sexuell als maßlos und brutal konnotierte Gegner, der unvermittelt angreift, niederzwingt und verspottet, der dem hellen Licht seine Dunkelheit entgegensetzt – hier scheint ein Alptraum zur Opernfigur umge22 23 24

Hans Pfitzner: Regie-Beispiele für die Opern ›Der arme Heinrich‹ und ›Die Rose vom Liebesgarten‹. Leipzig 1940, S. 2. Klavierauszug, S. 166. Roderich von Mojsisovics, S. 36.

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gossen worden zu sein. Spezifisch antisemitische Indizien lassen sich aber bei der Analyse des Nacht-Wunderers nicht belegen. Sicher wird das Wesen des Antisemitismus immer dadurch bestimmt, dass der Feind – der Andere – immer der Jude ist. Man denke nur an zahlreiche teuflische Pakte und menschenverachtende Bräuche, die im Volksglauben Juden zugeschrieben wurden. Aber generell jeden Opern-Bösewicht als Judenparaphrase zu kennzeichnen, wenn der Komponist Antisemit war, ginge zu weit und unterschlüge die dramaturgische Funktion des Gegenspielers als Motor der Handlung. Anders als Wagner ist Pfitzner bei der Rose vom Liebesgarten auch nicht Librettist seiner Oper, was die Analyse des Operntextes auf antisemitische Spuren hin zu erschweren scheint. Von James Grun ist wenig bekannt, und sein dichterisches Wirken scheint zeitlich wie qualitativ begrenzt gewesen zu sein. Verarmt diente er in späteren Jahren der Heilsarmee und starb in seinem 60. Lebensjahr an einem Verkehrsunfall.25 Zeitgenossen befanden die Rose – anders als den bei gleicher Autoren-Konstellation vorher entstandenen Armen Heinrich – oft als durch ein misslungenes Libretto um die Wirkung beraubt, wogegen sich Pfitzner klar äußerte: Die ›Rose vom Liebesgarten‹ verträgt keine schlechten Aufführungen, weil die Dichtung nicht so hanebüchen ist, daß sie ohne weiteres auf jeden Theaterpöbel wirkt. Aber ›Das Textbuch‹ ist eine Dichtung voll feinster Vorzüge, und das Ganze mit Musik ein Rausch und Traum, ein Werk, welches eben nicht in den Alltag gehört und bei liebloser Berührung allerdings stirbt. [...] Aber das Werk wird von der deutschen Gegenwart mit Knüppeln totgeschlagen, wofür in erster Linie verantwortlich zu machen ist das Gerede vom angeblich schlechten Textbuch, das in Wirklichkeit ein ausgezeichnetes ist. Allerdings wissen die Leute nicht, daß der Wortlaut zu sieben Achteln von mir ist.26

Letzteres ist sicher übertrieben – auch wenn natürlich der Komponist am parallel zu seiner Arbeit entstehenden Libretto, wie der Briefwechsel dokumentiert, lebhaft Anteil nahm. An anderer Stelle äußerte er sich geradezu verzweifelt über die Qualität seines Operntextes und verglich es mit dem zu Werbers Euryanthe, wollte aber seine Musik nicht zusammen mit dem missratenen Libretto zugrunde gehen sehen.27 25 26

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Walter Abendroth: Hans Pfitzner (Nachdruck). Aachen 1981, S. 75–76. Hans Pfitzner: Offener Brief an der Herausgeber der Zeitschrift Völkische Kultur in Dresden, Dr. Wolfgang Nufer. Nachgedruckt in: Gesammelte Schriften, Band 4, S. 264. »Glaubt man denn, dass Weber nicht die grossen dramatischen Mängel, ja absolute Lächerlichkeiten in der Charakterzeichnung der Figuren, die daraus entspringenden Unwahrscheinlichkeiten der Situationen, den liebenswürdigen Blödsinn der Dichtung der guten Helmine ganz durchschaut hätte? Aber die Musik, die er schon als reines Einfallsgut in reichlichster Weise an den Stoff verschwendet hatte, was sollte er mit der machen?« Hans Pfitzner im Zusammenhang mit der Rose in dem Artikel Wien, nicht näher bezeichneter Ausriss in der Handschriftensammlung der Staatsbibliothek München, Sammelbox Nr. 6 aus den Beständen der Pfitzner Gesellschaft.

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Dem jungen Opernkomponisten, der sich nach eigenen Worten gerade »als Antisemit ausgebildet« kann man also in diesem Frühwerk bestenfalls Spuren dieser Gedankengänge nachweisen. Es fallen allerdings Parallelen Siegnots zu der Situation des Komponisten ins Auge: Einsam und nach dem Höheren strebend ist hier jemand umgeben von einem niedrigen Wesen einerseits, das ihn nicht wahrhaft verstehen kann – aber aufopfernd dient – und einem bösen Gegenspieler andererseits, der ihn verderben will. So ähnlich könnte der latent monomane Pfitzner seine Situation im Kulturbetrieb der Jahrhundertwende tatsächlich erlebt haben. Aus völlig anderem Holz als die Jugendoper Die Rose vom Liebesgarten ist die Oper Das Herz, welche 30 Jahre später entstand. Hierfür hatte Pfitzner schon einiges an Erfahrung und Opernpraxis gesammelt und zielte darauf, leicht aufführbares, zeitgemäßes Musiktheater zu schaffen und so an sein Erfolgswerk Palestrina anzuknüpfen. Er ließ sich auch keinen qualitativ fragwürdigen Text mehr überstülpen, sondern setzte einerseits auf die LibrettistenQualitäten von Hans Mahner-Mons – damals ein erfolgreicher Vielschreiber – andererseits kümmerte er sich selbst um Details von Text und Regieerläuterungen, bis hin zur Diskussion, ob denn nun eine Figur in einer bestimmten Situation stehen oder sitzen sollte.28 Diese Zusammenarbeit zwischen dem gleichsam aus eigenem Entschluss gefesselten Dichterkomponisten (der ja das Libretto des Palestrina selbst geschrieben hatte) und seinem gemaßregelten Co-Autor musste wohl letztlich zum Fiasko und zum Bruch zwischen beiden Künstlern führen. Pfitzners biographische Situation war mit dem Tod seiner ersten Frau 1926 sehr unstet geworden. Der Komponist wirkt in den enthaltenen Briefdokumenten meist unglücklich und von drängenden Alltagsproblemen überfordert. Dennoch arbeitet er seit 1930 an der neuen Oper. Auf einen Brief bezüglich seines Verhaltens zum Judentum antwortet er einem Herrn vom Verein zur Abwehr des Antisemitismus in jenen Jahren: […] der Antisemitismus schlechthin und als Hassgefühl ist durchaus abzulehnen. Eine andere Frage ist, welche Gefahren das Judentum für deutsches Geistesleben und deutsche Kultur in sich birgt.29

Einmal mehr kann man anhand dieses Beispiels feststellen, dass Pfitzner sich treu bleibt. Das nahende ›Dritte Reich‹ hat ihn in seinem Antisemitismus zumindest nicht engstirniger werden lassen – aber auch ein Wandel seiner Anschauung wäre nicht zu belegen. Er bleibt bei seiner diffusen und ihren Ausformungen gleichsam maßgeschneiderten Judenangst aus der Sorge um deutsches Geistesleben und Kultur heraus – und letztlich aus Verantwortung für sein eigenes Wirken. 28 29

Hans Pfitzner an Hans Mahner-Mons in einem Brief vom 13.5.1931. Veröffentlicht in: Bernhard Adamy (Hg.): Hans Pfitzner Briefe, S. 544. Hans Pfitzner an einen unbekannten Adressaten, o.Dat. [Mai 1930]. In: Bernhard Adamy (Hg.): Hans Pfitzner Briefe, S. 520.

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In Das Herz versucht der Mediziner Daniel Athanasius einen verstorbenen Prinzen wieder zum Leben zu erwecken, indem er einem Dämon ein fremdes Herz opfert. Damit ist der Prinz für ein Jahr gerettet – danach verfällt dem Dämon das gestohlene Herz, und der Prinz muss sterben, wenn der Arzt nicht ein weiteres Herz opfert. Athanasius überschreitet aus wissenschaftlicher Neugierde und Geltungssucht die Grenzen der Ethik – opfert aber unwissentlich das Herz seiner eigenen Frau. Nach einem Jahr erkennt er die Konsequenz seines Handelns – und weigert sich, des Prinzen Leben weiter zu verlängern. Seine Frau, die er unwillentlich dem Dämon geopfert hat, ist nun eine Untote. Sie kann letztlich aber durch seine Bereitschaft, ihre Qual zu teilen, aus dem Zwischenstadium zwischen Leben und Tod befreit werden. Beide sterben erlöst. Das Herz ist dramaturgisch wie musikalisch zweifellos das zeitgemäßeste von Pfitzners Opernwerken und weist Gemeinsamkeiten mit z. B. Der ferne Klang (Schreker 1912) oder Die tote Stadt (Korngold 1920), vor allem aber mit dem Doktor Faust seines einstigen Gegners Ferruccio Busoni (Entstehungszeit 1914–1924, unvollendet) auf – wenn auch gerade in den zwanziger und dreißiger Jahren mit der Zeitoper schon wieder ganz andere Tendenzen auf der deutschen Opernbühne en vogue waren. Hier versucht der sonst so konservative Pfitzner neue, zeitgemäße Wege – so zum Beispiel, wenn er eine Sirene und einen Lautsprecher in seine Partitur aufnimmt, was sich zu dem Ort der Handlung, einer süddeutschen Residenz um 1700 etwas ungewöhnlich ausnimmt. Das Herz erlebte in der Nachkriegszeit immerhin drei Inszenierungen (Dortmund 1954, Rudolstadt 1993, Würzburg 2004). Peter P. Pachl, als Regisseur der verdienstvollen, wenn auch durchaus umstrittenen Wiederaufführung in Rudolstadt, die auf CD dokumentiert und somit grundlegend für die weitere Rezeption ist, ging in seiner Deutung davon aus, dass Daniel Athanasius jüdischer Wundarzt war. Diese Interpretation führte zu kontroversen Diskussionen – und trifft den Kern der hier gestellten Thematik. Pachl leitet die jüdische Identität der Hauptfigur von drei Argumenten ab: Dem alttestamentarischen Vornamen,30 der historischen Häufigkeit berühmter jüdischer Ärzte und der Wanderschaft, auf der sich diese Opernfigur befindet (vgl. Ahasver). In der Publikumsdiskussion des damals veranstalteten Symposiums wurde dem Regisseur vom Dirigenten der Aufführung, Rolf Reuter, vorgeworfen, er verquicke seine eigene Interpretation unzulässig mit dem Werk Pfitzners, wo sich nirgends ein Indiz für die Glaubenszugehörigkeit des Doktors fände.31 30

31

»Hebräisch Daniel heißt auf Deutsch ›Gott ist mein Richter‹, und das hat natürlich ganz entscheidend mit dieser Figur zu tun. […] Ich glaube, dass es aus einer großen Tradition kommt. Ob das jüdisch ist oder nicht, dazu kann man vielleicht noch anderes sagen.« So Pachl in: Peter Cahn und Wolfgang Osthoff (Hg.): Hans Pfitzner – ›Das Herz‹ und der Übergang zum Spätwerk. Bericht über das Symposium Rudolstadt 1993. Tutzing 1993, S. 114. Cahn und Osthoff (Hg.): Hans Pfitzner – ›Das Herz‹, S. 111.

Worte oder Werke?

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Der Name ›Athanasius‹ – der übrigens in der Oper durchgängig gebraucht wird, während ›Daniel‹ nur im Personenverzeichnis zu finden ist – könnte allerdings wirklich auf Ahasverus anspielen, er bedeutet im griechischen ›der Unsterbliche‹. Unter diesem Namen kennt man einen frühen ägyptischen Kirchenvater aus dem 4. Jahrhundert und den tschechischen Astronom und Mathematiker Josef Langer (1650–1711), der Athanasius als Ordensnamen trug. Die christliche Legende vom ewigen Juden Ahasverus ist dagegen 1602 erstmals nachgewiesen und erzählt von einem Schuster, der dem nach Golgatha gezwungenen Jesus von Nazareth eine Ruhepause auf seiner Türschwelle verwehrte und deshalb verflucht wurde, bis zur Rückkehr Jesus’ am Ende der Welt nicht sterben zu können. Seither befindet er sich auf ruheloser Wanderschaft durch die Zeiten – sein weibliches Gegenstück bei Richard Wagner ist Kundry (Parsifal). Die Parallele der beiden ›Unsterblichen‹ Ahasver und Athanasius liegt in der Getriebenheit – schon im ersten Satz der Inhaltsangabe im Textbuch der Oper wird auf das Reiseleben des Mediziners Bezug genommen: »Der reisende Arzt Athanasius hat sich für einige Zeit in der Residenz eines süddeutschen Herzogtums niedergelassen.«32 Wie weit sich seine Reisen erstrecken, klingt an, wenn er angibt, geheimes Wissen in Ägypten erworben zu haben. Aber es wird auch – und zwar bereits in der ersten Szene gleich zweimal – sein religiöses Sendungsbewusstsein deutlich: »Ich diene Gott allein; und gegen Gott kann ich und will nicht helfen.« Tatsächlich ist die Figur des inkriminierten Athanasius von eher Faust’scher Dimension: Einsam, begabt und von übermenschlichem Wissen verführt, will er sich über Gottes Ratschluss erheben, überschreitet Grenzen, wird schuldig an einer Unschuldigen – und wird bestraft, letztlich aber dann doch erlöst. Die ›Gretchenfrage‹ scheint jedoch an keiner Stelle des Librettos auf: Über die Religionszugehörigkeit des Opernhelden schweigen Librettist und Komponist. Für Pfitzner war die Thematik der Oper sicher von biographischer Brisanz, hatte doch der unerwartete Tod seiner ersten Frau ihm eine große Lücke gerissen; noch 1934 betonte er gegenüber seiner Meisterschülerin und Geliebten Lilo Martin: »Du weißt, dass ich längst, seit 8 Jahren, nicht mehr gern lebe, das ist jetzt so gesteigert, dass es mir zum täglichen Problem wird.«33 Vielleicht identifizierte er sich selbst mit seiner Hauptfigur, die er abgesehen von ihrer Hybris und Verfehlung als ernsten Denker, als positiven, einsamen und liebenden Helden zeichnete. Auch hatte Pfitzner wohl eher gute Erfahrungen mit dem Berufsstand der Ärzte gesammelt, wie beispielsweise seine Briefe an den Mediziner Hans Albrecht belegen, der seine Gattin bis zu deren Tod behandelt hatte und dem der Komponist später schrieb: »[…] ich weiß, dass die grausame Natur der ärztlichen Kunst Grenzen steckt, und dass Hilfe 32 33

Hans Mahner-Mons: Das Herz. Drama für Musik in drei Akten (vier Bildern), Musik von Hans Pfitzner. Berlin 1931, S. 7. Hans Pfitzner an Lilo Martin am 23.8.1934. In: Bernhard Adamy (Hg.): Hans Pfitzner Briefe, S. 681.

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unmöglich war, da Sie sie nicht bringen konnten, der der Toten nicht nur Arzt sondern auch warmer Freund war.«34 Wenn der Arzt Athanasius eine Judenfigur in Pfitzners Werk wäre, dann eine, die bei aller Zerrissenheit positiv gezeichnet ist und zugleich ein Selbstporträt des Komponisten abgeben könnte. Was gegen ein solches Judenporträt spräche – wäre Pfitzners eigenes Judenbild. So ist abschließend zusammenzufassen, dass Pfitzner zwar – weidlich bekannt – als Privatperson wie als Musikschriftsteller antisemitische Tendenzen vertrat (und dabei mit Juden befreundet sein konnte), dass in seinem Werk jedoch Rollen, die als Judenporträts angelegt sind, nur im Falle des ›Moormanns‹ denkbar sind. Gerade hier erschwert jedoch die Vermischung zwischen den Intentionen Pfitzners und den starken Vorbildern der Wagnerschen Figuren eine deutliche Distinktion. Der von Pfitzner – durchaus auch antisemitisch – kritisierte Paul Bekker reagierte in den 30er Jahren mit einem offenen Brief auf die Schmähungen des von ihm vielfach geförderten Komponisten und setzte einen Schlussstrich unter seine persönliche Beziehung zu Pfitzner, ohne dabei seinen Einsatz für dessen Werk zu reduzieren: Sie haben Krieg gemacht, mutwilligen Krieg und wofür? Für Unterschiede von Nasen nicht von Geistern. […] So bauen wir alle an der unsichtbaren Kirche, auch Sie. Die einzige Kraft aber, die bauen hilft, ist die schöpferische Tat. Die aber sagt bei Ihnen ganz anderes aus als Ihre Lehre. Die stellt Sie mitten unter die Zeitgenossen, die Sie mit Worten bekämpfen. Ich finde, daß Ihre Werke nicht Ihren Lehren und Ihre Lehren nicht Ihren Werken entsprechen. Was soll nun gelten, Worte oder Werke? Ich entscheide mich für die Werke.35

34 35

Hans Pfitzner an Hans Albrecht am 1.5.1926. In: Bernhard Adamy (Hg.): Hans Pfitzner Briefe, S. 433. Paul Bekker: Briefe an zeitgenössische Musiker. Berlin 1932, S. 89–90.

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Im Schatten Mimes? Jüdische Opernkarikaturen in Richard Strauss’ Salome und Ferruccio Busonis Die Brautwahl

Den prägenden Hintergrund für die neue Dimension der Judenfeindschaft im 19. Jahrhundert bildet bekanntermaßen der Versuch der jüdischen Emanzipation, u.a. durch die Gesetzgebung Josephs II. von Österreich und die Reformen des preußischen Staatsrates Dohm am Ende des 18. Jahrhunderts, sowie die heftige Gegenreaktion der Emanzipationsgegner. Letztere versuchen, die Andersartigkeit der Juden nicht länger in ihrer Konfession, sondern anthropologisch begründbar zu machen.1 Freilich dominierte die Vorstellung, Juden sähen anders aus schon seit Jahrhunderten – obwohl die Realität dieser Imagination immer mehr Widerstand entgegensetzte. Judenhut, Judenstern, die Ghettos des Mittelalters, die Tätowierungen in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten etc. sind der Versuch den als unheimlich empfundenen, nicht wahrnehmbaren Unterschied von Juden und Nicht-Juden zu markieren.2 Auch die Bühne wird im Zuge dieser Konstruktion ein Ort für die Kontrastierung von fremd und eigen, der Entwurf einer irrealen Welt innerhalb derer das Judentum sichtbar, andersartig und krank erscheint. Die Wirklichkeit, auch die der Opernszene, sieht anders aus: Der Opernbetrieb ist geprägt von den Erfolgen eines Europäers, eines »Weltenbürgers« jüdischer Herkunft, Giacomo Meyerbeer, der hier nicht nur aufgrund seiner künstlerischen Bedeutung erwähnt werden muss, sondern auch wegen seiner Rolle als die Projektionsfläche aller antisemitischen Stereotype Richard Wagners, dem wiederum nicht nur für die Geschichte des Antisemitismus allgemein, sondern auch für die Frage nach karikierten Judenfiguren auf der Opernbühne entscheidende Bedeutung zukommt. Ferner muss die obige pauschale Diagnose bezüglich der auf der Bühne entworfenen negativen Andersartigkeit des Judentums noch differenziert werden. So erweist sich z.B. das Genre der Bibeloper zunächst als weitgehend frei von solchen Tendenzen, und eine künstlerische Ausnahmeerscheinung wie der jüdische Komponist Fromental Halévy zeichnet mit seinem Librettisten

1 2

Vgl.: Gunnar Och: Imago judaica. Juden und Judentum im Spiegel der deutschen Literatur 1750–1812. Würzburg 1995, S. 10f. Vgl.: Sander L. Gilman: »Der jüdische Körper«. In: Julius H. Schoeps/Joachim Schlör (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, S. 167–179. Frankfurt a. M. 1995, S. 177.

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Eugène Scribe in der Oper La Juive die Figur des Éléazar, die aufgrund ihrer Ambivalenz die wohl bedeutsamste Judenfigur der Operngeschichte darstellt.3 All dies kann aber den Befund eines sich auch auf der Musiktheaterbühne widerspiegelnden Manie zur Markierung des Judentums als negativ Fremden nur eingeschränkt relativieren. Die »jüdische Assimilation« führt bei den Emanzipationsgegnern zu einer als bedrohlich empfundenen Irritation, welche sich im Versuch einer Verortung des Judentums im geographisch fremden Raum Bahn bricht: Mir scheint es offenkundig, dass die Juden überall auf der Welt das Zeichen ihres Vaterlandes, des Orients, auf sich tragen. Ich meine ihr kurzes, schwarzes, lockiges Haar. Ihre schnelle Sprache, ihre brüsken und jähen Bewegungen entstammen derselben Quelle.4

postuliert J.M.R. Lenz. An nicht weniger prominenter Stelle, bei Arthur Schopenhauer heißt es: Ihre Religion, von Hause aus mit ihrem Staate verschmolzen und Eins, ist dabei keineswegs die Hauptsache vielmehr nur das Band, welches sie zusammenhält, der point de ralliement und das Feldzeichen, daran sie sich erkennen. Dies zeigt sich auch daran, daß sogar der getaufte Jude, keineswegs, wie doch sonst alle Apostaten, den Haß und Abscheu der Uebrigen auf sich ladet, vielmehr, in der Regel, nicht aufhört, Freund und Genosse derselben, mit Ausnahme einiger Orthodoxen zu seyn und sie als seine wahren Landsleute zu betrachten. [...] Demnach ist es eine höchst oberflächliche und falsche Ansicht, wenn man die Juden bloß als Religionssekte betrachtet: [...] Vielmehr ist »Jüdische Nation« das Richtige. [...] sie sind und bleiben ein fremdes, orientalisches Volk, müssen daher stets nur als ansässige Fremde gelten.5

Die (proto-)antisemitischen Argumente koppeln sich also mit einer Verortung der Juden in einem ihnen zugewiesenen fremden Ort, dem Orient. Für die Diskussion jüdischer Opernfiguren wird dieses Argument im weiteren Verlauf der Argumentation, besonders hinsichtlich der musikalischen Kennzeichnung des Judentums, nachhaltige Relevanz gewinnen. Die neue Fiktion eines Judenbildes verbindet alte Paradigmen des Judenhasses mit aktuellen Stereotypen: einem dem jüdischen Körper seit langem eingeschriebene Hässlichkeit wird z.B. kombiniert mit den Phantasma vom Schacherjuden, der nun als finanzstarker Weltherrscher erscheint. Dies gilt – wie etwa Busonis Die Brautwahl illustriert – auch für die Oper. Für den visuellen Entwurf eines Judenbilds bedeutsam werden im 19. Jahrhundert Bilderbögen, Medien, die nun aufgrund neuer Stich- und Druckverfahren auch größere 3 4 5

Vgl. hierzu den Beitrag von Sieghart Döhring in diesem Band. J.M.R. Lenz zit. in: Johann Caspar Lavater: Physiognomisches Fragment zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Bd. 3. Leipzig 1775–1778, S. 98. Arthur Schopenhauer: »Parerga und Paralipomena, Bd. 2, Abt. Kap. IX: Zur Rechtslehre und Politik §133«. In: Julius von Frauenstädt (Hg.): Arthur Schopenhauers sämtliche Werke, S. 281. Leipzig 1919. Vgl. auch: Henry Walter Braun: Schopenhauer und das Judentum. Bonn 1975.

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Schichten der Bevölkerung erreichen und somit die bildliche Vorstellung »vom Juden« mitprägen. Dementsprechend finden sie Eingang in den Produktionsprozess auf den Bühnen. Innerhalb dieser bildlichen Darstellung gewinnt ihrerseits die Karikatur besondere Bedeutung: Karikaturzeitschriften wie die Fliegenden Blätter mit Auflagen von bis zu 80000 Exemplaren6 publizieren polemisch-satirische Darstellungen von Juden, die dem geschilderten Phänomen folgen, eine Abgrenzung des Juden vom »normalen« Bürger zu zeichnen. Peter Dittmar formuliert allerdings, dass die Darstellung der Juden »unter Verwendung karikaturaler Mittel im Rahmen der Genrezeichnung« verblieb.7 In der Entstellung [...] war das Genrebild für die Strategie der Verunglimpfung besonders geeignet. Auf der Basis einer zeichnerisch reicheren Ausgestaltung stachen Verzerrungen, Verhässlichung auffallend ab. Nicht die Loslösung vom Naturbild, wie bei der Karikatur, sondern die stete Suggestion der nähe zu diesem, die dezidiert nicht-artistische Gestaltungsweise war für die antijüdische Satire Bedingung. Sie wollte eine Illustration der Realität sein.8 Man mag verwundert sein, dass dieser Anspruch auf Realität auch im Musiktheater seine Entsprechung findet. Um so mehr als an dieser Stelle Richard Wagner genannt werden muss, insbesondere mythische Figuren wie die des Mime aus dem Ring des Nibelungen. Es soll hier nicht unterschlagen werden, dass die Diskussion, ob beispielsweise Mime eine von Wagner entworfene Judenkarikatur ist oder nicht, kontrovers anhält.9 Ebenso wenig soll dieser Diskurs aber hier erneut aufgefächert werden, zumal er einer eindeutigen Beantwortung enormen Widerstand entgegensetzt. Hier erscheint aber die Rezeption als das entscheidende Argument. [...] diese Gestalt [Mime] [ist] die leibhaftige, von Wagner gewollte Persiflage eines Juden [...] (in allen Zügen, mit denen er sie ausstattete: der kleinlichen Gescheitheit, Habsucht und dem ganzen musikalisch wie textlich vortrefflichen Jargon) [....].10

schreibt Gustav Mahler. In diesem Zitat Mahlers finden sich konzentriert die zentralen Elemente, welche für die Karikatur jüdischer Figuren auf der Opernbühne ausschlaggebend sind. Erstens: Die persiflierenden Stereotype werden als ›leibhaftig‹, also realistisch angesehen und zwar durchaus auch von einem großen Teil der jüdischen Bevölkerung. Man kann das »Jüdische vortrefflich« darstellen, das heißt mit den geeigneten Mitteln hohe Authentizität erreichen. 6

7 8 9 10

Vgl.: Peter Dittmar: »Die antijüdische Darstellung«. In: Julius H. Schoeps/Joachim Schlör (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, S. 41–53. Frankfurt a. M. 1995, S. 48. Ebd., S. 49. Ebd. Vgl. den Beitrag von Ulrich Drüner in diesem Band. Gustav Mahler am 23.9.1898. Zit. nach: Herbert Killian: Gustav Mahler. In den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, mit Anmerkungen und Erklärungen von Knud Martner, rev. u. erw. Ausg. Hamburg 1984, S. 122.

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Zweitens: Es wird für diese realistische Darstellung ein den Juden eigener ›Jargon‹ angenommen, sowohl auf ›textlicher‹ wie auf ›musikalischer‹ Ebene. Drittens: Richard Wagner hat diesen Code mit der Figur des Mimen als gewollte Persiflage umgesetzt. Hier muss darauf hingewiesen werden, dass zwar Wagners Antisemitismus in nicht unerheblichem Maße für eine neue antisemitische Prägung breiter Kreise bedeutsam war, jedoch ist seine Instanz als Künstler, als Vorbild, als ›Meister‹ über diese Kreise hinaus von nahezu absoluter Bedeutung. Die Zeit nach Wagner wird nicht umsonst als die Zeit des ›Wagnerismus‹ bezeichnet. An Wagner kommt keiner vorbei, seien es die treuen Wagnerianer, die ihrem Vorbild offen nacheifern, seien es die Reformer, die neue Konzepte für das Musiktheater jenseits der etablierten Modelle Wagners propagieren.11 Zirkulierende antijüdische Stereotype verbinden sich auf der Bühne des Musiktheaters also mit einer modellhaften Vorgabe eines Codes zur karikierenden Darstellung von Juden. Ob Wagners Mime wirklich die »gewollte Persiflage eines Juden« ist, erscheint dabei nur von zweitrangiger Bedeutung. Denn die rezeptionelle Zuschreibung bestimmt unabhängig davon die Mittel zur idealen Judendarstellung auf der Opernbühne. Gerade die musikalische Charakterisierung der Figur des Mimen schreibt sich als Vorbild in den Diskurs der jüdischen Karikatur auf der Opernbühne ein und zwar keineswegs nur in den der Wagnerianer. Zwei Komponisten sollen im Folgenden exemplarisch diese Diagnose illustrieren: Der sich aus der Tradition Wagners verstehende Richard Strauss und Ferruccio Busoni, der u.a. mit seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst12 dem Konzept des Wagnerschen Musikdramas eine klare Absage erteilt. Obwohl sich beide Komponisten in ihrer Auffassung von einer idealen Oper diametral widersprechen, wird sich im Folgenden zeigen, dass ihre Mittel zur Zeichnung jüdischer Figuren in enger Verwandtschaft stehen, und dass diese Mittel wiederum dem etablierten Code entsprechen. Ich hatte schon lange an den Orient- und Judenopern auszusetzen, daß ihnen wirklich östliches Kolorit und glühende Sonne fehlt. Das Bedürfnis gab mir wirklich exotische Harmonik ein, die besonders in fremdartigen Kadenzen schillerte, wie Changeant-Seide.13

11

12

13

Vgl. zum Phänomen des Wagnerismus v.a.: Jens Malte Fischer: »Im Schatten Wagners. Aporien und Auswege der nachwagnerischen Opernentwicklung«. In: Udo Bermbach (Hg.): Oper im 20. Jahrhundert. Entwicklungstendenzen und Komponisten. Stuttgart/Weimar 2000 S. 28–49. Vgl.: Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Mit Anmerkungen von Arnold Schönberg und einem Nachwort von H.H. Stuckenschmidt. Frankfurt a. M. 1974. Richard Strauss: Betrachtungen und Erinnerungen. Hg. von Willi Schuh. Zürich 1949, S. 224

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Richard Strauss’ Aussage offenbart auf den ersten Blick die bereits beschriebene phantasmatische Verortung der Juden im Orient. In Strauss’ Salome wird die Titelheldin und ihre ganze Umgebung musikalisch im allgemeinen mit komponierten Orientalismen charakterisiert, während der Prophet Jochanaan den harmonischen ›westlichen‹, diatonischen (also den herkömmlichen Duroder Molltonleitern folgend) Musiziermodellen verhaftet bleibt. Der Protagonistin wird somit die exotische, dem Protagonist die – zumindest musikalisch – vertraute Hemisphäre zugeschrieben. Diese kompositorische Kontrastdramaturgie illustriert zwar, dass Exotismus und Fremdenfeindlichkeit nur zwei Seiten einer Medaille sind, schließlich erscheint nahezu die gesamte orientalisch charakterisierte Welt von perverser Dekadenz geprägt, die dem christlichen Repräsentanten des Täufers gegenübersteht, eine Karikierung oder Persiflage jüdischer Figuren enthält sie a priori freilich nicht. Die Karikatur findet sich jedoch im so genannten ›Judenquintett‹ und in der Figur des Herodes. Strauss selbst spricht ausdrücklich von einer »Orient- und Judenoper«. Sein Anspruch auf Authentizität der Orientdarstellung findet seine Entsprechung auch in der intendierten Realbindung der Karikatur. Reaktionen etwa auf die Münchener Aufführung der Salome unterstreichen diesen Eindruck. So heißt es im Bayerischen Kurier wie folgt: Der glänzenden Kolorierung und Zeichnung des in Paradoxen sich äußernden Delirium des unsteten Herodes, die plastische Gestaltung des Religionsstreites der Juden [...] wird gewiß jedermann das gebührende Verständnis entgegenbringen.14

Der Religionsstreit der Juden spielte durchaus schon in Strauss’ Vorlage von Oscar Wilde wiederholt eine Rolle. Sicherlich auch aus dramaturgischen Gründen destilliert Richard Strauss die Auftritte der Juden des Wilde-Stückes zu einer Szene, abgesehen von der Einganssequenz der Oper, wo der Streit der Juden von hinter der Bühne hereindringt. Der erste Soldat fragt darauf seinen Kameraden: »Was sind das für wilde Tiere, die da heulen?« Die Antwort lautet: »Die Juden. Sie sind immer so. Sie streiten über ihre Religion.«15 Dazu ist in der Partitur zur musikalischen Charakterisierung hier »herunterschleifen« und »heulend« angegeben. Die Reduktion der Nebencharaktere, insbesondere der Juden und ihrer Diskussionen, verstärkt zwangsläufig das Unverständnis für ihren Religionsdisput und macht das ›Judenquintett‹ der Salome zur Karikatur. Erreicht wird dieser Eindruck vor allem durch die Komposition dieser Szene. Die Musik der Juden ist Kakophonie, »mit fast atonalen Klanggebärden, die sich wie ein mittlerer Verkehrsunfall anhören«,16 die Besetzung der 14

15

16

Bayerischer Kurier vom 27.11.1906. Zit. in: Ragnhild Gulrich: Exotismus in der Oper und seine szenische Realisation (1850–1910). Unter besonderer Berücksichtigung der Münchener Oper. Salzburg 1993, S. 239. Richard Strauss: Salome. Musikdrama in einem Aufzuge nach Oscar Wildes gleichnamiger Dichtung. In deutscher Übersetzung von: Hedwig Lachmann: Orchesterpartitur. Mainz o.J. 1933, Orchester-Partitur, S. 7ff. Vgl.: Matthew Boyden: Richard Strauss, S. 286.

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Stimmen liegt jenseits einer ausgewognen Balance. Vielmehr besetzt Strauss eine ›unsangliche‹ Kombination, mit einem radikalen Übergewicht hoher Stimmen: Die fünf Juden werden gesungen von vier hohen Tenören und nur einem Bass, ganz im Gegensatz dazu steht das ausgewogene Stimmverhältnis der an Christus glaubenden Nazarener mit einem Tenor und einem Bass, deren Melodik natürlich auch in starkem Kontrast zum zänkischen Triolen-Motiv der Juden steht. Sander L. Gilman hat bezüglich der musikalischen Zeichnung der Juden in Salome Strauss’ Diktum von der »Orient- und Judenoper« zum Ausgangspunkt seiner Argumentation genommen: It is important to note the hyphenated phrase, »Orient- und Judenoper«. Strauss, writing as late as 1942, acknowledges that he was writing a ›Jewish‹ opera. Other works in this genre, Biblical operas such as Verdi’s Nabucco (1842) and SaintSaens’s Samson and Dalila (1877), or post-Biblical representations of the Jews such as Halévys La Juive (1835), lacked the orientalism which Strauss understood as necessary for a ›Jewish‹ topic.17

Der musikalische Exotismus der Salome ist somit auch maßgeblich auf die Judenfiguren der Oper zu beziehen. Bringt man dies mit Strauss’ Authentizitätsanspruch, den Orientalismus der Salome betreffend, zusammen, so sind die orientalischen Juden die wirklichen Juden, beziehungsweise sie verkörpern das wahre Wesen der Juden, die ihrer Assimilation an die westliche Welt demaskiert sind. Die Bühne kann also die nur vage begründbare Differenz zu den Juden der Lebenswirklichkeit um 1900 im exotischen Orient der Handlung, in der als real imaginierten Judendarstellung, sichtbar machen. Zugleich transportiert der biblische Topos noch ganz selbstverständlich die alten antijüdischen Klischees vom Christusmord,18 eingebettet in das exotische Ambiente Jerusalems zur Zeit des Messias. Und das Zitat aus dem Bayerischen Kurier anlässlich der Münchener Aufführung von 1906 bescheinigt dieser Projektionsfläche »plastische Gestaltung«, illustriert somit, dass das Judenbild von Salome als ebenso realistisch empfunden wurde wie der übrige exotistische Zauber, den Strauss in seiner Oper entfacht. Der ›Jargon‹, den der Komponist seiner Pharisäergruppe unterlegt, kann dabei nicht als schon von Wilde intendiert angesehen werden. Dieser Jargon stellt vielmehr operngeschichtlich insofern ein Novum dar, als orientalisierende Tonsprache bisher nicht für biblische oder postbiblische Opernfiguren Verwendung fand, wie Sander L. Gilman konstatiert. Ferner erfolgt in der musikalischen Zeichnung der Salome eine Identitätsherstellung zwischen Herodes19 und den Juden. Von besonderer Auffälligkeit ist dabei die angesprochene Besetzung mit außergewöhnlich hohen Stimmen für die Juden sowie für den Herodes. Die musikalische Situierung der Juden im 17 18 19

Sander L. Gilman: »Strauss, the Pervert, and Avant Garde Opera of the Fin de Siècle«. In: New German Critique 43, S. 35–68 (1988) und S. 39. Vgl.: Richard Strauss: Salome. Orchester-Partitur, S. 153–154. Vgl.: Peter Conrad: Romantic Opera and Literary Form. Berkley 1977, S. 147.

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Exotismus sowie die Demaskierung ›des jüdischen Wesens‹ an ihrem orientalisierten Herkunftsort, reicht für die »Orient- und Judenoper« scheinbar nicht aus. Hier offenbart sich eine in der Tradition von Antijudaismus und Antisemitismus verankerte Suche nach sichtbarer bzw. nachweisbarer Differenz zum Judentum. Salome trägt nicht nur das Argument des althergebrachten Vorwurfs vom Gottesmord, hier verschoben auf den Prophet Christi, Jochanaan, legt nicht nur eine Fremdartigkeit der Juden durch Exotismen und Orientalismen bloß, sondern versucht, über die Singstimme dem jüdischen Körper selbst eine Andersartigkeit einzuschreiben. Hier spiegelt sich die fingierte Ähnlichkeit von Perversität und Judentum: Der jüdische Beschneidungsritus wurde im antijüdischen Diskurs schnell mit Unmännlichkeit und Kastration identifiziert. Die Stimmen des Judenquintetts, dessen höchster Ton bis zum ›h‹ reicht, repräsentieren den beschnittenen und als kastriert gedachten Juden. Zugleich schimmert dadurch in Salome der Konnex zur Debatte des Zusammenhangs zwischen Anti-Homosexualität und Antisemitismus auf: The highest note in that quintet is on the word »beschnitten«, circumcised. The late 19th century associated the act of religious circumcision with the act of castration, the unmanning of the Jew by making him a Jew. And the high pitched note used by Strauss pointed toward that association as well as toward the link between the Jews’ discourse and that of the homosexual, the feminized male.20

Juden und Herodes, der seines Bruders Frau in sein Bett holt und seine Nichte begehrt, teilen sich also die Zuschreibung »pervers«. Konsequenterweise versieht Strauss beide mit ähnlicher musikalischer Charakteristik. Das Exotische der Salome dient zwar zur Befriedigung verdrängter erotischer Implikationen, wird aber zugleich implizit als pervers etikettiert. Das Judenquintett, die Musik des Herodes, aber auch die Motive der pubertierenden Salome, die ›perverse‹ sexuelle Erfüllung beim abgetrennten Haupt des Täufers sucht, repräsentieren mit ihrer orientalisierenden Komposition daher auch die Sphäre des Abartigen. Und abartig sind in der »Orient- und Judenoper« beinahe alle, außer Jochanaan, dessen Konformität zur christlich westlichen Norm durch Strauss Komposition herausgestellt wird. Strauss Salome löst sich hier nicht erst in der Rezeption vollständig von Wildes Vorlage. Spezifisch für diese Loslösung ist die ›jüdische‹ Imprägnierung von Figuren durch musikalische Mittel. Mag der Rückgriff auf Verfahren wie die überhohe Tessitura jüdischer Charaktere bei einem Künstler, der sich durchaus in der Nachfolge Wagners sieht, noch nicht allzu sehr verwundern, so ist dieser Befund bei Ferruccio Busoni geradezu frappierend. Mit Die Brautwahl präsentiert Busoni 1912 eine Vertonung der gleichnamigen Erzählung von E.T.A. Hoffmann. Für die Beschreibung der Judenfigur des Manasse, eine Inkarnation Ahasvers, des Ewigen Juden, zitiert Busoni in seinem Libretto Hoffmann:

20

Sander L. Gilman: Strauss, the Pervert, and Avant Garde Opera, S. 57.

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– die tief eingefurchten Züge seines Antlitzes zeugten von sehr hohem Alter. Sein Blick war stechend, nur der stattliche Bart verriet den Juden, der alter Sitte und Gewohnheit treu geblieben. Dabei war er sehr altfränkisch, ungefähr wie man sich im Jahr 1720 bis 30 trug, gekleidet; und daher mocht es wohl kommen, daß er aus längst vergangener Zeit zurückgekehrt schien.21

Abgesehen vielleicht vom stechenden Blick oder dem Bart finden sich keine wirklichen dem jüdischen Körper eingeschriebenen Differenzzeichen, obwohl »aus längst vergangener Zeit zurückgekehrt« freilich auf den Mythos vom Ewigen Juden verweist. Dafür wird Manasse mit musikalischen Mitteln als Jude markiert, und diese Mittel entsprechen denen von Richard Strauss. Exemplarisch zeigt sich dies in der Verwandlungsmusik zur fünften Szene des ersten Aktes, in der Manasse erstmals auftritt. Mit düsteren Farben schildert das Orchester hier das dunkle Wesen Manasses; Beaumont vertritt diesbezüglich die These, Busoni hätte hier jüdische Musik verarbeitet: »The orchestral introduction, which Busoni based entirely on old Jewish melodies, paints a dark picture of Manasse.«22 Auch wenn der Autor hier keine originär jüdische Musik erkennen kann, die Melismen und Orientalismen entsprechen dem, was als Code im europäischen Vorstellungsbild jüdischer Musik zirkuliert. Die Ahasver-Gestalt Manasse, in der sich traditionelle antijüdische Stereotype wie Satansbund und Fälschertum mit ›modernen‹ wie Kapitalismus verbinden, die sogar als Konzertballade ausgekoppelt werden,23 ist als jüdische Opernfigur eine höchst interessantes Beispiel – eine Karikatur ist sie jedoch nur sehr bedingt. Denn als dämonischer Antagonist und mythische Ahasver-Figur besitzt Manasse eine Größe, deren Funktion einer Persiflage zuwiderliefe. Über die Partitur schleicht sich hinsichtlich des Manasse in Die Brautwahl zwar ein antisemitischer Subtext ein, der über die antijüdischen Elemente der Romantik aus der Hoffmann-Vorlage hinausgeht, der musikalische Orientalimus erscheint jedoch in seinem Gebrauch – wie schon bei Strauss – weniger als ein verfremdendes Element, als vielmehr ein Instrument, die ›wahre‹ Hemisphäre der Juden, den Orient, hörbar zu machen. Die Musik schreibt hier jenseits der negativen Charakterzüge dem jüdischen Köper eine Differenz vom eigenen ein. Jenseits der Musik Manasses, die den assimilierten Juden – Manasse befindet sich ja immerhin seit mindestens 1570 in Berlin24 – wieder in den fernen 21 22 23

24

Ferruccio Busoni: Die Brautwahl. Musikalisch phantastische Komödie in drei Akten und einem Nachspiel nach E.T.A. Hoffmanns Erzählung. Leipzig/Berlin 1912, S. 4. Antony Beaumont: Busoni the Composer. London 1985, S. 128. Manasse wird als »maître de finances« bezeichnet. Vgl.: Ferruccio Busoni: Grausige Historie vom Münzjuden Lippold. Ms. Autogr., Staatsbibliothek zu Berlin, BusoniNachlaß, Nr. 343. Bedeutsam ist die Ballade darüber hinaus, als sie zum Zankapfel zwischen Busoni und dem Bariton Wilhelm Guttmann wurde. Der jüdische Sänger weigerte sich die Ballade aufgrund der enthaltenen antisemitischen Implikationen zu singen. Vgl.: Anthony Beaumont: Busoni the Composer, S. 136. So heißt es in der Ballade vom Münzjuden Lippold, s.o. Vgl.: Ferruccio Busoni: Die Brautwahl, ebd., S. 21.

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Orient entrückt, muss daher hinsichtlich einer karikierenden Darstellung des Judentums v.a. Manasses Schützling, Baron Bensch, »ein jüdischer Elegant«25 betrachtet werden. Erscheint Bensch schon bei E.T.A. Hoffmann als Verkörperung des Klischees vom lüsternen Juden, welcher der braven deutschen Maid nachsteigt, so wird bei Busoni wie schon bei Strauss ein Konnex offenbar, der dem jüdischen Körper und der jüdischen Sexualität eine anomalische Differenz einschreibt. Erneut findet sich die nahezu unsingbare Tessitura, in der die dem Juden zugeschriebene Stimme – im vorliegenden Fall die Benschs, gesungen von einem »tenor grotesco«26 – beinahe ständig zu hoch singt. Dass die Singstimme durch eine derartige Notation grell und winselnd klingt und ständig Gefahr läuft, sich zu überschlagen, ist wie im »Judenquintett« gewollter Effekt. Und dieser Effekt ist, wie sich gezeigt hat, Teil eines umfassenden musikalischen Codes zur Karikierung jüdischer Opernfiguren, der in Wagners Mimen seinen zentralen Ausgangspunkt hat. Das Übergewicht hoher Stimmen bei der Darstellung von Juden auf der Opernbühne rekurriert dabei auf stereotypen Annahmen vom jüdischen Körper, nämlich auf eine fingierte Ähnlichkeit von Perversität und Judentum. Beschneidung wird mit Unmännlichkeit, hoher Stimme, Kastration und Homosexualität identifiziert27 und gipfelt in der hörbaren Karikatur. Das Musiktheater spiegelt also auch den im gesellschaftlichen Diskurs vorzufindenden Zusammenhang von Anti-Homosexualität und Antisemitismus. Zu einer künstlerischen Impotenz der Ahasver-Figur Manasse tritt die in der Stimme Benschs implizierte sexuelle Impotenz, die mit dem lüsternen Verlangen nach der braven deutschen Albertine korreliert. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass die Verkörperung des unpassenden Brautwerbers in Die Brautwahl ebenso auf zwei Figuren aufgeteilt ist, wie Ahasver als guter Geist im positiven Antagonisten Leonhard und als übler Betrüger in Manasse erscheint. Während Bensch als Nebenfigur nur ein Anhängsel des dämonischen Ahasvers Manasse bleibt, verkörpert der zweite inadäquate Freier Albertines eine groteske Karikatur, die stimmlich der Figur des »jüdischen Elegants« ganz ähnlich angelegt erscheint, die in der Handlung weit mehr Raum einnimmt, jedoch keinerlei endgültigen Indizien für eine Judenfigur enthält. Da der Kanzlei-Sekretär Thusman mehr und länger auf der Bühne agiert, verwundert es nicht, dass bezüglich dieser Figur der Bezug zum stimmlichen Modell des Mimen von der zeitgenössischen Kritik durchaus konstatiert wurde: Birrenkoven, der ehemalige Heldentenor, sang den komischen Hauptcharakter, den Thusmann; er ahmte dabei fast permanent das Krächzen Mimes im Siegfried nach. Da es in Gegenwart des Komponisten geschah, muss es wohl 25 26 27

Ferruccio Busoni: Die Brautwahl, ebd., S. 4. Ferruccio Busoni: Die Brautwahl, ebd. Vgl. zu diesem Komplex: Sander L. Gilman: »Der jüdische Köper«. In: Julius. H. Schoeps/Joachim Schlör (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. Frankfurt a. M. 1995 sowie Ders. »Strauss the Perverte, and Avant Garde Opera of the Fin de Siècle«. In: New German Critique 43 (1988), S. 35–68.

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autorisiert gewesen sein. Es wirkte aber recht ermüdend durch die stereotype Gleichmässigkeit.28 Dabei attestiert die zeitgenössische Kritik der Brautwahl andererseits »Unabhängigkeit von bestimmten Vorbildern«,29 »eigenpersönliche Sprache und ihre ureigene Technik«,30 sowie »musik-dramatische Überraschungen«.31 All dies ist auch zutreffend, allerdings nicht für die Musik, welche das Jüdische transportiert. Die Verankerung des Juden als Fremden mittels orientalisierender Klangsprache findet bei Strauss wie bei Busoni ihre Entsprechung in den eingangs skizzierten antisemitischen Stereotype, die ›den Juden‹ gerne weit weg, in seiner ›angestammten Heimat‹ lokalisieren. Historiker wie Werner Sombart kombinieren dieses Phantasma sogar mit den neuen Stereotypen des Antisemitismus: »Wären sie [die Juden] alle im Orient geblieben..., es wäre nie zu dem Knalleffekt der menschlichen Kultur: dem modernen Kapitalismus, gekommen.«32 Die musikalische Verortung des Juden im Orient bedeutet aber lediglich die in der Realität nicht vorhandene Differenz von Juden und Nicht-Juden, die Markierung des Judentums als fremd. Sie ist die genrebildartige Ausgrenzung des Fremden dorthin, wo er der Imagination nach herkommen ist. Vor dieser Folie entfalten sich dann die Mittel der Karikatur. Das Orchester erzählt von der »eigentlichen Heimat« der Juden, die Stimme der jüdischen Figuren markiert die körperliche Differenz. Die Mittel dazu werden von der Dominante der Musikwelt importiert, Richard Wagner. Seine Kontrastierung vom deutschen Helden Siegfried und dem körperlich defizitären Nibelungenzwerg Mime wird als mustergültiges Modell auf offen als Juden erkennbare Opernfiguren übertragen, die dazu tendieren, das diffamierende deformierte Körperbild des Nibelungen eingeschrieben zu bekommen. Die Rezeption verortet in Wagners Tonsprache die ›gewollte‹ Judenkarikatur, Wagners Mittel werden eingesetzt um Juden zu kennzeichnen, obwohl bei Wagner lediglich von camouflierten Ju28

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August Spanuth: ›Die Brautwahl‹. musikalisch-phantastische Komödie in drei Akten und einem Nachspiel nach E.T.A. Hoffmanns Erzählung. Text und Musik von Ferruccio Busoni. Uraufführung am 13. April 1912 im Hamburger Stadttheater. In: Signale für die Musikalische Welt. 70. Jg., 16 (1912). Berlin 17.4.1912, S. 527–532, hier: S. 531. August Spanuth: Die Brautwahl, ebd., S. 532. J.N.: Busonis ›Brautwahl‹ (Uraufführung am Hamburger Stadttheater). In: Münchener Neueste Nachrichten. Und Handels- und Industrie-Zeitung, Alpine und SportZeitung. Theater- und Kunst-Chronik. 65. Jg., Nr. 195: Mittwoch, 17. April 1912, Morgenblatt, S. 2f., hier: S. 2. Karl Westermeyer: Busonis ›Brautwahl‹. Betrachtungen zur Berliner Erstaufführung. In: Signale für die Musikalische Welt. 84. Jg., 3 (1926). Berlin, 20. Januar 1926, S. 77–80, hier S. 79. Werner Sombart: »Die Juden und das Wirtschaftsleben«. Zit. in: Avraham Barkai: »Der Kapitalist«. In: Julius H. Schoeps/Joachim Schlör (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, S. 265–272. Frankfurt a. M. 1995,S. 268.

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denfiguren gesprochen werden kann. Es formiert sich ein Code zur Darstellung von Judentum auf der Opernbühne, der weit ins 20. Jahrhundert hinein geläufig und dechiffrierbar bleibt. Dieser Code ist so etabliert, dass er bei den Anhängern Wagners wie bei seinen Gegnern Verwendung findet, mit dem Resultat diffamierender Judenkarikaturen auf der Opernbühne.

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»Wer kommt heut’ in jedem Theaterstück vor? Ä Jud!« Bilder des ›Jüdischen‹ in der Wiener Operette des frühen 20. Jahrhunderts

Perspektiven Selbstverständlich kam »heut’« – und das war 1912 – nicht in jedem Theaterstück »ä Jud« vor, wie im Couplet des Isidor Rosenstock aus Franz Lehárs Singspiel Rosenstock und Edelweiß behauptet wird. Und doch eröffnet diese Behauptung mindestens vier Perspektiven, die für eine Annäherung an die Thematik von Interesse sind. Beschränkt man sich zunächst auf die Textebene und verfolgt, welche weiteren gesellschaftlichen Rollen und kulturellen Funktionen das besagte Couplet den Juden zuschreibt, so ließe sich der Eindruck, in jedem Theaterstück käme »ä Jud« vor, subsumieren unter die diffuse Wahrnehmung einer generellen Dominanz des Jüdischen von Seiten der Zeitgenossen. Nach Julius Bauers Couplet-Text beherrschen die Juden die Presse und über das internationale Finanzwesen auch die Politik. Und natürlich beherrschen sie das Theater: Verschlüsselte Anspielungen gibt es unter anderem auf Karl Rößler, den Autor des seinerzeit am Burgtheater erfolgreichen Rothschild-Lustspiels Die fünf Frankfurter, auf den Regisseur Max Reinhardt und seine monumentale Produktion der Pantomime Das Mirakel in der PraterRotunde und auf den Komponisten Erich Wolfgang Korngold, spätestens seit seiner von Carl Godlewski choreographierten Ballettpantomime Der Schneemann (1910) als Wunderkind gehandelt; namentlich erwähnt werden die Operettenkomponisten Oscar Straus, Edmund Eysler und Leo Fall sowie die Literaten Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler. Bauer, selbst Jude, versammelt hier einen Ausschnitt jenes Personals, das seit einigen Jahrzehnten die Forschung zur Wiener Jahrhundertwende bevölkert und an dem sich immer wieder neu die Diskussion um den (quantitativen und qualitativen) Anteil jüdischer Künstler und Intellektueller an der Kultur der ›Moderne‹ entspinnt. Der Refrain von Bauers Couplet verknüpft jüdische Geschichte und jüdische Gegenwart: Vier Zeilen verweisen auf den Status der Juden als auserwähltes Volk, ebenfalls vier Zeilen schließlich erläutern dem Publikum von 1912, »Wir Juden wern wieder beliebt!« – und dies, ob es den Zeitgenossen recht sei oder nicht, wie es in Anspielung auf den allerorten virulenten Antisemitismus heißt. »Wer kommt heut’ in jedem Theaterstück vor?« – eine zweite Überlegung, die sich aus dieser Zeile ergibt, könnte der Präsenz jüdischer Schauspieler und

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Sänger in der Wiener Theaterszene um 1910 gelten. Waren unter den renommiertesten Darstellern des Burg- und des Deutschen Volkstheaters, der Oper, des Carl- und des Raimundtheaters, des Theaters an der Wien und des Theaters in der Josefstadt auffallend viele Juden, kam also schon aus diesem Grund in »jedem Theaterstück« ein Jude vor? An dieser Stelle sei nur auf wenige prominente Namen verwiesen, nämlich auf Max Pallenberg und Josef Jarno, die damals zentrale Positionen in Wiener Bühnenensembles einnahmen. Für das Publikum des im Souterrain des Theaters an der Wien gelegenen Kabaretts »Hölle«, in dem Rosenstock und Edelweiß im Dezember 1912 Premiere hatte, verband sich mit dem allgegenwärtigen Juden auf der Bühne zweifellos der meistbeschäftigte Operettentenor jener Jahre, nämlich Louis Treumann, der sich zwischen 1899 und 1905 in die erste Reihe des Carltheater-Personals gespielt hatte und seither teils am Theater an der Wien, teils am Johann-StraußTheater unter anderem Träger der größten Erfolge Franz Lehárs gewesen war (Die lustige Witwe, 1905; Das Fürstenkind, 1909; Eva, 1911). Jüdische Bühnenkünstler, und dies wäre eine dritte Erklärung für Rosenstocks Behauptung, hatten sich im Wien des frühen 20. Jahrhunderts auch ganz eigene Wirkungsräume geschaffen, die in der Mehrzahl dem Bereich der Volkssänger, der Singspielhallen und der neuen großstädtischen Kabarett- und Varietészene angehörten, gleichwohl mit den regulären Theatern strukturell eng verknüpft waren. Ein jiddisches Ensemble spielte seit 1908 unter dem Namen »Jüdische Bühne« im Hotel Stephanie in der Taborstraße (Leopoldstadt), bereits seit 1889 trat die Budapester Orpheumgesellschaft mit Solonummern und einaktigen Stücken in westjiddischem Jargon höchst erfolgreich in wechselnden Lokalitäten auf,1 und auch Etablissements wie »Hölle«, »Nachtlicht«, »Fledermaus«, »Max und Moritz« oder »Ronacher« brachten immer wieder Beiträge, die Aspekte jüdischen Lebens thematisierten bzw. jüdische Künstler in den Mittelpunkt rückten. Jüdisches fand sich also in großer Bandbreite auf den Wiener Bühnen. Die erwähnten institutionellen Verflechtungen lassen sich an Rosenstock und Edelweiß beispielhaft nachvollziehen: Der gefragte Operettenkomponist Lehár verfasst gemeinsam mit dem aus dem Zeitungsfach kommenden jüdischen Librettisten Bauer, der einige Jahre zuvor noch über Lehárs Musik zu der »jüdischen« Operette Der Rastelbinder (Carltheater 1902) gehöhnt hat, einen jüdisch-steirischen Einakter für ein elegantes Kabarett. Die männliche Hauptrolle spielt als Gast ein aus Krakau stammender Jude und ehemaliger »Negerclown«, nämlich Heinrich Eisenbach, seit geraumer Zeit prominentestes Ensemblemitglied der ›Budapester‹, der in den Monaten vor der Lehár-Premiere besonders mit Affendarstellungen Furore gemacht hat;2 seine 1

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Für eine ausführliche Darstellung der Geschichte der Budapester Orpheumgesellschaft vgl.: Georg Wacks: Die Budapester Orpheumgesellschaft. Ein Varieté in Wien 1889–1919. Wien 2002. U.a. in dem Verwandlungssketch Der Wüstling von Josef Armin, seit Oktober 1911 im Programm der Budapester Orpheumgesellschaft (vgl. dazu: die begeisterte Kritik

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Partnerin als Sennerin Everl Edelweiß ist die Soubrette Carli (Karolina) Nagelmüller, Ehefrau des Librettisten und Conférenciers Fritz Grünbaum, die ab 1900 zunächst am Jantsch-Theater im Prater, dann in »Venedig in Wien«, in Rudolf Nelsons Berliner »Chat noir« und schließlich im Kabarett »Fledermaus« engagiert war. Eine vierte und letzte Perspektive zur Frage nach der Bühnenpräsenz von Juden sei angedeutet, die zugleich eine Grundproblematik theaterhistorischer Forschung bezeichnet: Möglicherweise erschienen im zeitlichen und räumlichen Umfeld von Rosenstock und Edelweiß Judenfiguren auf der Bühne, die sich in schriftlichen Aufführungsmaterialien, in Textbüchern und/oder Partituren, gar nicht auffinden lassen, weil sie ausschließlich durch Stimme, Gestik, Mimik, Kostüm und Maske als solche markiert und von einem zeitgenössischen Publikum dementsprechend wahrgenommen worden sind. Wurden vielleicht (musik-)dramatische Figuren, die in der Spielvorlage gar nicht explizit als Juden eingeführt waren, mit ›jüdischen‹ Merkmalen versehen? Die ohnehin schwierige Quellensituation der Theaterwissenschaft, deren primärer Gegenstand ja nicht das im Dramen- oder Notentext Fixierte ist, die vielmehr im vorliegenden Fall nach Aspekten des ›Jüdischen‹ in der Bühnendarstellung zu fragen hat,3 erfährt hier eine weitere Zuspitzung.

»Juden in der Operette« als Herausforderung für interdisziplinäre Forschung Überblickt man die neuere Forschung zur Rolle der Juden innerhalb der Wiener Kultur um 1900 einerseits und zum Umgang des (Musik-)Theaters mit dem Judentum andererseits, so fallen neben der steigenden Frequenz von Publikationen die Disparatheit der Ansätze und die Begrenztheit der jeweiligen Perspektiven auf, die offenbar mit der traditionellen Separierung der Disziplinen voneinander ebenso zu tun haben wie mit Wertungen und Spezialisierungen innerhalb der Disziplinen. So erweist sich auch die – durch die Erfahrung der Shoah selbstverständlich wohlbegründete – ausschließliche Fokussierung zahlreicher Studien auf jüdische Persönlichkeiten oder Institutionen als nur bedingt zielführend für die Entfaltung historischer Milieus, bleibt doch dabei etwa die um 1900 trotz vielgestaltiger antisemitischer Tendenzen ganz selbstverständliche wechselseitige Durchdringung ›jüdischer‹ und ›nicht-jüdischer‹ Anteile der Kultur ausgeblendet.

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von Karl Kraus in: Die Fackel, Nr. 343/344, März 1912, S. 17–21). 1915 trat Eisenbach auch im Film als Affe auf, nämlich in Joe Mays Charly, der Wunderaffe. Auf diese Problematik hat Hans-Peter Bayerdörfer vielfach hingewiesen. Erwähnt sei hier nur sein Einleitungsbeitrag zu »Umrissen und Problemen des Themas« in dem von ihm herausgegebenen Band: Theatralia Judaica. Emanzipation und Antisemitismus als Momente der Theatergeschichte. Von der Lessing-Zeit bis zur Shoah. Tübingen 1992, S. 1–23, insbesondere: S. 12–16.

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Die gegenwärtige Fragestellung, die sich mit der Operette dem einflussreichsten Unterhaltungsgenre des frühen 20. Jahrhunderts zuwendet, macht die Notwendigkeit einer Zusammenführung unterschiedlicher Forschungsansätze in besonderem Maß sichtbar. Um ›Jüdisches‹ in der Wiener Operette in seiner historischen Bedeutung erfassen zu können, bedarf es einer breiten Kontextualisierung, die die Operette und ihr Publikum im Geflecht der gesamten zeitgenössischen Theater- und Unterhaltungsszene situiert, die Traditionslinien von Judendarstellungen auf der Bühne im Sinne einer integralen Theatergeschichte verfolgt und die Bühnenpräsentation jüdischer Figuren oder Sujets auf die betreffende gesellschaftliche Realität von Juden bezieht, die aber auch nach Autorschaften (Librettist/Dramatiker, Komponist, Darsteller) und nach Beziehungen zu originär jüdischem Theater fragt.4 Zu einigen dieser Aspekte liegen Untersuchungen vor. So haben sich vor allem Brigitte Dalinger, Peter Sprengel und Heidelore Riss mit dem jüdischen/jiddischen Theater in Wien und Berlin beschäftigt5 und damit nicht zuletzt eine Materialgrundlage für die vergleichende Analyse jüdischer Themen im nicht-jüdischen Theater bereitgestellt. Die ›Operetten‹ Abraham Goldfadens, die hier als frühe Form eines eigenständigen jüdischen Theaters charakterisiert werden, wären im Rahmen einer Geschichte des populären Musiktheaters auf ihre Bezüge zu dramaturgischen und musikalischen Techniken des Melodrams und des Vaudeville zu befragen.6 Zum Gegenstand der Theater-, Musik- und Literaturwissenschaft wurde in den letzten Jahren weiterhin die jüdische Komponente der Wiener Kleinkunst; als 4

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Als wenig hilfreich erweist sich der Beitrag von Norbert Linke: »Deutsch-jüdische Lebensformen in der Operette – mit besonderer Berücksichtigung der Librettisten von Lehár-Operetten«. In: Peter Berghoff (Hg.): Aspekte zur deutsch-jüdischen Geschichte. Duisburg 1996, S. 103–131. Zumindest eine der zahlreichen Ungenauigkeiten gilt es hier zu korrigieren: Lehárs Rosenstock und Edelweiß war keineswegs ein Misserfolg (der sich wiederum mit antisemitischen Stimmungen in Verbindung bringen ließe), sondern wurde – für eine Kabarett-Operette beachtlich – drei Monatsprogramme hindurch allabendlich gespielt, und zwar stets mit Eisenbach in der Titelrolle. Brigitte Dalinger: »Verloschene Sterne«. Geschichte des jüdischen Theaters in Wien. Wien 1998. Dies.: Quellenedition zur Geschichte des jüdischen Theaters in Wien. Tübingen 2003. Peter Sprengel: Scheunenviertel-Theater. Jüdische Schauspieltruppen und jiddische Dramatik in Berlin (1900–1918). Berlin 1995. Ders.: Populäres jüdisches Theater in Berlin von 1877 bis 1933. Berlin 1997. Heidelore Riss, Ansätze zu einer Geschichte des jüdischen Theaters in Berlin 1889–1936. Frankfurt am Main 2000. Vgl. auch: Hans-Peter Bayerdörfer: »›Geborene Schauspieler‹ – Das jüdische Theater des Ostens und die Theaterdebatte im deutschen Judentum«. In: Hans Otto Horch/Charlotte Wardi (Hg.): Jüdische Selbstwahrnehmung/La prise de conscience de l’identité juive. Tübingen 1997, S. 195–215. Vgl. hierzu: Goldfadens eigene Ausführungen, die im Mai 1900 in der Zeitschrift Die Welt erschienen und von Brigitte Dalinger in ihrer Quellenedition wieder vorgelegt wurden: Abraham Goldfaden: »Die Musik meiner jüdischen Singspiele. Eine Autokritik«. In: Dalinger, Quellenedition, S. 65–69.

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einschlägig können dabei die Beiträge von Barbara Zeisl Schoenberg7 und Hans-Peter Bayerdörfer8 zum Kabarett und von Philip V. Bohlman9 und Gertraud Pressler10 zum breiteren Feld populärer musikalischer Kleinformen gelten. Desiderate bleiben allerdings bislang die Zusammenschau sämtlicher Genres des Wiener Unterhaltungstheaters inklusive der Operette und die von Bohlman angemahnte Auseinandersetzung mit den Wechselwirkungen von »zentraler« und »peripherer« Kultur, also von ›Hochkultur‹ und ›Populärkultur‹ in Wien um 1900. Eines dergestalt spartenübergreifenden Zugangs bedürfte auch die Auseinandersetzung mit der Bühnenpräsentation von Judenfiguren bzw. mit dem Typenfach des Juden. Für das Schauspiel hat Hans-Peter Bayerdörfer den »Bühnenjuden« und das »jüdische Charakterfach« als wichtigste Darstellungsmodi des späten 18. und des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet;11 für das Unterhaltungstheater, das als Körpertheater mit dem gerade im besagten Zeitraum ausgesprochen textorientierten Schauspieltheater kontrastierte, wären ganz eigene Überlegungen zu Bewegungsstereotypen und stimmlichsprachlichen Markierungen anzustellen, die nicht zuletzt von einer gegenüber dem Schauspiel deutlich längeren Gültigkeit des Typen- bzw. Rollenfachsystems auszugehen hätten.

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Barbara Zeisl Schoenberg: »Cabaret: The Twentieth-Century ›Volkstheater‹«. In: Modern Austrian Literature 26 (1993), Heft 3/4, S. 45–64. Hans-Peter Bayerdörfer: »›In eigener Sache?‹ – Jüdische Stimmen im deutschen und österreichischen Kabarett der Zwischenkriegszeit: Fritz Grünbaum – Fritz Löhner – Walter Mehring«. In: Joanne McNally/Peter Sprengel (Hg.): Hundert Jahre Kabarett. Zur Inszenierung gesellschaftlicher Identität zwischen Protest und Propaganda. Würzburg 2003, S. 64–86. Philip V. Bohlman: »Auf der Bima – Auf der Bühne. Zur Emanzipation der jüdischen Popularmusik im Wien der Jahrhundertwende«. In: Elisabeth Th. Hilscher/Theophil Antonicek (Hg.): Vergleichend-systematische Musikwissenschaft. Beiträge zu Methode und Problematik der systematischen, ethnologischen und historischen Musikwissenschaft. Franz Födermayr zum 60. Geburtstag. Tutzing 1994, S. 417–449. Gertraud Pressler: »Jüdisches und Antisemitisches in der Wiener Volksunterhaltung«. In: Michael Weber/Thomas Hochradner (Hg.): Identität und Differenz. Beiträge zur vergleichenden und systematischen Musikwissenschaft. Wien 1998, S. 63-82. Vgl.: Hans-Peter Bayerdörfer: »›Harlekinade in jüdischen Kleidern?‹ – Der szenische Status der Judenrollen zu Beginn des 19. Jahrhunderts«. In: Hans Otto Horch/Horst Denkler (Hg.): Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Zweiter Teil. Tübingen 1989, S. 92–117. Sowie Bayerdörfer: »Judenrollen und Bühnenjuden. Antisemitismus im Rahmen theaterwissenschaftlicher Fremdheitsforschung«. In: Werner Bergmann/Mona Körte (Hg.): Antisemitismusforschung in den Wissenschaften. Berlin 2004, S. 315–351.

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»Komische Juden«, Grotesktänzer und Tanzbuffos In seiner Dissertation benennt Hans-Joachim Neubauer das Rollenfachsystem – wirksam gleichermaßen in der praktisch-künstlerischen Arbeit am Theater wie beim Verfassen von Dramen – als entscheidende Kategorie für die Analyse und Bewertung von Judenfiguren im Drama und Theater des frühen 19. Jahrhunderts.12 Obwohl Neubauer auf Bernhard Diebolds und Hans Doerrys einschlägige Arbeiten zum Rollenfach Bezug nimmt,13 greift er die dort formulierte Bestimmung des Rollenfachs – nämlich dessen Doppelstruktur als literarisches und als schauspielerisches Fach – in seinen Ausführungen nicht auf und entwickelt die Fächer der Charge, des Vaters, der Liebhaberin und des Helden bzw. Liebhabers in ihrer jüdischen Ausprägung weitestgehend aus der Perspektive der Dramentexte. Eine theaterwissenschaftliche Rollenfachanalyse müsste Neubauers Überlegungen um die Beschreibung der entsprechenden darstellerischen Mittel erweitern. Was das Unterhaltungstheater als großstädtisches Massenphänomen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts betrifft, wäre gar eine dritte Ebene einzubeziehen: Das Rollenfach war hier häufig zusätzlich spezifiziert und erschien im Fall zahlreicher populärer Schauspieler, Sänger und Tänzer in Paris, London, Wien oder Berlin als ein gewissermaßen individuelles Fach, bezeichnete also auf der Stückebene nicht eine Gruppe von Partien, die von allen Vertretern eines Faches, etwa des »jugendlichen Liebhabers«, in vergleichbarer Weise umgesetzt werden konnten, sondern vielmehr Rollen, die auf einen konkreten Darsteller und dessen einzigartige Körperlichkeit zugeschnitten waren. In solcher Weise gebunden war im (meist musikalischen) Unterhaltungstheater in erster Linie die »komische Figur«, die im dramaturgischen Gefüge eines Stückes einen Sonderstatus besaß. Von Interesse für eine Annäherung an die Judenrollen in der Operette ist nun, dass Neubauer die jüdische Ausprägung des jugendlichen Liebhabers bzw. den jüdischen Aufsteiger als neue »komische Figur« des frühen 19. Jahrhunderts identifiziert. Zwei Aspekte der Argumentation seien hier her-vorgehoben: Als »komische Figur« steht der Jude in der Tradition der Lustigmacher Kasperl und Hanswurst und ihres körperbetonten Spiels; zum Helden oder Liebhaber hingegen taugt der Jude aus der Sicht der Bühne nicht, Liebeserfüllung bleibt ihm als einem »Paria« versagt, als Parvenü ist er stückimmanent nicht selten der Verachtung seiner »christlichen« Umgebung ausgesetzt.14 Blickt man von hier auf prominente Judenfiguren in der Wiener Operette, auf Wolf Bär Pfefferkorn in Der Rastelbinder, Isidor Rosenstock in Rosenstock und Edelweiß, Moritz Frühling in Edmund Eyslers Frühling am Rhein (Wiener 12 13

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Hans-Joachim Neubauer: Judenfiguren. Drama und Theater im frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1994, insbesondere: S. 37–40. Bernhard Diebold: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1913. Hans Doerry: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts. Berlin 1926. Vgl.: Neubauer, S. 90–97.

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Bürgertheater 1914) und James Jacques Bondy in Emmerich Kálmáns Die Herzogin von Chicago (Theater an der Wien 1928), so fällt zunächst auf, dass es sich hier sämtlich um komische Figuren handelt, die ausnahmslos einem operettentypischen, um 1900 entstandenen Bewegungsfach zugehören, nämlich dem Fach des Tanzbuffo, das in verschiedenen Grotesk- und Exzentrikkünsten des 19. Jahrhunderts wie dem Cancan und der Valse Chaloupé, dem Cakewalk und der Affendarstellung wurzelt. Verkörpert wurden diese Partien von jüdischen Darstellern: von Louis Treumann (Pfefferkorn, Frühling), der das moderne Fach des Tanzbuffo in der Operette etablierte und 1943 in Theresienstadt starb, von Heinrich Eisenbach (Rosenstock), dem »Negerclown« und Grotesktänzer,15 und von Fritz Steiner (Bondy), der in den 1920er Jahren für seine Tanzakrobatik berühmt war und seine Karriere ab 1938 in Holland fortsetzte, wo er die »Hoofdstad Operette« mitbegründete. Das Fach des Tanzbuffo resultiert im Wesentlichen aus dem Aufeinandertreffen der mitteleuropäischen Operette des späten 19. Jahrhunderts mit Formen der englischen Operette und ihren Tanzelementen einerseits und mit den Tanznummern des internationalen Varietés andererseits. Hinsichtlich der eingesetzten tänzerischen und gestischen Mittel wäre zu fragen, ob neben den grotesken Techniken der Affendarstellung (Charles Mazurier, Edward Klischnigg16), der Pariser Quadrille réaliste (Valentin le Désossé) und der amerikanischen Exzentrik (Charles Johnson, George Walker, Bert Williams u.a.) auch Körperstereotype des von Bayerdörfer beschriebenen älteren Groteskfachs des »Bühnenjuden«17 für das Bewegungsvokabular des Tanzbuffo wirksam wurden. Louis Treumann war es, der das vor allem im englischen Unterhaltungstheater seit langem bekannte und dort nicht zuletzt mit der PantomimenTradition eines Joe Grimaldi verbundene Fach des tanzenden Komikers in die Wiener Operette einführte, wobei er unter anderem an amerikanische »Niggertänze« anknüpfte, die sich um 1900 in Europa größter Beliebtheit erfreuten. In den frühen Jahren seiner Laufbahn für das Fach des jugendlichen Gesangskomikers engagiert, erweiterte Treumann seine zunächst kleinen Partien um akrobatische Tanzeinlagen im Stil von Varieténummern und schuf so bald einen neuen Typus der im Wiener Theater von jeher zentralen Lustigen Person, einen Typus, dessen darstellerische Basis die groteske Gesangskomik mit 15 16

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Vgl.: Wacks, S. 81–84. Umfangreiches Quellenmaterial zu Klischnigg, dem wohl berühmtesten Affendarsteller des 19. Jahrhunderts, findet sich in der historisch-kritischen Ausgabe von Johann Nepomuk Nestroys Posse Der Affe und der Bräutigam, die 1836 als Vehikel für Klischnigg entstand. Johann Nestroy: Historisch-kritische Ausgabe, Stücke 11. Hg. von Jürgen Hein. Wien 1998, S. 249–303. Vgl. auch: Andreas Englhart: »Menschen-Affen und Affen-Menschen. Artistik des Fremden im Theater der Nestroyzeit«. In: Claudia Jeschke/Helmut Zedelmaier (Hg.): Andere Körper – Fremde Bewegungen. Theatrale und öffentliche Inszenierungen im 19. Jahrhundert. Münster 2005, S. 211–235. Vgl.: Bayerdörfer: Judenrollen und Bühnenjuden, insbesondere: S. 324.

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Schwerpunkt Tanz war. In Heinrich Eisenbach, dem jüdischen Jargonkomiker, wird man eine Parallelerscheinung zu Treumann erblicken dürfen, obwohl die Darbietungen beider ganz unterschiedlichen Schichten der Wiener Theaterszene angehörten: allein wie auch gemeinsam mit seiner Frau Anna präsentierte Eisenbach im Rahmen seiner Varietéauftritte umfangreiche Tänze und Tanzquodlibets im grotesken Genre. Mit den großen Erfolgen Treumanns in den Jahren nach 1900 wurde das herausgehobene männliche Tanzfach in der Operette quasi festgeschrieben, wobei sich im Laufe der Zeit eine dramaturgische Verschiebung ergab: Der maßgebliche Wirkungsbereich des Tanzbuffo war bald nicht mehr die Lustige Person, sondern der zweite Liebhaber, der ebenfalls komisch-grotesk aufgefasst wurde; seine wichtigsten Vertreter waren über die Jahrzehnte Ernst Tautenhayn, Max Brod, der junge Hubert Marischka, Fritz Steiner und Max Hansen. Im Rückblick auf die Geschichte von Judendarstellungen auf der Bühne sei an dieser Stelle eine Abgrenzung des Bewegungsfachs vom Typen- bzw. Rollenfach vorgeschlagen: Während das Typenfach des Juden, etwa in Gestalt jüdischer Chargen im 18. Jahrhundert, repräsentiert aber auch noch von Judendarstellern des 19. Jahrhunderts wie Martin Kräuser18 und von der stehenden Figur des Juden im Puppen-Ensemble des Wiener Wurstel um 1900, maßgeblich über seine dramaturgische Funktion definiert war (mit der sich selbstverständlich ein charakteristischer Körpergestus verband), sind die Juden in der Operette des 20. Jahrhunderts in erster Linie durch ihre Zugehörigkeit zu einem spezifischen Bewegungsfach, nämlich dem Groteskfach gekennzeichnet, das sich im Ballett und im Bewegungstheater des 18. und 19. Jahrhunderts im Gegenüber zum noblen, zum Halbcharakter- und zum Charakterfach deutlich ausgeprägt hatte. Zugleich weicht die mit dem traditionellen Typenfach einhergehende und insbesondere im Unterhaltungstheater lange fortwirkende Eindimensionalität der Judenfiguren einer differenzierteren Personengestaltung, wobei zu fragen ist, ob sich daraus Konsequenzen für eine (Neu-)Bewertung des ›Jüdischen‹ ergeben.

Sind die Operetten-Juden ›Fremde‹? Die Operetten, von denen die vorliegenden Beobachtungen ausgehen, könnten unterschiedlicher kaum sein, und dies sowohl hinsichtlich ihrer musikdramatischen Struktur und ihrer Situierung in der Theaterszene Wiens wie auch hinsichtlich der in ihnen vorgeführten Judenfiguren. Gerade die stückimmanente Bewertung dieser Juden ist es jedoch, die sich als – vielleicht überraschende – Gemeinsamkeit erweist: Pfefferkorn, Rosenstock, Frühling und Bondy sind keine gesellschaftlichen Außenseiter, keine ›Fremden‹, obwohl ihre jüdische 18

Kräuser, aus Prag stammend, war in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts an Wiener Vorstadtbühnen für seine Darstellungen jüdischer und böhmischer Typenfiguren berühmt.

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Herkunft durchwegs stark thematisiert wird. Vielmehr entwerfen die Operetten Lehárs, Eyslers und Kálmáns Handlungsräume, in denen das Jude-Sein der Protagonisten für diese selbst und für ihre Umgebung keinerlei Konfliktpotential birgt. Die Juden sind integraler Teil einer an der jeweiligen historischen Realität orientierten, aber ins Harmonische umgedeuteten sozialen Konstellation. Pfefferkorn19 ist der ärmliche Jude aus dem Osten, den sein Kleinsthandel schließlich auch nach Wien führt, und damit Repräsentant einer Massenerscheinung, mit der die Wiener seit dem späten 19. Jahrhundert konfrontiert waren. Anders als das Gros der realen Zuwanderer ist Pfefferkorn jedoch kein Fremdkörper in Wien. Er genießt hier wie in seinem slowakischen Heimatdorf einen guten Ruf als Helfer und Ratgeber, und wenn sich seine Ratschläge einmal als falsch erweisen, hatte er sie doch in allerbester Absicht erteilt.20 Sein Lebensmotto, das die Handlung quasi leitmotivisch durchzieht, lautet: »auch Wohlthun tragt dir Zinsen, das is der rechte Profit«. Das Vorurteil, osteuropäische Juden seien verschlagen, ungebildet und schmutzig, wird bei Pfefferkorns Begegnungen mit slowakischen Bauern und Wiener Handwerkern relativiert: diese Eigenschaften kommen – in milder Form – gerade auch an Nichtjuden zum Vorschein. Rosenstock,21 ein wohlhabender Wiener Fabrikant, der aus ›Seelengram‹ über den Ehebruch seiner Frau zum Alpentouristen geworden ist, ist für die Sennerin Everl das völlig Unbekannte, da sie »no nia an Juden g’sehn« hat; die gleichermaßen beschränkte wie gewiefte ›Alpenjungfrau‹ erscheint dem Städter Rosenstock jedoch als ein ebenso exotisches Objekt. Durch eine List kann Everl Rosenstock überreden, ihre Eheschließung mit Sepp zu finanzieren, mit dem sie bereits sechs ledige Kinder hat. Die anfängliche Fremdheit zwischen Städter und Alpenbewohnerin mündet in begeisterte Aneignung: Everl übernimmt von Rosenstock das Jüdeln und den jüdischen Tanz, Rosenstock von Everl das Jodeln und den Schuhplattler. Die Darstellung Frühlings22 ist gänzlich der Situation zu Beginn des Ersten Weltkriegs geschuldet: In einem für die Wiener Operette eher ungewöhnlichen, auffallend ›deutschen‹ Ambiente mit Rhein-Idylle, Loreley und stram19

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Der Rastelbinder. Operette in einem Vorspiel und zwei Akten von Victor Léon, Musik von Franz Lehár; Kl.A: Weinberger, Leipzig [1902]; Soufflierbuch: Wien/London o.J. Inwieweit Pfefferkorn an die Figuren des Heiratsvermittlers Kecal in Bedřich Smetanas Prodaná nevěsta und des Rabbiners David in Pietro Mascagnis L’amico Fritz anknüpft, wäre eigens zu untersuchen; beide Opern waren in Wien um 1900 ausgesprochen populär. Rosenstock und Edelweiß. Singspiel in einem Akt von Julius Bauer, Musik von Franz Lehár; Kl.A: Weinberger, Leipzig 1912; Textbuch: Leipzig/Wien 1913. Frühling am Rhein. Operette in drei Akten von Carl Lindau, Fritz Löhner-Beda und Oskar Fronz, Musik von Edmund Eysler; Kl.A: Doblinger, Leipzig/Wien 1914; Soufflier- und Regiebuch: Leipzig/Wien 1914.

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men Burschenschaftlern wird, dem Engagement vieler Juden für die Verteidigung des ›Vaterlandes‹ und ihrer daraus folgenden kurzzeitigen Akzeptanz entsprechend, Frühling als vollständig integriertes, ja besonders ›nützliches‹ Mitglied der Bürgergemeinschaft gezeigt. Im Städtchen Sängerberg, wo er ein kleines Geschäft betreibt, ist er ein angesehener Nachbar und Freund, und die Studenten auf dem Rheindampfer schlagen vor ihm die Hacken zusammen. Frühlings Besuch bei der adligen Verwandtschaft seiner Ziehtochter Trendl (Therese) entlarvt ebendiese vornehme Gesellschaft als herzlos und geldgierig, während Frühling die Güte und Hilfsbereitschaft selbst ist. Als bescheidenresignatives Motto verkündet er wiederholt: »Das Leben ist ä schwer Geschäft,/Und was ein braver Jud ist,/Der denkt sich, was ihn immer trefft,/Wer weiß zu was es gut ist!« Bondy,23 der millionenschwere Begleiter der ebenso reichen Amerikanerin Mary Lloyd, repräsentiert in mehrerlei Hinsicht das Bild des Juden in der internationalen Upper Class der späten zwanziger Jahre. Selbst ein ›typischer‹ Amerikaner, ist er über seinen (wohl gegen Ende des 19. Jahrhunderts) aus »Boskowitz bei Brünn« emigrierten und in Amerika reich gewordenen Vater noch mit Mitteleuropa verbunden, das er jetzt zum ersten Mal besucht. Dass Bondy sich in der Begegnung mit dem Hofstaat von Sylvarien als dem Inbegriff des »alten Europa« vor allem durch »Kulturlosigkeit« und den Glauben an die Käuflichkeit der Welt auszeichnet, wird unmissverständlich mit seiner amerikanischen Herkunft und nicht mit seinem Jude-Sein in Verbindung gebracht, da sich diese Eigenschaften auch bei seinen Mitreisenden finden. Jude zu sein ist in den Augen Bondys ein »kleiner Geburtsfehler«, der in der heterogenen amerikanischen Gesellschaft (»Neger, Affen, Milliardäre, Indianer, Missionäre [...] Brünner, Wiener und Berliner [...] Wilson oder Pollatschek«) nicht auffällt und den er selbst mit dem reizenden Lispeln der morenischen Prinzessin Rosemarie vergleicht. Pfefferkorn, Rosenstock, Frühling und Bondy begegnen also in ihrem sozialen Umfeld keinerlei Anfeindungen, die aus ihrer jüdischen Herkunft resultieren. Zugleich wird aber das ›Jüdische‹ in der äußeren Erscheinung dieser Figuren – in Kleidung, Sprache und/oder Bewegungseigentümlichkeiten – deutlich herausgestrichen und damit eine Unterscheidung der jüdischen von den nichtjüdischen Bühnenfiguren getroffen. Gerade vor dem Hintergrund der beschriebenen sozialen Integration stellt sich nun die Frage nach dem Sinn solcher Unterscheidung. Wozu diente die unüberseh- und unüberhörbare Kenntlichmachung der Juden in der Operette, ihre körperliche Markierung als ›Fremde‹ oder ›Andere‹, die sie doch in gesellschaftlicher Hinsicht nicht zu sein schienen? Drei Erklärungen bieten sich hierfür an: Die Operette des 20. Jahr23

Die Herzogin von Chicago. Operette in einem Vorspiel, zwei Akten und einem Nachspiel von Julius Brammer und Alfred Grünwald, Musik von Emmerich Kálmán; Kl.A: Karczag, Leipzig/Wien 1928; Regie- und Soufflierbuch: Leipzig/ Wien/New York 1928.

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hunderts könnte, auf die Traditionen des Volksstücks und der Operette des 19. Jahrhunderts zurückgreifend, ›Juden‹ ebenso wie ›Zigeuner‹, ›Italiener‹ und ›Böhmen‹ oder städtische Typen wie ›Fiaker‹, ›Wäschermädel‹, ›Strizzi‹ oder ›Gigerl‹ als Lokalkolorit eingesetzt und mit ihnen das eigentliche Geschehen quasi garniert haben. Figuren bzw. Figurengruppen, die Lokalkolorit vermitteln sollten, zielten auf Wiedererkennung, wurden durchwegs stark vereinfachend gezeichnet und bedienten insofern landläufige Vorstellungen. Ob im Rahmen eines solchen dramaturgischen Konzepts die Vorführung eines ›Juden‹ anders zu bewerten ist als etwa diejenige eines ›Italieners‹, ›Dienstmanns‹ oder ›Deutschmeisters‹, lässt sich rückblickend kaum mehr entscheiden. Der Operette könnte es zweitens um eine zumindest in Ansätzen realistische Präsentation historisch-sozialer Milieus gegangen sein, zu denen Juden – gerade auch Juden, die als solche zu ›erkennen‹ waren – notwendig gehörten. Das Unterhaltungstheater reagierte ja in der Regel rasch auf gesellschaftliche Veränderungen bzw. stellte aktuellste Erscheinungen aus, und der jüdische Zuwanderer aus dem Osten war in Wien um 1900 eine ebenso charakteristische Gestalt wie der gänzlich zum ›Amerikaner‹ gewordene Nachkomme ehemals armer jüdischer Einwanderer in den zwanziger Jahren. Als dritte Erklärung für die Betonung ›jüdischer‹ Merkmale bei den entsprechenden Bühnenfiguren könnte die Überlegung dienen, mit den Stücken sei eine Schilderung spezifisch ›jüdischer‹ Schicksale oder Lebenssituationen beabsichtigt gewesen. Zu welchem dieser drei Modelle die Operetten Lehárs, Eyslers und Kálmáns auch tendieren: auffallend ist, dass sie bei der körperlichen Präsentation von Judenfiguren sämtlich mit verbreiteten Stereotypen arbeiten. Inwieweit diesen Stereotypen bei ihrer Wiedergabe auf der Operettenbühne allerdings zwingend ein antisemitisches Potential zugeschrieben werden muss, bleibt offen. Immerhin gilt es zu berücksichtigen, dass bei allen vier Stücken mindestens einer der Autoren selbst Jude war (im Fall der Herzogin von Chicago gar der Komponist und beide Librettisten), auch wenn dies angesichts der höchst unterschiedlichen Einstellungen von Juden zum Judentum – detailliert entfaltet in Arthur Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie (1908) – antisemitische Untertöne nicht ausschließt.

Stereotype: Bild und Körper Berufe: Pfefferkorn, Rosenstock und Frühling gehen Berufen nach, die traditionell mit Juden in Verbindung gebracht werden bzw. sich aus den jahrhundertealten Berufsbeschränkungen für Juden herleiten. Pfefferkorn handelt in der Slowakei mit Zwiebeln und Knoblauch, in Wien dann mit einem »großartigen, ganz neuen Mausefallensystem«. Die kleine Suza wendet sich auch an ihn als Geldverleiher; ihr werden jedoch Jahre später Zinsen und Tilgung erlassen. Rosenstock betreibt in Wien, Leopoldstadt, Lilienbrunngasse, eine Schnittwa-

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renfirma und ist als wohl situierter Geschäftsmann mit der »Ischler Esplanad« ebenso vertraut wie mit den Börsenkursen. So weit hat es Moritz Frühling nicht gebracht: Er betreibt einen kleinen Handel mit Stoffen, Spezereien und Trödlerwaren, der nur zu einem bescheidenen Auskommen reicht; bezeichnenderweise wird er von Baron Hartenstein, in dessen Haus er seine Ziehtochter Trendl besuchen will, für einen Geldverleiher gehalten. Kleidung: Pfefferkorn, Frühling und Bondy bedienen auf unterschiedliche Weise den Stereotyp vom unpassend gekleideten Juden. Pfefferkorn erscheint zunächst als »jüdischer Handelsmann«, der »weder in Kleidung, noch im Sprechen und Gehaben zu karikieren« ist. Als ihm der Zuschauer aber zwölf Jahre später in Wien wieder begegnet, hat sich die Selbstverständlichkeit der äußeren Erscheinung verloren: Pfefferkorn trägt nun »eine städtischere Kleidung, die, ohne outrirt zu sein, doch komisch wirken soll; [...] ein schwarzer Gehrock, der ihm nicht recht paßt, ein altväterisches, hochgeschlossenes Gilet, schwarze Hosen, die ihm ein bißchen zu kurz sind«. An Frühling fällt einmal eine karierte Hose, die viel zu lang ist, dann ein großkarierter Ulster auf. (Trendl, obzwar nicht Frühlings leibliche Tochter und der Herkunft nach keine Jüdin, ist, solange sie sich im Umfeld Frühlings bewegt, besonders »geschmacklos gekleidet«.24) Die Kleidung Bondys schließlich charakterisiert ihn als Parvenü: sein »origineller Frackanzug« zeichnet sich durch »stark in die Breite wattierte Schultern« aus, und später tritt er gar in Knickerbockers »aus Schlangenhautimitationsstoff« auf. Der »Jude mit dem Regenschirm«: Überblickt man die Tradition von Judendarstellungen in Malerei und Karikatur sowie auf Gebrauchsgegenständen, wie sie jüngst das Jüdische Museum Hohenems in beeindruckend erschreckender Weise präsentierte,25 so fällt auf, in wie vielen Varianten der »Jude mit dem Regenschirm« im 19. und frühen 20. Jahrhundert reproduziert wurde: vom zerlumpten Wanderjuden, der sich mit seinem Schirm gegen bissige Hunde zur Wehr setzt, bis zum modernen Journalistentyp, den der Regenschirm eben weiterhin als ›Juden‹ kenntlich macht. In Gestalt Pfefferkorns wird dieses ›Bild‹ auf die Bühne gebracht: Pfefferkorn lässt weder im slowakischen Dorf noch im Wiener Spenglerladen oder in der Ulanenkaserne jemals von seinem Regenschirm. »Militäruntauglich«: Komische Szenen in einer Kaserne geben im Rastelbinder Gelegenheit, auf das Motiv der angeblichen Militäruntauglichkeit von Juden anzuspielen. Pfefferkorn wird als vermeintlicher Rekrut unter größtem 24

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Trendl, die der jüdischen Sphäre Frühlings ebenso angehört wie der nicht-jüdischen Sphäre der adligen Familie Hartenstein und deren wiederholter Wechsel zwischen diesen Welten die Frage nach sozialen und religiösen Identitäten aufwirft, stellt sich als operettenhafte Variante von Fromental Halévys ›Jüdin‹ Rachel dar. Ein detaillierter Vergleich beider Figuren würde eine eigene Untersuchung lohnen. Falk Wiesemann: Antijüdischer Nippes und populäre ›Judenbilder‹. Die Sammlung Finkelstein, Katalog und Begleitpublikation zur Ausstellung des Jüdischen Museums Hohenems. [Essen] 2005.

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Wehgeschrei dreimal zum Haareschneiden und Rasieren abkommandiert und erscheint schließlich kahlköpfig. Er »salutiert und präsentiert mit dem Regenschirm« und verteidigt sich mit dem Schirm gegen ein Pferd, vor dem er sich fürchtet. Der groteske Kampf mit diesem Pferd – von Pfefferkorn wegen seines Verhaltens als »Antisemit« bezeichnet – mag auf den alten, vielfach auch im Bild wiedergegebenen Topos verweisen, dass Tiere »instinktiv« eine Abneigung gegen ›Juden‹ hätten. Gestikulation: Dass starkes Gestikulieren den ›Juden‹ eigentümlich sei, ist eine Anschauung, die lange Zeit nicht nur über verschiedene Bildmedien transportiert wurde, sondern auch die Bühnendarstellung von Juden maßgeblich bestimmt hat. Hier knüpft Frühling am Rhein an: Der Titelheld selbst weist auf sein stark ausgeprägtes »Reden mit den Händen« hin, das er sogar im Selbstgespräch beibehält. Im Fall von Bondy drängt sich die Überlegung auf, ob dessen Angewohnheit, »Stepschritte am Platz« zu machen, wenn er ungeduldig wird, nicht als eine Variante ›jüdischen‹ Gestikulierens zu verstehen ist.26

Klänge Neben dem Körperbild werden in der Wiener Operette Klänge eingesetzt, um jüdische Figuren als ›fremd‹ oder ›anders‹ zu markieren, wobei unter Klang der Stimmklang der gesprochenen Sprache mit dem ihr zugrunde liegenden dramatischen Text27 und der Gestus der musikalischen Komposition gleichermaßen gefasst werden soll. Hans-Joachim Neubauer hat für die Dramatik des 19. Jahrhunderts Lexik, Syntax und Lautbildung, für die Aufführung darüber hinaus Stimme und Stimmklang als Medien der Ausgrenzung von Judenfiguren herausgearbeitet und darauf hingewiesen, dass »der Assimilationsgrad einer Figur und damit auch ihr Sozialstatus«28 in der mehr oder weniger ausgeprägten Regelwidrigkeit ihrer Sprache zum Ausdruck kommt. Diese Beobachtung bedarf im Hinblick auf die Operette des frühen 20. Jahrhunderts einiger Differenzierungen: Die Klangkomponenten Sprache/Text und Musik treten in den Operetten Lehárs, Eyslers und Kálmáns in vielgestaltige Wechselverhältnisse, die die ›Fremdheit‹ der Juden teils betonen, häufig aber auch verwischen; die klanglichen Markierungen haben im musikdramatischen Kontext der Stücke je unterschiedliche Funktionen; und sie verringern sich vom Rastelbinder bis zur Herzogin von Chicago kontinuierlich. Am stärksten ausgeprägt sind die klanglichen Markierungen bei Pfefferkorn. Er spricht einen Jargon, der sich zahlreicher Jiddismen im Sinn von 26

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Weitere Stereotype, die in den untersuchten Stücken anklingen, sind u.a.: der »neureiche Jude«, der geadelt wird bzw. Ahnen käuflich erwirbt; der »lüsterne Jude«, der nach jungen Mädchen schielt; der ›Jude‹ als der »typische Städter«. Interessante Aufschlüsse ließen sich zweifellos aus einer detaillierten Analyse der überwiegend von jüdischen Autoren verfassten Libretti unter dem Blickwinkel des »jüdischen Witzes« bzw. »jüdischen Humors« gewinnen. Neubauer: Kapitel: Die falsche Sprache, hier: S. 146.

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Fremdwörtern bedient, von der korrekten Syntax abweicht und in der Aussprache zur Abschleifung von Endungen und zur Verwischung von Vokalen neigt. Der Refrain von Pfefferkorns Entréelied (Nr. 3) arbeitet mit ›jüdischen‹ Melismen und wirkt durch seine langsam-wiegenden Sechzehntelbewegungen in g-moll als Kontrast zu dem vorangehenden stark rhythmisierten Allegro in GDur. Verfolgt man die Verarbeitung der hier mit Pfefferkorn verknüpften Motive in der Einleitung zum Vorspiel und blickt von dort auf die Introduktion Nr. 1 mit dem Chor der Slowaken, fällt allerdings auf, dass die Klangsphären Pfefferkorns und der Slowaken ineinander fließen. Bezieht man weiterhin die musikalische Anlage des I. Aktes mit seinen charakteristischen Wiener Liedern und Duetten ein (etwa das Ländler-Duett Die Resi auf d’Nacht mit ihr’n Schatz im Finale), so wird deutlich, dass es Lehár ganz grundsätzlich um musikalische Couleur zu tun war, wobei das ›Jüdische‹ nur eine Nuance unter anderen ist. Dies entspricht der Gestaltung des Librettos, das die seinerzeit aktuelle Nationalitätenthematik betont und in dem die Redeweise der Slowaken und der Wiener ebenso stark von der Schriftsprache abweicht wie diejenige Pfefferkorns. Relativiert wird die im Entrée anklingende ›Fremdheit‹ Pfefferkorns insbesondere durch seine zweite Solonummer, das Lied mit Walzerrefrain Dos is ä einfache Rechnung, das im Finale des Vorspiels exponiert und in den beiden folgenden Akten wiederholt wird; hier handelt es sich melodisch und rhythmisch um ein typisches Wienerlied, das Pfefferkorns soziale Integration gewissermaßen musikalisch beglaubigt. In Rosenstock und Edelweiß steht die sehr dezente klangliche Charakterisierung Rosenstocks als ›Jude‹ der Tatsache gegenüber, dass Aspekte des jüdischen Lebens in der Stadt und dessen Kontrastierung mit dem ›natürlichunverbildeten‹ Leben in den Bergen das Hauptthema des Stückes bilden. ›Jüdisches‹ wird also weniger als musikdramatisches Mittel denn als Sujet herausgestellt. Rosenstocks Sprache ist durch kleine Besonderheiten der Lautung sowie durch Anklänge eines »jüdischen Bildungsjargons« gekennzeichnet und trifft auf den ausgeprägten Dialekt Everls, der sämtliche Ebenen der Sprache deutlich verfremdet. Musikalisch werden die Sphären Everls und Rosenstocks in der Ouvertüre durch einen Ländler in E-Dur und einen Polka-Teil in e-moll unterschieden; im weiteren Verlauf findet sich ›jüdische‹ Melodik und Harmonik nur mehr in Rosenstocks Couplet Nr. 5, das aus dem Handlungszusammenhang heraus fällt und mit seinen ironischen Kommentaren zur Rolle der Juden in Kultur und Gesellschaft eher dem Typus des selbstständigen Kabarettliedes entspricht. Dass gerade jene Stücke, die von jüdischen Komponisten stammen, nämlich Frühling am Rhein und Die Herzogin von Chicago, keine als ›jüdisch‹ konnotierten musikalischen Wendungen mehr aufweisen, sollte nicht dazu verleiten, den Kompositionen des Nicht-Juden Lehár, die das ›Jüdische‹ betonen, eine anti-jüdische Tendenz zu unterstellen. Tatsächlich ist für Lehárs Operetten musikalische Couleur jedweder Art ein maßgebliches kompositorisches Ele-

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ment, während sich diese Couleur bei Eysler und Kálmán verloren bzw. in ihrer Funktion verändert hat (in Die Herzogin von Chicago etwa wird das Aufeinandertreffen amerikanischer und europäischer Kultur als musikalischer Klang und Rhythmus zum eigentlichen Sujet). Die sprachklangliche Dimension des ›Jüdischen‹ gewinnt in Frühling am Rhein und Die Herzogin von Chicago eine ganz spezifische Ausprägung, die das Verhältnis von Juden und Nicht-Juden neu fasst. Bei Frühling treten Eigentümlichkeiten in der Lautung sowie Fehler in der Konjugation hervor, die jedoch den Nicht-Juden in gleicher Weise unterlaufen und Anlass zu kleinen komischen Sprachspielen geben. Bondys Sprache hingegen – »amerikanischer Dialekt mit Brünner Einschlag« – ist ein fremder Klang unter vielen: sämtliche Figuren der Herzogin von Chicago weichen aufgrund ihrer Herkunft in irgendeiner Form von der Schriftsprache ab. Variable Stimmklänge und rivalisierende musikalische Klänge fügen sich in diesem Stück gewissermaßen zu einer polyphonen Struktur. Eine Norm, die den Juden als ›Fremden‹ kenntlich macht, existiert nicht mehr.

Das Groteske als das Regelwidrige? Die prägnanteste Markierung erfahren die Judenfiguren bei Lehár, Eysler und Kálmán zweifellos durch ihren grotesken Körpereinsatz im Tanz, der im Bewegungsfach des Tanzbuffo institutionalisiert und zugleich aufgrund der spezifischen Körperlichkeit des einzelnen Darstellers – Treumann, Eisenbach, Steiner – stark individualisiert ist. Während der Tanz Eisenbachs in der Rolle des Rosenstock explizit als »jüdischer Tanz« bezeichnet und als solcher von Everl imitiert wird, folgen die Tanznummern Steiners als Bondy den von ihm perfektionierten Groteskgenres der Clownerie, des Knockabout und der Tanzakrobatik. Die zentralen Tanznummern Treumanns in Der Rastelbinder und Frühling am Rhein greifen typische Grotesktänze des 19. Jahrhunderts auf: szenischer Höhepunkt ist im Rastelbinder die Quadrille Nr. 11, die Pfefferkorn mit Suza (Mizzi Günther) tanzt, in Frühling am Rhein der Holzschuhtanz als Abschluss des Holländischen Tanzliedes Nr. 14. Die Quadrille, entstanden als Gesellschaftstanz um 1800, wurde bald zur erotisch-akrobatischen Sensation in den Pariser Varietés; im Rastelbinder ist ihren fünf Teilen (Pantalon – Été – La Poule – Pastourelle – Finale [Galopp]) jeweils ein groteskes Programm unterlegt, das von Pfefferkorn erläuternd vorgetragen wird (»La Pastourelle! Der Schäfertanz! Ich bin das Schaf und du das Lampele!«). Der Holzschuhtanz war als clog dance eines der wichtigsten Genres männlicher Grotesktänzer in England und in den amerikanischen Music Halls und Minstrel Shows; in Frühling am Rhein tanzt ihn der Jude Frühling mit der ältlichen Baronin Hartenstein (verkörpert von der »komischen Alten«, gefeierten Tanzkünstlerin und Parodistin Viktoria Pohl-Meiser) im Stil eines ins Groteske übersteigerten Nationaltanzes.

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Überblickt man, welche sozialen Rollen die Operette den Juden zuweist, welche Körperstereotype durch die jüdischen Figuren reproduziert und wie diese Figuren durch Sprache und musikalische Motive charakterisiert werden, so fällt eine eindeutige Bewertung der gewählten Darstellungsweisen und damit eine Antwort auf die Frage, ob die Operetten-Juden ›Fremde‹ seien, schwer. Die Anlage der betreffenden Partien als groteske Bewegungsrollen könnte hier einen entscheidenden Hinweis liefern. Der europäische Bühnentanz hatte das groteske Fach seit langem zur Präsentation des Verzerrten, Übersteigerten, Unheimlichen eingesetzt: Finden sich im historisch-mythologischen Ballett des 18. Jahrhunderts Dämonen, Geister und Ungeheuer, Tiere und Bestien als groteske Partien, so prägte auch das romantische und klassische Ballett des 19. Jahrhunderts – unter veränderten ästhetischen und tanztechnischen Vorzeichen – eine Tradition des Groteskfaches aus, zu der so unterschiedliche Rollen wie die Hexe Madge in Filippo Taglionis La Sylphide (1832), die Titelpartie in Jean Corallis Le Diable boiteux (1836), der Zauberer Rotbart (auch in Gestalt einer Eule) in Wenzel Reisingers Lebedinoje osero (Schwanensee, 1877) und die böse Fee Carabosse in Marius Petipas Spjaschtschaja krassawiza (Dornröschen, 1890) gehören. Wenn Gero von Wilpert für das Groteske in der Literatur zusammenfasst: »Kennzeichnend ist das Umschlagen der Form ins Formlose, des Maßvollen ins Sinnlose bis geradezu Dämonische, des Lächerlichen ins Entsetzliche, Monströse«,29 so kann dies gleichermaßen als definitorischer Rahmen für den Tanz gelten. In diese doppelte – tanzhistorische wie literarische – Linie des Grotesken reihen sich die tanzenden Judenfiguren in der Operette ein, ohne dass damit das breite Feld vorstädtischer Bühnengenres des 19. Jahrhunderts überhaupt schon berührt wäre, in dem das Abnorme, Regelwidrige unzählige Ausformungen erhielt. Insofern Pfefferkorn, Rosenstock, Frühling und Bondy einem Bewegungsfach angehörten, das als groteskes für die Durchbrechung von Regeln stand, erschienen vielleicht auch sie – die Juden – als normwidrig.

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Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 71989, S. 353.

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Die komödienhafte Inszenierung einer antisemitischen Affäre Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi

Gut vier Jahre nachdem der Roman Der Weg ins Freie erschienen war, publizierte Arthur Schnitzler seine Komödie Professor Bernhardi zum Jahresende 1912 im S. Fischer Verlag Berlin. Die ersten Ideen und Entwürfe zu beiden Werken regredieren bis in die späten neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts, und beide Werke sind auch in Wien kurz vor der bzw. um die Jahrhundertwende lokalisiert. Mit Der Weg ins Freie hatte Schnitzler aus populärer Kritikersicht einen ›Judenroman‹ geschaffen1 – oder wie es der von Schnitzler selbst approbierte Annoncentext des Fischer Verlages formulierte: den »ersten zeitgeschichtlichen Roman des heutigen Wien«, in dem differenziert »insbesondere den Schicksalen der modernen Juden mehr noch nach der seelischen als der rein sozialen Seite nachgegangen wird«.2 Dagegen konzentrierte Schnitzler die Schauplätze, Handlungen und Figuren in Professor Bernhardi vornehmlich auf eine antisemitisch motivierte Affäre an dem fiktiven Wiener Privatkrankenhaus Elisabethinum, das über die Macht- und Gesinnungskämpfe der jüdischen und ›arischen‹, der liberalen, klerikalen, deutschnationalen und antisemitischen Gruppierungen als Mikrokosmos die gesellschaftspolitische Situation in Wien und Österreich um die Jahrhundertwende exemplarisch reflektiert.3 Während des Entstehungsprozesses von Professor Bernhardi äußerte Arthur Schnitzler mehrmals, dass er in die Komödie »viel Ekel hineindichten« und sich über die »nicht unlebendigen Figuren allerlei von der Seele sprechen« könne.4 Sein Interesse an dem antisemitischen Sujet wurde durch drei tagespolitische Affären aktualisiert: Die Spionageprozesse um den jüdischen Generalstabshauptmann Alfred Dreyfus in Frankreich zwischen 1899 und 1906, die klerikale Hetzkampagne gegen den progressiven katholischen Kirchenrechtler Ludwig Wahrmund in Innsbruck im Jahr 1908 und die antisemitische Affäre 1 2 3 4

Vgl.: Arthur Schnitzler: Der Geist im Wort und der Geist in der Tat. Hg. von Robert O. Weiss. Frankfurt a. M. 1993, S. 174. Vgl.: Arthur Schnitzler: Briefe 1875–1912. Hg. von Therese Nickl/Heinrich Schnitzler. Frankfurt a. M. 1981, S. 568f. Vgl.: Siegfried Melchinger: Das Jüdische in ›Professor Bernhardi‹. In: Theater heute 12 (1964), S. 32. Vgl.: Arthur Schnitzler: Tagebuch 1909–1912. Hg. von Werner Welzig. Wien 1981, S. 90. Donald G. Daviau (Hg.): The Letters of Arthur Schnitzler to Hermann Bahr. Chapel Hill 1978, S. 304.

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um den jüdischen Nationalökonom Siegmund Feilbogen, die in Wien ebenfalls im Jahr 1908 einsetzte, nachdem Feilbogens Schwägerin bei der päpstlichen Ostermesse in der Sixtinischen Kapelle die Kommunion empfangen und die Hostie wieder aus dem Mund genommen hatte.5 Zudem verarbeitete Schnitzler in einem Großteil des Figurenpersonals Elemente real existierender Individuen, die er von den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis nach der Jahrhundertwende als Medizinstudent an der Universität Wien, als Arzt am Wiener Allgemeinen Krankenhaus und an der Allgemeinen Wiener Poliklinik sowie als Schriftsteller in der Wiener Gesellschaft kennen gelernt hatte.6 Besonders deutlich porträtiert die Titelfigur Arthur Schnitzlers Vater Johann Schnitzler, insofern die fiktiven Konstellationen und Prozesse am Elisabethinum mit der historischen Entwicklungsgeschichte der Allgemeinen Wiener Poliklinik korrespondieren, die von Johann Schnitzler im Jahr 1872 mitbegründet und in den Jahren 1886 bis 1893 geleitet worden war: Analog zur ›arisch-semitischen‹ Polarisation am Elisabethinum war Johann Schnitzler mit antisemitisch motivierten Besetzungsintrigen und Hetzkampagnen konfrontiert, die sowohl von einem klinikinternen Ärzteflügel als auch von der externen Gesellschaft initiiert wurden.7 Arthur Schnitzler legte aber immensen Wert auf die Feststellung, dass sein Vater in Wesen und Verhalten Prof. Bernhardi nur marginal geglichen habe, und die Komödienhandlung trotz aller Realitätsnähe ein Kunstprodukt sei.8 In der Komödie Professor Bernhardi wird der dramatische Konflikt dadurch evoziert, dass der jüdische Krankenhaus-Direktor Prof. Bernhardi dem katholischen Pfarrer Reder untersagt, einer ebenfalls katholischen Patientin, die auf seiner Abteilung infolge einer Abtreibung im Sterben liegt, das Sakrament der letzten Ölung zu spenden. Der Vizedirektor Prof. Ebenwald versucht, den Vorfall für einen antisemitischen Besetzungshandel bezüglich einer vakanten Abteilungsleitung am Elisabethinum zu nutzen, worauf Prof. Bernhardi jedoch nicht eingeht. Deshalb wird auf Initiative von Prof. Ebenwalds Vetter, einem klerikalen Parlamentarier, eine Interpellation an den Unterrichtsminister Prof. Flint eingebracht, in der klerikal-antisemitische Politiker Genugtuung für die durch den Vorfall mit Pfarrer Reder »aufs schwerste verletzten religiösen Gefühle der christlichen Bevölkerung Wiens« fordern.9 In seiner Interpella-

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Vgl.: Arthur Schnitzler: Tagebuch 1903–1908. Hg. von Werner Welzig. Wien 1991, S. 323 und S. 331. Vgl.: Arthur Schnitzler: Briefe 1913–1931. Hg. von Peter Michael Braunwarth/ Richard Miklin/Susanne Pertlik/Heinrich Schnitzler. Frankfurt a. M. 1984, S. 12f und S. 156. Vgl.: Arthur Schnitzler: Jugend in Wien. Hg. von Therese Nickl/Heinrich Schnitzler Frankfurt a. M. 101999, S. 194–199. Vgl.: Schnitzler: Briefe 1913–1931, S. 13. Vgl.: Arthur Schnitzler: Professor Bernhardi. In: Ders. Das weite Land – Dramen 1909–1912. Frankfurt a. M. 71999, S. 221.

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tionsbeantwortung veranlasst Prof. Flint eine Untersuchung wegen Vergehens der Religionsstörung gegen Prof. Bernhardi. Darum demissioniert das gesamte Kuratorium des Elisabethinums, und Prof. Bernhardi legt sowohl seine Abteilungsleitung als auch sein Direktorat bis zum Abschluss der gerichtlichen Untersuchung nieder. In einem Geschworenenprozess wird Prof. Bernhardi des Verbrechens der Religionsstörung für schuldig befunden, zu zwei Monaten Kerkerhaft verurteilt und verliert als Rechtsfolge sein medizinisches Diplom. Am Tag von Prof. Bernhardis Haftentlassung bezichtigt sich Krankenschwester Ludmilla auf Veranlassung ihres Beichtvaters allerdings selbst des Meineids vor Gericht. Aus diesem Grund erhält Prof. Bernhardi von Prof. Flint sein medizinisches Diplom zurück und wird wohl in Kürze vom Ärztekollegium wieder zum Direktor des Elisabethinums gewählt werden, muss indes wegen der Bestrebungen von Prof. Flint mit einem Revisionsverfahren rechnen. In der Regieanweisung zum ersten Auftritt wird Prof. Bernhardi durch seine Erscheinung nicht als Jude stigmatisiert. In der Komödie spricht er keinen jüdischen ›Jargon‹ und bedient zudem habituell keine jüdischen Vorurteile – es sei denn, man möchte sein ironisches Lächeln und seine humoristischen Kommentare stereotyp als jüdische Charakteristika auffassen.10 Prof. Bernhardi äußert sich selbst an keiner Stelle direkt zu seiner jüdischen Abstammung, geschweige denn zu seiner jüdischen Religion. Darauf spielen erst Prof. Ebenwald und die parlamentarischen Interpellanten an, indem sie ihn mit religiösem Vokabular zum »Bekenner der mosaischen Konfession« diskriminieren,11 obwohl Prof. Bernhardi niemals jüdisches Traditions- oder Religionsbewusstsein demonstriert und lediglich überkonfessionell über Religion diskutiert. Er präsentiert sich weder speziell als gläubiger Jude noch als prinzipiell atheistischer oder gar areligiöser, sondern vielmehr als aufgeklärter, konfessionsloser, agnostizistischer Wissenschaftler, der sein Handeln wegen seiner religiösen Zweifel nach humanistischer Moralethik anstatt nach jüdischen bzw. christlichen Normen und Dogmen richtet:12 In diesem Sinn versucht Prof. Bernhardi, seine Gegner zu verstehen und einem »inneren Gefühl« zu vertrauen,13 ohne sein bezüglich Pfarrer Reder polares Gottes- und Glaubensbild ethischmoralisch verabsolutieren zu wollen. Nicht nur aus religiös-konfessioneller, sondern auch aus ›rassischer‹ Perspektive dokumentiert Prof. Bernhardi seine Objektivität: Drei Jahre vor der Handlungsebene hat er trotz seiner nachvollziehbaren Aversion gegen deutschnationale und antisemitische Gesinnung für Prof. Ebenwald als Vizedirektor votiert. Sein Auftreten plausibilisiert einerseits, dass Prof. Bernhardi auch den jüdischen Dr. Wenger bei der Wahl zum 10 11 12 13

Vgl.: Peter Horwath: Arthur Schnitzlers ›Professor Bernhardi‹, I. Teil. In: Literatur und Kritik, 12 (1967), S. 91. Vgl.: Schnitzler: Professor Bernhardi, S. 220. Vgl.: William H. Rey: Arthur Schnitzler – Professor Bernhardi. München 1971, S. 42 und S. 79. Vgl.: Schnitzler: Professor Bernhardi, S. 262.

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neuen Abteilungsleiter ausschließlich aufgrund der medizinischen Befähigung unterstützt. Andererseits bestätigt Prof. Bernhardi mit seinen früheren Verhaltensweisen, dass er Pfarrer Reder den Zutritt zu Philomena Beier nicht aus konfessionellen oder ›rassischen‹ Motiven verweigert, sondern weil er seiner mittlerweile euphorischen und vom nahenden Tod ahnungslosen Patientin tatsächlich ein »glückliches Sterben« verschaffen und keine erneute Todesangst einjagen möchte.14 Prof. Bernhardi trifft als Mensch und behandelnder Arzt in einer ganz speziellen Situation einfach eine spontane Entscheidung ohne »sekundäre Rücksichten«.15 Schwester Ludmilla und selbst Dr. Schreimann deuten an, dass Prof. Bernhardi zuvor noch nie einen Geistlichen abgewiesen hat. Der Verteidiger Goldenthal, Unterrichtsminister Flint und sogar Prof. Ebenwald können Prof. Bernhardi lediglich die Unbesonnenheit anlasten, in seinem Verhalten gegenüber Pfarrer Reder nicht die eventuellen gesellschaftspolitischen Konsequenzen für das Elisabethinum und sich selbst als Juden bedacht zu haben. Damit verifizieren auch die jüdisch konvertierten, katholisch klerikalen, deutschnationalen und antisemitischen Figuren die integre Handlungsmotivation von Prof. Bernhardi, die exakt der Autorenintention entspricht: Arthur Schnitzler projektierte, dass Prof. Bernhardi vor dem Krankenzimmer nicht aus antikatholischem Ressentiment, sondern alleine in ärztlicher Funktion und menschlichem Mitleid agieren sollte. So wertete er als Schriftsteller und besonders als Arzt Prof. Bernhardis Verhalten als völlig verantwortungsvoll und berechtigt.16 Über die Verheimlichung des tatsächlichen Krankheitszustands verhindert Prof. Bernhardi jedoch das Mitspracherecht von Philomena Beier, ob sie selbst priesterlich versehen werden möchte oder nicht. Er entscheidet als behandelnder Arzt totalitär, was ihm für seine Patientin als human und medizinisch richtig erscheint. In gewisser Weise gibt Prof. Bernhardi seine strikt wissenschaftliche, distanzierte Position auf, bevormundet und entmenschlicht Philomena Beier gerade durch seine mitleidige Befangenheit. Dieser Aspekt erweist sich als durchaus problematisch, weil Prof. Bernhardi die Vorgehensweisen von Prof. Ebenwald, Prof. Flint und Pfarrer Reder im weiteren Stückverlauf selbst unter der Prämisse der Willensfreiheit evaluiert und während der gesamten Affäre für sich selbstbestimmte Entscheidungsfreiheit postuliert, die er seiner Patientin versagt hat. Prof. Bernhardi wird in der Komödie mit 19 szenisch ausgearbeiteten Figuren konfrontiert, von denen 13 dem Elisabethinum angehören. Die insgesamt knapp 30 szenischen bzw. berichteten Figuren rekrutieren sich hauptsächlich aus dem ›arischen‹ bzw. jüdisch akkulturierten gehobenen Bildungsbürgertum, aber auch aus dem Großkapitalismus und der Aristokratie, und fächern sich politisch in Sozialdemokraten, Liberale, Klerikale bzw. Christlichsoziale, Deutschnationale, Antisemiten und deren Mischformen auf. 14 15 16

Vgl. ebd., S. 171. Vgl. ebd., S. 227. Vgl.: Schnitzler: Briefe 1913–1931, S. 1f und S. 339f.

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Als Hauptgegner von Prof. Bernhardi innerhalb des Elisabethinums fungiert Prof. Ebenwald: Er ist ein bloß mäßiger Physiologe und Diagnostiker, was ein berufliches Neid- und Konkurrenzverhalten zu Prof. Bernhardi bedingt. Seiner deutschnationalen, antisemitischen Gesinnung entsprechend versucht Prof. Ebenwald, die Affäre Bernhardi für seine egoistischen Karriereziele zu nutzen. Der Besetzungshandel mit seinem ›arisch‹ deutschnationalen Studienfreund Prof. Hell, durch dessen Wahl zum Abteilungsleiter Prof. Ebenwald seine eigene Position am Elisabethinum stärken wollte, misslingt. In der Sitzung des Ärztekollegiums legt Prof. Bernhardi allerdings auf Bestreben von Prof. Ebenwald das Direktorat nieder, so dass dieser bis Stückende zum stellvertretenden Leiter des Elisabethinums avancieren kann. Der dümmliche medizinische Kandidat Hochroitzpointner mit seinen militaristischen, deutschnationalen Tendenzen lässt sich von Prof. Ebenwald leicht instrumentalisieren. Er tritt im Prozess als Belastungszeuge auf, weil er mit Prof. Ebenwald die persönliche und ›rassische‹ Aversion gegen Prof. Bernhardi teilt und sich nach seiner Promotion wohl taktierend berufliche Protektion von Prof. Ebenwald erhofft.17 Den erst vor kurzem zum Katholizismus konvertierten Dr. Siegfried Schreimann hält sich Prof. Ebenwald dagegen gefügig, indem er dessen ›Deutschtum‹ anzweifelt und ihm die negativen Reaktionen seiner deutschnationalen Freunde auf sein berufliches Engagement für den ›rassischen Volljuden‹ wiederholt als Repressalie vorhält. Durch die Forderung nach Prof. Bernhardis Suspendierung möchte sich Dr. Schreimann als ›deutscher Christ‹ profilieren und Prof. Ebenwald zweifellos demonstrieren, dass in ihm keine jüdischen Atavismen mehr hervorbrechen. Den sehr reichen, katholischen Prof. Filitz macht sich Prof. Bernhardi selbst zum Feind, indem er dessen Ehefrau eine persönliche Satisfaktion für den Affront verwehrt, wegen des Vorfalls mit Pfarrer Reder nicht von Fürstin Babette Stixenstein empfangen worden zu sein. So unterstützt Prof. Filitz die negativen Sanktionen gegen Prof. Bernhardi vornehmlich aufgrund seines gesellschaftlichen Snobismus und offenbart damit zugleich, dass seine feudal-reaktionären, klerikalen und antisemitischen Ressentiments nur durch ostentativen Liberalismus und Philosemitismus kaschiert gewesen sind. Der psychisch labilen Schwester Ludmilla könnte die falsche Zeugenaussage suggeriert worden sein.18 Ihr Meineid wird indes vor allem durch falsch verstandene, naiv-subalterne Religiosität bedingt. Der wohl jüdische Prof. Tugendvetter sorgt sich ausschließlich um seine eigene Reputation und kümmert sich nach der Übernahme der Direktion des Wiener Allgemeinen Krankenhauses nicht mehr um das Schicksal seines Duzfreundes Prof. Bernhardi und des von ihm mitbegründeten Elisabethinums. Prof. Tugendvetters Nachfolger, der jüdische Dr. Samuel Wenger, greift in die Affäre Bernhardi aus beruflich-hierarchischer Unsicherheit und angeblich religiös-natio17 18

Vgl. Nachlass: Arthur Schnitzler: Professor Bernhardi. Cambridge University Library/England, File 118, Paper 381. Vgl. Nachlass: Professor Bernhardi, File 118, Paper 503.

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naler Indifferenz nicht ein. Er wird durch Prof. Bernhardi von der Abstimmung zur Suspendierung entbunden, um nicht in den »seelischen Konflikt« zu geraten, lediglich aus Dankbarkeit wegen der Ernennung zum Abteilungsleiter für seinen Vorgesetzten zu votieren.19 Als Hauptfürsprecher von Prof. Bernhardi innerhalb des Elisabethinums treten Dr. Löwenstein und die Professoren Cyprian und Pflugfelder auf. Der betont antiklerikale, jüdische Dr. Löwenstein erklärt sich schon aus Prinzip mit Prof. Bernhardis Verhalten solidarisch. Sein Aktivismus erschöpft sich jedoch in Misstrauen gegen Nicht-Juden und snobistische bzw. konvertierte Juden, so dass seine provokanten, aber konsequenzlosen Reden zu religiösen und ›rassischen‹ Themen beinahe karikaturistisch wirken.20 Der liberale Prof. Cyprian möchte die Affäre ganz im Sinn seines Duzfreundes Prof. Bernhardi auf nichtöffentlicher Ebene regeln. Durch sein skeptisch-rationales Weltbild, seine dialektische Urteilsfähigkeit und sein diplomatisches Verhalten wirkt er als nivellierendes Regulativ innerhalb der Parteiungen des von ihm mitbegründeten Elisabethinums, zeigt sich damit allerdings zu taktischen Konzessionen bereit und nimmt keine klar definierte gesellschaftspolitische Position ein. Im Gegensatz dazu erörtert Prof. Pflugfelder die Affäre Bernhardi auf einer Wählerversammlung zu den Landtagswahlen. Mit seinem öffentlichen Plädoyer erweist er sich zwar als echter Freund und Stellvertreter für Prof. Bernhardis politische Defizite, verteidigt als »altliberaler Achtundvierziger« in seiner allgemeinen Polemik gegen Unterrichtsminister Flint und den Wiener Erzbischof jedoch eher seine persönlichen Grundsätze als die Handlungsmotivation von Prof. Bernhardi, der zum Zeitpunkt der Wahlrede bereits seine Kerkerhaft verbüßt.21 Dr. Oskar Bernhardi steht laut eigener Aussage aus Überzeugung hinter seinem Vater, kommentiert die Affäre indes nicht offiziell, weil seine öffentliche Stellungnahme wohl bloß als selbstverständliche, familiär›rassische‹ Pflicht interpretiert werden würde. Dagegen ist die Parteinahme der Doktoren Pflugfelder und Adler für Prof. Bernhardi relativ frappant: Dr. Kurt Pflugfelder ist während seiner Universitätszeit Angehöriger einer deutschnationalen Couleur und überzeugter Antisemit gewesen. Nach seinem Studium hat er sich zudem zum ›Antiarier‹ entwickelt und taxiert nun all seine Mitmenschen kritisch nach situativen und individuellen Faktoren.22 Dieserart vereinigt Dr. Pflugfelder die besten Elemente seiner liberalen Erziehung und deutschnationalen Sozialisation in sich. Vor Gericht entlastet er Prof. Bernhardi mit seiner Zeugenaussage und beschimpft Hochroitzpointner als Lügner, dem er bis Stückende außergerichtlich nachstellt. Der ›rassisch halbjüdische‹ Dr. Adler vermag Prof. Bernhardis Verhalten laut eigener Aussage »formell« nicht zu 19 20 21 22

Vgl.: Schnitzler: Professor Bernhardi, S. 237. Vgl.: Schnitzler: Briefe 1913–1931, S. 3. Vgl.: Schnitzler: Professor Bernhardi, S. 196 und S. 222. Nachlass, Professor Bernhardi, File 118, Paper 397. Schnitzler, Briefe 1913–1931, S. 3 und S. 100. Vgl.: Schnitzler: Professor Bernhardi, S. 166f.

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billigen.23 Er befürwortet die Suspendierung, um eine ordnungsgemäße Untersuchung des Vorfalls zu garantieren und dadurch gleichzeitig zu pointieren, dass er mit einer ›arisch‹-katholischen Mutter nicht nur im orthodox-jüdischen Sinn kein Jude ist. Bei der Wahl zum neuen Abteilungsleiter votiert Dr. Adler aber für Dr. Wenger und entlastet Prof. Bernhardi mit seiner Zeugenaussage vor Gericht, womit er Beweise für seine Loyalität und Objektivität liefert. Außerhalb des Elisabethinums stellt sich der erst kürzlich designierte, parlamentarisch unerfahrene Unterrichtsminister Prof. Flint im negativen Sinn am wandlungsfähigsten dar. Mit seiner Interpellationsbeantwortung profiliert er sich bei den klerikal-antisemitischen Parlamentariern, während er durch das anvisierte Revisionsverfahren seine Reputation als liberaler Politiker wiederherstellen möchte. Lediglich positivistisch geht es Prof. Flint dabei um eine Verteidigung bzw. Rehabilitierung von Prof. Bernhardi. Seine politischen Entscheidungen werden nicht durch Sentimentalität oder Überzeugungstreue, sondern ausschließlich durch protektionsbedachten Opportunismus motiviert. So macht Prof. Flint die Konzessionen an die reaktionären Abgeordneten, um sich seine ministerielle Machtposition zu sichern und nicht, um seine fortschrittlichen Projekte künftig mit einer Parlamentsmehrheit realisieren zu können.24 Wohl aufgrund seiner Erfahrungen mit Prof. Flint im Unterrichtsministerium erachtet es der Regierungsbeamte Dr. Winkler als sinnlos, in der Politik ethischen Belangen wie Verantwortung und Willensfreiheit nachzugehen. Als Sozialdemokrat zeigt er zwar anarchistische Tendenzen, fühlt sich selbst allerdings nicht zum Reformator geboren und vertritt eine antiaktivistische Haltung, um als Hofrat nicht allzu viele politische Kompromisse eingehen zu müssen. Deshalb sympathisiert Dr. Winkler nur als Privatmann mit Prof. Bernhardis Verhalten. In politischer Hinsicht kritisiert er es als unvernünftig und wirkungslos, weil er die Intervention in konfessionelle und politische Belange alleine unter der präsumierten Bereitschaft akzeptieren kann, bis zur letzten Konsequenz für eine Überzeugung zu kämpfen. Diametral dazu möchte der schon vor längerer Zeit zum Katholizismus konvertierte Jude Dr. Goldenthal überhaupt keinen Anstoß erregen. Er nimmt als Verteidiger von Prof. Bernhardi das Sakrament der letzten Ölung vor Gericht indirekt in Schutz, bezeichnet Prof. Bernhardis Verhalten als einen »Akt der Unbesonnenheit«25 und behandelt die Richter, Geschworenen und selbst die falschen Zeugen Hochroitzpointner und Schwester Ludmilla opportunistisch. Denn seine diplomatische Zurückhaltung lässt sich nicht mit der von ihm selbst genannten Abneigung gegen Effekthascherei, Respektlosigkeit und Politisierung im Gerichtssaal erklären, sondern ist durch die für Renegaten typische Furcht moti-

23 24 25

Vgl. ebd., S. 173. Vgl.: Arthur Schnitzler: Tagebuch 1913–1916. Hg. von Werner Welzig. Wien 1983, S. 307. Vgl.: Schnitzler: Professor Bernhardi, S. 253.

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viert, noch nach der Konversion für einen Juden gehalten zu werden.26 Aus diesem Grund sympathisiert Dr. Goldenthal auch mit den klerikalen Maßnahmen von Prof. Flint und möchte eine Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Gerichtsurteil erst einreichen, als er eine »freiheitliche« Veränderung in der politischen Konstellation zu spüren glaubt.27 Dementsprechend wird Prof. Bernhardi nach seiner Verurteilung von dem wahrscheinlich jüdischen Journalisten Dr. Kulka um ein Interview für die Zeitung Neueste Nachrichten gebeten, mit der wohl auf die Wiener liberale Tageszeitung Neue Freie Presse angespielt wird.28 Die wiederholten Fragen nach Prof. Flint lassen jedoch vermuten, dass Dr. Kulka Prof. Bernhardi kein Forum für eine Gegendarstellung bieten, sondern über den Unterrichtsminister einen auflageträchtigen Investigationsartikel verfassen will, welcher mit der antiklerikalen Redaktionslinie seiner Zeitung korrespondiert. Der katholische Pfarrer Franz Reder möchte als direkter Antagonist von Prof. Bernhardi in dem Konflikt um das physische, psychische und transzendentale Wohl der Patientin lediglich seine religiöse Pflicht erfüllen. Er ignoriert mit der Ankündigung seines Erscheinens durch Schwester Ludmilla zwar die Autorität von Prof. Bernhardi als behandelndem Arzt, bestätigt dafür aber im Prozess, dass Prof. Bernhardi mit seinem Verhalten keine »feindselige Demonstration gegen die katholische Kirche« beabsichtigt habe.29 Erst nach der Urteilsverkündung gesteht Pfarrer Reder Prof. Bernhardi vertraulich zu, nicht nur eine gute Absicht, sondern in ärztlicher Funktion auch das Recht besessen zu haben, ihm den Zutritt zu der sterbenden, sündigen Katholikin zu verweigern. Dies konnte er vor Gericht nicht aussagen, weil er Einordnung und Gehorsam als die höchsten klerikalen Gesetze respektiert und wegen Insubordination seine Exkommunikation gefürchtet hat. Pfarrer Reder wird durchaus sympathisch geschildert und befindet sich in einem Schwebezustand zwischen Dogmengläubigkeit und individueller Selbständigkeit, der schon nicht mehr dem katholischen Autoritätsgehorsam entspricht. Mit der Gebundenheit an seine Glaubensgemeinschaft und Demut gegenüber seiner Kircheninstitution unterscheidet er sich allerdings dermaßen von Prof. Bernhardi, dass es zwischen den beiden Männern zu keiner permanenten Verständigung, sondern nur zu einer kurzfristigen Versöhnung kommen kann.30 Dies verdeutlichte Arthur Schnitzler auch in einer undatierten Notiz: Sie reden aneinander vorbei. [...] dies ist ja der Sinn gerade dieses Dialogs. Jeder sagt genau das, was er aus seinem Wesen heraus sagen muss. Würden sie einander völlig verstehen, so wären sie identisch. Aber wären sie an persönlicher Denkart und 26 27 28 29 30

Vgl.: Schnitzler: Tagebuch 1909–1912, S. 357. Arthur Schnitzler: Tagebuch 1923– 1926. Hg. von Werner Welzig. Wien 1995, S. 135. Vgl.: Schnitzler: Professor Bernhardi, S. 250. Vgl. Nachlass: Professor Bernhardi, File 118, Paper 294. Vgl.: Schnitzler: Professor Bernhardi, S. 249 und S. 255f. Vgl.: Schnitzler: Briefe 1913–1931, S. 3. Jeffrey B. Berlin: »The Priest Figure in Schnitzlers Professor Bernhardi«. In: T.A. Birrel/S. Dresden/A.L. Vos (Hg.): Neophilologus. Bd. 64. Amsterdam 1980, S. 435.

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Weltanschauung die vollkommensten Menschen ihrer Art, so würden sie die grosse Frage, die auf dem Grund dieses Dialogs schlummert, über freien Willen und Kausalität doch niemals lösen. Hätten sie nicht aneinander vorbeigeredet, so müsste ja einer den andern überzeugen; es stünde am Schlusse jeder dort, wo der Andere am Anfang stand und die Geschichte könnte wieder von vorne anfangen. Wer die Frage aber endgültig gelöst hätte, wäre kein Dichter mehr, sondern der Schöpfer der Welt.31

Der jüdische Dr. Feuermann stellt die einzige szenische Figur dar, die keinen gemeinsamen Auftritt mit Prof. Bernhardi besitzt. Als noch unerfahrenem Bezirksarzt in Oberhollabrunn ist ihm bei einer Geburt eine Lehrergattin verblutet. Dr. Feuermann wird wegen Vergehens gegen die Sicherheit des Lebens unter Anklage gestellt, in seinem Prozess aufgrund des Sachverständigen Prof. Filitz indes freigesprochen. Prof. Filitz fertigt die entlastende Expertise nicht an, weil er von Dr. Feuermanns Schuldlosigkeit gänzlich überzeugt ist, sondern seinen jüdischen Kollegen am Elisabethinum beweisen möchte, dass er kein Antisemit ist und Partei für einen Juden ergreifen kann. Die Episodenhandlung um Dr. Feuermann illustriert mit ihren kontrastierenden Analogien die Willkür in der Affäre Bernhardi: Obwohl Dr. Feuermann den physischen Tod einer Patientin verschuldet, wird er wegen seiner jüdischen Identität von Prof. Filitz verteidigt und darum freigesprochen, während Prof. Bernhardi aufgrund seiner jüdischen Abstammung keine einflussreichen Fürsprecher besitzt und in seinem Prozess verurteilt wird, obwohl er ›lediglich‹ die seelische Unsterblichkeit einer Patientin verhindert haben soll. So demonstriert der Fall Feuermann kontrastierend, welch immense Bedeutung die jüdische Abstammung auch in der Affäre Bernhardi besitzt. Arthur Schnitzler ließ dies nicht nur Dr. Löwenstein in der Komödie aussprechen, sondern notierte zudem in einer undatierten Skizze zu Professor Bernhardi: Eine besondere Färbung erhält der Verlauf der ganzen Angelegenheit durch den Umstand, dass Bernhardi Jude ist, was um das Jahr 1900, zu welcher Zeit die Handlung sich abspielt, in Oesterreich nicht ohne Bedeutung sein konnte.32

Von allen Figuren wird der Vorfall zwischen Prof. Bernhardi und Pfarrer Reder nicht als spezifisch moralisch-ethischer, sondern zumindest ansatzweise als generell interkonfessioneller bzw. -›rassischer‹ Konflikt interpretiert. Sie politisieren die private Angelegenheit zu einer öffentlichen Affäre und werden dabei von egoistischem Utilitarismus und ihrem persönlichen Verhältnis zu Prof. Bernhardi geleitet, worin sich ihre jeweiligen politischen, religiösen, konfessionellen und ›rassischen‹ Konzeptionen reflektieren. Einzige Ausnahme bildet vielleicht Prof. Cyprian, der Prof. Bernhardi auch prophezeit: Und du wirst die ganze Affäre nicht nur unter dem böswilligen Geheul deiner geborenen und neuerworbenen Feinde, sondern überdies unter dem verlegenen Schwei31 32

Nachlass, Arthur Schnitzler: Zu eigenen Werken, File 20, Paper 35. Nachlass, Professor Bernhardi, File 117, Paper 8.

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gen oder dem mißbilligenden Gemurmel der Gleichgültigen, und sogar deiner Freunde, durchzuführen haben.33

Prof. Bernhardis Verhalten wird nicht als Maßnahme eines konfessionslosen Wissenschaftlers gegen einen frommen Kirchenvertreter, sondern als Revolte eines Juden gegen ›Ariertum‹ und Katholizismus ausgelegt. So fühlt sich Hochroitzpointner gleich nach dem Vorfall verpflichtet, Prof. Bernhardi daran zu erinnern, dass Österreich ein »christlicher Staat« sei, was auch Unterrichtsminister Flint im Folgenden aufnimmt.34 Es ist nicht verwunderlich, dass die zeitgenössische Literaturkritik Prof. Bernhardi ethisch oftmals mit der Titelfigur aus Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise verglich: Prof. Bernhardi beweist in der Affäre, dass er nicht aus konfessioneller bzw. ›rassischer‹ Perspektive, sondern nach den philosophisch-ethischen Maximen der Willensfreiheit, Verantwortung, Gerechtigkeit und Wahrheit agiert. Dementsprechend kann er die Vorwürfe der bewussten Religionsverletzung und Verhöhnung eines katholischen Sakraments lediglich als »faktiöse Entstellungen« werten.35 Trotz der zunehmenden Politisierung seiner Angelegenheit lehnt Prof. Bernhardi es konsequent ab, sich in eine politische Rolle drängen zu lassen. Wie er die klerikal-antisemitische Hetzkampagne möglichst zu ignorieren sucht, so verweigert er sich jeglicher jüdisch liberalen Gegenaktion, weil er sich keiner Partei zugehörig fühlt und auch nicht als liberaler »Bundesgenosse im Kampf für Fortschritt, Freiheit und Aufklärung« versteht.36 Nur zweimal versucht Prof. Bernhardi, den Vorfall selbst zu politisieren, indem er die Professoren Ebenwald und Flint vergeblich vor Gericht zitieren lassen möchte und indem er während seiner Kerkerhaft eine Anklageschrift gegen seine Kontrahenten zu verfassen beginnt, die er jedoch nicht vollendet, weil sie sich zusehends zum »philosophischen Traktat« verformt.37 Ansonsten reagiert Prof. Bernhardi auf die Politisierung mit Verweigerungsmechanismen, die seine Gegner und Freunde gleichermaßen als Eitelkeit, Trotz und Rechthaberei interpretieren. Tatsächlich verfällt er in eine fast autistische Introversion und resignative Passivität, um die ihm von außen aufoktroyierte politische Rolle wenigstens nicht aktiv auszufüllen.38 Prof. Bernhardi schweigt vor Gericht ostentativ zu den Anklagen, verzichtet nach der Verurteilung auf sämtliche Rechtsmittel, schlägt während der Kerkerhaft ein Gnadengesuch an den Kaiser ab und empfindet die parteiische Berichterstattung in den sozialdemokratischen und liberalen Zeitungen als ebenso lächerlich und beschämend wie die Sympathiebe33 34 35 36 37 38

Schnitzler, Professor Bernhardi, S. 189. Vgl. ebd., S. 174 und S. 204. Vgl. ebd., S. 225f. Vgl. ebd., S. 266. Vgl. ebd., S. 292. Vgl.: Egon Schwarz: »Die gebrechliche Beschaffenheit individualistischer Ethik oder Der doppelte »Scherenschnitt« in Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi«. In: Hans Dietrich Irmscher/Werner Keller (Hg.): Drama und Theater im 20. Jahrhundert. Festschrift für Walter Hinck. Göttingen 1983, S. 71–75.

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kundungen von liberaler und zionistischer Seite anlässlich seiner Haftentlassung. Zudem möchte er nichts mit dem drohenden Revisionsverfahren zu schaffen haben und ist an einer juristisch-gesellschaftlichen Rehabilitierung überhaupt nicht interessiert. Wie standhaft Prof. Bernhardi an seiner apolitischen Überzeugung festhält, zeigt sich vor allem an der Niederlegung des Direktorats und der Abteilungsleitung, was ihm persönlich das größte Opfer bedeuten dürfte.39 Er zieht sich völlig in die Privatsphäre zurück, damit die Affäre schnellstmöglich zum Abschluss kommt und aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwindet, um sich selbst wieder respektieren und seiner eigentlichen Aufgabe als Arzt in gewohnter Form nachkommen zu können. Das Ziel, mit diesem Verhalten eine Entpolitisierung der Affäre zu erreichen, schlägt allerdings fehl: Das anhängige Revisionsverfahren und die sozialdemokratischen, liberalen und zionistischen Kampagnen, die mit Stückende einsetzen, werden sich ohne Prof. Bernhardis Zutun zum Selbstläufer entwickeln – wie die klerikale, deutschnationale und antisemitische Hetze innerhalb des Stücks. Deshalb ist zu befürchten, dass sich die Affäre Bernhardi über Stückende hinaus unter Verkehrung der gesellschaftspolitischen Vorzeichen fortsetzen wird. Besonders in liberalen Kritiken und Feuilletons zur Buchveröffentlichung und zu Inszenierungen von Professor Bernhardi wurde oftmals dieser mangelnde politische Kampfgeist von Prof. Bernhardi moniert.40 Doch Arthur Schnitzler hatte gar nicht intendiert, mit Prof. Bernhardi einen »Kämpfer für eine Kultur der Freiheit und für den Respekt vor der Wissenschaft« zu erschaffen, sondern lediglich eine würdevolle, mannhafte und überzeugungstreue Figur. Gerade in den Verweigerungstendenzen sah er einen Beleg, dass Prof. Bernhardi eben nicht »klein beigibt«.41 Bezug nehmend auf eine Berliner Zeitungskritik, die Prof. Bernhardi gemäß der Autorenintention als einen zart vornehmen Zyniker und »Waschlappen« ohne Energie und Konsequenz bezeichnete, der nicht Recht behalten, sondern nur in Ruhe leben wolle, schrieb Schnitzler noch im März 1930 an den Bernhardi-Darsteller Heinz Salfner: Diesen Mann, der so völlig konsequent seiner Menschlichkeit und seiner Gesinnung nach handelt, der [...] allerlei Unannehmlichkeiten durchmacht, die er sich durch die leiseste Nachgiebigkeit ohneweiters hätte ersparen können und der am Ende [...] auf den billigen Triumph einer Revisionsverhandlung verzichtet, [...] der nur vor dem Gesindel Ruhe haben will, mit dem er es zu tun hat und sich im übrigen durchaus nicht nach Ruhe, sondern nach wirklicher ›Arbeit‹ sehnt; – diesen Mann einen

39 40

41

Vgl. Nachlass: Professor Bernhardi, File 118, Paper 562f. Vgl.: William Edgar Yates: »The Tendentious Reception of Professor Bernhardi«. In: Edward Timms/Ritchie Robertson (Hg.): Vienna 1900 – From Altenberg to Wittgenstein. Edinburgh 1990, S. 120–124. Vgl. Nachlass: Zu eigenen Werken, File 20, Paper 38. Schnitzler, Briefe 1913–1931, S. 1. Schnitzler, Tagebuch 1913–1916, S. 62.

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Waschlappen zu nennen – welch bösartiges Unverständnis oder welche abgründige Parteitrottelei gehört dazu!42

Die Kritiken und Feuilletons in der klerikalen, christlichsozialen, deutschnationalen und antisemitischen Presse beschäftigten sich zumeist nicht mit Prof. Bernhardis Einstellung zum politischen Kampf, sondern urteilten die gesamte Komödie mehr unter gesellschaftspolitischen als kunstästhetischen Aspekten überwiegend als ein gehässig verleumderisches »Tendenzstück« ab, das durch die Konfrontation des jüdischen Prof. Bernhardi und des christlichen Pfarrers Reder in kunstloser Pamphletmanier mit prosemitischen Gesinnungseffekten das ›Deutschtum‹ und den Katholizismus verunglimpfe.43 Dabei wurden die eventuell blasphemisch anmutenden Parallelen zwischen Prof. Bernhardi und Jesus Christus noch gar nicht wahrgenommen: Prof. Bernhardi verwendet ein auffallend katholizierendes Vokabular und bedient sich mehrmals neutestamentlicher Anspielungen und Zitate von Jesus. Er schart zwölf Ärzte um sich, zeigt als Jude expliziter als die meisten Katholiken in der Komödie ›christliche Tugend‹ und ist einem dem Kreuzgang nicht unähnlichen Spießrutenlauf ausgeliefert.44 Trotz aller Pressekritik wurde Professor Bernhardi für Arthur Schnitzler buchhändlerisch zum lukrativen Erfolg: Noch sechs Jahre nach der Veröffentlichung war die Komödie im Jahr 1919 das zweitbestverkaufte Werk von Schnitzler im S. Fischer Verlag, und im Jahr 1925 lag die Druckausgabe in ihrer 25. Auflage vor.45 Der Buchabsatz wurde wohl auch durch das in den österreichischen Kronländern von 1912 bis 1918 geltende Aufführungsverbot massiv in die Höhe getrieben. Am 25. Oktober 1912 untersagte das niederösterreichische Statthaltereipräsidium nach der für dramatische Werke geltenden Präventivzensur ohne offizielle Angabe von Gründen die Aufführung von Professor Bernhardi durch das Deutsche Volkstheater in Wien.46 Nachdem der 42 43

44

45 46

Schnitzler, Briefe 1913–1931, S. 668. Vgl.: Yates. Hans-Peter Bayerdörfer: »›Österreichische Verhältnisse‹? – Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi auf Berliner Bühnen 1912–1931«. In: Mark H. Gelber/Hans Otto Horch/Sigurd Paul Scheichl (Hg.): Von Franzos zu Canetti – Jüdische Autoren aus Österreich, Neue Studien. Tübingen 1996, S. 211–224. Werner Wilhelm Schnabel: »Professor Bernhardi und die Wiener Zensur«. In: Fritz Martini/Walter Müller-Seidel/Bernhard Zeller (Hg.): Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. Stuttgart 1984, S. 349–383. Vgl.: Rey, S. 54. Peter Horwath: Arthur Schnitzlers ›Professor Bernhardi‹ – Eine Studie über Person und Tendenz, II. Teil. In: Literatur und Kritik, 13 (1967), S. 184. Heinrich Kaulen: Antisemitismus und Aufklärung – Zum Verständnis von Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi. In: Werner Besch/Hugo Moser/Hartmut Steinecke (Hg.): Zeitschrift für Deutsche Philologie. Berlin 2 (1981), S. 183f. Vgl.: Schnitzler: Briefe 1913–1931, S. 205. Reinhard Urbach: Schnitzler-Kommentar zu den erzählenden Schriften und dramatischen Werken. München 1974, S. 186. Vgl.: Niederösterreichisches Landesarchiv (NÖLA): Zensurakt zum Bühnenwerk ›Professor Bernhardi‹. Karton 58, 1673 aus 1918, Zl. 2910/1912–XIV/197a4.

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Volkstheater-Direktor Adolf Weisse im November 1912 einen Rekurs eingebracht hatte, bestätigte das k.k. Ministerium des Inneren am 25. Januar 1913 das Aufführungsverbot mit folgender Begründung: Wenn auch die Bedenken, die gegen die Aufführung des Werkes vom Standpunkte der Wahrung religiöser Gefühle der Bevölkerung vorliegen, durch Striche oder Aenderung einiger Textstellen immerhin beseitigt werden könnten, so stellt doch das Bühnenwerk schon in seinem gesamten Aufbau durch das Zusammenwirken der zur Beleuchtung unseres öffentlichen Lebens gebrachten Episoden österreichische staatliche Einrichtungen unter vielfacher Entstellung hierländischer Zustände in einer so herabsetzenden Weise dar, daß seine Aufführung auf einer ›inländischen Bühne‹ wegen der zu wahrenden öffentlichen Interessen nicht zugelassen werden kann. Dem gegenüber kann für die Frage der Aufführung des Bühnenwerkes dessen literarische Bedeutung nicht als entscheidend ins Gewicht fallen.47

Offiziell wurde die Thematik des Antisemitismus von der Behörde gar nicht angesprochen. Nicht das religiös-konfessionelle Problem, sondern die scharfe Kritik an allen öffentlichen und staatlichen Einrichtungen und Verhältnissen in Österreich stellte den Hauptgrund für das Zensurverbot dar. Nach dem ministerialen Verbot versuchte Arthur Schnitzler zusammen mit dem Deutschen Volkstheater, eine Aufführungserlaubnis für Professor Bernhardi zumindest in geschlossenen Vorstellungen zu erwirken. Doch erfolgten auch hierfür im April und Dezember 1913 neuerliche Verbotsbestätigungen durch die Statthalterei.48 Von allen weiteren Aufführungsversuchen wurde wieder abgesehen, bevor sich die Statthalterei offiziell dazu äußern musste. So waren bis zum Ende des Ersten Weltkrieges in den österreichischen Kronländern nur Vorlesungen von Professor Bernhardi möglich.49 Erst nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches hob das Präsidium der niederösterreichischen Landesregierung per Erlass vom 21. Dezember 1918 das Aufführungsverbot für den »vollinhaltlichen« Text von Professor Bernhardi in Österreich auf. Ausschlaggebend für die Freigabe war, dass die Komödie aufgrund der bürokratischen und politischen »Neuordnung des innerstaatlichen Lebens« als inhaltlich nicht mehr aktuell bewertet wurde.50 Arthur Schnitzler kommentierte die Freigabe in seinem Tagebuch im Oktober 1918 mit den Worten: »Erfreulich – aber etwas kostspielig: Weltkrieg und Revolution, – damit – diese Aufführung in Wien möglich wird!«51 Die Uraufführung von Professor Bernhardi war am Kleinen Theater in Berlin bereits am 28. November 1912 erfolgt, die Wiener Erstaufführung am Deutschen Volkstheater wurde erst am 21. Dezember 1918 realisiert. Die Verleihung des Grillparzer-Preises durch die Österreichische Aka47 48

49 50 51

NÖLA, Zl. 426/6. Vgl. auch: ebd., Zl. 2910–2/1912. Vgl.: Österreichisches Staatsarchiv: Bestand des Ministeriums des Inneren/ Allgemein, Zl. 11870/13, 47017/13. Karl Glossy: Vierzig Jahre Deutsches Volkstheater. Wien 1929, S. 223. Vgl.: NÖLA: Zl. 2910/1912. Schnitzler, Tagebuch 1913–1916, S. 30 und S. 99. Vgl.: NÖLA: Zl. 1673/13, 1673/14. Arthur Schnitzler: Tagebuch 1917–1919. Hg. v. Werner Welzig. Wien 1985, S. 196.

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demie der Wissenschaften war Schnitzler für Professor Bernhardi im Jahr 1914 versagt geblieben, hauptsächlich weil der jüdische Kritiker und Literaturhistoriker Anton Bettelheim die übrigen Preisrichter mit seinen Bedenken hinsichtlich der gesellschaftlichen Reaktionen zu negativen Vota manipuliert hatte. Dafür wurde Schnitzler im Jahr 1920 der Preis des Deutschen Volkstheaters zugesprochen, was jedoch als Honorierung des Aufführungserfolgs der Komödie an diesem Theater und weniger als Ehrung der literarischen Qualität von Professor Bernhardi zu werten ist.52 Nachgewiesenermaßen führte in der Aufführungsgeschichte von Professor Bernhardi lediglich eine Vorstellung am Stadttheater Wiener Neustadt im Oktober 1919 zu politischen Krawallen: Die örtliche antisemitische Presse hatte vor der Aufführung bereits indirekt einen Theaterskandal angedroht, weil sich Professor Bernhardi in »Judenkult« und »Ausfällen gegen die Antisemiten« ergehe. Christlichsoziale und Deutschnationale verteilten vor dem Theater antisemitische Flugblätter und störten die Vorstellung ab dem dritten Akt dermaßen, dass die Polizei intervenieren und einige Arretierungen vornehmen musste. Professor Bernhardi konnte zwar zu Ende gespielt werden, die Krawalle setzten sich indes nach der Aufführung vor dem Theater teils gewalttätig fort.53 Im nationalsozialistischen Deutschland und Österreich wurde Professor Bernhardi abermals verboten, konnte allerdings als eines der ersten, von den Nationalsozialisten indizierten Theaterstücke am 23. September 1947 an der Wiener Residenzbühne wiederum Premiere feiern.54 So reflektiert die Rezeptions- und Aufführungsgeschichte auch in der Realität die schmierenkomödiantische Farce, welche die fiktive Figur Prof. Bernhardi in Form klerikal-antisemitischer Intrigen erleben muss. Nicht zu Unrecht konnte Arthur Schnitzler Professor Bernhardi darum eine »Komödie im höheren Sinn« nennen.55

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Vgl.: Schnitzler: Tagebuch 1909–1912, S. 370. Schnitzler, Tagebuch 1913–1916, S. 107f. Schnitzler, Tagebuch 1917–1919, S. 210f. Arthur Schnitzler: Tagebuch 1920–1922. Hg. v. Werner Welzig. Wien 1993, S. 92. Vgl.: Schnitzler: Tagebuch 1917–1919, S. 302 und S. 308. Bettina Riedmann: ›Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher‹. Judentum in Arthur Schnitzlers Tagebüchern und Briefen. Tübingen 2002, S. 296ff. Vgl.: Rey, S. 87. Schnabel, S. 368. Vgl.: Schnitzler: Professor Bernhardi, S. 250. Nachlass, Professor Bernhardi, File 118, Paper 609. Nachlass, Zu eigenen Werken, File 20, Paper 38.

Simone Lutz

»Du aber halte meinen Bund« Die Bibel als Paradigma jüdischer Identität in Beer-Hofmanns Jaákobs Traum Man konnte das 6000jährige jüdische Erbe nicht verleugnen; aber ebensowenig kann man das 2000jährige nicht-jüdische verleugnen. Wir kommen eher aus der ›Emanzipation‹, aus der Humanität, aus dem ›Humanen‹, als aus Ägypten. Unsere Ahnen sind Goethe, Lessing, Herder nicht minder als Abraham, Isaak und Jakob. (Brief Joseph Roths an Stefan Zweig vom 22. März 1933)

Als 1918 Beer-Hofmanns Drama Jaákobs Traum erschien, war es mit dem Zusatz versehen: »Es wäre mir wünschenswert gewesen Jaákobs Traum, der seit Juli 1915 abgeschlossen lag, auch weiterhin – bis zur Vollendung meiner Arbeit1 – unveröffentlicht zu lassen. Ereignisse veranlassen mich auf meinen Wunsch zu verzichten.« Für den heutigen Leser mutet der Verweis »Ereignisse« kryptisch an, für Beer-Hofmanns Zeitgenossen war die Bedeutung der Anspielung jedoch leicht zu entschlüsseln, so schrieb Siegfried Jacobsohn 1919 in der Weltbühne: Ich vermute, welches ein Ereignis ihn bestimmt hat: seine rückwärts gewandte Prophezeiung, dass die Judenheit ihren Wirtsvölkern immerdar der Sündenbock sein werde, ist wieder einmal in Erfüllung gegangen.2

Es war also der wieder gesellschaftsfähig werdende Antisemitismus der ›Kriegsschuld‹-Zuweisung, das scheiternde Projekt einer jüdischen Emanzipation, das schon seit der Jahrhundertwende gerade durch den rassischen Antisemitismus anschwellende Bewusstsein der ›Unkündbarkeit‹ des Judentum, das den Autor zur Veröffentlichung veranlasste. Dabei liegt der Fokus BeerHofmanns eben nicht auf einer »realen, sozial-psychologischen« Erklärung und Abwehr des Antisemitismus – wie etwa bei den Dramen Schnitzlers – sondern in der »historisch-legendären«3 Konstruktion jüdischer Identität aus den Quellen des Alten Testamentes. In Jaákobs Traum, das in zwei Bildern die Geschichte der Erwählung des Volkes Israel im Stellvertreter, dem Erzvater 1 2 3

D.h. der Vollendung des dreiteiligen Dramenzyklus Die Historie von König David, der Jaákobs Traum als Vorspiel dient. Siegfried Jacobsohn: »Jaákobs Traum«. In: Walter Karsch/Gerhart Göhler (Hg.): Jahre der Bühne. Theaterkritische Schriften. Reinbek 1965, S. 180–182. Ich beziehe mich hier auf einen Tagebucheintrag Arthur Schnitzlers, in dem er die Unterschiede zwischen seinem und dem Judentum Beer-Hofmanns in jenen Kriterien beschreibt (9.1.1918). In: Werner Welzig (Hg.): Tagebuch 1917–1919. Wien 1985, S. 146.

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Jakob, erzählt, wird eine Geschichtstheodizee entworfen, die der Leidensgeschichte des jüdischen Volkes aus ihrem biblischen Ursprung heraus einen eindeutigen Sinn zuweist. So ist Jaákobs Traum – und mit ihm das gesamte Projekt der Historie von König David – mit Neumann ein »Drama der Identität«4 zu nennen, das sich in jene Bewegung der Jahrhundertwende eingliedert, die mit dem Buber-Wort von der ›Jüdischen Renaissance‹ charakterisiert ist und zumeist im Rückgriff auf osteuropäisch-jüdisches Leben oder das biblische Judentum eine (neue) jüdische Identität (wieder) zu beleben unternimmt. Beer-Hofmann beanspruchte dabei für sich nichts weniger als mit der Historie die Dichtung seines Volkes zu schreiben, ein jüdisches Nationalepos, das in der Rückbindung zum jüdischen Gottesglauben weniger eine national-politische als eine religiös-kulturelle Stoßrichtung zur Lösung der Krise der jüdischen Identität aufzeigt. Die Konstruktion eines Nationalepos, einer nationalen Identität, muss dabei notwendigerweise »eine kollektive Identität aufgrund tatsächlicher oder vermeintlich angenommener, gemeinsamer Abstammung [...], Sitten, Geschichte, Sprache, Religion«5 annehmen und eine »Abgrenzung zu anderen Gruppen«6 vornehmen. Auch wenn, wie Waldenfels betont »Eigenes und Fremdes [...], Eigenkultur und Fremdkultur [nicht] einander gegenübertreten wie Monaden, die in sich abgeschlossen sind«,7 kann die Konstruktion kollektiver nationaler Identität ohne eine – wie auch immer ausgeprägte – Frontstellung nicht stattfinden. Es gilt also innerhalb des Dramas die Ebenen ›das Eigene‹ und ›das Fremde‹ zu untersuchen, deren Bestimmung zunächst einmal den Standpunkt des Sprechers verorten muss. Jener scheint mit der Eigenzuschreibung als ›Nationalgedicht‹ von vorne herein festzustehen, und unzweifelhaft ist Beer-Hofmann in Eigen- und Fremdrezeption in seinen Bibeldramen als ›jüdischer Autor‹ zu betrachten.8 Die sich trotzdem im folgenden abzeichnende Problematik des eindeutigen Standpunktes, wie er sich in Jaákobs Traum eben nicht einstellen mag, lässt sich schon in der folgenden Bemerkung des Autors festmachen: Wenn ich nicht mehr bin und wenn die, die dann deutsch lesen, mich zu den ihren zählen wollen, dann werde ich eben ein deutscher Dichter gewesen sein. Eines aber werde ich vor vielen anderen voraushaben, – dass ich mich anlehnen kann an eine so 4

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6 7 8

Hans-Gerhard Neumann: Richard Beer-Hofmann. Studien und Materialien zur Historie von König David, S. 70. Allerdings verstehe ich diesen Begriff aus einem anderen Zusammenhang heraus als Neumann. Ulrike Peters: »Richard Beer-Hofmann – Ein jüdischer Dichter. Jüdische Identität im Wien der Jahrhundertwende«. In: Dieter Borchmeyer (Hg.): Richard Beer-Hofmann, Zwischen Ästhetizismus und Judentum. Symposion Heidelberg 1995. Paderborn 1996, S. 32–54 und S. 35. Ebd., S. 34. Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a. M. 2006, S. 117. Auf die Problematisierung des Begriffes gerade im Kontext der Zeit kann hier nicht eingegangen werden.

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lange Reihe von Vorfahren, die unter Bedrängnissen aller Art ihren Gott nie preisgegeben haben.9

In Jaákobs Traum wird nun die Reise durch die ›lange Reihe der Vorfahren‹ bis zu ihrem Ausgangspunkt angetreten,10 dabei werden die biblischen Ereignisse von Jahren auf wenige Tage zusammengezogen. Das Drama beginnt in Jizchaks Haus in Beér-Scheba, wo zunächst aus der Sicht der Frauen Edoms und später Rebekahs die Verleihung des Erstgeborenensegens an Jaákob berichtet wird. Edom, verständigt von seinem Diener, gelobt Rache und folgt nach einer Auseinandersetzung mit seiner Mutter dem flüchtigen Jaákob. Im zweiten Bild sehen wir Jaákob in Beth-El zunächst im Gespräch mit seinem Sklaven Idnibaál, anschließend kommt es zum Zusammentreffen der Brüder, das zur Versöhnung der beiden führt. Der sich anschließende Traum Jaákobs von der Himmelpforte, in dem die Erzengel Micháel, Gabríel, Rapháel und Uríel die Glorie der Auserwählung künden, Samáel dagegen die Qual, zieht im Dialog mit Gott die freiwillige Annahme der Erwählung des Volkes Israels im Stellvertreter Jaákob/Jísro-El nach sich.

Feindliche Brüder – fremde Völker Im ersten Bild werden verschiedene dramatische Knoten geschürzt und Konflikte vorbereitet, deren Ausgangspunkt eben in jener Differenz von ›Eigen‹ – die (jüdische) Welt Jaákobs, der Rebekah zugeordnet ist – und ›Fremd‹ – der (heidnischen) von Edom und seinen Frauen Basmath und Oholibamah – liegt. Ein Gegensatz, der sich im ersten Bild zunächst in der Welt der Frauen und in ihrem Verhältnis untereinander zeigt. Es ist Rebekah, die ganz klar die Frauen Edoms als fremd charakterisiert: »schick...die Fremden fort« (19)11 und »fremder Frauen« (21). Ihr wird das Fremde zum Nicht-Vorhandenen, wie Basmath beschreibt: »Ihr Blick geht längst/Schon/Nur durch uns – über uns hinaus, wir sind nicht« (15). Auch Edom selbst ist Rebekah »fremd« (21) geworden. Seine Fremdheit beruht einerseits auf der Zuordnung zu fremden Völkern »Verschwägert nun mit Chitti und mit Chori« (21), die sich auch an die rabbinische Typologie von Edom/Jaákob anlehnt, in der Edom für die feindlichen Völker, den Feind Israels steht, und die im Drama betont wird durch die die ganze 9 10

11

Zitiert nach: Stefan Scherer: Richard Beer-Hofmann und die Wiener Moderne. Tübingen 1993, S. 394. Jaákob einen Ausgangspunkt zu nennen hat insofern eine Berechtigung, als er der Patriarch par excellence ist, auf den die zwölf Stämme Israels zurückgehen, ebenso wie er als Jisroel stellvertretend für ganz Israel steht. Alle Zitate aus den Werken Beer-Hofmanns werden im Folgenden angegeben nach der Ausgabe: Günther Helmes (Hg.): Richard Beer-Hofmann: Grosse Richard-BeerHofmann-Ausgabe in sechs Bänden. Paderborn 1996 (Abgekürzt: GW). Zitate aus Jaákobs Traum werden im Text angegeben, aus: Bd. 5, Die Historie von König David und andere dramatische Entwürfe.

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Gestalt des Edom umgebenden babylonische Mythen.12 Abseits von dieser Symbolfunktion wird Edom im ersten Bild als ein (unjüdisches) Gegenstück zu Jaákob entworfen. In Rebekahs Reden wird ein Antagonismus zwischen den beiden Brüdern aufgemacht, der Edom aus der rechtmäßigen Ahnenfolge Abrahams ausschließt13 und um die Begriffe ›Auserwählt‹/›Gnade‹ (Jaákob) und ›verworfen‹/›keine Gnade‹ (Edom) kreist. Weil er [Jaákob] einhergeht, voll von dunklen Fragen, Und du [Edom] – dich froh und satt und sicher freust! Weil, aller Ahnen Zweifel, Traum und Sehnen – Ein nie verstummend Fordern – in ihm klingt, Weil er – nicht Gott in ferne Himmel einsargt, Nein – täglich, Herz an Herzen mit ihm ringt! Weil du – nur jagen kannst und opfern, morden! Und er vor aller Wesen Leid erblasst, Und er zu allem spricht, und zu ihm alles... Trägt er den Segen ... und des Segens Last! (27–28)

Die Fremdheit Edoms der jüdischen Welt gegenüber konstruiert sich hier über weite Stecken allein über die Beschreibung Jaákobs. Edom, wie schon seine Frauen vorher, wird zum ›blinden Fleck des Fremden‹, der sich primär durch Auslassung und Negation definiert. Der Gegensatz zwischen den Brüdern ist der zwischen dem kräftigen, männlich-virilen, aufs Diesseits konzentrierten, weder von den Ahnen noch vom Transzendenten bedrängten Tatmenschen, und dem knabenhaft anmutenden, melancholischen Denker, der ewig Gott sucht, der hinter die Welt direkt in die Transzendenz hineinsieht und mit dem Blut seiner Ahnen und ihrer Berufung direkt verbunden ist. Als Stereotyp gewendet ist es der Gegensatz zwischen der Welt der dem Thorastudium verhafteten Juden des Exils und den ›Goim‹, den nichtjüdischen Herrschenden und Regierenden. Und so setzt denn auch Edom gegen das Flehen seiner Mutter Jaákob nach, um den Bruder, wie er es gelobt hat, zu töten. Dass dabei Rebekah die auf den Auszug aus Ägypten anspielenden Worte – »die Wasser/Türm auf zu Schwall und Fluten« (30) – benutzt, betont die Identifizierung Edoms mit den fremden Völkern. Umso mehr, als einer der ihn begleitenden Hunde Rahab genannt wird, ein Synonym des 89. Psalms für Ägypten. So ist denn auch das Bild des bei Jaákob angelangten Edoms voll fast schon dämonischer Präsenz, wie es Beer-Hofmann in seiner Szenenanweisung beschreibt: »Die Umrisse seiner Gestalt heben sich dunkel vom noch hellen Abendhimmel ab. Die rechte hält die Koppel, und mit ihm tauchen die Köpfe der sich drängenden keuchenden Meute auf. Ihre Augen funkeln grün durch 12 13

Schon sein Auftritt im ersten Bild ist begleitet von seinen Hunden, die die Namen urzeitlicher-mystischer Chaosdämonen tragen. »Des rechten Erbens Stimme rief die Ahnen« [...] Edom: »Des rechten Erben? Bin ich denn nicht echt?« (26).

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das dunkle Gesträuch.« (62), während Jaákob wiederum – fast unnötig zu betonen, dass er auch äußerlich ein knabenhaftes Gegenstück zu Edom vorstellt14 – mit einem Lamm im Arm ein nahezu übertriebenes Bild der Entrücktheit und Unschuld bietet. In der Auseinandersetzung der Brüder wird der angekündigte dramatische Konflikt des ersten Bildes nicht ausagiert, sondern gewissermaßen ›zurückgebildet‹. Die Frontstellung zwischen Eigen und Fremd, Jüdisch und NichtJüdisch wird durch Jaákob aufgeweicht. Beide Brüder treffen sich in der Ahnung vom und Furcht vor dem Numinosen und Jaákob holt Edom wieder in die Ahnenreihe zurück – nicht zuletzt durch die Blutsbrüderschaft, die gleichzeitig auch Edoms Eid aufhebt.15 Im Kontrast zu Rebekah entwirft Jaákob das Bild des »frohen Jägers« mit »helle[n] Auge[n]« (70). Es ist der im Grunde gleiche Entwurf des im Diesseits Verhafteten nur unter ›hellen‹ Vorzeichen, die auch Jaákobs eigene Zweifel in Bezug auf die ›Qualität‹ des Segens – ist er Segen oder Fluch – zum Ausdruck bringen. Das gleiche Begriffspaar wie im ersten Bild – ›verworfen erwählt‹ – wird aufgemacht und mit einem Fragezeichen versehen: »Ein Baum – gepflanzt an Wasserbächen – treibst du/Ins Licht, mit Kronen – täglich neu verjüngt…/Kein Gott warft in dich wehvoll dunkles Fragen,/Wohin du blühst – was deine Wurzeln düngt! [...] Bin ich erwählt?! Dazu erwählt, dass alles,/Dem Leid geschieht, mich ruft, mich heischt, mir klagt?« (71) Jaákob zieht Edom näher zu sich heran und macht ihn im Dialog zum Du und damit vom Fremden zum Anderen.16 Der Bruder ist ihm eben nicht – wie schon die gleichgestimmte aber positiv getonte Beschreibung zeigte – einer der »geringer als« (76) oder »schlechter als« (77) er ist. Dieser Umschlag vom Fremden zum Anderen17 hebt die beiden Brüder in all ihrer Verschiedenheit auf eine Stufe auch oder selbst in ihrer Beziehung zu Gott: »Gott braucht mich so – und anders dich! Nur weil/Du, Edom bist – darf ich Jaákob 14

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Jaákob: Rucksack, Hirtenstab (vs. Edom: Jagdmesser, Bogen, tote Gazelle), Gewand aus zwei Lammfellen (vs. Schakalfell), bartloses Gesicht (vs. junger Bart), hellbraune Locken (vs. buschiges, rotes Haar). Eke nennt das einen »Theatercoup, mit dem die tragische Anlage des Konfliktes letztlich ins Banale abrutscht«. Dem würde ich unter der Betrachtung ›Fremd – Eigen‹ vehement widersprechen, gerade auch eingedenk der Bedeutung, die dem Blut der Ahnenreihe im Gesamtwerk Beer-Hofmanns zukommt. Norbert Otto Eke: »Rettung des Sinns. Jaákobs Traum und das Projekt einer Geschichtstheodizee«. In: Norbert Otto Eke/Günther Helmes: Richard Beer-Hofmann (1866–1945). Studien zu seinem Werk. Würzburg 1993, S. 128–155 und S. 132. ›Anders‹ hier verstanden im Sinne von Wilhelm von Humboldt: Über den Dualis (1827); hier löst durch das Sprechen/gemeinsames Handeln das Ich, dem die ganze Welt als Fremdes gegenübersteht, aus dem Fremden ein Du heraus, das ihm zum Anderen wird. Vgl.: Harald Thum: »Ausgrenzung und Einbezug des Fremden aus sprachlicher Sicht«. In: Günter Eifler/Otto Saame (Hg.): Das Fremde. Aneignung und Ausgrenzung. Wien 1991, S. 121–136 und S. 122–124. Das macht sich schon in der Wortwahl bemerkbar, war Edom die Mutter und mit ihr die jüdische Welt noch »fremd« (23) so spricht er nun von sich als »anders« (77).

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sein!« (77). Im Bild der Kräuter seines Lagers (»Den Duft der dort von meinem Lager quillt?/kein einzeln Kraut gibt ihn so süß und stark,/Von vielerlei Duft muß sich vermählen!/Ein jedes Kraut haucht anderen – Blatt und Blüte/ am selben Stamm den gleichen nicht...« (77)) wird Jaákobs synthetisch-versöhnende Kraft, die die Menschen und Dinge der Welt zum Du des Dialoges macht und gleichberechtigt nebeneinander stehen lässt, deutlich. Eine Kraft, die sich schon im vorhergehenden Gespräch mit Idnibaál seinem Diener gezeigt hat. Auch hier wird der Sklave und Heide, der Fremde aus fremdem Land zum Gegenüber, zum Anderen. Ebenso die unbeseelte Natur, die Jaákob, der mit Stein und Quelle spricht, Dialogpartner ist.

Heidnische Götter Doch nicht nur begegnen sich in Jaákobs Traum fremde Völker und feindliche Brüder, die Fremdheit der jüdischen und der heidnischen Welt wird vor allem in ihren jeweiligen Gottesbegriffen ausgetragen. Dabei stehen die vormonotheistischen, polytheistischen Gottesvorstellungen der ›fremden Völker‹, wie sie von Edoms Frauen, von Idnibaál und zum Teil auch von Edom selbst verkörpert werden, gegen das jüdisch monotheistische Konzept des einen Gottes. Die zentralen Begriffe der Differenz zwischen dem Gott Israels und den anderen Göttern sind Nähe und Opfer. So Rebekah zu Basmath: »Ihr Armen! Müsst ihr eure Götter locken?/Im Fürstenhause Abrahams ist es die Sitte,/Daß Gott und seine Engel, ungebeten,/Befreundet, dieses Hauses Schwelle nahen!« (16). Auf das Problematische der Nähe – die damit verknüpfte Forderung – verweist Jaákobs Ausruf »zu nah umweht uns dieser Gott« (46) und Edom versucht gar, den Bruder und sich vor der übergroßen Nähe dieses Gottes zu retten: »Flieh diesen Gott! [...] Zusammen ziehen wir in ein fremdes Land,/wo diesem Gotte keine Macht gegeben/Und fremde große Götter stumm und reglos/In goldnen Häusern stehen – und heilige Priester/Die Botschaft zwischen uns und ihnen tragen! – « (72). Ein ferner, im Alltäglichen abwesender Gott, ein Gott des heidnischen Bildnisses, der sich nur über Mittler an den Menschen wendet und mit dem man allenfalls über das rituelle Opfer nicht aber über einen Dialog in direkte Beziehung tritt, wird hier von Edom als Fluchtpunkt herbeigesehnt. Und so opfert er auch als einziger in der Familie Jizchaks, ebenso wie seine Frauen und alle anderen Völker, von denen berichtet wird. Rachel tut dies nicht, und bei Jaákob ist ein Opfern unvorstellbar, allein schon auf Grund seines Mit-Leidens mit jeder Kreatur. Zentraler Punkt der Opferdifferenz ist der im zweiten Bild durch Idnibaál erzählte Mythos von Moriah, ein babylonischer Ursprungsmythos, in dem die Trennung von Chaos und Welt vollzogen wird. Wie Idnibaál berichtet, verschließt der Abgrund die alten Ungeheuer des Chaos, die von den jungen Göttern zerstückelt und in die Tiefe verbannt wurden, welche daraufhin »Tag und Nacht und Himmelszelt« (42) schufen. Dem Opfern kommt hier eine doppelte Bedeutung zu, das Blut fließt zu den Besiegten

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hinunter und besänftigt sie, der Rauch steigt zu den neuen Göttern auf und ehrt sie: »Wer dorten opfert ehrt, was ist und war« (42). Dieser Satz Idnibaáls wird verstärkt und neu gedeutet von Beer-Hofmanns Koppelung des Mythos an die Opferung Isaaks. Durch die Nichtannahme des Menschenopfers hat sich der Gott Abrahams abgekehrt von den Chaosmächten. Würde Gott das Kindesopfer annehmen, dann würde die Welt in Chaos zurücksinken, und so wird »nicht Abraham, sondern Jahwe versucht, geprüft und erwählt«.18 Und obwohl in der biblischen Isaak-Erzählung ein Widder das Menschenopfer substituiert, wird damit im Kontext von Jaákobs Traum das Opfern an sich hinfällig. Gleichzeitig fordert Gott von seinem auserwählten Volk im Bild des Erwählten als Gottesknecht das größte Opfer. Jaákob opfert sich im übertragenen Sinne ebenso selbst, wie an seiner Stelle das Lamm in der Auseinandersetzung mit seinem Bruder stirbt. Mit der Erzählung des Mythos von Moriah ruft BeerHofmann den Paradigmenwechsel nicht nur vom Chaos zur Form, sondern auch darauf aufbauend vom Mythischen zum Religiösen auf, und ebenso zeigt er das alttestamentarische Judentum in seiner Einbettung in die vorderasiatischen Kulturen. Das Element des Magischen bleibt so nicht allein den Fremden zugeordnet, auch Jaákob wird noch punktuell in einer mythisch-magischen Gestimmtheit mit der Natur und Gottheit gezeigt. So haftet auch Jaákobs Traum als Ganzem noch ein Aspekt des Mythisch-Ursprünglichen an, der jüdische Gott wird sich erst in den David-Dramen in seiner Geschichtlichkeit erweisen. In Jaákobs Traum dagegen kommt Beer-Hofmann eher mit Martin Buber überein, der im Gegensatz zum orthodoxen Judentum dem Mythos wieder einen Platz in der jüdischen Religion zuweist.19 So sind vorderasiatische Mythen im Drama nicht als bloßes historisches Kolorit zu verstehen,20 sondern zunächst als Kriterium der Differenz jüdischer und heidnischer Welt, als Abgrenzung Fremd – Eigen. Diese präsentiert sich im ersten Bild in den Darstellungen von Edom und Jaákob und in den Gottesvorstellungen noch als absoluter Gegensatz, gerade auch durch die Figur der Rebekah, um im zweiten Bild durch die synthetische Figur Jaákobs in die eigene jüdische Welt miteingebunden zu werden. Die polytheistische Welt wird zwar abgegrenzt von der jüdischen, aber nicht verstoßen und ist als Ausgangspunkt – auch der eigenen Vergangenheit – im Drama präsent.

18

Neumann 1972, S. 214. Zur Bedeutung des Mythos von Moriah für die Gesamtheit der Historie siehe ebd., S. 206–214. 19 Vgl.: Martin Buber: Der Mythos der Juden. In: Martin Buber: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Köln 1963, S. 78–88. 20 Vgl.: Neumann, 1972, S. 206, der allerdings auch den Mythos von Moriah aus diesem Verdikt ausschließt.

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Der fremde Gott Die im vorherigen beschriebene Nähe des jüdischen Gottes, seine Allanwesenheit, belässt ihn jedoch als das Fremde an sich, er ist ein, wie Jaákob ausführt, »fremder, unerschauter Gott – /Ein namenloser« (46) und Rebekah, beschreibt ihn: »Ich weiß nicht, was/Er ist! Wüßt ich’s – Er wär mein Gott nicht!« (28). Im Gespräch zwischen Edom und Jaákob klingt das »Schaudern vor/dem Namenlosen« (69) an und die Furcht: »Bangt Dir vor ihm?/Edom: Mir auch!« (69). Und schon vor Jaákobs großer Zwiesprache mit den Engeln wird erstmals von Edom die zentrale Frage der Theodizee »Ist Gott denn nicht gerecht?« (28) gestellt, die auch von Jaákob in Bezug auf die Opferung Isaaks aufgeworfen und an die Frage: »Was will er?« (46) gekoppelt wird. Gott fragt sein auserwähltes Volk nicht, ob es erwählt sein möchte, und die mit der Erwählung verknüpfte Gabe, das Leid der Welt selbst noch im Blick des Tieres zu sehen, führt Jaákob zu der Frage: »wie ich – /Ich – Dein Geschöpf – Dich Gott entschulden soll« (71). Diese Übernahme der göttlichen Schuld muss als Gleichberechtigter vollzogen werden. Die Verkündigung der Erzengel an Jaákob mit all ihrer Glorie ist deshalb wirkungslos, und nur die Ablehnung der Verkündigung, die Auflehnung Jaákobs gegen die Boten, das Lösen Gottes aus seinem Eid, den er den Vätern schwor, macht Jaákob zum Auserwählten. Die Engel sind in der Tat »Wand [...] zwischen mir und Gott« (97), und Jaákob muss sich aus der Position des Knechtes lösen.21 »Gott wählt mich aus – Gott will mich frei!« (97), »Gott will mich stolz und/wahr« (98). Nur so kann er seine Aufgabe als Gottesknecht annehmen. Da Jaákob die Glorie der Erwählung, das Land, die Krone, die Herrschaft, von sich weist und vor den düsteren Prophezeiungen Samaels zwar erschauert, aber nicht zurückweicht, da er hat, was jenem nicht gegeben ist, nämlich »seliges Vertrauen« (103), kann er Gott unmittelbar annehmen – »Ich lieb ihn wie er ist! Grausam und gnädig,/Lautres Licht – und Abgrund, finster, tief!« (103) – und mit seiner Zeugenschaft auf das Leid der Welt Antwort auch dort geben, wo die Erzengel schweigen – auf Samaels Prophezeiungen der Qual. Und nun wird der Gott im Du direkt angerufen und in Freiheit und streitbar zum Partner Israels gemacht: »Du, der mich wählt – Du, den ich wähle – sprich!/Sag ihnen, dass wir – zweifelnd – zürnend – hadernd – /Doch aneinander hangen, ewig –Du und ich! [...] Und... trägst Du Schuld – will mit ich tragen – /Lade/Du Gott – auf meine Schultern Deine Schuld!« (104). So mag es nicht der dramatische Höhepunkt des Dramas sein, wenn Gott zu Jaákob im Folgenden spricht,22 und doch ist die Replik des als Du angesprochenen Gottes zentral für die Aufhebung der absoluten Fremdheit

21 22

Eine Szene, die präfiguriert wird in der Entlassung Idnibaáls aus seiner Knechtschaft. In der Tat fügt die Antwort Gottes dem Drama keinen neuen Aspekt mehr hinzu. Vgl.: Scherer, 1993, S. 144.

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des Göttlichen. Hier wird nicht nur Samaels Worten Recht gegeben, sondern auch die Partnerschaft Gleichberechtigter23 anerkannt: Wenn andre, knieend, zum Erbarmer flehen, Üb ich Erbarmen – wie der Herr am Knecht Doch du – sollst aufrecht vor dem Vater stehen, Erbarmen – weig’re ich! Fordere du – dein Recht! Um meinen Namen magst du Un-Erhörtes dulden – Doch, noch in Martern fühl, dass ich – dich nie verwarf! Ich will ja nur – mein Sohn – mich dir so tief verschulden, Daß ich – zur Sühne – dich erhöh’n vor allen darf. (105)

Die Aufhebung der Fremdheit Gottes im Dialog führt jedoch nicht zwangsläufig zu einem ›Wissen was er ist‹, vielmehr bindet sie das Schicksal des jüdischen Volkes und Gottes unauflösbar zusammen: »Und was mich trifft – mein Los wird immer wieder/Nur Deines fernen Schicksals Wiederschein!« (103). Israels Fremdheit unter den Völkern wird Gottes Fremdheit unter den Völkern sein, das Exil des heiligen Volkes wird Gottes Exil sichtbar machen, in Israels Leiden wird sich das All-Leid Gottes spiegeln. Der leidende Gottesknecht, der mit dem Einungsruf ›Schmah israel‹ auf den Lippen stirbt, wird Gott bezeugen, nicht als den gerechten Richter, sondern als den Abwesenden, als der er auf des Menschen Zeugenschaft angewiesen ist.24

Er ist ein Abwesender, den die Auflehnung Jaákob/Israels aus seinem Selbstgespräch – wie Jaákob es vor seinem Traum vermutet: »Zwiesprache von Dir – mit Dir – ist mein Gebet!« (78) – in einen Dialog mit seiner Welt katapultiert hat. Diese Darstellung der jüdischen Religion, die das christlich-stereotype Bild vom Judentum als Gesetzesreligion aufhebt, knüpft an eine religionsphilosophische Auseinandersetzung der Zeit an, die in Antwort auf Herder das Judentum als Partner Gottes im Dialog beschreibt.25 Für Jaákobs Traum ist die Dialogphilosophie, wie sie zeitgleich von Hermann Cohen und Martin Buber formuliert wird, wegweisend,26 da sie nicht nur auf die Gottesbeziehung angewendet wird, sondern ebenso auf die Auseinandersetzung mit den fremden Völkern/Edom. Dies entspricht auch dem universalistischen Verständnis des Segens, wie ihn Beer-Hofmann in seinem Drama entwickelt, und der den von 23

24 25 26

Als Unterschied bleibt jedoch in der Anrede Gottes immer das großgeschriebene ›Du‹ bestehen. Ebenso wie Idnibaál auch am nächsten Tag Jaákob noch Herr nennt, bleibt auch im Bezug auf Gott eine Differenz zwischen ihm und seinem ›Knecht‹ Jaákob unauflösbar. Neumann, 1972, S. 226–227. Die innere Struktur des Textes rekurriert hier auch wieder auf die eingangs erwähnten ›Ereignisse‹ und gibt eine eigene Antwort auf den Antisemitismus der Zeit. Dabei ist die Überlegung, wer hier letztlich von wessen Gedankengut beeinflusst wurde, spekulativ und letzten Endes kaum weiterführend. Überlegungen hierzu finden sich in: Ulrike Peters: Richard Beer-Hofmann. Zum jüdischen Selbstverständnis im Wiener Judentum. Frankfurt a. M. 1993, S. 187–203.

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Hugo von Hofmannsthal formulierten Vorwurf des »chauvinistische[n] oder national-stolze[n]«27 aus dem Text selbst heraus ad absurdum führt.

Der Erwählte als Fremder – in und außerhalb des Dramas Abgesehen von der Interpretation von Nicht-Jüdisch als fremd legt Jaákobs Traum aber auch noch eine andere Setzung des Fremden im Drama nahe. Nämlich die des ›Helden‹ Jaákobs als das Fremde, das von den anderen Figuren Abgehobene und Ausgesonderte. Eine Besonderheit, die auch nicht im Kontext des eigenen und fremden Volkes aufzulösen ist und an mehreren Stellen im Drama direkt angesprochen wird, so durch Idnibaál: »Wer bist du – wer...was ruft aus dir,/Was bist du, Knabe, sprich – wer – was?« (59). Jaákob ist durch die Erwählung, durch die Nähe des Numinosen, wie sie die Verwirrung der Begriffe »wer«, »was« anzeigt, ausgesondert, selbst gegenüber den Erzengeln, denn ihn »traf kein Feuer« (98), er »steht aufrecht wie vorher« (98) und erwacht aus seinem Traum als Jísro-El, der mit Gott rang. Die Erwählung, die gleichzeitig Glorie und Leid impliziert, ist die Erneuerung des alttestamentarischen Bundes mit Gott, aber auch eine Erwählung zur Zeugenschaft für Gott, die zukünftige Generationen mit einschließt. Diese beiden Punkte, Erwählung und Zeugenschaft, die Eckpfeiler seines Jüdisch-Seins, sind es, die die Figur des Jaákob zum Spiegelbild des Beer-Hofmannschen Dichtungsverständnisses werden lassen. Beer-Hofmann selbst hat seine dichterische Tätigkeit immer als ›Erwählung‹ verstanden, und wie in Jaákobs Traum geht diese auch mit Leiden einher: »Eine bittere hoffnungslose Welt empfangen Gottes Erwählte [hier: die Dichter], und – um das Messer in der Wunde noch umzudrehen – schenkt Gott ihnen tieferes Wissen um das Weh der Welt als Anderen.«28 Dieselbe Sensibilität wie bei Jaákob sondert auch den Dichter von der Welt ab. Sie zeigt sich auch – positiv gewendet – im Fragment Paula, dem im Exil geschriebenen Erinnerungsbuch Beer-Hofmanns an seine Frau, in der »Gemeinsamkeit, die uns mit Tieren, Pflanzen, Gestein, dem Rauschen der Ströme und dem lautlosen Zug der Wolken verbindet«.29 Mit dem Kennenlernen Paulas beginnt für BeerHofmann die Hinwendung zum Judentum, ihr sind die Bibeldramen zugeeignet: »Hätte ich damals meine Frau nicht kennengelernt, hätte ich wahrschein27 28 29

Brief Hofmannsthals vom 20. April 1919. In: Eugene Weber (Hg.): Hugo von Hofmannsthal – Richard Beer-Hofmann. Briefwechsel. Frankfurt a. M. 1972, S. 145. Prosaskizze ›Die Beschenkten‹, GW, Bd. 1, Schlaflied für Mirjam. Lyrik, Prosa, Pantomime und andere verstreute Texte, S. 190. GW, Bd. 6, Paula. Ein Fragment, S. 37. Dieser Zusammenhang zwischen Werk und Autor erscheint mir fast noch bedeutender und schlüssiger als das von Antje Kleinwefers angeführte ›Dichtertum‹ Jaákobs, wie es sich im Gespräch mit Idnibaál und der Beschreibung von dessen Heimat zeigt. Vgl.: Antje Kleinwefers: Das Problem der Erwählung bei Richard Beer-Hofmann. Hildesheim 1972, S. 69–70.

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lich nie weiter geschrieben, sondern wäre auf Reisen gegangen«.30 Der Tod Georgs, das Werk dieser Phase verdeutlicht denn auch Paulas ›weltkonstituierende‹31 Bedeutung für Beer-Hofmann. Hier findet der Protagonist Paul den Weg aus seiner Identitätskrise im Judentum. Die Novelle scheint mir auch für das weiter Dichtungsverständnis Beer-Hofmanns bezeichnend zu sein, denn an ihrem Ende dringen in die Welt des Ästheten alttestamentarische Zitate vor,32 und am Schluss bleibt das Wort »Gerechtigkeit« bestehen,33 das die Sprachkrise der Jahrhundertwende aufhebt im Besinnen auf die göttliche Ur-Kraft des Wortes. Auf diese Göttlichkeit des Wortes verweist auch David in Der junge David: »Un-ein-nehm-bar ist Wort! [...]. Wort strahlt euch – und will nun allen leuchten – /Wort – ausgesandt zu froher Botschaft allem Elend – /Wort – neuen Himmeln schaffend, neue Erde –.«34 Diese schöpferische Macht des Wortes wirft dabei eine Diskrepanz zwischen dem Dichter als Vermittler des Gotteswortes und dem Dichter als (Welten)Schöpfer auf. Beer-Hofmann selbst hat das Frevelhafte des dichterischen Werkes immer vor Augen gehabt und die Erfindung einer geschlossenen Welt im Drama auch »Hybris«35 genannt, denn in diesem Sinne ist der Dichter ein Schöpfer, der Gott ähnlich aus Chaos Form entstehen lässt. Dass er dabei sich entschließt, »Wurzeln und Wipfel zu kürzen, künftige Keime zu zerstören, Zusammenhänge zu zerreißen«,36 ist sein Los. Und doch lässt gerade die Dichtung eine Ahnung der Welt als Ganzes aufscheinen, weniger im (bewussten) Gebrauch des Wortes – »Das Wort ist immer älter und weiser, als der, der es gebraucht. Es hat mehr erlebt.«37 – sondern in dem, »was zwischen den Worten schwingt«,38 in der Sendung »Unsagbares, Letztes, ahnen zu lassen«.39 Der Dichter gleicht den Hohenpriestern am Abgrunde Moriahs als ›Zauberer‹ und ›Magier‹, welche die Furcht des Menschen vor den Dämonen, dem Chaos in Worte der Beschwörung fassen. »Zauberworte sind die Worte, die als erste geboren wurden, stummen, symbolhaften Opferriten noch nah verwandt.«40 Und so wie in Jaákobs Traum die heidnischen Götter auf Moriah abgelöst werden vom Gott des Alten Testamentes, so wird beim Dichter Beer-Hofmann das Wort von der Zauberformel zum Wort 30 31 32

33 34 35 36 37 38 39 40

Werner Vordtriede: »Gespräche mit Beer-Hofmann«. In: Borchmeyer 1996, S. 163-188 und S. 171. Scherer nennt die Rolle Paulas »werkkonstituierend«, während mir hier eher »weltkonstituierend« zuzutreffen scheint. Vgl.: Scherer, 1993, S. 166. Vgl.: Jens Malte Fischer: »Richard Beer-Hofmann ›Der Tod Georgs‹. Sprachstil, Leitmotive und Jugendstil in einer Erzählung der Jahrhundertwende«. In: Sprachkunst 2, 1971, S. 211–227. GW, Bd. 3, Der Tod Georgs, S. 126. GW, Bd. 5, S. 302–303. Prosaskizze »Form – Chaos«. In: GW, Bd. 1, S. 187–188 und S. 188. Ebd. Prosaskizze »Der Freund der Worte«. In: GW, Bd. 1, S. 196. Prosaskizze »Was sich nicht ausdrücken lässt«. In: GW, Bd. 1, S. 182. Ebd. Prosaskizze »Urzeit des Wortes«, S. 195, GW, Bd. 1, S. 194f.

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des Propheten, der Dichter zum »Exculpator Gottes«41 und das Dichten zum »Gottesdienst«.42 Ein Gottesdienst, dem vor allem die Funktion, das Wort an künftige Generationen weiter zu tragen, innewohnt, wie es im Vorspiel auf dem Theater zu König David anklingt – »Wächst wo – vielleicht – ein Kind, dess Ahnen sich/Nur fanden,/Weil heute, durch mein Wort, ihr Herz weit offen/Stand! – «.43 Diesem jüdischen Imperativ des ›Zachor‹ fühlt sich BeerHofmann in seinen biblischen Dramen als »Aufgabe« des Erwählten verpflichtet.44 Dass dabei der Gegenwart aus der Vergangenheit Sinn zuwächst, deckt sich mit dem jüdischen Verständnis von Erinnerung und Gedächtnis.45 Emanuel Lévinas hat denn auch den grundlegenden Unterschied zwischen Juden- und Christentum in seinem Aufsatz Jude sein als Differenz zwischen »sich verstehen von der Gegenwart her«46 und der »unaufhebbaren Bindung des Juden an eine absolute Vergangenheit«47 definiert. Dass er dabei vor aller heilsgeschichtlichen Bestimmung, sozusagen vorreligiös, das Judentum als Faktum an die Begriffe »Schöpfung« und »Auserwählung« koppelt, scheint mir in hohem Maße mit Beer-Hofmanns Jaákobs Traum übereinzukommen. Denn Schöpfung und Auserwählung werden auch bei Lévinas nicht partikulär verstanden, sondern als positive Bestimmung des unentrinnbaren ›Jude-Seins‹, dessen negative Seite der Antisemitismus ist.

Das Paradox eines jüdischen Mysterienspiels Beer-Hofmanns positive Identitätskonstruktion einer jüdischen Existenz belässt im Gedanken der Auserwählung dennoch den Erwählten – und mit ihm das jüdischen Volk – als Fremdes par excellence. Ein Paradox, betrachtet man die Tatsache, dass innerhalb eines jüdischen Nationalgedichtes im übertragenen Sinne das jüdische Volk selbst als Fremdes gelesen werden kann. Ein Paradox auch, das sich weiter fortschreibt in verschiedenen formalen und inhaltlichen Kriterien von Jaákobs Traum, denn das Stück bindet in mehreren Punkten Fremdes zusammen, das sich eigentlich gegenseitig ausschließt. 41 42

43 44 45 46

47

Vgl. Prosaskizze: »Die Beschenkten«, S. 191. In: GW, Bd. 1, S. 190f. Norbert Otto Eke: »Rettung des Sinns. Jaákobs Traum und das Projekt einer Geschichtstheodizee«. In: Norbert Otto Eke/Günther Helmes (Hg.): Richard BeerHofmann (1866–1945). Studien zu seinem Werk. Würzburg 1993, S. 28–155 und S. 148. GW, Bd. 5, S. 504. Olga Schnitzler: Spiegelbild der Freundschaft. Salzburg 1962, S. 150. Zur Bedeutung von Erinnerung und Gedächtnis im Judentum vgl.: Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich. Berlin 1996. Emanuel Lévinas: »Jude sein«. In: Jens Mattern (Hg.): Ein Bruch der Wirklichkeit. Die Realität der Moderne zwischen Säkularisierung und Entsäkularisierung. Berlin 2002, S. 65–72 und S. 67. Jens Mattern: »Abendländische Wirklichkeit zwischen ›Vaterschaft‹ und ›Vatermord‹ und die anamnetische Frage nach dem Verhältnis von Gnosis und Moderne«. In: ebd., S. 15–64 und S. 38.

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Schon die Zeitgenossen haben auf die Ähnlichkeiten zwischen Jaákobs Traum und christlichen Mysterienspielen bzw. dem Barocktheater hingewiesen und das Stück charakterisiert mit Begriffen wie ›Weihespiel‹48 und ›Mysterium‹49 oder gar ›jüdisches Oberammergau‹.50 Tatsächlich ist allgemein um die Jahrhundertwende eine Wiederkehr barocker Formen zu bemerken, die das theatrum mundi wieder auf die Bühne bringen, es jedoch zumeist mit weltlichen Ideologien verbinden. Beer-Hofmann jedoch lädt in Jaákobs Traum die alte Theaterform wieder mit der für sie nötigen Heilsgewissheit auf.51 Der Abstraktheit des Judentums wird damit ein ihr fremdes katholisches Konzept der sinnlichen Vergegenwärtigung der Schrift entgegengesetzt.52 Bedenkt man die Geschichte des christlichen Theaters, die ja auch eine Geschichte von Pogromen und antisemitistischen Judendarstellungen ist, so sieht man sich mit dem Paradox konfrontiert, dass Beer-Hofmann sein jüdisches Nationalgedicht an einer bestenfalls fremden, wenn nicht sogar feindlichen Form entwickelt, die gleichzeitig fast ausschließlich von ihm wieder in ihrem eigentlichen religiösen Gehalt ernst genommen und verwendet wird. Aber auch die Welt des Alten Testaments wird weitgehend unbeschädigt in der ihr fremden Form bewahrt.53 Denn die Figuren werden in ihrer orientalisch-antiken Exotik belassen,54 so sind die Charaktere aus Jaákobs Traum weitgehend Vergegenwärtigung ihrer historischen Person und Funktion als Glaubensträger und nicht psychologisierte Identifikationsfiguren des Heutigen,55 um so mehr, da sie sich in einer auf Gott bezogenen Welt bewegen. Letzteres führt zum von Thomas Mann konstatierten »seltsam außerliterarischen«56 Charakter des Werkes, das 48 49 50 51 52

53

54 55

56

Edwin Rollet: Theater und Kunst. In: Wiener Zeitung, 3.6.1926. Alfred Polgar: Jaákobs Traum. In: Die Weltbühne 15 (31.7.1919), Nr. 32, S. 142-145, Berlin. CK: Beer-Hofmanns ›Jaákobs Traum‹. In: Hamburger Fremdenblatt, 14.11.1919. Vgl. dazu auch: Scherer, 1993, S. 446–452. Die Stelle bietet einen Vergleich zwischen den Spätwerken Hugo von Hofmannsthals und Beer-Hofmanns. Selbst inhaltlich lässt sich im Drama christliches Gedankengut finden, so in der überragenden Bedeutung, die der Idee der Stellvertretung gekoppelt mit Leid zukommt. Zwar ist das stellvertretende Leiden auch im Judentum durch den Ebed des Deuterojesajas bekannt, seine Betonung gemahnt jedoch eher an das Christentum, um so mehr als dass sie auch noch im Bild des Lammes – des agnus dei – exemplarisch vor der Übernahme der Schuld Gottes durch Jaákob vorweggenommen wird. Scherer bietet gerade in diesem Punkt einen interessanten Vergleich zu Thomas Manns Josef und seine Brüder und Reinhard Johannes Sorges König David. In: Scherer, 1993, S. 155–164. Siehe auch die Namen in Jaákobs Traum, die nicht dem deutschen Sprachgebrauch entliehen sind, sondern sich phonetisch dem Hebräischen anzunähern versuchen. Mit einer sprechenden und von der Rezeption nicht wahrgenommenen Ausnahme, der Beschreibung der Opferung Isaaks, die als Vertrauensverlust eines Kindes in Gott und Vater dargestellt wird, ein Trauma, das der Person des Jizchak ihr Leben lang – wie im Drama dargestellt – anhaftet. Peter de Mendelssohn (Hg.): Thomas Mann Tagebücher 1918–1921. Frankfurt a. M. 1979, S. 175.

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sich nur durch werkexterne, respektive weltexterne Bezüge, verstehen lässt, und im Drama selbst zu einem Fehlen des dramatischen Konfliktes führt. Schon im Grafen von Charolais behauptete Beer-Hofmann, »die Tragödie zu Ende geschrieben«57 zu haben, und in den Bibeldramen werden die sich anbahnenden Konflikte zwar noch im ersten Bild ›geschürzt‹ – so der Konflikt der Brüder und der Konflikt zwischen den Frauen –, aber nicht mehr ausagiert. Das verhindert die Eingebundenheit in eine von Gott bestimmte Welt, und in diesem Sinne wird die Untheatralität des Monotheismus – »mit einer Person [lässt sich] nichts anfangen«58 – zum Pfeiler eines jüdischen Nationaldramas. Dessen einziger wirklicher Konflikt spielt sich in eben jenem werkexternen »Drama der Identität«59 ab, das ich abweichend von Neumann nicht als ein Drama des Menschen vor Gott, sondern als ein Drama der jüdischen Situation im Deutschland und Österreich des beginnenden 20. Jahrhunderts bestimmen möchte. In diesen Punkten, ebenso wie in den von der Kritik konstatierten Ähnlichkeiten zu Goethes Faust und Wagners Der Ring des Nibelungen60 lässt sich Jaákobs Traum als Produkt der Assimilation lesen. Dies um so mehr, als jene jüdische Identität, die Beer-Hofmann in der Figur des Jaákob kreiert, in der Absage an weltliche Macht doch eher ein Produkt der Galuth-Existenz des jüdischen Volkes zu sein scheint.61 Dieser Existenz und ihrer zweitausendjährigen Geschichte verleiht Beer-Hofmann im Rekurs auf die Bibel einen Sinn, dessen Gegenwartsbezug letztlich nur durch eine Kenntnis des jüdischen Verständnisses von Erinnerung aufzulösen ist. Dabei ist bei aller religiös verstandenen Sendung Beer-Hofmanns die Historie eher als Projekt einer kulturellen Erneuerung zu verstehen, als Sinnstiftung jüdischen Daseins in einem Moment der Geschichte, an dem die Emanzipation der Juden als prekär, wenn nicht gar als gescheitert betrachtet werden musste. Dass dieses Projekt einer Sinnstiftung im Gewand des Fremden stattfindet, dass der Kern des Judentums in einer christlichen Dramenform ausagiert wird, hängt mit den »synkretistischen Zügen zusammen, die sein [ Beer-Hofmanns ]

57 58

59 60 61

Werner Vordtriede: »Gespräche mit Beer-Hofmann«. In: Borchmeyer, 1996, S. 163-188 und S. 183. Goethe, zitiert nach dem Bericht Schopenhauers: »Johann Wolfgang von Goethe: Goethes Gespräche, erster Teil (1752–1817)«. In: Ernst Beutler (Hg.): Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Bd. 22. Zürich 1949. Neumann, 1972, S. 70. Vgl. z.B. Fechter: Jaákobs Traum. Deutsche Allgemeine Zeitung. 8.11.1919 oder CK: Beer-Hofmann, ›Jaákobs Traum‹. Hamburger Fremdenblatt. 14.11.1919. So hat sich denn auch das später in Israel entstehende Nationaltheater gerade von dieser Definition des Judentums abgegrenzt und ebenfalls im Rekurs auf die Bibel eine Identität definiert, die gerade den weltlichen Aspekt des Segens betont. Zu den Anfängen des israelischen Theater siehe: Emanuel Levy: The Habima – Israel’s national theater 1917–1977. A study of cultural nationalism. New York 1979.

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Judentum prägen«.62 Ähnlich dem Jaákob in seinem Drama gelingt es BeerHofmann in seiner Dichtung, das Fremde ins Eigene – ohne dieses zu verraten oder aufzugeben – einzugliedern.

62

Scherer, 1993, S. 395.

Andreas Englhart

Ernst Tollers Stationendrama Die Wandlung auf der expressionistischen Experimentierbühne »Die Tribüne«

I. Die Uraufführung der Wandlung als »Revolutionierung des Theaters« Mit der Uraufführung des Stückes Die Wandlung am 30. September 1919 wurden der Autor Ernst Toller und der Schauspieler Fritz Kortner schlagartig bekannt. Die Inszenierung im Berliner Experimentaltheater »Die Tribüne«1, einer gerade erst gegründeten expressionistischen Versuchsbühne, wurde zu einem überragenden Erfolg bei der Kritik wie beim Publikum.2 Fritz Kortner, der die Hauptfigur spielte, erinnert sich: Der Premierenabend wurde als Ereignis betrachtet: Ein neues, im Gefängnis geschriebenes Stück kam zur Uraufführung, ein neuer Regisseur, ein neuer Hauptdarsteller wurde dem Berliner Publikum offeriert. Und im Parkett saß der neue Kritiker des Berliner Tageblattes, der bisher nur im ›Tag‹ geschrieben hatte und der mit der Kritik über diese Uraufführung sein Amt antrat: Alfred Kerr. Im Parkett saß auch Herbert Ihering, ehemaliger Regisseur der Wiener Volksbühne und nun, neben Emil Faktor, der junge, extrem moderne Kritiker des ›Berliner Börsen-Couriers‹.3

Ein Grund für den Erfolg mochte gewesen sein, dass auf der Bühne inhaltlich und formal Revolutionäres zu sehen war, das den höchsten Punkt seiner Virulenz in der ästhetischen und politischen Praxis bereits überschritten hatte: die 1

2

3

Fritz Kortner beschreibt die Vorgeschichte der Planung: »Karlheinz Martin und seine Frau, Roma Bahn, fanden sich [in Hamburg] immer öfter bei mir ein. Er war Regisseur am Thalia-Theater, das vorwiegend eine Unterhaltungsbühne war. Er wollte weg – nach Berlin. Ihm wie mir war die Hauptstadt verschlossen. Das verband uns. Wir brüteten einen Plan aus, ein modernes Experimentier-Theater in Berlin zu gründen. Den Namen hatten wir schon: ›Tribüne‹. Nur noch nicht das Geld.« Fritz Kortner: Aller Tage Abend. München 1979, S. 232. Die Tribüne eröffnete am 20.9.1919 mit Walter Hasenclevers Der Retter, einem Antikriegsstück, und der Komödie Die Entscheidung, beide Einakter, inszeniert von Karlheinz Martin. Aber erst mit der zweiten Uraufführung, der Wandlung; stellte sich der Erfolg ein, Toller berichtet: »Die Wandlung erscheint im 15. tausend. Sie wurde in Berlin (115mal), in Hamburg (etwa 35mal), in Stuttgart, Cöln gespielt. Zur Aufführung angenommen in Wien, Brünn, Mährisch-Ostrau, Osnabrück, München.« In: Kurt Wolff: Briefwechsel eines Verlegers 1911–1963. Frankfurt a. M. 1966, S. 327. Vgl.: Der Fall Toller. Kommentar und Materialien. Hg. v. Wolfgang Frühwald u.a., München 1979, insbes.: S. 98ff. Kortner: Aller Tage Abend. München 1979, S. 268f.

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Weimarer Verfassung war bereits verabschiedet, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet und der Autor, der eine führende Rolle in der untergegangenen Münchner Räterepublik gespielt hatte, saß in Festungshaft. Eine weitere Ursache war, dass sich der Expressionismus mit der Inszenierung durch Karl Heinz Martin in Berlin im Theater durchsetzte, vor allem, weil es ihm gelang, »die Intentionen der expressionistischen Generation« zusammen zu fassen. Die »Probe des Theatralischen« war bestanden, da die programmatische Absicht »übergipfel[t]«4 wurde und an der Wandlung »der Expressionismus des Theaters zum ersten Mal nicht Experiment, sondern Erfüllung«5 war, denn »die Dichtung und das neuartige expressionistische Ausdrucksmittel«6 bestätigten sich gegenseitig auf höchstem Niveau. Der expressionistischen Vision eines neuen Menschenbildes entsprach die Absetzung von den Konventionen des Theaters, in Berlin bedeutete dies die Kritik am Stil des einflussreichsten Theatermannes: Daß Reinhardt den Urkomödianten wieder zu sich selber befreite, ist seine Zaubertat. Aber die Bühne wird sich des Ballastes von Stil- und Reizmischungen wieder entledigen müssen [...]. Die Diktion wird sich vom melodischen Raffinement befreien und zu den starken Wurzeln der Sprache und des Gedankens zurückkehren. Statt des Schmuckes und des Reizes wird sie das ›Wesen‹ betonen. Und damit wird das Theater die soziale und wirtschaftliche Entwicklung widerspiegeln.7

Der »Künstler [sollte] seiner Zeit verantwortlich sein«,8 es ging um nicht mehr und nicht weniger als um die »Änderung der vorhandenen Welt«.9 Vehement wurde ein »verantwortlich-ethisches Programm« gefordert. Politische und ästhetische Vorstellungen sollten gleichermaßen ein Forum finden, »unter ›Politik‹ [sollte] die radikale Richtung so gut verstanden werden [...], wie das Theater sich in künstlerischer Hinsicht der jüngsten Dichtung aller Zeiten zur Verfügung stellen wollte. Es sollten auch – aus der Erkenntnis, daß die Gegenwart der einzige Weg zu Ewigkeit ist, heraus – gerade die Tagesfragen diskutiert werden.«10 Die Gründer der ›Tribüne‹, neben Fritz Kortner und Karlheinz Martin der Dramaturg Rudolf Leonhard, der Schauspieler Fränze Roloff, der Bühnenbildner Robert Neppach und der Komponist Werner R. Heymann, stellten sich einen Raum vor, von dem aus eine »Wandlung« des Menschen und, 4 5 6 7 8 9

10

Vgl.: Herbert Ihering: Regisseure und Bühnenmaler. Berlin 1921, S. 50. Zit. n.: Günther Rühle: Theater für die Republik. Im Spiegel der Kritik, 1917–1933. 2 Bde., Frankfurt a. M. 1988, Bd. 1, S. 158. Hermann Kienzl: Die Eröffnungsvorstellung der ›Tribüne‹. In: Leipziger Neueste Nachrichten, 23.9.1919. Ders.: Das Drama des Ernst Toller. In: Ebd., 4.10.1919. Berthold Viertel: Theater-Zukunft. In: Der Neue Weg, Nr. 23/24, 20.6.1919, S. 317f. Anzeige der Reihe »Tribüne der Kunst und Zeit«. In: Das junge Deutschland 2 (1919), H. 1, Umschlagseite III. Walter Hasenclever: »Das Theater von morgen«. In: Paul Pörtner: LiteraturRevolution 1910–1925. Dokumente. Manifeste. Programme. Bd. 1, Darmstadt 1960, S. 352. Rudolf Leonhard in: Freie Deutsche Bühne 1 (1919/20), S. 301.

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als deren Folge, der gesellschaftlichen Zustände propagiert und erreicht werden sollten:11 Wir wollen Beteiligte, wir wollen interessierte, unbeschränkte Wirkung des grenzenlosen Erlebnisses. Wir wollen kein Publikum, sondern im einheitlichen Raume eine Gemeinde. In diesem Raume sei die Bühne – ähnlich einer Kanzel, auf der zu unmittelbarer Wirkung mit der stärksten Methode, nämlich Handlung und Darstellung und Erzwingung lernbegieriger Mitahmung mehr als nur gepredigt wird – eine ›Tribüne‹.12

Sie sollte ein »Theater des Glaubens«13, ein Verkündigungsort sein, von dem aus die expressionistischen Ziele ausgerufen und das »Wesenhafte [des] Menschentums erklärt wird«14. Die ›Kanzel‹ hatte die ästhetische Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum weitgehend zu ignorieren. Dafür wurde eine völlig neue »Lösung des Problems des Theaterraums« gefunden, um »den Theatergenuß zu seinem eigentlichen Sinn zurückzuführen: zu Vergeistigung gesitteter Hörer, zu unmittelbarer und tiefgreifender Übermittelung des Dichtwerkes, zur Erschaffung der Kultusstätte einer geistigen Gemeinschaft.«15 Eine Guckkastenbühne herkömmlichen Typs schien folglich ungeeignet, daher wurde ein »durch die ganze Breite des Saales gezogenes Podium« errichtet, welches die »Vortragsbühne [bildete], die jeglichen Bühnenrahmens, aller Maschinerie, aller Soffitten und Beleuchtungsrampen entkleidet ist.«16 Diese erschien der Kritik nach der Uraufführung der Wandlung als »die einzig angemessene Darstellungsart bestimmter aktivistisch-expressionistischer Dichtung. Wie dies Theater aus der Literatur geboren ist, so bleibt es auch eng verkettet mit einer bestimmten Kunstauffassung und Kunstpraxis und wird mit ihr leben oder sterben. Und wird mit ihr leben, wenn immer feierliche Prozessionen wie Tollers Wandlung über diese Tribüne schreiten werden.«17 Mit Tollers Stück gelang der Eindruck einer »Revolutionierung des Theaters!«: »Der Zuschauer sitzt mit auf der Bühne, alle Worte pfeilen auf ihn. Daß die Bühne noch geson11 12 13 14

15 16

17

Kurt Pinthus: »Rede an junge Dichter«. In: Die neue Dichtung. Ein Almanach. Leipzig 1918, S. 141. Zit. n.: Weimarer Republik. Hg. von ITW Köln, Berlin 1977, S. 845. Max Herrmann-Neiße in: Die neue Bühne. Eine Forderung. Hg. von Hugo Zehder. Dresden 1920, S. 58. Programm der Serie »Die Dramen der Neuen Schaubühne«. In: Paul Raabe: Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus. Stuttgart 1964, S. 192. Programmheft der Tribüne 1919. In: Ruth Freydank: Theater in Berlin. Berlin 1988, S. 399. Franz Wenzler: Konzessionsgesuch vom 12.4.1919; ZStA Potsdam Orangerie, Pr. Br. Rep. 30 Berlin, Tit. 74. In: Ruth Freydank: Theater in Berlin. Berlin 1988, S. 399. Ludwig Marcuse: »Kritik der Wandlung« In: Kothurn. Halbmonatsschrift für Literatur, Theater und Kunst, Heft 5, Oktober 1919. In: Der Fall Toller. Kommentar und Materialien. Hg. von Wolfgang Frühwald u.a., München 1979, S. 98.

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dert vom Zuschauerraum: jetzt ist’s nur noch eine technisch-optische, früher war’s eine ästhetische Notwendigkeit.«18 Die ›Tribüne‹ hatte als Experimentierbühne mit ihrem ersten großen Erfolg leider bereits ihren Höhepunkt erreicht und war nach vier Monaten am Ende. Schuld war der ökonomische Bereich: die Direktion des Theaters verhinderte eine Aufführung der Wandlung vor den streikenden Berliner Metallarbeitern, obwohl Toller aus der Haft heraus den »schärfsten Protest« erhob, denn sein Stück gehöre »nicht dem Kurfürstendamm sondern den Arbeitern«.19 Eine weitere, wohl gravierendere Ursache für die Kurzlebigkeit des Unternehmens lag in seinem idealistischen Anspruch, der sich schnell als Weltfremdheit entpuppte, wie Kurt Tucholsky mit realistischem Blick feststellte: »Das Publikum blieb stumm. Und da oben riß einer sein Herz auf und predigte das Evangelium der Liebe – zum wievielten Male auf dieser Welt?«20 So wurde die ›Tribüne‹, nachdem der Besuch bald stark zurückging, unter neuer Leitung zu einem nur dem Geschäft verpflichteten Theater.21

II. Die Wandlung als Stationendrama des (jüdisch) Fremden Das Scheitern der ›Tribüne‹ steht in scheinbarem Gegensatz zur optimistischen Schlussapotheose in der Wandlung. Tollers erstes Stück wird dasjenige mit dem utopisch-positivsten Schluss bleiben. Es war schon früh projektiert und bei Gelegenheit vor Publikum ausprobiert worden: 1917 war das Drama für mich Flugblatt. Ich las Szenen daraus vor im Kreise junger Menschen in Heidelberg und wollte sie aufwühlen (›aufhetzen‹ gegen den Krieg!), ich fuhr nach der Ausweisung aus Heidelberg nach Berlin und las hier wieder das Stück. Immer mit der Absicht, Dumpfe aufzurütteln, Widerstrebende zum Marschieren zu bewegen, Tastenden den Weg zu zeigen [...] und sie alle zu gewinnen für revolutionäre sachliche Kleinarbeit. In Eisners Zusammenkünften vor dem Januar-

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20 21

Ludwig Marcuse: »Kritik der Wandlung«. In: Kothurn. Halbmonatsschrift für Literatur, Theater und Kunst, Heft 5, Oktober 1919. In: Der Fall Toller. Kommentar und Materialien. Hg. von Wolfgang Frühwald u.a., München 1979, S. 98. Ernst Toller: Telegramm. In: Freiheit vom 17.10.1919. Abgedruckt im Vorwärts, 18.10.1919. Vgl.: Ruth Freydank: Theater in Berlin. Berlin 1988, S. 401. Die Direktion bestand aus den Schauspielern Franz Wenzler und Friedrich Mellinger, Martin und Leonhard hatten nur die künstlerische Leitung inne. Die Eintrittspreise, zwischen 7,50 und 12,50 RM verhinderten von vorneherein, dass neben dem bürgerlichen Publikum sehr viele Arbeiter den Weg ins Theater fanden. Vgl.: Weimarer Republik. Hg. von ITW Köln, Berlin 1977, S. 845. Ignaz Wrobel (eigentlich Kurt Tucholsky): Tollers Publikum. In: Die Weltbühne 15, 20.11.1919, H. 48, S. 635–638. Nach dem einzigen Erfolg der Wandlung folgt am 11. Dezember noch die Inszenierung von Ulrich Steindorffs Die Irren, dann übernimmt Eugen Robert das Theater.

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Streik 1918 verteilte ich Zettel, auf denen gewisse Szenen der ›Wandlung‹ gedruckt standen, in Streikversammlungen las ich in meinen Reden Fetzen daraus vor.22

So politisch imprägniert wurde das Theaterstück von der ›Tribüne‹ nur in diesem einen (theater)historischen Moment mit der »expressionistische[n] Kanzel« im »Glauben« an eine einschneidende »Wandlung« der Menschheit verbunden. Dem dramatischen Text liegt dieser Weg in sechs Stationen und dreizehn Bildern zugrunde, auf dem Toller pazifistische Einstellungen und sozialanarchische Revolutionsmotive mit dem Problem der Fremdheit und des Ausgegrenztseins zur Deckung bringt. Fremdheit wird dabei auf zwei Ebenen verhandelt, die oft kaum zu unterscheiden sind: allgemein als die Fremdheit des Ausgestoßenen, Unterdrückten und Marginalisierten, die im Stück durch Arbeiter, Frauen und Kolonisierte, vulgo ›Wilde‹ figuriert wird. Speziell als persönliche Fremdheit des Autors, repräsentiert in der Hauptfigur des Dichters, Kriegsfreiwilligen und Bildhauers Friedrich. Diese ist im Falle Tollers neben dessen sozialrevolutionärer Einstellung vor allem seiner jüdischen Herkunft geschuldet. Von Anbeginn des Stückes und dann wieder in Momenten der Krise und der Umkehr wird die Fremdheit Friedrichs in der imaginären Figur des Ahasver symbolisiert. Auf ihn wird schon im ersten Bild verwiesen, in dem sich Friedrich von der christlichen Majorität (»denen drüben«) und der eigenen jüdischen Herkunft (»den anderen«) distanziert sieht: FRIEDRICH: [...] Ausgestoßner taumle ich von einem Ufer zum andern. Denen drüben Fremder, den andern fern. Ekler Zwitter [...] Daß ihr Blut in mir strömt, was will das bedeuten? Zu denen drüben gehöre ich. Einfacher Mensch, bereit zu beweisen. Fort mit aller Zersplitterung. Nicht mehr länger stolz schützen, die ich verachte. Aufrecht. MUTTER: [...] Wo warst du den ganzen Tag? FRIEDRICH: Auf der Wanderschaft, [...] Wie immer. [...] Wie Er, Ahasver, dessen Schatten zwischen geketteten Straßen kriecht, der sich in pestigen Kellerhöhlen verbirgt und nächtens draußen auf frierenden Feldern verfaulte Kartoffeln sammelt . . . Ja, ich suchte Ihn, meinen großen Bruder, Ihn, den ewig Heimatlosen.23

Als mythische Figur weist Ahasver auf die Heimatlosigkeit, Getriebenheit und potentielle Unabschließbarkeit der jüdischen, zugleich aber auch jeder anderen ausgestoßenen Existenz. Die Funktion Ahasvers als mythisches Grundmuster wird sowohl in der jeweiligen Gestaltwerdung Friedrichs in den verschiedenen Stationen als auch in den Identitätswechseln, wenn dessen »Gesicht« auch in anderen Figuren erscheint, deutlich. Alles bündelt sich innerhalb des expressi22

23

Ernst Toller: »Bemerkungen zu meinem Drama ›Die Wandlung‹« (Festgefängnis Eichstätt, Oktober 1919). In: Der Freihafen II (1919), S. 145f. Vgl. auch: Horst Denkler: »Ernst Toller. ›Die Wandlung‹«. In: Das deutsche Drama vom Expressionismus bis zur Gegenwart. Hg. v. Manfred Brauneck. Bamberg 1970, S. 48–59. Richard Dove: Ernst Toller. Göttingen 1993, insbes.: S. 68–79. Dieter Distl: Ernst Toller. Eine politische Biographie. Schrobenhausen 1993, insbes.: S. 97ff. Ernst Toller: Die Wandlung. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2, München 1978, S. 7–61, hier: S. 17. Zitate aus Die Wandlung werden im Folgenden aus dieser Ausgabe in Klammern belegt.

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onistischen Stücks in der Physiognomie ›Friedrichs‹, die vom zeitgenössischen Publikum und von der Kritik weitgehend mit dem Autor in eins gesetzt wurde. Toller, der während der Uraufführung schon in Festungshaft war, legitimierte das Stück als »Heiliger der Revolution.«24 Obwohl eine zu starke Orientierung an der Biographie des Autors in der Deutung eines Stückes oder einer Inszenierung heute nicht zu den empfohlenen methodischen Ansätzen gehört, ist diese bei der Wandlung kaum zu umgehen, zu ähnlich sind sich die »Lebenswege« der Hauptfigur und Tollers, die von der jüdischen Außenseiterexistenz über anfänglichen Kriegspatriotismus und folgender Desillusionierung bis zum politischen und ästhetischen Aktivismus verlaufen. Der »reinste[.] Abend den das Berliner Theater seit langem verschenken konnte«, wurde infolgedessen mit dem Bewusstsein der größtmöglichen »Authentizität« des dramatischen Textes genossen: Die Dichtung – und besonders die Revolutionsdichtung – war so lange Literatur und Deklamation gewesen, daß die Begriffe sich zu verwirren begannen. Der Schriftsteller sagte: Revolution des Herzens, und meinte: Revolutionierung der Form. Er sagte: Erhebung der Seele, und meinte: Erhebung der Metapher. Hier ist zum erstenmal wieder ein Dichter, der nichts anderes als ein Mensch ist. Dessen Künstlertum nichts anderes als Intensität des Persönlichen bedeutet.25

Diese »Intensität des Persönlichen« begründete am Anfang des Stückes das Mitgefühl für eine bürgerlich-jüdische Identität, welche den Auslöser für die existentielle Motivation zur Wandlung lieferte, wobei deren Fliehkraft die Stationendramaturgie entlang konzentrischer Kreise um die jüdische Herkunft des Autors entwickelt: »Eine jüdische Mutter hat mich geboren, Deutschland hat mich genährt, Europa mich gebildet, meine Heimat ist die Erde, die Welt mein Vaterland.«26 Die Mutter als Repräsentantin der jüdischen Herkunft wird als Ursache der frühen Fremdheitserfahrung genannt, die es durch Anpassung zu überwinden gilt: FRIEDRICH: Ach Mutter [...] Du hast für mich gesorgt mit Geld, willst mir meine Wege ebnen um Geld zu erwerben. [...] Was aber tatest du für meine Seele? Lehrtest mich Haß gegen die Fremden. Warum? MUTTER: Sie dulden uns nur. Sie verachten uns. (19)

Als Subjekt der Erfahrung wurde auf der Bühne der »Autor« erkannt: Ernst Toller ist Friedrich. Der geht nicht, sondern jagt außer Atem zwei Wege. Den einen aus der Kunst in den Krieg, aus dem Krieg zurück in die Kunst und aus der

24 25 26

Günther Rühle: Theater für die Republik. Frankfurt a. M. 1988, S. 156. Herbert Ihering: Der Tag. Berlin 2.10.1919. Zit. n.: Günther Rühle: Theater für die Republik. Frankfurt a. M. 1988, S. 157–159, hier: S. 157. Zit. n.: Wolfgang Frühwald: »Exil als Ausbruchsversuch. Ernst Tollers Autobiographie«. In: Zu Ernst Toller. Drama und Engagement. Hg. v. Jost Hermand. Stuttgart, 1981, S. 191–200, hier: S. 191.

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Kunst in die Brüdererlösung; den anderen: aus der Abseitigkeit des Juden und aus der Vaterlandsliebe in die Abgeordnetheit für die ganze Menschheit.27

Nur zu gut verstand man – in den meisten Fällen durchaus ohne unfreundlichen Hintergedanken – die Situation Friedrichs sowie des Autors und bestätigte en passant den zeitgenössischen Antisemitismus; selbstverständlich begrüße Friedrich den Krieg, »weil er sich durch ihn sein Vaterland und sein Recht darauf erkämpfen kann.«28 Er verkörpere den »jüdische[n] Jüngling, der um Deutschland ringt«29, obwohl das Wort ›Jude‹ im dramatischen Text an keiner Stelle zu finden ist. Er sei ganz allgemein einer, »der Unrecht erfuhr«, im Besonderen »vielleicht auch [.] einer, der vor dreitausend Jahren das höchst entwickelte Sittengesetz dieser Erdkugel besaß.«30 Er wurde als jemand interpretiert, der keineswegs »mehr Jude sein will«, da er sich »nach Aufnahme und Bindung mit einer Volksgemeinschaft« sehne.31 Als mentale und gesellschaftspolitische Realität wurde akzeptiert, was Toller in seiner Autobiographie beschreibt: Ich denke an meine frühe Jugend, an den Schmerz des Knaben, den die anderen Buben ›Jude‹ schimpften, an mein kindliches Zwiegespräch mit dem Bild des Heilands, an die schreckliche Freude, die ich empfand, wenn ich nicht als Jude erkannt wurde, an die Tage des Kriegsbeginns, an meinen leidenschaftlichen Wunsch, durch den Einsatz meines Lebens zu beweisen, daß ich Deutscher sei.32

Tollers Bemühen um Assimilation gipfelte gar darin, sich 1916 aus »den Listen der jüdischen Gemeinde« streichen zu lassen, um der Allgemeinheit zu signalisieren, daß er »Deutscher sei, nichts als Deutscher«.33 Um seine Vaterlandsliebe zu beweisen, hatte sich Toller als Einundzwanzigjähriger beeilt, von seinem Studienort Grenoble nach Bayern zu kommen, um sich als Kriegsfreiwilliger zu melden. Prompt war er im Münchner Bahnhof wegen seiner dunklen Haare und seines Lyoner Hutes verdächtigt worden, ein französischer Spion zu sein, was ihm fast das Leben gekostet hätte. Nichtsdestotrotz hoffte er, dass der Krieg seine jüdische Identität auslöschen würde, er glaubte fest an die 27 28 29 30 31 32 33

Siegfried Jacobsohn: Kaiser und Toller. In: Die Weltbühne, XV, 42, 9.10.1919, S. 452. Paul Fechter: Ernst Toller: ›Die Wandlung‹. Erstaufführung in der Tribüne. In: Deutsche Allgemeine Zeitung, 1.10.1919. Herbert Ihering: Der Tag. Berlin 2.10.1919. Zit. n.: Günther Rühle: Theater für die Republik. Frankfurt a. M. 1988, S. 157–159, hier: S. 158. Alfred Kerr: Ernst Toller. ›Die Wandlung‹. Tribüne. In: Berliner Tagblatt Nr. 463, 1.10.1919. R.[.]G.[.] Haebler: Der Dramatiker Ernst Toller. In: Die Glocke, VIII, 49, 5.3.1923, S. 1254–1258, hier: S. 1254. Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland, S. 31. Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland, S. 31. Vgl.: Carsten Schapkow: »Judenbilder und jüdischer Selbsthaß. Versuch einer Standortbestimmung Ernst Tollers«. In: Ernst Toller und die Weimarer Republik. Ein Autor im Spannungsfeld von Literatur und Politik. Hg. v. Stefan Neuhaus u.a., Würzburg 1999, S. 71–86, hier: S. 82.

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Versprechen des Kaisers, dass dieser »keine Parteien mehr [kenne und] das Land keine Rassen mehr, [denn] alle sprechen eine Sprache, alle verteidigen eine Mutter – Deutschland!«.34 Die erhoffte Gemeinschaft stellte sich nicht ein, und die Gräuel des Krieges führten bei Toller selbst zu einer entscheidenden Einstellungsänderung, die ihm als Folie für die Handlung seines Stückes diente. In diesem geht es jedoch nicht gegen die Franzosen, sondern in einem ›Kolonialkrieg‹ gegen die ›Wilden‹ als die typisch Fremden: FREUND: [...] Der Kampf gegen die Wilden hat begonnen, drüben in den Kolonien. [...] Freiwillige können sich melden. [...] FRIEDRICH: [...] Nun kommt Befreiung aus dumpfer quälender Enge. Oh, der Kampf wird uns alle einen . . . Die große Zeit wird uns alle zu Großen gebären . . . Auferstehen wird der Geist, alle Kleinlichkeit wird er zerstören, alle lächerlichen, künstlichen Schranken niederreißen.....Ich fühle mich ja so stark! Nun kann ich meine Pflicht tun. Nun kann ich beweisen, daß ich zu ihnen gehöre. (20)

Doch im Vorspiel Die Totenkaserne deutet Toller im Dialog des »Friedenstodes« mit dem »Kriegstod« von vornherein an, dass die von Friedrich ersehnte Gemeinschaft allein eine Ordnung des Todes sein kann, so gesteht der »Friedenstod«: »Mein Kompliment! .... Sie sind das ordnende Prinzip./Bei mir herrscht Chaos.« (14) Erst im Totentanz im vierten Bild verwirklicht sich die Gleichheit in der Gemeinschaft: ERSTES SKELETT [zum ZWEITEN SKELETT]: Spiel’ weiter nur Komödie, alter Freund,/Ich klappere mit schlottrigen Gelenken/Dazu erlesnen Niggertanz./un sind wir nicht mehr Freund und Feind./Nun sind wir nicht mehr weiß und schwarz./Nun sind wir alle gleich./Die bunten Fetzen fraßen Würmer/Nun sind wir alle gleich./ Mein Herr . . . Wir wollen tanzen. (26)

Bevor man stirbt, findet man sich als einfacher Soldat erst recht in der Lage des Orientierungslosen und damit in der Fremdheit Verlorenen: »ZWEITER SOLDAT: Wir irren durch endlose Räume./Tage, Wochen, ich weiß kaum mehr./Wollt’, ich schlief im Schoß meiner Mutter.« (21) Die Soldaten teilen nun alle das Schicksal Ahasvers: »ALLE: Ewig fahren wir/Ewig . . .« (21) Der Krieg erweist sich als Sinn verkehrende Missionsaufgabe: »ERSTER SOLDAT: Wofür? Für die Herren. Den Wilden die wahre Religion bringen? Mit Morden und Sengen. Ich bin der Erlöser, juchhe! Laß dir den Schädel zertrümmern, und die Seligkeit erwartet dich.« (23) Während Friedrich noch sein Heil im Patriotismus sucht, wird ihm wie gewohnt die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft von der Mehrheit nicht zugestanden: FRIEDRICH: Wie könnt ihr leben ohne Vaterland? Wahnsinn würde mich packen in all dem Grauen . . . wenn ich nicht die Zähne zusammenbiß, um des Vaterlandes 34

Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. Vgl.: Walter Sokel: »Ernst Toller«. In: Zu Ernst Toller. Drama und Engagement. Hg. von Jost Hermand, Stuttgart, 1981, S. 25-40, hier S. 25.

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willen. ZWEITER SOLDAT: Das sagst du? ..... ERSTER SOLDAT: Haha, du als Fremder? FRIEDRICH: Bin kein Fremder, gehöre zu euch. ZWEITER SOLDAT: Und wenn du tausendmal in unseren Reihen kämpfst, darum bliebst du doch der Fremde. ERSTER SOLDAT (ohne jede Betonung): Fluch hängt an dir, Vaterlandsloser. [...] FRIEDRICH: [...] Habe ich es nicht bewiesen in Gefechten und Schlachten auf Patrouillen und Wachen – Treib mich feige Hast zurück? Kroch ich in Höhlen, mich zu verstecken? ZWEITER SOLDAT: Bliebst doch der Vaterlandslose. FRIEDRICH: So will ich denn für mein Vaterland kämpfen trotz euch. Denn wer kann’s mir scheel entreißen, trag ich’s doch in mir. (25)

Friedrich versucht, dem traditionellen Vorurteil, dass Juden feige wären, zu entgehen, trotzdem wird er mit dem üblichen Vorwurf der »Vaterlandslosigkeit« konfrontiert. Erst am Schluss des Dialogs erlaubt ihm einer der Soldaten, sein individuelles Schicksal als das aller Soldaten zu betrachten, so dass er sich zumindest in die Gemeinschaft aller Ausgestoßenen fügen kann: »ERSTER SOLDAT (gutmütig): Mußt dich schon dran gewöhnen. Wir sind ja schließlich alle ohne Vaterland. Wie die Dirnen.« (24) Eine weitgehend spannungsfreie Identität als Jude und Deutscher wird Toller nicht nur im Krieg, sondern auch auf seinem weiteren Lebensweg nicht erlaubt, Jahre später hat sich an seiner Situation nur so viel verändert, dass er nun seine frühen Assimilationsbemühungen bereut: Liebe ich nicht dieses Land, habe ich nicht in der reichen Landschaft des mittelländischen Meeres gebangt nach den kargen, sandigen Kiefernwäldern, der Schönheit der stillen versteckten Seen des deutschen Nordens? Rührten mich nicht die Verse Goethes und Hölderlins, die ich als wacher Knabe las zu dankbarer Ergriffenheit? Die deutsche Sprache, ist sie nicht meine Sprache, in der ich fühle und denke, spreche und handle, Teil meines Wesens, Heimat, die mich nährte, in der ich wuchs? Aber bin ich nicht auch Jude? Gehöre ich nicht zu jenem Volk, das seit Jahrtausenden verfolgt, gejagt, gemartert, gemordet wird, dessen Propheten den Ruf nach Gerechtigkeit in die Welt schrien, den die Elenden und Bedrückten aufnahmen und weitertrugen für alle Zeiten, dessen Tapfersten sich nicht beugten und eher starben, als sich untreu zu werden? Ich wollte meine Mutter verleugnen, ich schäme mich.35

Die Verleugnung scheint bis zum Selbsthass36 zu gehen, wenn er in der Wandlung antisemitische Vorurteile zitiert: »FRIEDRICH: [...] Wollen wir irgend etwas tauschen? Ein gutes Taschenmesser gegen einen Zeichenkasten? Der Zirkel ist zwar schadhaft, aber man merkt es nicht leicht, ich habe ihn so gelegt, daß man es nicht merken kann.« (20) Der Beruf des Kaufmanns, den der Vater Tollers ausgeübt hat, wird als originär jüdischer abgelehnt, im Stück wirft der ›Onkel‹ Friedrich im letzten Bild noch vor, er habe mit seiner Dissidenz nur sein Geschäft und daher seine Familie ruiniert und sein »eignes Blut überfallen« (55). Die Handlung, die sich am Weg des Heimat- und Bindungslosen Friedrich von Station zu Station orientiert, verbindet jüdische und christliche Überlie35 36

Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. S. 178. Vgl.: Sander L. Gilman: Jüdischer Selbsthaß. Frankfurt a. M. 1993.

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ferungsfragmente, indem sich die Wanderung des ewigen Juden mit dem ›Kreuzweg‹ überlagert, der im letzten Bild zur Erlösung führt. Friedrich erinnert sich in denjenigen Momenten an Ahasver, in denen die Enttäuschung nicht ausbleibt und die Situation für ihn unerträglich wird, etwa kurz vor der Ordensverleihung (III,5), als Friedrich verwundet und fiebernd im Lazarett liegt, von Ahasver phantasiert und später von einem Offizier einen Orden überreicht bekommt mit den Worten: »Fremder waren Sie unserm Volk, nun haben Sie sich Bürgerrechte erworben.« (29) Auch diese Szene hat einen Referenten im Leben des Autors: [Toller] hat mir erzählt, was ihn, den Kriegsfreiwilligen, so maßlos radikalisierte: Er lag im Lazarett, als sein Eisernes Kreuz eintraf. Der Regimentsarzt oder sonst irgend jemand, der etwas zu sagen hatte, überreichte ihm die Auszeichnung mit den Worten: ›Sehen Sie, nun ist der Makel Ihrer Herkunft wettgemacht.‹ Daraufhin hätte er getobt, und seit der Zeit sei er gegen dieses Deutschland gewesen. Wie gut ich ihn verstand.37

Zur Verstörung führt jedoch nicht nur die scheiternden Assimilationsbemühungen, sondern auch die Erkenntnis, dass der ›Orden‹ mit dem Tod anderer Menschen verdient wurde: »Zehntausend Tote! Durch zehntausend Tote gehöre ich zu ihnen. [...] Ist das Befreiung? Ist das die große Zeit? Sind das die großen Menschen?« (29) Der Dialektik der Gewalt ist nur mit der Überwindung der Grenzen zum Anderen und Fremden zu entkommen, zumal diese als konstruiert und relativ erkannt werden: »FRIEDRICH: [...] Wer bestimmt, daß ein andrer Feind sei?... Ist da eine geistige Kraft, die zum Kampf zwingt? . . . Oder bestimmt Willkür den Feind? . . . Da klafft ein Widerspruch.« (35) Daher verbindet sich in der Lazarettszene die Heimatlosigkeit Ahasvers als Ausweichbewegung mit der christlichen Erlösungslehre als mögliches Ziel: der Orden hat die Form eines Kreuzes, im Bild ist ein »über dem Bett gekreuzigter Christus« zu sehen, die Schwester trägt das »Rote Kreuz auf dem Kittel« und der Baum, an den Friedrich gebunden war, wird mit dem »Kreuz« (29) verglichen. Nur Friedrich bleibt als einzig Überlebender übrig, so dass er das Negativbild zu dem Kreuzestod Christi als Opfer für die Menschheit bildet. Eine zu starke Identifikation der Figur Friedrich mit dem Leidensweg Christi wird generell durch die Aufsplitterung der Persönlichkeit der Hauptfigur vermieden, indem in einigen Nebenpersonen das »Antlitz« Friedrichs zu sehen ist.38 Für diese gibt das Stationendrama als dramatis personae nur 37 38

Walter von Molo (1957) in: Der Fall Toller. Kommentar und Materialien. Hg. von Wolfgang Frühwald u.a., München 1979, S. 99. Carel ter Haar vertritt die These, dass Toller sich in der Wandlung der »jüdischen kollektiven Interpretation des Leidens anschließt«. Er zitiert hierzu Schalom BenChorim: »Eine Introversion der Erlösung und eine Singularisierung der Erlösung kann jüdisch nicht gedacht werden. Keine Einzelseele ist inmitten einer unerlösten Welt herausgenommen und erlöst, denn das Leiden der anderen könnte den Begna-

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Typen und keine Charaktere an. Ihre Bezeichnungen stehen einerseits für die nähere Umgebung eines Menschen, so die ›Mutter‹, der ›Onkel‹ und der ›Jugendfreund‹, andererseits für den weiteren gesellschaftlichen Umkreis, als ›Soldat‹, ›Arzt‹, ›Pfarrer‹ oder ›Arbeiter‹. Dass es um die ›Menschheit‹ geht, wird nicht nur durch die Typisierung der Figuren, sondern auch durch die örtliche und zeitliche Situierung deutlich, die »Handlung spielt in Europa vor Anbruch der Wiedergeburt« (12). Existentiell fundiert den geprüften Wanderer als Fremden neben der Ahasverfigur von vorneherein die allegorische Figur des Todes als »Feind des Geistes in Gestalt eines Soldaten, des Professors, des Richters, des nächtlichen Besuchers« (11). So ergibt sich für die Hauptfigur eine zugleich Existenz sichernde wie -bedrohende typologische Dichotomie als polarisierte Projektion des ›Ichs‹. Innerhalb eines so angedeuteten manichäischen Weltbildes versichert sich die fragile Identität Friedrichs ihres Lebensweges durch die Flucht nach vorne in die Beste aller Welten, in die Erlösung aus der Vereinzelung durch Negierung der Grenzen zwischen Ich und Du. Das funktioniert, da Toller die Christussymbolik benutzt, um seine von Gustav Landauer übernommene Interpretation der Person Christi als Sozialisten zu kommunizieren.39 Folgerichtig wird die Immanenz des diesseitigen Daseins nicht verlassen. Zwar führt der ›Weg‹ durch die Stationen ›zu Gott‹, aber – so präzisiert die Figur der ›Schwester‹ im Stück – »zu Gott, der in der Menschheit lebt«. Erlösung erlangt man daher nur durch die Hinwendung »zu den Menschen« (40). Die Stationendramaturgie steuert die Handlung aus der existentiellen Fremdheit in deren Auflösung, indem individuelle und gesellschaftliche Grenzen zwischen den Menschen in einem revolutionären Akt überwunden werden. Die Dialektik in der performativen Konstruktion von ›Identität‹ und ›Fremdheit‹ innerhalb eines relationalen Verhältnisses als ewige Wiederkehr des Gleichen wird so ausgesetzt. Das Stationenmodell nach August Strindberg, der sogar namentlich im Stück auftaucht, ist nicht mehr als kreisförmiges zu denken. Doch bleiben auch bei Toller die Stationen weitgehend autonom, die das Geschehen zusammenhaltende Hauptfigur entwickelt den Handlungsfortschritt nicht anhand psychologisch einsichtiger Aktionen. Emil Faktor erkannte einen postdramatischen Text avant la lettre:

39

deten nicht in den Genuß wahrer Erlösung gelangen lassen. Er leidet ja das Leiden der anderen mit.« Vgl.: Carel ter Haar: Ernst Toller. München 1982, S. 87. Schalom Ben-Chorim: »Der leidende Mensch. Von Hiob bis zum Knechte Gottes«. In: Daß dein Ohr auf Weisheit achte. Jüdische Beiträge zum Menschenbild. Hg. von Karl Heinz Schröter. Wuppertal 1966, S. 32. So schreibt Gustav Landauer: »Stelle einen Philister vor Jesus, der in seinem Reichtum, in der Ausgiebigkeit seiner unerschöpflichen Gestalt nebst dem, was er überdies für den Geist und das Leben bedeutet, auch ein gewaltiger Sozialist ist.« Ders.: Aufruf zum Sozialismus. Frankfurt a. M. 1967, S. 97. Vgl.: Michael Hugh Fritton: Literatur und Politik in der Novemberrevolution 1918/1919. Frankfurt a. M. 1986, S. 135ff.

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Nicht als Drama kann diese formschöne, von Traumkraft und Gefühlswärme durchströmte Dichtung gewertet werden. Sie gibt ein schwach gegliedertes Nacheinander von Erlebnis, Traum und Schilderung, das nur durch logische Begründung der Gesinnungen den Zusammenhang erhält.40

Räumliche Situierung, zeitlicher Ablauf und somit Stationenabfolge sind nicht in jedem Fall zwingend festgelegt. Zentrum ist letztlich das Erleben der Hauptfigur, Reales und Imaginäres schlägt sich gleichermaßen szenisch nieder, so dass einige »Bilder [...] schattenhaft wirklich, in innerlicher Traumferne gespielt zu denken« sind (12). Das Verhältnis der Hauptperson zu den anderen Personen des Stücks konstituiert sich aus dem Panorama an Projektionen des zentralen ›Ichs‹ als innere Wirklichkeit. Im Imaginären zwischen ›Ich‹ und ›Du‹, den ›eigenen‹ und ›fremden‹ ›Identitäten‹, prägen sich immer nur temporär stabile Gestalten aus. Insofern steht Tollers Rückgriff auf den Ahasvermythos in der Tradition von Strindbergs Dramaturgie, belässt es jedoch nicht bei dessen Offenlegung der individuell-inneren Problemlage, sondern hebt diese in einer »Umsetzung von Innenbildern in öffentliche Fakta«41 auf eine allgemeinere Ebene, wobei »Kultur [die] form- und gestaltgewordene Seele der Gemeinschaft« ist.42 Dies führt zu dem eigentümlichen Paradox der Wandlung, dass aus dem Ich-Drama nicht nur ein allgemeingültiges Modell werden soll, sondern dass die Verkündigung im Drama selbst und zugleich im Theater die Ich-Perspektive in Richtung Gemeinschaftserfahrung überwinden will. Die ›Passion‹ als Lebensweg über Stationen verlangt die Reflexion des Menschen als Künstler. Nachdem Friedrich aus dem Krieg zurückgekehrt ist, versucht er, sich durch ein Artefakt als Außenprojektion einen Halt im Leben zu kreieren. Als Bildhauer arbeitet er an einer Statue, die das »Symbol [des] siegreichen Vaterlands, unseres Vaterlands« sein soll (35). Die Plastik wird neben seiner Liebe zu Gabriele die letzte Versicherung gegen die Sinn- und Heimatlosigkeit sein: »FRIEDRICH: Ob nicht Höheres wächst. Und ich will’s doch gar nicht wissen. Denn wüßte ich drum, ich würde mein Schicksal nicht mehr hemmen, ich würde Ahasver!« (35) Gabriele verlässt ihn jedoch, da sie ihr Erbe nicht verlieren will (36f.). Friedrich bleibt allein zurück als der exemplarisch Fremde, wie Georg Simmel ihn definiert: »Der Fremde ist [...] seiner Natur nach kein Bodenbesitzer, wobei Boden nicht nur im physischen Sinn verstanden wird, sondern auch in dem übertragenen Sinn einer Lebenssubstanz, die, wenn nicht an einer räumlichen, so an einer ideellen Stelle des gesellschaftlichen Umkreises fixiert ist.«43 40 41 42 43

Emil Faktor: Berliner Börsen-Courier. 1.10.1919. Zit. n. Rühle: Theater für die Republik. Bd. 1, S. 161. Ludwig Rubiner: »Der Dichter greift in die Politik«. In: Der Mensch in der Mitte. Berlin 1917, S. 22. Tollers Antwort auf die Rundfrage: Theaterzensur? (1921). In: Die Volksbühne. Jg. 2 (März/April 1921), S. 110f. Georg Simmel: »Der Fremde«. In: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. Hg. v. Michael Landmann. Frankfurt a. M. 1968, S. 64f..

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Nachdem Friedrich zusätzlich noch dem wahren Bild und der wahren Verkörperung des Krieges in einem Kriegsinvalidenpaar begegnet, vernichtet er den Götzen und überlässt sich wieder der mythischen Figur des Ahasvers: FRIEDRICH: Wahnsinn befällt mich. Wohin? Wo bist du, Ahasver, daß ich dir folgen kann? Freudig will ich dir folgen. Nur fort von hier. Millionen von Armstüm-pfen recken sich um mich. Schmerzgebrüll von Millionen Müttern tost durch den Raum. [...] Lieber will ich wandern, ruhelos wandern, mit dir Ahasver! (39)

Friedrich nimmt einen Revolver, will sich erschießen, im letzten Moment »tritt« jedoch »die Schwester ein« und fordert ihn auf, den Menschen zu suchen: Wer zu den Menschen gehen will,/Muß erst in sich den Menschen finden./Der Weg, den ich dich gehen heiße, Führt dich durch alle Tiefen, alle Höhen,/Durch nächtiges Gestrüpp mußt du den Weg dir bahnen,/Gestrüpp von Toren wohl verbrecherisch geheißen,/Nur bist du selber Angeklagter, selber Richter. (40)

Der Mensch kann folglich nicht auf einen Götzen bauen, sondern muss sich selbst aus seinem Gewissen erneuern und das Opfer seiner eigenen Identitätsauflösung bringen. Daher »stirbt« Friedrich im neunten Bild als »Gefangener« einer »Fabrik« stellvertretend für alle Mit›gefangenen‹ den Kreuzestod, um den Passionsweg des Menschen als ewige Wiederkehr des Gleichen zu unterbrechen. Zugleich gebiert seine Frau ein Kind, die »Gefangenen« werden befreit, da »alle Zellentüren« durch den Schrei des Sterbenden aufspringen. Im nächsten Bild ist Friedrich der Wanderer, der sich erhebt und dem es so vorkommt, dass er »zum erstenmal erwach[e]«, da er eine »schwere Grabesplatte« fortwälze und »auferstehe« (46). Als Neugeborener, Gewandelter verkündet er seine eigene Vorstellung der Liebe zum Mitmenschen als Revolution. Diese versteht er jedoch nicht als gewaltsamen Umsturz, gegen den er in der »Volksversammlung« des elften Bildes, in der sich das ›Volk‹ gegen die »Stützen der Gesellschaft« erhebt, argumentiert: »FRIEDRICH: [...] Ich aber will, daß ihr den Glauben an den Menschen habt, ehe ihr marschiert.« (50) In dieser Szene kommt neben der religiösen die politisch-parteiideologische Rückbindung Tollers besonders deutlich zum Ausdruck, denn die Fremdheitserfahrung Friedrichs ist zugleich das Erleben des Ausgestoßenen in der Weltgeschichte, konkret des Arbeiters als marginalisierten Teils der Menschheit. So schreibt Toller in einem Brief aus dem Gefängnis: Sie wissen, daß meine Schaffenskraft den Arbeitern gehört, aber indem ich mit ihnen und für sie lebe, lebe ich für die Menschheit, die alle umfaßt. Ich kann niemanden hassen, wie können wir Menschen hassen, die glauben, Treibende zu sein und doch Getriebene sind, Getriebene eines Schicksals, das uns umklammern wird, solange diese Erde atmet. Glauben Sie mir, es ist schwer, nicht zu hassen – nur das

Vgl.: Carel ter Haar: Ernst Toller. München 1982, S. 106f.

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Wissen um den ›gezwängten Zwang‹ der Menschheit gibt die Erkenntnis und macht uns wissend und weise.44

Das Proletariat deutet Toller daher nicht im streng marxistischen Sinn als ein geschichtliches Faktum, das zwingend zur Revolution führen muss, sondern als Zeichen der Fremdheit jedes modernen Individuums. Somit war es für den bürgerlich-jüdischen Dichter wie den Arbeiter oder den getäuschten einfachen Soldaten bzw. der unter dem Krieg leidenden Bevölkerung wichtig, die ›Wandlung‹ zu vollziehen, denn: »Nur aus innerlicher Mensch-Wandlung kann die Gemeinschaft, die wir erstreben, erwachsen.«45 Herausbilden sollte sich der ethisch denkende Mensch, der aus sozialem Verantwortungsgefühl zum politischen Menschen, zum »Neuen Menschen« wird, der jenseits der Dichotomie Fremd-Eigen denkt und handelt.46 Zur Umkehr motiviert wird Friedrich letztendlich nicht durch das alttestamentarische Gesetz und die religiöse Konvention, sondern durch das eigene Gewissen in der Erinnerung an das eigene Menschsein: »Ihr seid keine Menschen mehr, seid Zerrbilder euer selbst. Und ihr könntet doch Menschen sein, wenn ihr den Glauben an euch und den Menschen hättet.« (60) Die Umkehr bedeutet zugleich, den anderen nicht mehr als Fremden bzw. als ›Wilden‹ zu sehen: Der Solipsismus des individuellen Bewusstseins muss überwunden werden. Friedrichs Verkündigung trägt Früchte, im letzten Bild erkennt erst ein ›Jüngling‹ – »Daß wir es vergaßen! Wir sind doch Menschen!« –, dann ein »Paar Frauen und Mädchen (halblaut)«, dann »Alle (aufschreiend)« ihr verschüttetes Menschsein, das als anthropologische Konstante dem Rousseauschen Menschenbild entlehnt zu sein scheint; Grenzen des Individuums sollten ab nun genauso der Vergangenheit angehören wie Hierarchien der Macht, Einfluss-Sphären des Geldes und Wirkungskreise der Gewalt.47

44 45

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Ernst Toller an Fritz Unruh aus dem Gefängnis Stadelheim 1919. In: Toller, Briefe aus dem Gefängnis. Amsterdam 1935, S. 11f. Zit. in: Klaus Kändler: »Zwischen Masse und Mensch – Ernst Toller von der ›Wandlung‹ bis ›Hoppla, wir leben!‹ und ›Feuer aus den Kesseln!‹«. In: Zu Ernst Toller. Drama und Engagement. Hg. von Jost Hermand. Stuttgart 1981, S. 87–115, hier: S. 93. Der ›Neue Mensch‹ kann auch als Negativbild des Nietzscheanischen ›Übermenschen‹ gedeutet werden, diese Interpretation würde auch den Namen der Hauptfigur ›Friedrich‹ erklären. In der Sekundärliteratur und der Kritik nicht erwähnt wird die im dramatischen Text zu lesende Bemerkung zum Vorspiel Die Totenkaserne, dass dieses »auch als Nachspiel gedacht werden kann«. Hiermit stellt Toller den optimistischen Schluss in Frage, da der Passionsweg auch wieder in die ›Totenkaserne‹ führen kann. Ernst Toller: ›Die Wandlung‹. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2, München 1978, S. 7–61, hier: S. 13.

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III. Fritz Kortner auf der expressionistischen ›Andeutungsbühne‹ als »junger deutscher Jude und Rebell« In der für den deutschen Expressionismus folgenreichsten theoretischen Abhandlung, in Wilhelm Worringers Dissertation Abstraktion und Einfühlung (1908), markiert der »Abstraktionsdrang«, als »Bedürfnis nach Selbstentäußerung«, den Gegenpol zur Einfühlung.48 In diesem Sinne ist auch die expressionistische Inszenierung der Wandlung in der ›Tribüne‹, wie Alfred Kerr feststellt, ein Sieg der »Andeutungsbühne« über die »Wirklichkeitsbühne«. Generell kommt, so Worringer, in der Abstraktion der »Primitivismus« zur Geltung, dieser stellt Herders kulturelle Hierarchie auf den Kopf, indem er die höchste kulturelle Entwicklungsstufe wieder an den »Anfang« zurückführt: Erst nachdem der menschliche Geist in jahrtausendelanger Entwicklung die ganze Bahn rationalistischer Erkenntnis durchlaufen hat, wird in ihm als letzte Resignation des Wissens das Gefühl für das ›Ding an sich‹ wieder wach. Was vorher Instinkt war, ist nun letztes Erkenntnisprodukt. Vom Hochmut des Wissens herabgeschleudert, steht der Mensch nun wieder ebenso verloren und hilflos dem Weltbild gegenüber wie der primitive Mensch.49

Der expressionistische Abstraktionsdrang ›zerschlägt‹ die ›alte‹ Ordnung, indem er, auf einer ›geistigen Bühne‹, innerhalb einer utopistischen Programmatik den ›Neuen Menschen‹ zeichnet. Da, wie die Kritik bemerkte, »Tollers Werk [...] der Regie ein paar szenische Probleme anheim“ gibt, mit denen „die Normalbühne ihre liebe Not hätte«50, war gerade die expressionistische Andeutungsbühne51 geeignet, die Inszenierung zu ermöglichen: »Das lokale Motiv der [jeweiligen] Szene wurde angeschlagen, und die Motive wurden gebunden und aufgelöst durch dunkelnde und hellende Beleuchtung.«52 Trotz Treue zum Text war die Aufführung daher auch Regietheater. Denn die Wandlung kam keineswegs unverändert auf die Bühne; der Dramaturg Leonhard bekennt, »daß wir energisch in das Stück eingegriffen haben; wir haben eine Szene zugefügt, und ich kann mit bestem dramaturgischem Gewissen sagen, daß es nicht die schlechteste war und daß sie zum Erfolge des Stücks geholfen hat.«53 48

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Wilhelm Worringer: »Abstraktion und Einfühlung (1908)«. In: Kunst/Theorie im 20. Jahrhundert. Hg. von Charles Harrison u.a.. Ostfildern-Ruit 2003, S. 91–95, hier: S. 95. Ebd., S. 95. Emil Faktor: Berliner Börsen-Courier, 1.10.1919. Zit. n. Rühle: Theater für die Republik. Im Spiegel der Kritik, 1917–1933. 2 Bde., Frankfurt/M. 1988, Bd. 1, S. 159-162, hier: S. 160. Alfred Kerr: Berliner Tagblatt, 1.10.1919 (Abendausgabe). Zit. n. Günther Rühle: Theater für die Republik. Bd. 1, S. 164. Herbert Ihering: Der Tag, Berlin 2.10.1919. Zit. n. Rühle: Theater für die Republik. Bd. 1, S. 158. Rudolf Leonhard: Der Weg und das Ziel. Prosaschriften. Berlin 1970, S. 151–157, hier: S. 153. Leonhard des weiteren zum Stück: »Noch immer scheinen mir einige

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An die Stelle des Aufrufes zur Revolution wurde die Geburt des Kindes gerückt, die Hoffnung der Wiedergeburt wurde so mit dem revolutionären Protest verbunden. Der Abstraktionsdrang in der Andeutungsbühne bedeutete die »Abkehr von jeder kleinlichen Naturtreue [...] reiner Dienst am Wort und an seinem Sinn«.54 Dabei war, wie sich Kortner erinnert, Martin »angelegentlich um einen äußeren, optischen Stil bemüht. Der Expressionismus auf der Bühne hielt seinen Einzug durch schiefe Türen, meistens ohne Wand. Der nur angedeutete Schauplatz wurde bizarr beleuchtet. Das Wort blieb unerhellt, wenn nicht der Schauspieler selber es beleuchtete«.55 Der vorhanglose Bühnenraum von Robert Neppach war dementsprechend auf das Wesentliche reduziert und der Ort des Geschehens nur skizziert: »Transportzug – und vor dunklem Vorhang stand ein mittelhohes und mittelbreites Stück Wand mit Gitterfenster; Wüstenlager – und ein gemaltes Wachtfeuer war da; Drahtverhau – und ein kurzes Gestell; Lazarett – und ein getünchter Wandausschnitt wurden hingesetzt.«56 Die Musik wurde sehr zurückgenommen: »Das Spiel der einzigen Geige zwischen den Vorhängen tat so viel wie ein halbes Orchester.«57 Die Fokussierung auf die Hauptidee korrespondierte mit der Stationendramaturgie, indem sich das Spiel auf den Darsteller der Hauptfigur Fritz Kortner konzentrierte, während die anderen Figuren den Hintergrund und die allgemeine Masse bildeten. Keineswegs sah man »Psychologie und Entwicklung, sondern Ballung und Moment. Dabei ballten sich Worte [...] rhythmisch und brachen auseinander. Schreie gingen auf und versanken. Bewegungen stießen vor und zurück.«58 Die ›Ausdrucksformen‹ Kortners schwankten »zwischen heiß entzündbarer Pathetik und nervös flackernder Sinnlichkeit«.59 Für Kerr hat die Inszenierung in der

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Stellen genial, aber seine Schwächen, saloppe Komposition und eine blecherne Sprache, sind später um vieles mehr fühlbar gewesen.« In: Rudolf Leonhard: Über die Anfänge des politischen Theaters in Deutschland, S. 153. Vgl.: Paul Schultes: Expressionistische Regie. Diss., Uni Köln 1981, S. 162ff. Willi Handl: »Der neue Geist und der alte Schiller«. In: Freie Deutsche Bühne 1 (1919/20), S. 103f. Fritz Kortner: Aller Tage Abend. München 1979, S. 268. Herbert Ihering: Der Tag, Berlin 2.10.1919. Zit. n. Rühle, Theater für die Republik, Bd. 1, S. 158. Alfred Kerr: Berliner Tagblatt, 1.10.1919 (Abendausgabe). Zit. n. Rühle: Theater für die Republik. Bd. 1, S. 164. Herbert Ihering: Der Tag, Berlin 2.10.1919. Zit. n. Rühle: Theater für die Republik. Bd. 1, S. 158. Emil Faktor: Berliner Börsen-Courier, 1.10.1919 (Fortsetzung in der Abendausgabe). Zit. n.: Rühle: Theater für die Republik. Bd. 1, S. 162. Patterson sieht das kritisch: »A strong primitivist element of the production and one of its most significant features was the ecstatinc acting of the central figure, Fritz Kortner. […] It was his performance as Friedrich that turned him into a star. The ideological division in acting styles between the abstractionist style of the minor characters and the primitivist self-release of the main performer (often emdying an extension of the

Ernst Tollers Stationendrama Die Wandlung

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Theatergeschichte hier einen Schritt vorwärts getan, welcher insbesondere Kortner zu verdanken war: »Das ist Sprachwucht; verschweißt mit Gefühl.«60 Paradoxerweise erzielte Kortner diesen Eindruck auch deshalb, weil er sich nicht dem dramatischen Text unterwarf: Herr Kortner spielte den Helden. [...] Er griff über die Grenzen der Bühne und sprengte den Raum. [...] Aber er kann nicht Gestalten spielen, die sich von ihrem Dichter noch nicht gelöst haben. Er muß die Rolle schauspielerisch auffüllen dürfen. [...] Sein Blut rebellierte noch gegen Stück und Regie. [...] Kortner spielt nicht die Wandlung, sondern die Empörung. Aber diese mit einer von allen Kräften des Theaters genährten, aufsteigenden, breit sich entfaltenden, durchrüttelnden Kraft.61

Kortner hob keineswegs die Grenze zwischen sich und den anderen Menschen auf, weder im Verhältnis zu den Nebenfiguren und ihren Darstellern noch in der Kommunikation mit dem Publikum. Er blieb im Gegenteil ganz bei sich: »Was ich damals spielte, war ich selber: ein junger deutscher Jude und Rebell, im Konflikt mit der Welt um sich herum. Ernst Toller, wie aufgescheuchtes Jung-Juden-Wild, hatte schon damals die Witterung für noch ferne Jäger.«62 Der Schauspieler hatte selbst bis dahin als Jude einiges an Entwürdigung erleben müssen.63 Er brachte also seine negative Erfahrung als realistisches Element in die Inszenierung ein, und wenn dabei nicht die ›Wandlung‹, sondern die ›Empörung‹ auf die Bühne kam, dann verengte die Inszenierung die anfängliche Ambivalenz und die abschließende überkonfessionelle Utopie des Grenzenlosen auf die Immanenz des rebellierenden Außenseitertums. Letztendlich stellte sich die Inszenierung im Vergleich zum Text als bessere Prognose der künftigen Entwicklung heraus: Kortner avancierte bis zum Ende der Weimarer Republik »geradezu zum Lieblingsziel der Theater- und Film-

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author’s own personality), together with the individualism at the root of Expressionism, furthered the star system in a manner embarrassing to the idealistically democratic claims of Expressionism. The leading Expressionist actors not only gained financial rewards out of all proportion to average salaries in the theatre: they also became the focus of most critical attention.« Michael Patterson: The Revolution in German Theatre 1900–1933. Boston 1981, S. 104. Alfred Kerr: Berliner Tagblatt, 1.10.1919 (Abendausgabe). Zit. n. Rühle: Theater für die Republik. Bd. 1, S. 164. Herbert Ihering: Der Tag, Berlin 2.10.1919. Zit. n. Rühle: Theater für die Republik. Bd. 1, S. 159. Fritz Kortner: Aller Tage Abend. München 1979, S. 268. »Fritz Kortner, 1910 in Wien, kurz vor Antritt seines ersten Engagements in Mannheim. Im Vorsprechbuch der Prüfungskommission des Burgtheaters, die bekanntlich auch Alexander Moissi als ›für den Schauspielerberuf gänzlich ungeeignet‹ abgelehnt hat, findet sich folgende Eintragung über den Schüler Ferdinand Gregoris: Starkes Temperament, durch Erscheinung nur für Intrigantenrollen qualifiziert. Starke Ansätze zu Manieriertheit, namentlich in Behandlung der Sprache. Mangel an individuellem Reiz und Mangel an geistiger Transparenz. Engagement nicht in Aussicht gestellt.« Klaus Völker: Fritz Kortner. Berlin 1987, S. 10.

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Antisemiten«.64 Er und Toller wurden 1933 in die Emigration gezwungen. Die letzte Station des auch weiterhin höchst engagierten Schriftstellers kommentierte der Berliner Lokalanzeiger am 22. Mai 1939: Der berüchtigte kommunistische Schriftsteller und Verfasser von zahlreichen Hetzstücken, Ernst Toller, hat jetzt die Konsequenz aus seinem verpfuschten Leben gezogen. In New York, wohin er im Laufe seines Emigrantenlebens verschlagen worden ist, hat er sich in einem Hotel erhängt.65

Tollers »Revolution des Menschlichen selbst, ohne Absicht und Tendenz«66 hat vielleicht keinen anderen Ausweg mehr gefunden.

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Jens Malte Fischer: »›Nach Deutschland wollen Sie gehen?‹ Die Remigration Fritz Kortners und sein Film ›Der Ruf‹«. In: Theatralia Judaica (II). Hg. von Hans-Peter Bayerdörfer. Tübingen 1996, S. 57–70, hier: S. 61. Der Fall Toller. Kommentar und Materialien. Hg. v. Wolfgang Frühwald. München 1979, S. 228. Herbert Ihering: Der Tag, Berlin 2.10.1919. Zit. n. Rühle: Theater für die Republik. Bd. 1, S. 157.

Annie-Laure Drüner

Eine antisemitische Oper? Vincent d’Indys La Légende de Saint Christophe

J’ai travaillé à l’ébauche de mon nouveau drame antijuif qui me passionne beaucoup. Il est bien entendu que je n’y ferai aucune allusion actuelle et que les personnages ne se nommeront ni Dreyfus, ni Reinach, ni même Combes... Ce serait leur faire trop d’honneur à ces funestes goujats, mais je voudrais montrer dans ce drame […] la nauséabonde influence judéo-dreyfusarde avec sa floraison, les fleurs Orgueil, Jouissance, Argent, en conflit avec les fleurs du bien, Foi, Espérance, Charité. Tout cela encadré dans une légende bien connue, mais qui se prête très bien 1 à cette adaptation. (Vincent d’Indy in einem Brief an Pierre de Bréville, Faugs, 17. September 1903)

Die Frage, ob ein Kunstwerk gefährliche Ideologien wie Antisemitismus zu transportieren vermag, spielt man seit dem zweiten Weltkrieg vorzugsweise mit der Forderung herunter, dass sich Kunst aus sich selbst heraus – aus seiner Immanenz – zu erklären habe. Was z.B. in Richard Wagners Äußerungen zu seiner Kunst nach 1945 wie eine Selbstbelastung rassistisch-antisemitischen Denkens wirken konnte, sollte mittels der Immanenz-Hypothese aus der Diskussion um seine Kunstwerke herausgenommen werden. Damit wurde auch ausgeblendet, dass die künstlerische Metaphernsprache des 19. Jahrhundert rassistische Bilder verwendete, die damals erkenntlich waren, heute allerdings nicht mehr selbstverständlich sind. Heutigem Immanenz-Denken völlig unzugänglich sind einige Werke des französischen Spätromantikers Vincent d’Indy. Aus der direkten WagnerTradition heraus hat wohl kein Komponist so offen wie er versucht, seine außerkünstlerischen Intentionen zum Inhalt seiner Kunst zu machen. In seiner Légende de Saint Christophe (1907–1915) stellt sich deshalb nicht die Frage, ob man dort antisemitische Züge finden kann, sondern wo und wie deutlich 1

»Ich habe an dem Entwurf zu meinem neuen anti-jüdischen Drama gearbeitet, welches mich absolut fesselt. Selbstverständlich werde ich keinerlei Anspielungen an das aktuelle Geschehen machen und die Figuren werden nicht Dreyfus, Reinach oder Combes heißen... Das hieße, diesen verderblichen Schuften zu viel der Ehre zu erweisen. Trotzdem möchte ich in diesem Drama [...] den Ekel erregenden jüdischdreyfusischen Einfluss in ihrer ganzen Blüte zeigen – den Blumen, die da heißen: Hochmut, Lust und Geld im Kampf mit den Blüten des Guten: Glaube, Hoffnung und Barmherzigkeit. Das Ganze wird in eine wohl bekannte Legende eingebettet, die sich dafür sehr gut eignet.« Zitiert nach: Léon Vallas, Vincent d’Indy. Paris 1950, Bd 2, S. 327.

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diese ausgeprägt sind. Friedrich Nietzsches Schwager, Bernhard Förster, hatte 1881 geäußert: »Man kann sich etwas ›Antisemitischeres‹ als […] die Meistersinger und den Ring des Nibelungen gar nicht denken.«2 Allerdings muss man erstaunt feststellen: Hinsichtlich der Judenfeindschaft übertrifft La Légende de Saint Christophe alles, was Wagner zu träumen wagte! Zunächst ist auf zwei Aspekte des oben zitierten Briefes einzugehen: Erstens wollte d’Indy den beabsichtigten und geplanten Antisemitismus nicht wirklich offen zeigen. D’Indy musste metaphorische Formen und bildhafte Codes schaffen, um seine wahren Absichten verdeckt zu übermitteln. Gerhard Scheit beschreibt das Wesen des Antisemitismus als Projektionsvorgang alltäglicher Ängste, wie sie auch in der Kunst zur Wirkung kommen können: Nur wenn dieser [der Antisemit] sich in ›den Juden‹, also in sein eigenes Hirngespinst ›hineindenkt‹ und ›einfühlt‹, erscheint die Verkörperung des Geldes durch ›den Juden‹ überzeugend. Autor, Darsteller und Publikum glauben damit wie in einem Sündenbock-Ritual, des Abstrakten und Unheimlichen endlich habhaft zu werden und fördern doch nichts anderes zutage als ihr eigenes verborgenes Wesen. [...] Das heimlich Eigene kehrt in Gestalt des unheimlichen Jüdischen wieder. [...] [Die] Gefährlichkeit [des kulturellen Antisemitismus] besteht darin, daß er nicht kenntlich wird.3

Richard Wagner formuliert diesen Aspekt – das Heimliche judenfeindlicher Implikationen – ähnlich: Im besten Falle, in welchem sich die Allermeisten meiner Freunde befinden, substituirt man dem von mir erkannten Ziel ein Ziel, welches sie Alle zu erkennen glauben, während das Meinige weit über das ihrige hinausliegt. [...] Und diese muss ich gern in dieser Täuschung lassen: mein Ihnen wahrhaft aufgedecktes Ziel würde sie Alle kopfscheu machen!4

Ulrich Drüner interpretiert diese Aussage: »Wenn Wagner seine Animositäten trotz der brieflichen und schriftstellerischen Exzesse in der Kunst zumeist dezent einsetzt, so beruht das einerseits auf psychologischem Kalkül, andererseits auf theatergeschichtlicher Tradition.«5 Strategien der Verschleierung, um Wirksamkeit und Akzeptanz der ideologischen Aussage zu erhöhen, haben demnach Methode; Vincent d’Indy war mit ihnen vertraut genug, um sie zu verinnerlichen.6 2

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Zitiert nach: Jens Malte Fischer: Richard Wagners ›Das Judentum in der Musik‹. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus. Frankfurt a. M. 2000, S. 122. Gerhard Scheit: Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus. Freiburg i. Br. 1999. S. 14f. Richard Wagner in einem Brief an König Ludwig II.. Bayreuth, 30. Mai 1875. Ulrich Drüner: Schöpfer und Zerstörer. Richard Wagner als Künstler. Köln, Weimar, Wien 2003. S. 10. D’Indy besaß in seiner Handbibliothek ein Exemplar des Pamphlets Das Judentum in der Musik in französischer Sprache. Die Schmähschrift lag bereits seit 1868 in einer französischen Übersetzung vor. Vgl.: Jean & Francine Maillard: Vincent d’Indy.

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Ein zweiter Aspekt, die Frage ideologischer Einflüsse Richard Wagners auf die junge Generation französischer Komponisten, tritt hervor, wenn man noch eine weitere Quelle hinzuzieht. D’Indy hatte den hochverehrten Bayreuther Meister bereits 1882 auf seiner Reise nach Bayreuth kennen gelernt. Im Laufe eines langen Gespräches soll Wagner d’Indy gesagt haben: »Nicht durch Nachahmung werden Sie meinem Beispiel folgen können, sondern indem Sie trachten, für die Überlieferungen Ihres Landes das zu tun, was ich für das meine zu tun versucht habe.«7 Neben d’Indys Absicht, antisemitische Ziele in sein Werk einfließen zu lassen, offenbart dieses Dokument auch die Vorbilder und ihre Wirkungsweise. War d’Indy zu solch Zwiespältigem durch sein Milieu vorbestimmt?

I. Paul Marie Théodore Vincent d’Indy (1851–1931) entstammte einer alten französischen Adelsfamilie aus der Region Ardèche. Von seiner Großmutter aufgenommen, wuchs er in einem Ambiente von striktem Katholizismus und Royalismus auf. Gegen den Willen seiner Familie entschied er sich für eine Karriere als Musiker. Die Orientierung zur künstlerischen Laufbahn ließ ihn nicht seine tief empfundene Verpflichtung zum Vaterland vergessen: Er meldete sich als Freiwilliger zum Deutsch-Französischen Krieg – ein Erlebnis, welches ihn sein Leben lang prägte. Das einschneidende Ereignis, das zum Katalysator für seine künstlerische Entwicklung wurde, war jedoch die Affäre Dreyfus: ein Rechtshandel um einen jüdischen Offizier, der 1894 ohne jegliche Beweise wegen Staatsverrats zu lebenslanger Haft und Verbannung auf der Teufelsinsel verurteilt worden war. In diesen Skandal waren alle Schichten der Gesellschaft involviert: Militär, Kirche, Politik, aber auch Künstler, die Anhänger von Dreyfus und natürlich Antisemiten. In den folgenden Jahren führte diese gesellschaftliche Krise Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges.8 Was für Wagner die gescheiterte 1848er Revolution in Dresden war, fand

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Le Maître et sa musique. La schola Cantorum. o.O., 1994. Annexes, La Bibliothèque S. 227, Nr. 296. Zitiert nach: Jacques Chailley: »Sur une Phrase de Richard Wagner à Vincent d’Indy et sa répercussion sur l’opéra français de 1885 à 1920«. In: Bayreuther Festspiele, Programmheft VI (Götterdämmerung) 1986, S. 64. Auf die Frage eines Journalisten was er, Richard Wagner, tun würde, wäre er Franzose, antwortete er auf ähnliche Weise, empfahl aber auch: »Sie werden eine wirklich französische Musik aufgrund einer wirklich französischen Dichtung nur dann schreiben, wenn Sie sich echten Brauch und Sitte zum Vorbild nehmen.« D’Indy hat, vielleicht Wagners Rat nach authentischem, nationalen Musikmaterial folgend, zahlreiche Lieder und Gesänge seiner heimatlichen Cévennes gesammelt und u.a. in den Sinfonien verarbeitet. Zum französischen Antisemitismus vgl.: M. Schwartz: »Nature et évolution de la pensée antisémite chez d’Indy«. In: M. Schwartz (Hrsg.): Vincent d’Indy et son temps. Sprimont, 2006. S. 37–63; hier: S. 38–42.

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d’Indy im Dreyfus-Skandal. In Paris wendete er sich schnell rechten Kreisen zu, der Ligue de la Patrie Française, die mit Maurice Barrès und Jules Lemaitre an der Spitze eine der virulentesten antisemitischen Aktivisten-Gruppierungen gegen Dreyfus war. Ein weiterer Gesinnungsgenosse, den d’Indy in dieser Zeit kennen lernte und der für sein weiteres Leben wichtig werden sollte, war der Maler Maurice Denis.9 D’Indys Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen und die daraus folgende Desillusionierung führten zu einer Konkretisierung seiner künstlerischen Absichten, die 1896 in der Gründung der Schola Cantorum10 gipfelten. In Bezug auf d’Indys Antisemitismus sieht Manuela Schwartz darin einen Wendepunkt: La Schola Cantorum semble donc avoir joué un rôle de catalysateur dans la formulation de l’antisémitisme de d’Indy, au sens où ses anciennes théories artistiques et ses tendances à une critique anticapitaliste ont trouvé, au moment de la mise au point de sa conception pédagogique et idéologique, leur fondement raciste.11

Die Dreyfus-Affäre hatte nach dem verlorenen Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 eine Werte-Diskussion zum Thema nationaler Identität ausgelöst. Erstaunlicherweise trat in dieser Debatte ein Deutscher in den Vordergrund: Richard Wagner. Mit seinem antisemitischen Pamphlet Das Judentum in der Musik rückten seine Gedanken – vielmehr als seine Musik – ins Zentrum der Diskussion. Besonders in den französischen rechten Kreisen wurde Wagner rezipiert: die Action Française, die Ligue des Patriotes, und auch die Patrie Française benutzten Wagner und seine Musik als wirkungsvolles Mittel in ihrem Kampf gegen Dreyfus’ Anhänger.12 Auch d’Indy spielte eine ähnliche Rolle: »The presence of the musician d’Indy […] should not be minimized, for nowhere was the League de la Patrie Française more successful in its cultural 9

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Er schuf 1920 die Bühnenbilder und die Ausstattung für die Uraufführung der Légende de Saint Christophe und trug maßgeblich dazu bei, dass dieses Werk einen beachtlichen Erfolg hatte. Höchst umstritten, hatte d’Indy Mühe, eine szenische Aufführung durchzusetzen. Sein Hauptverleger Durand hatte sich sogar geweigert, das Werk herauszugeben; erst der bekannte Antisemit, Intendant Jacques Rouché brachte es mit einigen Kürzungen der verfänglichsten Stellen an die Öffentlichkeit. Denis’ Änderungen vieler szenischer Angaben taten ein Übriges, die Tendenzen der Aufführung zu entschärfen. Vgl. hierzu: Jane Fulcher: »Vincent d’Indy’s ›Drame AntiJuif‹«. In: Cambrigde Opera Journal, 2, 3, Oxford 1990. S. 312–319. Einen Schwerpunkt im Unterrichtssystem der Schola bildete das Mittelalter, insbesondere der Gregorianische Choral, der auch in der Légende eine musikalisch wesentliche Rolle spielt (vgl. Fn 26). Die Renaissance dagegen betrachtete d’Indy als Rückschritt, als Abkehr des Christentums hin zu antikem Heidentum und als Hochblüte individueller Eitelkeit. Übermäßige Virtuosität und mangelnde ›Ehrlichkeit‹ ließen an der Schola lediglich sakrale Werke der Renaissance in den Lehrplan gelangen (vgl.: J. Fulcher, S. 298). M. Schwartz: Nature et évolution de la pensée antisémite chez d’Indy, S. 54. Vgl.: A. Fauser/M. Schwartz: Von Wagner zum Wagnérisme. Musik, Literatur, Kunst, Politik. Leipzig 1999, S. 12.

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politics than in music.«13 Zu vollständiger Akzeptanz gelangte Wagner natürlich nicht, hatte er doch 1871 unverhohlen seine Feindschaft gegenüber Frankreich in dem »Lustspiel in antiker Manier« Eine Kapitulation kundgetan. Der französische Wagnerismus hat auf europäischer Ebene eine besondere Stellung. Während seiner ersten Phase nach dem Tannhäuser-Skandal 1861 beschränkte sich der Wagnérisme also vornehmlich auf die theoretische, philosophische Bedeutung des Meisters. Wagners Musikdramen wurden vor 1890 in Frankreich kaum gespielt und so fand eine Rezeption im eigentlichen Sinne gar nicht statt.14 Vielmehr prägte Wagner zunächst Kritiker und Literaten wie Charles Baudelaire, Stéphane Mallarmé, Paul Verlaine, Gustave Flaubert, Edouard Dujardin, Emile Zola, Romain Rolland, Maurice Barrès oder auch Marcel Proust. Alle waren bekennende Wagner-Anhänger. Ihm widmeten sie sogar eine Zeitschrift: die Revue Wagnérienne15 erschien von 1885 bis 1888 regelmäßig. Die Wagnerianer, unter ihnen auch d’Indy, mussten ins Ausland pilgern, um Vorstellungen zu sehen. Erst nach der Etablierung seiner Werke änderte sich die Haltung, während die gut bürgerlichen und aristokratischen Wagner-Verehrer der ersten Stunde sich wegen der aufkommenden WagnerManie von ihrem Idol wieder abwendeten, konnten sich Komponisten und Musiktheoretiker mit dem Werk auseinandersetzen. Die Wagnerrezeption bei den Franzosen [stand] von Anfang an im Spannungsfeld zwischen der theoretischen Forderung nach einer revolutionären Erneuerung des musikalischen Theaters und der praktischen kompositorischen Aufgabe einer evolutionären Weiterentwicklung der Gattung Oper durch Integration von Elementen des Wagnerschen Musikdramas.16

Doch: »So beherrschend der Wagnerismus als kulturelles Phänomen im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts allenthalben hervortrat, so schwer läßt sich der Einfluß Wagners in den Werken der Komponisten dieser Zeit zweifelsfrei erfassen.«17

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Jane F. Fulcher: French cultural politics & music. From the Dreyfus Affair to the First World War. New York/Oxford 1999. S. 16. Deutschland natürlich und Brüssel waren die hauptsächlichen Spielstätten Wagnerscher Werke. »Das Théâtre Royal de la Monnaie fungierte quasi als Experimentierbühne, auf der Wagner ohne die in Frankreich nach dem Krieg von 1870 bis 1871 sehr virulenten Ressentiments aufgeführt werden konnten.« So Theo Hirsbrunner in: »Vincent d’Indy zwischen Wagner und Debussy«. In: A. Fauser/M. Schwartz: Von Wagner zum Wagnérisme. Leipzig 1999. S. 265–291, hier: S. 266. Zu Beginn suchten die Autoren Wagner Ideen zu verstehen, doch bald wurde das Blatt Sprachrohr für eigene Theoriebildung auf der Basis von Wagners Ideen. So Sieghart Döhring in seinem Artikel »Wagner-Aneignungen: Jules Massenets Escarmonde«. In: A. Fauser/M. Schwartz: Von Wagner zum Wagnérisme. Leipzig 1999. S. 379–399, hier: S. 380. Ebenda, S. 379.

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D’Indy sah in seinen antisemitischen, nationalistischen und reaktionären Ansichten und der Anlehnung an Wagners Prinzipien keinen Widerspruch.18 D’Indy verurteilte den Kapitalismus, aber genauso die demokratischen Prinzipien der Dritten Republik und die scheinbare Freiheit, die davon auszugehen schien. D’Indys Judenhass bildet sich also nicht nur aus Elementen des Antisemitismus rechter Kreise zusammen, sondern nährt sich auch aus dem der sozialistischen Linken. Léon Poliakov fasst die Situation in Frankreich zu Beginn der Dreyfus-Geschichte zusammen: »Es bleibt jedoch festzuhalten, daß gerade vor dem Ausbruch der Affäre Frankreich in der westlichen Welt die zweite Heimstatt antisemitischer Hetzkampagnen moderner Prägung war, neben der es keine dritte dieser Art gab.«19 Für die Katholiken war die Revolution das »fleischgewordene Böse, […] das einer Verschwörung zugeschrieben wurde, die von geheimen antichristlichen und franzosenfeindlichen Mächten angezettelt worden sei«.20 Das Fehlen jeglicher Beweise wurde von ihnen nicht als Mangel aufgefasst, sondern als Beweis für eine besonders virulente Verschwörung. »Der unsichtbare Feind [wurde] zunächst in der Gestalt der Protestanten dargestellt, aber seit 1807 ist hier von einer jüdischen Verschwörung die Rede« so Poliakov weiter. Auch die Freimaurer gerieten auf die Verschwörer-Liste. »Übrigens war man oft der Meinung, daß die Verschwörer ihr Werk im Dienst des Teufels oder des Antichrists durchführen würden, der […] ihnen seine Anweisungen über Telegraphen oder über Telephon erteilte!« Die wichtigste und folgenreichste Schrift zum Ideologem der jüdischen Weltverschwörung sind die so genannten »Protokolle der Weisen von Zion«, ein ›Bericht‹ des angeblichen ersten zionistischen Weltkongress in Basel 1897, der sich schon sehr bald als Fälschung herausstellte. »Angeblich handelte es sich bei diesen ›Protokollen‹ um die – selbstverständlich geheimen – Sitzungsberichten des Weltbundes der Freimaurer und Weisen von Zion. In Wirklichkeit hatte der in Paris stationierte Auslandschef der russischen Geheimpolizei sie in erster Linie aus dem Pamphlet von Maurice Joly21 zusammengeschrieben.«22 Zu trauriger Berühmtheit gelangte dieses Pamphlet in der Version Sergej Nilius, einem am russischen Zarenhof sehr einflussreichen, mystischen Schriftsteller.

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Zur Bewertung des Faschismus-Vorwurfes vgl.: J. Fulcher, S. 295. Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Hier: Bd. VII. Zwischen Assimilation und ›Jüdischer Weltverschwörung‹, Frankfurt/Main 1988. S. 44. Ebd., S. 45. Dialogue aux Enfers entre Montesquieu et Machiavel. Brüssel 1864. Ernst Piper: »Die jüdische Weltverschwörung«. In: J. Schoeps/J. Schlör (Hg.):Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. München/Zürich 1995. S. 127–135 hier: S. 130.

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II. Betrachtet man d’Indys Musikästhetik, wie sie sich in seinen zahlreichen Schriften, insbesondere in seinem dreibändigen Cours de composition musicale23 dokumentiert, so erkennt man bald große Gemeinsamkeiten mit Richard Wagner. »Wagnerismus«24 war nun auch ein Vorwurf, der Vincent d’Indy ein Leben lang begleitet hat und der ihn beispielsweise für die hoch reaktionäre Action Française inakzeptabel gemacht hatte: Eine französische Nationaloper müsse sich vom deutschen Feindbild abgrenzen. Auch wenn direkte Einflüsse schwer zu fassen sind, findet man in der Musik der Légende de Saint Christophe besonders in der Melodik Anklänge an Wagner: die zahlreichen großen Intervalle (Sept, Oktav, oder None) sind dem französischen Sprachempfinden nicht vertraut; sie fallen als Übernahme des Wagnerschen Vorbildes auf. Auch das Prinzip der Leitmotivik hat d’Indy, wie so viele andere, von Wagner übernommen. Im melodischen Duktus lehnt auch d’Indy den ›jüdischen‹, ›italianisierten‹ Stil Meyerbeers ab.25 Bach, Beethoven und Gluck dienen dagegen als Vorbild.26 Natürlich wird auch Wagner als Ideal herangezogen, besonders in Bezug auf die Benutzung von Tonarten zur Charakterisierung bestimmter 23

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Vincent d’Indy: Cours de composition musicale. Avec la collaboration de Auguste Sérieyx (Bd. 1, 2/1; Bd. 2/2 von Auguste Sérieyx allein), et de Guy de Lioncourt (Bd. 3). Paris 1899, 1909, 1933, 1950. Im dritten Band des Cours de composition musicale schreibt Guy de Lioncourt bezüglich der Légende: »Si l’on a cru pouvoir remarquer une influence wagnérienne dans les œuvres précédentes, au pont de vue du livret, et signaler une parenté plus ou moins lointaine entre le Chant de la Cloche et les Maîtres chanteurs, entre Fervaal et Parsifal, entre l’Etranger et le Vaisseau fantôme, ici rien de tel. Les analogies qu’on peut relever avec Tannhauser [sic!] (orgie du 1er tableau et miracle du bois se couvrant subitement de fleurs) sont fortuites et accessoires«. S. 215, Fn 2. Die »Apologeten« d’Indys versuchen anscheinend die »Œuvre maîtresse« ihres geliebten Lehrers vor dem Vorwurf des Plagiats in Schutz zu nehmen. Denn von »nebensächlichen« Anleihen an Wagner kann selbstverständlich auch bei der Légende nicht die Rede sein. Wie Richard Wagner wendete sich d’Indy nach anfänglicher Bewunderung von Meyerbeer (ebenso wie Halévy und der Grand Opéra) ab. Doch auch nicht-jüdische Komponisten wie Jules Massenet gerieten in d’Indys Kreuzfeuer aufgrund ihrer émotivité sensuelle, die eine direkte Folge aus der ›jüdischen Schule‹ sei (d’Indy, Cours, S. 197f.). Nach einer ersten Phase ästhetisch-moralischer Ressentiments in den 1870er Jahren fügen sich zu d’Indys Antisemitismus mit der Affäre Dreyfus militante und rassistische Elemente hinzu. Die dritte Stufe, die d’Indy nun erreicht hat, ist die Übertragung der Vorwürfe auf nicht-jüdische Komponisten, deren Ästhetik nicht mit d’Indys Vorstellungen entspricht. In der Légende de Saint Christophe bedient sich d’Indy aus Bachs Passionen (stilistische Anleihen, genauer »procédés contrapunctiques des chœurs de foule«, so G. de Lioncourt im 3. Bd der Cours, S. 216, Fn 1) und Beethovens Agnus Dei der Missa solemnis, um seine 24 Themen zu bilden. G. de Lioncourt führt eine Motivtafel auf den Seiten 217–220 auf.

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Emotionen und Situationen,27 aber auch – und darin geht d’Indy über Wagner hinaus – von Figuren und ausgewiesenen Objekten.28 Ein wesentliches Element in d’Indys musikalischem Arsenal sind die in seiner Schola Cantorum so hoch gelobten gregorianischen Choräle.29 Um ein authentisch französisches Modell eines neuen lyrischen Dramas zu schaffen, was d’Indys erklärtes Ziel war, bezog er sich auf die Ursprünge der Oper, wie er sie verstand. Das war indes kein Rückbezug auf das Schaffen Monteverdis und der florentinischen Camerata, sondern vielmehr auf mittelalterliche Mysterienspiele, deren judenfeindliche Komponenten bekanntlich öfter zu kollektiver Hysterie und Pogromstimmung geführt hatten.30 Wie viel d’Indy von diesen Zusammenhängen tatsächlich wusste, ist ungewiss; seine Bibliothek verrät zwar nur wenige Titel zum Thema Mittelalter, doch wurden im Vorkriegs-Frankreich einige Studien zu diesem Sujet herausgebracht, notabene an der Schola. D’Indy verwendet auch Elemente des Oratoriums in seiner Légende: mit einem Sprecher, genauer dem Geschichtsschreiber und einem Chor, wird seine didaktische Absicht unterstrichen. Auch in der Form wählt d’Indy eine »wahrhaft Französische«, wie er meint: »la forme-triptyque, qui est en somme la seule vraiment nationale«.31 So wie schon sein Fervaal dreiteilig war – drei Akte, die jeweils in drei Szenen untergliedert sind –, so stellt sich d’Indy eine ideale Struktur vor. Die formale Strenge wird auch durch die strikte Einhaltung der symbolischen Tonartenstruktur unterstützt. Umspielt wird diese Form durch die Auftritte des Geschichtsschreibers, die, als Prologe tituliert, zu Beginn der ersten und dritten Szene des ersten Aktes sowie zu Beginn des zweiten und des dritten Aktes vorkommen. Geschichtsschreiber und Chor haben nicht nur eine kommentierende Funktion, sie verbinden die teilweise weit auseinander liegenden Handlungsteile und schließen als moralische Leitfiguren einige Handlungslücken. »Une légende bien connue« ist die Legenda aurea des Dominikaners Jacques de Voragine,32 die d’Indy als Vorlage für seine Oper benutzte. In der 27 28 29

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In seinem Werk Richard Wagner et son influence sur l’art musical français (Paris 1930) geht d’Indy auf die Tonartencharakteristik ein. Vgl.: S. 48. Fis-Dur beispielsweise steht für die Liebe und G für das Gold; Auférus ist meistens die Tonart h-Moll zugeordnet, erst nach seiner Taufe im 2. Akt erreicht er H-Dur. Es sind genau sieben an der Zahl, die in der Paritur Verwendung finden. Diese sind zu zwei Dritteln einfache musikalische Gebilde, Keimzellen aus denen d’Indy sein Material entwickelt. Die gregorianischen Anleihen werden sinngemäß an die passenden Stellen übernommen. S. 234–243. Siehe: G. Scheit, a.a.O., passim. Zitiert nach: L. Vallas, S. 328. G. de Lioncourt nennt diese »Formule trinitaire« und unterstreicht damit einen pseudo-religiösen Charakter. Einen besonderen nationalen Aspekt dieser dreiteiligen Form nennt er nicht. Voragine, 1228 oder 1229 in Genua geboren und 1298 dort gestorben, wurde 1292 zum Erzbischof von Genua geweiht. Seine bekannteste Schrift ist die Legenda aurea (1270 in lateinischer Sprache verfasst).

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Legenda aurea vermischt Voragine populäre Sagen mit den Lebensgeschichten katholischer Heiliger, um die Kirchendoktrin dem Volk näher zu bringen. Unter vielen anderen erzählt Voragine die Geschichte eines Angst einflößenden Riesen aus Kanaan, der auf der Suche nach dem mächtigsten Herrscher der Welt ist. Dieser ›Plot‹ ist in d’Indys Légende weitestgehend der gleiche; es kann deshalb darauf verzichtet werden, Voragines Legenda aurea hier nachzuerzählen.

III. Prolog: Ein Geschichtsschreiber stellt den Riesen Auférus33 vor, der auf der Suche nach sich selbst ist. Dem größten griechischen Helden Herakles gleich, bezwang er als Säugling mit bloßen Händen zwei monströse Schlangen. In seiner Gabe sieht Auférus eine Verpflichtung. Am Altar des Donnergottes34 leistet er einen Eid: er will sich nur dem mächtigsten der Mächtigen zu Diensten geben. – 1. Akt, 1. Bild; im Palast der Reine de Volupté. Während eines rauschenden Festes mit zahllosen Kurtisanen und Galane lobt die Reine de Volupté ihren Gefolgsmann Auférus. Großer Aufruhr entsteht, als der Saal sich gelblich färbt und sich die Türen öffnen; ein kleiner, rundlicher Mann mit erfreutem Gesichtsausdruck betritt den Raum. Er trägt krauses Haar und hat eine Hakennase. Der Gegner der Königin ist aufgetreten, der Roi de l’or, gegen den sie sich nicht zu wehren weiß, denn all ihre Ritter haben ihm ihre Waffen verkauft. Auférus erkennt im Goldkönig den Mächtigeren und schließt sich ihm an. – 2. Bild: Im Sommerpalast des Goldkönigs staunt Auférus über die Macht des Geldes. Der Goldkönig erklärt sie ihm: man muss Menschen ge33

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In der Bibliothèque Nationale hatte d’Indy Gelegenheit gehabt, ein Manuskript einzusehen, welches von einem Riesen beim Felsen von Crussol im Rhône-Tal handelte. Diese Geschichte soll einige Ähnlichkeit mit der Christophorus-Sage haben. Neben der Legenda aurea sind noch zwei weitere Legenden zu dieser Geschichte bekannt: zum einen die eines Heiligen, dem bereits 452 in Chalkedon eine Kirche geweiht wurde. Heute gilt dieser allerdings nicht mehr als kanonischer Heiliger der katholischen Kirche – seine historische Existenz ist nicht bewiesen. Für die archaischere Legende vom Riesen Offerus, gibt es zwei Quellen. Die eine beschreibt den Riesen mit fürchterlichem Aussehen (Hundskopf), der in Lykien 48.000 Menschen bekehrt haben soll; doch wurde er von einem König zum Tode verurteilt, wobei das Blut des Heiligen bei der Hinrichtung heilende Wirkung gehabt haben soll. Westlichen Quellen beschreiben ihn auf der Suche nach dem Mächtigsten aller Herrscher. Nach dem Scheitern dieser Unternehmung soll ein Einsiedler eine ihm gerechte Aufgabe vorgeschlagen haben: Menschen über einen Fluss zu tragen. Jesus soll als Kind ihm erschienen sein. D’Indy scheint bewusst den gallischen Namen Taranis zu vermeiden, um die starke christliche Orientierung des Werkes nicht zu trüben. Die Andeutung des Donnergottes – Taranis ist einer der wichtigsten Götter des Keltentums – genügt. Im Gegensatz zu Wagner scheint d’Indy keinen Wert auf eine archaische Anbindung an eine lokale Mythologie zu haben.

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schickt in die Irre führen; sie verlangen nichts sehnlicher als getäuscht zu werden. Recht wird zu Unrecht, und Schuldige werden freigesprochen. Plötzlich erscheint ein Schäfer mit Bockkopf, seinen Ziegen und Böcken aus der Ferne. Der mephistophelische Atem des Bockes lässt des Königs Gold schmelzen und zu einem gelblichen Brei zerlaufen. Auférus bietet dem Bock seine Dienste an. – 3. Bild, Der Gipfel eines Berges. Der »Schäfer«, eigentlich der Prince du Mal, ist mit seinem neuen Gehilfen zufrieden. Doch kennt Auférus seinen neuen Gegner nicht – einen König ohne Gefolge, Reich und Szepter. Dieser wird bald als der christliche Gott beschrieben. Zu diesem Zeitpunkt gebe es aber kein Volk, dass nicht dem Hass Tribut zollt: Der Sieg des Prinzen scheint vollkommen. Die Wolken des Tales nehmen progressiv die Gestalten verschiedener Menschengruppen an. Die Allegorien der sieben Todsünden demonstrieren die Macht des Bösen. Eine Kinderstimme stimmt ein Gebet an. Der lange Schatten eines Kirchturms ragt bis zu den Betrachtern des vorigen Spektakels. Der Prinz des Bösen kann nicht gegen den König des Himmels antreten. In einer Stechflamme verschwindet der Prinz in einem Felsen. Auférus will nun diesen neuen Herren dienen. 2. Akt. Lichtung im Pinienwald. 1. Bild: Pantomimisch sucht Auférus nach dem wahren Gott (Orchesterzwischenspiel La Queste de Dieu). 2. Bild, Lichtung im Pinienwald: Auf der Suche nach dem wahren Gott begegnet Auférus einem Einsiedler, der ihn anleitet, Buße für all seine Sünden zu tun: Er soll Hilfsbedürftige über einen reißenden Fluss übersetzten. Dann erst werde ihm Gott begegnen. – 3. Bild: Am Ufer des Eyrieux wird Auférus abermals in Versuchung gebracht: nacheinander treten ein liebestoller Jüngling, ein geschäftiger Bürger und ein machthungriger König an ihn heran und versuchen erfolglos, von ihm übergesetzt zu werden. Inmitten eines aufgezogenen Sturmes nähert sich ein Knabe, dessen Wunsch auf Überquerung des wütenden Flusses Auférus erfüllt. Mitten in den Wogen eröffnet ihm das Kind es sei Christus und tauft den Erlösten auf den Namen Christophore. 3. Akt. Das Evangelium predigend wandert Christophore durch die Welt. – 1. Bild, ein großer Saal im Winterpalais. Der Goldkönig ist inzwischen Hoher Richter in einem mächtigen Königreich. Am folgenden Tag soll er den Aufrührer Christophore zum Tode verurteilen. Sathanaël, so heißt der Prinz inzwischen, verlangt von ihm jedoch, dass Christophore im Zustand der Sünde sterbe. Das soll die Königin der Wollust, Dienerin des Goldkönigs, erreichen. – 2. Bild, Christophores Verließ. Christophore widersteht den Verführungen der Wollust. Er bekehrt sie zum christlichen Glauben und gibt ihr den Namen Nicéa. – 3. Bild, großer Platz in der Stadt. Ein Herold verkündet den Urteilsspruch gegen Christophore: Er soll mit einer glühenden Rüstung gekleidet und seine Asche in alle Winde verstreut werden. Christophore tritt ruhig hervor mit seinem Hymnus den Sieg im Tod besingend. Zum großen Erstaunen der Menge aber bringt der Geläuterte die glühende Rüstung zum Bersten. Wiederum ertönt sein Hymnus über das neuerliche Wunder. Der Richter gebietet dem

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Obersten der Bogenschützen, den Gerichteten zu erschießen. Dieser nimmt genaues Maß ins Auge des Opfers, doch weicht der Pfeil dem heiligen Gesang Christophores, macht auf halbem Weg kehrt und durchbohrt das Auge des Goldkönigs. Mit letzter Kraft gebietet der Richter, der Henker solle mit dem Schwert den Verurteilten köpfen. Nun ist Christophore zum Tod bereit. Das Schwert fällt und der Gesang tönt weiter: die blutüberströmte Nicéa übernimmt nun den vokalisierten Hymnus in welchem himmlische Heerscharen einstimmen. Nach und nach bekehren sich immer mehr Menschen zum Christentum. Die Hauptfigur der Légende ist eine Art keltischer Parsifal: tumb, rein und stark auf der Suche nach sich selbst. Seine besondere, geradezu devote Begabung offenbart stolz, selbstbewusst und uneingeschränkt das feudale Denken einer längst vergangenen Zeit. Die drei Antagonisten des ersten Akts verkörpern drei Aspekte jahrhundertealter Judenfeindschaft: ›Lüsternheit‹, ›Geldgier‹ und ›Gottesleugnung‹. D’Indys Protagonisten weisen Parallelen zu denen Richard Wagners auf: Die Reine de Volupté trägt die Züge von Tannhäusers Frau Venus und Parsifals Kundry zugleich; allerdings wird ihr bei d’Indy zum guten Schluss Rettung gewährt. Der Roi de l’Or demonstriert dem keltischen Riesen seine Überlegenheit, indem er, Wagners Alberich gleich, auf die Liebe verzichtet. Im dritten Akt bekommt er zusätzlich eine Klingsor-Funktion und wird Herr über die Reine de Volupté, welche er benutzt, um Auférus, nach seiner Taufe Christophore genannt, zu Fall zu bringen. Die antisemitischen Attribute des Roi de l’Or werden deutlicher und häufen sich, doch bleibt er durch den »Eid des Hiram«,35 auf den sich der Prince du Mal im dritten Akt beruft, als Phönizier getarnt. Im historischen Kontext ist der Partner Hirams der weise König Salomo, der Baustoff und Handwerker vom König der Stadt Tyros bezog, um den Bau seines Tempels sicherzustellen. Der Prince du Mal geht indes als einziger über Wagners Figurenpersonal hinaus, und im dritten Akt wird seine Funktion noch deutlicher durch die neue Bezeichnung Sathanaël. Er ist nicht nur eine eindeutige Teufels-Allegorie, sondern auch als Simili-Salomo ›der Jude‹ schlechthin. Durch das ganze Drame sacré hindurch behält er seine zerstörerische, anti-christliche Haltung. Er steht in Opposition zum ›tatsächlich‹ Mächtigsten der Herrscher – dem Roi du ciel, welcher kein anderer als der christliche Gott ist. Die drei Figuren sind mit den Merkmalen Wagners antisemitischer Figuren behaftet.36 Am Ursprung des Konfliktes zwischen diesen allegorischen Hauptfiguren steht für den Librettisten d’Indy deren Machtkampf, der mit Christi Geburt 35

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Hiram I., phönizischer König von Tyros (999 v.Chr. – 935 v.Chr.). Unter seiner Herrschaft entwickelte sich Tyros zum beherrschenden Handelszentrum des Mittelmeerraums. Er entwickelte gute Beziehungen zu Israel unter König Salomon. Im Alten Testamen wird Hiram im 1. Buch der Könige und im 2. Buch der Chronik mehrfach erwähnt. In den Gründungsmythen der Freimaurer spielt ein Hiram als einer der erster in die Mysterien Eingeweihten der Bewegung eine gewichtige Rolle. Vgl. hierzu den Artikel Ulrich Drüners in diesem Band.

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entflammt sei und der nun im neuerlichen Kampf in den Bergen beendet werde.37 Nach seinem lasterhaften Irrweg durch die Machtebenen der Welt begibt sich Auférus wie Parsifal auf die Suche nach dem Himmelskönig und trifft dabei – Tannhäuser ganz gemäß – auf den Papst. Da Auférus nicht Vergebung für seine zahllosen Sünden sucht, verläuft seine Audienz beim Heiligen Vater sehr viel versprechend: An dem Tag, an welchem die Pinienwälder weiße Blüten tragen, werde Gott sich ihm offenbaren und sich seiner annehmen! Nach sieben erfolglosen Jahren kehrt Auférus in seine Heimat zurück. Auf den Rat eines Einsiedlers hin – der heidnisch-archaische Taranis-Altar ist gewichen – beginnt er, Menschen über einen Gebirgsfluss überzusetzen. Die drei Prüfungen am Fluss zeigen die geläuterte Seele des Riesen Auférus. Den Sünden, die jene verkörpern – Lust, Gier und Machtsucht – habe er schon genug gezollt. Erst als ein schmächtiger Knabe mitten im Wüten des Sturmes verlangt, übergesetzt zu werden, blühen die Pinienbäume. Der päpstlichen Vorhersage entsprechend offenbart Gott sich Auférus: Er trägt das Christuskind. Dieses tauft Auférus auf den Namen Christophore. Nach der göttlichen Intervention ist es nun seine Aufgabe, die Welt zu bekehren. Nach langer Wanderung und zahllosen Konversionen spürt Christophore, dass er das Ende seines Weges erreicht hat. Er lässt sich von feindlichen Truppen verhaften. Die zuvor etwas abgeschwächte Spannung der drei Judenfiguren beginnt aufs Neue: Der oberste Bösewicht des ersten Aktes, der Prince du Mal, hat seinen Deckmantel abgeworfen und taucht unter dem Namen Sathanaël wieder auf: eine potenzierende Semitisierung des ursprünglich schon hebräischen Namens Satan. Die Verknüpfung der drei Judenfiguren wird nun offenbar. Durch den »Eid des Hiram« ist der Grand Juge an Sathanaël gebunden. Der Grand Juge wiederum befiehlt der Reine de Volupté, Christophore zu verderben, indem sie ihn verführt, damit er im Augenblick der Hinrichtung im Zustand der Sünde verharre. Man hat also eine klare Hierarchie der Judenfiguren. Auf diese Weise will sich der Roi de l’Or freikaufen, da sonst Sathanaël droht, seine Seele zu holen: »Bei den Pforten der Hölle! Morgen Er oder Du.«38 lautet auch für ihn die Wahl. Im Kerker gelingt es Christophore, die Reine de Volupté zu bekehren; vereinen können sich beide nur im Glauben. Um die Taufe zu vollziehen, fehlt es Christophore im Kerker an Wasser – bei seiner Hinrichtung am folgenden Tag soll sie sich in seiner Nähe aufhalten, 37

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Geschichten über Kämpfe (gefallener) Engel oder Teufelsfiguren gegen Gott gibt es einige. Die Bekannteste ist sicherlich in der Apokalypse des Johannes (Offb.12,3ff.). Diese spielt jedoch am Ende der Zeit (Satan in Drachengestalt droht den neugeborenen Christus zu verschlingen und wird von Erzengel Michael auf die Erde geworfen), während Höllenstürze gescheiterter Engel im Zusammenhang mit der Erschaffung des Menschen stehen (Ez 28,14; Jes 14,12; Lk 10,18). Carl Maria von Weber: Der Freischütz. 10 Nr. Ende des Melodrams zwischen Samiel und Caspar. Klavierauszug. Wien UE S. 79. Samiel – wieder eine Teufelsfigur mit jüdischem Anklang!

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damit sein Blut sie treffe und sie »régénère« – ihr neues Leben schenke!39 Am nächsten Morgen soll Christophore hingerichtet werden: Gott bewahrt ihn jedoch vor den ersten beiden Exekutionsversuchen. Es sei nochmals darauf hingewiesen: Der Pfeil des Hauptmanns weicht wundersam von seiner Flugbahn ab.40 Sathanaël hat sich folglich nicht für die beste, sondern für die schlechteste Seele entschieden. Erst der dritte Tötungsversuch ist erfolgreich. Das entweichende Blut trifft Nicéa: sie ist nun getauft und verwandelt. Auch d’Indy bedarf des Blut-Symbols, um seine ›Jüdin‹ zu bekehren. Nicéa übernimmt künftig die Funktion des Christophore – blutüberströmt singt nun sie seinen Hymnus.41 In Anbetracht dieses Wunders bekennt sich nach und nach das Volk zum Christentum.

IV. Was hat d’Indy nun aus Voragines Legenda aurea gemacht? Welche Schwerpunkte hat er gewählt? Zunächst hat er den Teil der Suche erweitert. Die Schlagworte des eingangs zitierten Briefes orgueil (Stolz), jouissance (Lust) und argent (Geld) werden im ersten Akt als antisemitische Vorurteile eingeführt. D’Indys Bestreben, die Lehren des Katholizismus zu demonstrieren, die sieben Todsünden vorzuführen, lässt ihn eine Szene einfügen, in welcher die fehlenden fünf der sieben Todsünden in einem Aufmarsch der Laster vorgeführt werden. Nach Wollust und Geiz treten die »falschen Denker« auf (die auf ihrem Banner »Invidia«, Neid, tragen),42 dann folgen »falsche Wissenschaftler«, die Positivisten (mit dem Schlagwort »Superbia«, Stolz). Der muntere Reigen, der bedenklich an die Festwiese der Meistersinger erinnert, geht mit 39

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Diese Art der ›Regeneration‹, in der dem ›Blut‹ – wie in Parsifal – eine hervorragende Stellung zukommt, verdankt d’Indy freilich ebenfalls dem Mentor Richard Wagner. Siehe dessen Regenerationsschriften (1880/81) in: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Lpz. 2/1887, Bd. X (Religion und Kunst; Was nützt diese Erkenntnis?; Ausführungen zu Religion und Kunst; Erkenne dich selbst; Heldentum und Christentum). Können im Freischütz-Finale die Einflussnahme übersinnlicher Mächte im Augenblick des Probeschusses noch als Zufall abgetan werden (im Augenblick des Freischusses steht laut Regieanweisung Agathe in derselben Richtung wie die Prüfungstaube), ist hier ganz klar das Wunderbare gemeint. Dieses Bild wird in der Legenda aurea auch benutzt. Das Blut steht stets für rassische Zugehörigkeit. Ganz ähnliche Erlösungsszenarien hatten Johann Gottlieb Fichte und Arthur Schopenhauer – und in deren Fußstapfen Richard Wagner – erfunden, um den biblischen Jesus zu entsemitisieren und aus ihm einen arisch akzeptablen Christus herbeizuzaubern; siehe: R. Wagner, Gesammelte Schriften, Bd. X, S. 282f. Bzw. G. Scheit, S. 132. – In der Légende de Saint Christophe verdeutlicht die Erlösung zwar d’Indys rassischen Antisemitismus; im Gegensatz zu Richard Wagners Antisemitismus sieht d’Indy eine Lösung allerdings nicht in Wagnerschen Vernichtungsphantasien, sondern in der Konversion. Es sollen scheinheilige Liberale, Apostaten und Freidenker sein.

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einer anarchistisch kriegstreibenden Volksgruppe (»Ira«, Zorn) weiter, der ehrgeizige Arrivisten (»Mollitia«, Schwäche) und die »falschen Künstler«43 (»Pigritia«, Trägheit) folgen. Hiermit vervollkommnet d’Indy seinen Feldzug gegen alle ›Modernismen‹, die ihm widerstreben. Musikalisch verknüpft d’Indy diesen Auftritt mit dem Anfangsmotiv der zweiten Szene im Palast des Goldkönigs und schafft hierdurch eine zusätzliche Verknüpfung zum symbolisch überfrachtesten Klischee-Juden des Werkes, den Roi de l’or. Eine weitere maßgebliche Abweichung von der Legenda aurea ist die Figur der Reine de Volupté. Bei Voragine ist diese auf zwei Frauengestalten verteilt, welche ebenfalls Martern aufgrund ihrer Konversion zum christlichen Glauben erleiden müssen. D’Indys Nicéa muss in der Kerkerszene nicht nur bekehrt werden, Auférus lehrt sie auch die Bedeutung wahrer Liebe: die seelische Vereinigung auf metaphysischer Ebene, eine romantische Sichtweise unerfüllter Liebe, in der Elemente von Wagners Isolde- und Kundry-Figuren vereinigt werden. Die Verwandlung zu Nicéa soll pantomimisch geschehen: Ein heftiger Kampf scheint sich ihres Körpers bemächtigt zu haben. In einem riesigen Crescendo richtet sie sich plötzlich auf: Sie habe Christophores Gott gehört, er spreche zu ihr! Vom Augenblick dieser Erkenntnis an, vom verminderten SeptAkkord nach h-Moll führend, bis zum Glaubensbekenntnis in H-Dur, vollzieht sich in diesen Seiten der Partitur der ganze harmonischen Bogen des Werkes in verkürzter Form. Léon Vallas bestätigt eine generelle harmonische Entwicklung der Légende von h-Moll nach H-Dur.44 D’Indys ›Kundry‹ wird Erlösung gewährt, doch muss sie durch die »Blut-Taufe« noch ›gereinigt‹ werden. Dann allerdings, als Neugeborene, ist es ihr vorbehalten, Christophores Werk zu vollenden – ohne weitere Leiden, die nur dem Höhergestellten vorbehalten sind. Das Privileg, Christophores Nachfolger zu werden, bleibt ihr vorbehalten: Analog zu Voragine hätte d’Indy dem Roi de l’Or diese Funktion übertragen müssen! Selbstredend ist das keine mögliche Option für d’Indy. Während die Reine de Volupté trotz ihrer Venus/Kundry-Funktion in d’Indys Antisemitismus ›gerettet‹ werden kann und der Prince du Mal als Sinnbild des Dämonischen45 zwei Extreme der antisemitischen Judenfiguren darstellen, ist der Roi de l’Or einfacher und auch offenkundiger als Judenkarikatur auszumachen. Seine Überlegenheit gegenüber der Reine de Volupté bezieht der 43

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Dieser Umgang ist die einzige Stelle der Oper, in der parodistische Elemente verwendet werden. Besonders pikant ist dieser Umstand, weil in den »falschen Künstlern« Studenten des Conservatoire unschwer als Anhänger Debussys zu erkennen sind. Léon Vallas geht noch weiter und sieht hier gar einen ironischen Angriff auf die Musik Maurice Ravels, vgl.: L. Vallas, S. 335. Vgl.: L. Vallas: Vincent d’Indy (1886–1931). Paris, 1950. Band 2, S. 340. Bei seinem ersten Auftritt wird seine Erscheinung wie folgt beschrieben: Er hat die Gestalt eines Ziegenbockes, der Kopf ist überdimensional groß, er lacht hämisch während der Himmel sich rot verfärbt und unter seinem Atem schmilzt das Gold zu einem gelblichem Brei. Erst in der dritten Szene hat der Prince du Mal das Gewand eines großen Herrn aus vergangener Zeit.

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König nicht aus seiner Unabhängigkeit von sexuellen Bedürfnissen – was ja im streng katholischen Verständnis eine Tugend wäre –, sondern einfach aus seiner Impotenz. Wie die Reine im dritten Akt verrät, hat er sie zwar zu niedrigen und unreinen Aufgaben benutzt, doch »non avec lui, certes«! Im Gegensatz zu Alberich ist der Roi de l’Or nicht einmal zeugungsfähig und damit Klingsor, der absoluten Anti-Figur in Wagners Parsifal, angenähert. Infolge seiner ebenso starken Affinität mit Alberich wird auch er in seiner physischen Gestalt mit Klischees behaftet: Klein, rundlich, lächerlich und vergnügt kommt er mit krausem Haar und Hakennase daher. Das Hinken seines lahmen Beines wird textlich nicht erwähnt, doch ist die rhythmische Verschiebung der Taktschwerpunkte durch Synkopen so ausgeprägt, dass sie akustisch mehr als deutlich das physische Gebrechen widerspiegeln.46 »Die Vorstellung von der Besonderheit des jüdischen Fußes findet eine Parallele im mittelalterlichen Pferdefuß des Teufels als geheimem Zeichen des Andersseins.« So Sander L. Gilman in seinem Buch Rasse, Sexualität und Seuche. Daß die Form des in einem Schuh verborgenen Fußes (ein Zeichen des Primitiven, des Verfalls, versteckt unter dem Deckmantel der Zivilisation und höheren Kultur) die Andersartigkeit des Teufels verraten könne, war in der europäischen Kultur der frühen Neuzeit eine weitverbreitete Annahme. Auch die Verbindung zwischen Teufelsmerkmal und Krankheitszeichen war bereits in der frühen Neuzeit ausgeprägt.47

Nicht nur rhythmisch ist der Roi de l’Or als Judenfigur charakterisiert, auch harmonisch kommt er schlecht weg. D’Indy schrieb für ihn die hässlichste Musik, die in seinem kompositorischen Arsenal enthalten ist, wie Jane Fulcher schreibt: Tritoni und fehlerhafte akkordische Verbindungen, genauso wie monotone Rhythmen,48 die, so dem Vorurteil nach, Sinnbild für die angebliche kreative Unfähigkeit ›des Juden‹ sein sollen.49 Doch auch in der Stimmbehandlung bedient sich d’Indy altbewährter Modelle, um seine Judenfiguren zu charakterisieren: Als sich der Roi de l’Or Auférus in der zweiten Szene vorstellt, tut er das auf ges’, eine für den angegebenen Bass eigentlich nicht erreichbare Note.50 Das heißt, dass die Worte »Roi de l’Or« falsettiert oder gepresst klin46

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Zur seit dem Mittelalter sich ausbildenden antisemitischen Klischeebildung über die angeblich jüdischen Körpermerkmale siehe: Marc A. Weiner: Antisemitische Fantasien. Die Musikdramen Richard Wagners. Berlin 2000. Sander L. Gilman: Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur. Reinbek bei Hamburg 1992. S. 182. Siehe S. 308 im Klavierauszug. Erster Akt, zweite Szenen, Takte 1–3. Vgl.: Richard Wagner: »Das Judentum in der Musik«. In: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Lpz. 2/1887, Bd. V. Zwei Takte nach Ziffer 46. Als Vorbilder sind sowohl Wagners Mime wie auch Beckmesser anzusehen, die in ihrer Tessitur extrem hoch im Verhältnis zum verlangten Stimmfach liegen. Für derartige sängerische Überschreitungen der Stimmfächer gibt es in der Légende noch ein weiteres Beispiel: Die Tenor-Figur des Prince du Mal wurde bei der Uraufführung 1920 von Edouard Rouard, einem lyrischen Ba-

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gen müssen; durch den unterlegten verminderten Akkord wirkt die Stelle besonders hässlich. Die moralische Verworfenheit des Goldkönigs, wie d’Indy sie versteht, drückt sich selbstredend auch dramaturgisch aus. Im Dialog mit dem Prince du Mal gibt sich Le Roi de l’Or als Deutscher, Bourgeois mit schlechtem Geschmack und Demokrat zu erkennen. Sein immer fließendes Gold – dass er vom Prince du Mal haben muss, da dieser als einziger in der Lage ist, den Geldstrom zu garantieren – benutzt er, um alteingesessene Adelsfamilien zu ruinieren. Mehr noch; er verwendet seinen unerschöpflichen Reichtum, um die Gesellschaft zu zersetzen: Er kauft sich in alle hohen Ämter ein. Dass er dabei nicht alleine steht, sondern seine gesamte Verwandtschaft quer durch Europa untergebracht hat, passt zu diesem Bild: Hier bedient d’Indy das oben erläuterte Klischee von der jüdischen Weltverschwörung, das besonders um 1900 Hochkonjunktur hatte. Auférus als forschender, fragender Tor will vom Goldkönig wissen, worin dessen Macht besteht. Die Antwort des Goldkönigs verrät die Eindimensionalität seines Denkens. Er argumentiert nicht: Das Streben nach Geld und dessen Glanz setzt er als selbstverständlichen Lebenszweck voraus. Ein anders gestaltetes Weltbild erscheint ihm nicht möglich. Hart prallen die Lebensauffassungen aufeinander, als Auférus dem laut szenischer Anweisung fahlen Glanz des Goldes den reinen Schein seiner heimatlichen Felsen entgegensetzt. Natur, Reinheit, Ehrlichkeit und ein gewisses Maß an Tumbheit sind Auférus’ Leitbilder – fast die Welt eines Siegfrieds (die allerdings nicht christlich ist). Nach diesem ideologischen Schlagabtausch wird d’Indy noch konkreter. Er lässt den Goldkönig erklären, wie dessen Macht funktioniert: durch Trug und Heuchelei, genauso wie durch den sehnlichen Wunsch der Menschen, betrogen zu werden. Dadurch erscheint Unrecht als Recht und umgekehrt. Um das Gewicht dieser Aussagen noch zu vergrößern, lässt d’Indy seinen Ideal-Helden Auférus seine Unfähigkeit zu Trug und Manipulation gestehen. Folglich findet der schäbige König eine neue Aufgabe für ihn: mit den Armen und Vagabunden einen Volkaufstand zu entfachen, um das Land zu verwüsten! Im Umfeld der Dreyfus-Affäre und am Rande eines Bürgerkrieges bekommt diese Unterstellung eine durchaus politische Brisanz. Nach der Allegorie beladenen Exposition des jüdischen Kapitalismus tritt im dritten Akt ›der Jude‹ in seiner Funktion als absolute gesellschaftliche Bedrohung auf, als Subversion: Der Roi d’Or ist zum Grand Juge, zum Obersten Richter geworden. Muss erwähnt werden, dass er sich diesen Posten erkauft hat? Doch hält er ihn für untergeordnet: »Il me plaît parfois d’accepter des emplois subalternes [...].«51 Die Rolle wird zwar in den szenischen Anweisun-

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riton gesungen! Darauf wird im Haupttext zu späterer Zeit eingegangen. Parallelen bei Rossini, Mussorgsky, Wagner, Strauss u.a.: siehe Marc A. Weiner, Antisemitische Fantasien, S. 177. »Es gefällt mir hin und wieder untergeordnete Tätigkeiten anzunehmen.« 1 Takt vor

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gen weiterhin als Roi de l’Or geführt, doch scheint der Grand Juge eine zumindest partiell unabhängige, neue Figur zu sein: Er kann sich nicht an den Riesen Auférus erinnern. Mit dem Grand Juge erweitert d’Indy das Arsenal seiner antisemitischen Bilder. Der sonst nicht weiter auftretende König des letzten Königreiches befiehlt ihm, Christophore zum Tode zu verurteilen, so wie Sathanaël es gefordert hatte. Damit suggeriert d’Indy, dass die jüdische ›Verseuchung‹ bis an die Staatsspitze vorgedrungen sei. Inzwischen erinnert sich der Grand Juge wieder des Auférus und benützt sein Wissen, um seine Sklavin, die Reine de Volupté, zu manipulieren. Um Sathanaëls Forderungen zu erfüllen und seine eigene Haut zu retten, gibt er ihr die »Freiheit« unter der Bedingung wieder, dass sie Christophore verführe: der Kerker soll als Brautgemach dienen. Der Hohe Richter, alias Goldkönig, jubiliert über verminderten Sept-Akkorden; doch wird auch er von seinem Teufel betrogen: Kaum hat er mit letzter Kraft den Henker gerufen, stirbt er. Des Orchesters einziger Kommentar zu seinem Tod ist ein einzelnes c in Piano, dem ein Fis folgt und zum c zurückführt: ein leiser Tritonus, und der »GeldJude« ist eliminiert. Nach zwei Takten dröhnt Christophores c-Moll-Motiv aus allen Stimmen mit dem Auftritt des Henkers. Im Angesicht des Todes, mit dem letzten Bekenntnis Christophores zu Gott, erfährt das Halleluja-ähnliche Motiv, welches ihn das ganze Mysterium hindurch begleitete, eine Transformation, in der man d’Indys musikalische Quintessenz sehen kann: Der zuvor so charakteristische fallende Tritonus-Sprung am Ende des Christophore-Motivs wird nun nach oben zur Sept geführt52 – ganz in der Art der Schlussentwicklung des ›Abendmahlsmotivs‹ in Parsifal im Augenblick der Erlösung.53 Die Parallele zu Wagners Bühnenweihfestspiel blieb auch den Zeitgenossen d’Indys nicht verborgen: der Kritiker der Uraufführung, A. Gastoué, sieht in der Légende eine Mischung von Parsifal und Meistersinger in vergrößerter, anderer und die Originale des Bayreuther Meister überbietender Form!54 Die religiöse Klarheit und Schärfe des mystischen Verständnisses d’Indys, die wahre christliche Tradition überträfen das flaue Gefühl Wagners. Trotz dieser »Überlegenheit« über Wagner bedient sich d’Indy dessen ästhetischer Prinzipien: »Je voudrais y mettre très peu de paroles, juste ce qu’il faut pour expliquer ce que la musique ne peut pas dire.«55 Darin sieht d’Indy seine Légende als Anti-Pelléas, der ja lediglich 18 Monate vor der zitierten Notiz entstand.56 52 53 54 55 56

Ziffer 202. Vgl.: 3 Takte vor Ziffer 275. Siehe U. Drüner, Schöpfer und Zerstörer, S. 309. A. Gastoué: ›La Légende de saint Christophe‹ de M. d’Indy à l’Opéra de Pari. In: La Tribune de St.-Gervais XXI/8–9 (1920), S. 195. »Ich möchte sehr wenig Wort einsetzen, gerade nur das Nötige, um das zu erklären, was die Musik nicht auszudrücken vermag.« Zitiert nach L. Vallas, S. 327. Das einzige noch im Konzert gespielte Stück der Légende ist die Queste de Dieu, das instrumentale Zwischenspiel nach dem Prolog des zweiten Aktes. Hier wirken

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V. D’Indy konstruiert mit seinen drei Juden-Figuren drei Typen antisemitischer Charakterisierung. Die Reine de Volupté stellt in ihrem Venusberg-Ambiente die sinnlich-verführerische Jüdin inmitten einer hemmungslosen Orgie dar; als Nicéa wird sie später allerdings mit den Zügen einer Opferfigur versehen, ehe sie, gereinigt und bekehrt, als Erbin Christophores die Errettbarkeit des Judentums symbolisiert (hier durchbricht d’Indy seinen rassistischen Antisemitismus). Der Roi de l’Or/Grand Juge trägt die klassischen, teils karikaturalen Merkmale des Finanz-Juden: Seine ältesten antisemitischen Klischees entsprechenden körperlichen Gebrechen werden nicht nur bildlich und sprachlich, sondern auch musikalisch dargestellt. Als skrupelloser, hinterhältiger Kapitalist ist er zwar der erklärte Feind des Volkes, aber noch nicht der absolute Feind des christlichen Gottes, der erst in der Figur des Prince du Mal/Sathanaël ersteht. Diese unverhohlene Teufelsfigur Samielscher Prägung ist der Inbegriff des Feindes des Christentums. Was für den Auftritt des Roi de l’Or gültig war (die extreme stimmliche Lage als Charakterisierung des ›Jüdischen‹), trifft aber nun auch auf ihn zu. Seine Tessitur ist höher als die des Auréfus/Christophore, der dafür mit der größeren Amplitude aufwarten kann (c-b’). Doch kann man sich leicht vorstellen, dass der Prince du Mal/Sathanaël der Uraufführung Edouard Rouard, ein Bariton, mit den vielen geblökten, gelachten und in die musikalische Linie eingebetteten hohen b’s seine liebe Not gehabt haben muss! Was schon bei Beethoven Ausdruck der Ekstase, des Übermenschlichen ist,57 bekommt hier die Konnotation des Dämonischen. An Ravel anmutende Glissandi unterstreichen diesen Eindruck. Die musikalischen Mittel und auch die (auf den Gottesfeind weisende) Ziegengestalt deuten auf die enge Verwandtschaft mit dem Roi de l’Or, für den d’Indy in einem Brief an einen Freund oder Schüler vom 29. Juli 1909 den eindeutigen Hinweis des Jüdischen gegeben hat: »cette deuxième scène, où il y a un Juif à exprimer, est peut-être une des plus difficiles de l’œuvre.«58 In besonders deutlichem Licht erscheinen die immer drastischer werdenden ›Judenfiguren‹ im Kontrast zum Helden Auréfus/Christophore. Er steht zunächst außerhalb der übrigen Figuren des »Mysteriums«, zwar als großer Sünder, doch ist sein intuitives, naives Handeln verzeihlich. Dennoch erwartet er,

57 58

nicht nur d’Indys ›unendliche Melodien‹; seine ganze Instrumentationskunst blüht auf: Trotz eines riesigen Orchesterapparates bleibt der Satz klar und transparent. A. Gastoué beschreibt d’Indys symphonische Souveränität: »Das Ohr hat keinerlei Schwierigkeit, den sich überlagernden melodischen Linien der diversesten Instrumente zu folgen, handele es sich um die Streicher, die klassischen Holzbläser, die weit gefächerte Familie der Blechbläser, der Saxophone oder des Klaviers oder gar der Celesta.« Gastoué, S. 196 Vgl. die Stimmführung in der großen Florestan-Arie des zweiten Aktes des Fidelio. »Diese zweite Szene, in der es gilt, einen Juden darzustellen, ist vielleicht eine der Schwierigsten des ganzen Werkes.« Zitiert nach L. Vallas, S. 328f.

Eine antisemitische Oper?

273

dass Gott sich ihm offenbare. Dieser kommt schließlich zu ihm, weil er die Lehren des Eremiten und die Feindbilder der drei ›Juden‹ verinnerlicht hat. Wie bei Parsifal ist nicht Verdienst, sondern sind das Wissen, die Offenbarung, das Wesentliche an der Erlösung. Sein Todesurteil ist keineswegs Strafe, sondern selbst bestimmte Erlösung: Erst als sich Christophore zum Tode bereit fühlt, den Opfertod akzeptiert, erlaubt er es Gott, ihn nicht mehr mit wundersamen Kräften zu beschützen. D’Indy stellt seinen Heros auf eine Stufe mit Christus. Die nur Christophore in seinem Tode mögliche ›Reinigung‹ der Reine de Volupté durch sein Blut und die damit vollzogene Namens- und Wesensänderung zur Nicéa stellt für d’Indy die Erlösbarkeit der Jüdin dar, welche Wagner in der Kundry-Figur letztlich verneint hatte. Darin unterscheidet sich d’Indy letztlich von seinem Bayreuther Vorbild. Doch so plakativ d’Indys Aussagen auch erscheinen mögen, so hemmungslos ist die Gestaltung seiner Légende de Saint-Christophe.

Itta Shedletzky

»Mir is wat unheimlich« Dissonantes ›Versöhnungs-Theater‹ zwischen Ohnmacht und Selbstbehauptung. Jüdische Figuren in Else Lasker-Schülers Schauspiel Arthur Aronymus. I. Das vertraute Unheimliche. Ein persönlicher Prolog. Die intensive Beschäftigung mit dem Schauspiel Arthur Aronymus beim Schreiben dieses Aufsatzes hatte auf mich eine unerwartete – wenn auch im Nachhinein nicht überraschende – Wirkung. Ich empfand das Unheimliche, das mich beim Lesen dieses Stückes immer berührt hatte, nun zunehmend auch als etwas Vertrautes. In einer bestimmten Phase des Nachdenkens und Schreibens wurden einige Erinnerungen aus meiner Kindheit in Zürich in den 1950er Jahren wachgerufen. Sie waren mir nicht neu, erschienen nun aber plötzlich als Teil einer historischen Kontinuität, die mich auf Anhieb zutiefst erschreckte. Es handelt sich um Begebenheiten in der Schule – ich war fast immer die einzige jüdische Schülerin in der Klasse – meist aus der Zeit, als ich etwa acht bis zehnjährig, also im Alter von Arthur Aronymus in Else Lasker-Schülers Schauspiel war. Eine Mitschülerin in der vierten Klasse, mit der ich oft gemeinsam zur Schule ging, sagte mir einmal auf einem solchen Schulweg: Du siehst gar nicht jüdisch aus. Ich erinnere mich weder an das Gespräch selber noch an meine Antwort auf diese Bemerkung, wohl aber daran, was in mir vorging: das war offensichtlich als Kompliment gemeint, nur war mir nicht ganz wohl dabei. Warum sollte ich nicht jüdisch aussehen? Und wie genau sollte man als Jude aussehen? Damals hatte ich noch keine Ahnung von stereotypen ›Kennzeichen‹ wie krumme Nasen etc. Ich wusste, dass ich anders war, aber das hatte – neben dem Bewusstsein der Schoah und der zionistischen Einstellung meiner Eltern – vor allem mit der Religion zu tun. Wir waren orthodox, also schrieb ich am Sabbat nicht in der Schule, ging in den Religionsunterricht der jüdischen Gemeinde, und man distanzierte sich von der christlichen Religion. Meine Mutter, die klassische Musik liebte, stellte immer das Radio ab, wenn Messen oder andere Kirchenmusik gesendet wurden. Ich liebte Weihnachten, die Lieder, die wir in der Schule sangen, die Geschichten, die in der Adventszeit erzählt wurden. Als Höhepunkt gab mir die Lehrerin im Weihnachtsspiel in der dritten Klasse die Rolle eines Engels. Ich spielte gerne mit, hatte dabei aber gemischte Gefühle und erzählte nichts zu Hause, weder von meiner Teilnahme am Weihnachtsspiel noch überhaupt von meiner Liebe zu Weihnachten und allem Drum und Dran. Die jüdischen und katholischen Kinder waren vom evangelischen Religionsunterricht in der Schule dispensiert. In

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der siebten-achten Klasse blieb ich aber oft, wohl aus Neugierde, im Zimmer, saß in der hintersten Bank und machte Aufgaben. Einmal erzählte der Pfarrer, die Juden hätten Jesus (er sagte wohl: den Heiland), als er am Kreuz hing, geneckt. Das ist die einzige Erinnerung, die ich an diesen Unterricht habe. Ich horchte bei diesen Worten des Pfarrers auf, registrierte sie mit unangenehmem Erstaunen. Meine Mitschüler schienen diese negative Erwähnung der Juden in keinerlei (bewusste) Beziehung zu mir zu bringen, jedenfalls äußerten sie nichts dergleichen. Ich war wohl die einzige, die sich betroffen fühlte, ohne genau zu wissen, was da nicht stimmte. Es sind diese Situationen des ans Unheimliche grenzenden Unbestimmten, Ungreifbaren und der heimlichen, unerlaubten Liebe zum Verbotenen, an die ich mich bei der wiederholten Lektüre des Arthur Aronymus spontan erinnerte, nicht aber an die einzige ausgesprochen antisemitische Erfahrung meiner frühen Kindheit. Ich spielte viel und gerne, als einzige Jüdin, mit den Nachbarkindern im gemeinsamen Innenhof unseres Häuserblocks, in dem jedes Haus auch seinen kleinen, umzäunten Vorhof mit Kies und Teppichstangen hatte. Wir redeten damals, in den späten 1940er Jahren, oft über Hitler und ob er wirklich tot sei und sangen dann laut und beschwörend ein Spottlied vom Hitler, der geflogen kam auf einem Fass Benzin und schließlich verreckte. Einmal, beim beliebten ›Fang mich‹ Spiel, fingen mich die anderen Kinder, umringten mich, nannten mich spottend ›Synagogenschlüssel‹, sperrten mich in den Vorhof unseres Nachbarhauses, ohne Schläge oder körperliche Verletzungen, nur freilassen wollten sie mich nicht. Meine beste Freundin Rosmarie, die im Erdgeschoss unseres Hauses wohnte, war nicht dabei. Sie stand am Fenster ihres Zimmers, ermutigte mich, beschimpfte die Kinder, bewirkte aber nichts. Erst als Miriam aus Haifa, die meiner Mutter damals zeitweilig im Haushalt half, von unserem Küchenbalkon im zweiten Stock den Kindern mit resoluter Autorität ins Gewissen redete, ließen sie mich frei. Aus dieser durch eigene Erfahrungen geprägten Optik erklärt sich wohl, warum mir das Unheimliche im Schauspiel Arthur Aronymus so vertraut erscheint.

II. Jüdisches Leben in der Moderne: eine unreduzierbar doppeldeutige Befindlichkeit. Schon der Titel des Schauspiels, der doppelte – deutsche und jüdische – Vorname der Hauptfigur, signalisiert eine doppeldeutige – oder zwiespältige – Befindlichkeit. Sie ist Basis und Motor von Else Lasker-Schülers Schreiben, vor allem ihrer Prosa und ihres dramatischen Werks. Im Jahr 1932 hat sie unter dem Titel Arthur Aronymus sowohl ihr zweites Schauspiel – zwischen der Wupper (1919) und IchundIch (um 1941) – als auch eine Erzählung veröffentlicht. Mit dieser gleichzeitigen Publikation setzte Else Lasker-Schüler einen in ihrem Werk einmaligen Akzent, der – jenseits aller üblichen philologisch-

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werkgenetischen Überlegungen – einfach darauf hinweist, wie wichtig ihr die Aussage dieser Texte war. Im 19. Jahrhundert etablierte sich, im Zuge der Emanzipation und Akkulturation, der Brauch der doppelten Namengebung: einen deutschen bzw. europäischen Vornamen für den täglichen Gebrauch im privaten und öffentlichen Bereich und einen jüdischen bzw. hebräischen für rituelle und liturgische Belange. Else Lasker-Schüler lässt den deutschen Namen Arthur unangetastet, verfremdet aber den jüdischen Namen Aron. Dabei mögen allerlei assoziative Konnotationen, wie Anonymus oder Hieronymus, mitgespielt haben. Oder es handelt sich um eine ironische Latinisierung, einen kleinen Seitenhieb gegen den bürgerlichen Bildungsdünkel, wie er in bestimmten Witzen in der Verballhornung »Byldung« oder »gebyldet« zum Ausdruck kommt. Jedenfalls gehört die hier angedeutete Verfremdung des Jüdischen zu den Symptomen jüdischer Befindlichkeit in der Moderne, die durch eine akute, nicht unbedingt bewusste Spannung zwischen der Faszination für die deutsche bzw. europäische Kultur der Umwelt und der kontinuierlichen Konfrontation mit dem expliziten und impliziten Antisemitismus seitens eben dieser Umwelt gekennzeichnet ist. Seit dem von Christian Wilhelm Dohm 1781 geprägten doppeldeutigen Begriff der »bürgerlichen Verbesserung«,1 demgemäß die Juden sich bessern sollten, um ihren bürgerlichen Status zu verbessern, gilt alles Jüdische im Leben der Juden – Religion, Brauchtum, Kultur – auch aus liberal-toleranter Perspektive als minderwertig, nicht eigentlich salonfähig, etwas, worauf man am besten weitgehend verzichtet, wenn man ein gleichwertiges Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft sein möchte. Was Jacob Katz über die Auswirkungen des ambivalenten Postulats einer »bürgerlichen Verbesserung« auf die literarische Produktion jüdischer Autoren im frühen 19. Jahrhunderts geschrieben hat, gilt für die Juden in der Moderne insgesamt: Die negative Charakterisierung der jüdischen Lehre wurde auf das Phänomen des Jüdischen übertragen, wie auch immer es sich dokumentierte, in Verhalten und Sprache, in Sitte und Moral, Denkart und Mentalität. Da […] die nichtjüdische Umwelt die Bezugsgruppe der jüdischen Minorität war, neigten die Juden selbst dazu, diese Bewertung, wenn nicht zu akzeptieren, so doch zu berücksichtigen. Der Anschluß an die Gesellschaft schien an das Ablegen oder Vergessen jüdischer Charakterzüge gebunden – eine Forderung, die den kulturell aktiven Intellektuellen und Künstlern unter den Juden eine besonders schwere Aufgabe stellte. Für sie hieß es, den eigenen Erlebnisgrund zu verleugnen und sowohl den Stoff als auch die Ausdrucksform ihrer Schöpfungen der Umweltskultur zu entnehmen. Diese Forderung lag sozusagen in der Luft, wurde aber auch oft laut und vernehmbar ausgesprochen besonders von liberal oder gar radikal Gesinnten, die damit den Weg zur Absorbie-

1

Christian Wilhelm Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin und Stettin 1781.

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rung der Juden in die ihnen vorschwebende Gesellschaft der Zukunft anbahnen wollten.2

Es ist durchaus plausibel, dass die ständige Konfrontation mit dieser unausgesprochenen, nicht greif- aber deutlich spürbaren, Missachtung alles Jüdischen auch und gerade seitens der ›wohlmeinenden‹ deutschen bzw. europäischen Umwelt den Juden im 19. und 20. Jahrhundert auf die Dauer fast unheimlicher war als die offene Bedrohung durch den rabiaten – verbalen und handgreiflichen – Antisemitismus. Von diesem Unheimlichen handelt und dieses Unheimliche evoziert Else Lasker-Schülers Schauspiel. Die Zeitangabe zum ersten Bild, das Stück spiele »etwa um 1800«, obwohl der Kontext der Familiengeschichte und die angedeuteten Ereignisse in den Zeitraum um 1840 gehören, könnte sinngemäß durchaus auf die doppeldeutige Aufklärung Dohmscher (und anderer) Provenienz und deren kontinuierlichen Effekt des Unheimlichen auf die jüdische Befindlichkeit in der Moderne bezogen werden. Kurz nach Beginn des sechsten Bildes – der Weihnachtsfeier im Haus des Kaplans von Gaesecke mit dessen Nichten und dem achtjährigen Arthur Aronymus – sagt der Kaplan zu seinen jungen Gästen: Nun Kinder, gebt Euch mal alle die Hände! zu den Nichten gewandt Dieser nette Junge ist mein kleiner Freund Arthur Aronimus und diese kleinen, artigen Mädchen, lieber Aronimus, sind meine Nichten Ursula und Narzissa. Tretet näher, lasst uns vorerst den Christbaum anschauen.

Daraufhin heißt es in der Regieanweisung: »Arthur Aronymus regt sich plötzlich nicht von der Stelle und ist verstummt.« Auf die Frage des Kaplans: »Du bist ja so still mit einem Mal geworden, was ist Dir denn, mein Junge?« antwortet dieser: »Mir is wat unheimlich« und »sieht sich«, laut Regieanweisung, »im Zimmer um«. Im direkten Zusammenhang der dramatischen Handlung erfolgt das regungslose Verstummen des Jungen, als er beim Eintreten, mitten im Gespräch mit dem Kaplan, plötzlich »die beiden kleinen Nichten des Kaplans« wahrnimmt, die »in der Nische vor einem kleinen Altar vor dem Kreuz, daran Herr Jesus hängt« knien, und »die letzten Strophen des Vaterunsers beten.«3 Jedoch lassen sich das Verhalten und die Aussage des jüdischen Kindes nicht allein als Reaktion auf die fremde und somit auch bedrohliche, massiv christlich-kirchliche Atmosphäre erklären, mit der es gleich beim Eintritt in das Haus des Kaplans konfrontiert wird. Der Satz ›Mir is wat unheimlich‹ hat eine 2

3

Jacob Katz: »Rezeption jüdischer Autoren durch deutsche Kritik und deutsches Publikum«. In: Walter Röll/Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Jüdische Komponenten in der deutschen Literatur – die Assimilationskontroverse (= Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, Bd. 5). Tübingen 1986, S. 129–138 (Zitat: S. 131). Alle Textzitate nach: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky, Bd. 2: Dramen. Bearb. von Georg Michael Schulz. Frankfurt a. M. 1997, S. 114 (im folgenden AA).

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doppelte Funktion. Im Kontext der Szene selber wird damit schon von Anfang an der dramatische Höhepunkt angedeutet: der antisemitische Ausrutscher des Kaplans (»Aber Du willst doch nicht gar ein dreister Judenjunge werden?«), der selber tief erschrickt »über die ihm entfahrene Bemerkung« und deren folgenreichen traumatisierenden Effekt auf das Kind: ARTHUR ARONYMUS instinktiv schwer erschrocken, jäh erwacht, dann apathisch, ruft auf einmal weinerlich und furchtbar schmerzlich: Ich will zu meiner Mutter.4

Darüber hinaus setzt Else Lasker-Schüler mit dem Satz ›Mir is wat unheimlich‹ einen besonderen Akzent auf das Unheimliche, die Quintessenz des ganzen Schauspiels und dessen unentrinnbare Ausstrahlung. Ausschlaggebend ist dabei, dass sie in diesem Stück sehr genau unterscheidet zwischen offenem und latentem Antisemitismus und der jeweiligen Reaktion jüdischerseits, allen voran des Protagonisten Arthur Aronymus. Auf den offenen Antisemitismus – den Hexenverdacht gegen seine an ›Veitstanz‹ erkrankte Schwester Dora und die groben Anrempelungen gegen ihn persönlich – reagiert er offensiv und tatkräftig. Im dritten Bild reißt er mit seiner Schwester Lenchen heimlich von zu Hause aus, fährt zu seinem Großvater, dem Rabbiner Uriel, nach Paderborn, um ihn über die Bedrohung durch den Hexenverdacht zu informieren und sich selber zu vergewissern, dass Dora keine Hexe sei: ARTHUR ARONYMUS […] Wir wollten Großväterlein was von der Dora fragen. Ist sie wirklich eine Hexe? RABBI gequält Wer sagt das Euch? ARTHUR U. LENCHEN Sie soll verbrannt werden. RABBI Sch’ma Jisroel! – und Eure Mutter verheimlicht mir diese ungeheure Gefahr? […] RABBI zu Ephraim Und nun verstehe ich den kleinen mutigen Reisenden, meinen Liebling Arthur Aronymus, was ihn zum Großväterlein drängte.5

Im dreizehnten Bild sind alle Einwohner Gaeseckes auf dem Marktplatz versammelt und warten auf die Verlesung der bischöflichen Bulle gegen den Hexenaberglauben durch den Kaplan. Arthur Aronymus und Lenchen stehen neben einem »Phanatischen Katholik[en]« und einer »Phanatische[n] Frau«, deren Fanatismus offensichtlich als Synonym für Antisemitismus gemeint ist: ARTHUR ARONYMUS zu Lenchen Wann kommt denn der Bernard? EIN PHANATISCHER KATHOLIK bemerkt zu ein paar Leuten: Was der klenge fise Judenjunge sich herausnimmt will ihn ohrfeigen. Arthur Aronymus weicht ihm nicht aus.

4 5

AA, S. 119. AA, S. 95.

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PHANATISCHER KATHOLIK Ick will Dir helfen, unsern Herrn Kaplan – Bernard zu nennen. LENCHEN ihn verteidigend: Bernard ist doch sein Freund. PHANATISCHE FRAU Kommt Ihr Beide nicht aus Moses sein Gutsgarten? ARTHUR ARONYMUS Nää, ollet goldenes Kalb. Die Herumstehenden lachen. PHANATISCHER MANN Dat glöb eck, der Moses aus ’em alten Testament hat nicht so viel Geld unredlich gescharrt. Frau Schüler merkt den Zwischenfall, winkt den Kindern, sich zu ihr zu gesellen. ARTHUR ARONYMUS zu Lenchen: Wir wollen lieber nicht bei den Allen stehen, Lenchen, aber wenn der Bernard kömmt, rennen wir wacker an de Treppe.6

Arthur weicht nicht aus, wehrt sich schlagfertig, um sich dann in aller Ruhe von der unangenehmen Umgebung zu entfernen. Die vieldeutige Ironie, mit der Moses, Aron und das goldene Kalb ins Spiel gebracht werden, trägt wesentlich zur Wirksamkeit dieser Szene bei. Umso mehr erschrickt Arthur über die antisemitische Äußerung seines vermeintlichen Freundes. Er ist wie gelähmt, traumatisiert und versucht, seine Ohnmacht – als Kind und Jude – durch Mutwillen und Übermut zu überspielen. Bis zum Ende des Schauspiels kommt er nicht zur Ruhe. Vom (Alp-)Traum nach der Weihnachtsfeier, der sich, laut Regieanweisung, als »Tonfilm« an der Wand widerspiegelt (7. Bild) über den demütigenden Konversionsantrag des Kaplans (11. Bild) und das kindliche Inszenieren und Ausagieren eines Hexenprozesses (14. Bild) bis zur eigenhändigen Zerstörung des selbst erstellten Baukasten-Domes am »Zederabend« (15. Bild) bleibt sein Verhältnis zum Kaplan gespalten zwischen Liebe und Misstrauen. Ausschlaggebend für die Irritation und das Erschrecken des Jungen erscheint hier vor allem das doppeldeutige, kaum greif-, aber spürbare Verhalten gegenüber den Juden, jene seit der Zeit ›um 1800‹ bestehende Mischung von Toleranz und Vorbehalt, die im Grunde fast unheimlicher ist, ihr Effekt auf die jüdische Befindlichkeit in der Moderne – vor der Schoah – fast fataler, als die offenen verbalen und handgreiflichen Ausschreitungen der ausgesprochenen Antisemiten. Else Lasker-Schüler setzt einen deutlichen Akzent auf dieses doppeldeutige Verhalten – vertreten durch den Kaplan und den Bischof – und seine Folgen für die Befindlichkeit der jüdischen Figuren, die sich bei allen, wenn auch in unterschiedlichen Ausmaßen, in einer weitgehenden Ohnmacht gegenüber der Umwelt und einer Art Angstliebe zu deren Kultur äußert, was aber in bestimmten Situationen, bei einigen Figuren, allen voran Arthur, Akte der Selbstbehauptung nicht ausschließt.

6

AA, S. 160–161.

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III. Austritt aus der rezeptionsverschuldeten Entmündigung der Dichterin. Neue Forschungsperspektiven. Eine hartnäckige Doppeldeutigkeit gleichzeitiger Anerkennung und Verkennung, quasi eine Variante des Dohm-Syndroms, beeinträchtigte – zumindest bis in die frühen 1990er Jahre – die an sich verdienstvolle Publikation und Rezeption der Werke Else Lasker-Schülers nach 1945. Es geht dabei im Wesentlichen um zwei gängige Tendenzen, das Werk und die Person der Dichterin betreffend. Man anerkannte den künstlerischen Wert zumindest eines Teils der Gedichte bei fast vollkommener Verkennung der Prosa und ihrer literarischen Qualität, von den Dramen nicht zu reden, die ohnehin mehr oder weniger als quantité négligeable abgehandelt wurden. In Bezug auf Else Lasker-Schülers Person etablierte sich infolge der seit 1951 und bis in die frühen neunziger Jahre erschienenen Werk- und Briefausgaben, Hommagen, Erinnerungen, Monographien und Aufsätze7 ein merkwürdig widersprüchliches Bild. Die weltfremde, naiv-kunstgläubige, launig-streitbare, sperrig- eigensinnige Exzentrikerin galt gleichzeitig als Symbol und Inbegriff der harmonischen Brüderlichkeit und christlich-jüdischen Versöhnung. Ein Miteinander und Gegeneinander von Mystifizierungen, Verklärungen und Historisierungen, neben einem Seilziehen zwischen christlichen bzw. deutschen und jüdischen Vereinnahmungen, kennzeichnen den Verlauf dieser insgesamt unbehaglichen Rezeptionsphase. Problematisch ist dabei nicht nur die weitgehende, undifferenzierte Vermischung von Werk und Person, sondern die Tatsache, dass man in den meisten Fällen weder das Werk noch die Person wirklich ernst genommen hat. Ernst genommen wurde allerseits – auch bei an sich engagierten und verdienstvollen, langjährigen Dokumentationen und Forschungsarbeiten – eigentlich nur der Opferstatus der verfolgten und vertriebenen Dichterin. Dass eine 7

Neben den Auswahlbänden Else Lasker-Schülers von Werner Kraft (1951) und Ernst Ginsberg (1951), der Werkausgabe von Friedhelm Kemp und Werner Kraft (1959–1962) und der Briefauswahl von Margarete Kupper (1969) sei hier nur auf einige exemplarische Publikationen aus der Sekundärliteratur verwiesen: Margarete Kupper: Else Lasker-Schülers Weltanschauung in ihren poetischen Selbstzeugnissen. Berlin 1963 (Teildruck, Diss. Phil.). Dieter Bänsch: Else Lasker-Schüler. Zur Kritik eines etablierten Bildes. Stuttgart 1971. Sigrid Bauschinger: Else LaskerSchüler. Ihr Werk und ihre Zeit. Heidelberg 1980. Erika Klüsener: Else LaskerSchüler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1980 (= rm 283). Jakob Hessing: Else Lasker-Schüler. Biographie einer deutsch-jüdischen Dichterin. Karlsruhe 1985. Jakob Hessing: Die Heimkehr einer jüdischen Emigrantin. Else LaskerSchülers mythisierende Rezeption 1945–1971. Tübingen 1993 (= Conditio Judaica 3). Zur Problematik der frühen Werkpublikationen (1951–1962) und zu Else LaskerSchülers ambivalenterer Haltung gegenüber dem Christentum vgl.: Itta Shedletzky: »Bild als Text und Text als Bild. Hebräische Akzente bei Else Lasker-Schüler«. In: Else Lasker-Schüler. Bild : Schrift : Bild. Katalog zur Ausstellung im August Macke Haus. Hg von Ricarda Dick unter Mitarb. von Volker Kahmen und Norbert Oellers. Bonn 2000, S. 171–184.

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solche Optik von nichts weniger als Entmündigung mitbestimmt ist, haben Meike Feßmann in ihrer Arbeit zur frühen Prosa und zum Schauspiel IchundIch (1992) und Thomas Höfert in seiner Arbeit zum Schauspiel Arthur Aronymus (2002) aufgezeigt und damit entscheidende Beiträge zur Verdeutlichung der mit Else Lasker-Schüler verbundenen Rezeptions- und Interpretationsproblematik geleistet.8 Es ist das Verdienst von Feßmann und Höfert, dass sie anhand detaillierter und sorgfältig kontextualisierter Analysen bestimmter Texte neue Perspektiven öffneten für ein differenzierteres Verständnis von Else Lasker-Schülers gesamtem Werk und ihrer Person.9 Meine Ausführungen zum Schauspiel Arthur Aronymus knüpfen an einige durch diese Arbeiten vermittelte Erkenntnisse an, wobei einzelne dort nur angedeutete Punkte weitergeführt werden. Mit ihrem Modell der Spielfiguren und dem damit verbundenen Begriff der Poetographie ist es Meike Feßmann überzeugend gelungen, die poetisch-poetologischen Qualitäten von Else Lasker-Schülers Strategie der figurativen Selbststilisierung und Fiktionalisierung sichtbar zu machen und damit ihr Werk vom Stigmen Ballast der früheren Forschung – Weltflucht, naive Versöhnlichkeit und ähnliches – zu entlasten.10 Feßmann zeigt in ihrer Arbeit, wie die Funktion der Spielfiguren sich verändert, von der Zentralität der Prinzessin Tino und des Prinzen Jussuf in der frühen Prosa, über deren Rückzug – nach dem Ersten Weltkrieg – aus der Dichtung in den Briefaustausch, bis zum Schauspiel IchundIch (um 1941),11 das sie im wesentlichen als Ausdruck der verwundeten, ins Herz getroffenen Spielfigur interpretiert. Damit markiert Feßmann eine Strukturierung von Else Lasker-Schülers Werk, vor allem ihrer Prosa, dessen Zäsuren aus der »Übermacht der Realität, der Gewalt« resultieren: der Tod des Spielgefährten Franz Marc im Ersten Weltkrieg und die grenzenlose Brutalität nach 1933. Mit dem Tod des Sohnes Paul im Jahr 1927 erfolgte »der tiefste Einschnitt«, von dem auch die Arthur Aronymus Dichtungen betroffen sind: Abgeschnitten von der Geborgenheit einer Familie, deren ›letzter Rest‹ der Sohn gewesen war, setzt sie die mit dem Wunderrabbiner von Barcelona begonnenen abenteuerlichen Erzählungen der ›Familiengeschichte‹ fort, die so lange die Bio-gra8

9

10 11

Meike Feßmann: Spielfiguren. Die Ich-Figurationen Else Lasker-Schülers als Spiel mit der Autorenrolle. Ein Beitrag zur Poetologie des modernen Autors. Stuttgart 1992. Thomas Höfert: Signaturen kritischer Intellektualität. Else Lasker-Schülers Schauspiel Arthur Aronymus. St Ingbert 2002. Die Auseinandersetzung mit der voraus liegenden Forschung, u.a. von Bauschinger, Bänsch, Ginsberg, Kemp, Kraft, Kupper (s.o. AA) durchzieht jeweils die gesamte Abhandlung. Sigrid Bauschinger hat die Rezeption Else Lasker-Schülers als naiv-weltfremde Versöhnungsfigur und des Schauspiels Arthur Aronymus als Biedermeier-Idyll nachhaltig geprägt. Es ist bedauerlich, dass sie sich in ihrer neuen Biographie Else Lasker-Schülers (Göttingen 2004) mit den Arbeiten von Feßmann und Höfert nicht auseinandersetzt. Feßmann, S. 23–34 und S. 16–18. Feßmann, S. 261–272.

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phen genarrt haben: im Essayband Konzert [...] ebenso wie in der Erzählung Arthur Aronymus. Die Geschichte meines Vaters und dem daraus entstandenen Schauspiel Arthur Aronymus. Aus meines geliebten Vaters Kinderjahren. Alle drei Bücher erschienen im selben Jahr, 1932, in dem Else Lasker-Schüler den Kleist-Preis erhielt, dessen Verleihung bereits von faschistischen Schmähreden begleitet war.12

Darüber hinaus ist es aber vor allem der neue, deutliche Akzent auf der Ambivalenz jüdischer Befindlichkeit, der die Arthur Aronymus Texte mit dem Wunderrabbiner von Barcelona13 und den Erzählungen Der Versöhnungstag und St. Laurentius aus dem Band Konzert (1932)14 verbindet. Else Lasker-Schülers Sensibilität für die Widersprüche zwischen Dichterexistenz und Dichterrolle und für die Ambivalenzen der Autorschaft, von denen in Feßmanns Buch die Rede ist, könnte wohl nicht zuletzt mit ihrer eigenen Empfindlichkeit für die Doppeldeutigkeiten gegenüber den Juden und der daraus resultierenden Befindlichkeit zusammenhängen. Feßmann betont, »wie wichtig die Erotisierung der Rede – d.h. die Aufladung der das dichtende Ich bergenden und verbergenden Sprache mit nicht reduzierbaren Doppeldeutigkeiten15 – für die implizite Sprachauffassung und Poetologie Else LaskerSchülers ist«. Die Tragkraft dieser Aussage zeigt sich besonders deutlich im Kontext von Arthur Aronymus. Die Vermutung liegt nahe, dass Else LaskerSchüler mit ihrer Sprachstrategie dem doppeldeutigen Verhalten gegenüber den Juden in der Moderne eine Doppeldeutigkeit eigener Prägung entgegensetzte, womit sie allerdings die dominierenden Vereinnahmungen und Verkennungen in der Rezeption ihres Werks nicht verhindern konnte. 12 13

14

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Feßmann, S. 260. (Zur Beziehung zwischen Erzählung und Schauspiel vgl.: Höfert, S. 31). Die Formulierung »abenteuerliche Erzählungen der ›Familiengeschichte‹« in Bezug auf die zentralen Dichtungen aus der Zeit zwischen 1921 und 1932 suggeriert die Möglichkeit, in Kunstfiguren wie dem Wunderrabbiner Eleasar und der Dichterin Amram aus Barcelona (1921) oder Rabbi Uriel und Arthur Aronymus (1932) Varianten der Spielfiguren Tino und Jussuf aus der frühen Prosa zu sehen, die durch veränderte Proportionen und ein neu akzntuiertes Changieren des Realen und Fiktionalen gekennzeichnet sind – Zum Wunderrabbiner von Barcelona und »Zum poetologischen Gesamtentwurf« Else Lasker-Schülers vgl.: die differenzierte Analyse in der Arbeit von Almuth Hammer: Erwählung erinnern. Literatur als Medium jüdischen Selbstverständnisses. Mit Fallstudien zu Else Lasker-Schüler und Joseph Roth. Göttingen 2004, S. 155–205. Zum Wunderrabbiner und zur Erzählung Arthur Aronymus vgl. auch: Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung. Figuren der Souveränität und Ethik der Differenz in der Prosa Else Lasker-Schülers. Tübingen 2002, S. 409–466. Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Band 4.1: Prosa 1921–1945. Nachgelassene Schriften. Bearb. von Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky. Frankfurt a. M. 2001 (im Folgenden: KA 4.1), S. 7–17 (Wunderrabbiner), S. 98–104 (Versöhnungstag), S. 155–158 (St Laurentius). An diese Formulierung lehnt sich die Wendung »unreduzierbar doppeldeutige Befindlichkeit« im Titel des zweiten Absatzes (s.o. S. 3) an. Vgl.: Feßmann, S. 164.

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Dass der Else Lasker-Schüler zugesprochene Mythos einer christlich- jüdischen Versöhnung ausgerechnet am Schauspiel Arthur Aronymus – und da vor allem am »großangelegten Schlußbild der Pessahfeier am Sederabend« – festgemacht wurde, ist ein Skandalon in der Rezeption ihres Werks. Thomas Höfert zeigt, wie dieser Mythos mit zwei anderen gängigen Mythen zusammenhängt: dem »Biedermeier-Idyll«, das dem Schauspiel zugrunde liegen soll, und der Unbelesenheit Else Lasker-Schülers, unter völliger Verkennung der Ironie, auf der die wiederholten diesbezüglichen Aussagen ihrerseits beruhten. Dagegen stellt Höfert überzeugend dar, dass es sich um einen »(Schauspiel-)Text« handelt, der »auf prominente Weise Auskunft geben kann über die kritische Intellektualität und wissenschaftsvernetzte Schreibweise Else Lasker-Schülers und dem ›ein sehr bestimmter Antisemitismus-Begriff‹ zugrunde liegt, der sich nicht mit dem Mythologem einer (fast schrankenlosen) Versöhnungsgesinnung« vereinbaren lässt.16 Den brisantesten Forschungsbeitrag leistet Höfert mit dem Eruieren der Spuren des »medizinisch-psychiatrischen Diskurses«, dessen vielschichtige und vieldeutige Präsenz in diesem Schauspiel er in den Kapiteln Fehlartikulationen und Fehlleistungen und ›Medizinische Dichtung‹ – ›Medizinische Arbeit‹ minutiös herausarbeitet.17 Wie Höfert nachweist, äußert sich Else Lasker-Schülers ›kritische Intelligenz‹ nicht allein in den vielen impliziten Bezugnahmen auf die Arbeiten des mit ihr befreundeten Sexualforschers Magnus Hirschfeld und vor allem auf zentrale Texte und Theorien Sigmund Freuds, sondern gerade im Falle Freuds, oft auch darin, dass sie sich ihm kritisch entgegenstellt. Höferts Analyse dieser Fehlartikulationen und Fehlleistungen in Arthur Aronymus ist eine Herausforderung zur Re-Lektüre von Else Lasker-Schülers gesamtem Werk und zum Versuch, ihre spezifischen Spracheigenheiten unter diesem Aspekt neu zu verstehen. Mit dem Aufweisen der antisemitischen, christlich-jüdischen, sexuellen und traumatischen Aspekte, sowie der eminent kunstfertigen Handhabung des Artifiziellen seitens der Autorin, gelingt es Höfert, die Dissonanzen und Unstimmigkeiten in der Dynamik zwischen den Figuren und deren je in sich selbst widersprüchliches Profil in dem Schauspiel genau darzustellen.18 Besonders suspekt erscheinen, so gesehen, die Figuren des Kaplans und des Bischofs. Sexuelle Zweideutigkeiten kennzeichnen die quasi freundschaftliche Beziehung des Kaplans zu Arthur und dessen Schwester Fanny. Im Fall von Arthur handelt es sich bei dem wiederholten Streicheln und der Rede vom »köstlichen Jungen« um deutlich pädophile Annäherungen, während der Kaplan mit Fannys Verliebtheit ein ziemlich perfides Spiel platonisch-anzüglicher Liebesfrömmigkeit treibt.19 Der anti16 17 18

19

Höfert, S. 18–19 und S. 32–39. Höfert, S. 216–250 und S. 251–394. Höfert weist auch darauf hin, dass bei den überlieferten Inszenierungen des Stücks, der Uraufführung in Zürich am 19.12.1936 und den späteren Aufführungen in Deutschland 1968 und 1988 »fragwürdige Streichungen vorgenommen [wurden], die vor allem den konfliktbetonten Szenarien galten« (S. 25–26). Bild 1/4/6/11/14, sowie Bild 8.

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semitische Lapsus des Kaplans gegenüber Arthur an der Weihnachtsfeier20 und sein »Konversions-Angebot« an die Familie Schüler, ihren achtjährigen Sohn zu taufen, um den antisemitischen Hexenfuror der Gaesecker Bevölkerung zu besänftigen,21 lassen weitere Abgründe in dieser Figur – zwischen »Begehren und Bekehren«22 – erkennen. Auch das Verhalten des Bischofs passt in kein plausibles Konzept ebenbürtiger Brüderlichkeit zwischen Christen und Juden.23 Dieser betritt die Bühne zum ersten Mal im 14. Bild und beobachtet mit dem Kaplan heimlich, wie die Kinder im Schülerschen Garten eine Hexenverbrennung inszenieren. Das Hexen-Spektakel endet kurz vor Beginn der Sederfeier, zu der die beiden unerwartet anwesenden Geistlichen von Frau Schüler spontan eingeladen werden. Das Gebaren der katholischen Gäste – vor allem des Bischofs – ist gekennzeichnet durch »diverse kleinere und größere Übergriffe«, die sie »am Sederabend begehen«. Laut der im Bühnenmanuskript von der Autorin graphisch gestalteten Tischordnung, sitzen Herr Schüler und der Bischof an den beiden Tischenden der großen Tafel einander gegenüber. In dieser symmetrischen Struktur vollzieht sich in der Schluss-Szene eine bedeutsame Gewichtsverlagerung, indem »der Bischof (Matthias bzw. ›Lavater!‹) die Vater-Rolle im Hause Schüler zunehmend übernimmt, während Herr Schüler im letzten Drittel gänzlich verstummt.« Trotz der »zahlreichen, subtilen oder auch markanten, Dissonanzen«, die Höfert sorgfältig herausgearbeitet hat, »wird just diese Szene gemeinhin als ein groß angelegtes Versöhnungs-Bild fehlgedeutet«.24 Mit dem Hinweis auf Herrn Schülers Verstummen benennt Höfert ein zentrales Moment jüdischer Befindlichkeit, wie sie sich im Schauspiel manifestiert. Das Verhalten der jüdischen Figuren äußert sich im Wesentlichen in einer ständigen Spannung zwischen Ohnmacht und Selbstbehauptung, deren Dynamik insbesondere Verhalten der Hauptfigur hervortritt.

20

21 22 23 24

6. Bild, vgl.: Anm. 7. Am 24.12.1931 schreibt Else Lasker-Schüler an Gertrud Goldscheider: »Gleich ist Weihnachten, die Bäume werden von Menschen angezündet, die selbst dunkel bleiben, überhaupt nie schimmerten. Es wird immer entsetzlicher!« am Anfang eines Briefs, in dem sie nicht nur – in medizinischem Zusammenhang – »Dr. Hirschfeld« erwähnt, sondern auch ihr Schauspiel (»Habe herrlich Stück geschrieben.«) Vgl.: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Band 8: Briefe 1925–1933. Bearb. von Sigrid Bauschinger, Frankfurt a. M. 2005, S. 285. Bild 11. Höfert, S. 40–50. Vgl.: Höferts Analyse des Zederabend-Bildes, S. 103–131. Höfert, S. 103–105.

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IV. Arthur Aronymus – Profil eines (antagonistischen) Protagonisten. In vielen ihrer Texte – nach den Hebräischen Balladen (1913) vor allem in der Prosa – hat Else Lasker-Schüler auf die jüdische Tradition Bezug genommen, sowie historische und aktuelle Fragen jüdischer Existenz berührt. Nach dem Ersten Weltkrieg wird in der Erzählung Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921)25 ein deutlicher Wechsel vom impliziten zum expliziten Umgang mit jüdischen Belangen sichtbar. In den früheren Prosatexten vom PeterHilleBuch (1904) bis zum Malik (1919) lassen sich Fragmente eines jüdischen Subtexts erkennen, die sich, neben biblischen und quasi kabbalistischen Allusionen, hauptsächlich auf den historischen christlich-jüdischen Konflikt und auf aktuelle innerjüdische Auseinandersetzungen beziehen.26 In der Erzählung vom Wunderrabbiner impliziert der historisch konnotierte Text einen aktuellen Subtext.27 Eine ähnliche liegt auch Arthur Aronymus zugrunde. In beiden Texten finden sich auch vielfache intertextuelle Bezüge zu Heinrich Heines Der Rabbi von Bacherach, auf die hier nur am Rande hingewiesen sei.28 Die kritische Darstellung jüdischer Befindlichkeit im Schauspiel knüpft an Figurenkonzepte und Konfliktkonstellationen an, die im Wunderrabbiner schon vorgegeben sind. Dazu gehören die Rabbinerfiguren Eleasar und Uriel in der Ambivalenz ihrer gleichzeitigen An- und Abwesenheit, ihrer geistigen Autorität und praktischen Ohnmacht, sowie innerjüdische Konflikte zwischen Ideologien und Generationen in ihrer Konfrontation mit der, zugleich attraktiven und bedrohlichen, christlichen Umwelt. Im Verlauf des Schauspiels wird ein weites Spektrum der Konflikte jüdischer Befindlichkeit sichtbar, wobei Arthur Aronymus als Hauptfigur in manchen kritischen Momenten eine entscheidende Rolle spielt, die durch eine wechselreiche Dynamik von Ohnmacht und Selbstbehauptung gekennzeichnet ist. Der volle Titel des Schauspiels Arthur Aronymus und seine Väter (aus meines geliebten Vaters Kinderjahren) und die Widmung: ›Meiner teuren Mutter: Jeannetta und meinem teuren Sohn Paul in Liebe‹ lassen durchaus vermuten, dass es hier um ein nostalgisch-naives Kindheits- und Familienidyll geht. Jedoch schon die Präsentation der Hauptfigur im ersten Bild stellt, neben anderen Andeutungen, eine solche Erwartung in Frage. In einer warmen Au25 26

27

28

KA 4.1, S. 7–17. Vgl. dazu: Itta Shedletzky: Else Lasker-Schülers Jerusalem. Eine Chronik aus ihrem Nachlaß. Ausstellungskatalog. Jerusalem 1995, S. 13–15. Sowie Shedletzky (wie Anm. 10), S. 181-183. Über die mögliche Beziehung des Wunderrabbiners Eleasar zu Martin Buber, und der ›Apostel‹, die ›Gleichheit und Brüderlichkeit‹ predigten (KA 4.1, S. 9) zu Else Lasker-Schülers Freunden Gustav Landauer, Ernst Toller u.a. vgl.: Itta Shedletzky: »Bacherach and Barcelona. On Else Lasker-Schüler's Relation to Heinrich Heine«. In: Mark H. Gelber (Hg.): The Jewish Reception of Heinrich Heine. Tübingen 1992 (= Conditio Judaica 1), S. 117–126 (Hinweis: S. 122). Zum Wunderrabbiner vgl.: Shedletzky (wie Anm. 36), zu Arthur Aronymus vgl.: Höfert, S. 180–215.

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gustnacht trifft der auf der Landstrasse spazierende Kaplan Bernard Michalski den Nachtwächter Altmann vor dem umzäunten Garten des Schülerschen Gutshauses am Eingang des Dorfes ›Hexengaesecke‹. In das Gespräch, in dessen Verlauf der Kaplan von der jüdischen Herkunft des Nachtwächters erfährt, funkt aus dem Hintergrund ab und zu die Stimme des, ebenfalls jüdischen, Wanderburschen Nathanael Brennnessel29 neckisch hinein. Die Sprache des Nachtwächters ist voller anzüglicher Doppeldeutigkeiten, und während er dem Kaplan von der Familie Schüler erzählt, bei der gerade »der Großvatter Rabbi aus Paderborn […] der Vatter von Madame« zu Besuch ist, erscheint Fanny Schüler am Fenster. Beide Männer blicken immer wieder verstohlen nach oben. Fanny erkennt, laut Regieanweisung gegen Ende der Szene, den Kaplan und »wirft eine Rose über den Garten, die aber im Dorn des Zaunes hängen bleibt. Der Kaplan ergreift sie. Der Nachtwächter bemerkt den Vorgang nicht«. Damit ist der Auftakt gegeben zum romantisch-erotischen Spiel zwischen Fanny und dem Kaplan. Der Nachtwächter nimmt das Erscheinen Fannys (»die Älteste von den Schwestern«) zum Anlass, dem Kaplan von Moritz Schülers »23 Kinder[n]« zu erzählen und sie alle, der Reihe nach, nennen. Zwar klingt das in den Ohren des Kaplans wie »ein schöner Strauß von Namen«, aber von idyllischen Verhältnissen kann, wie der Nachtwächter am Ende der Szene erklärt, kaum die Rede sein, wenn einer ständig und unbändig aus der Reihe tanzt: NACHTWÄCHTER Aber das Fünfzehnte von den Kindern, Unkraut vergeht nicht, der Arthur Aronimus, der will nicht so wie Er gern will. KAPLAN Wie meint er das? NACHTWÄCHTER Der Jung ist doch gestern in einer Papierbuchse aus unserem Käseblättchen geschnitten, auf Prells Esel durch Hexengaesecke geritten und seine beiden Taugenichtse von Schulkameraden, der Willy und der Caspar heißen sie, hinter ihm her, das Faultier anzufeuern. KAPLAN Köstlich! NACHTWÄCHTER Aber den Vater hätten sie resonieren hören müssen, Herr Kaplan, als der verflixte kleine Kerl mit den Annoncen am Allerwertesten nach Hause geschlichen kam.

Der Streich erinnert an Till Eulenspiegels Ritt mit seinem Vater auf dem Pferd, wobei der Vater nicht sieht, dass Till, wenn er vor ihm sitzt, den Leuten die Zunge herausstreckt, und, hinter ihm sitzend, seinen nackten Po zur Schau stellt. Diese Anspielung auf Eulenspiegeleien deutet kaum auf ein biedermeierliches Familienidyll hin. Die Beschreibung des Eselritts am Ende der Szene gehört zur Exposition der dramatischen Struktur. Auf kritische, bedrohliche Situationen im Verlauf des Schauspiels reagiert Arthur mehrmals mit wilden Sprüngen oder Galopp, reißt aus, rennt davon oder ergreift jäh die Flucht. Im 29

Zu der sehr wahrscheinlichen Verbindung dieser Figur mit dem Studenten Nathaniel aus E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann, auf die sich Freud in seinem Aufsatz Das Unheimliche bezieht vgl. Höfert, S. 70 und S. 309.

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dritten Bild erzählt er seinem Großvater: »Wir setzten uns mit Hut und Rock, hühott, zum Postillon auf den Bock!«, worauf dieser ihn und seine Schwester Lenchen mit den Worten »Ihr kleinen Ausreißer!« liebkost. Am Ende des vierten Bildes, nachdem Arthur den Weihnachtsbaum des Kaplans vom Markt in dessen Haus getragen hatte, heißt es: »Arthur Aronymus bläst schrill auf seinem Metallpfeifchen und rennt davon.« Am Ende des sechsten Bildes, nach dem fatalen antisemitischen Satz des Kaplans auf der Weihnachtsfeier, ergreift der tief erschrockene und schmerzlich getroffene Arthur die Flucht in einem doppelten – symbolischen und realen – Akt. Er schwingt sich »jäh aufs Schaukelpferd und reitet unbändig vorwurfsvoll« mit den Worten: »Nun bin ich bald zu Hause angekommen.« Der Kaplan »hebt ihn vom Pferde zu sich empor und küsst ihn auf den Mund. Dann holt er den Wachsengel aus der Krone des Baumes« und sagt: »Für Lenchen, Dein Schwesterchen.« Darauf folgt die Regieanweisung: Arthur Aronymus lächelt müde, er lässt sich apathisch den Engel in die Tasche stecken, und ohne sich auch nur nach seinen Geschenken umzusehen, flieht er aus der Stube, aus dem kleinen Kaplanhaus über den Markt dem Gutshaus zu.

Im vorletzten Bild des Schauspiels inszenieren die Kinder der Familie Schüler im Garten des Gutshauses eine Hexenverbrennung. Arthur spielt die Rolle seiner Schwester Dora, die verbrannt werden soll. Oskar, der Sohn seines ältesten Bruders, spielt den grausamen Mönch. Einmal mehr bewirkt Arthur eigenwillig das Ende der Aufführung mit einem jähen Sprung vom Scheiterhaufen: Arthur Aronymus steht gebeugt auf dem Scheiterhaufen, die Kinder tanzen um ihn. Auf einmal springt er über alle hinweg mit einem Satz, Doras Rock verlierend, den Mönch umreissend, vom Scheiterhaufen herunter – die tobende Schar hinter ihm her. Man kann die Worte nicht mehr verstehen.

Den Höhepunkt dieser sprunghaft-rebellischen Akte der Rettung und Selbstbehauptung bildet die Zerstörung des Baukasten-Doms am Ende des Sederabends im letzten Bild. Nachdem der Bischof während der Sederfeier an seine Gespräche »über tief religiöse Probleme« mit dem »grossen Rabbuni von Rheinland und Westfalen« erinnert, sagt Frau Schüler trauernd: »Und nun ruht mein armer Vater einsam in der Erden.« Dann spricht Arthur »stark, wie aus einem Medium äussert sich aus ihm die Stimme des Rabbis«: »Der Rabbuni ist nicht einsam er ist versammelt mit den Vätern.« Nach dieser – aus dem Mund eines Kindes unerwarteten – biblischen Formulierung, mit der im Buch Genesis der Tod der Erzväter umschrieben wird, sind »alle auf das tiefste erschüttert, selbst der Vater«, und, nach einer »Pause«, heißt es: »Arthur Aronymus, zu sich gekommen, rennt verblüfft aus dem Essraum«. Nach einiger Zeit treten der Kaplan und Arthur Aronymus »wieder in den Essraum, der Kaplan hält einen großen Baukasten unter dem Arm. Arthur Aronymus baut, gedeckt vom Kaplan, einen weiten Dom auf den Boden des Raumes«. Vom Kaplan darauf auf-

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merksam gemacht, bewundert der Bischof »die Großzügigkeit des kindlichen Baus«. Potz Tausend! [...] Wir möchten dem großen Baumeister die Hand drücken. [...] Ich segne das alte Volk! Jedes seiner Kinder versinnbildigt so eine kleine Thora in samtnem Tragkleide, aber eine von den kleinen Thoraim trägt Silberschellen um den Hals. Mich dünkt, er streichelt die Haare Arthur Aronymus’ die ist’s!

Die Anspielung auf die Schellen an Eulenspiegels Narrenkleid ist unverkennbar. Nachdem der Bischof den Jungen umarmt und alle »tief gerührt« sind, springt Arthur »wieder zum Kaplan heran, der feierlich entzückt das kleine Gotteshaus bewundert« und nun erfolgt der entscheidende Akt: »Jäh setzt Arthur Aronymus im Übermut über den Dombau, dass die Klötze nur so herumfliegen.« Aus der Reaktion des Kaplans – »bleich und konsterniert« – und der zweideutigen Bemerkung des Bischofs geht deutlich hervor, dass sie in ihrer liebevollen Zuwendung immer noch darauf bedacht gewesen waren, die Seele dieses jüdischen Kindes für das Christentum zu gewinnen. In diesem Sinn sagt der Bischof zum Kaplan: Nun ist er dir wahrlich entkommen, armes Bernhardchen! Aber tröste dich, mein guter Sohn in Christo, der alte Gott Israels lässt die Seelen seiner Kinder nicht im Stich!

Frau Schülers begütigende, aber eher hilflose Worte (»Und mit ein bisschen Liebe gehts schon, dass Jude und Christ ihr Brot gemeinsam in Eintracht brechen, noch wenn es ungesäuert gereicht wird«), gehen im Lärm von draußen unter und so wird die Sederfeier irgendwo mittendrin stillschweigend abgebrochen. Das ganze Schauspiel endet nun mit den lauten Rufen der Leute aus dem Dorf, die den Bischof sehen wollen, ihm zujubeln, als er auf die Terrasse tritt, und die dann, von der Dorfmusik begleitet, das Lied »Nun danket alle Gott!« singen. Die verstummten Juden bleiben auf der Terrasse des Schülerschen Hauses und nehmen keinen eigentlichen Anteil an diesem Volksfest, das ganz im Zeichen des vorherrschenden, übergreifenden Christentums steht. Die Spannung zwischen Ohnmacht und Macht oder Ohnmacht und Selbstbehauptung kennzeichnet vor allem das Verhalten dreier Figuren: Rabbi Uriel, Herr Schüler und Arthur Aronymus. Entsprechend den verschiedenen Generationen und Positionen, die diese Figuren in der Konstellation des Schauspiels vertreten, äußert sich auch die je unterschiedliche Qualität und Dynamik dieser Spannung. Seiner geistigen, auch kabbalistischen, Autorität wegen wird Rabbi Uriel – Landesrabbiner von Rheinland und Westfalen, Schwiegervater des Herrn Schüler und Großvater von Arthur Aronymus – von Juden und Christen in hohen Ehren gehalten, ähnlich wie Eleasar, der Wunderrabbiner von Barcelona in der nach ihm benannten Erzählung.30 Im zweiten Bild des Schauspiels kommt eine Delegation westfälischer Juden und Christen, vier jüdische Kaufleute und der Rosenkreuzler Kern mit seinem Sohn, zu Rabbi Uriel nach Pa30

KA 4.1, S. 7–17.

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derborn. Sie bitten um seine aktive Intervention zur Verhütung eines Pogroms, der infolge der antisemitischen Hexenhetze auszubrechen droht. Der Rabbi vertröstet seine Besucher, was wiederum an das eher weltfremde Verhalten Eleasars in einer ähnlichen Situation erinnert. Uriel berichtet von seiner Konferenz »mit dem Erzbischof Lavater von Paderborn« und äußert sein Vertrauen in die Aussage des Bischofs, der »der Verirrung seiner Christenheit keine wietere Bedeutung« beilegt. Auf die Bemerkung Kerns, man sage Lavater nach, er sei ein fanatischer Katholik antwortet der Rabbi: »Ein heiterer sympathischer Kirchenfürst ist er auf lichten Wegen.« Als die Kaufleute gegen dieses tatenlose Vertrauen in leere Worte protestieren, erwidert Uriel: »Aus des Kirchenfürsten quellendem Wesen schöpfte ich, Euer Rabbi, Redlichkeit! Euch meine lieben Männer zum Trost.« Eine entscheidende Initiative zur Selbstvergewisserung und Verhütung der Gefahr unternimmt Arthur Aronymus im dritten Bild mit seiner Reise zum Großvater nach Paderborn. Damit wird auch hier eine ähnliche Konstellation wie im Wunderrabbiner inszeniert. Die jüngere Generation (Amram, Pablo, Arthur Aronymus) rebelliert und bricht auf, um neue Wege und Lösungen zu finden, wobei aktuelle Bezüge zu revolutionären Bewegungen wie Sozialismus und Zionismus durchaus plausibel sind.31 Dass Rabbi Uriel am Ende des dritten Bildes stirbt, hat im Verlauf des Schauspiels eine doppelte Funktion. Seinem Tod geht ein Kampf mit Gott voraus, der sich – neben einer gewissen Analogie zum Sterben des Wunderrabbiners – wie eine subversive Variante der Opferung Isaaks liest. Der Rabbi stirbt an Stelle seines Enkels, dessen Tod Gott bestimmt hatte. Wie der Rabbi seinem Diener Ephraim erzählt hat, besuchte ihn der »Todesbote des Herrn«, forderte den Tod seines Lieblingsenkels Arthur Aronymus, worauf Uriel »mit dem greisen Engel in Rätseln den Rest der Nacht« kämpfte. Als Arthur und Lenchen in den Raum treten, ist »der Todesengel für den Rabbi ganz kurz sichtbar« und flüstert ihm »eine seelige Botschaft ins Ohr«. Im Gespräch mit dem Großvater sagt Arthur »sehr drollig«, er sei eigentlich gekommen »weil et so jemütlech bi deck is, wie beem Vatter Abraham«. Gegen Ende des Bildes heißt es dann: Arthur Aronymus bemerkt den Todesengel, den er vorher schon unbewusst beim Spiel hinter dem Stuhl seines Großväterleins erblickte; er reisst sich jäh von der Hand Ephraims los, bleibt gehemmt vor der Tür des Sitzungssaales stehen, mit geöffneten Lippen –

Das Bild endet mit den Worten des Rabbi »Herr Zebaoth hat Seinen Knecht erhört« und dem Regiehinweis »Der Rabbi ist gestorben«. Für den Verlauf der Sederfeier am Ende des Schauspiels ist es ausschlaggebend, dass der Rabbi nur in der Erinnerung präsent ist. Die Ohnmacht der Juden, wie sie etwa im allmählichen Verstummen Herrn Schülers am Sederabend sichtbar wird, hängt auch damit zusammen, dass gerade bei der Anwesenheit des Bischofs, kein 31

Vgl.: Anm. 36.

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ihm ebenbürtiger Vertreter der jüdischen Tradition an der Feier teilnimmt. Das könnte auch ein subtextueller Hinweis auf die mit der fehlenden Autorität und Kenntnis der Tradition verbundene Krise des modernen Judentums sein. Im Hinblick auf die Figur des Arthur Aronymus ist es bedeutsam, dass die göttliche Bestimmung zum Opfer, der er durch den Tod seines Großvaters entgeht, ihn gleichsam mit den Insignien eines Erwählten versieht. Bemerkenswert ist, dass dies während seines ersten Akts der Selbstbehauptung im dritten Bild des Schauspiels geschieht. Einer weiteren Opferung entgeht Arthur Aronymus im elften Bild. Der Kaplan fordert seine Taufe, um damit dem Unheil eines antisemitischen Pogroms vorzubeugen. Die Rolle des Retters übernimmt hier sein Vater, Herr Schüler, dessen einmalig würdevolles Auftreten in dieser Szene einen auffallenden Gegensatz bildet zu seinem sonstigen, eher lächerlich pathetischen und bornierten Verhalten. Zu seiner Antwort auf das Angebot des Kaplans »erhebt sich« Herr Schüler »mit einer Hoheit zum ersten Male wirklich echt menschlich«. Er bedankt sich für den »gutgemeinten Vorschlag«, sieht sich aber durch »folgende Umstände« gezwungen, »denselben mit respektvollem Kompliment von der Hand weisen zu müssen [...]«. Ich wie mein Vater, noch meines hochseligen Vaters hochseliger Vater und dessen Väter Väterväter; noch die Väter meiner Frau Henriettens, meiner Gattin, in Gott ruhenden Vaters, pflegten auf direktem Wege zu Gott zu gelangen und ich sollte Seinem Sohn – meinen noch unmündigen Sohn auf Umwegen zuführen lassen? Der Herr behüte uns vor allem Bösen!

Bezeichnend sind, in der allgemeinen Verwunderung und Hochachtung seitens der anwesenden Familienangehörigen, die Worte Frau Schülers: »Du erinnerst mich diesmal wirklich an meinen gottseligen Vater.« Arthur Aronymus ist sich in beiden Fällen der Gefahr, zum Opfer zu werden, nicht bewusst. Jedoch gewinnt man im Lauf des Schauspiels den Eindruck, als hätte der Anblick des Todesengels, von dessen Zugriff er, im dritten Bild, verschont blieb, den kindlichen Glauben des Jungen insofern verunsichert, dass er zwischen Todes- und Schutzengel kaum mehr unterscheiden kann. Diese Verwirrung manifestiert sich im elften Bild, als Arthur dem Kaplan nach dessen abgewiesenem Taufvorschlag auf dem Flur begegnet und dieser ihm, in einer doch eher trügerischen Vision, als Schutzengel mit weißen Flügeln erscheint. Nach dieser Begegnung fragt der Junge seine Mutter, ob es »zwei Schutzengel der Kinder« gäbe und erklärt ihr, beim »Grossväterlein« hätte »einer mit schwarzen Flügeln« gestanden und »der Bernard eben hatte ganz weisse Flügel«. Herrn Schülers entscheidender Akt der Selbstbehauptung und Rettung steht in einem besonders scharfen Kontrast zum neunten Bild des Schauspiels, in dessen Mittelpunkt er mit erheblichem pathetischem Aufwand der versammelten Familie aus seinem Tagebuch eine eher unglaubwürdige Geschichte vorliest, wie er und sein Bruder als Kinder ihre Eltern aus den Fängen eines übermächtigen Mobs christlicher Antisemiten retteten. Diese Szene wiederum liest sich wie eine Persiflage des souveränen Rettungsaufbruchs von Arthur Aro-

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nymus im dritten Bild, die den Vater im Vergleich zu seinem quasi unerzogenen Sohn als lächerliche, nicht wirklich ernstzunehmende Figur erscheinen lässt. Else Lasker-Schüler setzte sich bis zuletzt mit ihrer, dem Schauspiel Arthur Aronymus zugrunde liegenden, Sicht einer fatalen Kontinuität des latenten und offenen Antisemitismus und seiner unheilvollen Auswirkungen auseinander. Davon zeugen sechs undatierte – jedoch als spät identifizierbare – Texte oder Entwurfsvarianten unter dem Titel Der Antisemitismus in ihrem Nachlass.32 Die kürzeste, wohl früheste Fassung beginnt nach dem Titel mit den Worten: »Gehört zur Erbschaft, eine Eigenschaft, [...] die man erbt. […] Ein Unvermögen, an dem der Erbende – verarmt.« In einer weiteren Version heißt es dann nach dem Titel: Ihn, erachte ich für ein Erbteil vom Vater auf den Sohn. Ein Erbe mit dem der Erbende selten umzugehen weiß. Ja, er bewahrt den ihm zugefallenen unechten Schatz indem er sich nicht etwa bemüht ihn zu bewahren im Safe seines Herzens, doch ihn bei Gelegenheit zu verschwenden, um seine Seele zu verarmen.

In dieser Version spricht sie auch von den negativen Auswirkungen des Antisemitismus auf die Juden: »Ich schreibe ohne Fanatismus oder gar Zorn über die Leiden, die wir Juden durchmachten. Durch die ewigen ungerechten Misshandlungen gibt es ein standgehaltenes Israel aber auch ein Misraël.« Die fünf längeren Versionen des Textes enden alle mit dem, meist missachteten, Gebot des »göttlichen Juden«: »Liebet Euch untereinander«, das der Papst, wie die Dichterin berichtet, bei der Beerdigung eines mit ihr befreundeten Kaplans aus Berlin feierlich aussprach. Das ist keine naive Versöhnungsvision, wohl aber irgendeine Hoffnung, im Sinn des letzten Satzes Walter Benjamins in seinem Aufsatz über Goethes Wahlverwandtschaften: »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.«

32

KA 4.1, S. 493–502, Zitate S. 493–494.

Georg-Michael Schulz

Die »Zahlenmagie des Heiligen Mehrwerts« Nationalismus, Inflation und der Ostjude Kaftan in Walter Mehrings Kaufmann von Berlin

Ein Zug fährt ein… Aus dem Kugelstumpf der Coupélampe filtert durch die blaue Stoffschale ein medizinisches Licht und bestrahlt die in der III. Klasse zusammengepferchten Reisekranken. Manchmal, wenn der Waggon in ein anderes Gleis umspringt, als wenn es ihm aufstöße, torkelt am Fenster ein grauer, fast greiser Mann, ein Mann aus dem Osten, empor aus Träumen, die ihn durch Paßkontrollen, über Zollschranken jagten – grüne Beamte, Jäger halb, halb Taschenspieler, eskamotierten ihm Wodkaflaschen aus dem Langrock, lebende Kaninchen und Bänderschlangen roter Seide […].1

So beginnt Walter Mehrings »historisches Schauspiel aus der deutschen Inflation«, entstanden 1928, uraufgeführt von Erwin Piscator 1929 – ein Drama, das, wie es scheint, alle Rücksichtnahme auf irgendwelche Bühnenbedingungen vermissen lässt. Das Nebeneinander von realen Vorgängen (»Ein Zug fährt ein«) und Trauminhalten (»grüne Beamte, Jäger halb, halb Taschenspieler […]«) lässt an eine filmische Schreibweise denken.2 Das gilt später nicht nur für rein erzählende Passagen (»Kaftan biegt um die Ecke in einen dumpfigen Hohlweg« [75]), sondern auch für allerlei schnelle Szenenwechsel (vgl. etwa 125f.) und für die Integration weitgehend surrealer Momente. Ein Beispiel findet sich in der folgenden Szene: Zu später Stunde »wankt«, betrunken lallend, »Schulter an Schulter, der Bund der Acht« – acht Nationalisten mit Putsch-Plänen – durch die Nacht und erstarrt plötzlich bei dem Anblick der Weisen von Zion, die im Mondlicht einen Reigentanz tanzen und erst vor dem Alten Fritz und seinem Krückstock Reißaus nehmen (vgl. 121f.) – offenkundig die leibhaftige Verkörperung der fixen Ideen, in die der ›Bund der Acht‹ sich zuvor bei einem femegerichtsähnlichen Beisammensein hineingesteigert hat. Man kann angesichts der Hereinnahme derartiger Momente in den Text von 1

2

Walter Mehring: »Der Kaufmann von Berlin. Ein historisches Schauspiel aus der deutschen Inflation«. In: Hans-J. Weitz (Hg. unter Mitwirkung von Michael Assmann): Drei jüdische Dramen. Hermann Ungar, Der rote General. Walter Mehring, Der Kaufmann von Berlin. Paul Kornfeld, Jud Süß. Mit Dokumenten zur Rezeption. Göttingen 1995, S. 65–176 und S. 67. (Zitatnachweise im Folgenden in Klammern im Text.) Der Text findet sich auch in: Walter Mehring: Die höllische Komödie. Drei Dramen. Hg. von Christoph Buchwald. Düsseldorf 1979, S. 135–272. Und in: Günther Rühle (Hg.): Zeit und Theater, Bd. IV: 1925–1933. Von der Republik zur Diktatur. Frankfurt a. M. 1972, S. 387–487. Vgl.: Joachim Paech: Literatur und Film. Stuttgart 1988, S. 122–150.

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»Mehrings Episierung des Dramas« sprechen und die Frage aufwerfen, inwieweit diese »mit Piscators Episierung des Theaters (wirklich) übereinkommt«,3 man kann auch meinen, dass der Text nicht »für das Theater konzipiert« zu sein scheint, sondern eher wie eine »panoramahafte szenische Komposition« wirkt,4 man mag sich sogar fragen, ob hier nicht ein ursprünglich epischer Text in der Verdichtung der dialogischen Elemente eine Konzentration und Intensivierung erfährt, die ihn über weite Strecken hin zum Drama werden lässt, so dass erst hernach die Frage entsteht, wie denn die verbliebenen epischen Elemente zu beurteilen sind. In jedem Fall orientiert der teils dramatische, teils epische Text sich offenbar an Erwin Piscators Bemühungen um eine mit technischen Hilfsmitteln (Filmeinspielungen und Textprojektionen) erweiterte künstlerische Gestaltung wie bereits 1927 in der Inszenierung von Ernst Tollers Hoppla, wir leben!, einer Inszenierung, die überdies mittels einer Etagenbühne (drei Stockwerke übereinander mit mehreren Räumen in jedem Stockwerk) die erwähnten schnellen Szenenwechsel ermöglicht. Wie Tollers Hoppla, wir leben!, dessen Titel übrigens einem Chanson Mehrings5 entstammt und das mit einem »Gruß an Erwin Piscator und Walter Mehring« beginnt, wird, wie erwähnt, hernach, 1929, auch Der Kaufmann von Berlin von Piscator auf die Bühne gebracht.6 Die erzählenden Passagen (wie die oben nur teilweise zitierte Eingangspassage) sind somit Angebote an Piscator, nämlich Angebote für filmische Umsetzungen und Textprojektionen. Aber sie gehen wohl zugleich über das in eine Inszenierung Integrierbare hinaus, indem sie nicht einfach erzählen, sondern auch noch den Stil wechseln und sich mitunter den Anschein rein historiographischer Erläuterungen geben – etwa in Ausführungen zur Geschichte des Berliner Judentums (vgl. 70) oder zur Geschichte der Stadt Potsdam (vgl. 109f.) oder als kulturgeschichtlicher Kommentar zum Berliner Scheunenviertel und zur Grenadierstraße (vgl. 84f.). Überdies gehen sie dann doch wieder in die gegenwartsbezogene und nicht selten ironisch getönte Erzählung über, oder sie karikieren den historiographischen Gestus durch die seriös wirkende Biographie einer erfundenen Figur, nämlich des reichen und mächtigen Anton Eisenberg (vgl. 99).

3

4 5 6

Hans-Peter Bayerdörfer: »Shylock in Berlin. Walter Mehring und das Judenporträt im Zeitstück der Weimarer Republik«. In: Hans Otto Horch/Horst Denkler (Hg.): Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom Ersten Weltkrieg bis 1933/1938. Tübingen 1993, S. 312, Anm. 9. Rühle: Kommentar. In: Ders., S. 803. Walter Mehring: Hoppla! Wir leben! In: Ders.: Chronik der Lustbarkeiten. Die Gedichte, Lieder und Chansons 1918–1933. Düsseldorf 1981, S. 291–295. Vgl. dazu: Piscators eigenen Bericht: Erwin Piscator: »Das Politische Theater«. In: Zeittheater. ›Das Politische Theater‹ und weitere Schriften von 1915 bis 1966. Ausgew. und bearb. von Manfred Brauneck und Peter Stertz. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 226–235.

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Es ist wohl diese Vielfalt der Gestaltungsmittel,7 die Mehrings Drama auch heute noch für einen Leser als außerordentlich fesselnd erscheinen lässt, auch wenn die bloße Lektüre keinen Eindruck von der bei der Uraufführungsinszenierung von Laszlo Moholy-Nagy gestalteten Bühne8 und von der Musik Hanns Eislers zu vermitteln vermag.9 Der Kaufmann von Berlin liefert die »stärkste Darstellung Berlins im deutschen Drama«10 nicht zuletzt aufgrund eines ungeheuer facettenreichen, lebhaften und vielfach treffend satirischen Panoramas verschiedenster Themen und Motive – schon ganz unabhängig von den Aspekten des jüdischen Lebens, auf die ich noch zu sprechen komme. Es geht immer wieder um Geldfragen und Inflation, selbst der Würstchenverkäufer ist Geldwechsler und spricht von seinem »Bankhaus« (75), und die Straße unter freiem Himmel ist der Standort der Börse (vgl. 79). Das Thema Armut und Not gewinnt Prägnanz, wenn vor einer Bäckerei hungrige Frauen und Kinder Schlange stehen (vgl. 77). Unterschiedliche politische Haltungen und weltanschauliche Positionen werden präsentiert; zum Beispiel kommen neben dem schon erwähnten nationalistischen ›Bund der Acht‹ auch Soldaten eines Wehrverbands (»Werwolf«) vor mit ganz verschiedenen Lebenshintergründen: der »Martialische«, der »Biderbe«, »Ein Dritter, bebrilltes, piepsiges Jungchen«, »der Verbiesterte« (115f.) – Letzterer übrigens als eine Verkörperung der politischen Orientierungslosigkeit: Da der Sold ausbleibt, droht er: »Ick jeh zu die Roten ieba!« (116) Neben »Vertreterinnen der Potsdamer Gesellschaft« (114) erlebt man sensationsgierige Presseleute (vgl. 125–127); Prostitution (vgl. 74) und Gelegenheitsprostitution aufgrund der Not (vgl. 131) kommen zur Sprache, Bettler begegnen, auch unechte (vgl. 131) und vieles mehr. Prägnanz gewinnt die Vielfalt gleich eingangs in den Angeboten, auf die der Neuankömmling Kaftan trifft, nämlich »Nackttänze«, »Brotkarten« und »Ausweispapiere« (»Schulze, Wilhelm, Berlin, garantiert im Felde jefallen!«) (73f.). Und nicht zuletzt gehören dazu auch die kulturellen Ereignisse (zum Beispiel Kino und Theater) mit dem entsprechenden small talk: »Waren Sie schon bei Schlagende Wetter? Kein Reißer! Aber ein tiefer Einblick in das Leben und Treiben unserer Bergleute. Eher ein Kammerspielfilm. Mit sehr kinowirksamen Effekten...« (82). »B.Z. am Mittag! [...] Hier steht’s schon: Das Pogromstück im Renaissancetheater[.] ›Stark im Milieuhaften...‹« (83). Übrigens leidet die Konsistenz des Dramas unter der Vielfalt der Themen und Motive nicht, eben weil diese erkennbar wiederkehren und so für Zusam7 8

9 10

Auf die integrierten Lieder bezieht sich besonders: Frank Hellberg: Walter Mehring. Schriftsteller zwischen Kabarett und Avantgarde. Bonn 1983, S. 156–166. Eine »Bühne, die die früheren an technischer Phantasie noch übertraf«: zwei Laufbänder, auf die Drehscheibe gesetzt, dazu drei bewegliche Brücken in unterschiedlicher Höhe. Friedrich Wolfgang Knellessen: Agitation auf der Bühne. Das politische Theater der Weimarer Republik. Emsdetten 1970, S. 163. Ein Theaterzettel mit den entsprechenden Angaben ist wiedergegeben in: Eike Geisel: Im Scheunenviertel. Bilder, Texte und Dokumente. Berlin 1982, S. 66. Rühle, S. 803.

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menhalt sorgen und weil einzelne zusammengehörende Momente der Handlung auf das ganze Drama – so der Jüterbog-Komplex – oder auf eine längere Strecke verteilt sind und sich dabei aufeinander beziehen. Letzteres gilt zum Beispiel für »Fünf graue Weiberchen« (132) aus Kaftans Heimatgemeinde, die am Anfang des dritten Teils auftauchen und Anspruch auf die hundert Dollar, mit denen Kaftan nach Berlin gekommen ist, erheben. Einige Zeit später bittet Jessi, Kaftans Tochter, ihren Vater ohne Begründung um hundert Dollar (vgl. 137). Und er fragt sie seinerseits erst wiederum später, wem sie das Geld gegeben habe, und erfährt, dass jene Frauen es bekommen haben (vgl. 148), womit denn im Übrigen ein mögliches Unrecht durch Jessis Eingreifen verhindert worden ist. Mehrings Kaufmann von Berlin hat zwar bei seiner Uraufführung einen der größten Theaterskandale der Weimarer Republik ausgelöst, vor allem durch eine (gegen den sinnlosen Tod im Krieg und gegen den wiederauflebenden Militarismus gerichtete) Straßenkehrer-Szene, in der der Leichnam eines Soldaten weggefegt wird, was von der Kritik zum Teil als Verhöhnung der Kriegstoten ausgelegt wurde.11 In der Forschung hat das Stück dennoch erstaunlich wenig Interesse gefunden.12 Bemerkenswert ist hier vor allem der Beitrag Shylock in Berlin von Hans-Peter Bayerdörfer, der zu den inhaltlichen und dramaturgischformalen Konzepten des Stücks ebenso wie zu dem zeitgeschichtlichen und dem dramen- und theatergeschichtlichen Kontext bereits das Wesentliche gesagt hat. Bayerdörfer hebt hervor, dass Mehring in dem Nebeneinander zweier unterschiedlicher Milieus, also des jüdischen Scheunenviertels und der Börsenszene – »Galizien grenzt an Berlin«, heißt es bei Mehring (84) –, zugleich das Nacheinander zweier Stufen der Assimilation vergegenwärtigt, nämlich das »Ghetto-Judentum des 18. Jahrhunderts« und das »assimilierte Geschäftsjudentum« in den zwanziger Jahren,13 während, bezogen auf diese zwanziger Jahre, der militaristische Nationalismus, hier eben vertreten durch den ›Bund der Acht‹, eine Gegenwelt sowohl zum »Berliner Assimilationsmilieu« als auch zum Scheunenviertel bildet.14 Hinsichtlich des dramen- und theatergeschichtlichen Kontexts verweist Bayerdörfer auf die »Politisierung der Bühne in den zwanziger Jahren und die Zunahme politisch engagierter Zeitstücke, zumal solcher, die »geschichtlich argumentieren«, seit der Mitte des Jahr11

12

13 14

Vgl.: die Rezensionen (leider mit Auslassungen) in Weitz, S. 297–357. Vgl. auch: Günther Rühle (Hg.): Theater für die Republik im Spiegel der Kritik, Bd. 2. Berlin 1988, S. 961–968. Zu dem Unmut, der sich angesichts dieser Szene artikulierte, mag auch anderes beigetragen haben, etwa die Schwerverständlichkeit des Jiddischen oder die schlecht funktionierende Bühnenmaschinerie. Vgl.: Weitz: Vorbemerkungen, S. 17. In dem Mehring gewidmeten Heft von Text und Kritik. H. 78, München 1983, kommt Der Kaufmann von Berlin nur in der Werkchronik und der Bibliographie vor. Bayerdörfer, S. 315. Ebd., S. 316.

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zehnts.15 Er betont dabei auch die unterschiedlichen Intentionen Piscators, dem – mit Bezug auf die Inflation – an einem »materialistischen Lehrstück über kapitalistische Ökonomie« gelegen ist, und Mehrings, dem es viel eher »um das Verhältnis von deutschem Nationalismus und jüdischer Minorität« geht.16 Mit Blick auf die letzten Jahre der Weimarer Republik und im Rückbezug auf das Pogrom im Scheunenviertel im Spätherbst 1923 deutet Bayerdörfer den Kaufmann von Berlin schließlich als ein »Zeitstück mit umfassender Bestandsaufnahme der deutsch-jüdischen Geschichte und mit vehementer Warnung für die Gegenwart«.17 Angesichts dieses treffenden Befundes versuche ich mich im Folgenden vermehrt den jüdischen Figuren zuzuwenden. Im Zentrum des Stücks steht der Ostjude Kaftan, der im Besitz von hundert Dollar in der Zeit der Inflation nach Berlin gelangt, reich und mächtig wird und mit dem Ende der Inflation alles wieder verliert. Nur scheinbar Unterstützung hat Kaftan bei dem Rechtsanwalt Müller gefunden, der zuerst noch für den reichen Kriegsgewinnler Eisenberg arbeitet, sich dann aber Kaftan anschließt, als dieser Eisenberg überrundet hat, und der in Wahrheit seine eigenen Zwecke verfolgt – auf Seiten »des germanischen Volkes« im »Kampf gegen Juda« (120). Er gehört nämlich zu dem schon mehrfach erwähnten nationalistischen ›Bund der Acht‹, der, einen vertrottelten und verarmten General an der Spitze, Putschpläne hegt und in einem militärischen Schrottlager bei Jüterbog geheime Waffendepots angelegt hat. Für den Sold der insgeheim ebenfalls dort übenden Freikorpsverbände sorgt Müller, indem er erst Eisenberg, dann Kaftan für seine Zwecke einspannt und sie beide hintergeht, um am Ende sich dem neuen Sieger, Cohn, anzuschließen. Inzwischen ist der Putsch gescheitert, es ist zu einem Pogrom im Scheunenviertel gekommen, und Kaftans lungenkranke Tochter Jessi, das Ein und Alles ihres Vaters, ist gestorben. Am Ende tritt dem zum Bettler Gewordenen am Bahnhof Alexanderplatz »jemand entgegen – ein Kaftan – ein anderer Kaftan – ihm gleich« (172), und während dieser »neue Kaftan« stadteinwärts wandert – und dabei »das Chad Gadjo«, »das Pessachlied« (109) weiter singt, das Kaftan, der alte, seinerzeit nicht zu Ende geführt hat –, »streckt« der alte Kaftan, einen bettelnden »Kriegskrüppel« neben sich nachahmend, »eine Bettlerhand aus« (173). Simon Chajim Kaftan »sollte ein Gleichnis sein«, so Mehring,18 mithin jedenfalls kein unverwechselbares Individuum, sondern eine eher typisierte Figur. Ihm sind hundert Dollar anvertraut worden, aus denen er mehr machen soll, denn er kennt sich mit den Wechselkursen aus (vgl. 75), und er ist ein gewiefter Händler (vgl. etwa 95), nachdem er im Ersten Weltkrieg mit deut15 16 17 18

Ebd., S. 307f. Ebd., S. 314. Ebd., S. 321. Walter Mehring: »Was ist Leichenschändung?«. In: Das Tage-Buch 10 (1929), Bd. 2, H. 37 (14.9.1929), S. 1524–1527. Zit. nach: Weitz, S. 311–315 und S. 314.

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schen Militärs um Petroleum gehandelt hat (vgl. 76). Er akzeptiert es, sich »akklimatisieren« zu müssen, sei es hinsichtlich seiner Kleidung (103), sei es hinsichtlich seiner »Kaftangebräuche« (109). Wenngleich er als Geschäftsmann zweifellos Ehrgeiz zeigt und sich zum Beispiel bewusst vornimmt, den noch tonangebenden Eisenberg alsbald zu übertreffen (vgl. 104), scheinen es ursprünglich doch die teuren Sanatoriumsaufenthalte seiner kranken Tochter Jessi zu sein, die ihn antreiben, möglichst viel Geld zu verdienen (vgl. 88). In seiner abgöttischen Liebe zu Jessi – »schmal und überzart, transparente Haut, goldroter Bubikopf und große dunkle Augen« (136) – gewinnt er denn auch einen individuelleren Zug. Mehring hat dieses Motiv der kranken Tochter zwar selbst als »kitschig« bezeichnet, aber hinzugefügt: »Menschlich ist es, daß er (= Kaftan) sein Handeln und Wandeln damit motiviert.«19 Später heißt es dann im Stück von Kaftan: »Men sogt, er ist geworden ein harter Jid!« (133), aber diese Behauptung wird weder ausdrücklich bestätigt noch ausdrücklich widerlegt. Tatsächlich sichtbar wird eine solche Härte eigentlich nicht. Kaftan ist zweifellos überaus geschäftstüchtig und vielleicht auch gerissen. Aber seine Liebe zu Jessi macht ihn sogar noch als Geschäftsmann manipulierbar: Es gelingt Müller ihn durch Hinweise auf Jessi so zu überrumpeln, dass er trotz seiner Abneigung gegen das Militär – er schreibt Jessis Lungenkrankheit der Flucht »bei Eiseskälte« (123) vor den Soldaten zu –, dass er also gegen seinen eigentlichen Willen das Jüterboger Schrottlager, mithin ausgediente Waffen, kauft (vgl. 122) und den baldigen vorteilhaften Weiterverkauf, an dem ihm sehr gelegen ist (vgl. 135–138), unterlässt, weil Müller ihn hinhält und ihm suggeriert, die Inflation werde immer weitergehen (vgl. 140), und ihn so zum Schuldenmachen veranlasst. Kaftan gewinnt jedenfalls in der Bewertung durch den Leser und Zuschauer nicht zuletzt dadurch, dass er sich von dem durch und durch zynischen Rechtsanwalt Müller abhebt, der kaltblütig die Seiten wechselt und Menschen nur als Mittel für seine Zwecke sieht. Man kann nicht umhin zu registrieren, dass Mehring durch den Titel Der Kaufmann von Berlin eine Beziehung zu Shakespeares The Merchant of Venice hergestellt hat, wobei er allerdings seinen Protagonisten, Kaftan, in eine Vergleichsbeziehung nicht mit dem Protagonisten bei Shakespeare, Antonio, bringt, sondern mit dessen Antagonisten, Shylock, dessen Name – ironischerweise – sogar in Mehrings Stück selbst fällt, nämlich im Gespräch mehrerer Figuren über eine Shakespeare-Inszenierung (vgl. 150). Bezogen auf Fritz Kortners Darstellung des Shylock aus dem Jahr 1927 (in einer Inszenierung Jürgen Fehlings) hat Bayerdörfer Kortner selbst zitiert: »Ich […] brannte darauf, ein Shylock zu sein, der, von der christlichen Umwelt unmenschlich behandelt, in Unmenschlichkeit ausartet.«20 Ähnlich hat sich Mehring über Kaftan geäußert: »Wer in ein schuldhaftes System gerät, wird mitschuldig. […] 19 20

Ebd., S. 313. Fritz Kortner: Aller Tage Abend. München 1959, S. 379. Zit. nach: Bayerdörfer, S. 313.

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Wer an der Inflation verdient, muß zum Schieber werden. […] Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet!«21 In diesem Sinne reagiert Kaftan – nicht anders als Eisenberg und Cohn – im Grunde lediglich auf die Verführungen durch die Inflation, so dass er selbst dann noch, wenn er Züge von Größenwahn zeigt, zugleich ein wenig naiv wirkt: »Far einen Dollar koif ich ganz Berlin« (135). Im Übrigen – dies als ein ironisch-beiläufiger Hinweis Mehrings – menschlich-allzumenschlich auf den eigenen Vorteil bedacht, wenngleich in schlichteren Dimensionen, verhielt sich im Grunde auch schon 250 Jahre zuvor »Aaron, der Hofjude des Kurfürsten Friedrich Wilhelm«, als er 1671 in Berlin gegen die Aufnahme neu zugezogener Juden protestierte (vgl. 70). Überdies liefert Mehring trotz des Dramentitels Der Kaufmann von Berlin ein ganzes Spektrum an jüdischen Figuren. Neben Kaftan gibt es eben auch Eisenberg und Cohn, die alle drei sich offenkundig nicht so sehr durch ihre Charaktere unterscheiden, sondern durch ihre graduell größere oder geringere Geschicklichkeit und durch die Glückszufälle, die ihnen zum Vorteil gereichen oder eben versagt bleiben. Neben dem Ostjuden Kaftan, der jiddisch spricht, gibt es als Nebenfigur den assimilierten Juden, der sich als »deutscher Staatsbürger« fühlt und mit den Worten »Das verbitte ich mir!« reagiert, als mehrere »Hakenkreuzler, mit Ellbogen rudernd«, skandieren: »Juden raus! Juden raus!« (83) Als wolle er die übertriebene Assimilation karikieren, erfindet Mehring sogar einen »Verein deutschvölkischer Juden«, dem »die Wahrung nationaler Belange zur Respektierung des Eigentums und des Glaubensbekenntnisses« (135) am Herzen liegt.22 Am anderen Ende des Spektrums finden sich die Gestalten, die im »Bismedresch«, im Lehrhaus für den Talmud,23 im Scheunenviertel zusammenkommen: »Auf harten Bänken längs der Wände hat sich eine schwarze Kruste greiser Männer abgesetzt; besudelt sind ihre Mäntel, zerschabt die Filzhüte, zerfressen die Pelze, aber verklärt die Antlitze, tiefgeätzt von Weisheit, Mißtrauen, ›chochme‹ [= Weisheit, Wissenschaft]« (85). Unter ihnen ist dann auch »der Stadtmeschuggene« (85), der, düster »monologisierend« (86) Pogrome prophezeit. Und unter ihnen ist auch eine Gruppe »Alteingesessener«, die im Hinblick auf die deutsche Umwelt in sich noch einmal gespalten ist. Die einen setzen eher auf den Integrationserfolg und meinen, es gebe in Berlin »einfluß21 22

23

Mehring: Was ist Leichenschändung?. Zit. nach: Weitz, S. 313. »Deutschvölkisch« war der durch und durch antisemitische ›Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund‹, der 1922 zweihunderttausend Mitglieder hatte. Möglicherweise ist Mehrings »Verein deutschvölkischer Juden« eine Anspielung auf den ›Verband nationaldeutscher Juden‹, bei dessen Mitgliedern ein übersteigertes Nationalgefühl zu registrieren war und der diejenigen Juden zu sammeln suchte, die »sich mit deutschem Wesen und deutscher Kultur so unauflöslich verwachsen fühlen, daß sie nicht anders als deutsch empfinden und denken können«. Zit. (mit Auflösung der Abkürzungen) nach: Julius G. Schoeps (Hg.): Neues Lexikon des Judentums. München 1992, S. 462. Die Übersetzung jiddischer Ausdrücke nach dem Glossar in: Weitz, S. 177–188.

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reiche Jidn«, es habe ja sogar bereits einen »jiddischen Minister« (87) gegeben – Walther Rathenau, der im Vorspiel mit einer Äußerung über die Ostjuden als »asiatische Horde auf märkischem Sande« (70) zitiert wird –, die anderen beschimpfen die assimilierten deutschen Juden als »Jahudim«: »Die datschen Jidn? Die datschen Jidn? Die Jahudim? Noch ärger fun [hier: als] die gojim [= Nichtjuden]! Die ersten die uns treibn arois [= vertreiben]!« (87) In diesem Sinne nimmt übrigens der Stadtmeschuggene in seine wiederholte Warnung: »Hit sich far Fremde!«, Hüte dich vor Fremden! (87), auch noch die assimilierten Juden mit auf: »Hit sich far die Jahudim! Dos sennen fremde Jahudim!« (87) Auch was die Geschäftspraktiken betrifft, gibt es Unterschiede unter den »Alteingesessenen«, wie der folgende Disput, beginnend mit der Empfehlung, zeigt: – Nor nit varkoifn! Izt is besser haltn dem Dollar! – Bistu a Nowe [= Prophet]? Weißt Du, wos wird sein morgen? – Chammer [= Dummkopf], kuck doch herein in die Zeitung! – Lo mich ze ruh mit deine Zeitungen! Dos is gut far die Jidn am Kurfürstendamm! (86)

Selbst das Kriterium ›Zeitungslektüre‹ trennt somit noch innerhalb der Alteingesessenen zwischen denen, die sich für die Börsenkurse interessieren und die somit den assimilierten Juden relativ näher stehen, und denen, bei denen das nicht der Fall ist. Es bleibt offen, ob den unterschiedlichen Graden der Assimilation in dieser »Gruppe Alteingesessener« (86) auch Unterschiede in der religiösen Haltung entsprechen. Mehring hat im Ganzen der Frage der Religiosität nicht sehr viel Gewicht beigelegt. Er lässt seinen Protagonisten immerhin als mit Maßen gläubig erscheinen: In einer Szene im dritten Teil ist Kaftan, »mit Thefillim und Thallis [= Gebetsriemen und Gebetsmantel], versunken ins Morgengebet« (134), und am Anfang des Stücks überlässt er sich ausdrücklich dem Willen Gottes: »Soll … der … Oiberschter … lenkn … maine … Fieß!« (73), um sich dann dennoch später im »Bismedresch« heimlich hinauszustehlen, als die Andacht beginnt – was der Autor offenbar eher schmunzelnd als kritisch geschehen lässt. Für Kaftan – dies ein mehr angedeutetes als ausgeführtes Motiv – ist Berlin offenbar ein Pflaster, auf dem das Geld eine quasi-religiöse Weihe besitzt, und er scheint bereit, sich darauf einzustellen. Er fragt sich eingangs: Is nit gerod zeit, Thefillim zu legn [= anzulegen]? … Do [in Berlin] frägt man nit: wu is Misrach [= Osten als Gebetsrichtung]! do steht men gewendt zum Dollar! – – do broicht men nit zu lernen a pschat fun der Gemore [die Bedeutung einer Bibelstelle nach der Gemara (Talmud)], ober men muß varstehn zu vartaitschen un derklärn die Kursen und Aktien! do gloibt men nit in die Geschichtn fun die Chassidim, ober mit ein Dollar konn men varrichtn a wunder wie der Bal-schem [Begründer des Chassidismus] allein! (73)

In einer Bühnenanweisung zur (freien) Börse im Scheunenviertel wird dieses Motiv – ironisch – noch einmal aufgenommen:

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[...] während die Kohorten der Börseaner, in panischer Flucht vor der Mark, hinter fremden Devisen Deckung suchen, steigen vom Allerheiligsten der Börse Tips und Informationen zum Himmel, wundergläubig, daß Ware sich wandle in Geld, bis die irdischen Güter im mystischen Kulte von Nachfrage und Angebot sich entmaterialisieren in der Zahlenmagie des Heiligen Mehrwerts... (79)

Was das Leben von Juden in Deutschland betrifft, so erfährt man durch das ganze Stück durchgehend von der Allgegenwart des Antisemitismus. Das beginnt schon vor dem ersten Teil im Vorspiel (»Ein Zug fährt ein...«), in dem von mehreren Zugreisenden über die wirtschaftlichen Verhältnisse geklagt wird und in dem regelmäßig die Frage auftaucht: »Und wer is schuld daran?« Die Antwort lautet: »Die Juden! Die Juden!« (68f.) Der Antisemitismus hat seine Voraussetzungen in der Fremdenfurcht und Fremdenfeindlichkeit: – Dolle Erscheinung! Irgend so’n russischer Pope? – Ach! Bloß ’n galizischer Jude! [...] – Mutti, sieh ma den schwarzen Mann! – Nich anfassen, Bubi! Das is bähbäh! (83)

Auch das versteckte Ressentiment kann den Antisemitismus transportieren, so wenn ein »leicht angeschabter Hochgebildeter«, ein mittelloser »Herr Doktor«, über »die fremdrassigen Elemente [...] als Nutznießer der herrschenden Not« doziert (81). Um offene Gewaltandrohung handelt es sich demgegenüber, als Kaftan Dollar für Brot bieten will und die Schlange stehenden Frauen wütend losschreien: »Wat denn?!! Unsa Brot? [...] Der Jude? [...] Schlacht ihn dot!« (79) Der Antisemitismus ist auch in allen Schichten zu Hause: Nicht in einer emotionalen Gewaltandrohung, wie bei den eben erwähnten Frauen auf der Straße, sondern in wissenschaftlich verbrämter Manier kommt er zum Vorschein, wenn ein dem Bunde der Acht angehörender »Magister« als Ideologe agiert und, scheinbar gestützt auf Dokumente, »die jüdische Internationale und die Sieben Weisen von Zion« anklagt, »nach der Weltherrschaft zu trachten« (119). Dem entspricht die Vorstellung einer »Agitation der jüdischen Weltverschwörer« (115f.), auf die dann ein oben bereits erwähntes »bebrilltes, piepsiges Jungchen« aus dem »Werwolf« fixiert ist. In dem eben zitierten Begriff der (jüdischen) Internationale deutet sich die Neigung an, die tendenziell rassistische Aversion gegen die Juden und die politische Aversion gegen linke Positionen miteinander zu vermengen. Das begegnet schon im Vorspiel: »Diese Krummneesen! Drängeln sich hier ein ... mit Kind und Kejel ... schachern und wuchern ... hetzen die Proleten auf ... saugen uns aus ...« (69). Nicht zuletzt die »Hakenkreuzler« setzen Judentum und demokratische Verfassung der Weimarer Republik einander gleich: Darum nieder, nieder mit der Judenrepublik, Pfui Schieberrepublik! Pfui Judenrepublik! ... (84)

Und selbst noch die von dem betrunkenen ›Bund der Acht‹ imaginierten Weisen von Zion erklären »psalmodierend«: »Wir hobn erwählt den roten Messias

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zu entfachen eine Revolut-zion«, wozu dann der Reim passt: »Zion! Zion!« (121) In diesem Zusammenhang lässt Mehring dann auch noch eine Stimme zu, die die politisch rechts-orientierte Gesinnung nicht nur gegen die Juden, sondern auch gegen die Christen gerichtet sieht: Ein »zerfasertes Männchen«, das den Müll durchwühlt, räsoniert vor sich hin: »Iebahaupt, der [= der liebe Jott] sollte ma ’ne Neiausjabe vons Testamente machen; die wirdnse jleich vabietn wie die Rote Fahne. Christus war ooch’n Roter! Christus war Jude« (77). Der Antisemitismus als eine alltägliche Erfahrungstatsache der Juden verdichtet sich schließlich zu der tatsächlich allgegenwärtigen Angst vor einem Pogrom. Von Pogromen ist ständig die Rede. Im Bismedresch wird von einem Pogrom in Lemberg erzählt (vgl. 87), Kaftan erzählt von Pogromen in Polen auch in vergangenen Zeiten: »[...] kein ruhigen Tag gedenk ich nicht [= ich erinnere mich an keinen ruhigen Tag], nicht Voter, nicht Sejde [= Großvater]!« (153), und selbst wenn es nur um ein »Pogromstück im Renaissancetheater« (83) geht, bleibt das Thema, wenngleich ironisch gebrochen, auf der Tagesordnung. Gegen Ende trägt Jessi ein Lied vor: »Etwas aus meiner Heimat! Ein Pogromlied!« (152). Und als hernach verharmlosend berichtet wird: »In der Grenadierstraße ham sie e bißchen geplündert« (157), fragt Jessi zu Recht: »A Pogrom?« (158), nachdem sie zuvor schon bei der auf den Putsch bezogenen Mitteilung: »Das Waffenlager marschiert gegen Berlin!« (152) ebenfalls gefragt hat: »A Pogrom?« (153) Sie, entschiedener als ihr Vater, hat schon vorher befürchtet, dass der Handel mit dem Militär in einem Pogrom endet. An Müller gewendet, fragt sie, die vorher von ihm gelieferten Stichworte aufnehmend: »Wohin treiben Sie meinen Vater? Offiziere und Soldaten und Munition ... das endet bei Krieg und bei Pogrom.« (138) Jessis Angst, dass Kaftan selbst die Ursache für »Krieg und Pogrom« werden könnte, erweist sich als übertrieben. Es wird nicht ganz klar, ob der Putsch (gegen die Regierung) und das Pogrom (im Scheunenviertel) nur gleichzeitig stattfinden oder ursächlich miteinander verbunden sind.24 Aber sie gehören in jedem Fall ideologisch zusammen. Im ›Bund der Acht‹ bilden bezeichnenderweise reaktionär-kaisertreue, militaristische, germanophile und antisemitische Neigungen ein buntes, aber unfröhliches Gemenge (vgl. 118f.). Die Wiederkehr des Anfangs am Ende zeigt: Es hat sich nichts geändert. Angesichts der fortdauernden berechtigten Pogrom-Angst sieht Bayerdörfer in Mehrings Stück sogar eine »bilderstürmerische Komponente im Verhältnis zum deutschen Bildungstheater«, anknüpfend nämlich an die Tatsache, dass die Figur des Shakespeareschen Shylock, die seit hundertfünfzig Jahren zur

24

In Mehrings Artikel im Tage-Buch heißt es: »Das Schrottlager marschiert gegen Berlin. Ausschreitungen der Hakenkreuzler bringen die ersten Toten und zerstören das Ghetto der Grenadierstraße. Der Putsch selbst [...] bricht zusammen.« Zit. nach: Weitz, S. 314.

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»Bildungs- und Kunsttradition« gehört,25 eine Entsprechung in Mehrings Kaftan finden kann, ohne dass Assimilation und Akkulturation die Lage des deutschen Judentums prinzipiell verändert haben. In der Tat: »Mehring gab sich über den Grad der Gefährdung von Liberalität und Menschenrechten keinen Illusionen hin.«26 In seinem »Werk lassen sich um 1930 zunehmend Züge von Resignation feststellen. [...] Der Glaube an die Kraft der Vernunft scheint verlorengegangen zu sein«.27

25 26

27

Bayerdörfer, S. 320. Georg Schirmers: »Walter Mehring. Anmerkungen zu Leben und Werk«. In: Dichter im Exil – Walter Mehring 1896–1981. Eine Ausstellung der Universitätsbibliotheken Wuppertal und Hagen. o.O. o.J., S. 16. Ebd., S. 20.

Karin Kowalke

Drei ›unjüdisch-jüdische‹ Künstler Kurt Weills und Franz Werfels Bibelspiel The Eternal Road in der Inszenierung Max Reinhardts in New York

»Wir wollen uns erinnern …« In seiner Autobiographie prägte der US-amerikanische Zionist Meyer W. Weisgal das Oxymoron von der »unjüdisch-jüdischen« Künstlertroika Reinhardt, Werfel und Weill. Beim ersten gemeinsamen Treffen der drei Protagonisten auf Schloss Leopoldskron bei Salzburg im August 1934 formulierte er seinen Eindruck so: Drei der bekanntesten unjüdisch-jüdischen Künstler, versammelt in der früheren Residenz des Erzbischofs von Salzburg in Sichtweite von Berchtesgaden, Hitlers Landsitz jenseits der bayerischen Grenze, verpflichteten sich, der Rolle des Volkes, das sie bis zu Hitlers Machtergreifung vergessen hatten, dramatischen Ausdruck zu geben.1

Als einer der bedeutendsten Regisseure seiner Zeit, dessen Theaterarbeit tief in der abendländischen Kultur verwurzelt war, hatte Reinhardt sein Jüdischsein als private und für seine künstlerische Arbeit irrelevante Angelegenheit betrachtet. Gottfried Reinhardt schrieb über die Haltung seines Vaters: »nie [habe Reinhardt] ein Hehl aus seinem Judentum gemacht, aber er nahm es auch nicht so wichtig«.2 Erst die Nationalsozialisten machten seine jüdische Herkunft zum Gegenstand öffentlichen Interesses. Ähnlich erging es Franz Werfel und Kurt Weill. Als Sohn des Kantors der neuen Dessauer Synagoge hatte Weill eine strenge jüdische Erziehung genossen. Im Laufe der Zeit vollzog sich jedoch eine zunehmende Entfremdung vom Glauben seiner Kindheit. Werfel entstammte einer Prager Familie, die zwar nicht orthodox, aber dennoch der jüdischen Tradition verhaftet war. Wie Reinhardt hatte auch ihn schon als Kind die feierliche Atmosphäre katholischer Gottesdienste fasziniert. Vor seiner Heirat 1929 war er seiner katholischen Ehefrau Alma Mahler zuliebe aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten.3 1

2

3

Meyer W. Weisgal: Der lange Weg nach Jerusalem. Erinnerungen eines Optimisten. Frankfurt a. M. 1973, S. 95; (engl. Ausg.: Meyer Weisgal: ... So Far. An Autobiography. New York 1971, S. 121). Gottfried Reinhardt: Der Liebhaber. Erinnerungen seines Sohnes Gottfried Reinhardt an Max Reinhardt. München 1973, S. 205. (engl. Ausg.: Gottfried Reinhardt: The Genius: A Memoir of Max Reinhard. New York 1979). Vgl.: Oliver Hilmes: Witwe im Wahn. Das Leben der Alma Mahler-Werfel.

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Karin Kowalke

Dennoch verpflichteten sich die drei Künstler vertraglich, »ein biblisches Moralspiel in Musik zu schreiben, zu komponieren und darzustellen, das die geistigen Ursprünge, die frühe sagenhafte Geschichte und das zeitlose Schicksal des jüdischen Volkes darstellen soll, zu dem sie gehören«.4 Aus der Erinnerung an das Schicksal ihrer Vorväter – so die Vorstellung Reinhardts und Werfels – sollte der Synagogengemeinde Hoffnung für die Zukunft erwachsen. Werfel ließ denn auch die Lesung des Rabbiners mit dem Satz beginnen: »Wir wollen uns erinnern ...« Und ein paar Zeilen später legte er ihm die ermutigenden Worte in den Mund: »Und der alte Weg soll uns kräftigen für den neuen Weg, der morgen beginnt ...«5

›Jüdische Themen‹ auf Reinhardts Bühnen Als Regisseur zeigte Reinhardt kein besonderes Interesse an ›jüdischen Themen‹, weder an Dramen religiösen Inhalts noch solchen, die sich mit jüdischen Lebenswelten befassten. Unter seinen zahllosen Inszenierungen bis 1933 ließ sich nur ein Stück ermitteln, das eine Episode des alten Testaments thematisierte: Richard Beer-Hofmanns Drama Jaákobs Traum. Die Premiere des Stückes fand am 7. November 1919 am Deutschen Theater statt und erlebte dort 59 Aufführungen.6 Eine weitere Arbeit biblischen Inhalts hatte der Regisseur gemeinsam mit dem Komponisten Fritz Koennecke entwickelte. Für den 12. Januar 1917 (und noch einmal für den 9. März 1921) war Die Geschichte der Könige Saul und David. Ein Sprechoratorium in der Philharmonie bzw. dem Großen Schauspielhaus Berlin angekündigt worden.7 Die von Reinhardt aus dem ersten und zweiten Buch Samuel zusammengestellten Texte sollten mit verteilten Rollen unter völligem Verzicht auf Dekorationen, Kostüme und

4 5 6 7

München 2004, S. 221. Allerdings trat Werfel – ohne Almas Wissen – einige Monate später wieder in die jüdische Gemeinde Wien ein. In einem Artikel der Zeitung Aufbau von 1940 bestritt Werfel, die jüdische Gemeinschaft je verlassen zu haben, und wehrte sich gleichzeitig gegen Bezeichnungen seiner Person als »ehemals jüdisch« oder gar »Katholik«. Die Zeitung gab Werfels Aussage so wieder: »er ist immer Jude gewesen, hat sich immer als Jude gefühlt und gehört nach wie vor der jüdischen Gemeinschaft an.« Siehe Anonymus: Franz Werfel ist Jude. In: Aufbau 6 (44) (1. Nov. 1940), S. 8. Meyer W. Weisgal: a.a.O., S. 95. (engl. Ausg.: S. 120/121). Franz Werfel [1]: Der Weg der Verheißung. Ein Bibelspiel in vier Teilen. Wien 1935, S. 15–16 [dt. Erstausg.]. Vgl.: Heinrich Huesmann: Welt Theater Reinhardt. Bauten Spielstätten Inszenierungen. München 1983, WN [Werknummer] 1100. An dem Oratorium sollten folgende Darsteller des Deutschen Theaters und der Berliner Volksbühne mitwirken: Paul Hartmann, Hermine Körner, Josef Danegger, Ludwig Wüllner. Vgl. ebd., WN 906. Vgl. auch: Fritz Koennecke: Die Könige Saul und David. 1.–3. Teil aus den Büchern Samuelis zusammengestellt von Max Reinhardt, in Musik gefaßt von Fritz Koennecke. Berlin o.J. [um 1917, vollständiger Klavierauszug, Bayerische Staatsbibliothek München].

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Masken dargeboten werden. Obwohl Text- und Musikvorlage des Oratoriums fertig gestellt worden waren, kam eine Aufführung nicht zustande.8 Dennoch hatten einige Stücke einer neuen Generation von ursprünglich auf Jiddisch schreibenden, osteuropäischen Dramatikern Aufnahme in die Spielpläne des Reinhardtschen Theaterimperiums gefunden.9 Der Meister selbst wirkte jedoch nicht an deren Realisierung mit. Dagegen zeigte Reinhardt eine ausgeprägte Vorliebe für christliche Motive wie The Miracle (1911) und für kirchliche Kulissen bzw. Räume z.B. Jedermann (1920) auf dem Domplatz oder Das Große Salzburger Welttheater (1922) in der Kollegienkirche zu Salzburg. Reinhardt war sich der universellen Kraft und Schönheit, die den biblischen Legenden inne wohnt, sehr wohl bewusst, gleichwohl reizte ihn ein politisch motiviertes Projekt – wie es Weisgal im Auge hatte – wenig. Theater und Politik waren für Reinhardt inkompatible Größen. Alles Demonstrative und Agitatorische in der Kunst empfand er als unangemessen. Neben den ideologischen Einwänden hatte er aber auch künstlerische Bedenken. Von der Erschaffung der Welt über den Tanz um das Goldene Kalb sollte das Stück – wie Reinhardt es formulierte – »zu allen Gipfelpunkten der oft bestiegenen Kitschberge« führen.10 In einem Brief versicherte er seinem Sohn Gottfried, dass nicht das Bekenntnis zum Judentum, welches zwangsläufig mit der Inszenierung verbunden wäre, dem Bibelspiel entgegenstehe. Ihm widerstrebe vielmehr der altbekannte Inhalt und die propagandistische Zielsetzung des Projekts. Reinhardt konnte sich zwar vorstellen, die Legenden des jüdischen Volkes, seinen Leidensweg und das Unvergängliche in den Gestalten der Urväter Mose, Abraham und Salomon wiederzugeben. Er zeigte sich aber keinesfalls bereit, dies in Form einer Anklage zu inszenieren. Ihm schwebte eher »eine Art MatthäusPassion des Alten Testamentes« vor.11 Allerdings war zu diesem Zeitpunkt Reinhardts finanzielle Situation bereits prekär. Er brauchte dringend ein lukratives Angebot und hoffte auf eine FilmOfferte aus Hollywood.12 Der durch die Weltwirtschaftskrise schwer gebeutelte Broadway und auch die kalifornische Filmindustrie schreckten jedoch vor Reinhardts Hang zu kostspieligen, extravaganten Produktionen zurück. Dennoch zögerte Reinhardt, Weisgals Angebot anzunehmen. Gottfried Reinhardt glaubte sogar, sein Vater habe »bewußt oder unbewußt oder ein bißchen von beidem, das Weisgalsche Projekt sabotiert«.13 Darauf deutet hin, dass Reinhardt im August 1935 – während des zweiten Arbeitstreffens der beteiligten 8 9 10 11 12 13

Weshalb Die Geschichte der Könige Saul und David weder 1917 noch 1921 zur Aufführung kam, ließ sich nicht ermitteln. Vgl.: Heinrich Huesmann: a.a.O., WN 335, 370, 532, 661, 1095, 1660, 1855, 1981. Brief von Max Reinhardt an Gottfried Reinhardt (1933). Zit. nach Gottfried Reinhardt: a.a.O., S. 208. Gusti Adler: Max Reinhardt. ... aber vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen. Erinnerungen. München 1983, S. 329. Vgl.: Gottfried Reinhardt: a.a.O., S. 254. Ebd., S. 211.

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Künstler in Salzburg – versuchte, Weill zu überreden, das bereits weit fortgeschrittene Bibelprojekt aufzugeben und sich gemeinsam mit ihm einer neuen Aufgabe zu widmen.14 Nach reichlich Bedenkzeit stellte sich Reinhardt schließ-lich doch der neuen Herausforderung. In einem Interview beschrieb er seine Erwartungen an das Bibelspiel ebenso neutral wie unpolitisch: It [The Eternal Road] is universal, this passion play. [...] It is for the worldly as well as the religious, for all Christianity and all Judaism. In its spirit it merges the constant upward striving of humanity. It breathes life into what some call the dying pages of the Bible. Here – on this stage – we bring the Book to life. It is the center, the all-inspiring motive. In the thick of battle during the World War, and also in oppressed times, the descendants of the People of the Book made it their universal interest. It remains so, not only to them, but to the world.15

Werfels Bibelspiel Die dramatische Gestaltung wollte Reinhardt ursprünglich seinem Freund Richard Beer-Hofmann anvertrauen. Dieser jedoch schlug ebenso wie Lion Feuchtwanger sein Angebot aus. Reinhardts Wahl fiel schließlich auf Franz Werfel, den er als Dichter sehr schätzte.16 Im Frühjahr 1934 beendete Werfel die erste Fassung des Bibelspiels Der Weg der Verheißung (The Eternal Road). Als Vorlage hatte ihm das Alte Testament (Tenach) gedient. Über den Aufbau seines Stückes schrieb der Autor: Das Werk umfaßt in seiner dramatischen Auslese die Bücher des Alten Testamentes, angefangen von der Verheißung an Abraham bis zu den Propheten und schließt mit dem verklärenden Ausblick auf die Erlösung. Das biblische Wort ist in den Szenen, die dargestellt werden, rein erhalten, durch keine Zutaten verfälscht und nur dort verkürzt und zusammengefaßt, wo das Gesetz des dramatischen Ablaufes rasche Übergänge und Steigerungen fordert.17 14

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Vgl.: Brief (148) von Kurt Weill aus Salzburg an Lotte Lenya in London, 26. August 1935. In: Lys Symonette/Kim H. Kowalke (Hg./Übers.): Sprich leise wenn du Liebe sagst. Der Briefwechsel Kurt Weill/Lotte Lenya. Köln 1998, S. 193–194. (engl. Ausg.: Lys Symonette/Kim H. Kowalke: Speak Low [When You speak Love]. The Letters of Kurt Weill and Lotte Lenya. Berkeley 1996, S. 189–190) u. Brief (147) von Kurt Weill aus Salzburg an Lotte Lenya in London, 21. Aug. 1935. In: Ebd., S. 193. (engl. Ausg.: S. 189). Interview mit Max Reinhardt in: Anonymus: As ›Miracle Man‹ Smoothes Bumps out of Eternal Road. Reinhardt Moulds New Biblical Drama. New York Evening Journal (21. Dez. 1936). Vgl.: Max Reinhardt: Konzept für eine Rede [undatiert]. Max Reinhardt-Nachlass, Theatermuseum Wien, Re 26/503/ [S.] 3. Vgl. auch: Hugo Fetting (Hg.): Max Reinhardt. Leben für das Theater. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern. Berlin 1989, S. 297. Edda Fuhrich-Leisler/Gisela Prossnitz (Hg.): Max Reinhardt in Amerika. Salzburg 1976, S. 139. Und: Edda Fuhrich/Gisela Prossnitz (Hg.): Max Reinhardt. Die Träume des Magiers. Salzburg 1993, S. 165. Franz Werfel [2]: Über das Bibelspiel ›Der Weg der Verheißung‹. [um 1935], S. 1,

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Seinem Bibelspiel stellte Werfel einen Satz voran, der diesem einen ebenso neutralen wie universellen räumlichen und zeitlichen Rahmen vorgab: »Dieses Bibelspiel ereignet sich unter einer zeitlosen Gemeinde Israel in einer zeitlosen Nacht der Verfolgung.«18 Eine jüdische Gemeinde, von einem Pogrom bedroht, sucht Schutz in der Synagoge, um hier ihr weiteres Schicksal zu erwarten. Der Rabbiner ruft ihnen zu »It is for us to remember ...«19 und beginnt mit der rezitativisch vorgetragenen Lesung exemplarischer Bibellegenden, um so den Versammelten den Leidensweg des jüdischen Volkes vor Augen zu führen. Werfel lässt ihn mit der Geschichte von Abrahams göttlicher Prüfung beginnen und mit König Zedekiah und der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezars Truppen enden. Die Legenden werden in Form von Episodenszenen auf den oberen Ebenen der fünfstufigen Simultanbühne dargestellt. Im Morgengrauen erscheint ein Bote und verkündet, dass die Gemeinde die Stadt bis Sonnenuntergang zu verlassen habe. Durch die Lesung des Rabbiners moralisch gestärkt, zieht die Gemeinde, von den Figuren der biblischen Visionen begleitet, in die Diaspora. Werfel verarbeitete Geschichten aus dem Pentateuch, den Büchern Ruth, Samuel, Jesajah, Jeremiah und der Könige. Darüber hinaus bediente er sich im dritten Akt und am Stückende verschiedener Psalmen aus dem Psalter.20 Nach Werfels Angaben sind lediglich zwei Szenen – Moses Kampf mit dem Todesengel am Ende des zweiten Aktes und Rahels Klage auf den Ruinen von Zedekiahs Palast am Ende des vierten (bzw. in Reinhardts Regiebuch am Ende des dritten) Aktes – nicht der Bibel sondern der Legendenwelt des Talmuds entnommen.21 Bei der Auswahl der alttestamentarischen Geschichten hatte sich Werfel an die in der Bibel vorgegebene Chronologie gehalten.22

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Weill-Lenya Research Center, New York [Kopie]. Das zweiseitige Original befindet sich in der Special Collection Franz Werfel, University of California, Los Angeles (UCLA). Franz Werfel [1]: a.a.O., S. 5. Karin Kowalke: »Ein Fremder ward ich im fremden Land …« – Max Reinhardts Inszenierung von Franz Werfels und Kurt Weills The Eternal Road (Der Weg der Verheißung) 1937 in New York, Bd. II [The Eternal Road-Regiebuchtranskript]. Diss., München 2004, S. 16. Siehe auch Franz Werfel [3]: The Eternal Road. A Drama in Four Parts. New York 1936, S. 9 [am. Erstausg.]. Vgl.: Franz Werfel [1]: a.a.O., S. 89–90 und S. 87 (Ps. 114,1–6, Gottes Wunder beim Auszug aus Ägypten), S. 102 (Ps. 22,2 und 15, Leiden und Herrlichkeit des Gerechten), S. 128 (Ps.126, 1–6, Der Herr erlöst seine Gefangenen). Vgl. auch: Karin Kowalke: a.a.O., Bd. II, S. 203, 234 und S. 263. Vgl.: Franz Werfel: »Begleitwort zum Weg der Verheißung«. In: Franz Werfel (Hg. von Adolf D. Klarmann) [4]: Die Dramen. Bd. II, Frankfurt a. M. 1959, S. 510. Die »Geschichte von dem Tode unseres Vaters Mose« findet sich bereits in Werfels Stückentwurf Esther, Kaiserin von Persien. Dramatisches Gedicht (1914). Die talmudische Vorlage für die Geschichte von Moses Tod sowie Rahels Klage konnte nicht ermittelt werden. Eine Zuordnung der Zitate des Rabbiners zu den entsprechenden Bibelstellen findet

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Die Kontroverse zwischen Jeremiah und Chananjah um die Gunst König Zedekiahs im vierten Akt führte in einen Krieg und erneut ins Exil. Werfel versuchte, die Hoffnungslosigkeit des letzten Aktes und das entstehende Bild eines alttestamentarischen Rachegottes mit der Hoffnung spendenden Erscheinung des Messias zu kompensieren. Die Menschen sollten mit dem festen Glauben an die bevorstehende Erlösung durch den Gesalbten ins neuerliche Exil gehen. Die messianische Idee der Heimkehr und der Wiedererrichtung eines jüdischen Staates war von Alters her, insbesondere in Notzeiten, wesentlich für den Zusammenhalt der Juden in der Diaspora. Um die MessiasErscheinung entbrannte eine kontroverse Diskussion zwischen Autor und Produzent. Die Vision einer messianischen Gestalt, die über den rauchenden Trümmern des Tempels auf der Himmelstreppe erscheint, um dem Volke Israel Trost zuzusprechen, entsprach ganz und gar nicht Weisgals Vorstellung von einem aufrüttelnden Schlussbild. Der Produzent wünschte sich einen kämpferischen Ausklang des Stückes und dachte dabei z.B. an ein Wiedererstehen Zions durch Abrahams Nachkommen. So endete sein religiöses Schauspiel The Romance of a People aus dem Jahr 1933 tatsächlich mit dem Aufbau Palästinas durch zionistische Pioniere. Weisgal fürchtete, dass jüdische Sponsoren, auf deren finanzielle Unterstützung das Mammutprojekt angewiesen war, abspringen könnten, sollte das Finale unverändert bleiben.23 Er versuchte Werfel zu überzeugen, bei der Überarbeitung des Bibelspiels auf christliche Assoziationen, wie die Messias-Vision, zu verzichten und seine »christliche Sicht« der jüdischen Geschichte, die davon ausgeht, dass es das unvermeidliche Schicksal der Stämme Israels sei, leidend die Welt zu durchwandern, zu revidieren.24 Alma Mahler-Werfel beschrieb das Dilemma, in dem sich ihr Mann befand, so: »Ohne Jesus Christus kann die biblische Geschichte nicht schließen; und mit Christus erlauben es wieder die Juden nicht. Es hätte mit Zion enden müssen – aber Franz Werfel war kein Zionist und glaubte nicht recht daran.«25 Im Gegensatz zu Weisgal war Weill gerade von der Größe, Schlichtheit und Naivität der Messias-Vision fasziniert. Seiner Ansicht nach hatte sie sogar die Qualität, das Stück einerseits vom Verdacht des Tendenziösen freizusprechen

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sich im Anhang des Eternal Road-Regiebuchtranskripts. Vgl.: Karin Kowalke: a.a.O., Bd. II, S. 310–315. Vgl.: Gespräch mit Gottfried Reinhardt. In: Peter Stephan Jungk: Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte. Frankfurt a. M. 1988, S. 231–234 und S. 224. Siehe auch Alma Mahler-Werfel: Mein Leben. Frankfurt a. M. 1991, S. 254. Siehe Meyer W. Weisgal: a.a.O., S. 94–95. (engl. Ausg.: S. 120). Im Christentum glaubt man, der Messias (der Gesalbte) sei den Menschen in der Person Jesu Christi erschienen. Für das Judentum gilt Jesus von Nazareth als Lehrer und Prophet, nicht aber als Messias. Im Judentum wird vom Messias erwartet, dass er den Weltfrieden bringt, Israel ins Land der Verheißung zurückführt, das Reich seines Urvaters David wiedererrichtet und den Dritten Tempel erbaut. Vgl.: Julius H. Schoeps (Hg.): Neues Lexikon des Judentums. Gütersloh 2000, S. 400–401 und S. 564. Alma Mahler-Werfel: a.a.O., S. 255.

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und andererseits den Sinngehalt des Bibelspiels zu verdeutlichen.26 Trotz intensiver Auseinandersetzung mit Weisgal hatte sich Werfel auch in seinem überarbeiteten Manuskript, das er Mitte September 1934 fertig stellte, nicht von der christusähnlichen Erscheinung gelöst.

Weills Partitur Weill strebte mit seinem Werk The Eternal Road eine neue, zeitgemäße musikalische Form an, die die ganze Skala vom gesprochenen über das halb gesprochene oder halb gesungene Wort bis hin zum reinen Gesang abdeckte. Eine Symbiose zwischen Elementen des Schauspiels, der Oper und dem szenischen Oratorium war sein Ziel.27 In einem Interview mit der New York Times sagte Weill über seine The Eternal Road-Musik: On the whole, I have conceived the music in the spirit of popular oratorio. About 70 per cent of the play will have a musical setting. I resort not only to arias, ensembles and choruses, embedded in the continuous music between the spoken parts, but use as well ’Sprechstimme’ or half-song, ›parlando‹ and recitative.28

Der Komponist war davon überzeugt, dass alle Rollen von gut singenden Schauspielern bewältigt werden könnten, zog es jedoch vor, einen Teil der Rollen – z.B. die des Rabbiners – mit großen Sängern zu besetzen. In diesem Sinne schrieb er bereits Anfang Oktober 1934 an Reinhardt: Wir werden wohl kaum Schauspieler finden, die ihren Naturalismus vergessen und wirklich einen ›gehobenen Stil‹ spielen können. Dagegen sind Sänger gewohnt, gehobenen Stil zu spielen, und es wird leichter sein, ihnen das falsche Pathos abzugewöhnen als den Schauspielern den Naturalismus und die unechten Töne.29

Auf Grund seiner jüdischen Erziehung konnte Weill aus einem reichen Schatz jüdisch-religiöser Lieder und liturgischer Gesänge schöpfen. Er begann die Melodien seiner Kindheit aus dem Gedächtnis niederzuschreiben. In dieser Zeit entdeckte Weill seine religiösen Wurzeln wieder, die er während der Arbeit mit dem Agnostiker Bertolt Brecht hintangestellt hatte. An Lotte Lenya schrieb er: »Für die Bibelsache habe ich schon 2 glänzende Nummern [geschrieben] u. allerhand Vorarbeiten [geleistet], ich studiere fleißig originale 26

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Vgl.: Brief von Kurt Weill aus Louveciennes an Max Reinhardt, 6. Okt. 1934. Weill-Lenya Papers, Yale, Box 47/Folder 13. Teilabdruck des Briefes siehe auch: Lys Symonette/Kim H. Kowalke: a.a.O., S. 151–152. (engl. Ausg.: S. 144–145). Vgl.: Mosco Carner: »Die Musik zu Werfels Bibeldrama. Gespräch mit Kurt Weill. Jüdische Rundschau. Berlin (22. Februar 1935)«. In: Stephen Hinton/Jürgen Schebera (Hg.): Kurt Weill. Musik und Theater. Gesammelte Schriften. Mit einer Auswahl von Gesprächen und Interviews. Berlin 1990, S. 317–319. Nicholas Slonimsky: Kurt Weill’s New Score. Music for ›Road of Promise‹. Written in Modern Contemporary Style. New York Times (27. Oktober 1935). Brief von Kurt Weill aus Louveciennes an Max Reinhardt, 6. Oktober 1934. WeillLenya Papers, Yale, Box 47/Folder 13, S. 2.

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rituelle Musik, die mir mein Vater geschickt hat, aber es ist kaum zu verwenden, höchstens für Rezitative.«30 Nach wenigen Tagen hatte er fast zweihundert Lieder zusammengetragen.31 Als Vorstudien für den rezitativischen Gesang des Rabbiners beschäftigte sich Weill vor allem mit älterer jüdischer Musik und der jüdischen Liturgie, da der Talmud vorschreibt, dass das biblische Wort nur als Sprechgesang öffentlich vorgetragen werden darf. Über seine kompositorischen Fortschritte schreibt er an Reinhardt: Es ist eine Musik, die, gegenüber den anderen Elementen der Musik, hauptsächlich die Melodie in den Vordergrund rückt, wobei ich von originalen jüdischen Motiven nur sehr sparsam, d.h. nur dort, wo eine Beziehung zur Liturgie besteht, Gebrauch mache. Die jüdische Liturgie ist ja sehr arm an wirklichen »Melodien«, sie besteht hauptsächlich in melodischen Wendungen und kurzen Motiven, die ich besonders den Lesungen des Rabbi manchmal zu Grunde legen konnte.32

In Weills Partitur lassen sich über die Rezitative des Rabbiners hinaus weitere Hinweise auf die Verwendung traditioneller jüdisch-sakraler Melodien finden. Als David am Ende des dritten Aktes (Die Könige) in eine Wehklage ausbricht, komponiert Weill die Psalme 22 und 51, die Werfel dem König in den Mund gelegt hatte, auf die ergreifende Melodie des Kol Nidre, des Gebetes, mit dem an Jom Kippur der Abendgottesdienst eröffnet wird.33 Und im zweiten Akt, als die Engel mit den Urbildern der heiligen Gegenstände des Stiftzelts an Mose vorbeiwandeln, offenbart sich eine Melodie, die der Liturgie des Schawuot-Festes (Wochenfest) entlehnt ist. Darüber hinaus lassen sich am Ende der Joseph-Legende (erster Akt), nach der Zerstörung des Tempels (vierter Akt) sowie in den Klageliedern Rahels und Jeremiahs (vierter Akt) Elemente entdecken, die synagogalen Gesängen des 12. und 15. Jahrhunderts (MissinaiWeisen) zuzurechnen sind.34 Weills Eternal Road-Partitur zeichnet sich durch eine stilistische Inhomogenität aus, die die biographische wie künstlerische Zerrissenheit eines Exilierten widerspiegelt. Auch das Verhältnis zwischen Dialog- und Musikszenen ist uneinheitlich. So gibt es ausgedehnte durchkomponierte Szenen, wie beispielsweise die Geschichte von Abraham und Isaak aber auch Episoden wie die von 30 31 32 33

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Brief (87) von Kurt Weill aus Louveciennes an Lotte Lenya in Zürich, 26. August 1934. In: Lys Symonette/Kim H. Kowalke: a.a.O., S. 146. (engl. Ausg.: S. 139). Vgl.: Anonymus: Score for ›The Eternal Road‹. New York Times (27. Dezember 1936). Brief von Kurt Weill aus Louveciennes an Max Reinhardt, 6. Oktober 1934. WeillLenya Papers, Yale, Box 47/Folder 13, S. 2. Karin Kowalke: a.a.O., Bd. II, S. 234. Oder Franz Werfel [1]: a.a.O., S. 102. Der Psalter, Psalm 22(2) und 51. Vgl. auch: Neues Testament, Mt. 27,46 und Mk. 15,33: »Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: [...] Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Reinhardt nannte diese Verse in seinem Eternal Road-Regiebuch »penitential psalm« (Bußpsalm). Siehe: Karin Kowalke: a.a.O., Bd. II, S. 234. Vgl.: Christian Kuhnt: Kurt Weill und das Judentum. Saarbrücken 2001, S. 100-118.

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Joseph und seinen Brüdern, in denen das gesprochene Wort dominiert.35 Der US-amerikanische Komponist und Musikkritiker Virgil Thomson, der die Reinhardt-Inszenierung ablehnte, gestand der Musik Weills zu, »der interessanteste Aspekt der Aufführung« zu sein. Die Musik empfand er als geschickt komponiert und orchestriert, das Zusammenspiel von aufgenommener Musik, Gesang und gesprochenem Wort als einzigartig. Dem Komponisten bescheinigte er einen kolossalen sens du théâtre, aber ihn störte die Mixtur unterschiedlicher Musikstile, von »operatic recitation, Protestant polyphony, Jewish cantorisms, American jazz, Tristan and Isolde, music-hall ballads, a bit of chanson réaliste, even Elizabethian madrigal-and-willow-song style (for David)«.36

Hauptfiguren der Synagogengemeinde Als Reinhardt im Oktober 1935 nach New York kam, um über die Rollenverteilung in der Eternal Road-Aufführung zu entscheiden, bemühten sich namhafte Schauspieler sowohl der jüdischen als auch der übrigen BroadwayBühnen um ein Engagement in der prestigeträchtigen Inszenierung. Der Regisseur besuchte seinerseits Vorstellungen des Yiddish Art Theatre auf der Second Avenue und anderer jüdischer Theater, um prominente Schauspieler wie Maurice Schwartz oder Samuel Goldenberg auf der Bühne zu erleben.37 Auf Grund der neuen Form des Rezitativs – »auf der Grenzlinie zwischen gesungenem und gesprochenem Wort«38 –, die Weill für das Bibelspiel kreiert hatte, suchte Reinhardt Akteure, die sowohl spielen und sprechen als auch singen konnten. Da zudem bedeutende biblische Figuren wie Patriarchen, Könige und Propheten überzeugend und würdig dargestellt werden sollten, legte er größten Wert auf das äußere Erscheinungsbild der Darsteller. Obwohl die Metropole eine Vielzahl von deutschsprachigen Exilschauspielern beherbergte, bestand das Eternal Road-Ensemble fast durchweg aus US-amerikanischen Darstellern.39 35 36 37

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Vgl. ebd., S. 96–100. Virgil Thomson: In the Theatre. Modern Music 14 (2) (Jan./Feb. 1937). S. 104. Maurice Schwartz (1890–1960) war Gründer des New York Yiddish Art Theatre, Sam(uel) Goldenberg (1885–1945) 1935 in dem jiddisch/US-amerikanischen Film Shir Hashirim (Farbotene Liebe) (Regie: Henry Lynn) zu sehen. Max Reinhardt: The Part the Director Plays. The Stage, S. 52 [nicht datierter Ausschnitt, ca. Anfang November 1935]. Lediglich Lotte Lenya, Kurt Kasznar und Edit Angold waren exildeutsche Schauspieler. In einem Interview sagte Lenya 1973, dass es sich beim Eternal RoadEnsemble »fast ausschließlich um jüdische Schauspieler« gehandelt habe. Siehe Gespräch mit Lotte Lenya in: Lothar Schirmer (Hg.): Theater im Exil 1933–1945. Ein Symposium der Akademie der Künste, (Schriftenreihe der Akademie der Künste, Bd. 12). Berlin 1979, S. 243. Siehe auch: Henry Marx: »Exil-Theater in den USA«. In: ebd., S. 226 und S. 229. Nur von wenigen Schauspielern des Eternal Road-Ensembles ist allgemein bekannt, dass sie jüdische Wurzeln haben (z.B. Sidney und

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Das Premierenensemble setzte sich aus 59 Hauptdarstellern, 13 Chorsängern, 35 Tänzern und 100 Sänger-Statisten zusammen. Werfel hatte die Hauptfiguren der Gemeinde – die Rollenbezeichnungen Der Widersprecher, Der Ängstliche, Der Fromme etc. deuten dies an – nicht als komplexe Charaktere angelegt, sondern als einfache Archetypen menschlichen Verhaltens, ohne diese jedoch – mit Ausnahme des Reichen – zu überzeichnen oder gar zu karikieren. Die in der Synagoge Versammelten blieben fast während der gesamten Aufführung für das Publikum sichtbar auf der Bühne präsent. Ab und an mischte sich die Gemeinde mit lebhaften, zum Teil zornigen Debatten ins Geschehen der überirdischen Sphäre ein. Mit der Besetzung der Hauptfigur des Bethauses, dem Rabbi, stand und fiel der Erfolg der Aufführung. Er war das Bindeglied zwischen Synagogen- und Bibelgeschehen. Seine kurzen Rezitationen aus dem Tenach leiteten die Bibelvisionen ein oder lieferten Erklärungen für die Zeitsprünge zwischen den einzelnen Legenden. Alle Hauptfiguren der Bibelvisionen hatten mehr oder weniger ausgedehnte Gesangspartien zu bewältigen. Neben dem Chor war jedoch der Rabbiner die einzig singende Figur in der Synagoge. So erwartete Reinhardt vom Darsteller des Geistlichen besondere musikalische Qualitäten und ein breites Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten: Wir hören ihn [den Rabbi] den ganzen Abend und nur eine Stimme mit großem Glanz, mit heroischer Kraft und zugleich mit tiefer seelischer Weichheit und Zartheit darf uns das zumuten. Sonst lehnen wir uns gegen diesen an sich undramatischen Erzähler unbedingt auf und empfinden seine unaufhörliche Vorlesung als eine unerträgliche Last. [...] Er muss aber neben seiner Stimme schauspielerische Begabung, tiefe Empfindung haben, eine starke und rätselhafte Persönlichkeit sein. Er muss mit starker Wirkung auch in Schweigen versinken können und an dem Schicksal seiner Gemeinde sichtlich schwer tragen. Seine Gestalt sollte mächtig, sein Gesicht bedeutend, sein Gang schwer sein. [...] Der Beste wird gerade gut genug sein. Er muss nicht nur seine Partie, sondern das ganze Werk restlos beherrschen, um die erforderliche Souveränität zu haben.40

Ursprünglich hatte Reinhardt den Tenor Dan Gridley für diese Rolle auserkoren. Während der ersten Probenphase 1935/36 war er mit dessen Leistungen hoch zufrieden, da eine »starke Erschütterung« von ihm ausging und er die Aufführung zu tragen vermochte. Ein weiterer Vorzug Gridleys, so Reinhardt, war »das unfreiwillige Manko an Schauspielerei: Er hatte dafür etwas unersetzlich Privates und Glaubhaftes«.41 Unglücklicherweise war Gridley in der Zwangspause zwischen den beiden Probenphasen (Februar–November 1936) verstorben. Da man keine befriedigende Zweitbesetzung hatte, sah sich Rein-

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Baruch Lumet, Samuel Goldenberg, Sam Jaffe oder Mark Schweid). Aus diesem Grunde lässt sich Lenyas Aussage heute nicht mehr verifizieren. Max Reinhardt: Synagoge. Theatermuseum Wien, Re 24/405/17. Auf den Seiten 17–44, unter der Überschrift »CAST«, beschäftigte sich Reinhardt mit Besetzungsfragen. Ebd., S. 20.

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hardt vor die schwierige Aufgabe gestellt, einen neuen, würdigen Rabbiner zu finden. Diese anspruchsvolle Rolle wurde schließlich dem Nichtjuden Myron Taylor übertragen. Der US-amerikanische Filmregisseur Sidney Lumet hatte schon als Dreijähriger auf der Bühne des jiddischen Theaters gestanden. Er war von Reinhardt ursprünglich für die Rolle des Isaac (Der Knabe Isaak) eingeplant worden. Doch im November 1936 musste er feststellen, dass der »kleine Lumet« – damals 13 Jahre alt – während der fast zehnmonatigen Probenunterbrechung in den Stimmbruch gekommen war und die ersten Haare auf seiner Oberlippe sprossen.42 Als Isaac kam er nun nicht mehr in Frage, und Dick(ie) Van Patten, der später Karriere als Filmschauspieler machte, übernahm die Rolle. Lumet wurde für den Part des Estranged One’s Son (Der Dreizehnjährige) engagiert, der in seiner Naivität immer wieder elementare Fragen aufwarf.43 So will er von seinem Vater wissen, weshalb sein Volk so ungerecht behandelt würde und worin ihre Schuld bestehe. »Is it a crime to be a Jew, Father?«44 Der Dreizehnjährige sollte – nach Reinhardts Vorstellung – zu einer der wichtigsten Stützen des Abends werden. »Aus der Erstmaligkeit seiner [des Dreizehnjährigen] Betrachtung soll jene ekstatische Verzückung entstehen, die am Ende die Gemeinde trotz allem biblischen und gegenwärtigen Unglück zur Erhebung fortreißt. Atome davon könnten dann vielleicht auf empfängliche Teile des Publikums überspringen.«45 Die herausragende Leistung Lumets als Dreizehnjähriger bestätigte das Vertrauen, das der Regisseur in den Jungen gesetzt hatte. Sein Vater, der Entfremdete (Estranged One), gespielt von Harold Johnsrud, hatte sich vom jüdischen Glauben abgewandt, um als Wissenschaftler arbeiten zu können. Gegen den Vorwurf des Widersprechers, er habe seinen jüdischen Namen und seine jüdische Herkunft aus selbstsüchtigen Gründen verleugnet, setzt sich der Entfremdete zur Wehr. Und seine Rechtfertigung klingt sehr lebensnah: Aber in der Welt, in der ich leben wollte, wurde er [der jüdische Name meines Vaters] als Schimpfwort benutzt, ohne dass ich einen Schimpf verdiente. Ich habe mir meinen Namen selbst gemacht und ich durfte stolz darauf sein. Er hat mir alle Türen aufgetan. [...] Mit dieser Gemeinschaft verbindet mich nur der Zufall meiner Geburt. Ich konnte nicht arbeiten, ich konnte nicht leben unter einer Verachtung, an der ich völlig unschuldig war. [...] [weiter S. 116] Ich glaube noch heute daran, dass man in 42 43

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Ebd. Dass Werfel die Figur eines dreizehnjährigen Jungen (Sohn des Entfremdeten) schuf, ist kein Zufall. Mit Vollendung des 13. Lebensjahrs bezeichnet man einen jüdischen Jungen als Bar Mizwa. Von diesem Zeitpunkt an ist er »für die Gebote befähigt«, damit volljährig und darf am öffentlichen religiösen Leben teilnehmen. Der Sohn des Entfremdeten steht in Werfels Stück vor der Entscheidung, sich entweder wie sein Vater dem Judentum zu entfremden oder die Bar Mizwa zu vollziehen und sich zum Glauben seiner Vorväter und zur jüdischen Gemeinschaft zu bekennen. Karin Kowalke: a.a.O., Bd. II, S. 192. Max Reinhardt: Synagoge. Theatermuseum Wien, Re 24/405/41–42.

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dem Lande aufgehen soll, in dem man lebt, dass man sich nicht in Gemeinschaften einschließen soll, die nur den Hass von anderen Gemeinschaften herausfordern. [...] Ich bin in das Gotteshaus gekommen, um Gott zu suchen. Ihn habe ich verloren und mit Ihm den Frieden. Das ist meine tiefe Schuld.46

Eine Parallele zu Reinhardts eigener Biographie drängte sich auf. Auch er hatte den offenkundig jüdischen Namen ›Goldmann‹ abgelegt, um seine noch junge Schauspielerkarriere nicht durch antisemitische Vorbehalte zu gefährden. Ohne Frage konnten sich auch viele Menschen im Zuschauerraum mit der Figur des Entfremdeten identifizieren. Versöhnlich klingen die Worte, die der Fromme all jenen zuruft, die sich dem jüdischen Glauben entfremdet haben, aber den Weg zurück in die Gemeinschaft ihrer Vorväter suchen: »Die Gemeinde verschließt keinem die Türe, der reuig zurückkehrt.«47 Die einzige komische Figur des Bibeldramas war – wie bereits angedeutet – Rich Man (Der Reiche). Für diese wichtige Rolle suchte Reinhardt einen Darsteller mit angeborener, gelassener, natürlicher Komik und innerer Empfindung. »Die Rolle [des Reichen] ist gut und wichtig [,] weil sie die einzige komische Rolle ist und viele (sehr notwendige) Lachwirkungen haben kann«,48 notierte Reinhardt. In der Wirklichkeitsatmosphäre der Synagoge wollte er, mit Ausnahme des Reichen, keinerlei komödiantische Einlagen dulden. Seine Wahl fiel auf den Schauspieler Anthony Blair. Fraglos war die Rolle des Adversary (Der Widersprecher) die schauspielerisch dankbarste des gesamten Stückes. Die Figur war ähnlich angelegt wie die des Nörglers, eines zynisch-bissigen Handlungskommentators in Karl Kraus’ Antikriegsdrama Die letzten Tage der Menschheit. Der Widersprecher haderte mit Gott und seinem Schicksal. Werfel formuliert an einer Schlüsselstelle die Zweifel, mit denen sich ganze Generationen von Juden besonders in schweren Zeiten konfrontiert sahen und legt die Worte dem Widersprecher in den Mund: Was können jene Männer [Älteste in Moses Gefolge] für ihr Elend? Was kann ich für meines? Ich habe Gott um seine Verheißung nicht gebeten. Sie liegt mir bleischwer in den Gliedern [...]. Er reißt mich aus Abrahams Heimat und wirft mich nach Kanaan. Er reißt mich aus Kanaan und wirft mich nach Ägypten. Er reißt mich aus Ägypten und wirft mich in die Wüste. Und so bis auf den heutigen Tag. Denn bei Sonnenaufgang werden sie mich töten oder aus der Stadt jagen. Und dies alles wegen seiner Verheißung. Wohin ich komme, dort klafft das ewige Nichts. Und meine Zeit ist das ewige Nie. Die anderen Menschen werden geboren, leiden und sterben. Nur ich muss zu allem noch Gott auf dem Rücken tragen wie einen Berg. Ich werfe ihn ab. Ich habe ihn satt.49

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Karin Kowalke: a.a.O., Bd. II, S. 114 und S. 116 dt. (S. 115 und S. 117 engl.). Ebd., S. 114. Max Reinhardt: Synagoge. Theatermuseum Wien, Re 24/405/19. Karin Kowalke: a.a.O., Bd. II, S. 132. Oder Franz Werfel [1]: a.a.O., S. 61.

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Es war der Choreograph Benjamin Zemach, der Sam Jaffe für die Hauptrolle des Widersprechers ins Gespräch brachte.50 Reinhardt schrieb über den Schauspieler: Bei diesem ausgezeichneten Schauspieler [Sam Jaffe], der menschlich viel interessanter und wertvoller ist, als man anfänglich annimmt, muss man immer wieder auf eine brennende Intensität drängen, die seine Rolle unbedingt verlangt, gegen die sich aber seine im Grunde beschauliche Natur und auch sein philosophischer Gleichmut einigermaßen wehren. Man kann (und muss) ihm entscheidend helfen, indem man ihm genug Gelegenheit gibt, die ihm eigene Unheimlichkeit zu entfalten und […] man seine große Rede, (einer der wichtigsten und wirkungsvollsten Momente der Handlung) […] durch viele Zwischenreden der Anderen unterbricht. Er gewinnt dabei die Möglichkeit, immer wieder neue Kraft zu sammeln und sich an der Erregung seiner Zuhörer zu entzünden und zu steigern.51

Von Sam Jaffes Talent hatte sich Reinhardt bereits in der ersten Probenphase ein Bild machen können, und so vertraute er ihm den Part des Widersprechers an. Einen besonders begabten, gut aussehenden jungen Schauspieler mit Innerlichkeit, Temperament und Männlichkeit forderte Reinhardt für die Rolle des Jesse – A Young Man (Der junge Mensch). Der Regisseur hatte die Geschichte von Jesse und dem nichtjüdischen Mädchen so ausgestaltet, dass damit ein roter Faden durch alle Synagogenszenen gezogen und eine Parallelhandlung zur Boas-Ruth-Episode geschaffen wurde. Der Widerstand der Gemeinde gegen die Verbindung der beiden sollte einen dramatischen Konflikt herbeiführen und so der Synagogenhandlung mehr Gewicht und Spannung verleihen. Reinhardt schrieb hoffnungsvoll: »Die Frage der Assimilation, ein im Brennpunkt der Diskussion stehendes Problem des ganzen Komplexes, würde aufgeworfen und unwiderleglich mit dem Hinweis auf Ruth beantwortet werden (welche ja die Stammutter des Königs David und des Heiland [sic!] war).«52 Herbert Rudley gab die Rolle des Jesse. An seiner Seite spielte die erst achtzehnjährige Olive Deering – die später von Eliebe Lynn ersetzt wurde – das Alien Girl (Das fremde Mädchen).

Hauptfiguren der Bibelvisionen Der Erfolg des ersten Aktes hing – so Reinhardt – von einer optimalen Besetzung des Abraham ab. Er beschrieb in seinen Aufzeichnungen zu The Eternal 50

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Sam Jaffe, eine große Begabung und eine exzentrische Erscheinung, war lange Zeit Mitglied der Provincetown Players und einer der bekanntesten Schauspieler des Eternal Road-Ensembles. Der Charakterdarsteller fühlte sich gleichermaßen auf den Bühnen des Broadways und in den Hollywood-Studios zu Hause. In Josef von Sternbergs romantischem Hollywood-Film über Katharina die Große, The Scarlet Empress (1934), gab er an der Seite von Marlene Dietrich Großherzog Peter. Max Reinhardt: Synagoge. Theatermuseum Wien, Re 24/405/20–21. Ebd., S. 22.

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Road seine Vorstellung vom Erscheinungsbild der Figur als »michelangelesk«.53 Abrahams Sprache sollte schwer und breit artikuliert, seine Gebärden groß, monumental, sparsam und niemals zufällig sein. Der Regisseur wies außerdem auf die Wichtigkeit der gesungenen und halb gesungenen Partien Abrahams hin, die den innovativen Stil der Aufführung etablieren würden. Alle an den Proben Beteiligten waren sich einig, dass vom Darsteller des Abraham, Thomas Chalmers, tatsächlich eine sehr starke Wirkung ausgehe.54 Obwohl ihm in der Szene mit Jacob die innerste Echtheit des Gefühls fehlte – so Reinhardt – wurde Earl Weatherford als Joseph engagiert. Seine Stimme empfand der Regisseur als wirkungsvoll, und »die Schreie, wenn er von den Brüdern zur Höhle geschleppt wird, gehörten auch im Stil zum Besten der Aufführung«.55 Das Wiedersehen Jacobs mit Joseph plante Reinhardt zu einem Höhepunkt der Inszenierung auszubauen, da sich hier eine der erschütterndsten und zugleich erlösendsten Wirkungen in einer beinah stummen Szene vollzogen. Als Gegenstück zum geheimnisvollen Auftauchen und Hinaufgleiten Abrahams sollten die Gestalten der Wiedersehensszene zwischen den Betern der Synagoge spurlos verschwinden. Reinhardt stellte sich dies wie »das Zerfließen einer hellen, beinahe greifbaren Vision« vor.56 Auch in der Rolle des David – vor allem als Jüngling mit heller, strahlender Stimme – fand Reinhardt Weatherford vorzüglich. Seine Darstellung Davids als Mann und König wünschte sich Reinhardt allerdings »bedeutender, königlicher, gefährlicher, erfüllter von inneren Vorgängen«.57 Für die Besetzung von Josephs Brüdern suchte Reinhardt junge Darsteller mit gesanglicher, rhythmischer, schauspielerischer und pantomimischer Begabung. Shimon (Schimon) (Noel Cravat) sollte ein wilder temperamentvoller Kerl sein, der die Fähigkeit hatte, seine Leidenschaft bis zum Flüstern zu unterdrücken. Reuben (Robert Warren Bentley) stellte sich Reinhardt als überlegenen Kopf mit Herz vor, der besonders gut sprechen können sollte. Der Benjamin-Darsteller (Walter Elliott) war ein ganz junger, gut aussehender und begabter Schauspieler mit echten Empfindungen. Samuel Goldenberg, prominenter Schauspieler der jüdischen Bühnen New Yorks, war für die Rolle des Mose, die im Zentrum des zweiten Aktes stand, engagiert worden, obwohl Reinhardt bewusst war, dass die Mittel des Schauspielers kaum ausreichen würden, die Rolle überzeugend auszufüllen. Über wiete Strecken empfand Reinhardt Goldenbergs Darstellung von wirklicher Kraft, Innerlichkeit, Echtheit und Monumentalität getragen. Es folgten jedoch »leere Teile mit äußerlichem Gemache, aufreizend koketter Selbstzufriedenheit«.58 An den virtuosen Vorträgen des Schauspielers bemerkte Reinhardt 53 54 55 56 57 58

Ebd., S. 25. Thomas Chalmers (1884–1966) – in New York geboren – war von 1923–1964 als Filmschauspieler und seit Ende der zwanziger Jahre auch als Filmregisseur tätig. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33. Ebd. Ebd., S. 26.

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einen Mangel an echtem Ausdruck und eine Neigung zur »glänzenden Appretur«. Er bezeichnete ihn abfällig als »demon of can«.59 Nach Reinhardts Vorstellung war Mose eine wilde und schreckliche Erscheinung, ein stotternder Menschen, der um jedes Wort angestrengt ringen sollte. »Er muß beim Stottern beinahe platzen vor inbrünstiger Anstrengung. Der Ton muß tief und rauh sein und sich in den entscheidenden Augenblicken zu ungeheurer Gewalt steigern. Lieber heiser werden als glatt bleiben, lieber herb sein als schmalzig, lieber erschreckend wirken als gefällig [...].«60 Während der Probenphase hatte es zwischen Reinhardt und Goldenberg Differenzen gegeben. Der Schauspieler fürchtete, dass die Anstrengungen der Proben seiner Stimme »Schmelz und Schmalz« rauben würden. Reinhardts schonungsloser Kommentar dazu lautete: »Er soll […] seine vieljährige Erfahrung, die ihn bisher nicht einmal auf den Broadway bringen konnte, in seiner Blechdose lassen und einmal versuchen, sich in frischer Zubereitung zu verkaufen.«61 Die Könige Saul und Zedekiah, beides tragische, aber sehr unterschiedliche Charaktere, forderten vom Darsteller eine große Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten. Beide Rollen – Saul, der erste König eines Hirtenvolks, primitiv, barbarisch und erfüllt von schrecklichen Wahnvorstellungen sowie Zedekiah, der letzte König, dekadent, stolz und mit angeborener Noblesse – sollten von ein und demselben Schauspieler verkörpert werden. Reinhardts Beschreibung nach waren beide Figuren pathologisch einsam und fühlten sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen. In ihrem Leiden und ihrer Hilflosigkeit sollten sie den Zuschauer erschüttern. »Die wesentliche Aufgabe des Darstellers liegt darin, diese unglücklichen Menschen, (in kurzen Szenen!) fern von allem Gewöhnlichen, rätselhaft und voll Spannung zu gestalten, sie aber gleichzeitig unserem Gefühl, unserem tiefen Mitleid ganz nahe zu bringen. Versagt der Darsteller in diesem entscheidenden Punkt, so bleiben große Teile der Dichtung ohne inneres Leben.«62 Der in Frage kommende Schauspieler sollte von hoher, schlanker, vornehmer Gestalt sein und ein geheimnisvolles, leidenschaftliches Wesen besitzen. Da Reinhardt mit der ursprünglichen Besetzung, Jacob Ben-Ami, nicht glücklich gewesen war, hatte er sich für die Rollen entweder den britischen Bühnenstar Sir John Gielgud oder den populären US-amerikanischen Schauspieler John Barrymore gewünscht.63 Leider konnte keiner der beiden für 59 60 61 62 63

Ebd. Ebd. Ebd., S. 27. Ebd., S. 31. Jacob Ben-Ami (1890–1977): Der in Minsk geborene Regisseur und Schauspieler gehörte dem berühmten, von Maurice Schwartz gegründeten Yiddish Art Theatre an. Später verließ er mit einigen anderen das Ensemble, um das Jewish Art Theatre zu gründen. Sir John Gielgud (1904–2000), britischer Bühnenschauspieler, war gelegentlich auch in Kinofilmen zu sehen. Reinhardt hatte Gielgud im Sommer 1933 im Londoner New Theatre in der Inszenierung von Gordon Dairots Richard of Bordeaux erlebt. Siehe Gusti Adler: a.a.O., S. 305. John Barrymore eigentl. John

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die Inszenierung gewonnen werden. Zudem fiel mit Streichung des vierten Aktes auch die Rolle von König Zedekiah weg. König Saul wurde von Walter Gilbert gespielt. Lotte Lenya war ursprünglich nur für die Rolle der Miriam (Mirjam), Moses Schwester, vorgesehen. Diese Rolle hatte ihr Weill auf den Leib geschrieben.64 Lenya, die sowohl tanzen, singen als auch spielen konnte, hatte sich in Deutschland spätestens seit ihrem Auftritt als Jenny in G.W. Pabsts Dreigroschenoper-Film (1931) einen Namen gemacht. In den USA dagegen kannte sie kaum jemand, und The Eternal Road war hier ihre erste künstlerische Aufgabe. Kurz vor Wiederaufnahme der Proben Ende 1936 schlug Weill vor, sie auch als Ruth zu besetzen. Reinhardt war von dieser Idee nicht sonderlich angetan, da Lenya so gar nicht seiner Vorstellung der Ruth-Figur – jung, groß und blond – entsprach.65 Stattdessen bot Reinhardt Lenya zusätzlich zur Miriam die Rolle der Witch of Endor (Das Weib von Endor) an. Der Plan war die Partie breiter auszugestalten und musikalisch durch alte Synagogenmelodien zu bereichern. Reinhardt glaubte, dass der Part, wenn er »nicht aus einem alten Ofenrohr deklamiert, sondern mit echter Empfindung gespielt« würde,66 eine schauspielerische Herausforderung für Lenya sein könnte. Auf Grund von Textkürzungen zerschlug sich dieser Plan. Auch die Rolle der Miriam wurde während der Proben nach und nach zusammengestrichen. Reinhardt hielt die Gestalt der Rachel (Rahel) dichterisch und musikalisch für nicht ganz geglückt, den Rahel-Auftritt im ersten Akt jedoch als lyrisches Mittelstück für wichtig und notwendig. Da größere weibliche Rollen im Bibelspiel rar waren, schlug er vor, auch kleinere Partien, wie eben die der Rahel, mit besonders reizvollen Frauen zu besetzen. Vor der Wiederaufnahme der Proben 1936 dachte er dabei an Jarmila Novotna. Er war der festen Überzeugung, dass die schöne Sängerin mit ihrer herrlichen Stimme die Rahel-Szenen zu einem Ohren- und Augenschmaus machen würde.67 Für den Fall, dass Novotna die Rolle übernähme, forderte Reinhardt, die zusammengestrichene Partie wieder zu erweitern und musikalisch nach alten Melodien umzuarbeiten. »Das Allerbeste der Novotna ist immer eine süßtraurige Sterbescene [-szene].

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Blythe (1882–1942) war ein gefeierter US-amerikanischer Bühnen- und Filmschauspieler und Bruder von Ethel und Lionel Barrymore. Vgl.: Brief (135) von Kurt Weill aus Murten-See/Schweiz an Lotte Lenya in London, 14. Juli 1935. In: Lys Symonette/Kim H. Kowalke: a.a.O., S. 187. (engl. Ausg.: S. 182). Vgl.: Telegramm von Max Reinhardt aus Hollywood an Kurt Weill in New York, 23. November 1936. Weill-Lenya Papers, Yale, Box 49/Folder 58. Max Reinhardt: Synagoge. Theatermuseum Wien, Re 24/405/23. Mit der in Prag geborenen Sängerin hatte Reinhardt in Berlin Jacques Offenbachs Schöne Helena (1931) am Kurfürstendamm Theater und Hoffmanns Erzählungen (1931) am Großen Schauspielhaus inszeniert. Auch in Reinhardts letzter Inszenierung (Die Schöne Helena), die erst nach seinem Tode am New Yorker Alvin Theatre Premiere (24. April 1944) feierte, gab Novotna die Titelrolle. Vgl.: Huesmann: WN 2131, 2163 und 2635.

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(Siehe: Tales of Hoffmann.) Mit ihr ist ein großer attraktiver Reiz zu gewinnen. Ohne sie oder eine gleichwertige Kraft bleibt die Scene nur ein gefährlicher Hustenreiz. Und wenn das Publikum einmal zu husten beginnt, werden die Reize der alten Juden schwer gegen diese elfte und schrecklichste Plage im Theater aufkommen«,68 witzelte Reinhardt. The Eternal Road hätte für Novotna eine risikolose Einführung in die US-amerikanische Theaterszene bedeuten können. Es gelang jedoch nicht sie für die Inszenierung zu gewinnen.69 Die Rolle der Rahel wurde von Sarah Osnath-Halevy verkörpert. Für die Figur des Jeremiah, der neben König Zedekiah der Hauptträger des vierten Aktes war, forderte Reinhardt einen »äußerlich wie innerlich großen«, »geistigen und wirklich ekstatischen Menschen«.70 Der Sänger sollte zur Darstellung tiefsten innerlichen Leidens fähig sein, schwer und zyklopisch sich sein Text aus den Schreckensvisionen des Propheten formen. Musikalität und eine mächtige Stimme waren unerlässlich, um über die Schwierigkeiten dieser Rolle und den schwachen letzten Akt hinwegzuhelfen. Als Idealbesetzung für die Rolle des Jeremiah hatte Reinhardt den russischen Bassbariton Fjodor Schaljapin ins Auge gefasst.71 Dem Sänger sollte die schwere Aufgabe zufallen, den vierten Akt zu retten. Chaliapine [Schaljapin] wäre das Ideal in jeder Beziehung. Er hat die Gestalt, die Musikalität, die Bedeutung, die Tiefe, die Innerlichkeit und den Stil in einer geradezu unfaßlichen Vollkommenheit. Er allein würde den letzten Akt mit seiner unvergleichlichen Kraft mühelos auf den Gipfel heben und damit das ganze Werk retten. Der letzte Akt würde damit zur Sensation des Abends werden und was das für jedes aber besonders für dieses Werk bedeutet, brauche ich nicht auszuführen.72

Die Fähigkeiten des Sängers und die Werbewirksamkeit seines Engagements rechtfertigten in Reinhardts Augen die damit verbundene finanzielle Mehrbelastung. Auch Weill sagte die Vorstellung, Schaljapin für eine der tragenden Rollen zu gewinnen, sehr zu. Da die Rollenkombination AbrahamJakob-Mose-Salomon-Jeremiah eine Fülle wirkungsvoller Gesänge barg, bestand auch er darauf, dass diese von einem Sänger wirklichen Formats verkörpert würde. Allerdings fürchtete er Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit

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Max Reinhardt: Synagoge. Theatermuseum Wien, Re 24/405/43. Vielleicht war Novotna auf Grund der Dreharbeiten zu Leo Mittlers Kinofilm The Last Waltz (UK 1936) verhindert. Es ist jedoch auch denkbar, dass die Eternal Road-Produzenten vor den hohen Kosten, die das Engagement von Jarmila Novotna bedeutet hätte, zurückschreckten. Ebd., S. 27. Schon als er 1935 seine ursprüngliche Besetzung zusammenstellte, hatte er an Schaljapin gedacht, allerdings in der Rolle des Mose. Er gelangte jedoch zu der Überzeugung, dass der damals 63-jährige Bassbariton den körperlichen und sprachlichen Anforderungen dieser großen Rolle nicht gewachsen sein würde. Ebd., S. 28. Max Reinhardt über Schaljapin siehe auch: ebd., S. 28–30.

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dem exzentrischen Künstler.73 Da Schaljapin andere Verpflichtungen hatte, stand er 1936/37 für eine Mitarbeit nicht zur Verfügung. Überdies fiel die Rolle des Jeremiah weg, da nur ein sehr kleiner Teil des Propheten-Aktes zur Aufführung kam.

Authentizität New York beherbergte in den dreißiger Jahren die größte jüdische Gemeinde und nach Los Angeles das größte Emigrantenzentrum der USA. Es war also zu erwarten, dass ein Großteil des Eternal Road-Publikums Juden sein würden. Um diesen Zuschauerkreis nicht zu brüskieren, war Reinhardt bemüht, im Umgang mit rituellen Gegenständen, der Darstellung der Synagogengemeinde und der liturgischen Handlungen sowie der Ausgestaltung der biblischen Figuren und Ereignisse Authentizität zu wahren.74 Auch Werfel lag viel daran, die religiösen Gefühle der Zuschauer nicht zu verletzen. So verlangte er beispielsweise, sich bei der Entnahme der Tora aus dem Schrein streng an die liturgischen Vorschriften zu halten.75 Um über die Richtigkeit der religiösen Aspekte des Dargestellten zu wachen, hatte man eigens den Rabbiner Maurice Samuel engagiert.76 Dem Choreographen, Benjamin Zemach, der als Einziger im Produktionsteam bereits Erfahrung in der Umsetzung jüdischer Traditionen auf dem Theater gesammelt hatte, fiel die Aufgabe zu, die Schauspieler in den komplexen Verhaltenskodex innerhalb der Synagoge einzuführen. Ferner wachte er sensibel über die Glaubwürdigkeit der Bibelszenen. 73 74

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Brief von Kurt Weill aus Louveciennes an Max Reinhardt, 6. Oktober 1934. WeillLenya Papers, Yale, Box 47/Folder 13, S. 2–3. Als Vorbereitung auf seine Inszenierungsarbeit besuchte Reinhardt kurz nach seinem Eintreffen in New York Ende September 1935 zu »Simchath Torah«, dem Torafreudenfest, den »schäbigen Saal« einer chassidischen »Schul« auf der Lower East Side, um hier in die Atmosphäre eines traditionellen Gottesdienstes einzutauchen. Vgl.: Meyer W. Weisgal: a.a.O., S. 97; (engl. Ausg.: S. 124). Und. Gottfried Reinhardt: a.a.O., S. 221–222. Im Eternal Road-Regiebuch finden sich eine Reihe ritueller Handlungen wie das Auflegen der Hände als Segensspende, das Verhüllen des Hauptes als Demutsgeste oder das Brechen und gemeinsame Essen des Brotes als Symbol der Zusammengehörigkeit. Letzteres ist keine Anspielung auf die christ-liche Eucharistiefeier, sondern erinnert an die Gesetze zur Ausgestaltung der Stifts-hütte, die am Sabbat das Auslegen von 12 Schaubroten – Symbole für die 12 Stäm-me Israel – vorschreibt. 2. Mose 25,30 und 3. Mose 24,5–9. Auch ließ der Regisseur die Mitglieder der Gemeinde beim Gebet auf traditionelle Weise sich die Hände vors Gesicht schlagen und rhythmisch den Oberkörper vor- und zurückwiegen. Vgl.: Karin Kowalke: a.a.O., Bd. II, S. 6, 18, 70–72, 156, 241, 243, 266, 272, 299–300. Vgl.: Franz Werfel [1]: a.a.O., S. 15. Siehe: William A. Drake: »Franz Werfel«. In: Meyer W. Weisgal/Crosby Gaige (Hg.): Present Max Reinhardt’s ›The Eternal Road‹. A New Play by Franz Werfel, Music by Kurt Weill. [Souvenirprogramm] Manhattan Opera House. New York 1937. Max Reinhardt-Nachlass, Theatermuseum Wien, Re 41/769/27.

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Einerseits legte Reinhardt Wert darauf, sich in religiösen Belangen an die vorgeschriebenen Regeln des jüdischen Ritus zu halten. Andererseits ließ er sich in seiner Inszenierungsarbeit vornehmlich von dramaturgischen Überlegungen leiten. Für ihn war das Theater nie ein politisches Instrument gewesen. Er versuchte vielmehr, sich am US-amerikanischen Publikumsgeschmack zu orientieren und eine möglichst imposante Inszenierung zu schaffen. Reinhardt hätte mit dem ihm zur Verfügung stehenden Instrumentarium unmissverständlich Position beziehen können. Doch er ließ diese Chance ungenutzt. Die Eternal Road-Inszenierung wurde Meyer W. Weisgals hohen Erwartungen – die aktuelle Verfolgungssituation der Juden in Deutschland in aufrüttelnder Weise zu kommentieren – nicht gerecht. Und dem Publikum blieb die ursprüngliche Botschaft des Stückes verborgen.

Ferdinand Zehentreiter

Der Gottesgedanke auf der Bühne Schönbergs Oper Moses und Aron als Form der geistigen Synthese

»Verwirklichung des Logos, das ist die religiöse Aufgabe der Kunst« (Broch)1

In einem Brief vom 13. Dezember 1912 eröffnete Arnold Schönberg dem Dichter Richard Dehmel Pläne zu einem oratorienhaften Riesenwerk, für das er ihn von Herzen gerne als Librettisten gewonnen hätte: Ihre Gedichte haben auf meine Entwicklung entscheidenden Einfluß ausgeübt. Durch sie war ich zum erstenmal genötigt, einen neuen Ton in der Lyrik zu suchen. Das heißt, ich fand ihn ungesucht, indem ich musikalisch widerspiegelte, was Ihre Verse in mir aufwühlten. […] Und jetzt Ihr so sehr freundlicher Brief, und das gibt mir endlich den Mut, eine Frage an Sie zu stellen, mit der ich mich schon lange trage. Nämlich: ich will seit langem ein Oratorium schreiben, das als Inhalt haben sollte: wie der Mensch von heute, der durch den Materialismus, Sozialismus, Anarchie durchgegangen ist, der Atheist war, aber sich doch ein Restchen alten Glaubens bewahrt hat (in Form von Aberglauben), wie dieser moderne Mensch mit Gott streitet (siehe auch: ›Jakob ringt‹ von Strindberg) und schließlich dazu gelangt, Gott zu finden und religiös zu werden. Beten zu lernen ! […] Und vor allem: die Sprachweise, die Denkweise, die Ausdrucksweise des Menschen von heute sollte es sein; die Probleme, die uns bedrängen, sollte es behandeln.2

Wie Beethoven bedurfte auch Schönberg eines Librettos, das »große Gegenstände« behandelt,3 um seine tiefsten künstlerischen Ausdrucksstrebungen mit Worten in Verbindung setzen zu können. Und so wollte er auch wenige Jahre später nicht verstehen, dass sein Schüler Berg sich ausgerechnet dem realistischen Woyzeck-Stoff verschrieben hatte. Wie Karl Rankl berichtet, habe Schönberg »anfangs Bergs Textwahl nicht gebilligt, und gemeint, Musik solle sich lieber mit Engeln als mit Offiziersdienern beschäftigen«.4 Das mag angesichts des Psycho-Realismus in Schönbergs Monodram Erwartung zunächst erstaunen, doch verband Schönberg mit dem projektierten Oratorium bzw. einer oratorischen Symphonie ganz andere Form-Ansprüche als mit dem rhap1 2 3 4

›Gedanken zum Problem der Erkenntnis in der Musik‹. In: Philosophische Schriften 2 Theorie, Kommentierte Werkausgabe 10/2. Frankfurt am Main 1998, S. 245. Arnold Schönberg: Briefe (ausgewählt und herausgegeben von Erwin Stein). Mainz 1958, S. 30f. Zit. in: Klaus Kropfinger: Beethoven. Stuttgart, Weimar 2001, S. 163. Wiedergegeben in H.F. Redlich: Alban Berg. Wien 1957, S. 105. Redlich bezieht sich auf einen Schönberg-Artikel Rankls in The Score (London 1952), Maiheft.

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sodischen Einakter von 1909. Abendfüllend und von zyklischer Gestalt sollte das Stück werden, anders als das Monodram, aber auch als das »Drama mit Musik« Glückliche Hand von 1910–1913, d.h. hauptsächlich aus der Zeit unmittelbar vor dem brieflich exponierten Plan. An welche Ausmaße Schönberg hier gedacht hatte, zeigen Notizen von 1912–1914, in denen die Rede ist von einer gigantischen »Symphonie für Soli, Chor und Orchester« mit zahlreichen Sätzen und einer Pluralität von Textvorlagen (u.a. Tagore, Bibel-Psalmen, Dehmel, eigene Texte) – überdies für einen Klangapparat, der alles bisher Komponierte in den Schatten stellen sollte. Letzteres wird explizit gemacht in den Skizzen zu dem späteren Abkömmling aus der Symphonie, dem (1915 begonnenen) fragmentarischen Oratorium Die Jakobsleiter: Diese sahen allein an Bläsern 20 Flöten, 24 Klarinetten, 20 Fagotte, 12 Hörner, 10 Trompeten, 8 Posaunen und 6 Kontrabass-Tuben vor, zum Orchester sollten noch 13 Solisten und 720 Chorsänger treten. Auch die musikalische Faktur der Jakobsleiter zeugt von dem Anlauf zu einem Schlüsselwerk. Es enthält ein Kompendium der Schönbergschen Sprachmittel und greift dabei nach zwei polaren Richtungen über das Material der atonalen Phase hinaus: auf die entwickelte Tonalität unmittelbar vor dieser Phase und auf die spätere Komposition mit 12Ton-Reihen. Bezeichnend für Schönberg ist, dass dieser Versuch einer übergreifenden kompositorischen Synthesis nicht für ein reines Instrumentalwerk gedacht war, sondern verknüpft mit einer chiffrierten programmatischen Deutung der Epoche und der eigenen Situation – was in dem Symphonie-Plan recht unverhüllt zutage tritt. Bereits der 1. Satz bezieht sich mit seinem Titel Lebenswende auf beide Ebenen gleichzeitig, insgesamt wird die in dem Dehmel-Brief zusammengefasste Grundidee deutlich markiert. Es gibt eine Peripetie in der Mitte: »Unbefriedigt. Der bürgerliche Gott genügt nicht«, wenig später einen »Totentanz der Prinzipien« und gegen Ende das weltanschauliche Resumée: »Der Glaube des ›Desillusionierten‹: die Vereinigung nüchternskeptischen Realitätsbewusstseins mit dem Glauben. Im Einfachen steckt das Mystische«.5 Der kompositorischen Schlüsselbedeutung des Symphonie-Oratorium-Planes für Schönberg entspricht die des programmatischen Entwurfes dazu – dem man nur dann gerecht werden kann, wenn man eine scheinbare Paradoxie darin systematisch ins Auge fasst. Einerseits geht es hier um das Denken des »Menschen von heute«, damit auch: des säkularisierten Menschen, der sich den »alten Glauben« nur noch als »Aberglauben« bewahren kann – andererseits aber um die »Religiosität« eben dieses Menschen und seine Auseinandersetzung mit Gott. Dieselbe Paradoxie steckt bereits in dem Verweis auf den Menschen, der mit Gott »streitet«, noch bevor er ihn »gefunden« hat. Um wel-che Form von Gottesglauben aber kann sich dabei handeln, wenn es einer ist jenseits der alten Religion(en)? Gott muss hier auf völlig neue Weise »gefunden« worden sein. 5

Siehe dazu: Josef Rufer: Das Werk Arnold Schönbergs. Kassel 1959, S. 101.

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Theodor W. Adorno hat den zitierten Brief interpretiert – und dabei genau diese Frage, die mitten ins Zentrum von Schönbergs Denken führt, unterlaufen mit einer eindimensionalen Ideologiekritik: Mit dem Revisionismus in der musikalischen Struktur sind Äußerungen Schönbergs zusammenzudenken gleich jener aus einem Brief von 1912, in dem er Richard Dehmel fragt, ob er zur Textierung eines ›abendfüllenden Werkes‹ bereit wäre. […] Das Moment des Abrupten und Gewaltsamen im Übergang von den Erfahrungen der freien Atonalität zur systematischen Formulierung der Zwölftontechnik, und die Konzeption von Religiosität als Rückkunft, mit dem drohenden Zeigefinger des Beten-Lernens, fallen nicht nur entwicklungsgeschichtlich zusammen, sondern auch dem Inhalt nach; hier wie dort wird Ordnung aus dem Bedürfnis postuliert und nicht aus der eigenen Wahrheit zur Sache.6

Abgesehen davon, dass es musikästhetisch nachgerade abenteuerlich ist, Schönbergs kompositorischer Entwicklung im Dezennium von 1910–1920 die Sachhaltigkeit abzusprechen,7 geht es in dem besagten Dehmel-Brief eben gerade nicht nur um eine schlichte »Rückkunft«. Was Adorno hier als bloßen geistigen Revanchismus diffamiert, ist in Wahrheit Ausdruck einer epochalen Säkularisierungs-Schwelle, der Schönberg exemplarisch Ausdruck verleiht. Von Anfang an stand seine Existenz im Zeichen dieses Umbruchs, und die Auseinandersetzung damit sollte schließlich in dem Opernfragment Moses und Aron ihren Scheitelpunkt erreichen. Dieses stellt nichts weniger dar als ein Werk der biographisch-künstlerischen Synthese des Komponisten. Dessen Existenz stand von Anfang an im Zeichen einer, um es auf eine Formel zu bringen, Überbrückung des Unüberbrückbaren. Zunächst war das Werden seiner Künstlerexistenz zunehmend gespannt zwischen dem Partikularismus seiner Herkunft und dem Universalismus seiner künstlerischen Bestrebungen. Geboren in der Wiener Leopoldstadt, einem Sammelbecken jüdischer Emigranten aus dem Osten,8 das in großem sozialkulturellem Kontrast stand zum vornehmen 1. Bezirk, der Residenz des bürgerlichen oder großbürgerlichen Wiener Judentums, wurde ihm nicht eine Laufbahn als avantgardistischer Künstler an der Wiege gesungen. Lange fügte er sich den strengen Solidaritätsnormen seines Herkunftsmilieus, besuchte statt einer künstlerischen Ausbildungsstätte die Oberrealschule und absolvierte für kurze Zeit eine Banklehre, sein künstlerisch-intellektuelles »curriculum« hatte er in dem informellen Austausch in seiner jüdischen peer-group. Selbst sein erstes künstlerisches Engagement als Leiter verschiedener Arbeiterchöre (1895–1901) gehorchte diesem 6 7

8

Theodor W. Adorno: »Vers une musique informelle«. In: Klangfiguren. Musikalische Schriften I–III. GS 16. Frankfurt am Main 1978, S. 497f. Siehe dazu etwa: Martina Sichardt: Die Entstehung der Zwölftonmethode Arnold Schönbergs. Mainz u.a. 1990. Ethan Haimo: Schoenberg’s Serial Odyssey. New York 1990. Joseph Roth bezeichnete es einmal als »freiwilliges Ghetto«. In: Ders.: »Juden auf Wanderschaft – Wien«. In: Ruth Beckermann (Hg.): Die Mazzesinsel. Wien 1984, S. 24.

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Muster. Abgesehen davon, dass auch Schönbergs Vater in Arbeiterchören gesungen hatte, waren diese Ausdruck einer Besonderheit der österreichischen Arbeiterbewegung: wie keine andere in Europa stellte diese die Bildungsarbeit in den Mittelpunkt, und dies vor allem wegen der führenden Bedeutung jüdischer Intellektueller in der Bewegung. David Josef Bach etwa, einer der engsten jüdischen Jugendfreunde Schönbergs, gründete 1906 in Wien die ArbeiterSymphoniekonzerte und war von 1919–1933 Leiter der sozialdemokratischen Kunststelle – und dies ganz im Glauben an die revolutionäre Bedeutung gerade der autonomen Kunst. In einer Synthese aus Wagnerschen und Marxschen Gedanken vertrat er die Theorie, dass die geistig-ethische Potenz der autonomen Kunst erst im Sozialismus voll zur Geltung kommen könne, da dort nicht mehr das Marktprinzip regiert. Als sich Schönberg Anfang des 20. Jahrhunderts von der Arbeitermusikbewegung abwandte, bedeutete dies keinen Richtungswechsel seines ›politischen‹ Denkens, sondern lediglich einen neuen Anlauf innerhalb desselben ethischen Programms, das er in spiralförmiger Bewegung auf die Bahn einer autonomen Künstlerexistenz brachte. Wenn er also im Wintersemester 1904/05 an den »Schwarzwald’schen Schulanstalten« (in der Wallnerstraße am Kohlmarkt) unterrichtete, so war dies ebenso wenig eine rein kunstpädagogische Angelegenheit, wie die Tätigkeit für die Arbeiterchöre eine politische. In beiden Fällen handelt sich um eine in der jüdischen Kultur verwurzelte Form der Gemeinwohlorientierung durch Bildungsarbeit, wie sie nicht nur im Engagement jüdischer Intellektueller für den Sozialismus zum Ausdruck kommt, sondern ebenso in ihren bürgerlich-sozialreformerischen Aktivitäten9 oder ihren Gründungen von Volksbildungsanstalten. Im Falle Eugenia Schwarzwalds kommt zur Schulgründung auch die Führung eines Salons – ebenfalls eine typische Geistesaktivität jüdischstämmiger Frauen der höheren Wiener Gesellschaft (zu nennen wären etwa noch Berta Zuckerkandl oder Henrietta Pereira) –, in dem neben Schönberg auch Loos, Kokoschka und andere Vertreter der radikalen Moderne verkehrten. Kurz: es gibt einerseits eine zentrale Linie in Schönbergs künstlerischer Entwicklung, die, auch wo sie nicht explizit mit Gehalten der jüdischen Tradition arbeitet, in seiner jüdischen Herkunft verwurzelt ist, andererseits konnte im Verfolgen dieser Linie ein Bruch mit seinem Herkunftsmilieu nicht ausbleiben. Man kann auch sagen, dass Schönberg eine in diesem Milieu begonnene Dynamik der Säkularisierung aufgreift und weit über dessen Grenzen hinaus auf genuin künstlerische Weise fortführt. Die daraus resultierenden biographischen Spannungen führten zu einem gesteigerten Rechtfertigungs- und Selbstdeutungsdruck gegenüber dem eigenen Schaffen und der eigenen Künstler-Existenz – mit dem Scheitelpunkt Moses und Aron. Die Kontinuität in Schönbergs astronomischer Ent-

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Siehe dazu exemplarisch: Ingrid Belke: Die sozialreformerischen Ideen von Josef Popper-Lynkeus (1838–1921) im Zusammenhang mit allgemeinen Reformbestrebungen des Wiener Bürgertums um die Jahrhundertwende. Tübingen 1978.

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wicklung wird gestiftet durch Grundmomente des jüdischen Geistes:10 darunter vor allem ein hochargumentativer ethischer Fundamentalismus als Folge der sprachlichen Offenbarung und schriftlichen Überlieferung eines universalistischen Gesetzes. Gott wird hier tendenziell zum Abstraktum, zum Gedanken, und dieser muss je neu gedeutet werden in der Gesamtheit der Lebenssituationen mit all ihrer Offenheit und Vielfalt – Nebensächlichkeiten gibt es hier keine. Durch diesen praktisch-ethischen Grundbezug, der bereits in der ethischen Prophetie des Alten Testamentes manifest wird, besitzt dieser geistige Universalismus als Kehrseite eine hohe Systematisierungsfeindlichkeit. Der Gottesgedanke wird eben nicht abstrakt abgehandelt, sondern unter Beanspruchung der »ganzen Person« mit all ihrer selbstverantwortlichen Deutungsschärfe und Durchsetzungsfähigkeit zum Tragen gebracht. Die Folge ist, vor allem im traditionalen Judentum, ein beständiger Streit zwischen radikalen Deutungen.11 Schönbergs Verwurzelung in dieser Kultur reicht nun von partikularistischen Verpflichtungen wie besagter Milieusolidarität (zu der auch die Heirat mit der Schwester seines Privatlehrers Zemlinsky gehört), über die Modernisierung traditionaler Elemente, wie sie etwa in seiner paternalistischen Form des Kompositionsunterrichts zum Ausdruck kommt, in der die MeisterSchüler-Beziehung auf vergleichslose Weise zum Modell erhoben wird, oder auch in seiner Flut von kritischen Kommentaren,12 bis hin schließlich, auf einer dritten Stufe, zur Transformation jüdischen Denkens im Sinne einer Eigenlogik künstlerischen Handelns. Letzteres wird besonderes deutlich in Schönbergs radikaler Verklammerung von Traditionsverpflichtung und grundstürzender Innovation (die im Label des »konservativen Revolutionärs« etwas 10

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Geist wird hier verstanden im Sinne von Max Weber mit seiner Unterscheidung von religiösem Inhalt bzw. Dogma und darin einerseits verankerter, aber andererseits tendenziell davon ablösbarer Ethik, die in historischen Problemsituationen neuen Vergemeinschaftungs- und Habitusformen zur Geburt verhelfen kann. Da diese sich auch von der Religion entfernen können, spricht Weber von einer religiös motivierten Form der Säkularisierung. Siehe dazu vor allem Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen 71978. »Jedes Problem der Familie wie auch der Gemeinschaft unterliegt langatmiger Diskussion um detaillierter Erwägung jeder möglichen Seite einer jeden Frage. Die häusliche Form des pilpul [»gepfefferte« Diskussion]. FZ] folgt genau dem Muster der j’schiwe [Lehrhaus für Talmudstudien. FZ]. Das Leben wäre nicht möglich ohne ständige Meinungsverschiedenheiten. Meinungsverschiedenheiten gehen mit Erregung und hitziger Diskussion einher.« Mark Zborowski, Elizabeth Herzog: Das Schtetl. München 31990, S. 238. »Die spätere Kabbala stellte den Satz auf, der weiteste Verbreitung gewann, daß jedem einzelnen Juden die Tora ein besonderes, nur ihm allein bestimmtes und erfaßbares Gesicht zuwendet« Gershom Scholem: »Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum«. In: Ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt am Main 31980, S. 112. Diese Darstellungsform hat etwa Scholem als »die charakteristische Ausdrucksform des jüdischen Denkens über die Wahrheit« bezeichnet, im Gegensatz zum »System«. Scholem (31980), S. 101

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unglücklich verschlagwortet wurde).13 Diese Aufstufung steht aber keineswegs für einen harmonisch-bruchlosen Übergang vom Bewohner der »Mazzesinsel«, wie die Leopoldstadt vom Wiener Volksmund getauft wurde, zum kompositorischen Avantgardisten. Eine Spannung zwischen Schönbergs innerer Verpflichtung gegenüber seiner Herkunftskultur als einer umgrenzten sozialen Gemeinschaft und seinem Künstler-Universalismus tauchte sofort wieder auf, nachdem sich die Hoffnung zerschlagen hatte, die Wände zwischen dieser Gemeinschaft und ihrer Umgebung könnten sich im Zuge der Modernisierung von selbst auflösen – im Sinne eines allgemeinen Kosmopolitismus. Anfang der 20er Jahre wurde Schönberg auf dramatische Weise klar, dass der Antisemitismus keineswegs zum Aussterben verurteilt war, wie er noch vor dem 1. Weltkrieg denken mochte. Er reagiert darauf sowohl immanent künstlerisch, aber auch mit Schuldgefühlen und Trotz (etwa in der Übernahme des Rassenbegriffs). Letzteres wird besonders deutlich in dem berühmten Brief an seinen Freund Kandinsky vom 20. 6. 1923, in dem er ihm vorwirft, dieser sei antisemitischen Tendenzen am Bauhaus nicht entgegengetreten: Denn, was ich im letzten Jahre zu lernen gezwungen wurde, habe ich nun endlich kapiert und werde es nicht wieder vergessen. Daß ich nämlich kein Europäer, ja vielleicht kaum ein Mensch bin (wenigstens ziehen die Europäer die schlechtesten ihrer Rasse mir vor), sondern, daß ich Jude bin. Ich bin damit zufrieden ! Heute wünsche ich mir gar nicht mehr eine Ausnahme zu machen; […]Es war ein Traum, wir sind zweierlei Menschen. Definitiv!14

Schönbergs offensives Bekenntnis zum Judentum, sein Wiedereintritt in die mosaische Glaubensgemeinschaft, ohne dass er je religiös praktizierend gewesen wäre,15 vor allem aber seine Pläne in den dreißiger Jahren, das Komponie13

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»Ich bin überzeugt, daß man einmal in diesem Neuen [seiner Musik, F.Z.] erkennen wird, wie innig es mit dem Besten verbunden ist, was uns als Vorbild gegeben war. Ich maße mir das Verdienst an, eine wahrhaft neue Musik geschrieben zu haben, welche, wie sie auf der Tradition beruht, zur Tradition zu werden bestimmt ist.« Arnold Schönberg: »Nationale Musik«. In: Ders.: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, Gesammelte Schriften 1 (Hg. von Ivan Vojtech) Frankfurt am Main 1976, S. 254. Über das Verhältnis von Traditionsbindung und »schöpferischer Forschung« im Judentum im Allgemeinen siehe: Scholem (31980). Schönberg (1958), S. 90. Schönbergs Verhalten erinnert stark an die von Stefan Zweig beschriebene Trotzhaltung: »Der Glaube [unserer Ahnen] wurde zu einer Kraft, die sie bewahrte und durch die Zeiten trug. Diese Kraft, leugnen wir es nicht, wir haben sie nicht mehr, wir glauben nicht mehr, daß wir das einzig auserwählte Volk Gottes seien, besser, klüger, gerechter, edler, als die anderen Nationen, daß zu uns allein Gott spräche und für uns allein die Welt geschaffen. […] Aber wer Leidende, Unterdrückte, […] beobachtet hat, der weiß, daß bei ihnen sich das Gefühl der Minderwertigkeit oft in einen überreizten Stolz flüchtet, in ein gesteigertes und übersteigertes Selbstgefühl. Öfter als jemals hört man nun Worte sagen, die man von vergangenen Generationen des Judentums nie ausgesprochen gehört hat wie ›Ich bin stolz, ein Jude zu sein‹ und ›ich möchte nichts anderes sein als ein Jude‹. Öfter liest man Erörterungen, die

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ren aufzugeben zugunsten eines Amtes als politischer Führer und Befreier der deutschen Judenschaft, verraten tief sitzende Skrupel wegen seines nur der Kunst verschriebenen Universalismus. Und darin drückt sich nicht nur eine biographische Randbedingung seines Schaffens aus, sondern ein bis ins Werk hinein reichendes Charakteristikum seines Künstlertums. Der Glaube an seine Fähigkeit zur politischen Führerschaft und der an seine kompositorische Mission spiegeln einander (er selbst hat seinen Anspruch auf politische Führerschaft bisweilen damit legitimiert, er sei auch in seinem Bereich bisweilen diktatorisch vorgegangen, etwa in der Führung des Vereins für musikalische Privataufführung). Verstand er diese im Sinne seiner ethischen Grundhaltung auch als einen Beitrag zum sittlichen Fortschritt der Menschheit, so stellte er für seine politische Mission die geistige Einigung des Judentums im Sinne des Gottesgedankens in den Mittelpunkt. Für letzteres sah er durchaus kollektiv wirksame »realpolitische« (Schönberg) Maßnahmen vor: Propaganda, den Erwerb eines »Aufmarschgebietes« in Südamerika, die Gründung einer jüdischen Einheitspartei, dies alles zur nationalen und militärischen Erstarkung. Nicht nur diese Pläne, sondern auch der Spagat, der dort gemacht wird zwischen geistiger Fundierung einer neuen jüdischen Gemeinschaft und der kollektiven Durchsetzung des »Gedankens«, werden abgehandelt in Schönbergs Schauspiel Der biblische Weg (1926/27). Es selbst ist Ausdruck dieses Spagats, sollte ein Kunstwerk über das Judentum sein und gleichzeitig Propagandastück.16 Seine Hauptfigur, Max Aruns, vereint in sich beide Pole, Gedanke und Tat – und sie scheitert aus diesem Grund. Der Vertreter der Orthodoxie, Asseino, spricht dies deutlich aus: »Der Gedanke […] läßt, so wie Gott keine Vorstellung [fett gedruckt durch Schönberg. FZ] zuläßt, keine materielle Verwirklichung zu. Wer sich dem Gedanken ergibt, muß entweder auf den Versuch der Verwirklichung verzichten, oder aber sich mit einer Wirklichkeit begnügen, welche er nicht erleben möchte.«17 Im dem Schauspiel wird dieser Konflikt noch gekittet durch die Koppelung des erfolgreichen militärischen Führertums von Guido, politischer Nachfolger von Aruns, mit dem priesterlichen Führungsamt, das Asseino als geistiger Erbe Aruns auf sich nehmen möchte.

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gerade jetzt, da der Antisemitismus die Juden als inferior behandelt, nachweisen wollen, daß sie eigentlich allen anderen Rassen und Nationen superior seien. […] Wir segnen und bekräftigen damit die Bücher der Rassentheoretiker, wir sperren uns in ein neues Getto ein, indem wir uns durch Hochmut von den anderen Völkern so absondern, wie sie uns in Gehässigkeit von sich absondern wollen.« Stefan Zweig: »Eine Ansprache«. In: Ders.: Die schlaflose Welt. Essays 1909–1941. Frankfurt am Main 42003, S. 217 und S. 221f. »It is very highly dramatic, stylistically the best thing I have written, and, although its profundities offer the superior mind plenty of food für thought, is vivid and theatrical enough to fascinate the simpler sort.« Brief an Jakob Klatzkin vom 26. Mai 1933. Zit. in: Moshe Lazar: Arnold Schoenberg and His Doubles: A Psychodramatic Journey to His Roots. In: Journal of the Arnold Schoenberg Institute, Volume XVII, Numbers 1&2, June and November 1994, S. 96. Der biblische Weg. In: Journal (1994), S. 324.

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Einer der Gründe für diese Inkonsequenz ist sicher, dass Schönberg sich hier mit einem Stück Theater-Propaganda nicht auf seinem eigensten Felde, der Musik, ausgedrückt hat. Schönbergs durch die Zeitläufe aufgestachelter innerer Konflikt zwischen seinem Engagement für die politische Erleuchtung des Judentums und dem für seine Mission als Künstler verweist auf ein immanent ästhetisches Konfliktfeld, das für ihn primäre Bedeutung hatte. Die Beschäftigung mit diesem lieferte ihm parallel zu seiner zionistischen Phase auch eine Perspektive, sich im Judentum zu verorten, ohne seine Position als autonomer Künstler aufgeben zu müssen. Mit Moses und Aron biegt seine zionistische Deutung dieses biographischen Grundproblems in eine genuin künstlerische ein und wird darin aufgehoben – und zwar nicht nur als beseitigter Störfaktor, sondern durchaus auch als Moment der Bereicherung. Das Stück stellt also in höchstem Maße einen biographisch-künstlerischen Verdichtungspunkt in Schönbergs Künstlerexistenz dar: es vereint nicht weniger als eine theologische, eine ästhetische, eine autobiographische und eine universalhistorische Perspektive. Die parallel zu Schönbergs politischer Behandlung seines Judentums sich vollziehende künstlerische Sublimierung seines Herkunftsproblems begann mit der kompositorischen Wende Mitte der zwanziger Jahre nach 10 Jahren Krise – also, mit der Bewältigung des Problems, auch im »atonalen« Raum wieder in großen Dimensionen motivisch entwickelnde Formen herstellen zu können, und zwar durch das Komponieren mit Zwölftonreihen. Erst dann hatte sich der Verstoß in den atonalen Klangraum ästhetisch bewährt, konnte gezeigt werden, dass man auch in diesem auf eigenen Füßen stehen konnte – dann hatte man sich als einsamer Revolutionär gleichzeitig als Erbe der großen Tradition bewährt. Zu diesem Zeitpunkt beginnt Schönberg sich mit der Figur des alttestamentarischen Propheten zu beschäftigen. Die innere Beziehung zwischen Schönbergs Charakterisierung des »Auserwählten« in der Semantik des Alten Testamentes – von dem zweiten der Vier Chöre für gemischten Chor op. 27 (»Du sollst nicht, du musst«), bis zu Moses und Aron – und seiner eigenen Position als Avantgardist ist dabei mit Händen zu greifen: In beiden Fällen geht es um den (zunächst) alleine dastehenden, bekämpften Charismatiker einer Revolution im Sinne des »Gedankens« bzw. als Medium des geistigen Progresses. Es wäre nun musiksoziologisch völlig zu kurz gegriffen, hier nur eine ideologische Verbrämung des eigenen Status zu sehen, etwa auf der Linie eines jüdisch angehauchten Wagnerismus. Vielmehr hat Schönberg hier mitten ins Schwarze getroffen – wie Max Weber18 (und die auf ihm fußende Tradition der Religionssoziologie) und Sigmund Freud19 thematisiert er den alttestamentarischen Propheten als eine Initialfigur des abendländischen Rationalisierungsprozesses und vermag dabei gleichzeitig die Schere zwischen 18 19

Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie III. Das antike Judentum. Tübingen 1983. Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: Ders.: Gesammelte Werke XVI, S. 103–246.

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seiner Herkunftskultur und seiner Position als daraus heraus gelöster moderner Künstler wieder zu schließen. Denn er erweist sich gerade durch seine Fortführung des in der jüdisch-christlichen Religionstradition verwurzelten Modernisierungsprozesses als herausgehobener Repräsentant und Erbe dieser Tradition – wenngleich natürlich auf abstrakte Weise. Gerade in Moses und Aron wird diese Integrations-Strategie auf exemplarische Weise deutlich. Die Art und Weise, wie dort der alttestamentarische Stoff zur Darstellung gebracht wird, amalgamiert eine geradezu modellhafte Präsentation des ethischen Prophetentums nicht nur mit einer Kompositionsweise des Gedankens, sondern auch mit ihrer Ästhetik, wie sie Schönberg in Entwürfen und Vorträgen seit den dreißiger Jahren immer wieder expliziert hat. Gleichzeitig erlaubt sie auch eine Spiegelung des politischen Massenkommunikationsaspektes aus dem Biblischen Weg in die historische Mission des charismatischen Innovators. Es wundert daher nicht, dass es nicht bei dem Plan zu einer Kantate oder Oratorium geblieben ist, wie Schönberg ihn erstmalig 1926 unter dem Titel Moses am brennenden Dornbusch gefasst hatte.20 Das wäre der Vielschichtigkeit des Stückes nicht gerecht geworden. Gerade die Polarität zwischen der Darstellung der Gedankenarbeit des Propheten und der Massenbehandlung durch Aron bedarf der Möglichkeit, eine spannungsvolle Handlungsdynamik in Szene zu setzen. Anders ausgedrückt: gerade die Polarität zwischen den oratorienhaften Passagen des Stückes und seinen Aktionsszenen gehört zum Handlungsraum dieser Oper. Darin wird die prophetische Instanz in zwei Personen gespalten: in Moses, der zwar Gott visionär erschauen und seinen Gedanken in Begriffe fassen, aber dem Volke nicht wirkungsvoll verkünden kann, und Aron, der zwar das Volk in Bann schlagen kann, zum Teil mit magischen Mitteln, aber den monotheistischen Gottesgedanken nicht wirklich versteht. So biegt Schönberg auch aus der politischen Theologie des Biblischen Wegs in die vieldimensionale Welt der Oper ein: Sind im Biblischen Weg Gedanke und Tat noch einer Person vereinigt, also in Max Aruns, so wächst durch die Spaltung dem Pol der Tat noch eine genuin ästhetische Dimension hinzu. Aron vertritt dramatisch die praktische Seite der Prophetie, also die kollektive Durchsetzung der Verkündigung, und gleichzeitig musikalisch die klangsinnlich-suggestive Seite des materialisierten Gedankens. Schönberg entwickelt den Kosmos von Moses und Aron geradezu systematisch. Die erste Szene der Oper liefert in dem Dialog zwischen Gott im Dornbusch und Moses eine fast bilderbuchhafte Darstellung des monotheistischen 20

Noch 1928, als er bereits eine dreiteilige Vertonung des Moses-Stoffs im Blick hatte, die dem späteren Opernplan entspricht, spricht er noch in einem Brief an Webern von einem »Oratorium«: »Ich habe jetzt einen Text (erste Fassung ! also noch weit von der Vollendung entfernt) zu einem Oratorium: MOSES UND ARON geschrieben: Drei Teile. Der I. Die Berufung, der II. Das goldene Kalb, der III. Arons Tod. Ich habe große Lust zur Komposition. Aber es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis ich anfangen kann.« Ernst Hilmar (Hg.): Arnold Schönberg. Gedenkausstellung 1974. Wien 1974, S. 49.

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Gottesmodells und seiner inneren Verbindung mit der charismatischen Prophetie. Die abstrakten Qualitäten des monotheistischen Gottes werden von Moses gleich zu Anfang nachgerade deduziert: er ist umspannend einzig, mit der zeitlichen Dimension der Ewigkeit, der räumlichen der Allgegenwärtigkeit, der materialen der Unsichtbarkeit und der psychologischen der Unvorstellbarkeit. Wie wird so etwas Nichtdarstellbares musikalisch dargestellt? Zunächst durch sechs Solostimmen, die im Orchester sitzen und im Einklang mit den Nachbarinstrumenten Vokalisen singen. Zu hören ist ein Klangfluidum, schwebend, scheinbar zeitlos, musikalischer Ausdruck immaterieller, nur feinster, spiritueller Wahrnehmung zugänglicher Sphären. Die ästhetische Pointe dieser Eröffnungstakte ist, dass sie eine immaterielle Geistigkeit nicht nur klanglich illustrieren, sondern diese – bei aller gleichsam impressionistischen Duftigkeit – wirklich besitzen. Wie eine Art Struktur-Ouvertüre enthalten sie, mit Mitteln der Reihentechnik, die Erzeugungsformel für die Gestalttotalität des Stückes. Gleich in der nächsten Phase erfolgt die Überbrückung zwischen spirituellem Fluidum und menschlichem Wort. Die Oberstimme der Klänge, die Moses’ Eröffnung der prophetischen Rede stützen, greift die Reihentöne einer den Klangraum bogenförmig durchmessenden Bewegung zuvor auf und nimmt gleichzeitig in stockender Bewegung die spätere Gottesmelodie voraus. Moses ist also Träger von Gottes Gedankenflug. Allerdings heißt das auch: dass sich erst im Auftritt des Propheten das Gestaltreservoir der Gottes-Klänge zur Melodie zu formieren beginnt. Dabei deutet sich eine Komplementarität an: Gott ist Gott nur als einer des Menschen, der ihn verkündet, der seine Gedanken in Sprache vermittelt und dabei zu erleuchten vermag. Gott ist Gedanke, der sich im Menschen entfalten muss. Das wiederum bedeutet, dass die Verkündigung des »Gedankens« sich nicht nur an den Verstand wenden darf, sondern gerichtet sein muss auf das Praxis bestimmende Lebens-Zentrum des Menschen, in dem Verstand, Gefühl und ethische Überzeugungen einander verschränken. Gottes Gedanke muss im Menschen zum Gesetz seiner Lebensführung werden. Das wird noch klarer durch die Hinzuziehung der Aron-Figur als Ergänzung zu Moses. Die Komplementarität zwischen dem monotheistischen Gott und dem sprechend handelnden Menschen zeigt sich hier auch im dialogischen Verhältnis zwischen der Stimme Gottes und Moses. Erst nach dem Auftritt des Menschen fängt Gott selbst an, Worte zu gebrauchen – vorher summt er ja nur eine Vokalise. Das heißt umgekehrt auch, Moses versteht die klangliche Erscheinung im brennenden Dornbusch in sprachlicher Rede. Wenn nun Gott selbst als Dialogpartner die Stimme erhebt, tut er dies in dreifacher Gestalt: als Chor singend, als Chor sprechend und in der instrumentalen Gottesmelodie. Gott ist somit sinnigerweise der einzige Protagonist des Stückes, der sich aller drei Äußerungsformen gleichzeitig bedient. Der Dialog zwischen Moses und Aron in der 1. Szene entwickelt modellartig die Hauptdimensionen des ethischen Prophetentums weiter und exponiert dabei eine Theologie des Gedankens – die sich ohne weiteres in Schönbergs

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Ästhetik des Gedankens übersetzen lässt. Gott teilt sich mit als Gedanke und er bedarf des Propheten, diesen zu verkünden. Letzteres ist für diesen keineswegs ein willkommenes Privileg, sondern eine kaum zu tragende Belastung: Der Prophet hat sich mit der Macht der Blindheit auseinanderzusetzen, etwas zu verkünden, was so neu ist, dass es größte Widerstände hervorruft. Er muss daher mit größtem Vertrauen in seine Mission und nur gestützt auf Überzeugungen, die nur ihm allein von einer verpflichtenden Instanz offenbart wurden, seinerseits überzeugen, d.h. eine Anhängerschaft gewinnen können – er muss, soziologisch gesprochen, Charismatiker sein. Diese Kategorie aus der Religionssoziologie Max Webers fällt an dieser Stelle nicht zufällig. Der Dialog zwischen Gott und Moses bei Schönberg verdichtet dramatisch Webers zentrale Argumentationslinie zur jüdisch-christlichen Religionstradition: den inneren Zusammenhang zwischen der Abstraktheit und Unerkennbarkeit des monotheistischen Gottes, seiner sprachlichen, schließlich schriftsprachlichen Offenbarung, der zukunftsoffenen Deutung der Offenbarung in Kontexten ihrer tätigen Erfüllung, und schließlich der zentralen Rolle der ethischen Prophetie mit ihrer Transformation von Vision bzw. Traumbild in die vergemeinschaftende Rede. Der Prophet ist in dieser Transformation das oft gegen seinen Willen von Gott auserwählte, ohne Amtsinhaberschaft ganz auf sich gestellte, marginalisierte, dabei gleichzeitig kollektiv verpflichtete Medium des göttlichen Gedankens. Der Moses Schönbergs ist dazu alleine nicht geeignet: Seine Zunge ist »ungelenk«, er »kann denken, aber nicht reden«, was nicht heißt »sprechen«, sondern öffentlichkeitswirksam kommunizieren. Dazu bedarf er der Arbeitsteilung mit Aron. Moses ist zwar in der Lage, die göttlichen Visionen zu empfangen und sie als gedankliche Botschaft zu verstehen, kann sich aber nur schroff argumentierend deduzieren. Aron hingegen vermag den Gedanken eine kollektiv wirksame sinnliche Präsenz zu verschaffen, allerdings mit einer gehörigen Portion Naivität, ohne sie selbst immer ganz richtig zu verstehen, – was immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Brüdern führt. Übersetzt in die ästhetische Welt der Oper: Moses spricht nur, Aron singt – bisweilen in weit geschwungenen Kantilenen und Anklängen an die Tonalität. Überdies gibt ihm Schönberg die Stimmlage des Tenors, die der Komponist mit dem Eindruck der gefälligen Eleganz verbindet. Am Ende der Begegnung, in der Moses Aron ständig korrigierend in dessen Kantilenen hineinredet, kommen Aron erste Zweifel an seiner Mission. Er sagt sich erschauernd die Qualitäten des monotheistischen Gottes nochmals vor und ist sich schließlich ganz unsicher darüber, ob das Volk einen Gott lieben kann, den es sich nicht vorstellen »darf«. Hier hakt Moses wütend ein: was ihn stört, sind nicht Arons Zweifel am pragmatischen Erfolg der Verkündigung, die hat er selbst ja auch, sondern der Denkfehler, man müsse dem Volk eine Vorstellung verbieten, die ohnehin nicht möglich ist. Moses Wut ist verständlich – wer so argumentiert wie Aron, hat den monotheistischen Gott von Grund auf nicht verstanden.

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Von Anfang an wird klar, dass Gott eigentlich eine nicht realisierbare Mission fordert. Moses Selbstzweifel, die Überbrückung zwischen dem Fassen des Gedankens und dessen kollektiv wirksamer Verkündigung leisten zu können, findet seine Fortsetzung in dem naiven Wankelmut seines wundertätigen Sprachrohrs Aron, der ja auch den Rückfall in den Götzenkult, also den Tanz ums goldene Kalb, mit zu verantworten hat. Aron muss schließlich, im nicht vertonten III. Akt der Oper, dafür auch sterben. Er wird von Moses gefangengesetzt, fällt dann aber tot um, nachdem er von diesem mit den Worten: »Gebt ihn frei, und wenn er es vermag, so lebe er«, wieder in die Freiheit entlassen wird. Die Last der Aufgabe hat ihn erdrückt. Es ist die Frage, ob die Thematik der unlösbaren Aufgabe nicht auch die Gestalt des Werkes selbst berührt hat. Sofern es sich in der gewählten Thematik selbst repräsentiert, wäre seine Vollendung fast ein Widerspruch in sich gewesen. Auf der Ebene der dramatischen Konstruktion hätte Schönberg entweder eine der beiden Figuren im letzten Akt auf eine kaum glaubwürdige Weise verändern müssen, um ihnen eine erfolgreiche Verkündigung zu übertragen, oder er hätte eine Geschichte des Scheitern des Monotheismus, wie es etwa bei Echnaton vorlag, schreiben müssen – was eine in seiner Abweichung von der biblischen Geschichte groteske Selbstdementierung der Thematik bedeutet hätte. Das ist sicherlich nur eine Spekulation über die Gründe, die Schönberg daran gehindert haben, den III. Akt in den knapp 20 Lebensjahren nach der Komposition von Akt I und II zu vertonen, obgleich er in seinen Briefen nachhaltig an diesem Plan festgehalten hat. Denn, wer nach äußeren Gründen sucht, wird diese schnell finden: etwa die Emigration. Außerdem: wird die Sache denn in Fragmentform besser? Ist es denn nicht nur gradueller Unterschied, ob die untragbaren Folgen einer dramatischen Ausgangskonstellation nun in Langschrift ausgeführt werden oder nicht? Nun – es macht dann einen Unterschied, wenn in der dramatischen Offenheit des Fragmentes ausgedrückt ist, dass es hier um diese dramatische Langschrift gar nicht geht, sondern nur um die zugespitzte Darstellung eines Strukturkonfliktes zwischen Gedanke und Darstellung, die über das biblische Drama hinausweist – und zwar auf das Fragmentarische als Form. Man könnte sogar sagen, als Grundform – durch die Unmöglichkeit, den Gedanken völlig in die perzipierbare Darstellung zu überführen. Dass in der Konstellation zwischen Moses und Aron gleichzeitig eine kompositionsästhetische Grundlagenproblematik chiffriert ist, wird klar durch die Homologisierbarkeit zwischen der Theologie und der Ästhetik des Gedankens. Aus dieser wird auch jenes basale, biographisch tief verankerte ästhetische Konfliktfeld ersichtlich, das Schönberg zu der Parallelisierung seines Künstlertums mit dem Prophetentum veranlasst hat. Sie hat er im Zusammenhang mit der Ausbildung der Reihentechnik entwickelt und nicht zufällig durch biblische Vergleiche zu exemplifizieren versucht. Vor allem der 1935 entstandene Vortrag Komposition mit 12 Tönen ist hier von zentraler Bedeutung. Gleich zu Anfang wird das Thema des Schöpfertums eingeführt mit Bezug auf die Bibel:

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Um das wahre Wesen der Schöpfung zu begreifen, muß man feststellen, daß es kein Licht gab, bevor der Herr sagte: ›Es werde Licht‹. Und da es noch kein Licht gab, umfing die Allwissenheit des Herrn eine Vision davon, die nur seine Allmacht heraufzubeschwören vermochte. Wenn wir armen Menschenwesen von einem der größeren Geister unter uns als von einem Schöpfer sprechen, sollten wir niemals vergessen, was ein Schöpfer in Wirklichkeit ist. Ein Schöpfer hat eine Vision von etwas, das vor dieser Vision nicht existiert hat. Und ein Schöpfer hat die Macht, diese Vision zum Leben zu erwecken, sie zu verwirklichen. Tatsächlich, die Vorstellung von Schöpfer und Schöpfung sollte in Einklang mit dem Göttlichen Vorbild geformt werden; Inspiration und Vollkommenheit, Wunsch und Erfüllung, Wille und Ausführung kommen spontan und gleichzeitig zusammen. In der göttlichen Schöpfung gab es keine Einzelheiten, die später ausgeführt werden mußten; ›es ward Licht‹, auf einmal und in höchster Vollendung. Leider müssen die irdischen Schöpfer, wenn ihnen eine Vision gewährt wird, den langen Weg zwischen Vision und Ausführung zurücklegen; einen beschwerlichen Weg, auf dem nach der Vertreibung aus dem Paradies selbst Genies ihre Ernte im Schweiße ihres Angesichtes einbringen müssen. Leider ist es eines, sich in einem schöpferischen Augenblick der Inspiration etwas auszudenken, und etwas anderes, seine Vision in die Wirklichkeit umzusetzen, indem man Einzelheiten mühselig verbindet, bis sie sich zu einer Art Organismus zusammenschließen. Und angenommen, es wird ein Organismus, ein Homunculus oder ein Roboter und besitzt etwas von der Spontaneität einer Vision, dann bleibt es leider immer noch etwas anderes, diese Form so zu organisieren, daß sie eine faßliche Botschaft wird ›für den es angeht‹. […] Form in der Kunst und besonders in der Musik, trachtet in erster Linie nach Faßlichkeit. […] Daher gehört zum künstlerischen Wert Faßlichkeit, nicht nur um der verstandesmäßigen, sondern auch um der gefühlsmäßigen Befriedigung willen. […] der Gedanke des Schöpfers muß dargestellt sein.21

Zentral ist in dieser Analogisierung von göttlichem und künstlerischem Schöpfertum einerseits die Gleichzeitigkeit von spontaner Vision und Gedanke und zum anderen die Spannung zwischen Gedanke/Vision und dessen darstellender Ausführung. An anderer Stelle charakterisiert Schönberg diese Spannung sogar als letztlich nicht zu bewältigendes künstlerisches Grund-Problem: Zuerst sehe ich das Werk als Ganzes, dann komponiere ich die Einzelteile. [bei der Ausarbeitung geht] immer etwas verloren. Das läßt sich nicht vermeiden. Der Verlust, der sich immer einstellt, wenn wir gestalten, wird durch einen Gewinn an Vitalität aufgewogen. Wir haben alle gewisse technische Schwierigkeiten, die jedoch nicht auf einer Unfähigkeit zur Materialbehandlung beruhen, sondern mit dem auszuschöpfenden Gedanken zusammenhängen. Es ist der erste Gedanke, die zugrundeliegende Idee, die Anlage und Gestalt des Werkes bestimmen.22

Hier wird im Übrigen auch klar, dass der musikalische Gedanke im Sinne Schönbergs nicht nur die thematische Einzelfigur meint, sondern die Gesamtgestalt eines Werkes in all ihren charakteristischen Momenten. In Schönbergs Hinweis auf den notwendigen Verlust an Gedankensubstanz bei der Gewin21 22

Arnold Schönberg: »Komposition mit 12 Tönen«. In: Schönberg (1976), S. 72. Zitiert in: Peter Gradenwitz: Arnold Schönberg. Streichquartett Nr. 4, op. 37. München 1986, S. 19.

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nung ihrer sinnlichen Darstellung ist nun die Analogie zur Spannung zwischen Moses und Aron mit Händen zu greifen. Die Oper erscheint so als weitere Ausgestaltung der in Schönbergs Vortrag von 1935 exponierten Analogisierung zwischen göttlicher und menschlicher bzw. künstlerischer Schöpfung: Moses und Aron stellen hier Archetypen dar in dem menschlichen Bemühen, visionäre Gedanken kollektiv fasslich und historisch wirksam zu entfalten Zusammengefasst lassen sich also folgende drei Kernbestimmungen nennen, die sich in Moses und Aron verschränken: Der alttestamentarische Prophet als Grundfigur des historischen Innovators, der Künstler als Erbe und Ausprägung dieser Figur, die paradoxale Gedankenverantwortlichkeit auch auf dem Felde der Klangkunst Musik (im Spannungsfeld von Traditions-, Lehrund Innovationsverpflichtung) – in dieser Dreifaltigkeit leistet Schönberg eine künstlerische Selbstreflexion jüdischen Denkens, die ihresgleichen sucht.

Sigrid Bauschinger

›Das Urlicht über der Finsternis‹ Nelly Sachs’ Eli

Wie so vieles im Leben und Schreiben von Nelly Sachs ein Mysterium geblieben ist, so auch Eli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels, obwohl die Dichterin gerade in diesem Werk ihre Botschaft deutlich zu verkünden glaubte. Das Rätseln beginnt bereits mit dem Titel. Wählte Nelly Sachs den Namen Eli nicht nur nach seiner Bedeutung im Hebräischen, ›Mein Gott‹ oder auch nach den letzten Worten Jesu am Kreuz? Hat sie die Bezeichnung »Mysterienspiel« in Anlehnung an das mittelalterliche geistliche Spiel gewählt oder ist sie ein weiteres Beispiel für das von der Dichterin so oft beschworene »Urgeheimnis«?1 Schließlich wurde sogar die Entstehungszeit von Eli in Frage gestellt. Nelly Sachs hat wiederholt gesagt, das Stück sei im Winter 1943/44, gleichzeitig mit dem Gedichten In den Wohnungen des Todes entstanden, als es sich ihr in drei Nächten »offenbarte«.2 Oder hat die Dichterin, wie ihre Biographin Ruth Dinesen vermutet, die Entstehung des Stücks, das sie in einem Brief vom 11. November 1945 als ›fertig‹ meldete, deshalb vordatiert, weil in der Nachkriegszeit »die Vision des Werkes«, das von der »Hoffnung auf einen Neubeginn unter einer Form von göttlicher Gerechtigkeit« getragen wird, »als einfältig und unzeitgemäß anmuten musste«.3 Alle diese Fragen sind mit ›sowohl – als auch‹ zu beantworten. Nelly Sachs, 1891 als einziges Kind eines wohlhabenden Berliner Fabrikanten geboren, wuchs, wenn auch »sehr einsam und in sich gekehrt«,4 und aus gesundheitlichen Gründen teilweise zu Hause, sonst in Privatschulen erzogen, in jener Berliner akkulturierten jüdischen Oberschicht auf, in der die Liebe zur deutschen Literatur und Kunst und Kenntnis und Verständnis der sie umgebenden (christlichen) Kultur das Leben bestimmten. Der Vater besaß eine umfangreiche Bibliothek, und ihr literarisches Urteil war unbestechlich. So konnte sie über die Buber-Rosenzweig Übertragungen des Jesaia sagen: »Nur Hölderlins Pindarübertragungen zeigen den gleichen Schauer des Originals«.5 Selbstverständlich war sie mit dem Neuen Testament vertraut, und wie bei 1 2 3 4 5

Bengt Holmqvist (Hg.): Das Buch der Nelly Sachs. Frankfurt a. M. 1968, S. 263. Ruth Dinesen/Helmut Müssener (Hg.): Briefe der Nelly Sachs. Frankfurt a. M. 1984, S. 157. Ruth Dinesen: Nelly Sachs. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1992, S. 156. Gabriele Fritsch-Vivié: Nelly Sachs. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 9. Briefe, S. 79.

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vielen Berliner Juden brannte auch im Hause Sachs ein Weihnachtsbaum. Im einzigen vor ihrer Flucht veröffentlichten Buch, Legenden und Erzählungen (1921) findet sich »Das Bild von Christus«, unter ihren frühen Gedichten der Zyklus »Franz von Assisi.« Daher ist es möglich, dass ihr christliche Mysterienspiele bekannt waren, die aus liturgischen Texten erwuchsen und diese in Sequenzen und Tropen kunstvoll erweitern.6 Jüdische Thematik fehlt im Frühwerk völlig. Die deutschen Romantiker, vor allem Novalis und Hölderlin sowie die Mystiker, besonders Jakob Böhme, waren ihre Leitsterne. Die Entstehungszeit von Eli schließlich kann sich durchaus nach der ersten ›Offenbarung‹ auf längere Zeit erstreckt haben. Damals bewohnte Nelly Sachs in Stockholm mit ihrer Mutter ein einziges Zimmer und wagte nicht, nachts Licht anzuzünden. Sie versuchte, im Kopf immer wieder zu wiederholen, was sich da abspielte in der Luft, wo die Nacht wie eine Wunde aufgerissen war. Am Morgen schrieb ich dann das so behaltene, so gut ich konnte, nieder oder versuchte, was ich im Dunklen aufgekritzelt hatte, zu entziffern, was viel schlechter ging. Auf diese Weise entstand der »Eli«.7

Als immer mehr Informationen und, nach dem Krieg, Überlebende aus den Lagern nach Schweden gelangten, konnte Nelly Sachs die Visionsfragmente mit dem nun Erfahrenen anreichern. Schon in einem Brief vom 18. Juli 1943 hatte sie die Toten ihrer »Grabschriften in die Luft geschrieben« identifiziert. Darunter war »Die Hellsichtige«, Gertrud Kolmar, die im März desselben Jahres nach Auschwitz deportiert worden war. Von vielen Verwandten und Freunden wusste Nelly Sachs zumindest, wann sie abtransportiert worden waren, denn sie erhielt noch Post aus Berlin. Was mit ihnen geschah, musste sie nur zu bald erfahren.8 Bis zu ihrer Flucht am 16. Mai 1940 hatte die Dichterin mit ihrer Mutter ein »Leben unter Bedrohung«9 geführt, der die beiden Frauen buchstäblich in letzter Minute entkommen konnten.10 In Schweden hat Nelly Sachs zunächst kurze Prosa und Naturgedichte geschrieben und die Sprache des Landes rasch gelernt, schon um zeitgenössische schwedische Lyrik ins Deutsche zu übersetzen. So wurde sie mit einer ihr völlig neuen, strengen, schmucklosen Dichtung ohne »Gefühligkeit und Stimmung«11 bekannt, die sie auf ihren eigenen

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Julius Schwietering: Die deutsche Dichtung des Mittelalters. Darmstadt 1957, S. 36. Briefe, S. 157. Fritsch-Vivié, S. 87. Walter A. Berendsohn: Nelly Sachs. Eine Einführung in das Werk der Dichterin jüdischen Schicksals. Darmstadt 1974, S. 9–12. Ihrer ›Lebensretterin‹ Gudrun Dähnert, die ihre eigenen Möbel verkaufte um 1939 nach Schweden fahren und die Rettungsaktion in Gang setzen zu können, war Nelly Sachs ihr Leben lang dankbar. Über sie und die anderen an der Rettung Beteiligten siehe Fritsch-Vivié, S. 75–77. Ebd., S. 88.

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Durchbruch vorbereitete, selbst in einer völlig neuen Sprache zu schreiben, die alle, die sie zum ersten mal vernahmen, in tiefes Erstaunen versetzte. Die jahrelang angestaute Angst, das Entsetzen über die Nachrichten aus Deutschland und die nie endende Trauer öffnen ihr jetzt den Mund zu Gedichten, darunter den »Gebeten für den toten Bräutigam« und dem Mysterienspiel vom Leiden Israels, Eli. In 17 Bildern wird zunächst die Geschichte des achtjährigen Knaben Eli berichtet, der, als seine Eltern von Soldaten nachts abgeholt wurden, ihnen im Hemd nachlief und seine Hirtenpfeife zum Himmel richtete, »zu Gott hat er gepfiffen, der Eli«.12 Darauf wird das Kind von einem Soldaten mit dem Gewehrkolben erschlagen. Das erzählen sich die Frauen in »einer kleinen polnischen Landstadt, darin sich eine Anzahl Überlebender des jüdischen Volkes zusammengefunden haben«. Die Zeitangabe lautet: »Nach dem Martyrium«.13 Von Bild zu Bild zieht ein Zug physisch und psychisch unheilbar Verletzter vorüber. Elis Großvater Samuel ist, seit er den toten Enkel aufhob, stumm geworden. Die verwirrte Steinmetzfrau irrt mit der letzten Botschaft ihres Mannes aus dem Steinbruch umher und versucht, ihr Kind aus der Luft zurückzuholen als wolle sie einen Vogel fangen, bis sie sich tötet. Die Bäckerin ist gefangen in einem »Gitter von Schritten«, seit man ihren Mann abgeholt hat. Die Träume und Spiele der Kinder spiegeln das vergangene Grauen. Es sind die Themen und Motive, die in der Holocaust-Literatur dominieren, darunter konstantes Todesbewusstsein, Sprachlosigkeit, »gewaltsame Aufhebung der Kindheit«, Kindermord, »Bestialisierung des Menschen«, Flucht in den Wahnsinn, Zerstörung des Zeitsinns.14 Dem gegenüber stehen die Maurer und Zimmerleute, die vor den Toren der alten die neue Stadt aufbauen. Als erstes setzt der Rohrleger den Brunnen instand. Der Maurer mahnt die Trauernden nicht zu weinen, weil sich die Tränen und Seufzer ans Gestein und Gebälk hängen und die Kinder nicht schlafen lassen würden. Am deutlichsten tritt der Gegensatz zwischen Schmerz und Freude, Verzweiflung und Hoffnung im sechsten Bild zutage, wenn der Hausierer neue Ware, auch »aus dem Ausland«, auf dem Marktplatz feilbietet: Aber dieses Linnen aus Russland – nicht für die Toten mehr, nicht für die Füße hingestreckt zur Tür – für’s Bräutchen nun und auch für’s Kind – 15

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Nelly Sachs: »Eli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Iraels«. In: Das Buch der Nelly Sachs., S. 99. Im Folgenden: Eli. Ebd., S. 97. Ehrhard Bahr: Nelly Sachs. München 1980, S. 73. Eli, S. 116.

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Eine Frau wünscht sich Stoff für ein Festtagskleid zum Neujahrsfest. »Wir sind gerettet/und sollen uns der Rettung freun«.16 Ihr Mann kann nur an das an dieser Stelle vergossene Blut denken. Die wie These und Antithese einander gegenübergestellten Reaktionsweisen wiederholen sich noch einmal. Im siebten und achten Bild stehen die Beter vor dem Betzelt und erinnern sich an die grausamen Morde. Nachdem die drei Schofartöne zum Beginn des Neuen Jahres erklungen sind und der siebenarmige Leuchter sich an der Zeltwand abzeichnet, preisen sie die neue Luft ohne Brand-, Blut- und Qualgeruch. In ihrer starken Bildersprache findet Nelly Sachs hier ein besonders einprägsames für die Erneuerung der Welt: Jemand nimmt die beiden Hälften der Erde auseinander wie einen Apfel, die beiden Hälften von Heute und Gestern – nimmt den Wurm heraus und fügt das Gehäuse wieder zusammen!17

Zur Synthese des Stücks führt jedoch die eigentliche Hauptfigur, Michael, den Nelly Sachs zu Ehren des von ihr verehrten Görlitzer Schuhmachers Jakob Böhme dessen Handwerk ausüben lässt.18 Von Michael sagen die Leute, er habe den »ungebrochenen Blick«, der von einem Ende der Welt zum andern sehen kann, »nicht den unserigen, der nur Scherben sieht«.19 Michael, der viele retten konnte, aber weder die eigene Braut noch Eli, will Gerechtigkeit und muss den Mörder Elis finden. Er wandert bis an die Grenze zum »Nachbarland«, das nicht näher benannt wird. »Nach langer qualvoller Überlegung entschloss sich Nelly Sachs, das Wort ›deutsch‹ im Text zu streichen, da es sowieso das ganze Stück beherrsche.«20 Bis zum elften Bild vermittelt Eli in der Aneinanderreihung von Beispielen aus einer traumatisierten Gesellschaft in einer auf das Wesentliche reduzierten und gerade deshalb poetischen Alltagssprache mit leisen Anklängen an die jiddische Syntax eine stilisierte Realität. Das ändert sich abrupt, wenn Michael auf seiner Wanderschaft eines Nachts Stimmen aus der belebten und unbelebten Natur hört: von Sternen, Bäumen, Spuren im Sand. Ein »Wesen« hockt in dieser gespenstischen Szenerie und entpuppt sich als der Schneider Hirsch, der »angestellt« war, sein eigen Fleisch und Blut zu verbrennen, und damit Gott. Dann steigt Rauch in Form schemenhafter Gestalten auf, Baumwurzeln werden als Tote erkennbar und eine Riesengestalt erhebt sich im Gebetsmantel, das Schema Israel singend, zum Himmel. Im darauf folgenden Bild wird aus dem magischen Theater ein absurdes. Hier erklären die »Finger der Töter« den 16 17 18 19 20

Eli, S. 116. Eli, S. 126. Zur Bedeutung der jüdischen wie christlichen Mystik für Eli vgl.: Ehrhard Bahr: Nelly Sachs. München 1980, S. 165–171. Eli, S. 100. Bahr, S. 166.

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jeweils »erklügelten Tod«, den sie ihren Opfern zufügen: Erwürgen, Genickschuss, die Spritze. Der Dirigentenfinger verkündet zu Marschmusik, der Hass habe endlich »das Rätsel Jude« gelöst mit dem Einfall, »es aus der Welt zu werfen mit Musik«.21 In einem Grenzdorf verdingt sich Michael bei dem Schuster und trifft auf den Gesuchten mit dessen Kind. Es sieht Elis Pfeife und möchte darauf pfeifen, was der Vater, wenn auch liebevoll, verbietet. Das Kind erkrankt und stirbt. Dazu schreibt Nelly Sachs: »In dieser nächtlichen Welt, in der immer ein geheimes Gleichgewicht zu walten scheint, wird immer die Unschuld das Opfer.«22 Im letzten Bild begegnen Michael und der Mörder Elis einander allein im Wald. Der Mann versucht, den Mord an Eli zu rechtfertigen. »Und wohin hat er gepfiffen?/Ein heimliches Signal?«23 Aber der Milchzahn, der mit Elis Pfeife aus dem Mund des Kindes gefallen war, wächst nun aus der Erde und beginnt, den Mann zu zernagen. Michael steht vor ihm, unter einem Himmel von konzentrischen Kreisen, in deren innerstem ein Embryo sichtbar wird, auf dessen Kopf das »Urlicht« leuchtet. Am Horizont gebietet ein blutender Mund dem stummen Samuel, wieder zu sprechen. Mit seinem Ruf »Eli« heftet sich das Urlicht auf Michaels Stirn, der Mörder zerfällt unter seinen Strahlen. Michaels Mission ist erfüllt. In diesem Bild begibt sich Nelly Sachs in den innersten Kreis des Mysteriums, als das sie das Leiden Israel begreift, und zu dessen Darstellung drei Elemente beitragen: die eigenen Erfahrungen im »Leben unter Bedrohung«, die chassidischen Geschichten, die Martin Buber gesammelt hat, und der Sohar, Das Buch des Glanzes, eines der wichtigsten Bücher der jüdischen Mystik. Den Band Die chassidischen Bücher (1928) hatte ihr noch ihre ›christliche Freundin‹ Anneliese Neff in Berlin geschenkt. Jetzt werden sie – und Bubers Verständnis des Chassidismus – für Nelly Sachs zur Offenbarung.24 Diese, in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Osteuropa entstandene religiöse Bewegung sah Buber als Fortsetzung, und gleichzeitig Widerlegung, der jüdischen Mystik, deren älteste erhaltene Schrift, Das Buch der Schöpfung, aus dem 7. Jahrhundert stammt. Zunächst eine elitäre Lehre, nur einem »Meister in Künsten und kundig des Flüsterns«25 vertraut, wurde sie in mehr als 1000 Jahren zur Quelle starker geistiger und messianischer Strömungen, von der ekstatischen Gottesschau zum Mitschaffen des Einzelnen an der Erlösung bis zu den Lehren Israel ben Eliesers genannt der Baal-schem-tow, Meister des guten Namens (1700–1760) und seinen Anhängern. 21 22 23 24

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Eli, S. 150. Das Buch der Nelly Sachs, S. 166. Eli, S. 163. Zur ›unhistorischen‹ Auffassung des Chassidismus bei Buber vgl.: Gershom Scholem: »Martin Bubers Deutung des Chassidismus«. In: Ders. Judaica. Frankfurt a. M. 1963, S. 165–206. Martin Buber: »Die jüdische Mystik«. In: Ders. Die Geschichten des Rabbi Nachman. Frankfurt a. M. 1955, S. 12.

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Ihm zufolge führt jede Handlung, selbst die geringste, »zum Herzen der Welt«. Die reinste freilich ist das Gebet, das aus Freude, nicht aus Askese zu Gott aufsteigen soll. Die Idee der Freude in Gott wurde, laut Buber, vom Volk als Befreiung, auch von der »Aristokratie von Talmudgelehrten« aufgenommen.26 Dennoch sind Mittler zwischen Volk und Gott nötig, besonders Fromme und Gerechte, die Zaddikim. Aus dieser Vorstellung schöpft Nelly Sachs. Alle Figuren in Eli stammen aus dem Volk. Von Michael wird erzählt, er habe den »Baalschemblick«, er wird sogar für einen der 36 Gerechten gehalten, um deretwillen die Welt bestehen bleibt. Michael hat Gesichte. Er erblickt den Mörder auf Elis Totenhemd und hat Visionen der Ermordeten, wenn er ihre Schuhe in der Hand hält. Er hört Elis Pfeife und die Stimmen der Opfer und Täter. Bestimmte Geschichten scheinen Nelly Sachs besonders inspiriert zu haben. Eine vom Baal-schem-tow, »Das Pfeifchen«, erzählt, wie ein Knabe »stumpfen Verstandes« im Bethaus sein Pfeifchen bläst und so dem Baalschem hilft, am Versöhnungstag nach vielen Stunden des Fastens und Betens das Endgebet »schneller und leichter« zu sprechen.27 Rabbi Elimelech weiß vom »Urlicht«, das die Schöpfung erleuchtete, bis »der Mensch verdarb«. Gott barg es und zeigt es der Seele, ehe sie in die Welt tritt. Deshalb sehnen sich die Menschen danach, aber nur die Zaddikim erreichen es, weshalb es aus ihnen leuchtet.28 Mehrere Geschichten erzählen vom frommen Tanz, selbst in der Todesstunde. Rabbi Löb tanzt den »Heiltanz«,29 wenn er von der Erkrankung seines Freundes hört, und die »Himmelsschar« tanzt mit. In Eli gibt Michael einer alten Frau, die um ihre Kinder trauert, »heilige Tanzschuhe« eines Zaddik, worauf sie sie, wie Rabbi Löb, »fester schnürt« und zu tanzen beginnt.30 Das Lied Du des Levi Jizak von Berditschew lautet: Wo ich gehe du! Wo ich stehe – du! […] Wohin ich mich wende, an jedem Ende Nur du, wieder du, immer du! Du, du, du!31

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Ebd., S. 21. Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim. Zürich 1949, S. 155f. Ebd., S. 397. Ebd., S. 540. Eli, S. 129. Buber: Erzählungen, S. 342.

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In Eli singt und pfeift der Maurer bei der Arbeit: Meister der Welt! Du, Du, du, Du! [...] Wo kann ich Dich finden, und wo kann ich Dich nicht finden? Du, Du, Du, Du!32

Die Variante bei Sachs ist bezeichnend. Das chassidische Lied spricht von unerschütterlichem Vertrauen in einen allgegenwärtigen Gott. Das Lied des Maurers sucht nach Gott und weiß, dass es »gottlose« Orte gibt. Vom Buch des Glanzes schließlich kannte Nelly Sachs zunächst das Schöpfungskapitel, das Gershom Scholem ins Deutsche übertragen hat.33 Darin wird das verborgene Leben der Schöpfung in strahlenden Sprachbildern enträtselt. Wort für Wort kommentiert der Autor das erste Kapitel der Genesis, das die Schöpfung als Sprachschöpfung beschreibt: Gott sprach. Die Mystik des Sohar ist Sprachmystik. So wird etwa die Entstehung des Alphabets aus dem Urlicht beschrieben, das sich ausdehnt, Buchstaben bildet und sie am Himmelsgewölbe leuchten lässt. Für eine Dichterin wie Nelly Sachs waren solche Vorstellungen von inspirativer Kraft.34 Den Urglanz des Sohar wollte sie selbst aus ihren Dichtungen über die Finsternis leuchten lassen. Eli und der Zyklus Dein Leib im Rauch durch die Luft aus der Sammlung In den Wohnungen des Todes sind thematisch und sprachlich aufs engste miteinander verbunden. In beiden manifestiert sich als zentrale Thematik die des Todes, nicht des Sterbens. »Where other Hebraic writers do concentrate on dying, it is more for the legacy that the manner of dying leaves to the living than for the repulsive – or redemptive – power of death itself.«35 Bei Nelly Sachs ist die ›erlösende‹ Macht des Todes eine mystische. Diese Todesmystik, die in der coincidentia oppositorum im Tod zugleich das Leben umfasst, ist auch der Grund für die »Geschichtslosigkeit« von Eli.36 Eli ist eine lyrische Dichtung, es war »kein Drama geworden in dem Sinn, wie ich es ersehnte«, schrieb Nelly Sachs an Walter A. Berendsohn.37 Schon die ersten Worte sollen ›in singendem Ton‹ von der Wäscherin gesprochen werden: 32 33 34

35 36 37

Eli, S. 105f. Gershom Scholem: Die Geheimnisse der Schöpfung. Ein Kapitel aus dem Sohar. Berlin, 1935 Nelly Sachs kann das Schocken Bändchen bereits 1935 erhalten haben. Später hat sie sich mit Scholems Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (1967) – zuerst 1941 veröffentlicht als Major Trends in Jewish Mysticism – ausführlich befasst. Sidra deKoven Ezrahi: By Words Alone. The Holocaust in Literature. Chicago 1980, S. 138. Ebd. Briefe, S. 57.

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Komm von der Bleiche, der Bleiche, hab’ Sterbewäsche gewaschen, dem Eli das Hemd gewaschen, Blut herausgewaschen, Schweiß herausgewaschen, Kinderschweiß – Tod herausgewaschen.38

Sie sind bezeichnend für die monologische, wiederholungsreiche und dadurch rhythmische Sprache des Stücks, in der schmückende Beiwörter fehlen. Sie ist gleichsam in Strophen eingeteilt, die längsten gleichen Balladen. So erzählt ein alter Mann, wie er von einem Soldaten aus einem Massengrab gezogen wurde. Wenn Nelly Sachs das Tempo steigern, dramatische Wirkung erzielen will, benutzt sie Wiederholungen. Im dreizehnten Bild berichtet Michael, wie Eli erschlagen wurde, und ein Bauer wiederholt jeden seiner kurzen Sätze. Nelly Sachs schrieb Eli, wie sie erklärt, in einem Rhythmus, der auch mimisch für den Darsteller die chassidisch-mystische Inbrunst anschaulich machen muss – jene Begegnung mit der göttlichen Ausstrahlung, die jedes Alltagswort begleitet. Immer bedacht, das Unsägliche auf eine transzendente Ebene zu ziehen, um es aushaltbar zu machen [...] 39

Damit widerspricht sie Theodor W. Adorno, der nicht nur Kunst nach Auschwitz in Frage stellt sondern auch Kunst über Auschwitz. Wenn Kunst »trotz aller Unversöhnlichkeit und Härte« den Holocaust zum Bild macht, ist es doch, als ob die Scham vor den Opfern verletzt wäre. Aus diesen wird etwas bereitet, Kunstwerke der Welt zum Fraß vorgeworfen, die sie umbrachte. [...] Durchs ästhetische Stilisationsprinzip [...] erscheint das unausdenkliche Schicksal doch, als hätte es irgend Sinn gehabt; es wird verklärt, etwas von dem Grauen weggenommen [...].40

Nach Nelly Sachs dagegen muss, »wenn auch mit begrenzten Kräften«, versucht werden, »das Furchtbare in das Reich der Verklärung zu heben, wie es ja die Aufgabe aller Dichtung in allen Zeiten [...] immer war und bleiben wird«, denn »Zeugen- und Protokollschriften« würden »leider ja oft wirklich mit dem Rauch der Scheiterhaufen die Seufzer der Opfer ersticken«.41 Eli wurde in 200 Exemplaren mit den Gedichten In den Wohnung des Todes nach zweijährigem Einsammeln von 150 Subskriptionen von Walter A. Berendsohn in Schweden herausgegeben. Berendsohn machte auch Alfred Andersch auf das Stück aufmerksam, der mit Hans Magnus Enzensberger im Süddeutschen Rundfunk die Redaktion des radio essay leitete. Im Mai 1958 wurde dort eine Hörspielfassung von Eli, die Nelly Sachs mit dem Regisseur Irmfried Wilmzig erarbeitet hatte, gesendet.

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Eli, S. 97. Das Buch der Nelly Sachs, S. 166f. Theodor W. Adorno: »Engagement«. In: Noten zur Literatur III. Frankfurt a. M. 1966, S. 126. Briefe, S. 63.

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Sie war über das Ergebnis sehr glücklich, auch über die sparsam eingesetzte Musik von Moses Pergament, einem ihrer engsten Freunde in Schweden. Nelly Sachs’ Vorstellung eines »Totaltheaters von Mimus, Wort und Musik«42 ist in ihrem Mysterienspiel bereits im Keim angelegt. Sie hatte auch an eine Filmprojektion, sogar an eine Verfilmung gedacht und sich Marc Chagall als Berater gewünscht.43 Als Pergaments Oper Eli im März 1959 von Sverig Radio gesendet wurde, war die Dichterin jedoch tief enttäuscht. Als sie die Kritik über die Aufführung im Svenska Dagebladet las, war sie entsetzt. Sie hatte sich offenbar eine Art Sprechgesang vorgestellt – »ich wusste nicht, dass man singen würde«44 – und keine Oper, in der die Mutter den Tod ihres Kindes singt und der Schuhmachergesell einem jungen Heldentenor anvertraut war. Am schlimmsten jedoch war das katastrophale Missverständnis der Musikkritikerin Kajsa Rootzen, die den Michael als »besessen von Hass und Rachsucht« charakterisierte. Nelly Sachs schickte ihr einen Text von Enzensberger, der bezeugte, ihr Werk enthielte »kein Wort des Hasses« und sie sei eine der wenigen, die Adorno widerlegen könnten.45 Sie sagt sich gleichsam von dem Stück los. »Es ist nicht mehr mein Eli«.46 Sie kann den Namen »jahrelang« nicht mehr hören und will es nie mehr aufführen lassen. Die offizielle Uraufführung fand dann doch am 14. März 1962 in Dortmund statt (Regie Irmfried Wilmzig). Kurz zuvor hatte die Neue Bühne, ein Frankfurter Studententheater, das Stück gegeben und Nelly Sachs erfuhr von dem Eindruck, den es hinterlassen hatte.47 Nelly Sachs war wie immer, wenn »die jungen deutschen Dichter und alle, die guten Willens sind, aus meinen Werken etwas zu holen haben«, beglückt.48 Eine weitere Opernfassung von Walter Steffens kam 1967, ebenfalls in Dortmund, zur Aufführung. 1969 wurde Eli in der West-Berliner Akademie der Künste inszeniert. Eli ist kein Werk des Hasses, aber ist es ein Werk der Versöhnung? Margarita Pazi hat von den drei Merkmalen, auf die man Nelly Sachs weitgehend fixiert – als »jüdische Dichterin, Dichterin der Shoa und als Verkünderin einer Versöhnung, ja sogar Verzeihung«49 – die ersten beiden gleichsam vom Tisch gefegt. Das dritte stellt sie in Frage.

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Bahr, S. 10. Bahr, S. 171. Briefe, S. 209. Ebd., S. 208. Ebd., S. 211. Uwe Naumann: »Ein Stück der Versöhnung. Zur Uraufführung des Mysterienspiels Eli von Nelly Sachs«. In: Exilforschung Bd. 4, Das jüdische Exil. Hg. von Thomas Koebner u.a. München 1986, S. 98–114. Briefe, S. 122. Margarita Pazi: »Jüdische Aspekte und Elemente im Werk von Nelly Sachs und ihre Wirkungen«. In: Dies. Staub und Sterne. Aufsätze zur deutsch-jüdischen Literatur. Hg. von Sigrid Bauschinger/Paul Michael Lützeler. Göttingen 2001, S. 236–252.

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Das Wort ›Versöhnung‹ fällt bei Nelly Sachs im Zusammenhang mit Eli doch, aber es geht ihr dabei nicht um Versöhnung in ›engerem‹ Sinn, etwa Versöhnung zwischen Juden und Deutschen. Sie wollte, dass das Stück »als ein Glied der Versöhnung der Menschen aufgefasst wird«.50 Dass Eli in Deutschland als Stück der Versöhnung verstanden werden konnte, geht wohl auf bestimmte Details zurück. So erschlägt der Soldat Eli nicht aus grausamer Lust am Töten, sondern weil er meint, der Pfiff des Kindes könnte eine Warnung sein. Der alte Mann berichtet, der Soldat habe ihn aus dem Massengrab gezogen, weil er nicht betrunken war, wie die anderen, denn er hatte an diesem Tag einen Brief von seiner Mutter bekommen.51 Schließlich zerfällt der Mörder Elis nicht am Hass Michaels sondern an seiner eigenen Reue, die seit Elis Tod an ihm nagt. Hass gebiert Untat und Untat Hass. Über den Shoa-Dichtungen von Nelly Sachs können jedoch die Worte aus ihrer Sammlung Sternverdunkelung stehen: »Auf dass die Verfolgten nicht Verfolger werden.«52 Deshalb schrieb sie auch am 27. März 1962 an David Ben Gurion: »Lassen Sie kein Todesurteil gegen Eichmann ergehen – auch in Deutschland gab es die Gerechten – um ihretwillen sei es Gnadenzeit.«53 Unter den vielen szenischen Dichtungen, die Nelly Sachs nach ihrem ›Erstling‹ Eli schrieb, spielt keine mehr in der chassidischen Welt, wohl aber erscheinen in ihnen biblische Figuren und Geschichten. Sie sind, wie alle ihre Dichtungen seit Eli vom Glanz des Sohar erleuchtet. In Eli sind auch die großen Themen ihrer Dichtung angeschlagen, die ihr aus dem Judentum erwachsen sind, in dem sie, nach eigener Aussage, nicht »verankert« war.54 Dass ihr das Judentum vom Nationalsozialismus aufgezwungen wurde, ist eine unglückliche Formulierung. Nelly Sachs hat zum Judentum gefunden und ist bei ihm geblieben. In Eli situiert sie die jüdische Thematik in einer jüdischen Umwelt. Gleichzeitig sucht sie diese Grenzen auszuweiten. Eli ist ein Stück »vom Leiden Israels«. Die szenische Dichtung Beryl sieht in der Nacht oder das verlorene und wieder gerettete Alphabet (1961) nennt sie »einige Szenen aus der Leidensgeschichte der Menschheit«. In Eli zählen die Männer vor dem Betzelt die sinnlosen, widersprüchlichen Gründe des Antisemitismus auf. Der Verwachsene wird wegen seiner »schlenkrigen Schultern« gehasst, der Scherenschleifer wegen seines Lächelns, der Mendel wegen eines Steinhaufens, der einmal sein Haus war. »Überhaupt der Reichtum bei den Juden«, sagt der jüdische Bettler. Dajan sieht die Wurzel des Hasses im Vergessen des »ewigen Anfangs« der Welt in Gottes Schöpfung.

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Naumann, S. 107. Nelly Sachs beschreibt diese Episode im kumulativen Stil des Lieds vom Zicklein, das am Sederabend vor dem Pesachfest gesungen wird. Das Buch der Nelly Sachs, S. 85. Dinesen, S. 338. Briefe, S. 238.

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Die frommen Juden in Eli sind mit dem Anfang verbunden, sie haben mit Abraham den Brunnen der Sieben Schwüre in Beer Scheba gegraben und ihr Lächeln am Berg Horeb eingepflanzt erhalten. Die Hassenden aber »wissen den ewigen Anfang nicht/und darum hassen sie uns«.55 Hier liegt bereits der Kern zu vielen späteren szenischen Dichtungen von Nelly Sachs die das urmystische Thema von Tod und Auferstehung, Leben im Sterben ins Universale erweitern.

55

Eli, S. 125.

Personenregister (erstellt von Susanne Ullmann)

Abendroth, Walther 165, 174 Adamy, Bernhard 165-167, 169, 170, 175, 177, 178 Adler, Gusti 307, 319 Adler, Leo 41-45, 47-49, 54 Adorno, Theodor W. 143, 151, 161, 163, 327, 346, 347 Albrecht, Hans 177, 178 Andersch, Alfred 346 Angely, Louis 104 Angold, Edit 313 Antonicek, Theophil 195 Apolloni, Giuseppe 77, 80-84, 87 Arendt, Hannah 168 Armin, Josef 192 Arnim, Achim von 11 Assmann, Michael 293 Auber, Daniel-François-Esprit 23, 32, 38 Auerbach, Berthold 53 Aumer, Jean-Pierre 22 Bach, David Josef 328 Bach, Johann Sebastian 163, 261 Bachmaier, Helmut 127 Bächtold-Stäubli, Hanns 133, 134 Backmann, Reinhold 127 Bahn, Roma 237 Bahr, Ehrhard 341, 342, 347 Bahr, Hermann 207 Banchieri, Adriano 5 Bänsch, Dieter 281, 282 Barrès, Maurice 258, 259 Barrymore, John (= Blythe, John) 319, 320 Bassnett, Susan 119 Bateman, Hezekiah L. 114 Batka, Richard 121, 124 Baudelaire, Charles 259 Bauer, Julius 191, 192, 199

Bauer-Lechner, Natalie 144 Bauschinger, Sigrid 281, 282, 285, 347 Bayerdörfer, Hans-Peter 5, 7, 17, 92, 102-105, 194-197, 218, 254, 278, 294, 296-298, 302, 303 Beaumont, Antony 186 Becker, Hans Ulrich 26 Beckermann, Ruth 327 Beer, Michael 9 Beer-Hofmann, Richard 18, 221-235, 306, 308 Beethoven, Ludwig van 163, 261, 272, 325 Bekker, Paul 178 Belke, Ingrid 328 Bellini, Vincenzo 81 Ben-Ami, Jacob 319 Ben Gurion, David 348 Benbassa, Esther 138 Bendl, Karel 77, 85-87 Benjamin, Walter 292 Bentley, Robert Warren 318 Berding, Helmut 168 Berendsohn, Walter A. 340, 345, 346 Berg, Alban 325 Berg, O.F. (= Ebersberg, Ottokar Franz) 14, 105 Berghoff, Peter 194 Bergmann, Werner 6, 195 Bermbach, Udo 143, 182 Bernhardt, Sarah 61, 118, 119 Besch, Werner 218 Bettelheim, Anton 220 Beutin, Wolfgang 58 Beutler, Ernst 234 Biel, Ernst 93 Birbili, Maria 23 Birrel, T.A. 214 Birrenkoven, Willi 187

352 Bischoff, Doerte 283 Blackall, Eric A. 126, 136 Blair, Anthony 316 Bloch, Ernest 143 Blum, Léon 118 Blum, Robert 2 Böhme, Jakob 340, 342 Boni, Antonio 80, 81 Booth, Michael R. 119 Borchmeyer, Dieter 125, 130, 133, 143, 148, 222, 231, 234 Boyden, Matthew 183 Brammer, Julius 200 Braun, Henry Walter 180 Brauneck, Manfred 241, 294 Braunwarth, Michael Peter 208 Brecht, Bertolt 18, 311 Brenner, Michael 116 Bréville, Pierre de 255 Brod, Max 198 Bruch, Max 166 Brühl, Karl Moritz Graf von 2 Buber, Martin 222, 227, 229, 286, 343, 344 Büchner, Georg 6 Budde, Bernhard 127 Bulwer-Lytton, Edward 77-87 Busch, Sabine 165 Busoni, Ferruccio 12, 179-189 Butter, Pauline 90 Cahn, Peter 176 Cahun, David Léon 115 Cain, Henry 119 Campbell, James L. 77 Carner, Mosco 311 Chagall, Marc 347 Chailley, Jacques 257 Chalmers, Thomas 318 Chamberlain, Houston Stewart 149 Chasles, Philarète 28, 30, 37 Chatrian, Pierre Alexandre 113-124 Cherubini, Luigi 22 Claudon, Francis 21 Clément, Edmond 120 Cohen, Hermann 229 Cohen, Robert 35 Conrad, Peter 184 Coralli, Jean 206 Cossmann, Paul 170, 172 Crompton, Louis 119 Cumberland, Richard 5

Personenregister Dahlhaus, Carl 28, 143, 145, 146 Danler, Karl-Robert 165 Dairot, Gordon 319 Dalinger, Brigitte 194 Danegger, Josef 306 Danuser, Hermann 143 Daspuro, Nicola 118 Daviau, Donald G. 207 Deering, Olive 317 Dehmel, Richard 325-327 Denis, Maurice 258 Denkler, Horst 101, 103, 105, 126, 195, 294 Désossé, Valentin le 197 Deutsch-Schreiner, Evelyn 131 Devrient, Eduard 50, 52 Dick, Ricarda 281 Diebold, Bernhard 196 Dietrich, Marlene 317 Dinesen, Ruth 339, 348 Distl, Dieter 241 Dittmar, Peter 181 Doerry, Hans 196 Dohm, Christian Wilhelm 277, 278, 281 Döhring, Sieghart 180, 259 Donington, Robert 147 Dorus-Gras, Julie 22 Drake, William A. 322 Dresden, S. 214 Dreyfus, Alfred 118, 119, 207, 255, 257-261, 270 Drumont, Édourd-Adolphe 118 Drüner, Ulrich 144-146, 148, 152, 160, 162, 256, 265, 271, 272 Dujardin, Edouard 259 Dulk, Albert 15, 89-100 Duponchel, Edmond 22 Dupuy, Albert 118 Duse, Eleonora 119 Dvořák, Antonín 121 Ebner, Theodor 42 Eger, Manfred 143 Eifler, Günter 225 Einstein, Alfred 42 Eisenbach, Heinrich 192, 194, 197, 198, 205 Eisenmann, Alexander 54 Eisler, Hanns 295 Eke, Norbert Otto 225, 232 Elieser, Israel ben 343

353

Personenregister Elliot, Walter 318 Englhart, Andreas 197 Enzensberger, Hans Magnus 346, 347 Erb, Rainer 101 Erckmann, Emile 113-124 Erlanger, Camille 119, 120, 122-124 Erspamer, Peter R. 89 Eschenbach, Wolfram von 157 Esser, Heinrich 45, 46 Esser, Marie 45, 46 Everist, Mark 23 Eysler, Edmund 191, 196, 198-200, 203, 205 Ezrahi, Sidra deKoven 345 Faktor, Emil Falcon, Marie-Cornélie 22, 37 Fall, Leo 191 Fauser, Annegret 23 Fechter, Paul 243 Feilbogen, Siegmund 208 Feinberg, Anat 42 Feßmann, Meike 282, 283 Fetting, Hugo 308 Feuchtwanger, Lion 136, 308 Fibich, Zdeněk 121 Fichte, Johann Gottlieb 267 Fiorentino, P.-A. 31 Fischer, Ernst 127 Fischer, Georg 69 Fischer, Jens Malte 16, 17, 37, 46, 47, 63, 143, 146, 149, 152, 168, 171, 172, 181, 231, 254, 256 Flaubert, Gustave 259 Förster, Bernhard 256 Foerster, Josef Bohuslav 16, 57-75 Foucault, Michel 114 Fraenger, Wilhelm 160 Frauenstädt, Julius von 180 Fremgen, Leo 147 Freny, Rudolf 162 Freud, Sigmund 147, 151, 287, 332 Freydank, Ruth 239, 240 Freytag, Gustav 6, 16 Fritsch-Vivié, Gabriele 339, 340 Fritton, Michael Hugh Fronz, Oskar Frühwald, Wolfgang 239, 240, 242, 246, 254 Fuerst, Norbert 132 Fulcher, Jane 258-260, 269 Furich-Leisler, Edda 308

Furtwängler, Wilhelm 166 Gastoué, Amédée 271, 272 Gardner, Nigel 114 Garrigues, Malvina de 50 Gelber, Mark H. 218 Genast, Eduard 58, 60 Gerber, Barbara 89 Gettke, Ernst 65 Gheusi, Barthélemy-Pierre 119 Gide, Casimir 22 Gielgud, John Sir 319 Gilman, Sander L. 54, 179, 184, 185, 187, 245, 269 Ginsberg, Ernst 281, 282 Glasenapp, Gabriele von 89 Glossy, Karl 219 Gluck, Christoph Willibald Ritter von 261 Gobineau, Joseph Arthur Comte de 167 Godlewski, Carl 191 Goerden, Elmar 92, 94, 98 Goethe, Johann Wolfgang von 2, 5, 58, 222, 234, 245 Göhler, Gerhart 221 Goldenberg, Samuel 312, 314, 318, 319 Goldfaden, Abraham 194 Goldmark, Karl 87 Goldscheider, Gertrud 285 Gounod, Charles François 87 Grabbe, Christian Dietrich 14 Gradenwitz, Peter 336 Grattenauer, Carl Wilhelm Friedrich 103 Gregor-Dellin, Martin 143 Gregori, Ferdinand 253 Gridley, Dan 314 Grillparzer, Franz 14, 125-142 Grimaldi, Joe 197 Grisson, Rudolf 147-150 Großmann-Vendrey, Susanna 143 Grözinger, Elvira 63 Grun, James 169, 174 Grünbaum, Fritz 193, 195 Grünwald, Alfred 200 Gulrich, Ragnhild 183 Güns, Josef 97 Günther, Mizzi 205 Gutman, Robert 143 Gutzkow, Karl 15

354 Haar, Carel ter 243, 246, 247, 249 Haasis, Hellmut G. 89 Haebler, Rolf Gustav 243 Haiger-Pregler, Hilde 131 Halbach, Frank 12 Halévy, Jacques Fromental 10-12, 14, 17, 21-39, 41, 48, 49, 52, 57, 80, 179, 184, 202, 261 Halévy, Léon 22 Hammer, Almuth 283 Handl, Willi 252 Hanno, Ethan 327 Hansen, Max 198 Hanslick, Eduard 41, 47, 49 Harrison, Charles 251 Hartmann, Georg 167 Hartmann, Paul 306 Hasenclever, Walter 237, 238 Hauff, Wilhelm 89-100 Hauptmann, Gerhart 6 Hausen, Juliane 92 Hebbel, Friedrich 16 Heil, Johannes 37 Hein, Jürgen 197 Heine, Heinrich 9, 14, 43, 146, 286 Helfer, Martha B. 126, 142 Helfert, Vladimir 72 Hellberg, Frank 295 Helmes, Günther 223, 225, 232 Hengstenberg, Gisela 54 Herloßsohn, Karl 2 Hermand, Jost 169, 242, 244, 250 Herrmann-Neiße, Max 239 Herzog, Elizabeth 329 Herzog, Wilhelm 18 Hessing, Jakob 281 Heymann, Werner R. 238 Hilmar, Ernst 333 Hilmes, Carola 63, 68 Hilmes, Oliver 305 Hilscher, Elisabeth Th. 195 Hinck, Walter 58, 216 Hinton, Stephen 311 Hirsbrunner, Theo 259 Hirschfeld, Magnus 284, 285 Hitler, Adolf 144, 145, 165, 168, 276, 305 Hochradner, Thomas 195 Höfert, Thomas 282-287 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 117, 121, 185-188, 287

Personenregister Hofmannsthal, Hugo von 191, 230, 233 Hölderlin, Friedrich 245, 339, 340 Hollstein, Dorothea 110 Holmqvist, Bengt 339 Hölzel, Gustav 69, 162 Horch, Hans Otto 103, 105, 126, 194, 218, 294 Horwarth, Peter 209 Huesmann, Heinrich 306, 307, 320 Humboldt, Wilhelm von 225 Hus, Johann 24 Ibsen, Henrik 118 Idelsohn, Abraham Zebi 32 Iffland, August Wilhelm 2 Ihering, Herbert 238, 242, 243, 251-254 Indy, Paul Marie Théodore Vincent de 255-273 Isolani, Eugen 66 Irmscher, Hans Dietrich 216 Irving, Henry 113-124 Jacobshagen, Arnold 35 Jacobsohn, Siegfried 221, 243 Jacoby, Johann 91, 92, 100 Jaffe, Sam 314, 317 Jäger, Albert 44 Jäger, Franz 44 Janin, Jules 28 Jarno, Josef 192 Jenzsch, Helmut 89 Jersch-Wenzel, Stefi 116 Jeschke, Claudia 197 Johnson, Charles 197 Johnsrud, Harold 315 Joly, Maurice 260 Jordan, Ruth 28 Joseph II., römisch-deutscher Kaiser, Erzherzog von Österreich 179 Jungk, Peter Stephan 309 Jütte, Daniel 41, 42, 47, 51 Kabel, Rolf 50 Kahmen, Volker 281 Kaiser, Joachim 125, 126 Kalisch, David 14 Kálmán, Emmerich 197, 100, 203, 205 Kampmann, Wanda 138

355

Personenregister Kandinsky, Wassily 330 Kändler, Klaus 250 Kaplan, Marion 42 Karbusicky, Vladimir 65, 70, 71 Karl Alexander, Herzog von Württemberg 93, 99 Karsch, Walter 221 Kasznar, Kurt 313 Kaulen, Heinrich 218 Katz, Jacob 143, 277, 278 Keller, Werner 216 Kemp, Friedhelm 281, 282 Kernmayer, Hildegard Kerr, Alfred 237, 243, 251-253 Kienzl, Hermann 238 Klarmann, Adolf D. 309 Klatzkin, Jakob 331 Kleingers, David 109, 110 Kleinwefers, Antje 230 Klingemann, August 12 Klischnigg, Edward 197 Klüger, Ruth 67, 131, 142 Klüsener, Erika 281 Knellessen, Wolfgang Friedrich 295 Koebner, Thomas 347 Koennecke, Fritz 306 Köhler, Joachim 143 Kolleritsch, Otto 65 Kolmar, Gertrud 19 Körner, Hermine 306 Kornfeld, Paul 19, 92, 293 Korngold, Erich Wolfgang 176, 191 Körte, Mona 6, 195 Kortner, Fritz 237, 238, 251-254, 298 Kotowski, Elke-Vera 119 Kovats, Georg 49 Kowalke, Karin 309, 310, 312, 315, 316, 322 Kowalke, Kim H. 308, 311, 313, 320 Kraemer, Jacques 92 Kraft, Werner 281, 282 Krämer, Jörg 5 Krásnohorská, Eliška 86 Kraus, Karl 122, 193, 316 Krauß, Rudolf 45, 50 Kreis, Rudolf 143 Kremer, Joachim 41 Krenek, Ernst 18 Kreuzer, Helmut 90 Krobb, Florian 57, 59, 64, 129, 136 Krohn, Rüdiger 143 Kropfinger, Klaus 325

Kubizek, August 145 Kuhnt, Christian 312 Kupper, Margarete 281, 282 Kurz, Isolde 90 Kurz, Johann Joseph Felix 5 Kvapil, Jaroslav 70, 71 Lafont, Marcelin 22 Lamberti, Giuseppe 77, 84, 87 Landauer, Gustav 247, 286 Langer, Josef 177 Lasker-Schüler, Else 19, 275-292 Lavater, Johann Caspar 180 Lazar, Moshe 331 Lea, Charlene A. 67, 68, 72, 128 Lehár, Franz 191-206 Leich-Galland, Karl 21-23, 37 Leisinger, Bertha 53 Lemaitre, Jules 258 Lenya, Lotte 308, 309, 311-314, 320, 322 Lenz, Jakob Michael Reinhold 180 Léon, Viktor (= Hirschfeld, Viktor) 121, 122, 124 Leonhard, Rudolf 238, 240, 251, 252 Lerner, Scott 52 Lessing, Gotthold Ephraim 12, 57, 89, 91, 92, 216 Levasseur, Nicolas-Prosper 22, 38 Levin, Kurt 165 Levin, Willy 165, 172 Lévinas, Emanuel 232 Levy, Emanuel 234 Lewis, Leopold 113, 114, 123 Liebknecht, Karl 238 Linke, Norbert 194 Liszt, Franz 150, 152, 153 Löhner-Beda, Fritz 195, 199 Lorenz, Dagmar C.G. 129, 136 Ludwig II., König von Bayern 148, 150 Lugné-Poë, Aurélien 118 Lumet, Baruch 314 Lumet, Sidney 315 Lützeler, Paul Michael 347 Luxemburg, Rosa 238 Lynn, Eliebe 317 Lynn, Henry 313 Mack, Max 109 Macke, August 281 Magee, Bryan 143

356 Mahler, Alma 166, 305, 310 Mahler, Gustav 65, 71, 166 Mahner-Mons, Hans 175, 177 Maillard, Francine 256 Maillard, Jean 256 Malkin, Jeanette R. 49 Mallarmé, Stéphane 259 Mann, Thomas 143, 233 Marc, Franz 282 Marcuse, Ludwig 143, 239, 240 Marggraf, Hermann 2 Marischka, Hubert 198 Marlowe, Christopher 25 Marschner, Heinrich 9, 14, 57-75 Martin, Karl Heinz 237, 238, 252 Martin, Lilo 177 Martini, Fritz 218 Mattern, Jens 232 Marx, Henry 313 Marx, Karl 147-149, 151 Mascagni, Pietro 118, 199 Massenet, Jules 87 Maurel, Victor 119-121 Maurice, Samuel 322 May, Joe 193 Mayer, David 113, 114 Mazurier, Charles 197 McNally, Joanne 195 Mehring, Walter 18, 195, 293-303 Meilhac, Henri 121 Melchinger, Siegfried 207 Mellinger, Friedrich 240 Mendelssohn, Peter de 233 Mendelssohn Bartholdy, Felix 91 Messager, André 120 Metzger, Nicole 131 Meyer, Beate 42 Meyer, Jochen 89-91, 95, 99, 100 Meyer, Michael A. 116 Meyer-Giesow, Walter 167 Meyer-Plantureux, Chantal 2 Meyerbeer, Giacomo 21-25, 38, 39, 47, 48, 81, 179, 261 Mirbeau, Octave 118 Miething, Christoph 80 Milkin, Richard 208 Millington, Barry 143, 162 Mitchell, Jerome 58, 62 Mittler, Leo 321 Moholy-Nagy, Laszlo 295 Mohr, Wilhelm 169 Moissi, Alexander 253

Personenregister Mojsisovics, Roderich von 171, 173 Molo, Walter von 246 Monteverdi, Claudio 262 Moser, Hugo 218 Moser, Moses 9 Mosenthal, Salomon Hermann 16, 57-75 Mozart, Wolfgang Amadeus 163 Müller, Franz 143 Müller, Joachim 127 Müller, Ulrich 160 Müller-Michaels, Harro 125 Müller-Palm, Adolf 45, 46, 48, 51, 52 Müller-Seidel, Walter 218 Mülsch, Elisabeth-Christine 115 Münzer, Georg 58, 64, 69 Müssener, Helmut 339 Mussorgsky, Modest 11, 270 Nadler, Josef 91 Nagelmüller, Karolina 193 Naumann, Uwe 347, 348 Neff, Anneliese 343 Neppach, Robert 238, 252 Nestroy, Johann 4, 14, 16 Neubauer, Hans-Joachim 1, 2, 6-9, 13, 101-112, 196, 197, 203 Neuhaus, Stefan 243 Neumann, Hans-Gerhard 136, 222, 229, 234 Newark, Cormac 32, 33 Neye, Kerstin 127 Nickl, Therese 207, 208 Nietzsche, Friedrich 143, 146, 157, 250, 256 Nilius, Sergej 260 Nöbel, Manfred 105 Nourrit, Adolphe 22, 31, 38 Novalis (= Hardenberg, Georg Friedrich Philipp Freiherr von) 340 Novotna, Jarmila 320, 321 Nufer, Wolfgang 174 O’Brien, Mary-Elizabeth 110 Och, Gunnar 4-7, 12, 103, 179 Oellers, Norbert 278, 281, 285 Offenbach, Jacques 320 Osnath-Halevy, Sarah 321 Osthoff, Wolfgang 176 Pachl, Peter P. 176 Pacini, Antonio 25

Personenregister Paech, Joachim 293 Palianti, Louis 35 Pallenberg, Max 192 Parker, Roger 33 Patten, Dick Van 315 Pazi, Margarita 347 Pereira, Henrietta 328 Petránek, Pavel 86 Pertlik, Susanne 208 Peters, Ulrike 222, 229 Petipa, Marius 206 Pfitzner, Hans 165-178 Philipp II. August, König von Frankreich 149 Pinthus, Kurt 239 Piper, Ernst 260 Piscator, Erwin 293, 294, 297 Pohl-Meiser, Viktoria 205 Polgar, Alfred 233 Poliakov, Léon 260 Pörnbacher, Karl 127 Porrmann, Maria 7, 102 Pörtner, Paul 238 Prag, Hieronymus von 24 Praz, Mario 63 Prechtler, Otto 65 Presseq, Henry 121 Pressler, Gertraud 195 Prölss, Robert 106 Prosse, Stefan 90 Prossnitz, Gisela 308 Proust, Marcel 259 Przyrembel, Alexandra 89 Quicherat, Louis 22, 31 Raabe, Paul 239 Raeder, Gustav 16, 101-112 Rankl, Karl 325 Rathenau, Walther 300 Rathgeber, Valentin 4, 5 Raumer, Friedrich von 147-149, 159 Rauschning, Hermann 144, 145 Ravel, Maurice 268, 272 Redlich, Hans Ferdinand 325 Rehfisch, Hans-José 18 Reinhardt, Gottfried 305, 307, 310 Reinhardt, Max 19, 191, 305-323 Reisinger, Wenzel 206 Reuter, Rolf 176 Rey, William H. 209, 218, 220 Richter, Matthias 102, 131

357 Riedmann, Bettina 220 Riss, Heidelore 194 Robert, Eugen 240 Robertson, Ritchie 217 Roe, Ian 125 Rodrigue, Aron 138 Rohrbacher, Stefan 134 Röll, Walter 278 Rolland, Romain 118, 259 Rölleke, Heinz 278, 283, 285 Rollet, Edwin 233 Roloff, Fränze 238 Rootzen, Kajsa 347 Rose, Paul Lawrence 143, 151, 152 Rossini, Gioacchino 25, 38, 62, 270 Rößler, Karl 191 Roth, Joseph 221, 283, 327 Rouard, Edouard 269, 272 Rouché, Jacques 258 Rudley, Herbert 317 Rufer, Josef 326 Rühle, Günther 238, 242, 243, 248, 251-254, 293-296 Saame, Otto 225 Sachs, Nelly 339-349 Saint-Saëns, Camille 87, 184 Salas, Claudio José Domingo Brindis de 51 Salfner, Heinz 217 Sauer, August 127 Sautermeister, Gerd 58 Schach, Fabius 17 Schapkow, Carsten 243 Schaljapin, Fjodor 321, 322 Schebera, Jürgen 311 Scheichl, Sigurd Paul 126, 218 Scheit, Gerhard 26, 143, 146, 150, 152, 161, 256, 262, 266, 267 Scherer, Stefan 223, 228, 231, 233, 235 Schickling, Dieter 143 Schillemeit, Jost 126 Schirmers, Georg 303 Schlegel, Wilhelm 94 Schlesinger, Philipp 97 Schlör, Joachim 54, 179, 181, 187, 188 Schmid, Ulrich 58 Schmidt, Dörte 41 Schmidt, Julian 14 Schmidt, Michael 101, 134

358 Schmidt, Ulrich 127 Schnitzler, Arthur 17, 124, 191, 200, 207−220, 221 Schnitzler, Günter 136 Schnitzler, Heinrich 207 Schnitzler, Johann 208 Schnitzler, Olga 232 Schoenberg Zeisl, Barbara 195 Schoeps, Julius H. 54, 119, 179, 181, 187, 188, 299, 309 Scholem, Gershom 329, 330, 345 Scholz, Dieter D. 143, 145 Schönberg, Arnold 11, 19, 182, 325-337 Schönert, Jörg 89 Schopenhauer, Arthur 167, 180, 234, 267 Schreiber, Ulrich 26, 37 Schreker, Franz 176 Schreyvogel, Joseph 2 Schröder, Friedrich Ludwig 2 Schröter, Karl Heinz 247 Schuh, Willi 182 Schultes, Paul 252 Schulz, Georg-Michael 278 Schwartz, Manuela 257-259 Schwartz, Maurice 313, 319 Schwarz, Egon 216 Schweid, Mark 314 Schweimler, Astrid 92, 98, 99 Schwietering, Julius 340 Scott, Walter Sir 9, 25, 57-75 Scribe, Eugène 10, 17, 21-39, 52, 180 Seidl, Arthur 143, 144, 149 Sengle, Friedrich 58 Sessa, Karl Boromäus Alexander 7, 13, 101, 102, 112 Shakespeare, William 25, 39, 64, 70, 92, 93, 97, 98, 119, 131, 144, 298, 302 Shaw, George Bernard 119, 147 Shedletzky, Itta 278, 281, 283, 285, 287 Shelley, Mary 147 Sichardt, Martina 327 Silberner, Edmund 91, 92, 100 Simmel, Georg Singla, Etienne 114 Skrodzki, Karl Jürgen 283 Slonimsky, Nicholas 311 Smart, Mary Ann 33

Personenregister Smetana, Bedřich 73, 121, 198 Sokel, Walter H. 244 Sombart, Werner 188 Sontheim, Heinrich 13, 41-55 Sorge, Reinhard Johannes 233 Sorma, Agnes 132 Spanuth, August 188 Speidel, Ludwig 48, 50-52 Sprengel, Peter 194, 195 Stauben, Daniel 115 Steffens, Walter 347 Stein, Erwin 325 Stein, Leo (= Rosenstein, Leo) 121 Steindorff, Ulrich 240 Steinecke, Hartmut 218 Steinhard, Erich 72 Sternberg, Josef von 317 Stertz, Peter 294 Stoecker, Adolf 167 Straus, Oscar 191 Strauss, Herbert A. 101 Strauss, Richard 11, 18, 166, 179-189, 270 Stuckenschmidt, Hans Heinz 182 Suppé, Franz von 48, 49 Symonette, Lys 308, 311, 312, 320 Taglioni, Filippo 206 Talin, Émile-Laurent 114 Tautenhayn, Ernst 198 Telicsaks, Lena 71 Terry, Ellen 119 Thomas, Berta 66 Thomson, Virgil 313 Thum, Harald 225 Timms, Edward 217 Toller, Ernst 13, 18, 237-254, 286, 294 Treumann, Louis 192, 197, 198, 205 Tschech, Heinrich 91 Tucholsky, Kurt 240 Tyrell, John 70 Ungar, Hermann 293 Urbach, Reinhard 218 Vallas, Léon 255, 262, 268, 271, 272 Van, Gilles de 21 Vaßen, Florian 7, 102 Vega, Lope de 14, 125, 136 Vellnagel, Christian Ludwig August Freiherr von 42

Personenregister Verdi, Giuseppe 23, 31, 50, 51, 79, 80, 85, 87, 119, 120, 184 Verlaine, Paul 259 Véron, Louis-Désiré 35 Viertel, Berthold 238 Volckmann, Silvia 68 Volmari, Beate 90 Voltaire (= Arouet, François Marie) 24 Vordtriede, Werner 231, 234 Vos, A.L. 214 Voß, Julius von 103 Wacks, Georg 192, 197 Wagner, Cosima 159, 150, 161 Wagner, Gert 143 Wagner, Richard 11-13, 16, 35, 37, 46-48, 51, 58, 63, 64, 69, 77, 143-164, 168-172, 174, 177, 178, 179, 181, 182, 185, 187-189, 234, 255-273 Wahrmund, Ludwig 207 Waldenfels, Bernhard 222 Walker, George 197 Wallenborn, Hiltrud 119 Walter, Bruno 166, 172 Walther-Fein, Rudolf 109 Wapnewski, Peter 148, 160 Wardi, Charlotte 194 Weber, Carl Maria von 120, 174, 266 Weber, Eugene 230 Weber, Max 329, 332, 335 Weber, Michael 195 Weidmann Schneider, Susann 67 Weilen, Joseph 66 Weill, Alexandre 115 Weill, Kurt 11, 19, 305-323 Weiner, Marc A. 143, 146, 152, 155, 159-165 179, 171, 269, 270 Weis, Karel 121-124 Weisgal, Meyer W. 305-307, 310, 311, 322, 323 Weiss, Robert O. 207

359 Weitz, Hans J. 293, 296, 297, 299, 302 Welzig, Werner 207, 208, 213, 214, 219, 221 Wenzler, Franz 239, 240 Werfel, Franz 302-323 Westermeyer, Karl 188 Wiesenmann, Falk 202 Wilde, Oscar 183-185 Wilhelm I., König von Württemberg 53 Williams, Bert 197 Wilmzig, Irmfried 346, 347 Wilpert, Gero von 206 Witte, Karsten 112 Wittmann, Carl Friedrich 58 Wlassack, Eduard 69 Wohlbrück, Wilhelm August 57, 58, 60-62, 74, 75 Wolfes, Felix 169 Wolff, Kurt 237 Wolter, Charlotte 61 Worringer, Wilhelm 251 Wrobel, Ignaz (=Tucholsky, Kurt) 240 Wüllner, Ludwig 306 Wurz, Stefan 63 Yates, William Edgar 126, 127, 217, 218 Yerushalmi, Yosef Hayim 232 Zborowski, Mark 329 Zedelmaier, Helmut 197 Zehder, Hugo 239 Zelinsky, Hartmut 143 Zeller, Bernhard 218 Zemach, Benjamin 317, 322 Zerlett, Hans H. 101, 106, 109-112 Zola, Emile 118, 259 Zuckerkandl, Berta 328 Zweig, Stefan 18, 19, 221, 330, 331