Conditio Judaica: Teil 2 Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg [Reprint 2012 ed.] 9783110276220, 9783484106222

The contributions of this second interdisciplinary symposium concentrate on the period between 1848/49 and 1914/18. The

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German Pages 385 [388] Year 1989

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Conditio Judaica: Teil 2 Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg [Reprint 2012 ed.]
 9783110276220, 9783484106222

Table of contents :
Vorwort
Akademische Führungsschichten und Judenfeindschaft in Deutschland 1886–1918
Antisemitische Ideologien und Bewegungen in der Spätzeit der Habsburgermonarchie
Juden und Judentum in der englischsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts
Juden und Judentum in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts
Antijudaismus in der Zeit der deutschen Romantik
„Harlekinade in jüdischen Kleidern“? – Der szenische Status der Judenrollen zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Gutzkow, die Juden und das Judentum
Ein antisemitischer Autor wider Willen. Zu Gustav Freytags Roman Soll und Haben
Verantwortungsethik. Zu Wilhelm Raabes Umgang mit Juden und Judentum
Der Prozeß der Zivilisation und sein jüdisches Opfer. Vater und Sohn in Ferdinand von Saars Novelle Seligmann Hirsch (1889)
Leopold Kompert und die böhmischen Landjuden
Karl Emil Franzos’ Assimilationsvorstellung und Assimilationserfahrung
Bilder aus dem Ghetto. Aron Bernsteins Novellen Vögele der Maggid und Mendel Gibbor
Widersprüchliche Lebensbilder aus Galizien. Zu Leo Herzberg-Fränkels Polnische Juden
Der Außenseiter als ‚Judenraphael‘. Zu den Judengeschichten Leopolds von Sacher-Masoch
Mythos als Wasserscheide. Die jüdische Komponente der Psychoanalyse: Beobachtungen zu ihrem Zusammenhang mit der Literatur des Jahrhundertbeginns
Anhang
„Jüdischer Selbsthaß“ und jüdische Selbstachtung in der deutschen Literatur und Publizistik 1890 bis 1933
Über Judentum und Antisemitismus, literarisches Bild und historische Situation: Grundzüge der Diskussion
Personenregister
Teilnehmerliste

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Conditio Judaica Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg Zweiter Teil

Conditio Judaica Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg Interdisziplinäres Symposion der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg Zweiter Teil Herausgegeben von Hans Otto Horch und Horst Denkler

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Conditio Judaica : Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg ; interdisziplinäres Symposion der Wemer-ReimersStiftung Bad Homburg / hrsg. von Hans Otto Horch u. Horst Denkler. - Tübingen : Niemeyer. NE: Horch, Hans Otto [Hrsg.]; Wemer-Reimers-Stiftung Teil 2 ( 1 9 8 9 ) ISBN 3-484-10622-0 © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1989 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt

Inhalt

Vorwort Werner Jochmann (Hamburg): Akademische Führungsschichten und Judenfeindschaft in Deutschland 1886-1918

VII

1

Wolfgang Häusler (Wien): Antisemitische Ideologien und Bewegungen in der Spätzeit der Habsburgermonarchie

19

Kurt Dittmar (Hamburg): Juden und Judentum in der englischsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts

35

Frank-Rutger Hausmann (Aachen): Juden und Judentum in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts

52

Wolfgang Frühwald (München): Antijudaismus in der Zeit der deutschen Romantik

72

Hans-Peter Bayerdörfer (München): „Harlekinade in jüdischen Kleidern"? - Der szenische Status der Judenrollen zu Beginn des 19. Jahrhunderts

92

Hartmut Steinecke (Paderborn): Gutzkow, die Juden und das Judentum

118

Klaus Christian Köhnke (Berlin): Ein antisemitischer Autor wider Willen. Zu Gustav Freytags Roman Soll und Haben

130

Horst Denkler (Berlin): Verantwortungsethik. Zu Wilhelm Raabes Umgang mit Juden und Judentum

148

Karlheinz Rossbacher (Salzburg): Der Prozeß der Zivilisation und sein jüdisches Opfer. Vater und Sohn in Ferdinand von Saars Novelle Seligmann Hirsch (1889)

169

Thomas Winkelbauer (Wien): Leopold Kompert und die böhmischen Landjuden

190

VI

Inhalt

Margarita Pazi (Tel-Aviv): Karl Emil Franzos' Assimilationsvorstellung und Assimilationserfahrung

218

Julius H. Schoeps (Duisburg): Bilder aus dem Ghetto. Aron Bernsteins Novellen Vögele der Maggid und Mendel Gibbor

234

Gerhard Kurz (Gießen): Widersprüchliche Lebensbilder aus Galizien. Zu Leo Herzberg-Fränkels Polnische Juden

247

Hans Otto Horch (Aachen): Der Außenseiter als ,Judenraphael'. Zu den Judengeschichten Leopolds von Sacher-Masoch

258

Renate Böschenstein (Genf): Mythos als Wasserscheide. Die jüdische Komponente der Psychoanalyse: Beobachtungen zu ihrem Zusammenhang mit der Literatur des Jahrhundertbeginns

287

Anhang Walter Grab (Tel-Aviv): „Jüdischer Selbsthaß" und jüdische Selbstachtung in der deutschen Literatur und Publizistik 1890 bis 1933

313

Florian Krobb (Göttingen) und Stefan Wirtz (Aachen): Über Judentum und Antisemitismus, literarisches Bild und historische Situation: Grundzüge der Diskussion

337

Personenregister

357

Teilnehmerliste

Vorwort der Herausgeber

Die Beiträge der zweiten Tagungssequenz des von der Werner-ReimersStiftung veranstalteten Symposions, dessen Zielsetzung im Vorwort zum ersten, 1988 erschienenen Teil beschrieben ist, beziehen sich vorwiegend auf den Zeitraum von 1848/49 bis 1914/18. Geprägt durch die Enttäuschung über die fehlgeschlagene bürgerliche Revolution und bestimmt vom Unbehagen über spezifische innen- und außenpolitische Entwicklungen in Mitteleuropa, erweist er sich als Inkubationszeit eines politisch funktionalisierten Antisemitismus, der sich im deutschen Kaiserreich wie in der Österreichungarischen Doppelmonarchie seit Mitte der siebziger Jahre ausbreitete. Dieser rasch erstarkende Antisemitismus schlug sich in der Literatur ebenso nieder wie die verschiedenen jüdischen Reaktionen auf die antisemitische Agitation, Ideologie, Bewegung - Assimilation, Identitätskrise, sozialistische und zionistische Lösungsprogramme. Aus der Fülle der besprochenen Themen seien folgende Aspekte hervorgehoben: 1. Werner Jochmann und Wolf gang Häusler stellen in ihren Referaten zur historisch-politischen Entwicklung in Deutschland und Österreich seit 1848 bzw. 1869/ 71 die Mischung von religiösem Judenhaß und Rassenantisemitismus als unheilvollen Faktor heraus. Zugleich bezeichnen sie die weitgehende Unkenntnis ökonomischer Prozesse als Defizit der .gebildeten' liberalen Schichten. Übereinstimmend wird von beiden Referenten die Forderung erhoben, daß man schichten- und klassenspezifisch wie regional differenzieren müsse: monokausale Erklärungsmuster trügen nicht zur Erklärung des Antisemitismus bei. 2. Was den Antisemitismus und die Reaktionen der jüdischen (und nichtjüdischen) Autoren auf die antisemitischen Bestrebungen betrifft, ist in Deutschland und Österreich unstrittig eine Sonderentwicklung zu beobachten; dennoch erweisen die Referate von Kurt Dittmar (über die Entwicklung in England) und FrankRutger Hausmann (über die Entwicklung in Frankreich), daß literarische Stereotype des .Jüdischen' (des Schurken, seltener des ,edlen' Juden) gemeineuropäisch sind. Entscheidend ist jeweils der Kontext des Gesamtwerks und der Rezeptionsbedingungen für die Folgen, die aus der literarischen Verbreitung des .dual image' (Harold Fisch) erwachsen. Werke deutscher und österreichischer Autoren (Freytag, Raabe, Ferdinand von Saar) machen diese komplexen Wirkungsbedingungen von Stereotypen offenbar: in je spezifischer Weise arbeiten alle drei Schriftsteller mit funktionalisierten Stereotypen des .Juden', obwohl sie keineswegs Antisemiten sind (Referate von Klaus Christian Köhnke, Horst Denkler und Karlheinz Rossbacher). Dabei ist die Diskrepanz von (liberaler bzw. josephi-

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Vorwort

nischer) Autorintention und (antisemitischer) Rezeption ein besonderes Problem für die Einschätzung solcher Werke: dem Publikum bleiben in der Regel die Dokumente aus der Entstehungszeit der gelesenen Texte fremd, die deren Tendenz erklären, modifizieren, entkräften könnten, es läßt das möglicherweise anders ausgerichtete, gegenläufige Gesamtwerk außer acht und entnimmt der Konstruktion des (vielleicht sogar flüchtig gelesenen) Einzelwerks einen fragwürdigen, aber wirkungsvollen .Sinn'. 3. Einen Nachtrag zur Theater-Thematik der ersten Sektion (vgl. die damaligen Beiträge von Horst Denkler und Jürgen Hein) bieten die Referate von HansPeter Bayerdörfer und Hartmut Steinecke. Dabei zeigt sich, daß der szenische Status der Judenrollen zu Beginn des 19. Jahrhunderts über das ganze Jahrhundert erstaunlich wirksam blieb, wobei sich freilich eine gewisse Entwicklung von der Karikatur und der typisierten komischen Figur hin zur Charakterrolle abzeichnete. Die spezifische Gutzkowsche Ambivalenz in seiner Stellung zu Juden und Judentum erwächst einerseits aus seiner dezidiert antireligiösen Einstellung (.Uriel Acosta'), andererseits aus seiner kämpferischen Position als radikaldemokratischer Journalist, die ihn in Konflikte mit jüdischen Kollegen verwickelte. 4. Ein großer Anteil des Symposions (Referate von Thomas Winkelbauer, Julius H. Schoeps, Margarita Pazi, Gerhard Kurz, Hans Otto Horch) war der Problematik der jüdischen Dorf- und Ghettogeschichte oder allgemeiner der .Judengeschichte' gewidmet, weil sie von der Forschung bislang kaum beachtet worden ist. In Beiträgen zu einzelnen Autoren dieses zwischen 1850 und 1880 überaus erfolgreichen Genres (Kompert, Bernstein, Franzos, Herzberg-Fränkel und - als nichtjüdischer Außenseiter - Sacher-Masoch) werden zugleich Grundlinien einer künftigen Geschichte des Genres gezogen, die partiell in Arbeiten von Wilhelm Goldbaum (1884) und Ludwig Geiger (1918) vorgezeichnet sind. Entscheidend für die Einschätzung der einzelnen Autoren ist ihre regionale Zuordnung, darüber hinaus ihre .Tendenz' (zumeist emanzipatorisch, aber auch verklärend). Die spezifische Widersprüchlichkeit der Texte erwächst aus einer doppelten Stereotypie der verwendeten Bilder des .Jüdischen': einerseits gegen die religiöse Orthodoxie und den Chassidismus eingestellt, sind sie andererseits den Juden und dem Judentum insgesamt freundlich gesinnt. Implizit läßt sich - etwa beim Thema der Mischehe zwischen Christ und Jüdin - eine gewisse Unsicherheit bei der Festlegung dessen ausmachen, was jüdische Identität noch bedeuten könnte: man weicht dann gern in die Utopie der insgesamt befreiten .Menschheit' aus - ähnlich wie dies in der sozialistischen Debatte über die .Judenfrage', aber auch bei liberalen Autoren wie Auerbach der Fall ist. 5. Wie komplex die Stellung jüdischer Autoren zum Judentum, zur jüdischen Identität um die Jahrhundertwende sein kann, erweisen die Beiträge von Uta Shedletzky (über Samuel Lublinskis literaturkritischen Sonderweg; in diesem Band nicht enthalten) und Renate Böschenstein (über Sigmund Freud und die jüdische Komponente der Psychoanalyse). Zwar wendet sich Lublinski vom Zionismus ab und dem Neoklassizismus zu; aber das bedeutet keineswegs eine völlige Apostasie: in den kontrastierenden Begriffen des .Klassischen' und des .Romantischen' versucht der Literaturkritiker, ähnlich wie Heine, zu einer Formel für die Bewegung der Literaturgeschichte zu gelangen, wobei das Judentum sozusagen eine vermittelnde Funktion hat und der Zionismus als eine .romantische' Weise des Umgangs mit der Geistesgeschichte kritisiert wird. Ähnlich bewahrt sich Freud zeitlebens ein Bild von Moses als dem Inbegriff der Vater-Imago und verschmilzt es mit dem aufklärerischen Bild Nathans des Weisen.

Vorwort

IX

6. Der öffentliche Vortrag von Walter Grab über das Thema des jüdischen Selbsthasses' (Theodor Lessing) und der jüdischen Selbstachtung in der deutschen Literatur und Publizistik 1890 bis 1933 löste mit seiner provozierenden Leitthese eine lebhafte Debatte unter den Teilnehmern aus. Grab betonte nämlich, daß jüdische Autoren aus dem .rechten', konservativen Lager (wie Kraus, Hofmannsthal, Friedeil, Rathenau) eher zum .Selbsthaß' neigten als Autoren aus dem .linken', fortschrittlich-sozialistischen Lager (wie Landauer, Feuchtwanger, Kisch, Arnold Zweig). Strittig blieb diese (in didaktischer Absicht bewußt überspitzte) Gegenüberstellung vor allem im Hinblick auf die konservativen Autoren; in der Diskussion wurden deshalb vor allem .entlastende' Argumente für Kraus und Rathenau geltend gemacht. 7. Die Schlußdiskussion bezog sich auf die Themenkomplexe (a) .Literarische Stereotype und Klischees', (b) .Autorintention vs. Rezeption' und (c) .Defizite der Forschung'. (a) Unter Einschluß der Popularkultur (die von Herbert A. Strauss und seinen Mitarbeitern schwerpunktmäßig erforscht wird) müßte ein theoretisches Konzept der literarischen Stereotypenforschung entworfen und mit der Erforschung literarischer Klischees im allgemeinen sowie der trivialen .Schema'-Literatur verbunden werden. Insbesondere die Funktion des Jiddischen bzw. des .Judendeutschen' im Kontext deutschsprachiger Literatur wäre näher zu untersuchen. Zu fragen bleibt ferner, wie die neuen Erfahrungsräume des 19. Jahrhunderts sprachlich-literarisch bewältigt werden (Mentalitätsgeschichte, Mythologisierung des Neuen). (b) Zweifellos ist es wichtig, die Autorintentionen möglichst genau (unter Einbezug neuer Materialien) nachzuzeichnen; nicht minder wichtig und in unserem Diskussionszusammenhang vielleicht noch wichtiger ist die Frage nach der Wirkung bei den Lesern. Hier erhebt sich freilich durchweg das Problem der fehlenden Rezeptionszeugnisse - lediglich eine Rezensionsgeschichte ist in der Regel möglich. (c) Drei Fragen bedürfen weitergehender Klärung: die Frage nach dem Wesen des .Jüdischen' in seinen vielfältigen Ausprägungen (also der jüdischen .Identitäten'), die Frage nach den generellen Rahmenbedingungen für die Entfaltung oder Hemmung jüdischen Lebens (Schulwesen u.ä., in Österreich untergliedert nach den verschiedenen Nationalitäten; Kirchenhistorie), schließlich die Frage nach der innerjüdischen Entwicklung. Speziell unerforscht ist auch, welche Rolle die Antike für die jüdischen Autoren und ihre Selbstdefinition spielt; so gibt es eine erstaunliche Anzahl bedeutender jüdischer Altertumsforscher - ein Faktum, das Aufmerksamkeit verdient. Es steht außer Zweifel, daß der Zeitraum von 1918 bis 1938 zum Gegenstand eines gesonderten Symposions werden müßte. Ein wesentliches Datum ist die Novemberrevolution und die damit verbundene wirkliche gesellschaftliche Gleichstellung der Juden in fast allen beruflichen Belangen; ursächlich damit verbunden ist der ungemein brutale Nachkriegsantisemitismus, der unmittelbar in den Nationalsozialismus übergeht. Von daher wäre einerseits das weite Feld zu beschreiben, auf dem jüdische Autoren nun literarisch tätig sind (insbesondere auch auf dem Gebiet der Kritik und des Journalismus generell); andererseits dürfte das Phänomen der dezidiert anti-

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Vorwort

semitischen Literatur nicht ausgespart werden. Während die Literaturkritik der deutschsprachigen jüdischen Zeitschriften sowie der allgemeinen politisch-literarischen Zeitschriften dieses Zeitraums hinlänglich erforscht ist, bedarf die auf die deutschsprachige Literatur bezogene Kritik der hebräischen Zeitschriften noch einer genauen Untersuchung. Daß auch die zweite Tagungssequenz des Symposions für die Teilnehmer wissenschaftlich und menschlich besonders fruchtbar wurde, ist wiederum dem .genius loci' der Werner-Reimers-Stiftung zuzuschreiben. Besonderer Dank gilt - stellvertretend für alle Mitarbeiter der Stiftung - ihrem Vorstand, Herrn Konrad von Krosigk, sowie Frau Gertrude Söntgen; durch ihr Engagement wurde das offene und freundschaftliche Gespräch über ein historisch und literarisch so bedeutsames Thema erst möglich. Aachen und Berlin, im Januar 1989

Hans Otto Horch Horst Denkler

Werner Jochmann (Hamburg)

Akademische Führungsschichten und Judenfeindschaft in Deutschland 1866-1918

Einschneidende Veränderungen ihrer Lebensbedingungen und ihres sozialen Umfeldes beunruhigen die Menschen, erschüttern das Vertrauen der Völker zu ihrer politischen Führung. Sobald überkommene Werte und Grundhaltungen fragwürdig werden, greifen Ratlosigkeit und Unruhe um sich. Die von der Krise Betroffenen, die durch den Wandel benachteiligten Menschen und sozialen Gruppen beginnen alsbald mit der Suche nach den Verantwortlichen für ihre Nöte. Dabei geraten in aller Regel Gruppen ins Blickfeld, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen oder aus unterschiedlichsten Gründen nicht in die Gemeinschaft integriert sind. Für die chrisdichen Völker Europas und die Deutschen waren dies immer wieder die andersgläubigen Minderheiten, an erster Stelle die Juden. In einer solchen Situation des Wandels befand sich Deutschland am Vorabend der Reichsgründung. Es kann daher nur auf den ersten Blick überraschen, daß sich in der Vorbereitungsphase der Reichsgründung von 1866 bis 1871 heftige Aggressionen gegen die Juden entluden und danach binnen weniger Jahre die überkommene christliche Judenfeindschaft in eine bedrohliche politische Bewegung einmündete. Aufkommen und Bedeutung des radikalen Antisemitismus sind nicht zuletzt deshalb von Zeitgenossen und rückschauenden Betrachtern unzureichend beurteilt worden, weil sie die Proklamation des deutschen Kaiserreichs ausschließlich als Beginn einer neuen, zukunftsträchtigen Ära sahen. Daß und wie weit dieses Geschehen mit seinen Folgen für viele Menschen erhebliche Umstellungsschwierigkeiten mit sich brachte, geistige und materielle Nöte verursachte, tiefgreifende soziale Umschichtungen auslöste, das übersahen sie weitgehend. Die ersten politischen Attacken gegen die Juden während der Reichsgründungsperiode zwischen 1866 und 1871 führten eingeschworene Föderalisten und Partikularisten. Ihnen mißfiel das starke Engagement assimilierter Juden für die nationale Einigung an der Seite des liberalen Bürgertums. Im Lager der konservativen Führungsschichten in Preußen, Bayern, Sachsen und anderen Ländern gab es nicht wenige, die die Entstehung eines Dieser Originalbeitrag zum Symposium der Reimers-Stiftung wurde vorveröffentlicht in Wemer Jochmann: Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 1870-1945. Hamburg 1988. (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte Bd. 23). S. 13-29, 348-350.

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Werner Jochmann

Einheitsstaates fürchteten. Dann, so glaubten sie, würden die Stände jeden Einfluß auf die politische Gestaltung des Reiches verlieren und die Vielfalt sowie der Reichtum des kulturellen und geistig-religiösen Lebens zerstört werden. Dieser Verdacht kam auf, weil das nationalliberale Bürgertum nicht nur für die nationale Einheit stritt, sondern auch den Säkularisierungsprozeß in allen Bereichen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens vorantrieb. Nach Auffassung der Traditionalisten in den Kirchen, Staatsverwaltungen und in der Wissenschaft lief die gesamte Entwicklung seit 1866 - vorher schon geistig vorbereitet - nicht nur auf eine Trennung von Kirche und Staat hinaus, sondern auf den .Abfall vom Christentum" schlechthin. In einem Reich aber, in dem alles, was zum „geistigen Leben der Nation gehört" und ihr wertvollstes Gut darstelle, so offensichtlich zurückgedrängt und mißachtet werde, seien die „moralischen Grundlagen" staatlicher Existenz gefährdet. Das neue Reich werde nur durch Machtmittel zusammengehalten und könne deshalb auf Dauer keinen Bestand haben.1 Diese Klagen über den Kulturverfall, das Schwinden der religiösen Bindungen und der ständischen Traditionen sollten von nun an nicht mehr verstummen. Sie begleiteten den immer deutlicher werdenden Prozeß der wirtschaftlichen und sozialen Umgestaltung des Landes. Das liberale Bürgertum mußte erstarrte Institutionen und gewachsene Lebensformen beseitigen, um den Weg für die Entwicklung der neuen kapitalistischen Wirtschaftsordnung freizumachen. Ohne sie konnte die Zukunft der rasch wachsenden Bevölkerung nicht gesichert werden. Die Juden, die nicht als fremde, sondern als gleichgestellte Partner im liberalen Lager für die Schaffung der neuen Sozialordnung arbeiteten, exponierten sich aus guten Gründen besonders stark. Nach Jahrhunderten der Abgeschlossenheit und der Benachteiligung bot sich ihnen erstmals die Möglichkeit, ihre Kräfte und Fähigkeiten voll zu entfalten. Sie taten dies nicht zuletzt auch im Interesse des Staates, in dem sie lebten und der ihnen diese Entfaltungsmöglichkeit bot. Gerade diese erfolgreiche Mitarbeit der Juden an der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umgestaltung Deutschlands mißfiel allen, die sich durch Besitz und Bildung allein zur Führung der Nation berufen wähnten, sich aber durch die neue Entwicklung zurückgesetzt und benachteiligt fühlten. Sie hatten schon seit den 50er Jahren darüber geklagt, daß „die Geldmacht den Fürsten und den Staatsgewalten über den Kopf' wachse.2 Nun behaupteten sie, dies sei eine Folge der Emanzipation. Die Juden gehörten nur deshalb zu den „entschiedensten Reichsfreunden", weil sie dadurch die Chance bekämen, ihren Einfluß und ihre Macht auszubauen.3 „Unter dem

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Constantin Frantz: Die Religion des Nationalliberalismus, Leipzig 1872. S. V f. und 1. Constantin Frantz an den Gesandten Otto von Bismarck am 4.9.1852. Constantin Frantz: Briefe, hrsg. von Udo Sautter und Hans Elmar Onnau, Wiesbaden 1974. S. 25. Constantin Frantz: Der Nationalliberalismus und die Judenherrschaft. München 1874. S. 56.

Akademische Führungsschichten und Judenfeindschaft in Deutschland 1866-1918

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Regime des Nationalliberalismus", so behaupteten die Föderalisten, seien die Juden „in den Mittelpunkt unserer Entwicklung" gerückt, bewußt auf das Ziel orientiert, alle Bereiche des öffentlichen Lebens in Deutschland zu durchdringen. „Was sich Fortschritt nennt", so schrieb Constantin Frantz schon 1874, „ist zuletzt nur Fortschritt in der Veijudung. Ein deutsches Reich jüdischer Nation entsteht damit vor unseren Augen"4 Das Unbehagen, mit dem Bildungsbürger, Repräsentanten der Landstände und namentlich die Anhänger einer föderalistischen Staatsidee den raschen Wandel der politischen Ordnung in Deutschland in den Jahren von 1866 bis 1871 verfolgten, ist in mancher Hinsicht verständlich. Daß die Nationalliberale Partei die geistigen und religiösen Werte der Vergangenheit, die ihnen so viel bedeuteten und demgemäß auch allein geeignet schienen, das Volk zu veredeln, so zielstrebig beiseite schob, empfanden sie als schweren Verlust und als den Auftakt zu einem Kulturkampf.5 Es erwies sich als folgenschwer, daß gerade intellektuell einflußreiche Kreise die von den Christen jahrhundertelang stigmatisierten und noch nicht in die deutsche Gesellschaft integrierten Juden sofort mit der politischen Verantwortung für alle nachteiligen Folgen belastete, die der politische und gesellschaftliche Modernisierungsprozeß in ihren Augen hervorbrachte. Bis in die Mitte der 70er Jahre blieben die politischen Judenfeinde aber ohne nennenswerten Einfluß. Das Werden des neuen Reiches war mit wachsender Zustimmung begleitet worden, die nationale Begeisterung hatte nach und nach auch die bürgerlichen Schichten in den nichtpreußischen Ländern erfaßt. Da sich viele von der neuen Ordnung bessere berufliche und politische Entfaltungsmöglichkeiten erhofften, überwog allenthalben der Optimismus. Er wurde auch durch die Erschwernisse bei der Vereinheitlichung der Bildungsgänge, der Umstellung der Maße, Gewichte und der Währung sowie andere Anpassungsprobleme nur geringfügig beeinträchtigt. Der Bewußtseinswandel begann, als sich das Wirtschaftswachstum abschwächte und schließlich in eine Rezession einmündete. Unternehmenszusammenbrüche, Vermögens- und Einkommensverluste sowie hohe Arbeitslosigkeit beunruhigten die Menschen und lösten angesichts der Rat- und Tatenlosigkeit der staatlichen Administration und der liberalen Reichstagsmehrheit eine schwere Krise aus. Als die von Constantin Frantz so engagiert bekämpfte „Religion des Nationalliberalismus" ihre Überzeugungskraft verlor, erhielten die Kritiker und Unheilspropheten mit ihren Thesen Zulauf. Wer Rückschläge und einen generellen Niedergang vorausgesagt hatte, schien nun von den Ereignissen bestätigt zu sein. 4 5

Vgl. Anm. 3. S. 64. Constantin Frantz, wie Anm. 1. S. 2 und 250f.; entschiedener noch Johann Baptist Sigi in der von ihm gegründeten und seit 1869 erschienenen Zeitung „Das Bayerische Vaterland". Vgl. dazu neuerdings: Rupert Sigi: Dr. Sigi, Ein Leben für das Bayerische Vaterland, Rosenheim 1977. S. 69ff„ 207ff.

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Werner Jochmann

Bereitwillig griffen die durch die ökonomischen Prozesse betroffenen und gefährdeten Mittelstandschichten die Behauptung auf, die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes und des neuen Reiches sei „vorzugsweise auf die Entfesselung der Kapitalmacht" mit dem Ziel der Errichtung einer .Judenherrschaft" ausgerichtet gewesen.6 Daß solch eindimensionale Erklärungsmodelle für eine komplizierte und vielschichtige Entwicklung leichthin akzeptiert wurden, lag an ihrer Verbreitung durch die Intellektuellen, die als Autorität galten. Sie hatten jedoch in den Kleinstaaten ohne politische Perspektive gelebt und waren - der Welt der Ideale und Theorien verschrieben - mit den gesellschaftlichen und ökonomischen Realitäten kaum in Berührung gekommen. Deshalb erfaßten sie nicht, wie nachhaltig die Industrialisierung das Gesicht des Landes veränderte, oder daß Berlin nicht durch bewußte Planung, sondern infolge des deutsch-französischen Krieges und der langen Belagerung von Paris so rasch an dessen Stelle zum Finanz- und Börsenzentrum aufgestiegen war. Unfähig, die rasche Entwicklung nachzuvollziehen und die Veränderungen in ihrer strukturellen Bedeutung zu erfassen, sah die akademische Führungsschicht die neue Wirtschaftsgesinnung mit einem moralischem Makel behaftet. Selbst ein bedeutender liberaler Wissenschaftler wie Alfred Dove hat die „Erscheinungen des sozialen Kampfes, [...] der nun schon Jahre lang mit dumpfem Getöse wie ein Erdbeben beständig drohend unter dem Aufbau unserer gesellschaftlichen Zustände hin und her wühlt", primär auf den „Verlust der sittlichen Gesinnung" zurückgeführt.7 Dove fühlte sich, wie die große Mehrheit des deutschen Bildungsbürgertums, als Wahrer des kulturellen Erbes der Nation. Daraus leitete die Intelligenz den Anspruch ab, eine wegweisende Funktion bei der Sicherung der „moralischen Grundlagen" alles staatlichen und gesellschaftlichen Lebens wahrzunehmen, die sie durch den Siegeszug der neuen Wirtschaftsgesinnung gefährdet sah. In diesem Protest schwang nicht zuletzt auch die Enttäuschung darüber mit, daß gerade das Bürgertum die so lange beschworenen Ideale den materiellen Interessen opferte. Da sie zudem wirtschaftliches Wachstum und Gewinnstreben in einen kausalen Zusammenhang mit der Judenemanzipation brachten, die sich parallel zur Entfaltung des kapitalistischen Wirtschaftssystems vollzogen hatte, setzten sich die Bildungsschichten mit wachsender Leidenschaft gegen die Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft zur Wehr. Die deutschen Hochschulen wurden sehr bald zu Zentren des Antisemitismus. Dozenten und Studenten wetteiferten darum, den „deutschen Geist" gegen alle fremden Einflüsse zu schützen. Die Tatsache, daß sie kaum eine klare

Constantin Frantz, vgl. Anm. 3. S. 36. Alfred Dove: Ein Neujahrswort an die deutsche Geistesarbeit, Im neuen Reich 3. Jg., 1873, Bd. 1. S. 1.

Akademische Führungsschichten und Judenfeindschaft in Deutschland 1866-1918

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Vorstellung davon hatten, worum es bei den großen Auseinandersetzungen der Zeit wirklich ging, beeinträchtigte ihren Eifer keineswegs.8 1877 kam es erstmals in Berlin zu turbulenten Protestveranstaltungen, als die Universität den Dozenten Eugen Diihring wegen seiner antisemitisch-anarchistischen Schriften aus dem Lehrkörper ausschloß.9 Der allgemeinen judenfeindlichen Grundstimmung trug der Historiker Heinrich von Treitschke 1879 in einem Artikel in den .Preußischen Jahrbüchern" Rechnung. Er wies auf die anwachsende antijüdische Einstellung in den von der Krise betroffenen Bevölkerungsschichten hin und konstatierte dann: „Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuths mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: Die Juden sind unser Unglück!"10 Ob die Intellektuellen im gesamten Reich so dachten, wie ihnen Treitschke unterstellte, muß bezweifelt werden. Fraglos aber verlieh er den Unzufriedenen Stimme und Autorität. Vor allem prägte er entscheidend das Denken und die politische Orientierung der nachfolgenden Akademikergeneration. Das bezeugen Studenten unterschiedlicher Herkunft und politischer Bindung. Wilhelm von Polenz, der später selbst als antisemitischer Schriftsteller hervortrat, stand 1883 ganz im Banne Treitschkes. Er notierte in sein Tagebuch: „Für mich sind seine Vorlesungen eine Weihe für den ganzen Tag."11 Die Resonanz, die Treitschke mit seinen antijüdischen Ausfällen fand, ließ viele Gleichgesinnte nicht ruhen. Auch sie wollten sich von dieser Woge des Zeitgeistes tragen lassen. Neben dem österreichischen Alldeutschen Georg Ritter von Schönerer, der 1881 erstmalig seine demagogischen Fähigkeiten vor Breslauer Studenten entwickelte, nutzten bald auch viele andere in Akademikerkreisen einflußreiche Männer die Konjunktur. Nachhaltiger als Treitschke aber infizierte der Berliner Hofprediger Adolf Stoekker die Studentenschaft und die Bildungsschichten mit dem antisemitischen Ungeist.12 Der wortgewaltige Prediger, der ebenso wie Treitschke 1879 mit ersten heftigen Attacken gegen die Juden hervorgetreten war und starken Zulauf gefunden hatte, erkannte instinktsicher die Aufnahmebereitschaft für

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So klagte Max Weber über seine Kommilitonen gerade hinsichtlich des antisemitischen Engagements im Sommer 1885: „Das Unglaublichste ist jedoch die fabelhafte Unkenntnis in der Geschichte dieses Jahrhunderts bei meinen Altersgenossen." Max Weber: Jugendbriefe, Tübingen o.J.. S. 173f. Im neuen Reich 7. Jg., 1877, Bd. 2. S. 158. Heinrich von Treitschke: Unsere Aussichten. Preußische Jahrbücher, November 1879; vgl. Der Berliner Antisemitismusstreit, hrsg. von Walter Boehlich, Frankfurt/Main 1965. S. 13. Benno von Polenz: Wilhelm von Polenz als Student in Berlin, Akademische Blätter 43, 15/16. November 1928. S. 143. Vgl. dazu meine Abhandlung „Stoecker als nationalkonservativer Politiker und antisemitischer Agitator", in: Günter Brakelmann, Martin Greschat, Werner Jochmann, Protestantismus und Politik, Werk und Wirkung Adolf Stoeckers, Hamburg 1982. S. 123-198.

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Werner Jochmann

seine Parolen, die er deshalb ganz gezielt gebrauchte. Studenten bildeten die ersten Aktionsausschüsse zur Unterstützung seiner ehrgeizigen politischen Pläne; aus ihnen gingen die Vereine deutscher Studenten hervor. Der Hofprediger wandte sich keineswegs an das Erkenntnisstreben des akademischen Nachwuchses, das stets von Zweifeln begleitet und damit voller Gefahren war, sondern er forderte ein entschlossenes Glauben und Bekennen. Gerade damit kam er jungen Studierenden, die nach Orientierung verlangten, sehr entgegen. Nachdrücklich versicherte er ihnen immer wieder, es sei „deutsche Art, daß das Ziel des Forschens in der Wahrheit, nicht im Zweifel" liege, der nur um sich gegriffen habe, weil „falsche Geister" das Volk „verführt, betrogen und entchristlicht" hätten.13 Stoecker stellte seine Zuhörer vor die Alternative: Aufstieg oder Untergang. Die Sicherheit, mit der er seine eigene Wahrheit als die allein verbindliche ausgab, beeindruckte, ja begeisterte die Studenten. Hier verhieß ihnen jemand eine bessere Zukunft. So gingen sie mit großer Leidenschaft daran, bei der Ausgestaltung und machtpolitischen Sicherung des Kaiserreichs mitzuwirken. Damnster verstanden sie ganz im Sinne Stoeckers die Förderung des Deutschtums und die Ausschaltung alles dessen, was von ihnen als undeutsch und jüdisch bezeichnet wurde. Bei der Unbedingtheit des Denkens und Fühlens der Jugend breitete sich das „Feuer des Hasses" und der Intoleranz gegen Andersdenkende sehr schnell in der Studentenschaft aus. Ende 1883 notierte Wilhelm von Polenz in sein Tagebuch: „Ich habe nicht geglaubt, daß der Gegensatz zwischen den Parteien ein so schroffer sei. Der Haß und die Feindschaft, die bei der heutigen Wahl zutage traten, haben etwas Infernalisches, Erschreckendes."14 Den christlichen Prediger beeindruckten solche Folgen kaum. Ihn motivierte der durch keinerlei Bedenken beeinträchtigte Schwung der Studenten zu immer neuen Initiativen und Aktionen. Mit einem so tatbereiten akademischen Nachwuchs hoffte er die Emanzipation der Juden wenigstens partiell zurückzudrängen, auf jeden Fall aber die Integration der Juden in die Bildungs- und Führungsschichten aufhalten zu können. Siegesgewiß verkündete er schon 1881 in einer öffentlichen Versammlung: „Aus diesen Jünglingen werden Männer, Richter, Ärzte, Philosophen und Theologen [...] Lassen Sie uns nur zehn Jahre arbeiten, und diese Männer stehen im Amte, auf der Tribüne der Volksversammlung und des Parlaments! An Idealismus und Talenten fehlt es nicht, welche eintreten werden für die Forderungen der neuen Zeit. Der Strom der Erneuerung geht tiefer, als wir es heute fassen können."15

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Glückauf der deutschen Jugend! Der Staats-Socialist, 4. Jg., Nr. 33, 15.8.1881. S. 257. Β. v. Polenz, vgl. Anm. 11. S. 145. Stoecker: Ein altes und neues Geschlecht deutscher Politik. Der Staats-Socialist 4. Jg., Nr. 40, Okt. 1881. S. 323f.

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und Judenfeindschaft

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Mit dieser Ankündigung hatte der Hofprediger recht. Die Botschaft der Nächstenliebe, die er als Seelsorger den Menschen an erster Stelle zu verkünden hatte, zeitigte weit weniger Wirkung als die des Judenhasses. Als die jungen Akademiker sich zu Beginn der 90er Jahre in ihren Berufen zu etablieren begannen, sorgten sie in ihrem Wirkungsbereich und namentlich in den Standesverbänden sogleich für die Verbreitung ihrer antisemitischen Vorstellungen.16 Nicht minder nachhaltig wirkten sie auf das politische Denken und die Programmatik der bürgerlichen Parteien und der großen politisierenden Vereine ein, die gerade im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in großer Zahl entstanden. Da Stoecker und sein ihm treu ergebener und stets wachsender Anhang aber nicht nur zehn, sondern 25 Jahre immer wieder das Bildungsbürgertum ansprachen, trugen sie zu der völkisch-antisemitischen Ausformung des deutschen Nationalismus erheblich bei. Dieser Zusammenhang muß in seiner Bedeutung und Folgewirkung für die gesamte Bevölkerung in erster Linie beachtet werden, wenn der Antisemitismus im Kaiserreich zutreffend beurteilt werden soll. Da sich die Bildungsschichten vornehm zurückhielten und - von Ausnahmen abgesehen - in den Verbands- und parteipolitischen Kämpfen nicht exponiert Position bezogen, ist ihr Anteil an der Ausbreitung des antisemitischen Ungeistes niemals voll ins Blickfeld geraten. Gleichwohl beeinflußten gerade sie in der wissenschafts- und autoritätsgläubigen wilhelminischen Zeit maßgeblich das Denken und Handeln der Bevölkerung. Als Angestelltenorganisationen, der Bund der Landwirte, zahlreiche Mittelstandsvereinigungen und Gesellschaften zur Pflege der Heimatkultur im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts Juden von der Mitgliedschaft ausschlossen, holten sie letztlich nur nach, was in Universitätsgremien, Altherrenbünden, studentischen Verbindungen und anderen gesellschaftlichen Zusammenschlüssen schon üblich war. Sehr viel nachhaltiger noch prägte aber die Intelligenz das Denken der Teile der Bevölkerung, die bis in die 80er und 90er Jahre namentlich in der Provinz der Politik femgestanden hatten und sich dann mangels anderer Informationsmöglichkeiten weitgehend an das hielten, was die „Gebildeten" ihnen anboten. Es war von großer Bedeutung, daß Gewerbetreibende, Handwerker, Angestellte und schließlich auch die Landbevölkerung, als sie politisch erwachten, sofort antisemitisch motiviert wurden. Gerade weil die Erklärungsmuster so simpel waren, nahmen die unsicher und ratlos gewordenen Mittelständler sie so bereitwillig auf und glaubten an sie. Die Juden, so hieß es, beherrschten mit ihrem Kapital mehr und mehr das Wirtschaftsleben des Landes und betrögen das strebsame, fleißige Volk um den Lohn seiner Arbeit. Um jede Gegenwehr zu unterbinden, verbreiteten sie zudem 16

Vgl. dazu das Kapitel „Die Politisierung der Jugend" in der Abhandlung über Stoecker, vgl. Anm. 12. S. 162ff.

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noch „undeutsche Lehren" und „sozialistische Theorien", lösten damit die Menschen aus ihren christlichen und stammesmäßigen Bindungen und machten sie orientierungslos. Der Antisemitismus war keine spontane Bewegung benachteiligter Volksschichten, die gegen soziale Ungerechtigkeiten protestierten, sondern primär ein Instrument der Führungs- und Bildungsschichten zur Erhaltung und Stärkung der bestehenden politischen Ordnung. Wer Umfang und Bedeutung dieses Prozesses zutreffend einschätzen will, darf sich nicht nur auf die Geschichte der antisemitischen Organisationen und Parteien konzentrieren. Sie stellen nur die Spitze des Eisberges dar und lenken somit eher von den tiefer liegenden starken Schubkräften ab.17 Nun soll damit keineswegs bestritten werden, daß ein Teil der Menschen, die den antisemitischen Agitatoren folgten, tatsächlich in wirtschaftlicher Bedrängnis war. Da gab es zunächst einmal die große Zahl der Handwerker, die sich nach der Einführung der Gewerbefreiheit im Wettbewerb nur mühsam oder überhaupt nicht behaupten konnten. Zu ihnen kamen die vielen im Dienstleistungsbereich Beschäftigten, die mit dem raschen Wandel der Arbeitsbedingungen nicht fertig wurden, und endlich Teile der Landbevölkerung, die sich in kurzer Zeit auf neue Marktbedingungen einstellen mußten oder die das Vordringen der Industrie in ländliche Räume auf ganz neue Erwerbs- und Lebensformen verwies. Diese verunsicherten Bevölkerungsgruppen suchten nach Verantwortlichen für ihre Existenznot und ließen sich deshalb leicht einreden, es seien die Juden als Avantgarde der fortschrittsgläubigen liberalen Ära. Der Zusammenhang zwischen ökonomischem und sozialem Wandel und dem Anwachsen des Verbandsantisemitismus liegt auf der Hand. Die erste Welle des Antisemitismus in den Jahren 1878 bis 1885 lief in Berlin auf, wo sich die Arbeits- und Lebensbedingungen in zwei Jahrzehnten grundlegend verändert hatten, erfaßte ferner bestimmte Regionen Schlesiens, Westfalens und der Rheinprovinz. Als die antisemitischen Agitatoren 1880 eine Art Plebiszit in Szene setzten und im ganzen Reich Unterschriften für eine Petition an die Reichsregierung zur Einschränkung der Judenemanzipation sammelten, wurde dies deutlich. Vom Juli 1880 bis zum April 1881 unterstützten 269000 Bürger die Eingabe an den Kanzler, mit der der Ausschluß der Juden aus dem Richteramt, ein Einwanderungsverbot für osteuropäische Juden und die Einrichtung einer speziellen Judenstatistik gefordert wurden. Ein Fünftel der Befürworter kam allein aus Schlesien, 30000 Unterschriften wurden in Berlin und der Mark Brandenburg, rund 27000 in Westfalen und

17

Hans-Günter Zmarzlik: Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich 1871-1918, in: Die Juden als Minderheit in der Geschichte, hrsg. von Bernd Martin und Ernst Schulin, München 1981.

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20000 in der Rheinprovinz gesammelt. In anderen preußischen Provinzen und deutschen Ländern fanden die Antisemiten dagegen kaum Anhang.18 In den 80er Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt der antisemitischen Aktivitäten stärker nach Hessen, wo 1887 Otto Boeckel als erster Antisemit in den Reichstag gewählt wurde, und in bestimmte Regionen Sachsens. In den 90er Jahren erhielten die Demagogen dann in Hamburg, das durch rasches Wirtschaftswachstum und den Bau des Freihafens und die dadurch bedingte Umsiedlung von 30000 Bürgern seinen Charakter stark verändert hatte, femer in Teilen Schleswig-Holsteins, Pommerns und Thüringens stärkeren Zulauf. In vielen Regionen verloren die Antisemitenparteien andererseits wieder ihren Anhang, sobald sich die Lage stabilisierte und die Bevölkerung sich auf die neuen Bedingungen eingestellt hatte. In der preußischen Provinz Sachsen, in Ostpreußen, Hannover, Mecklenburg, Oldenburg und anderen Regionen Deutschlands haben antisemitische Organisationen und Verbände vor 1914 niemals Bedeutung erlangt. Wie bewußt die Antisemiten die Erregung und Unzufriedenheit bürgerlicher Bevölkerungsgruppen von der Staatsführung ab- und auf die Juden hingelenkt haben, läßt sich überall nachweisen. Da gibt es Zeugnisse von Studenten, die zahlreiche Bürger zur Unterstützung der Antisemitenpetition bewogen, die noch nie mit einem Juden in Berührung gekommen, geschweige denn von einem benachteiligt worden waren. Ein höherer Offizier aus Ostdeutschland räumte ein, sein Gefühl gebiete ihm die Ablehnung der Juden, obwohl er eigentlich nichts über sie wisse.19 Die starke Instrumentalisierung des Judenhasses läßt sich an der Tatsache ablesen, daß sich der Antisemitismus auch in Regionen ausbreitete, in denen nur wenige Juden lebten, von ihrem etwaigen politischen oder wirtschaftlichen Einfluß ganz zu schweigen. Ausschlaggebend für Stärke und Ausbreitung des Antisemitismus war mithin nicht, was die Menschen über Juden und Judentum wußten oder nicht wußten oder was sie an Erfahrungen mit ihnen im täglichen Umgang gemacht hatten. Die Propagierung des Judenhasses diente zuallererst dazu, möglichst große Volksschichten zu motivieren, im vermeintlich eigenen Interesse die bestehende Gesellschaftsordnung mit ihrem tiefgestaffelten System der Überund Unterordnung gegen alle Tendenzen der Egalisierung und die wachsenden demokratischen Kräfte zu verteidigen. Die Führungsschichten wollten auf diesem Weg ihren politischen Machtanspruch behaupten. Die Akademiker und Intellektuellen boten alles auf, in einer Zeit des Kommerzes und der 18

19

Der Staats-Socialist 4. Jg., Nr. 17, 25.4.1881. S. 131. Aus Württemberg, Baden und Hohenzollern kamen rund 7000, aus Bayern ca. 9000 Unterschriften. Staatsarchiv Hamburg, NachlaB Marr A 35; über die Resonanz der Agitation Marrs gerade unter den Gebildeten berichtet u.a. Dr. Eisenlohr in einem Brief vom 21.2.1880, A 50; der Lehrer an einer Gelehrtenschule in Norddeutschland, A 47, zahlreiche andere Pädagogen, Publizisten, höhere Staatsbeamte, Schriftsteller und die Herausgeber von Zeitungen.

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ständig wachsenden materiellen Interessen den Primat der Kultur und damit ihre eigenen geistigen Wächterfunktionen zu sichern. Mit größter Selbstverständlichkeit forderte während des Ersten Weltkrieges einer von ihnen, der Staat müsse entschlossen die „Familien, die Deutschland geschaffen haben, die deutsche Kunst, deutsche Gelehrsamkeit zur Blüte gebracht haben", fördern. Nicht für die Masse sei zu sorgen, sondern für den Wohlgeborenen.20 Es lag in der Konsequenz dieser Bestrebungen, daß ein antisemitischer Fanatiker wie Wilhelm Marr gerade bei christlichen Standesherren und Intellektuellen Unterstützung fand und dieses „gebildete Publikum" sich dafür engagierte, seine niveaulosen Schriften und Artikel zu verbreiten. Selbst ein bekannter Dirigent wie Hans von Bülow bestellte bei Marr zahlreiche Exemplare eines Hetzartikels zur Weiterverbreitung und erwog vorübergehend sogar, in antisemitischem Sinne politisch aktiv zu werden.21 In dem Bestreben, ihre Ideale und politischen Werte in einer Umbruchszeit vor Gefährdung und Verfall zu bewahren, stellten die Führungsschichten Kräfte in ihren Dienst, die diese Leitbilder pervertierten und endlich zerstörten. So haben gerade die Eliten mit ihrem großen Einfluß im Erziehungs- und Bildungsbereich, im Schrifttum, in allen gesellschaftlich aktiven Zusammenschlüssen sowie in den Heimat- und Bürgervereinen dem späteren antisemitischen Radikalismus den Weg geebnet. Nach der Jahrhundertwende trat der Antisemitismus nicht mehr so lautstark in Erscheinung, gab es keine spektakulären Aktionen und Exzesse mehr wie in den 80er und 90er Jahren. Die antisemitischen Gedanken und Parolen waren jetzt jedoch weiter verbreitet und in nahezu alle Schichten des Volkes mit Ausnahme der organisierten sozialistischen Arbeiterschaft eingedrungen. Die Entschlossenheit zur Ausgrenzung der Juden im gesellschaftlichen Leben, zur Ablehnung jeder Zusammenarbeit mit ihnen war größer geworden. Was kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges für die Hochschulen galt, nämlich, „daß der jüdische Student von Jahr zu Jahr mehr und mehr von seinen christlichen Kommilitonen isoliert" wurde, das traf im Kern auch für andere Bereiche des öffentlichen Lebens - von regionalen und anderen Ausnahmen abgesehen - zu.22 20 21

22

Von Brockhusen-Langen: Rassenzucht, Deutsche Zeitung, 23. Jg. Nr. 276, 2. Juni 1918. Nachlaß Marr A 50, Dr. H. Eisenlohr an Marr vom 21.2.1880; A 35, Telegramm Hans von Bülow an Marr 1880 und Briefe. Ein detaillierter Nachweis für die einzelnen Berufsgruppen und sozialen Schichten und die vielen Organisationen und Heimatvereine ist angesichts der Materialfiille nicht zu führen. Die Memoiren, Tagebücher und Briefbände der Zeitgenossen geben darüber ebenso Aufschluß wie die Spalten der „Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus" und die umfangreiche Zeitschriftenliteratur. Vgl. Eduard Liepmann: Der Antisemitismus an den deutschen Hochschulen, Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 22. Jg., Nr. 10, 8. Mai 1912, S. 76; Jakob Wassermann schrieb unter dem Eindruck seiner langen und reichen Erfahrungen als weitgereister Schriftsteller und Publizist: „Ein wesentlicher Defekt muß da sein, wenn ein Volk so leichterdings, so gewohn-

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Daß nun große Teile der Bevölkerung antisemitisch infiziert waren, mindestens aber einen Teil der antisemitischen Forderungen für berechtigt hielten, beruhte zweifellos auf der wirksamen Ausbeutung der überlieferten christlichen Judenfeindschaft. Die Christen waren davon überzeugt, daß Gott den alten Bund mit den Juden gekündigt und einen neuen mit den Christen geschlossen habe. Da die Juden diesen nicht anerkannten, galten sie als verstockt, als Feinde der wahren Religion und waren daher zu bekämpfen. Im Hinblick auf diesen Sachverhalt schrieb Prinz Hohenlohe-Ingelfingen 1879 an Mair: „Ich glaube, die Klerikalen werden die Agitation sehr geschickt benutzen und die Früchte in politischer Hinsicht ernten." 23 Nun haben die Kirchen keineswegs politische Strömungen für eigene Zwecke umgeleitet. Sie nutzten aber sehr wohl die Gunst der Stunde, die sich ihnen durch Krise und Verfall des Liberalismus bot, um verlorenen Einfluß zurückzugewinnen. Die liberalen Mehrheiten in den deutschen Parlamenten hatten ja nicht nur für den laizistischen Staat gestritten, sondern darüber hinaus zu erkennen gegeben, daß sie fortschrittsgläubig waren und das Christentum für einen Rest mittelalterlichen Denkens hielten. Als der Fortschritts- und Wachstumsoptimismus in der Notzeit schwand, suchten viele ratlos gewordene Bürger Halt auch bei den Kirchen. Das bot ihnen die Möglichkeit, über die Mobilisierung der Gläubigen wieder zu stärkerer Mitsprache im öffentlichen Leben zu gelangen. Große Anstrengungen mußten namentlich die evangelischen Kirchen unternehmen, um im Volksleben wieder Beachtung zu finden. Ihnen gebrach es nicht nur an äußerer und innerer Geschlossenheit, sondern zumeist auch am Rückhalt in den Gemeinden. Sie waren sehr oft zu ,.Predigtanstalten des Staates" herabgesunken. An dieser Stelle setzte der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker an. Er traute sich zu, das deutsche Volk zur Religion zurückzuführen, das noch schwache Staatsbewußtsein christlich zu „veredeln" und damit nachhaltig zu kräftigen. Er wollte dem deutschen Nationalismus ein preußisch-protestantisches Gepräge geben. Um den Protestantismus mit neuem Leben zu erfüllen und ihn damit überhaupt erst in den Stand zu setzen, der Nation den Weg in eine große Zukunft zu weisen, führte Stoecker ihn in eine kompromißlose Konfrontation mit allen Kräften und Parteien, die seiner Intention widerstrebten. Das waren in erster Linie die dominierenden Liberalen und die aufstrebenden Sozialisten. Als Avantgarde beider betrachtete er die Juden. Für Stoecker gab es keinen Zweifel: Jüdisches Geld spielte im Kapitalismus und damit

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heitsmäßig, so skrupellos, keine Berufung hörend, keiner redlichen Auseinandersetzung zugänglich, keiner großmütigen Regung in diesem Punkt fähig, ein Volk, das unablässig von sich verkündet, in Bildung, Kunst, Forschung und Idealismus an der Tete der Völker zu marschieren, dauernd solche Unbill übt, solchen Hader sät, solchen berghohen Haß häuft." Jakob Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude. Berlin 1921. S. 119f. Prinz Carl Hohenlohe-Ingelfingen an MarT, 14.9.1879, Nachlaß Marr A 108.

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bei der Ausplünderung der Bevölkerung die entscheidende Rolle, jüdischer Geist herrschte in der „Umsturzbewegung" der Sozialdemokratie und jüdisches Machtstreben in der Presse bei der Korrumpierung aller redlichen Christen. Noch bevor er als antisemitischer Agitator öffentlich hervortrat, schrieb er im Juli 1878 an den Atheisten Wilhelm Marr: „Es ist seit langem meine Überzeugung, daß unser Volk an der Juden- und Judengenossenpresse sittlich und intellektuell zugrunde geht, wenn nicht bald Abhilfe kommt."24 Stoecker hat nun nicht nur - wie bereits erwähnt - die studentische Jugend und die gebildeten Schichten angesprochen und bewegt, sondern nicht minder die Masse der einfachen Gläubigen. Sie, die sich bisher kaum politisch betätigt hatten, wurden durch ihn ebenfalls mobilisiert und radikalisiert. Dabei kam ihm noch zugute, daß Bismarck ihn vorübergehend in seiner Agitation förderte, weil er in Stoeckers Anhängern eine wirksame Gegenkraft gegen den Linksliberalismus sah, der besonders in der Reichshauptstadt eine starke Kraft darstellte. Ob aber gefördert oder abgelehnt, von kirchlichen Amtsstellen toleriert oder behindert, Stoecker hat in dem Vierteljahrhundert seines Wirkens den deutschen Protestantismus nachhaltig geprägt und ihn für lange Zeit zum Träger des Antisemitismus gemacht. Schon 1894 schrieb ein treuer Parteigänger: „Hätte Stoecker die Hälfte der Arbeit, die er an Berlin verschwendet hat, der Provinz gewidmet und hier nach der rednerischen Arbeit auch organisiert, so würde er heute an der Spitze einer antisemitischen Fraktion von 50 - 80 Mann im Reichstag stehen." Es mag dahingestellt bleiben, ob diese Einschätzung zutrifft, zumal sich dann im letzten Jahrzehnt des Kaiserreichs viele Antisemiten in anderen Parteien und namentlich im Lager der Konservativen sammelten. Nur die Bilanz war zutreffend: „Die Saat, die Stoecker ausgestreut hatte", war auf fruchtbaren Boden gefallen und aufgegangen.25 Aber der Hofprediger hat nicht nur im Volk die „Vertiefung der Religiosität mit allen Mitteln" betrieben, wie der Berliner Theologe Reinhold Seeberg feststellte, er hat auch den theologischen Nachwuchs nachhaltig mit seinem Antisemitismus beeinflußt.26 Dieser Nachwuchs hat dann bis in die letzten Dörfer der Provinz zur Verbreitung der gefährlichen Vorstellung beigetragen, daß die Juden ein „Fremdkörper innerhalb des deutschen Volkes" seien.27 Dies allein genügte, um die Juden aus der Gemeinschaft auszugrenzen und sie rechtlos zu machen.

24 25 26

27

Nachlaß Marr A 256. Hans Leuß: Die antisemitische Bewegung. Die Zukunft, 7. Bd., Nr. 33, 19.5.1894. S. 328. Reinhold Seeberg an seinen Bruder Alfred am 21.5.1901; Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Seeberg 182. Eduard Lamparter: Evangelische Kirche und Judentum; Ein Beitrag zum christlichen Verständnis von Judentum und Antisemitismus, Stuttgart 1928. Neudruck in: Versuche des Verstehens, Dokumente jüdisch-christlicher Begegnung aus den Jahren 1918-1933, hrsg. von Robert Raphael Geis und Hans-Joachim Kraus, München 1966. S. 284.

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Die Katholiken, die während des Kulturkampfes in der Auseinandersetzung mit der liberalen Reichstagsmehrheit durchaus auch antijüdische Ressentiments schürten, wahrten dem politischen Antisemitismus gegenüber Distanz. Das war nicht zuletzt ein Verdienst Windthorsts, der die Zentrumspartei von der protestantischen Mehrheit im Kaiserreich bewußt abgrenzen wollte. Außerdem schien es ihm nicht Aufgabe des modernen Staates zu sein, sich in religiöse Angelegenheiten einzumischen. Mit großem Nachdruck erklärte er deshalb im preußischen Abgeordnetenhaus, auch und gerade im Gegensatz zu Stoecker: „Die politische und religiöse Duldung ist die einzige Basis, auf welcher in Deutschland bei den Verhältnissen, wie sie liegen, der Staat und die bürgerliche Gesellschaft gedeihen können. Diese Duldung sind wir allen unseren Mitbürgern schuldig, auch den jüdischen Mitbürgern und diesen besonders deshalb, weil sie in der Minorität sind." 28 Dieser Kurs, auf dem das Zentrum recht konsequent blieb, wurde allerdings von den katholischen Partikularisten nicht eingehalten. Sie liefen Sturm gegen das „verpreußte deutsche Kaiserreich", weil es nach ihrer Meinung von den Juden beeinflußt war. Der schärfste Exponent dieser Richtung war Johann Baptist Sigi mit seiner Zeitung „Das Bayerische Vaterland". 29 Auch der Antisemitismus der katholischen Österreicher blieb nicht ganz ohne Wirkung auf das Denken deutscher Katholiken. Daß daneben der Antijudaismus in der Volksfrömmigkeit eine bemerkenswerte Rolle spielte, darf nicht übersehen werden, und schließlich grenzte sich die katholische Kirche auch theologisch entschieden vom Judentum ab. In ihrer großen Mehrheit haben so Christen, Föderalisten und die Führungs- und Bildungsschichten den Antisemitismus angenommen und ihn schließlich bewußt instrumentalisiert. Sie wollten das geistige und kulturelle Erbe, aus dem heraus sie die deutsche Einheit erstritten und gestaltet hatten, im neuen Staatsverband bewahrt sehen. Das Kaiserreich sollte aus der christlichen und ständischen Tradition seine feste Kraft schöpfen, sie ständig mehren, um so die führende Kulturnation zu werden. Um diese Entwicklung zu fördern und zu garantieren, wurden die Juden zur Personifikation aller jener Kräfte stilisiert, die dem neuen Reich eine den modernen Erfordernissen angepaßte Verfassung und eine größere geistige Liberalität zu geben versuchten.30 Die Kräfte der Bewahrung konnten den raschen und tiefgreifenden ökonomischen Wandel mit all seinen Folgen für das geistige und kulturelle Leben des Landes nicht nachvollziehen und verarbeiten. Unter dem Eindruck der machtpolitischen Erfolge des Reiches selbstbewußt ge28

29

30

Die Judenfrage im preußischen Abgeordnetenhaus: Wörtlicher Abdruck der stenographischen Berichte vom 20. und 22. November 1880, Breslau 1880. S. 66. Besonders extrem XXVm. Jg., 12. Jan. 1896 „Ein Judenprogramm". Dazu neuerdings „Dr. Sigi, Ein Leben für das Bayerische Vaterland, vgl. Anm. 5. Vgl. dazu u.a. Paul de Lagarde: Über die gegenwärtige Lage des Deutschen Reichs, in: Paul de Lagarde, Deutsche Schriften, München 1924. S. 44ff.

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worden, glaubten sie, auch innenpolitischen Herausforderungen durch entschlossenes Handeln begegnen zu können. Daß gerade in den beiden Jahrzehnten nach der Reichsgründung, in denen sich das Staats- und Nationalbewußtsein der Deutschen grundlegend formte, ein so aggressiver und militanter Antisemitismus vorherrschte, war von weitreichender Bedeutung. Er durchzog den aufkommenden deutschen Nationalismus, gleichgültig, welche spezifisch christlichen, landsmannschaftlichen oder regionalen Ausformungen er auch immer fand. Dabei tat sich die Generation, die die Reichsgründung nicht politisch bewußt miterlebt hatte, besonders hervor. Sie wollte Macht und Geltung des Reiches durch nachhaltige Stärkung der Willenskräfte des Volkes mehren. Bezeichnend dafür ist der Inhalt des Schreibens, mit dem Lagarde 1886 die Gesamtausgabe seiner „Deutschen Schriften" dem Prinzen Wilhelm sandte. Er begrüßte den jungen, dynamischen Kaiserenkel als den „geborenen Führer der jetzigen Jugend", dem er zugleich auch den Weg wies, auf dem er den kommenden Generationen vorangehen sollte: „Kleindeutschland darf", so hieß es dort, „nur als eine, vielleicht unumgängliche, vielleicht notwendige Etappe auf dem Wege nach Groß-Deutschland gelten..." 31 Voraussetzung für die Entstehung eines größeren Deutschlands war nach der Auffassung der jungen Nationalisten die Stärkung der Volkssubstanz. Unter Berufung auf die Losung des österreichischen Alldeutschen und Antisemiten Georg von Schönerer „Durch Reinheit zur Einheit" sollten nationale, religiöse und rassische Minderheiten entschlossen zurückgedrängt werden.32 Im Gegenzug galt es, alle Traditionen zu stärken und wiederzuerwekken, die dem nationalen Selbstbewußtsein Auftrieb gaben. Der Protestantismus wurde entschlossen zur Religion der Deutschen hochstilisiert. Luthertum und Deutschtum wurden weitgehend als synonym betrachtet. Auch das humane Bildungsgut verlor an Geltung oder wurde im Interesse der nationalen Interessen neu interpretiert. Bezeichnend für den neuen Nationalismus war es, daß die Burschenschaften einer großen Universität die Teilnahme an einer Feier zu Ehren Goethes mit der Begründung ablehnten, er habe „der nationalen Bewegung kein Verständnis entgegengebracht" und damit nichts zur Entwicklung des deutsch-nationalen Bewußtseins beigetragen.33 Das war der einzige Maßstab, der den Aposteln des neuen Nationalismus zur Verfügung stand. Julius Langbehn traf in seinem 1890 erschienenen Buch „Rembrandt als Erzieher" das Lebensgefühl seiner Zeit sehr genau. Er wandte sich in dem unsystematischen, schwer lesbaren Werk, das gleichwohl in zwei Jahren 33 Auflagen erlebte, gegen die Verherrlichung der technisch31

32 33

Anna de Lagarde: Paul de Lagarde. Erinnerungen aus seinem Leben, Göttingen 1894. S. 105. Deutsch-nationale Worte 1. Jg., Nr. 1, 16.10.1894. Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 22. Jg., Nr. 24, 20.11.1912. S. 199.

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industriellen Entwicklung und die ihr innewohnenden demoralisierenden Bestrebungen. Der Verfasser plädierte für ein neues, volksnahes Denken, in dem für universelle und humane Ideen kein Raum mehr sein sollte. Die Pädagogen sollten nicht mehr - wie in den humanistischen Gymnasien mit ihren Schülern danach streben, die „Menschenrechte vom Himmel zu holen", sondern künftig darauf bedacht sein, die „Volksrechte aus der Erde zu graben".34 Von dieser Position war es nur noch ein kleiner Schritt zu der Forderung, Lebensrecht auf deutscher Erde hätten nur noch diejenigen zu beanspruchen, die diesem Boden entsprossen seien. Deutschland sollte nach dieser Auffassung allein Deutschen eine Heimstatt sein, Einfluß und Entfaltungsmöglichkeiten bieten. Daß dies keine bloßen Gedankenspiele blieben, sondern Überlegungen dieser Art auch im öffentlichen Leben ihren Niederschlag fanden, läßt sich vielfach nachweisen. Dazu gehört, daß in zahlreichen Berufsverbänden und anderen Organisationen seit den 90er Jahren Juden nicht mehr aufgenommen wurden, daß ältere Vereinigungen einen ausgesprochen restriktiven Kurs verfolgten und auch in Ämtern und vor Gerichten Juden zunehmend benachteiligt wurden. Die neuen Nationalisten hielten nichts mehr von Kompromissen. Sie wollten bedingungslos Deutsche sein. Deshalb wandten sie sich auch gegen die etablierten Parteien, die ihrer Meinung nach schon durch die Wahl der Parteinamen den Kompromiß zum Prinzip erhoben hatten. Die junge Generation wollte nicht mehr national-liberal, national-konservativ oder christlich-sozial, sondern ganz bewußt und ausschließlich deutschnational sein. Diese Begriffswahl, die in den 90er Jahren viel Beifall fand, erschien vielen als Ausdruck eines neuen ,.Kraftgefühls", dem jegliche „ideologische Humanitätsduseleien" fremd waren. Festigkeit und Entschlossenheit konnten aber nur durch die Pflege und Entwicklung der rassischen Qualitäten erlangt werden. Dabei wurden unter Rasse, „nicht nur die körperlichen, sondern in erster Linie die sprachlichen, sittlichen und geistig-seelischen" Merkmale verstanden, die sich aus der „Abstammung" oder durch „gemeinsame Schicksale" ergaben. Ein nationaler und rassischer „Konzentrationsprozeß" sollte die Voraussetzung für das „politisch-expansive" Streben schaffen. Darüber gab es nämlich keinen Zweifel: Ein dynamisches, lebensbejahendes Volk durfte nicht stille stehen, es mußte seine Kraft erproben. „Durch Reden und Konferenzen erhalten wir uns nie und nimmer den Platz an der Sonne", sondern nur durch Kampf und Expansion.35 34

35

Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, 42. Aufl. Leipzig 1906. S. 170; Bernd Behrendt: Zwischen Paradox und Paralogismus, Weltanschauliche Grundzüge einer Kulturkritik in den Neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts am Beispiel August Julius Langbehn, Frankfurt-Bem-New York-Nancy 1984. S. 138ff. Völkische Hochziele. Deutsche Handels-Wacht 16. Jg., Nr. 11,1.6.1909; Nr. 12,15.6.1909; Nr. 15, 1.8.1909.

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Schrittweise waren in den Jahrzehnten nach der Reichsgründung geistige und nicht zuletzt auch christliche Traditionen vom Nationalismus aufgesogen oder durch ihn verformt worden. Damit wurden auch noch bestehende Vorbehalte gegen den radikalen Antisemitismus schwächer. Die Überbewertung der Macht, die schwindende Hemmung, politische Probleme durch Gewaltanwendung zu lösen, schwächten auch die Rücksichtnahme auf Andersdenkende und Gegner im Innern des Landes. Die Bereitschaft, Personen und Gruppen anzuerkennen, die nicht so dachten und handelten wie die Mehrheit, schwand immer mehr. Besonders das Lebens- und Existenzrecht der Juden wurde vom integralen Nationalismus nachhaltig bedroht. Der Eintritt des Kaiserreichs in die Weltpolitik und die Zunahme der ökonomischen Potenz stärkten das Überlegenheitsgefühl der Bürger allen Nichtdeutschen gegenüber, zu denen sie vornehmlich die Juden erklärten. So entstand jene „Legierung von Antisemitismus und Nationalismus", deren Festigkeit Friedrich Meinecke später im Rückblick beklagte.36 Diese „Legierung" und nicht der Partei- und Verbandsantisemitismus wurde zum bestimmenden Faktor der deutschen Innenpolitik. Trotz dieser bedrohlichen Entwicklung des politischen Lebens im kaiserlichen Deutschland konnten sich die Juden im Wirtschaftsleben und in den freien Berufen relativ ungehindert entwickeln. Die Sicherheit der Minderheit - 1914 lebten 600000 Juden in Deutschland, das war knapp 1 Prozent der Gesamtbevölkerung - war niemals ernsthaft bedroht, weil sich ihre Gegner nicht einig waren und sich gegenseitig in Interessenauseinandersetzungen banden. Der Antisemitismus hatte alle Schichten des Volkes erfaßt und geprägt. Er bestimmte das Verhalten der evangelischen Landbevölkerung ebenso wie das der Gutsbesitzer. Antisemitische Forderungen motivierten Beamte und Angestellte, spornten Studenten zu Übergriffen und verarmte Handwerker zu Exzessen an. Offene Feindschaft gegen Juden zeigten auch Ärzte, Richter, Pastoren und Unternehmer in ihrem beruflichen und gesellschaftlichen Verhalten. Der Antisemitismus führte diese Berufsgruppen und sozialen Schichten in der Politik aber nicht zusammen, weil sie im Klassenstaat alle vorrangig ihre besonderen, sehr unterschiedlichen Interessen verfolgten. Offiziere, Beamte und Unternehmer hielten Distanz zu den Unterschichten, weil diese das Klassenwahlrecht in den Ländern anfochten und größere Mitbestimmung im gesellschaftlichen Leben, in Gemeinden und Verbänden forderten. Die Bildungsschichten distanzierten sich von den rohen Formen der Agitatoren und dem Radau in den Versammlungsräumen. Zudem verteidigten sie ihr Sozialprestige gegen die Ansprüche der Volksschullehrer, der Verbandssekretäre und der Vertreter der technischen Intelligenz. Die protestantische 36

Friedrich Meinecke in der Besprechung des Buches von Walter Frank, Hofprediger Adolf Stoecker und die christlich-soziale Bewegung, Historische Zeitschrift. Bd. 140 (1929), 151ff.; Wiederabdruck: Friedrich Meinecke, Werke, Band VIII, 445f.

Akademische Führungsschichten und Judenfeindschaft in Deutschland 1866-1918

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Bevölkerung schirmte sich mit Eifer gegen Katholiken ab, und dort, wo diese dominierten, kämpften die Protestanten um mehr Einfluß. Außer den Standesschranken behinderten auch die ökonomischen Interessengegensätze jede Annäherung. Die exportorientierte Industrie wie die Repräsentanten des Handels bekämpften die Schutzzollbestrebungen der Agrarier, der Mittelstand beklagte sich über den Egoismus der Großunternehmer, die Handwerker liefen gegen die Warenhäuser Sturm. Da die Führungsschichten und das wirtschaftlich mächtige Bürgertum in den Parlamenten der Einzelstaaten und in ihren Standesvertretungen über hinreichenden Einfluß verfügten, waren sie auf eine Unterstützung durch die zahlenmäßig starken Mittel- und Unterschichten nicht angewiesen. Rückhalt in der Bevölkerung lehnte die Oberschicht aber auch deshalb ab, weil sie ihn auf Dauer nicht ohne Zugeständnisse erhalten hätte. Als Stoekker zum Beispiel mit Hilfe seiner Anhänger die Konservative Partei im Verlauf des Tivoli-Parteitages 1892 programmatisch auf den Antisemitismus festlegte, distanzierten sich die aristokratischen Führungskader von ihm. Sie stimmten in der Sache weithin mit ihm überein, aber das Verfahren schockierte sie. Die Parteiführung wollte sich von den Mitgliedern auf keinen Fall politisch festlegen und das Gesetz des Handelns vorschreiben lassen. So scheiterten im Kaiserreich letztlich alle Versuche der Partei- und Verbandsantisemiten zur „Mobilisierung der ganzen Nation" - wie dies schon 1889 ein Mainzer Parteigänger Wilhelm Marrs konstatierte - am Widerstand der „Potentaten, Nationalliberalen, Gründer [und] Großbesitzer".37 Weil sie der Bevölkerung mit Rücksicht auf die eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen keinen Einfluß geben wollten, unterbanden Fürsten, Regierungen und die gesellschaftlich Mächtigen alle Aktionen, die größere Teile der Bevölkerung in Bewegung hätten setzen können. Die Bedenken, daß politisierte und erregte Volksschichten nicht mehr zu beherrschen seien, waren dafür ausschlaggebend. So haben gerade die antidemokratischen Intentionen der Führungsschichten im Kaiserreich Gefahren gebannt, die Staat und Gesellschaft vom antisemitischen Radikalismus drohten. Als der Erste Weltkrieg das politische System erschütterte und namentlich die anachronistische Gesellschaftsordnung zerstörte, begannen sofort die Versuche zur Einigung der verstreuten und zerstrittenen bürgerlichen Kräfte. Daß sie trotz fortbestehender Interessengegensätze ansatzweise gelang, war darauf zurückzuführen, daß es im Antisemitismus eine feste Gemeinsamkeit gab. Als Aristokraten und Bildungsbürger Mitgliederparteien und Wähler brauchten, um sich im demokratischen Staat behaupten zu können, waren sie gezwungen, die Hilfe derjenigen in Anspruch zu nehmen, die sie vordem in Abhängigkeit gehalten hatten. Nun gerieten sie in den Sog 37

vom Werth, Mainz, an Marr, 21.11.1889, Nachlaß Marr A 282.

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Werner Jochmann

erregter und fanatisierter Massen und mußten sich von ihnen den Kurs vorschreiben lassen. Als während und nach der Revolution Standesschranken und gesellschaftliche Vorrechte fielen, wurden damit Sperren beseitigt, an denen sich die Flut des Antisemitismus lange gebrochen hatte. Nun ergossen sich die Wellen des Judenhasses über das Land und richteten neue schwere Verwüstungen nicht nur in der politischen Kultur Deutschlands an.

Wolfgang Häusler (Wien)

Antisemitische Ideologien und Bewegungen in der Spätzeit der Habsburgermonarchie

In seinem kaum bekannten und - soweit ich sehe - trotz seiner Relevanz für unser Thema noch nie gründlich analysierten Roman Die Rotte Korahs hat Hermann Bahr, dieser so wandlungsfähige und -bereite Schriftsteller und Intellektuelle, das Bild der Zerrissenheit des österreichischen Judentums und seiner Umwelt entworfen. Das Vorwort ist von Ostern 1918 datiert. Die drängende Frage Dr. Beers - „Oder glauben Sie, daß ein Jud ein wirklicher Österreicher sein kann? Ja oder Nein? Aber ehrlich!"1 - steht am Ende des alten Habsburgerreiches und forderte auch von der jungen Republik ihre Antwort. Mit den Worten des feschen, blonden, gesinnungs- und bedenkenlosen Franz Heitlinger charakterisierte Bahr jene österreichische Spielart des Antisemitismus, dessen Metamorphosen bis zu unserer Gegenwart sattsam bekannt sind: Wir haben uns angewöhnt, alles was wir nicht aussteh'n können, was unseren Geschmack beleidigt, was der guten alten österreichischen Tradition widerspricht, 1

Hermann Bahr: Die Rotte Korahs. Berlin-Wien 1919. S. 187. Für allgemeine Literaturhinweise vgl. Wolfgang Häusler: „Aus dem Ghetto." Der Aufbruch des österreichischen Judentums in das bürgerliche Zeitalter (1780-1867). In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Erster Teil. Hrsg. v. Hans Otto Horch und Horst Denkler. Tübingen 1988. S. 47-70. Neuere Veröffentlichungen zum Problemfeld des österreichischen Antisemitismus: John W. Boyer: Political Radicalism in late imperial Vienna. Origins of the Christian Social Movement 1848-1897. Chicago-London 1981. - John Bunzl - Bernd Marin: Antisemitismus in Österreich. Sozialhistorische und soziologische Studien. Innsbruck 1983 (Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit 3). - Robert Hein: Studentischer Antisemitismus in Österreich. Wien 1984 (Beiträge zur österreichischen Studentengeschichte 10). - Isak A. Hellwing: Der konfessionelle Antisemitismus im 19. Jahrhundert in Österreich. Wien 1972 (Veröffentlichungen des Instituts für kirchliche Zeitgeschichte am Internationalen Forschungszentrum für Grundlagen der Wissenschaften Salzburg Π/2). - Friedrich B. Polleroß: 100 Jahre Antisemitismus im Waldviertel. Krems 1983 (Schriften des Waldviertier Heimatbundes 25). - Karl Heinrich Rengstorf - Siegfried von Kortzfleisch (Hrsg.): Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. 2 Bde. Stuttgart 1968 - 1970. - Leopold Spira: Feindbild ,Jud'. 100 Jahre politischer Antisemitismus in Österreich. Wien-München 1981. - Der gelbe Stem in Österreich. Eisenstadt 1977 (Studia Judaica Austriaca 5). - Erika Weinzierl: Ecclesia semper reformanda. Beiträge zur österreichischen Kirchengeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Wien-Salzburg 1985. - Hilde Weiss: Antisemitische Vorurteile in Österreich. Theoretische und empirische Analysen. Wien 1984 (Sociologica 1). - Andrew G. Whiteside: Georg Ritter von Schönerer. Alldeutschland und sein Prophet. Graz-Wien-Köln 1981.

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Wolfgang Häusler

alles Schäbige, Niedrige, Klägliche jüdisch zu nennen. Gut, ich hab nichts dagegen, gewissermaßen als Abkürzung ist das auch ganz bequem. Und in diesem Sinn ist ja jeder anständige Jud selber ein Antisemit.2 Gleichfalls in der Zeit des Ersten Weltkriegs (1915) hat Nathan Birnbaum in Analogie zu Bahr als Liberaler, Nationaljude, Zionist und Orthodoxer ein Seismograph für die das Judentum und die Zeit bewegenden Strömungen die Juden das „österreichreifste Volk" genannt: Als das einzige Kulturvolk, das schon so lange und so lückenlos international ist, erscheint es geradezu prädestiniert, Österreich zu bejahen und zu lieben.3 Es bedarf kaum der Hinweise - etwa auf Csokors Drama 3. November 1918, auf Werfeis Roman Cella oder Die Überwinder oder auf das Werk eines Joseph Roth und Stefan Zweig bis hin zur wissenschaftlich-historischen Begründung des Begriffs der österreichischen Nation durch den Sohn eines Tempeldieners, den Wiener Kommunisten und Widerstandskämpfer Alfred Klahr am Vorabend von 1938 - , um zu zeigen, in welcher Fruchtbarkeit dieses Österreichbewußtsein österreichischer Juden weitergewirkt hat.4 Doch zurück zu Hermann Bahr und an den Anfang jener Epoche, deren politisches Spektrum im Entstehungsprozeß der bürgerlichen Massenparteien von der antisemitischen Ideologie geprägt wurde. Der aggressive studentisch-deutschnationale Antisemitismus der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts war Teil von Bahrs Lebensweg. Der , junge Herr aus Linz" hatte den Liberalismus der Vätergeneration über Bord geworfen und zählte als Burschenschafter zu den begeisterten Parteigängern Schönerers. Bahr, der derselben schlagenden Verbindung „Albia" angehörte wie Theodor Herzl, der sich als Jude von diesem Kreis in eben dieser Zeit trennen mußte,5 bekannte im Rückblick: Die Marken, mit denen wir damals alle stillen Orte der inneren Stadt beklebten, [trugen den] Spruch: ,Was der Jude glaubt, ist einerlei, in der Rasse liegt die Schweinerei!'6 Im Zeichen eines vorgeblichen politisch-sozialen Radikalismus und eines chauvinistisch verengten Deutschnationalismus war die .Judensau', deren mittelalterlich-barocke Tradition über Aufklärung und Toleranz hinweg als unflätige Spottfigur noch das 19. Jahrhundert erreicht hatte, zum .Saujuden' 2 3 4

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Bahr: Die Rotte Korahs. S. 209f. Nathan Birnbaum: Den Ostjuden ihr Recht! Wien 1915. S. 24f. Vgl. Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 1966. - Ders.: Weit von wo. Verlorene Welt des Ostjudentums. Wien 1974. - Harry Zohn: Österreichische Juden in der Literatur. Ein bio-bibliographisches Lexikon. Tel Aviv 1969 (Schriftenreihe des Zwi-Perez-Chajes-Instituts 1). - Wolfgang Häusler: Wege zur österreichischen Nation. Der Beitrag der KPÖ und der Legitimisten zum Selbstverständnis Österreichs vor 1938. In: Römische Historische Mitteilungen 30 (1988). S. 381-410. Theodor Herzl: Briefe und autobiographische Notizen 1866-1895 (bearbeitet von Johannes Wachten). Berlin-Frankfurt-Wien 1983. Nr. 43^45. Hermann Bahr: Selbstbildnis. Berlin 1923. S. 119.

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geworden. Der solcherart deformierte und verächtlich gemachte Jude büßte in den Augen der Schönerianer als nicht zum .Volk' gehörig seine Menschlichkeit ein; es gehörte zum politischen Stil dieser Gruppe, Figürchen gehenkter Juden an der Uhrkette baumeln zu lassen. Noch einmal Bahr, zehn Jahre später, diesmal als Herausgeber eines merkwürdigen Buches: Der Antisemitismus. Ein internationales Interview (Berlin 1894). Unter seinen Gesprächspartnern war auch der deutsche Sozialistenführer August Bebel: Bei Ihnen hat man einmal gesagt - ich glaube, es war Kronawetter -: „Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen Kerls." Das ist ein hübscher Einfall, aber er trifft doch die Sache nicht. Die eigentlichen Träger des Antisemitismus, das kleine Gewerbe und der kleine Grundbesitz, haben von ihrem Standpunkte aus nicht so unrecht. [...] Wir sehen ruhig zu und warten.7 Hier sind gleich mehrere Themen und Probleme angeschlagen. Bebels Zeugnis stellt zunächst die bis heute in der Literatur weitverbreitete Zuschreibung des ebenso berühmten wie treffenden Bonmots an ihn selbst bzw. Engelbert Pernerstorfer richtig. Ferdinand Kronawetter war einer der letzten Getreuen jener kleinen Schar Wiener bürgerlicher Demokraten, die an den Ideen von 1848 unbeirrbar festhielten und dem Antisemitismus ablehnend gegenüberstanden. In nuce enthält der Satz die soziale Analyse des kleinbürgerlich-christlichsozialen Antisemitismus; darüber hinaus macht Bebels Akzentsetzung die fragwürdige und jedenfalls illusorische Haltung der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie gegenüber dem Antisemitismus blitzartig deutlich. Der Antisemitismus konstruiert den Juden' als Feindbild und Aggressionsobjekt. Freilich gab es ,das Judentum' als religiös, kulturell, sozial und wirtschaftlich abgrenzbare Gruppe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr. Der vielfach verzögerte und gehemmte Weg in die bürgerliche Gesellschaft - in Österreich markiert durch josephinische Toleranz, Achtundvierzigerrevolution und endgültig durch die liberale Gesetzgebung von 1867/68 - mit ihrer Differenzierung in Klassen und Nationen machte aus den Juden Staatsbürger mosaischer Konfession (sie selbst vermieden es ja vielfach, sich als Juden zu bezeichnen), jüdische Bankiers, Industrielle und Kaufleute, jüdische Kleingewerbetreibende, jüdische Arbeiter, Deutsche, Ungarn, Tschechen und so fort, Assimilanten, Nationaljuden und Zionisten, Orthodoxe und Neologen, Anhänger des Liberalismus (oft durchaus deutschnationaler Färbung) und des Marxismus. Zunächst fand das moderne Judentum in der österreichisch-ungarischen Monarchie wie in Westeuropa und im Deutschen Reich seine geistig-politische Heimat im Liberalismus, auch über die Zeit von dessen Dominanz hinaus. Die durch das liberale System gewährte soziale Mobilität brachte auch die breiten Massen des Ostjudentums in Kontakt mit diesen neuen Entwicklungen. 7

Hermann Bahr: Der Antisemitismus. Ein internationales Interview. Berlin 1894. S. 21, 25.

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Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Zuwanderer nach Wien vorwiegend aus den Ländern der böhmischen Krone, zu einem geringeren Teil aus Ungarn stammten, begann nun die Westwanderung der galizischen Juden im großen Maßstab. Hier hatte der schmerzvolle Übergang von feudalen Zuständen zur kapitalistischen Produktion eine unverhältnismäßig große Zahl von Juden entwurzelt und sie in die subproletarische Existenzform der für das Ostjudentum geradezu typischen beschäftigungslosen .Luftmenschen' herabgedrückt. Während im mitteleuropäischen Teil der Habsburgermonarchie eine Elite schon früh in der Zeit des Übergangs von der Natural- zur Geldwirtschaft bedeutende Positionen einnahm, brachte dieser nach 1848 und 1867 beschleunigte Wandel für die großen Massen ungeheure Schwierigkeiten mit sich. In der Zeit des entstehenden Kapitalismus, der sich in Osteuropa nur zögernd durchsetzen konnte, verharrten die Juden weitgehend in der kleinbürgerlichen Produktionssphäre und den konsumnahen Gewerben. Eine jüdische Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung entwickelte sich erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung, konnte aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihre Organisationen rasch ausbauen. Was Wunder, wenn vielen galizischen Juden unter diesen Umständen selbst die ärmlichste Existenz in der glanzvollen Metropole des Reiches erstrebenswert gegenüber dem Vegetieren im ,Stetl' erschien, dessen oft tristes und enges Milieu allerdings schon bald literarisch romantisiert werden sollte. Aus dieser Zuwanderung resultierte das explosive Wachstum des jüdischen Bevölkerungsanteiles in Wien. Hatte man hier im Jahr 1857 erst 6200 Juden gezählt, so stieg diese Ziffer in wenigen Jahrzehnten bis zur Jahrhundertwende auf 147 000 an. Von 1880 bis zum Ende der Monarchie bewegte sich der Anteil der Juden, schwankend wegen der Eingemeindung von Vororten, zwischen zehn und acht Prozent. Zwischen 1869 und 1880 vermehrten sich die Juden in dem traditionell von den Zuwanderern am stärksten frequentierten Bezirk Leopoldstadt um 16 000 Köpfe. Der auch im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung relativ ansteigende Anteil der Juden in diesem Zeitabschnitt findet seine Erklärung in dem Umstand, daß die Juden als frühzeitig urbanisiertes Bevölkerungselement am Wachstum der städtischen Industriegesellschaft früher und stärker partizipierten als ihre Umwelt. Nach der Jahrhundertwende zeigt ihr Prozentsatz an der Bevölkerung wieder rückläufige Tendenz. Dies hängt außer mit der geringeren Kinderzahl der bürgerlich gewordenen Familien auch mit der damals voll einsetzenden Auswanderung nach Amerika zusammen, die alljährlich viele Tausende armer Juden vor allem aus Galizien in eine neue Heimat jenseits des Ozeans führte. Man braucht nur wenig Phantasie, um sich auszumalen, wie viele soziale und menschliche Probleme hinter den Zahlen der Statistik stecken - Arbeitslosigkeit, Hunger bis zum buchstäblichen Hungertod, Wohnungselend und Verwahrlosung, aber auch geistige Not und Orientierungslosigkeit waren

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die Begleiterscheinungen dieser gewaltigen Bevölkerungsverschiebungen. Für die Wiener Gemeinde, in der das wirtschaftlich und sozial in die Gesellschaft der Ringstraßenzeit integrierte wohlhabende Großbürgertum den Ton angab, bedeutete die Konfrontation mit den Scharen der ostjüdischen Glaubensbrüder eine ernste Herausforderung. In den sechziger und siebziger Jahren stand mehrere Male die Trennung der Gemeinde in Liberale und Orthodoxe (wie in Deutschland und Ungarn) drohend am Horizont, konnte aber trotz heftiger Polemiken auf beiden Seiten abgewendet werden. 8 Damals wurde jene Einheit in der Vielfalt begründet, die für das Wesen der Wiener Judenschaft konstitutiv blieb und zur Grundlage für die intellektuelle und künstlerische .Explosion' der Wiener Kultur und ihres jüdischen Anteils geworden ist. In den akademischen Berufen eröffnete sich den Juden ein weites Feld wissenschaftlicher Arbeit und beruflicher Chancen. Zeitweilig überschritt die Zahl der jüdischen Studierenden an der juridischen und medizinischen Fakultät die Fünfzigprozentgrenze. Was die Juden in dieser „Welt von gestern" für Wien, für Europa und für die Welt bedeuten, hat Stefan Zweig anschaulich beschrieben: Durch ihre leidenschaftliche Liebe zu dieser Stadt, durch ihren Willen zur Angleichung hatten sie sich vollkommen angepaßt und waren glücklich, dem Ruhme Österreichs zu dienen; sie fühlten ihr Osterreichertum als eine Mission vor der Welt, und - man muß es um der Ehrlichkeit willen hervorheben - ein Gutteil, wenn nicht das Großteil all dessen, was Europa, was Amerika als den Ausdruck einer neu aufgelebten österreichischen Kultur heute bewundert in der Musik, in der Literatur, im Theater, im Kunstgewerbe ist aus dem Wiener Judentum geschaffen gewesen, das selbst wieder in dieser Entäußerung eine höchste Leistung seines jahrtausendealten geistigen Triebes erreichte. Eine durch Jahrhunderte ausweglose intellektuelle Energie verband sich hier einer schon etwas müde gewordenen Tradition, nährte, belebte, steigerte, erfrischte sie mit neuer Kraft und durch unermüdliche Regsamkeit. 9

Der Aufstieg des Liberalismus und die wirtschaftliche Konjunktur hatten die in der Krise von 1848 bereits sichtbar gewordene Verbindung von überliefertem Antijudaismus und einem ökonomisch, nationalistisch, pseudoradikal, ja in Ansätzen auch schon rassistisch begründeten Protoantisemitismus für ein Vierteljahrhundert unwirksam gemacht. Freilich blieben die sozialen Spannungen, die sich 1848 sowohl in der Hauptstadt wie in Böhmen und Ungarn in judenfeindlichen Strömungen und Ausschreitungen geäußert hatten, ungelöst. Der Liberalismus in Österreich, an die wirtschaftliche Macht und zur Partizipation am politischen Leben durch den Kompromiß mit den traditionellen Führungsschichten gelangt, wich der , sozialen Wolfgang Häusler: „Orthodoxie" und „Reform" im Wiener Judentum in der Epoche des Hochliberalismus. In: Studia Judaica Austriaca 6 (1978). S. 29-56. Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Berlin-Frankfurt 1965. S. 32f.

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Frage' weit aus. Die Nöte der Bauern, die seit der Grundentlastung der kapitalistischen Konkurrenz ausgesetzt waren, die Angst des Kleingewerbes vor der übermächtigen Industrie, die Situation der Industriearbeiterschaft selbst waren den .Gründern' der Wiener Ringstraßenzeit und ihren publizistischen Herolden fremd. Der Liberalismus als Wirtschaftssystem wurde durch den Börsenkrach von 1873 auf Dauer kompromittiert. Die nachfolgende Depression schuf im verunsicherten Kleinbürgertum den aufnahmebereiten Boden für antisemitische Schuldzuweisungen. Konservative Kleriker, die wie Sebastian Brunner und Albert Wiesinger von der „Wiener Kirchenzeitung" ihr publizistisches Handwerk beherrschten, lieferten den frustrierten kleinen Leuten der Wiener Vorstadt einleuchtende Erklärungen für ihre mißliche Situation: Der Jude', zum Synonym für Liberalismus und Kapitalismus, Ausbeuter und Konkurrent stilisiert, war schuld.10 Der aus josephinischen Quellen gespeiste Antiklerikalismus des Wiener Kleinbürgertums bröckelte ab - die gewissermaßen als Ersatzhandlung heftig geführte Auseinandersetzung der Liberalen mit Konkordat und päpstlicher Unfehlbarkeit hatte den bedrohten Mittelschichten wirtschaftlich nicht geholfen. So wurde die Erde gelockert für die Saat ständisch-zünftlerischer Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle, wie sie Kirche und konservative Kreise mit wachsendem Erfolg propagierten. Vorerst blieb es noch bei theoretischen Erörterungen, da der untere Mittelstand durch das Kurienwahlrecht von politischer Teilnahme ausgeschlossen war; erst 1882 gelang mit der Wahlreform des Ministerpräsidenten Graf Taaffe der Einbruch der kleinbürgerlichen ,Fünfguldenmänner' in den Reichsrat. Noch ehe sich der kleingewerbliche Antisemitismus formieren konnte, führte der Konkurrenzneid im akademischen Milieu zu antisemitischem Verhalten. Verhängnisvoll wirkte sich aus, daß ein so angesehener Universitätslehrer wie Theodor Billroth antijüdische Ressentiments 1875 öffentlich ausdrückte: Man vergißt oft ganz, daß die Juden eine scharf ausgeprägte Nation sind, daß ein Jude ebenso wenig wie ein Perser, oder Franzose, oder Neuseeländer, oder Afrikaner je ein Deutscher werden kann; was man jüdische Deutsche heißt, sind doch eben nur zufällig deutsch redende, zufällig in Deutschland erzogene Juden, selbst wenn sie schöner und besser in deutscher Sprache dichten und denken als manche Germanen von reinstem Wasser.

Billroth setzte fort, daß ich innerlich trotz aller Reflexionen und individueller Sympathie die Kluft zwischen rein deutschem und rein jüdischem Blut heute noch so tief empfinde, wie von einem Teutonen die Kluft zwischen ihm und einem Phönizier empfunden worden sein mag. 11 10 11

Hans Novogoratz: Sebastian Brunner und der frühe Antisemitismus. Diss. Wien 1978. Theodor Billroth: Über das Lehren und Lernen der medizinischen Wissenschaften an den

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Seit 1877/78 begannen die Burschenschaften, zuerst „Libertas", „Teutonia" und „Silesia", Juden aus ihren Reihen auszuschließen; diese Entwicklung, die von den demokratischen und kosmopolitischen Idealen von 1848 weg zu borniertem, kleindeutsch-preußisch orientiertem Nationalismus und gehässigem Antisemitismus führte, gipfelte 1896 in dem vom Waidhofener Verband der Wehrhaften Vereine angenommene Prinzip, Juden wegen deren „Ehrlosigkeit und Charakterlosigkeit" keine Satisfaktion zu geben. In Studentenkreisen und Turnvereinen bildete sich der von Georg Ritter von Schönerer in die politische Öffentlichkeit getragene Antisemitismus aus. Schon 1879 war Schönerer, Sohn eines bedeutenden Eisenbahningenieurs und Gutsbesitzer von Rosenau im niederösterreichischen Waldviertel, in seinem Wahlprogramm gegen die „bisherige semitische Herrschaft des Geldes und der Phrase" aufgetreten. Genau zu dieser Zeit entstand in Deutschland, anknüpfend an eine Schrift des ehemaligen Radikalen Wilhelm Marr (Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet. Bern 1879), die Antisemiten-Liga; das politische Schlag- und Kampfwort Antisemitismus war geboren. Dem sozialreformerischen ,Linzer Programm' (1882), an dem noch Victor Adler und Heinrich Friedjung mitgearbeitet hatten, fügte Schönerer drei Jahre später die Forderung nach „Beseitigung des jüdischen Einflusses auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens" hinzu. 1887 forderte er im Reichsrat Ausnahmegesetze für Juden - die Prinzipien der bürgerlichen Gleichberechtigung wurden in Frage gestellt. Das krankhaft übersteigerte Nationalbewußtsein, entstanden aus der gefährdeten Vorrangstellung der Deutschen in Österreich, hatte sich in unbewußtem Eingeständnis seiner inneren Schwäche im antisemitisch verzerrten .Judentum' ein dämonisches Gegenbild geschaffen. Schönerer hätte, falls er sich nicht durch seinen Gewaltstreich gegen die Redaktion des „Neuen Wiener Tagblatts" 1888 für einige Jahre aus der Politik ausgeschaltet hätte, nicht nur Protagonist der .alldeutschen' Gruppen der akademisch gebildeten Mittelschicht, sondern auch der Parteibildung des Kleinbürgertums werden können. Der Transformationsprozeß der politischen Haltung dieser Gesellschaftsschichten von ursprünglich demokratischen Ansätzen über sozialreformerische, .radikale' Zwischenstufen zu konservativem Verhalten vollzog sich in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Aus der „Gesellschaft zum Schutze des Handwerks" erwuchs 1882 der „Österreichische Reformverein". Dr. Robert Pattai und der Mechaniker Emest Schneider leiteten die junge Bewegung in radikal antisemitisches Fahrwasser. Anfangs hielt Schönerer enge Kontakte zum Reformverein; die österreichfreundliche Haltung der Vereinsleitung führte aber bald zum Bruch. Universitäten deutscher Nation nebst allgemeinen Bemerkungen über Universitäten. Wien 1876. S. 153f. Das Buch erschien tatsächlich schon im Jahre 1875.

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Als 1882 Franz Holubek sich zur Begründung antisemitischer Ausfälle auf den Theologieprofessor und .Talmudkenner' August Rohling berief, wurde die Verbindung der katholisch-konservativen Judenfeindschaft mit ihrer langen Tradition zum neuen kleinbürgerlichen Antisemitismus deutlich. Die arge Blamage, die Rohling in der Folge beim Prozeß gegen den streitbaren Floridsdorfer Rabbiner Joseph Samuel Bloch erlebte, verhinderte freilich nicht, daß seine auf Eisenmengers Traktat beruhenden Machwerke den Antisemiten weiterhin als .wissenschaftliche' Grundlage ihrer Argumentation dienten. Noch fehlte dem zerfahrenen, von persönlichen Intrigen geschwächten Vereinswesen ein Führer, der sich bald in Gestalt des ehemaligen Demokraten Lueger fand. Dr. Karl Lueger hatte sich im Wiener Gemeinderat seine Sporen als Kritiker der liberalen Cliquenwirtschaft verdient, sein Übergang in das antisemitische Lager verlief aber keineswegs geradlinig. Parallel zu den Bestrebungen des „Reformvereins" hatte sich in aristokratischen und geisüichen Kreisen im Anschluß an das Wirken des Konvertiten Karl von Vogelsang eine Gesellschaftstheorie entwickelt, die die alte antiliberale Kapitalismusfeindschaft der Kirche in ein Gesamtkonzept christlichsozialen Denkens einarbeitete. Namentlich jüngere Kleriker schlossen sich im Gegensatz zur Hierarchie der neuen Bewegung an, die sich 1887 durch Adam Latschka und Ludwig Psenner im „Christlich-sozialen Verein" organisierte. Schon im Gründungsjahr sah Lueger, der mit theoretischen Fragen kaum seine Zeit verschwendete, in diesem Verein ein zukunftsträchtiges Instrument seiner Politik. Die aus einer Augenblickssituation geborene Annahme des Antisemitismus - Lueger wollte bei einer Versammlung den ungarischen Antisemiten Komlóssy rhetorisch übertrumpfen - besiegelte seinen Bruch mit den Demokraten und zeigte zugleich seinen gefährlichen Spürsinn für zugkräftige demagogische Parolen. Das von Ernst Vergani geleitete „Deutsche Volksblatt" (seit 1888) wurde mit seinem Schlagwort „Kauft nur bei Christen!" das Blatt der Christlichsozialen, ehe die „Reichspost" 1894 diese Funktion übernahm. Noch 1888 kandidierten die antisemitischen und antiliberalen Gruppierungen als „Vereinigte Christen" bei den Wiener Gemeinderatswahlen. Aus dieser gemeinsamen Entstehungsgeschichte in der politischen Gärung der Wiener achtziger Jahre resultierte jener Zusammenhang zwischen konfessionellem und rassischem Antisemitismus, der trotz verbaler Distanzierung eine wechselseitige Stärkung des Aggressionspotentials bewirkte. Symptomatisch hierfür sind die populären Predigten des Pfarrers von Weinhaus, Josef Deckert - nach ihm ist heute noch ein Platz in Wien XVIII benannt. Decken, der die Ritualmordlegende als .wissenschaftlich' erwiesen propagierte, hat wiederholt die gemeinsame Kampfrichtung mit dem deutschnationalen Antisemitismus betont:

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Wenn's nicht anders geht, so muß der Grundsatz lauten: getrennt marschieren und vereint schlagen. Viribus unitis! 12

Dieses Milieu bildete den Hintergrund von Luegers rasantem Aufstieg. Die Christlichsozialen erzielten 1889 im Wiener Gemeinderat 25 Mandate und bedrohten 1891 bereits die liberale Mehrheitsfraktion, die nur noch das Kurienwahlrecht rettete. Nach wenigen Jahren war das Zwischenziel der Eroberung Wiens erreicht: Der Widerstand der Regierung, der hohen Bürokratie und der kirchlichen Hierarchie hatte nicht verhindern können, daß der Kaiser nach langem Widerstreben (1895-97) schließlich doch Lueger als Bürgermeister bestätigen mußte - es ist unbestreitbar, daß Lueger in diesem Amt hervorragende kommunalpolitische Leistungen vollbrachte. Die Ausbreitung der christlichsozialen Partei auf dem Land durch die politische Agitation des Klerus und ihre spätere Verbindung mit den Konservativen haben sie ihres sozialkritischen Ansatzes, der sie noch in den neunziger Jahren politisch verdächtig machen konnte, vollends beraubt. Sie zählte fortan zu den beharrenden Kräften im politischen Spektrum. Auch der Antisemitismus blieb von dieser Entwicklung nicht unberührt. Man hat den vor allem wirtschaftspolitisch und konfessionell gefärbten Antisemitismus Luegers und seiner Partei oft als .mildere' Form eines .österreichischen' Antisemitismus gegenüber dem kompromißlosen Radikalismus des deutschnationalen Rassenantisemitismus interpretiert. Demgegenüber darf nicht außer acht gelassen werden, daß der christlichsoziale Antisemitismus das judenfeindliche Potential in den breiten Massen des katholischen Kleinbürgertums und der Bauernschaft am Leben erhielt. Die durch unausgesetzte Propaganda von Presse und Kanzel eingewurzelten Vorurteile konnten in Krisenzeiten immer wieder virulent werden. Die relative wirtschaftliche Rückständigkeit Österreichs und die Konservierung starker mittelständischer Wirtschaftsgruppen waren die letzten Ursachen dieser Entwicklung, die Friedrich Engels in seiner Analyse des österreichischen Antisemitismus vom Jahr 1890 erkannte und seinen Wiener Freunden klarzumachen versuchte: Der Antisemitismus ist also nichts anderes als eine Reaktion mittelalterlicher, untergehender Gesellschaftsschichten gegen die moderne Gesellschaft, die wesentlich aus Kapitalisten und Lohnarbeitern besteht, und dient daher nur reaktionären Zwecken unter scheinbar sozialistischem Deckmantel; er ist eine Abart des feudalen Sozialismus, und damit können wir nichts zu schaffen haben. Ist er in einem Lande möglich, so ist das ein Beweis, daß dort noch nicht genug Kapital existiert.

Für Engels ist der Antisemitismus „Markzeichen einer zurückgebliebenen Kultur"; „er verfälscht die ganze Sachlage".13 12

13

Josef Decken: Die ältesten und gefährlichsten Feinde des Christentums und christlichen Volkes. Conferenzreden. Wien 1895. S. 86. Friedrich Engels: Über den Antisemitismus. In: Marx-Engels: Werke. Bd. 22. Berlin 1963. S. 49-51.

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Die Auseinandersetzung der österreichischen Sozialdemokratie mit dem Antisemitismus blieb insofern ambivalent, als sie in den christlichsozial und antisemitisch beeinflußten Gesellschaftsschichten ein potentielles Reservoir für ihre Partei erblickte. Victor Adlers trügerische Hoffnung, die Antisemiten würden letztlich doch „die Geschäfte der Sozialdemokratie besorgen", korrespondierte mit der Haltung der deutschen Bruderpartei. 1914 kam Karl Kautsky, der 1884 Engels über die Gefahr eines Einbruchs des Antisemitismus in die damals zersplitterte österreichische Arbeiterbewegung berichtet hatte,14 noch einmal auf das eingangs zitierte Dictum Kronawetters zurück: Die Zeiten sind vorbei, wo der Antisemitismus als eine Abart des Sozialismus erschien, als der .Sozialismus des dummen Kerls von Wien*. Heute ist er eine Abart des Kampfes gegen das Proletariat, die feigste und brutalste seiner Abarten, er ist die Sozialistenfresserei des dummen Kerls von Wien geworden.

Kautskys weitere Argumentation zeigt, daß die Sozialdemokratie die Assimilationsforderung der bürgerlichen Revolution konsequent weiterverfolgte, ohne die kulturelle und nationale Selbsterneuerung des Judentums seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zur Kenntnis zu nehmen: Die Juden sind ein eminent revoluüonärer Faktor geworden, das Judentum aber ein reaktionärer. [...] Je eher es verschwindet, desto besser für die Gesellschaft und die Juden selbst. [...] Ahasver wird dabei endlich zur Ruhe kommen. Er wird fortleben in der Erinnerung als der größte Dulder der Menschheit, der am meisten von ihr gelitten, der ihr am meisten geschenkt. 15

In der Judenfrage hielt die Sozialdemokratie die Prinzipien des Liberalismus hoch: Assimilation wurde als Abkehr von religiösem und politischem Konservatismus begrüßt und gefördert, Antisemitismus als Ideologie rückständiger Gesellschaftsschichten verurteilt, ohne seine Eigendynamik zu erkennen. Für den Antisemitismus des beginnenden 20. Jahrhunderts ist mehr noch als seine parteipolitische Ausformung das Eindringen in gesellschaftliche und halbpolitische Organisationen kennzeichnend. Die extremen SchönererAnhänger bildeten nur mehr eine unbedeutende Splittergruppe außerhalb des „Deutschen Nationalverbands", der den manischen Antisemitismus Schönerers zu vermeiden suchte. Ein sozusagen salonfähig gewordener Antisemitismus wucherte aber in weiten Kreisen fort. Die zu führenden Stellungen in Staat, Verwaltung und Unterricht bestimmte akademische

15

„Wir haben Mühe, unsere eigenen Leute zu hindern, daß sie nicht mit den Antisemiten fraternisieren. Die Antisemiten sind jetzt unsere gefährlichsten Gegner, gefährlicher als in Deutschland, weil sie oppositionell und demokratisch auftreten, also den Instinkten der Arbeiter entgegenkommen." Zitiert nach Peter G. J. Pulzer: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1768-1914. Gütersloh 1966. S. 212. Iring Fetscher (Hrsg.): Marxisten gegen Antisemitismus. Hamburg 1974. S. 104, 118f.. Vgl. auch (bei Vorsicht gegenüber den Schlußfolgerungen) Edmund Silberner: Sozialisten zur Judenfrage. Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialismus vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1914. Berlin 1962.

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Jugend nahm ihn tief in sich auf. Turn- und Touristenvereine begannen, ihre Reihen Judenrein' zu machen - man erinnere sich an die antisemitischen Radfahrer in Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie. Bücher wie die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, die Richard Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain 1898 in Wien vollendete, trugen wesentlich dazu bei, daß auch jene Kreise des Bildungsbürgertums, die den ,Radauantisemitismus' als vulgär ablehnten, sich von der Minderwertigkeit und Gefährlichkeit der jüdischen Rasse überzeugen ließen. Die geistige Krise der Zeit um die Jahrhundertwende fand ihren Ausdruck im Kampf eines Karl Kraus gegen die sprachliche Verluderung, die diesem großen Kritiker zum Symbol gesellschaftlicher Korruption wurde als Jude hatte Kraus schwere Identitätskonflikte zu bestehen. Der Erfolg eines Buches wie Geschlecht und Charakter von Otto Weininger beleuchtet grell die Problematik des Fin de siècle. Weiningers Behauptung, „daß die allerschärfsten Antisemiten unter den Juden zu finden sind", fand ihre Konsequenz in der Selbstzerstörung dieses hochbegabten, wahnbesessenen Philosophen. Eine tiefe Einsicht in die psychologischen Voraussetzungen des Antisemitismus blitzt in Weiningers Sätzen auf: Wer immer das jüdische Wesen haßt, der haßt es zunächst in sich: daß er es im anderen verfolgt, ist nur sein Versuch, vom Jüdischen auf diese Weise sich zu sondern; er trachtet sich von ihm zu scheiden dadurch, daß er es gänzlich im Nebenmenschen lokalisiert, und so für den Augenblick von ihm frei zu sein wähnen kann. 16

Daß pathologische Erzeugnisse wie die „Ostara"-Hefte des halbverrückten ehemaligen Zisterziensermönches ,Jörg' Lanz ,νοη Liebenfels' (er hißte übrigens als erster eine Hakenkreuzfahne - 1907 auf Burg Werfenstein im Strudengau) mit ihren absurden Rassetheorien und ihrer Forderung nach Kastration .Minderwertiger' ein Lesepublikum - darunter den jungen Hitler17 - fanden, ist nur e i η bezeichnendes Symptom des unter der Oberfläche einer scheinbar stabilisierten Gesellschaft wuchernden Irrationalismus, an dessen Analyse selbst das Genie eines Sigmund Freud scheitern mußte. Der christlichsoziale Priesterpolitiker Joseph Scheicher hat 1900 in einer im Jahre 1920 spielenden Utopie das Bild der von den Juden .gesäuberten' Stadt Wien in gespenstischer Vision beschworen; die Trivialität dieses von einem Landtags- und Reichsratsabgeordneten vertretenen Vulgärantisemitismus war nicht mehr zu unterbieten: „Wo man hinspuckt, nichts als Juden!" - „Socijuden" - „grinsende Plattfüßler". 18

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Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Wien-Leipzig 14 1913. S. 413f. Wilfried Daim: Der Mann, der Hitler die Ideen gab. Die sektiererischen Grundlagen des Nationalsozialismus. Wien-Köln-Graz Ί 9 8 5 . Joseph Scheicher: Aus dem Jahre 1920. Ein Traum. St. Pölten 1900. S. 73, 77, 79.

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Friedrich Heer hat in diesem Zusammenhang vom .Untergrund' Wiens gesprochen und damit die unter der Oberfläche der glanzvollen Kultur liegenden Abgründe bezeichnet. Das Paradoxon der Entwicklung eines totalitären, xenophoben Nationalismus in der wohl internationalsten Metropole des alten Europa bezeichnet am deutlichsten die Widersprüchlichkeit dieser Epoche. Adolf Hitler, der vor dem Ersten Weltkrieg in dieser wahrhaft kosmopolitischen Stadt lebte, wurde hier zum „fanatischen Antisemiten" und sah in Wien die Verkörperung eines blutschänderischen „Rassenbabylon".19 In diesem Untergrund der Entwurzelten und Deklassierten formte sich sein Weltbild, das in Schönerer den Verkünder völkischen Herrenmenschentums, in Bürgermeister Lueger den großen Organisator der Massen erblicken konnte. Zum Erscheinungsbild des Antisemitismus in der Habsburgermonarchie gehört auch das Fortleben archaischer Formen der Judenfeindschaft. Noch in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts richteten sich in Böhmen Ausschreitungen jener Bevölkerungsschichten, die sich durch das Vordringen der modernen Maschinenindustrie bedroht fühlten, vorzugsweise gegen Juden.20 Die Ritualmordaffäre von Tisza-Eszlár (1882), die der Abgeordnete Géza Ónody ins Rollen brachte, wirkte trotz gerichtlich erwiesener Lüge über Ungarn hinaus und beflügelte die Phantasie der sich formierenden deutschen Antisemitengruppen. Einer der ungarischen Judenfeinde, Ivan Simonyi, äußerte sich in bezeichnender Weise über die Motive des Antisemitismus, der in einer in rapider Umwandlung begriffenen Agrargesellschaft antikapitalistisches Protestpotential von den tatsächlich Herrschenden ablenkte: Der Antisemitismus ist nichts weiter als eine Auflehnung, Reformbestrebung gegen den Kapitalismus, gegen dessen unsittliches, das Volkswohl schädigendes Wesen und alle seine Auswüchse. Der Antisemitismus ist eine Auflehnung gegen den Individualismus [...], gegen den verlogenen Parlamentarismus, der sich als impotent erweist [...] Man fühlt instinktiv den Fluch dieser Jsmusse', die auf uns lasten.21 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an Ausschreitungen gegen Juden im Zuge der Badeni-Unruhen in Prag und Mähren, an die „böhmische und österreichische Dreyfusiade" (Thomas G. Masaryk) des Prozesses von Polna, ferner an die von dem Priester Stojalowski geschürte, in Pogromen aufflackernde Stimmung in Galizien um die Jahrhundertwende. Für das Bild des österreichischen Judentums in der österreichischen Lite19 20

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Adolf Hitler: Mein Kampf. München "1933. S. 69, 138. Christoph Stölzl: Zur Geschichte der böhmischen Juden in der Epoche des modernen Nationalismus. In: Bohemia. Jahrbuch des Collegium Carolinum 14 (1973). S. 179-221. 15 (1974). S. 129-157. Rolf Fischer: Entwicklungsstufen des Antisemiüsmus in Ungarn 1867-1939. Die Zerstörung der magyarisch-jüdischen Symbiose. München 1988 (Südosteuropäische Arbeiten 85). S. 63.

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ratur zur Zeit der Formierung des Antisemitismus liegen noch kaum Vorstudien vor.22 Selbst so auffallende Texte wie Robert Hamerlings 1887 veröffentlichtes satirisches Epos Homunkulus harren noch der kritischen Auswertung, die in Hinblick auf unsere Fragestellung auch für den Bereich der Trivialromane, der populären Bühnenpraxis (man denke an das 1898 gegründete Wiener Jubiläumstheater, das von Adam Müller-Gutenbrunn als .Antisemiten-Theater' geführt wurde) oder der Karikatur (etwa das Blatt „Kikeriki"). Für die Frage des Transportes und der Verfestigung antijüdischer Stereotypen bieten diese Gattungen gerade in Österreich reichstes Anschauungsmaterial. Am intensivsten hat der größte literarische Analytiker des Wiener Bürgertums, Arthur Schnitzler, mit dem Freud verwandten Blick des Diagnostikers um das Problem des Judentums in der modernen Gesellschaft gerungen. Die Ausgrenzung der Juden aus der politisch-staatsbürgerlichen und gesellschaftlichen Gemeinschaft wurde zur realen Bedrohung, wie sie eine der Gestalten aus dem Roman Der Weg ins Freie (1908) verzweifelt beschwört: ,Wer hat die liberale Bewegung in Österreich geschaffen? ... Die Juden! Von wem sind die Juden verraten und verlassen worden? Von den Liberalen. Wer hat die deutschnationale Bewegung in Österreich geschaffen? Die Juden. Von wem sind die Juden im Stich gelassen ... was sag ich im Stich gelassen ... bespuckt worden wie die Hund'? ... von den Deutschen! Und geradeso wirds ihnen jetzt ergehen mit den Sozialisten und Kommunisten. Wenn die Suppe erst aufgetragen ist, so jagen sie euch vom Tisch. Das war immer so und wird immer so sein.' 23

Verächtliches Schweigen oder Bagatellisieren erschien angesichts allgegenwärtiger Verhöhnung und Mißachtung unangemessen: .Wenn man Ihnen einmal den Zylinder einschlagt auf der Ringstraße, weil Sie, mit Verlaub, eine etwas jüdische Nase haben, werden Sie sich schon als Jude getroffen fühlen, verlassen Sie sich darauf.'24

Schnitzlers .Komödie' Professor Bernhardt (1912) schilderte die Reaktionen auf den Antisemitismus bei Juden und Nichtjuden in allen Spielarten. „Auf einer inländischen Bühne" kam das Stück zur Zeit der Monarchie „wegen der zu wahrenden öffentlichen Interessen" nicht zur Aufführung; die „vielfache Entstellung hierländischer Zustände" - in Wahrheit ihre scharfsichtige Enthüllung - war für die Behörde ein Stein des Anstoßes.25 22

23 24 25

Eine erste Bestandsaufnahme vermittelt Erika Weinzierl: Antisemitismus in der österreichischen Literatur. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 20 (1967). S. 356371. Nützlich ist femer die Materialsammlung von Wilhelm Stoffers: Juden und Ghetto in der deutschen Literatur bis zum Ausgange des Weltkrieges. Nymwegen 1939 (Deutsche Quellen und Studien 12). Arthur Schnitzler: Die Erzählenden Schriften. Bd. 1. Frankfurt 1961. S. 697. Ebd. S. 689 Willehad P. Eckert: Arthur Schnitzler und das Wiener Judentum. In: Emuna. Horizonte zur Diskussion über Israel und das Judentum 8 (1973). S. 118-130.

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Ohne daß hier näher darauf eingegangen werden kann, sollte nicht vergessen werden, daß der in den vielfältigen Krisenerscheinungen der späten Habsburgermonarchie wurzelnde, den Sinn der Assimilation in Frage stellende Antisemitismus gerade im Vielvölkerstaat dem neuen Bewußtsein jüdischer Identität jenes Profil gab, das sich in nationaljüdischen Strömungen und in dem von Theodor Herzl geprägten Zionismus ausformte. Die zionistische Bewegung hatte ihren Mutterboden in den ungelösten nationalen und sozialen Fragen des alten Österreich, und viele Probleme und Konflikte des sich auf Herzls politische Ideologie gründenden Staates Israel, seiner jüdischen und nichtjüdischen Einwohner und seiner Nachbarn haben ihren Ursprung im Nationalismus Europas am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Im Ersten Weltkrieg haben Juden in der Armee Österreich-Ungarns ihren Blutzoll geleistet. Wegen ihres hohen Anteils an den Intelligenzberufen stellten sie ein starkes Kontingent von Reserveoffizieren. Das Avancement in hohe Militärdienstgrade war Juden in der Regel verschlossen. Diese Tat·: sache konnte aber nicht den glühenden Haß gerade der bewußt jüdischen und zionistischen Offiziere gegen das zaristische Rußland mildem; bis Anfang 1917 waren 474 jüdische Offiziere gefallen. Der aus Eger stammende Dr. Hugo Zuckermann, der während seiner Wiener Studienjahre die Verbindung „Theodor Herzl" mitbegründet hatte, gab dieser Stimmung am Vorabend des Krieges in seinem berühmt gewordenen Reiterlied Ausdruck. Zuckermann starb 1914 an den Folgen seiner Kriegsverletzungen.24 In der publizistischen und literarischen Öffentlichkeit tritt der Antisemitismus in den Jahren des Weltkriegs zurück. Dies mag vor allem mit dem Aufbau neuer Feindbilder zusammenhängen, wohl auch - hier müßten noch Untersuchungen ansetzen - mit der strafferen Handhabung der Zensur. Die anfängliche Kriegsbegeisterung konnte nicht über das ungeheure Leid hinwegtäuschen, das die Frontverschiebungen und Verwüstungen in Galizien über die Juden dieses Raumes brachten. Schon 1915 zählte man 350 000 Flüchtlinge aus diesem Gebiet, unter denen die Juden überwogen. Ein gewaltiger Zustrom nach dem Westen setzte ein; die jüdische Bevölkerung Wiens stieg sprunghaft um die Hälfte an, wodurch die ohnehin höchst schwierige Versorgungslage weiter verschärft wurde. Unter den katastrophalen Lebensbedingungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre wurden die Hoffnungen auf eine Integration des Judentums und ein Ende des Antisemitismus in einer demokratischen Republik zunichte. Der Generalangriff der Antisemiten setzte mit der Hetze gegen die Kriegsflüchtlinge und einzelne jüdische Kriegsgewinnler ein. Die Schuld an Niederlage 26

Wolfgang v. Weisl: Die Juden in der Armee Österreich-Ungarns. Tel Aviv 1971. - Ernst v. Rutkowski: Dem Schöpfer des Österreichischen Reiterliedes, Leutnant in der Reserve Dr. Hugo Zuckermann, zum Gedächtnis. In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden 10 (1973). S. 93-102.

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und Zusammenbruch des Großreiches wurde häufig den Juden angelastet. Die nationale und soziale Neugestaltung Mittel- und Osteuropas ging vielfach auf ihre Kosten. Der Lemberger Pogrom im November 1918 forderte zahlreiche Todesopfer; in Ungarn gerieten die Juden zwischen die Fronten des Bürgerkriegs, und der Weiße Terror ließ sie für die Räterepublik büßen. In der Republik Deutsch-Österreich hatten die bürgerlichen Parteien ihre Haltung zu den Juden nicht geändert und schrieben den Antisemitismus programmatisch fest. So waren die Anfänge der Ersten Republik nicht nur von physischer Not überschattet, sondern auch ihre politische Kultur wurde vom Antisemitismus vergiftet. Otto Bauer, der dem jüdischen Großbürgertum entstammende bedeutende Theoretiker des Austromarxismus, hat in seine Analyse der „österreichischen Revolution" von 1918 auch den Antisemitismus einbezogen: Es war wahr geworden, was der junge Friedrich Engels im Jahre 1848, wenige Wochen vor der österreichischen Märzrevolution, vorausgesagt hatte: „daß es recht gemeine, recht schmutzige, recht jüdische Bourgeois sein werden, die dies altehrwürdige Reich ankaufen". Der kulturlose Luxus der an der Not des Landes bereicherten neuen Bourgeoisie erbitterte die Volksmassen. Eine Welle des Antisemitismus ergoß sich über das Land. [...] Sie [das Wiener Bürgertum] sahen viele Juden unter den reich gewordenen Schiebern. Sie sahen Juden unter den Führern der Arbeiter. Ihr zwiefacher Haß fand im Antisemitismus seine Vereinigung. Sehr bald wurde ihre Erbitterung gegen die Arbeiter stärker als ihre Erbitterung gegen die Schieber. Am Ende war der Schieber nichts als ein erfolgreicher Kaufmann; daß aus Kauf und Verkauf Gewinne und Reichtümer entstehen, erschien ihrem bürgerlichen Denken am Ende natürlich. [...] Der Klassenneid gegen die Arbeiterschaft wurde zur stärksten Leidenschaft der untergehenden Schichten des Bürgertums. Er erfüllte die breiten Schichten des mittleren und kleinen Bürgertums mit Haß gegen die Revolution, gegen die Arbeiterklasse, gegen die Sozialdemokratie.27 Bauers Charakteristik der sozialen und geistigen Katastrophe am Ende des Weltkriegs umreißt schon zum Faschismus führende Tendenzen. Was Bauer aber mit dem Blick auf einzelne jüdische Schieber und Kriegsgewinnler übersah, hat Joseph Roth in seiner packenden Schilderung der Situation der jüdischen Unterschichten nachgetragen: Für Christlichsoziale sind's Juden. Für Deutschnationale sind sie Semiten. Für Sozialdemokraten sind sie unproduktive Elemente. Sie aber sind ein arbeitsloses Proletariat.2® Die historische Existenz des Judentums in der Österreichisch-ungarischen Monarchie hatte die Chancen für eine kulturelle Synthese geschaffen, deren 27

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Otto Bauer: Die österreichische Revolution. Neudruck Wien 1965. S. 219, 221f. Vgl. John Bunzl: Arbeiterbewegung und Antisemitismus in Österreich vor und nach dem Ersten Weltkrieg. In: Zeitgeschichte 4 (1977). S. 161-171. Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft. Berlin 1927 (Berichte aus der Wirklichkeit 4). S. 64.

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Leistungen immer ein unverlierbares Erbe über Staatsgrenzen hinaus bleiben werden. Die nur politisch verstandene Emanzipation des bürgerlichen Zeitalters, ein so bedeutender Fortschritt sie auch war, konnte allerdings das jüdische Problem in dem sozial und national so vielgestaltigen Reich nicht lösen; die ungelösten Fragen wurden vielfach auf das Judentum projiziert. Keine der Antworten des Judentums - von der Assimilation bis zum Zionismus, von der Integration in die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft bis zur Parteinahme für die Arbeiterbewegung - konnte das Aufkommen eines weitverbreiteten und tiefwurzelnden Antisemitismus hindern. Eine selbst nicht emanzipierte Gesellschaft war nicht in der Lage, ihre Minderheiten zu emanzipieren. Das Scheitern der österreichischen und deutschen Revolution, die 1918/19 wie 1848/49 keine wahrhaft emanzipatorische Erneuerung bewirkt hatte, ebnete nach dem Zusammenbruch der demokratischen Ordnung jener Herrschaft der Unmenschlichkeit, deren System den antisemitischen Rassenwahn einschloß, den Weg. In den Hoffnungen wie in der Krise des österreichischen Vielvölkerstaates wurden so die Perspektiven künftiger Entwicklung, aber auch der Katastrophe unseres Jahrhunderts vorgezeichnet.

Kurt Dittmar (Hamburg)

Juden und Judentum in der englischsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts

Nicht ohne Weitschweifigkeit, auf jeden Fall aber äußerst informativ: Edgar Rosenbergs Monographie ist nach wie vor das Standardwerk der stofflichthematischen Entwicklungsgeschichte von Juden und Judentum in der englischen Literatur.1 Der Titel freilich - From Shylock to Svengali: Jewish Stereotypes in English Fiction - bleibt immer ein wenig irreführend, denn in einer Untersuchung, die sich auf Narrativik beschränkt, fungiert Shylock im Gegensatz zu Svengali, der Judenfigur in Du Maimers Roman Trilby (1894), natürlich als Musterbild und nicht als literarhistorische Abgrenzung. Nach kurzen Hinweisen vor allem auf Shakespeares The Merchant of Venice und Marlowes The Jew of Malta beginnt denn auch die Detailanalyse einzelner Werke erst mit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Motivgeschichtlich liegt eben hier ein ganz entscheidender Wendepunkt. Erst als Folge des ,Age of Enlightenment' entsteht jene moralische Dichotomie der Judenfigur, die Rosenberg neben ihren mythischen Konnotationen vor allem interessiert. Dem ,Jew-Villain' gemäß Barabas und Shylock tritt jetzt eine Art .Saintly Jew' gegenüber. Frühe Beispiele finden sich bei Smollett, der seinem jüdischen Wüstling Isaac Rapine in Roderick Random (1748) nur fünf Jahre später, in The Adventures of Count Fathom (1753), einen höchst wohltätigen Juden namens Joshua Manasseh gegenüberstellt. Einen ganz ähnlichen Positionswechsel unternimmt gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Dramatiker Richard Cumberland. Nach etlichen jüdischen Schurken liefert auch er Edgar Rosenberg, From Shylock to Svengali. Jewish Stereotypes in English Fiction. Stanford 1960. - Für das 19. Jahrhundert wären femer zu nennen: Edward N. Calisch, The Jew in English Literature. As Author and as Subject. Richmond 1909; David Philipson, The Jew in English Fiction. New York 1918; Montagu Frank Modder, The Jew in the Literature of England. To the End of the 19th Century. Philadelphia 1944; Harold Fisch, The Dual Image. The Figure of the Jew in English and American Literature. New York 1971; Anne Aresty Naman, The Jew in the Victorian Novel. Some Relationships between Prejudice and Art. New York 1980; Abba Rubin, Images in Transition. The English Jew in English Literature, 1660-1830. New York 1984. - Mit Juden und Judentum in der amerikanischen Literatur dieses Zeitraums befassen sich u.a. Joseph Mersand, Traditions in American Literature. A Study of Jewish Characters and Authors. New York 1939; Sol Liptzin, The Jew in American Literature. New York 1966; Louis Harap, The Image of the Jew in American Literature. From Early Republic to Mass Immigration. Philadelphia 1974. - Komparatistische Analysen für den anglo-amerikanischen Bereich, die sich der Judenthematik in beiden Nationalliteraturen des 19. Jahrhunderts widmen, existieren bislang - etwa bei Philipson (1918) und Fisch (1971) - lediglich ansatzweise.

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- im programmatisch betitelten The Jew (1794) - mit der Figur des wohlhabenden und selbstlosen Geldverleihers Sheva einen ganz bewußt konstruierten Anti-Shylock. Das Spannungsfeld dieser moralischen Ambivalenz läßt sich nun in der Tat durch das ganze 19. Jahrhundert verfolgen. Scott und Dickens, Thackeray und Trollope, Disraeli, George Eliot und Meredith: Fast alle Hauptvertreter der englischen Narrativik haben jüdische Figuren entweder als krasse Schurken oder als bedingungslose Wohltäter und Vorbilder aufzuweisen. Im folgenden wird versucht, das Spektrum und die Entwicklungstendenzen dieser Motivik anhand von fünf Romanen zu verdeutlichen: Maria Edgeworth, Harrington (1817), Walter Scott, Ivanhoe (1819), Charles Dickens, Oliver Twist (1837-39), Anthony Trollope, The Way We Live Now (1875) und George Eliot, Daniel Deronda (1876). Ähnlich wie Cumberland präsentiert auch Maria Edgeworth nach zahlreichen, Barabas und Shylock verpflichteten, aber stark trivialisierten Bösewichten, d.h. nach jüdischen Betrügern, Wucherern, Verrätern, Erpressern, Giftmischern, Kindesverführern usw. plötzlich dann jüdische Figuren, die nun ein hemmungslos idealisiertes Wunschbild moralischer Mustergültigkeit verkörpern. Es handelt sich dabei um den 1817 erschienenen Roman Harrington. Anders als bei Smollett und Cumberland ist bei Maria Edgeworth literarhistorisch auch ein konkreter Anlaß für diesen auktorialen Sinneswandel feststellbar, so daß er weniger als (wie auch immer motivierte) spontane Kehrtwendung denn als ganz bewußt kalkulierter und demonstrativer Akt in Erscheinung tritt. Eine amerikanische Leserin, eine gewisse Miss Rachel Mordecai aus Virginia, hatte 1816 einen persönlichen Brief geschrieben, „complaining of the illiberality with which the Jewish nation had been treated in some of Miss Edgeworth's works",2 ein Vorwurf, der ernst genommen und mit Harrington öffentlich beantwortet wurde. Es ist diese vordergründige Intentionalität, die den künstlerischen Wert des Romans automatisch in Frage stellt und dazu geführt hat, daß er von der Kritik als „elaborate apology"3 eingestuft und nicht ganz zu Unrecht weitgehend ignoriert wurde. Den Auftakt des Romans bildet allerdings eine sehr bemerkenswerte Episode. Der sechs Jahre alte Harrington steht bei Anbruch der Dunkelheit zusammen mit Fowler, seinem Kindermädchen, auf dem Straßenbalkon seines Elternhauses in London. Schläfrig, aber höchst interessiert verfolgt er das abendliche Großstadtgeschehen und beobachtet dabei auch den Lumpensammler Simon the Jew. Gerade als das Kind und der Jude einander freundlich lächelnd in die Augen sehen, wird Master Harrington aufgefordert, nun

Zitiert nach Richard Lovell Edgeworth, To the Reader. In: Maria Edgeworth, Tales and Novels. The Longford Edition. Bd. 9. London 1893, S. m . Helen Zimmern, Maria Edgeworth. Boston 1883, S. 168.

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schlafen zu gehen, und weil er lauthals protestiert, droht ihm das Kindermädchen, sie werde den Juden rufen, „and he shall come up and carry you away in his great bag."4 Die spontane Zuneigung des Kindes zu Simon verwandelt sich daraufhin schlagartig in grauenhafte Angst. Im Bett überkommen ihn qualvolle Horrorvisionen. Er leidet von nun an unter schweren Schlafstörungen, ist aber zugleich fügsamer und leichter zu manipulieren. Das Kindermädchen forciert diese Abhängigkeit mit weiteren Erzählungen über jüdische Methoden der Kindesentführung zwecks ritueller Mißhandlung und gewerbsmäßig betriebener Menschenschlächterei. Ein essayistischer Einschub, der diese effektvollen Verleumdungen historisch ins rechte Licht rücken soll, betont ausdrücklich, daß hier erzählt werde, „what happened many years ago" und daß „in our enlightened days" der geschilderte Konflikt wohl kaum noch denkbar sei, weil das höhere Bildungsniveau verhindere, „that any nursery-maid could be so wicked [...], or any child [...] so foolish." (3) Die Charakterisierung der beiden Verhaltensweisen als böswillig (wicked) und töricht (foolish) impliziert so etwas wie eine kulturhistorische Übergangsphase. Während im Mittelalter Berichte von jüdischen Greueltaten noch allgemein für wahr gehalten worden seien, wären mittlerweile auch Kinder wohl kaum noch anfällig für judenfeindliche Trugbilder und Wahnvorstellungen. Der Fortschrittsglaube, der hier vorliegt, bewirkt eine trivialaufklärerische Versachlichung aller Aversionen gegen das Judentum. Ausgeklammert wird deren religiöse, sozialkulturelle und psychische Eigendynamik. Was übrig bleibt, ist einerseits bewußt kalkulierte Unterdrückung und andererseits kindliche Naivität als Grundmuster irrationaler Beeinflußbarkeit. Harringtons Alpträume und Angstphantasien nehmen bald so gravierende Formen an, daß Fowler befürchten muß, von den Eltern zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sie möchte deshalb einlenken und zeigt ihrem Schützling, wie freundlich, offenherzig und mitfühlend der Jude ist und welch harmlose Gegenstände sich in seiner Beuteltasche befinden. Nachdem diese Beweisstücke jüdischer Unschuld nicht mehr als ein hysterisches Lachen erzeugt haben, folgt dann die Ultima ratio. Simons ohnehin schon hilfsbereit ausgestreckte Hand bekommt eine neue Funktion: „[...] my maid placed sugared almonds on the palm of that hand, and bid me approach and eat." (5) Es gibt in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts wohl kein drastischeres Beispiel für die paradoxe Zwiespältigkeit jüdischer Reputation, für jene Polarität des Juden als Teufel oder Heiliger, als Bösewicht oder moralisches Vorbild, die Harold Fisch mit dem Terminus ,dual image* versehen hat.3 Der Jude als brutaler Kindesmörder und als wohlwollende Vaterfigur, dem das Kind aus der Hand essen soll: Es ist derselbe Simon the

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Maria Edgeworth, Harrington. In: Tales and Novels. The Longford Edition. Bd. 9. London 1893, S. 2. Alle weiteren Zitate nach dieser Ausgabe. Vgl. Fisch, Dual Image, Introduction sowie S. 14f, S. 45, S. 71f, S. 77-79.

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Jew, der hier beide Versionen jüdischer Identität verkörpert; oder besser gesagt: verkörpern soll, denn Harrington läßt sich nicht so rasch umpolen, und Fowler quittiert daraufhin ihren Dienst als Kindermädchen. Harringtons Mutter verfolgt dann eine andere Lösung des Problems. Simon soll jährlich eine Abfindung erhalten, wenn er sich dem Haus der Harringtons in Zukunft nicht mehr nähert, und seine Hand - „the Jew's hand" (10) - empfängt sogleich die erste Zahlung. Mit derselben Hand, aus der Harrington zuvor die Zuckermandeln essen sollte, nimmt Simon nun den Bonus seiner Diskriminierung entgegen. Manipuliert werden soll nicht mehr das persönliche Gefühl des Kindes, sondern sein soziales Umfeld, d.h. seine Angstphantasien sollen gesellschaftlich absorbiert werden. Diese Strategie erweist sich freilich auch als problematisch. Es spricht sich schnell herum, daß Simon regelrecht entlohnt wird, um Harrington nicht mehr zu begegnen, und immer neue Lumpensammler nutzen diese Verdienstmöglichkeit, viele offenbar nur als Juden verkleidet. Dieses Spektakel illustriert die triviale Vordergründigkeit des Romans, aber man braucht nicht viel eigene Phantasie, um es symbolisch zu nehmen und den gesamten Auftakt von Harrington dann als kulturhistorische Parabel zu lesen. Weil der Jude für das christliche Selbstbewußtsein eine immanente Herausforderung verkörpert, ist das Verhältnis zu ihm zwangsläufig labil und widersprüchlich. Das Judentum muß paradoxerweise zugleich verworfen und umworben werden. Insofern bleibt es auch bei aller Abwehr stets bedrohlich präsent. Das galt in theologisch-religiöser Hinsicht schon für das Urchristentum, und es gilt tendenziell auch noch für säkularisierte Varianten der Judenfeindschaft bis hin zum modernen Antisemitismus mit einem bloß konterkarierenden Philosemitismus als Pseudoalternative. Ein bewußt apologetisch angelegter Roman läßt solche fundamentalen Ambivalenzen natürlich höchstens einmal erahnen; insgesamt verschleiert er sie mit klaren Alternativen von Judenhaß und Judenverehrung. Als Schüler, als Student in Cambridge und schließlich dann als Vertreter der Londoner Bourgeoisie wird Harrington immer wieder zum Zeugen antisemitischer Bösartigkeiten. Sein Freund und späterer Widersacher Lord Mowbray ist der radikalste Judenhasser: Er verbindet aristokratische Selbstgefälligkeit mit bemerkenswerter Aggressivität. Harringtons Aufrichtigkeit hat zur Folge, daß er im weiteren Verlauf der Handlung eine Reihe von Juden näher kennenlernt. Das Grundmuster des Lumpensammlers wird dabei gesellschaftlich differenziert, in moralischer Hinsicht ist der Jude jedoch stets ein absolutes Vorbild, dessen Vollkommenheit sich bezeichnenderweise nur antithetisch definieren läßt: Er ist „as unlike to Shylock as it is possible to conceive". (19) Die Liste der sozialen Varianten umfaßt den Dienstboten Jacob, ein Musterbeispiel bescheidener Gewissenhaftigkeit; den Rabbiner Israel Lyons, der als Hebraist in Cambridge die jüdische Tradition mit modernen Forschungsinteressen verbindet; den gutgläubigen Juwelier Manessa, der

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von christlichen Auftraggebern betrogen wird; und schließlich vor allem Vater und Tochter Montenero: reiche, gebildete und kulturbeflissene sephardische Juden, die ihr Vermögen für humanitäre Zwecke nutzen. Unter dem Einfluß dieser Exponenten moralischer Integrität überwindet Harrington allmählich seine panische Angst vor dem Judentum. Als schließlich dann das heimtückische Intrigenspiel, mit dem Lord Mowbray den Sinneswandel seines alten Schulkameraden zu boykottieren versucht, im letzten Moment aufgedeckt wird, scheint Harringtons universalem Philosemitismus und speziell seiner Liebe zu Berenice Montenero nichts mehr im Wege zu stehen. Einer Heirat allerdings will sein Vater - neben Lord Mowbray einer der schärfsten Judenverächter - keineswegs zustimmen. Aber dieses letzte und, wie es scheint, unüberwindbare Hindernis verflüchtigt sich dann von selbst: Berenice, so erfahrt man nun, „is not a Jewess" (203). Ihre verstorbene Mutter war eine englische Protestantin, und sie selbst hat deren Religionszugehörigkeit übernommen. Dieses Finale kann als Nonplusultra literarischer Trivialität verbucht werden, aber bei der Erklärung, daß Maria Edgeworth wegen eigener Vorurteile oder im Hinblick auf die ihrer Leserschaft sich eben davor scheute, den Propagandaeffekt ihres Romans konsequent zu Ende zu führen, braucht man keineswegs stehenzubleiben. Es gibt schließlich durchaus eine Sinndeutung, die an die Parabelhaftigkeit des Auftaktes anknüpft. Montenero reagiert auf Harringtons Einwand, man hätte ihm doch die wahre Identität von Berenice früher eröffnen können, mit einem pädagogischen Vortrag: „Had I spared you the pain, you would never have enjoyed the delight; had I spared you the trial, you would never have had the triumph [...]." (204) Die Begriffe, mit denen hier operiert wird („pain" und „delight"; „trial" und „triumph"), sollen natürlich die moralische Substanz einer persönlichen Liebesbeziehung verdeutlichen, und es ist davon auszugehen, daß das auktoriale Bewußtsein diesen Kontext nicht transzendiert. Vor dem Hintergrund der kulturellen Dichotomie von Judenhaß und Judenliebe als christliches Paradoxon ergeben sich aber auch wieder symbolische Implikationen. Dort, wo die Wertschätzung des Christen für den Juden endgültig sanktioniert werden soll (wie hier durch Liebe und Ehe), setzt sie voraus, daß sich das Judentum selbsttätig auflöst und der christlich-jüdische Antagonismus somit überwunden werden kann. Als Simon, der Lumpensammler, und der kleine Harrington sich anfangs gegenseitig anlächeln, bringt eben diese wechselseitige Freundlichkeit dramatisches Unheil, denn der Jude bleibt hier ein unabhängiges und eigenständiges Gegenüber, das aus christlicher Sicht letztendlich nicht toleriert werden kann. Eben deshalb setzt die Heirat von Hanington und Berenice als endgültiges Miteinander die Auflösung der jüdischen Identität voraus. In George Eliots Roman Daniel Deronda (1876) wird - fast sechzig Jahre später - die von Maria Edgeworth favorisierte Konfliktlösung schein-

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bar ins genaue Gegenteil verkehrt. Der Titelheld, der als Adoptivsohn eines englischen Aristokraten seine eigentliche Herkunft gar nicht kennt, verliebt sich in die Jüdin Mirah Cohen, deren Selbstmord in der Londoner Themse er zufällig verhindern konnte. Mit großer Betroffenheit lernt er am Beispiel ihres persönlichen Schicksals den Leidensweg des jüdischen Volkes kennen und im Umgang mit ihrem Bruder Mordecai ein religiös inspiriertes zionistisches Sendungsbewußtsein. Aber erst als Deronda erfährt, daß er selber ebenfalls jüdischer Abstammung ist, kann er sich Mirah gegenüber moralisch legitimieren, sie schließlich heiraten und dann auch die geistige Erbschaft ihres mittlerweile todkranken Bruders antreten. Die Vergleichbarkeit dieser Handlung mit dem Plot von Harrington ist evident: Dort kommt eine Ehe zustande, weil das eigene Christentum auf jüdischer Seite nicht länger verheimlicht wird, und hier kann die Hochzeit stattfinden, weil ein verunsicherter Christ sich als Jude neu verwirklichen darf. Die wahre Eigenständigkeit beider Identitäten, der jüdischen und der christlichen, wird also jeweils nicht konzediert. Ob sich unter diesen Voraussetzungen die Jüdin in eine Christin verwandelt oder umgekehrt der Christ in einen Juden, das macht ideologisch natürlich einen gewissen Unterschied, aber letztlich handelt es sich hier nur um immanente Variationen der christlichen Abhängigkeit vom Judentum. Antisemitismus mit all seinen unbewältigten Restbeständen bis hin zur freundlichen Vereinnahmung des Juden und Philosemitismus als emphatische Unterwürfigkeit bis hin zur christlichen Selbstaufgabe entstammen beide demselben theologisch-religionsgeschichtlichen Spannungsfeld und wirken deshalb, wenn sie nicht kritisch reflektiert werden, als literarische Handlungsmuster im Grunde gleichermaßen fragwürdig. Um Daniel Deronda aufzuwerten, wurde folglich denn auch unterstellt, „that the Jewish theme was simply a symbol of a larger humane interest",6 aber dieser Befund kann letztlich wohl kaum überzeugen. Nach diesem motivgeschichtlichen Exkurs nun einige Anmerkungen zu Oliver Twist (1837-39) und speziell zu Fagin als dem sicher berühmtesten Juden in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Dickens verursachte mit diesem abgefeimten Unhold einen ganz ähnlichen Protest wie Maria Edgeworth mit ihren jüdischen Schurken, und er reagierte auch mit derselben Betroffenheit. Mrs. Eliza Davis, die Frau eines wohlhabenden jüdischen Bankiers, unterstellte ihm „a great wrong", denn er habe „a vile prejudice" gefördert.7 Dickens verteidigte sich mit großer Vehemenz, aber in Our Mutual Friend (1864/65) präsentierte auch er sogleich eine Antithese: den Juden Riah als selbstlosen Samariter. Es ist schon erstaunlich, mit welcher Direktheit ein rezeptionspragmatischer Widerhall auch bei Dickens dazu führte,

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Barbara Hardy, Introduction. In: George Eliot, Daniel Deronda. Penguin Classics 1986, S. 29. Zitiert nach Cumberland Clark, Hrsg., Charles Dickens and His Jewish Characters. London 1918, S. 18.

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daß sich der böse Jude schlagartig in einen guten verwandelte. Zu Recht hatte Dickens in seinen Briefen an Mrs. Davis darauf hingewiesen, daß Fagin ja keineswegs ein isolierter Unmensch sei, sondern Bestandteil eines Verbrechermilieus mit dominant christlichen Konnotationen. Oliver Twist liefert in der Tat ein umfangreiches und deutlich hierarchisiertes Bild der Londoner Unterwelt. An der Basis stehen die vom Hehler Fagin trainierten und betreuten, bei Bedarf dann aber jeweils gnadenlos geopferten Taschendiebe sowie andere Alltagsschurken, zu denen auch der Jude Barney gehört, der mit seiner Dienstbarkeit und nasalen Intonation ganz im Gegenteil zu Fagin nicht mehr ist als ein Pendant der jüdischen Klischeefiguren im zeitgenössischen Melodrama. Eine mittlere Position in der Gaunerhierarchie nimmt der Verbrecher Bill Sikes ein. Er repräsentiert im Gegensatz zur angelernten Hinterhältigkeit und nüchternen Berechnung der Taschendiebe eine quasi naturhafte, d.h. eine spontane und eben deshalb auf fremde Kontrolle angewiesene Brutalität. Auf oberster Ebene steht dann mit Fagin eine Art schöpferisches Verbrechertum, das sich diebische Fingerfertigkeit und brutale Gewalt gleichermaßen zunutze macht, sich je nach Bedarf autoritär, didaktisch oder suggestiv verhält und so das gesamte Spektrum menschlicher Bösartigkeit zu kontrollieren sucht. Gemurmelte Flüche und heimlich geballte Fäuste lassen allerdings schon früh erkennen, daß Fagin den Anforderungen dieser Souveränität nicht immer ganz gewachsen ist. Nach seiner Gefangennahme, beim Gerichtsverfahren und vor allem in der Todeszelle werden seine Emotionen dann zu völlig unkontrollierten Automatismen. Gerade Fagins Gefühlsäußerungen haben nun bei seinem Auftraggeber in Sachen Oliver Twist deutliche Entsprechungen, und eben deshalb darf der Jude nicht isoliert gesehen werden. Monks, der eigentlich Edward Leeford heißt, hat das väterliche Erbteil seines Halbbruders unterschlagen und Fagin angewiesen, Oliver als Straßendieb zugrunde zu richten. Ein Verbrechen wird delegiert, und dadurch entsteht automatisch eine Interessengemeinschaft, ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit. Trotz der Verschiedenheit ihrer sozialen Stellung schleichen beide Übeltäter vorzugsweise bei Nacht durch die schmutzigen Gänge der Londoner Slums, um sich heimlich zu treffen und zu beraten. Der Christ reflektiert dabei nicht nur das animalische Wesen des Juden, das mit dem ekelhaften Gewürm im Straßenkot verglichen wird, sondern auch die Mechanismen seiner Angst. Gerade in dieser Hinsicht sind die Parallelen erstaunlich. Man kaut an den Fingernägeln, man beißt sich in die Lippen und Hände, man schäumt vor Wut aus dem Mund: Beide zeigen ständig solche unkontrollierten Gefühlsausbrüche, und am Ende reagieren sie auf die Niederlage mit denselben krampfhaften Zuckungen des Körpers. Die Melodramatik dieser Gleichgestimmtheit erhält ihre besondere Pointe durch den Decknamen „Monks", der für Leeford auch nach der Entlar-

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vung beibehalten wird. Monks hat keinen Vornamen und avanciert auch nie zum „Mr." Monks. Als Urbild des Teufels hat der Jude womöglich also ein christliches Äquivalent, das mit dämonischem Mönchtum assoziiert werden kann. Diese Schlußfolgerung ist zumindest erwägenswert, nicht nur weil der märchenhafte Grundtenor des Romans großen Freiraum läßt für spekulatives Interpretieren, sondern gerade auch deshalb, weil der Einfluß der Gothic Novel, des englischen Schauerromans, durchaus zur Debatte steht. Vor allem Matthew Lewis, The Monk (1796) und Charles Maturin, Melmoth the Wanderer (1820) wären hier zu nennen. Die Figur des Ewigen Juden ist in diesen Werken bereits weitgehend säkularisiert und mit einer eher gespenstischen Aura versehen. Der Mönch hingegen erscheint vor allem bei Lewis in The Monk als moralisches Ungeheuer. Einen endgültig verweltlichten, aber dennoch ganz abstrakt gehaltenen .Ewigen Juden' kann man sich ohne weiteres auch als verbrecherischen Weggefährten eines spezifisch .mönchischen' Christen vorstellen. Auf jeden Fall ist zu betonen, daß die wie auch immer auszudeutende wechselseitige Zuordnung von Fagin und Monks ernst genommen werden muß, daß man Fagin also nicht isolieren darf. Damit erübrigt sich dann auch der immer wieder einmal geäußerte Verdacht, Dickens habe hier seinem Judenhaß freien Lauf gelassen. Nicht verheimlicht werden sollte allerdings, daß im Bereich der englischen Literatur Fagin neben Shylock zwar als die bekannteste, als eine letztlich aber immer noch rätselhafte Personifikation des Juden zu gelten hat. Die Versuche der Kritik, dieses Rätsel zu lösen, haben zu höchst widersprüchlichen Ergebnissen geführt. Zwischen drei Hauptrichtungen oder Grundmustern des interpretativen Zugriffs kann dabei unterschieden werden, auch wenn diese sich häufig miteinander verkoppeln. Ein autobiographisch orientierter psychoanalytischer Deutungsansatz hat zur Folge, daß sich Fagins jüdische Identität weitgehend verflüchtigt;8 deren Aufwertung zum Archetypus eines übernatürlichen Judenteufels hingegen widerspricht die eindrucksvoll gestaltete persönliche Todesfurcht im berühmten Kapitel LH, nämlich „Fagin's Last Night Alive"9; mit dem sozialhistorischen Rekurs auf die zeitgenössischen und auch bei Dickens nachzuweisenden konkreten Vorurteile gegen Juden und Judentum schließlich verschleiert man Fagins atavistische Monstrosität.10 Ein gewisser Robert Fagin spielte für Charles Dickens in der traumatischen Erinnerung an die schlimmste Phase seiner hilflos durchlebten Jugend eine dezidiert positive Rolle und wurde vielleicht eben deshalb zum Sinnbild eines Leidens umfunktioniert, das der gerade erst erfolgreich gewordene Schriftsteller psychisch noch längst nicht bewältigt hatte. Im Alter von zwölf Jahren arbeitete Dickens, als seinem Vater 8 9 10

Steven Marcus, Who Is Fagin? In: Commentary 34 (Juli 1962), S. 48-59. Lauriat Lane, Jr., Dickens' Archetypal Jew. In: PMLA 73 (1958), 94-100. Harry Stone, Dickens and the Jew. In: Victorian Studies 2 (1959), S. 223-253.

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eine Schuldhaft auferlegt wurde und auch die übrige Familie ins Gefängnis umzog, mehrere Monate lang mit dem Gefühl totaler Erniedrigung und Unbehütetheit in einer Schuhwachsfabrik, wo ihm der ältere Bob Fagin mehrmals spontan zur Seite stand. Aber wie stark man diesen autobiographischen Hintergrund auch veranschlagt, Fagin in Oliver Twist bleibt trotz desselben irischen Nachnamens dennoch ,the Jew' und ist andererseits zugleich ,the merry old gentleman', ein geläufiger zeitgenössischer Euphemismus für den Teufel.11 Wo dieser Jude letztlich eingeordnet werden kann, an welcher Stelle im kulturhistorischen Spannungsfeld zwischen dem archetypischen Urbild des Judenteufels und den alltäglichen antisemitischen Aversionen im England des frühen 19. Jahrhunderts, das bedingt als offene Frage die besondere Faszination der Figur. Anders als Fagin ist Isaac von York in Walter Scotts Roman Ivanhoe (1820) eine traditionsreiche Gestalt. Der jüdische Geldverleiher mit seiner Tochter Rebecca hat gleich zwei berühmte literarische Vorbilder: Barabas und Abigail; Shylock und Jessica. Aber verglichen mit Marlowe und Shakespeare hat Walter Scott seinen Juden moralisch deutlich aufgewertet. Isaac ist mißtrauisch, besitzgierig, unaufrichtig und notfalls auch hinterhältig, meist jedoch eher ängstlich als schlichtweg berechnend und niemals einfach brutal. Er erscheint als soziales Produkt einer Judenfeindlichkeit, auf die das christliche Selbstbewußtsein offenbar nicht verzichten kann. Der schematische Dualismus des jüdischen Wesens bei Edgeworth und Dickens, d.h. der Widerstreit zwischen den Restbeständen des mittelalterlichen Juden als antichristliches Monstrum und der pseudoaufklärerischen Alternative des vorbildlichen Juden mit seiner moralischen Makellosigkeit wird von Scott als strukturelle Vorgabe nicht wirklich akzeptiert. Bei ihm spielt der Jude zur Zeit der Kreuzzüge gegen Ende des 12. Jahrhunderts im spannungsgeladenen England eine durchaus komplexe Rolle, nicht nur als Geldgeber, den man finanziell in Anspruch nehmen und dennoch verachten kann, sondern zugleich auch als ein höchst problematisches Instrument christlicher Solidarität. Es ist nämlich kaum noch das Christentum per se, das hier Gemeinschaft stiftet, sondern eher - als dessen aggressive Begleiterscheinung - ein religiös motivierter Judenhaß. Die Juden sind für die untereinander verfeindeten Normannen und Angelsachsen gleichermaßen „a people, whom it was accounted a point of religion to hate, to revile, to despise, to plunder, and to persecute"12. Als Isaac auf der Suche nach Unterkunft vom sächsischen Edelmann Cedric wenn auch abschätzig behandelt, so doch zumindest aufgenommen wird, entrüstet sich ein anderer Gast in diesem Haus, ein normannischer Adliger und Ritter des Templerordens, mit großer Emphase darüber, daß er - »a defender of the Holy Sepulchre« (46) - die Nacht nun 11 12

Vgl. Rosenberg, From Shylock to Svengali, S. 125. Walter Scott, Ivanhoe. The Nelson Classics. London 1962, S. 68. Alle weiteren Zitate nach dieser Ausgabe.

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mit einem Judenhund (»a dog Jew«) unter demselben Dach verbringen muß. Ein Possenreißer liefert daraufhin den ironischen Kommentar: »By my faith, [...] it would seem the Templars love the Jews' inheritance better than they do their company.« (46) >Inheritance< und >company< (Erbschaft und Gemeinschaft): Mit diesen beiden Begriffen umreißt Scott das dialektische Spannungsverhältnis zwischen Christen und Juden. Das Selbstverständnis der Kreuzritter als militanter Glaubensverfechter verdeutlicht den prinzipiellen Anspruch des Christentums, durch Gottes Menschensohn als Messias die Erbschaft der alttestamentarischen Bundesformel angetreten und die spezifische Auserwähltheit des jüdischen Volkes universalistisch überwunden zu haben. Der Fortbestand des Judentums kann deshalb letztendlich weder erduldet noch schlichtweg ignoriert werden. Der Christ als Erbe des Juden bleibt dem eigenwilligen Nachleben seines Erblassers hilflos ausgeliefert. Die paulinische Sentenz, „Gott hat sein Volk nicht verstoßen, welches er zuvor ersehen hat" (Römer 11/2), impliziert die Gewißheit, daß auch der Jude dem Christentum bereits überantwortet ist, aber diese missionarische Euphorie konnte sich angesichts der jüdischen Zurückhaltung rasch in Haß und Abscheu verwandeln, weil sie eben nicht nur schlichte Bekehrungswünsche, sondern ein zentrales Moment christlicher Selbstbestätigung beinhaltete. Nicht beherrscht von diesem Grundproblem der christlich-jüdischen Antagonie, das Scott mit erstaunlicher Einsicht und Offenheit zur Sprache bringt, sind nur Richard I. Löwenherz - aus Palästina zurückgekehrt, als .Schwarzer Ritter' (>Black KnightKing of England< und der >King of Sherwood [Forest] < (511): Diese beiden Gegenpole stehen einander letztlich äußerst nahe. Nachdem König und Räuberhauptmann durch ihren gemeinsam geführten Eroberungsangriff auf eine wichtige Burg den entscheidenden Sieg über die Normannen errungen haben, erwägen im Beisein des immer noch unerkannten Richard Löwenherz alle Gefährten von Robin Hood sogleich die Frage, wie man denn nun am meisten Lösegeld erschachern könnte. Es gibt im Grunde nur zwei Gefangene, die dafür in Frage kommen: der Jude Isaac und der Prior Aymer. Als einer der .Offiziere' seiner Räuberbande den Vorschlag macht, »that the Prior should name the Jew's ransom, and the Jew name the Prior's« (392), reagiert Robin Hood spontan und enthusiastisch: »Thou art a mad knave, [...] but thy plan transcends!« (392) Der Begriff der Transzendenz ist hier entscheidend, denn was außer Kraft gesetzt wird, ist ein umfassendes kulturelles Paradigma: das systemdominante Ordnungsgefüge von Christentum und Judentum. Isaacs Schwierigkeiten, trotz seiner händlerischen Erfahrung nun ausgerechnet einen Christen wertend zu klassifizieren, sind ebenso offensichtlich wie die Empörung eben dieses Christen, von einem Juden überhaupt, d.h. wie auch immer, beurteilt und klassi-

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fiziert zu werden. Im Niemandsland von Sherwood Forest werden die hierarchischen Konventionen der Wechselbeziehung zwischen Christentum und Judentum unter der Regie von Robin Hood in Form eines burlesken Zwischenspiels schlichtweg ad acta gelegt, ohne durch ein alternatives System immanenter Abhängigkeiten ersetzt zu werden. Direkter und zugleich subtiler hätten die Mechanismen der Judenverachtung wohl kaum entlarvt werden können. Eine andere Episode ist in gewisser Weise zwar eine Parallele zum frevelhaften Sakrileg der Räuberbande, erweist sich aber zugleich als deutlicher Kontrast. Prince John, der Bruder von Richard Löwenherz, versucht sich mit Hilfe der Normannen selber als König zu etablieren und veranstaltet zu diesem Zweck ein glanzvolles Rittertumier. Sein Verlangen nach herrschaftlicher Selbstdarstellung führt u.a. auch dazu, daß er ganz oben auf einer Tribüne direkt neben Cedric und anderen sächsischen Adligen zwei Sitzplätze für Isaac und Rebecca konfisziert. Erneut werden soziale Regeln also ganz bewußt verletzt, hier aber nur, um bestimmte Herrschaftsansprüche zu dokumentieren. Prince John legt großen Wert darauf, gerade die Angelsachsen zu demütigen und gleichzeitig den Juden Isaac, den er selber auch für Finanzgeschäfte benutzt und deshalb ironisch als »my prince of usurers« (85) bezeichnet, mit spöttischer Höflichkeit zu erniedrigen. Da sich Cedric jedoch nicht bevormunden läßt, droht John ein offener Konflikt, und es ist nur der bereits erwähnte Possenreißer, der diesen Streit verhindert. Ein gewisses Gefühl der Niederlage bleibt Prince John freilich nicht erspart, und seine Reaktion ist bezeichnend: Er greift sich Isaacs Geldtasche, entnimmt ihr einen Obolus für den Possenreißer und behält den Rest als eigene Beute. Es ist mithin der jüdische Geldverleiher, der hier die Zeche für einen Konflikt bezahlt, an dem er selbst von Anfang an nur als Opfer beteiligt war. Die Fortentwicklung der konträren Judenthematik in der englischen Literatur des späteren 19. Jahrhunderts läßt sich hinsichtlich ihrer Extremtendenzen besonders deutlich am Beispiel von Anthony Trollopes The Way We Live Now (1875) und George Eliots Daniel Deronda (1876) illustrieren. George Eliot betreibt ganz unverhohlen eine mythische Idealisierung der jüdischen Tradition und des jüdischen Selbstbewußtseins. Als moralisches Vorbild repräsentiert der Jude hier eine neue, geradezu ekstatisch anmutende Vision kulturell bedingter eigenständiger Vervollkommnung. Die andere Alternative des traditionellen jüdischen >dual image< erfährt bei Anthony Trollope eine interessante Abwandlung. Der jüdische Bösewicht erscheint nämlich nicht mehr oder zumindest kaum noch als tatsächlicher Kontrahent, sondern eher als sozialpsychologische Schimäre, als Projektion all jener Ängste, Unsicherheiten und seelischen Entmündigungen, die das Individuum in einer komplexer gewordenen Gesellschaft belasten, ohne eindeutig verortet werden zu können. Judenfeindlichkeit von schlichter Antipathie bis hin zu haßerfüllter Verachtung bekommt so eine subjektivistische Ersatz-

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funktion, die den Juden als faktisches Gegenüber kaum noch benötigt, ihn bei Bedarf sogar in das eigene Wunschdenken integrieren kann. Schon das satirisch kollektive ,Wir' in Trollopes Titel The Way We Live Now impliziert eine Summe von Gemeinsamkeiten, die antisemitische Emotionen ebenso wie alle anderen Formen sozialer Selbstgefälligkeit zur schlichten Pose werden läßt. Es ist vor allem die Karriere des mysteriösen Augustus Melmotte, die diesen Tatbestand verdeutlicht. Melmotte, eine schattenhafte Figur, deren wahre Herkunft unklar bleibt, hat sich nach einer finanziellen Pleite in Paris, die er offenbar geschickt kaschieren konnte, mit Frau und Tochter nach London abgesetzt und betreibt dort einen neuen Aufstieg: Finanziell reüssiert er als Aufsichtsratsvorsitzender einer betrügerischen Aktiengesellschaft; den sozialen Anschluß an die englische Oberschicht betreibt er mit Hilfe seiner Tochter Marie, deren Mitgift hier die entscheidende Rolle spielt; in politischer Hinsicht erreicht er schließlich sogar einen Sitz im Unterhaus, um sich dann aber dramatisch zu desavouieren. Melmottes Karriere, die sich zunehmend auch der Kontrolle seiner eigenen grandiosen Hinterhältigkeit entzieht und deren Mißerfolg letztlich nicht mehr verheimlicht werden kann, involviert den moralischen und vielfach auch den finanziellen Bankrott einer ganzen Gruppe von Angehörigen der Londoner Bourgeoisie sowie des niederen und mittleren Adels. Sie alle hatten gehofft, von den nicht wirklich durchschaubaren, aber gerade deshalb umso eindrucksvolleren finanziellen Manipulationen eines Ausländers und Juden zu profitieren, ohne sich ihm verpflichtet fühlen zu müssen. Melmottes Judentum ist so dubios und obskur wie das Judentum diverser anderer Charaktere in diesem Roman. Der Name eines »Hebrew gentleman«13 und wichtigen Mitarbeiters von Melmotte - nämlich Samuel Cohenlupe („Cohen-lupus") - zeigt deutlich, daß Trollope als Satiriker die Rolle eines Juden gelegentlich auch direkt thematisiert. Insgesamt geht es aber vor allem darum, auf der figuralen Bewußtseinsebene den bloß spekulativen Charakter jüdischer Identität, ihre Substanzlosigkeit bis hin zur schlichten Willkür des bloßen Verdachts zu veranschaulichen. Von einem Chefredakteur namens Ferdinand Alf heißt es: »He was supposed to have been born a German Jew.« (I, 8), aber Genaueres erfährt man nicht. Vielmehr wird man als Leser geradezu einbezogen in die von Trollope ständig vorgeführte Lebenshaltung des bloßen Mutmaßens. Die Zeitung von Mr. Alf heißt »Evening Pulpit«: Wollte sich hier also womöglich ein Jude mit christlichen Assoziationen umranken? Genauso undurchsichtig ist das angebliche Judentum der Familie Melmotte. Der verarmte und allein deshalb in Marie Melmotte .verliebte' Sir Felix Carbury charakterisiert deren Mutter mit dem 13

Anthony Trollope, The Way We Live Now. 2 Bde. The World's Classics. London 1941, Bd. I, S. 340. Alle weiteren Zitate nach dieser Ausgabe.

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Kommentar eines seiner Freunde: »Dolly Longstaffe says that somebody says that she was a Bohemian Jewess; but I think she's too fat for that.« (I, 22) Maries Mutter hat immerhin »the Jewish nose and the Jewish contraction of the eyes« (I, 31), aber bei ihrem Ehemann und der Tochter lassen sich keine derartigen Merkmale feststellen. Später wird die Situation noch komplizierter, denn man erfahrt, daß Marie in New York geboren wurde und ihre wahre Mutter gar nicht kennt. Seine gegenwärtige Frau hat Melmotte erst in Frankfurt geheiratet, und damals erfuhr Marie auch, »that from henceforth she was to be a Jewess.« (I, 106) Dann aber ging man nach Paris, »and there they were all Christians.« (I, 106) Beim Wahlkampf in London will Melmotte öffentlich seinen Protestantismus verkünden, aber aus taktischen Gründen rät man ihm ab, denn das könne als jüdische Verlogenheit gewertet werden. Nach seinem Selbstmord wird in mehreren Biographien die Auffassung vertreten, daß sein Vater ein nach New York emigrierter Ire namens Melmody gewesen sei, aber auch das bleibt eine bloße Vermutung. Es gibt im Grunde nur einen einzigen Charakter in diesem Roman, dessen Judentum mehr ist als eine bloße Unterstellung aus figuraler oder ein satirisches Äquivalent gesamtkultureller Mißstände aus auktorialer Perspektive. Der erstaunlich offenherzige Ezekiel Breghert ist nicht nur gerüchtehalber „absolutely a Jew« (II, 92), sondern macht auch keinerlei Versuche, sein tatsächliches Judentum zu verschleiern. Und in anderer Hinsicht ist er gleichfalls von beängstigender Ehrlichkeit. Georgiana Longstaffe, die sich aus finanziellen Gründen dazu durchgerungen hat, seinen Heiratsantrag zumindest in Erwägung zu ziehen, ist höchst empört darüber, daß er ihren Vater, den sie eigentlich selbst für abscheulich hält, höflich zu kritisieren wagt. Solche Aufrichtigkeit - »such a liberty« (II, 274) - ist geradezu furchterregend, weil sie dem Usus des ständigen Taktierens zuwiderläuft. Der ganz abstrakt verachtete Jude wird hier ausnahmsweise einmal zur an sich stets vermiedenen Realität und eben deshalb äußerst unbequem, denn soziale Tatsachen haben ansonsten grundsätzlich nicht mehr die Angewohnheit, unverhohlen in den Blick zu treten. Der totale Wirklichkeitsverlust einer moralisch korrumpierten und vollkommen opportunistischen Gesellschaft, den Trollope in The Way We Live Now satirisch behandelt und für den die allseitige Verachtung kaum jemals klar identifizierter Juden nur eins von vielen Beispielen ist, hat ihr exemplarisches Muster im System der Schuldscheine, die den finanzschwachen und zumeist bargeldlosen Mitgliedern von Sir Felix Carburys Klub »The Beargarden« dazu dient, ihre Gewinne und Verluste untereinander festzuhalten. Mit diesen Verbindlichkeiten wird dann aber auch hinterrücks gefeilscht, manipuliert und vielfältig betrogen. Die Frage, wer eigentlich wem wieviel schuldet, ist deshalb letztlich ebenso unbeantwortbar wie die Frage, ob die Melmottes denn nun wirklich Juden sind oder nicht.

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Nur wenn man diese übergreifende thematische Funktionalisierung der Judenmotivik bei Trollope nicht zur Kenntnis nimmt, kann man Melmotte, wie Rosenberg es tut, schlicht als »a fitting complement to Fagin«14 verbuchen, nur dann ist der betrügerische Börsenspekulant und internationale Wirtschaftsverbrecher nicht mehr als ein etwas moderneres Pendant des selbstsüchtigen Organisators von Londoner Taschendieben. Ein solches Fehlurteil beweist, daß man sich trotz der zweifellosen Plausibilität des >dual image< als analytisches Grundschema sehr wohl hüten muß vor allzu formalistischen und stereotypen Zuordnungen. Dies gilt nun mit Sicherheit auch für die Alternative des jüdischen Charakters als kulturelles und moralisches Vorbild. George Eliots Daniel Deronda mag abschließend zeigen, wie groß auch hier die unterschwelligen Entfaltungsmöglichkeiten sind. Außer acht gelassen werden dabei die eklatanten stilistischen Mängel dieses Romans, in dem gerade die jüdischen Figuren wie Marionetten mit auktorialen Sprechblasen wirken. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Titelfigur Deronda. Schon lange bevor ihm sein eigenes Judentum enthüllt wird, verspürt er im Umgang mit Mirah, Mordecai und anderen Juden stets ein besonderes Zugehörigkeitsgefühl, eine Art innerer Verwandtschaft, ohne daß diese Empfindungen psychologisch auch nur im geringsten nachvollziehbar wären. Als Deronda zusammen mit Mordecai ein Treffen des Arbeiterklubs »The Philosophers« besucht, wird dort über den zeitgenössischen Stellenwert von Nationalbewußtsein und Patriotismus gesprochen, und diese Diskussion, bei der mehrere Juden den Standpunkt vertreten, daß solche Identifikationsmuster historisch überholt seien, verwandelt sich dann rasch in eine Auseinandersetzung über den politischen und sozialkulturellen Modus jüdischer Existenz. Dabei steht Deronda von vornherein ganz auf der Seite Mordecais, der jegliches jüdische Assimilationsstreben mit großer Emphase verwirft. Seine Diskussionspartner wollen ihr Judentum zwar keineswegs unterdrükken oder gar verleugnen, es aber ohne eigene Initiative den Automatismen der Akkulturation und sozialen Verschmelzung überlassen. Mordecai argumentiert demgegenüber, daß jüdisches Außenseitertum bedingt durch Vorurteile und Intoleranzen, mithin die Restbestände gesellschaftlicher Marginalität, auch mit »a fresh-made garment of citizenship«15, d.h. mit voller Einbürgerung in eine westliche Demokratie, ohnehin niemals ganz zu überwinden und es deshalb die Aufgabe aller Juden sei, sich ihrer eigenen Tradition wieder zuzuwenden. Dabei wird ganz deutlich, daß die Aufwertung des Judentums hier anders als bei Maria Edgeworth nicht mehr bloß moralisch ausgerichtet ist, sondern auf der Basis eines historischen und als »light

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Rosenberg, From Shylock to Svengali, S. 150. George Eliot, Daniel Deronda. Penguin Classics 1986, S. 587. Alle weiteren Zitate nach dieser Ausgabe.

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of the divine reason« (587) religiös inspirierten Selbstbewußtseins nach kultureller sowie letztendlich auch nationaler Eigenständigkeit verlangt. Was Mordecai propagiert, ist, wie Sol Liptzin zu recht bemerkt, »the legend of Israel Reborn«16, d.h. die Rückkehr der in aller Welt verstreuten Juden nach Palästina, in das »organic centre« (592) des Volkes Israel, um dort die Identität seiner religiösen und nationalen Existenz wiederherzustellen. Die zionistische Wallfahrt nach Palästina, die Deronda am Ende als geistiger Erbe des verstorbenen Mordecai unternimmt, hat insofern denn auch einen prophetischen Charakter. Voraussetzung dafür ist natürlich der entscheidende Wendepunkt des Romans. Per Brief wird Deronda von seiner bislang unbekannten Mutter zu einem Treffen nach Genua eingeladen. Dort erfährt er dann die Familiengeschichte. Seine Mutter berichtet ihm, wie stark ihr eigener Vater die rituellen Zwänge des orthodoxen Judentums mit allen ihren Konsequenzen gerade auch für die Rolle der Frau verfochten habe. Von dieser religiösen Sklaverei habe sie sich mit ihrem emanzipatorischen Drang erst befreien können, als ihr Vater verstorben und sie selber verwitwet war. Sie begann daraufhin eine höchst erfolgreiche internationale Laufbahn als Sängerin und Schauspielerin, und ihren Sohn, der ihre Unabhängigkeit beeinträchtigte, überließ sie einem englischen Verehrer zur Adoption.17 Jetzt ist sie tödlich erkrankt und fühlte sich verpflichtet, ihren Sohn noch einmal zu sehen. Dessen Reaktion allerdings verstört sie, denn Deronda erklärt voller Entzükken, nun habe sich »his fuller seif« (690), sein bislang nur unbewußt erahntes Judentum, bestätigt und als wahre Identität enthüllt. Seine Mutter kann diese Freude kaum ertragen, denn ihr steht damit der eigene Sohn als eben jener Enkel gegenüber, den ihr Vater sich immer erhofft hatte: »How could I know that you would have the spirit of my father in you? How could I know that you would love what I hated?« (690) Aus der kulturhistorisch-soziologischen Perspektive der späteren und gerade in den USA entwickelten Ethnizitätsforschung gewinnt diese melodramatische Episode fast so etwas wie die Brisanz einer wissenschaftstheoretischen Fabel. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als das amerikanische Judentum sich aus vielerlei Gründen erneut auf eine moralische und zum Teil auch gesellschaftlich-kulturelle Eigenständigkeit zu besinnen suchte, schien sich eine Gesetzmäßigkeit zu bestätigen, die der Historiker und Soziologe Marcus Lee Hansen für den Prozeß der Assimilation aller ethnischen Minoritäten entdeckt zu haben glaubte. Hansen ging davon aus, daß die dritte Generation - im Bewußtsein, ihr Emanzipationsbedürfnis befriedigt und 16 17

Sol Liptzin, Daniel Deronda. In: Jewish Book Annual 10 (1951-52), S. 44. Der Lebenslauf der Mutter exemplifiziert damit die Akkulturationsmechanismen im Bereich der Darstellungskunst, die später dann von Leslie Fiedler als entscheidende Antriebskräfte im Prozeß der jüdischen Amerikanisierung beschrieben worden sind. Vgl. Fiedler, The Jew as Mythic American. In: Ramparts 2 (Herbst 1963), S. 35.

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Anpassungsschwierigkeiten weitgehend überwunden zu haben - dem eigentlich schon verdrängten kulturellen Erbe der Großeltern mit Toleranz und neuem Interesse begegnet: »What the son wishes to forget the grandson wishes to remember.«18 Dieses Drei-Generationen-Schema ist oft angefochten bzw. modifiziert worden, als Beschreibungsmodell für neue Erscheinungsformen jüdischer Marginalität schien es in mancher Hinsicht jedoch durchaus geeignet. Auf jeden Fall bietet Hansens »principle of third-generation interest«19 einen höchst aufschlußreichen Einblick in die Strukturierungsformen sozialkultureller Randständigkeit, die in der jüdisch-amerikanischen Literatur schon seit Ende des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielten. Insofern hat George Eliot mit erstaunlicher Vehemenz ein zwar ganz abstrakt konstruiertes, in literarhistorischer Hinsicht aber äußerst zukunftsträchtiges Grundschema marginalitätsbedingter jüdischer Selbsterfahrung geliefert. Rosenbergs Studie From Shylock to Svengali endet mit einer ausführlichen Analyse von George Du Mauriers Trilby (1894), ein Roman, in dem der gespenstische Verführer Svengali den traditionsreichen Mythos des Ewigen Juden noch einmal aufleben läßt. Für eine Untersuchung, die sich auf stereotype Judenfiguren in den Werken nichtjüdischer Autoren beschränkt (nur Benjamin Disraeli bildet eine gewisse Ausnahme), ist dies in der Tat ein markanter Schlußpunkt. In unserem Kontext sollte aber noch kurz darauf hingewiesen werden, daß die Masseneinwanderung osteuropäischer Juden hauptsächlich in die USA, aber auch nach England, gerade im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eine neue genuin jüdische Narrativik im englischen Sprachraum erzeugte. Dafür noch zwei kurze Hinweise auf Israel Zangwill und Abraham Cahan. Zangwill war mit der jüdischen Gettokultur im Londoner East End persönlich sehr gut vertraut, weil er diesem Milieu selber entstammte, aber er schrieb ganz bewußt für ein englisches Publikum, und eben deshalb ist sein früher und letztlich auch größter Erfolg, Children of the Ghetto (1892), sachlich zwar äußerst informativ, inszeniert aber die Probleme jüdischer Marginalität im Grunde nur als fremdländisches Spektakel. Schon der Titel „Kinder des Gettos" impliziert in produktions- und rezeptionsästhetischer Hinsicht eine durchaus fragwürdige intellektuelle Überlegenheit und Distanz. Noch interessanter ist der nicht immer beibehaltene und manchmal auch veränderte Untertitel.20 Seine letzte Version lautet: »A Study of a Peculiar People«. Der entscheidende Punkt ist 18

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Marcus Lee Hansen, The Third Generation in America. In: Commentary 14 (November 1952), S. 495. Ebd. In den ersten beiden Jahren der Publikation (1892 und 1893) gab es drei verschiedene Versionen des Titels: Children of the Ghetto. Being Pictures of a Peculiar People. Philadelphia (The Jewish Publication Society of America) 1892; Children of the Ghetto. London (William Heinemann) 1892; Children of the Ghetto. A Study of a Peculiar People. London (William Heinemann) 1893.

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hier der unbestimmte Artikel: »The Peculiar People« ist das von Gott auserwählte Volk der Juden; als »A Peculiar People« sind die jüdischen Gettobewohner im Londoner East End zwar noch nicht schlichtweg »peculiar people«, d.h. allenfalls eine bloße Sehenswürdigkeit, aber die umgangssprachliche Bedeutung von »peculiar«, also »strange, odd, >queerSynagogenplatz< (piazza delle Scuole), nur einen einzigen Brunnen, der aber mit Wasser geizt, jedoch freigebig die gemeißelten Wappen der Familie Colonna zur Schau stellt." George Sand, Les Mississipéennes (1840; D); Maupassant, Mont-Oriol (1887; R); Paul Bourget, Cosmopolis (1893; R); Gyp, Les Gens chics (1895; DR); Maurice Donnay, Le Retour de Jérusalem (1903/04; D); Alfred Savoir / F. Nozière, Le Baptême (1907; D); Paul Claudel, Pain dur (1916; D). Sibylle Comtesse Martel de Janville (Ps. Gyp), Le Baron Sinai, Paris 1897; Chansons anti-juives, Paris 1898; Les Chapons, Paris 1902; Les Femmes du Colonel, Paris 1899; Le Friquet, Paris 1901; Israël, Paris 1898; Journal d'un grinchu, Paris 1898; dazu Michel Missoffe, Gyp et ses amis, Paris 1932, S. 87-176. Pierre Sorlin, »La Croix« et les Juifs (1880-1899), Paris 1967.

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den Juden beilegt: Sie heißen Baron de Schlemmerei, Baronin Auswurf aus Frankfurt, Baron Wildes-Swein, Graf Gabriel de Kleberig, Baron Judaskuss, Baron Münzer usw. Die Juden werden als Neureiche im Salon, bei der Jagd, im Négligé usw. lächerlich gemacht. Das Motiv der ungleichen Heirat könnte auf Guy de Maupassants Mont-Oriol (1877) zurückgehen, wo Christiane, die Tochter des Marquis de Ravenel, den Parvenü Andermatt, einen jüdischen Finanzmagnaten, heiraten muß, um den finanziellen Ruin der Familie aufzuhalten. Eine Tatsache, die viele Franzosen offenbar verwunderte, ist der hohe Bildungsstand der jüdischen Frau. Während die jüdischen Knaben neben der Landessprache das für das Studium der Thora unabdingbare Hebräisch erlernten, eine äußerst komplizierte Sprache, die noch dazu mit fremden Buchstaben verschilftet wurde, was ihre Intelligenz frühzeitig schulte, waren die Mädchen von dieser Bildung im allgemeinen ausgenommen. In mehreren französischen Werken des 19. Jahrhunderts39 kommen jedoch Frauen vor, die fast den gleichen Bildungsstand wie Knaben aufweisen und an dieser hohen Bildung partizipiert haben. Als Beispiel soll hier die Komödie des Sängers, Kabarettisten und Theaterschriftstellers Maurice Donnay (1859-1945) mit dem Titel Le Retour de Jérusalem genannt werden,40 der von 1880 bis 1910 auf französischen Bühnen ungeahnte Erfolge feierte. Im Zentrum des Stücks steht der Schriftsteller Michel Aubier, Sohn reich gewordener Bürger und Demokraten, die sich den Luxus eines Schlosses in der Provinz leisten können. Er läßt sich von seiner Frau scheiden, um die Jüdin Judith Chouzé geb. Fuchsyani zu heiraten. Sie, die Enkelin eines Rabbiners, ist hochgebildet und eine frühe Zionistin. Sie war in Jerusalem und hat an der Klagemauer ihre Rassegenossen weinen sehen. Dies hat sie veranlaßt, sie auf jede Weise zu fördern. In der Wohnung, die sie mit Michel einrichtet, empfängt sie nur jüdische Freunde, die Michel im Lauf der Zeit immer verhaßter werden. Judith steigert sich derart in ihre zionistischen Pläne hinein, daß es schließlich zur Trennung kommt. Michel hat jetzt alles verloren! In einem ausführlichen Vorwort verteidigt sich der Verfasser gegen Anti- wie auch Philosemitismus, was ihm beides vorgeworfen wurde. Er habe sich in seinem Stück, das ab 1898/90 in kurzer Zeit über 100 Aufführungen erlebt habe, um eine neutrale Darstellung eines wichtigen gesellschaftlichen Problems bemüht.

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Vgl. z.B. J. Méry, La Juive au Vatican, ou Amor e Roma (1851; R); Alexandre Dumas Fils, La Femme de Claude (1873; D); Maurice Donnay, Le Retour de Jérusalem (1903/04; D) usw. Maurice Donnay, Le Retour de Jérusalem. Comédie en quatre actes. Représentée pour la première fois sur le théâtre du Gymnase le 3 Décembre 1903. Paris 1904, bes. die .Préface". Vgl. dazu die Kritik von Catulle Mendès in: Le Journal vom 4. Dez. 1903.

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In anderen Romanen kommen Juden vor, die als Politiker, meist als Sozialisten und Fortschrittler, in Frankreich Karriere machen.41 Der interessanteste diesbezügliche Roman, Les Morts qui parlent (1899), stammt von Eugène Vicomte de Vogüé (1848-1910). Er spielt im Parlamentsmilieu der Dritten Republik zur Zeit der Panama-Affare (gegen 1891). Die Radikalen sind an der Macht, aber der Held ist der Sozialistenführer Elzéar Bayonne, der in allem Ferdinand Lassalle imitiert. Seine Familie stammt ursprünglich aus Toledo, wanderte dann nach Rußland aus und siedelte zu guter Letzt nach Paris über, wo der Großvater im Marais eine Düngerhandlung gründete. Vorbild könnte vielleicht die Familie Reinach gewesen sein. Elzéar liebt eine russische Prinzessin, Daria Véraguine, eine zwanzigjährige schöne Witwe. Die Schauspielerin Rose Esther, Elzéars Kusine dritten Grades, eine gewesene Lehrerin, die zum Theater ging, um in der Hauptstadt Karriere zu machen, und eine bessere Kurtisane ist, gibt sich ihm hin und kann ihn bewegen, politische Entscheidungen in ihrem Sinn zu fallen, die ihr den Zugang zur Comédie Française ermöglichen. Sie gibt sich Daria gegenüber als seine Geliebte zu erkennen und führt so einen schweren Konflikt zwischen den Liebenden herbei. Daria erwartet von Elzéar, daß er das ihm angetragene Ministerium abschlägt und stattdessen im Parlament einen flammenden Appell für Pazifismus, Sozialismus und Humanismus hält. Als Elzéar dies nach einigem Zögern tut, wird er im Parlament verhaftet; er ist ruiniert und seine Karriere beendet.42 - Der Roman enthält zahlreiche Hinweise auf 41

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Robert de Bonnières, Les Monach (1885; R); Fernand Vanderem, Les Deux Rives (1891; R); E.-M. de Vogüé, Les Morts qui parlent (1899; R). Man lese z.B. das folgende Zitat aus Fernand Vanderem, Les Deux Rives. Roman, Paris "1897, S. 35 (eigene Übers.): „Man konnte Schleifmann nicht zu den schlauen Juden zählen, die ihr Judentum aus Angst vor Vorurteilen, Oberflächlichkeit der Menge, beruflichen oder gesellschaftlichen Erwägungen verleugneten. Sein Antisemitismus resultierte im Gegenteil aus der Liebe zu seiner Rasse und atavistischem Stolz. Wenn er als Antisemit erschien, so sollte es im Stil eines Jeremía, Jesaja oder Amos sein. In Wahrheit wehte der rauhe Wind der alten Propheten in seinem Herzen. Er verfluchte die Angehörigen seiner Religion nur, weil sie sich dem Schicksal Israels entzogen und sich in frivolen Nichtigkeiten korrumpierten, statt die Welt durch den Einfluß ihres Denkens zu regieren. Dieser semitische Stolz hatte alle Schwierigkeiten seines Abenteurerlebens bewirkt. Doktor der Naturwissenschaften der Universität Lemberg, hatte er nicht gezögert, das alte mosaische Gesetz zu vernachlässigen, um den neuen Glauben anzunehmen, der sich im Universum ausbreitete: den Sozialismus. Ihm zufolge waren die Juden seine Initiatoren gewesen, wie schon des anderen Glaubens. Karl Marx und Lassalle diinkten ihn die modernen Abgesandten Jehovas auf Erden, um das neue Evangelium und die ökonomische Religion der Zukunft zu bringen. Er hielt ihre Werke fast für Heilige Schriften und freute sich, einmal mehr die göttliche jüdische Vorherrschaft durch ihre Schriften bestärkt zu sehen. Er hatte sich den wichtigsten sozialistischen Gruppen der Stadt angeschlossen und betrieb in den Vororten aktive Propaganda. Aber drei Monate Festungshaft, zehn Jahre Aufenthaltsverbot brachten plötzlich seinen Eifer, wenngleich nicht seinen Glauben zum Erliegen." Le V" E.-M. De Vogüé, Les Morts qui parlent. Scènes de la vie parlementaire, Paris 1899, S. 321 (eigene Übers.): „ - Ich rufe Sie zur Ordnung! - Schweigen Sie! - Elender! - Zurück auf deinen Misthau-

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das damalige Judentum. Der Autor ist kein Rassist, wenn auch kein Judenfreund, und er hat sich bei seiner Darstellung nicht von antijüdischen Klischees freimachen können. Immerhin ist ihm mit der leidenschaftlichen Gestalt Elzéars das positive Bild eines aufrechten, für die Ideale der Revolution kämpfenden sozialistischen Politikers gelungen. Für viele Franzosen scheint der jüdische Kosmopolitismus aus nationaler Sicht ein Stein des Anstoßes gewesen zu sein, was sich auch in der Literatur niederschlägt.43 Der bekannte deutsche Journalist Theodor Wolff, der lange als Reporter in Paris gelebt hatte und vor den Nazis nach Frankreich floh, hat wenige Monate vor seinem Tod ein Werk mit dem Titel Die Juden44 begonnen. Er schreibt: Die Zahl der in Frankreich ansässigen Juden hat sich unter der Republik nicht unerheblich vermehrt und sehr viele derjenigen, die erst vor kurzem eingewandert waren, erhielten das französische Bürgerrecht. Diese neuen Franzosen kamen aus Berlin oder Frankfurt - »Juif de Francfort« war der beliebte Spitzname aus dem Lexikon der Antisemiten - und anderen deutschen Städten, aus Österreich, Polen, Rußland, dem Balkan und der Türkei; Engländer, Amerikaner, Südamerikaner, Spanier und Skandinavier ersuchten fast niemals, auch dann nicht, wenn sie sich hier dauernd angesiedelt hatten, um die Gewährung der französischen Nationalität.

Dieses zutreffende Zitat belegt zweierlei: Zum einen wollten die französischen Neubürger hundertprozentige Franzosen sein; zum anderen waren sie als Juden und aus Deutschland oder der K.u.K.-Monarchie stammende Bürger mehrsprachig und daran gewöhnt, in übernationalen Kategorien zu denken, was sie in Frankreich verdächtig machte. Der französische Erzähler Paul Bourget (1852-1935) hat in dem Roman Cosmopolis (1893) mit dem Baron Justus Hafner, der protestantisch-jüdischer Abkunft ist und seine Tochter an den Prinzen Ardea verkuppelt, den Prototypen des Kosmopoliten geschaffen. Aber auch der spätere Nobelpreisträger Romain Rolland (1866-1944)

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fen! - Hinaus mit dir, elender Jud'! Die Stimme wurde heiser, zwang sich zu einem letzten Aufschrei und ließ diese Worte vernehmen: - Jude, sagen Sie! Ja, ich bin der Jude: aber nicht einer, der euch wegen der Macht des Goldes diente, das euer einziger Gebieter ist! Ich bin der Jude, der aus der Tiefe der Jahrhunderte unseren alten Ruf nach Gerechtigkeit heraufholt, den Ruf nach Befreiung eurer unterdrückten Brüder wie auch der meinen! Ich bin der Jude, dessen Hand auf euren Mauern die drei schicksalsschweren Worte eingegraben hat, jene drei Worte (gemeint sind >Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), die ihr seit hundert Jahren Lügen straft und worin ihr Unseligen nicht das Todesurteil über euer Babylon habt erkennen wollen!" Beispielhaft Édouard Drumont, La France Juive. Essai d'histoire contemporaine, Paris, Nouvelle édition (o.J.), I, 376f. Als „deutsche Juden", die Frankreich unterwandert hätten, werden Offenbach, Halévy, Wittersheim, Kugelmann, Dollingen, Cerf (= Hirsch), Lewita, Lefysohn, Deutsch, Germain Sée, Albert Wolff, Adrien Marx, Jules Cohen, Waldteufel, Philipp Koralek, Jean-Marie Bauer u.a. genannt, die z.T. in Frankreich geboren, z.T. gar nicht jüdischer Abkunft waren. Theodor Wolff, „Die Juden". Ein Dokument aus dem Exil 1942/43. Hrsg. und eingeleitet von Bernd Sösemann, Königstein 1984, S. 230.

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hat in seinem ansonsten auf Völkerverständigung angelegten Zyklenroman Jean Christophe (1904/12) ein negatives Bild der kosmopolitischen jüdischen Gesellschaft im Paris der Dritten Republik entworfen, was umso erstaunlicher ist, als Rolland in erster Ehe mit der Jüdin Clotilde Bréal verheiratet war.45 Eine Sonderstellung bei der Behandlung des Judentums in der Literatur nehmen die elsässischen Autoren ein. Das elsässische Dorfjudentum war weitgehend akzeptiert und in die bäuerliche Gesellschaft integriert. Juden und Christen lebten friedlich miteinander und tolerierten sich gegenseitig. Diese idyllische Welt wird insbesondere von dem Erzählerpaar Emile Erckmann (1822-1899) und Alexandre Chatrian (1826-1890) verklärt. Ihr Roman L'Ami Fritz (1864) und die Fortsetzung Le Blocus (1867) sind heute noch populär, wozu die zahlreichen Verfilmungen des Ami Fritz nicht wenig beigetragen haben dürften. Dieser Roman schildert den Versuch des Rabbi David Sichel, den reichen Junggesellen Fritz Kobus mit Suse, der Tochter seines Pächters, zu verheiraten. Hier ist das übliche Abhängigkeitsverhältnis von Jude und Christ umgedreht, denn Fritz Kobus leiht dem armen Rabbi und seiner Familie Geld, ohne Zins zu nehmen.46 Dem Rabbi gelingt es 45

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Romain Rolland, Johann Christof in Paris. Übers, von Erna und Otto Grauthof, Frankfurt a.M. 1931; hier II, S. 116/117: „Es gab ziemlich viele Jüdinnen in den Kreisen, die Christof besuchte, und er fühlte sich von ihnen angezogen, obgleich er sich seit seiner Begegnung mit Judith Mannheim kaum mehr Illusionen über sie machte. Sylvain Kohn hatte ihn in einige israelitische Salons eingeführt, in denen er mit der gewohnten Intelligenz dieser Rasse, welche die Intelligenz liebt, empfangen wurde. Christof traf dort beim Essen mit Finanzleuten, Ingenieuren, Zeitungsmachern, internationalen Maklern, einer Art algerischer Sklavenhändler - lauter Geschäftsleuten der Republik zusammen. Sie waren scharfblickend und energisch, gegen andere gleichgültig, liebenswürdig, mitteilsam und verschlossen. Christof hatte manchmal das Gefühl, daß sich hinter diesen harten Stirnen vergangene oder zukünftige Verbrechen der Männer verbargen, die da um den üppigen, mit Fleisch und Blumen beladenen Tisch zusammensaßen. Fast alle waren häßlich. Dagegen machte die Frauenschar in dem Gesamtbild einen ziemlich glänzenden Eindruck. Man durfte sie indes nicht aus zu großer Nähe betrachten. Der Farbe und den Zügen der meisten fehlte die Feinheit. Aber sie besaßen Frische, ein Äußeres, das eine ziemlich starke Lebenskraft verriet, schöne Schultern, die den Blicken stolz entgegenblühten, und eine angeborene Kunst, aus ihrer Schönheit und sogar aus ihrer Häßlichkeit eine Männerfalle zu machen. Ein Künstler hätte in manchen den alten römischen Typus, Frauen aus der Zeit Neros und Hadrians, wiedergefunden. Man sah auch an Palma Vecchio erinnernde Gestalten von wollüstigem Ausdruck, mit schwerem Kinn, festem Halsansatz, Gestalten, von fast tierhafter Schönheit. Andere hatten üppiges gelocktes Haar, brennende, kecke Augen; man spürte, sie war schlau, scharf, zu allem bereit, männlicher als die anderen Frauen und dennoch weiblicher. Von dieser Herde hob sich da und dort auch ein vergeistigteres Profil ab. Seine reinen Züge gingen noch hinter Rom zurück, zum Lande Labans: man glaubte in ihm die Poesie des Schweigens, die Harmonie der Wüste zu spüren. Wenn sich aber Christof näherte und vernahm, was für Reden Rebekka mit Faustina, der Römerin, oder St. Barbara, der Venezianerin, tauschte, so fand er eine Pariser Jüdin wie die anderen, noch pariserischer als eine Pariserin, noch gekünstelter und gefälschter, die seelenruhig Bosheiten sagte und Leib und Seele der Menschen mit ihren Madonnenaugen entblößte." Emile Erckmann-Alexandre Chatrian, L'Ami Fritz, Paris 1977 (= Livre de Poche 4882), S. 9 u. 11 (eigene Übers.):

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seinerseits, ihn am Schluß des Romans mit dem armen Mädchen zu verheiraten und glücklich zu machen. Elsässer sind auch D. Stauben, Alexandre Weill und David Léon Cahun, die alle drei Autobiographien hinterlassen haben, in denen ihre elsässische Kindheit ausführlich gewürdigt wird.47 Zumal Cahun wurde als Autor von Kinderbüchern berühmt, in denen er Juden wichtige militärische und Entdeckungsleistungen zuschreibt. In seiner Autobiographie La Vie juive (1886) entwickelt er das Bild des kämpferischen Juden, der darauf brennt, das Elsaß aus preußischer Gewalt zu befreien und für Frankreich wiederzuerobern. Wenn die Darstellung von Juden und Judentum in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts bis zur Dreyfus-Affäre insofern ausgeglichen ist, als antijüdischen Verzemingen positive und ausgewogene Darstellungen gegenüberstehen, so ist die literarische Bewältigung der Dreyfus-Affäre selber positiv. Man kann fast die These wagen, daß die Franzosen in dieser Affäre ihren Antisemitismus weitgehend überwunden hätten und daß es danach keinen ausgemachten Antisemitismus mehr gab, trotz Autoren wie Charles Maurras (1868-1952), dem Begründer der »Action Française«, die royalistisch und antisemitisch eingestellt war, und trotz Autoren wie Louis-Ferdinand Céline (1894-1961) und Pierre Drieu la Rochelle (1893-1945), dem Autor des profaschistischen Gilles (1941), die unter dem Vichy-Régime mit

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,JDa war vor allem der alte Rabbiner David Sichel, der größte Heiratsvermittler, den es jemals auf dieser elenden Welt gab, dieser alte Rabbiner, der Fritz unbedingt verheiraten wollte. Man hätte meinen können, er habe seine Ehre für den Erfolg dieser Angelegenheit verpfändet. Und das schlimmste war, daß Fritz Kobus den alten David herzlich lieb hatte. Er hatte ihn lieb, weil er ihn von Kind an von morgens bis abends bei seinem furchtgebietenden Vater, dem Friedensrichter, hatte sitzen sehen; weil er ihn schon an seiner Wiege hatte näseln, streiten und schreien hören; weil er schon als Kind auf seine mageren Schenkel geklettert war, um ihn am Bart zu ziehen; weil er von seinen Lippen Jiddisch gelernt hatte, auf dem Hof der alten Synagoge gespielt und schon als ganz kleines Kind in der Stiftshütte gespeist hatte, die David Sichel wie alle Söhne Israels bei sich zu Hause am Laubhüttenfest errichtete [...]. Fritz lachte, bis ihm die Tränen kamen. Sie gingen gemeinsam nach oben, um zusammen ein Glas Kirschwasser zu trinken, welches der alte Rabbiner nicht verschmähte. Sie unterhielten sich auf jiddisch über die Angelegenheiten des Dorfes, die Getreidepreise, das Vieh, überhaupt alles. Manchmal brauchte David Geld, und Kobus schoß ihm große Summen zinslos vor. Kurzum, er liebte den alten Rabbi, er liebte ihn sehr, und David Sichel, aber auch seine Frau Surle und seine beiden Söhne Isidor und Nathan, hatten keinen besseren Freund als Fritz; nur, David mißbrauchte seine Freundschaft, um ihn zu verheiraten." Weitere Einzelheiten bei Pierre-Pascal Furth, »Le Personnage du juif dans l'œuvre d'Erckmann-Chatrian«. In: Europe 549/50, Jan./Febr. 1975, S. 106-113; R. Neher, »Les Juifs dans l'œuvre d'Erckmann-Chatrian«. In: Evidences Nov. 1960, S. 30-36. Daniel Stauben (Ps. Auguste Widal), Scènes de la vie juive en Alsace, Paris 1860 (er übers, auch Leopold Kompert, Scènes du ghetto, Paris 1859; Nouvelles juives, Paris 1873); A. Weill, Ma jeunesse, Paris 1888 (4 Bde); zu Cahun Mülsch (Anm. 28); FrankRutger Hausmann, „David Léon Cahun (1841-1900) und das elsässische Judentum im 19. Jahrhundert", in: Hans Otto Horch (Hrsg.), Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur, Tübingen: Francke Monographien 1988, S. 187-206.

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den Nazis paktierten.48 In der Dreyfus-Affáre hat sich die Mehrheit der französischen Schriftsteller - zu nennen sind Emile Zola (1840-1902), Octave Mirbeau (1848-1917), Anatole France (1844-1924), Roger Martin Du Gard (1881-1958), Marcel Proust (1871-1922) 49 - für eine Durchdenkung der Hintergründe des Antisemitismus und seine Überwindung eingesetzt. Der deutsche Publizist Hermann Bahr (1863-1934) hat um 1893 mehrere französische Intellektuelle zum Antisemitismus interviewt.50 Allein Alphonse Daudet (1841-1897), der aus einer ruinierten Fabrikantenfamilie stammte und mit Drumont befreundet war, gibt sich wie schon in seinem Roman Les Rois en exil (1879) als Antisemit zu erkennen. Maßgeblicher ist jedoch das, was z.B. Charles Morice (1861-1919), ein Schriftsteller des Mallarmé-Kreises, ein Idealist und Mystiker, zu Protokoll gibt, der stellvertretend für viele spricht: Ich spreche als Dichter, als Künstler. Ich habe mich gefragt: Welche Stellung hat heute im modernen Staate der Poet, der Denker? Und ich habe gefanden, daß eine Gesellschaft, welche von Advokaten, statt von Philosophen geführt wird, einem Menschen gleicht, der auf dem Kopfe gehen und mit den Füßen denken würde. Wer hat die Schuld? Wer verhindert die natürliche Ordnung der Dinge? Das Geld. So bin ich von der Stellung der Dichter und Denker, zu den Fragen des Geldes und vom Gelde zu den Juden und von den Juden auf die Antisemiten gekommen, die ich töricht, ungerecht und gegen die Kultur gefunden habe. Was sind ihre Beschwerden? Von den religiösen will ich lieber schweigen, da sie wirklich gar zu albern sind; aber auch die nationalen taugen nicht mehr, weil der Jude, wie ihm ein Land die bürgerlichen Rechte gewährt, der beste und treuste Patriot ist - im Jahre 1871 haben etwa 60 % der elsäßischen Juden für Frankreich gestimmt. Bleiben also nur die ökonomischen Fragen. Aber die Zahl der reichen Juden ist klein, und wenn man sie vertreiben würde, hätte man noch lange nicht den Kapitalismus vertrieben; es würden nur die protestantischen und katholischen Ausbeuter profitieren. So sind alle Lehren der Antisemiten eitel, leer und nichtig. Sie verleugnen die beste Errungenschaft unserer Vergangenheit, den großen Satz der Revolution, daß die Rechte aller Menschen gleich sind, sie machen erst das aus dem Juden, was sie an ihm tadeln: Sie entfremden ihn dem Volke, indem sie ihn verfolgen - wie denn der russische Jude Jude, der französische Jude Franzose ist. Sie schädigen die Kultur, welche die Juden braucht 48

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Zu Gilles vgl. Margarete Zimmermann, Die Literatur des französischen Faschismus. Untersuchungen zum Werk Pierre Drieu La Rochelles 1917-1942, München 1979 (= Freiburger Schriften zur Romanischen Philologie 37), S. 201ff.; zu Célines Bagatelles pour un massacre (1937), wo das Scheitern des Versuchs, ein Ballett aufzuführen, auf eine jüdisch-zionistische Verschwörung zurückgeführt wird, Eva Förster, Romanstruktur im Werk Célines, Heidelberg 1978. - Noch die Niederlage von 1940 wird den Juden in die Schuhe geschoben, vgl. Wolfgang Babilas, »La Querelle des mauvais maîtres«. In: Romanische Forschungen 98, 1986, S. 120-152. C. Delhorbe, L'Affaire Dreyfus et les écrivains français, Neuchâtel 1932; P. Boussel, L'Affaire Dreyfus et la presse, Paris 1960; R. Laubert, Die historischen Grundlagen in Jean Barois von Roger Martin du Gard, Phil. Diss. Tübingen 1960; E. Carassus, »L'Affaire Dreyfus et l'espace romanesque: De Jean Santeuil à la Recherche du temps peidu«. In: Revue d'Histoire Littéraire de la France 71, 1971, S. 836-853. Hermann Bahr, Der Antisemitismus. Ein internationales Interview. Hrsg. und mit einem Anhang versehen von Hermann Greive, Königstein 1979.

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weil ihr diese Rasse große, seltene, unentbehrliche Gaben bringt: Ihre wunderbare Kraft, die sie in aller Not und Verfolgung erhalten hat, ihren unvergleichlichen Verstand und das Ideal der unbeugsamen Gerechtigkeit, welches das arische Ideal der Liebe ergänzen muß. Das sind die Ergebnisse meiner Forschungen.51 Daß jedoch nicht alle Autoren den Antisemitismus abgelegt hatten, zeigt eine recht doppeldeutige Aussage von André Gide (1869-1951) aus seinem Tagebuch vom Januar 1914.52 Er plädiert nämlich dafür, eine eigene jüdische Literatur in Frankreich zu schreiben und weist damit den Juden auch eine literarische Außenseiterposition zu. Er erregt sich weiterhin über Léon Blum (1882-1950), der immer den Juden in den Vordergrund rücke. Aus Gides Zitat wird deutlich, daß die große Zahl französischer Juden, die sich inzwischen schriftstellerisch betätigten, den nichtjüdischen Autoren ein Dorn im Auge gewesen sein müssen, und man kann nicht zu Gides Entschuldigung anführen, daß er doch mit dem jüdischen Autor George de Porto-Riehe (1849-1930) befreundet war. Dem stehen viele andere Autoren gegenüber, die Gide offenkundig meint, wenn er von einer eigenen jüdischen Literaturgeschichte spricht: Diese Autoren sind Catulle Mendès (1841-1909), Julien Benda (1867-1956), Marcel Schwöb (1867-1905), Henri Bergson (1859-1941), André Suarès (1868-1948), André Maurois (1885-1967), Henry Bernstein (1876-1953), um nur die wichtigsten zu nennen. Gides negatives Urteil könnte ein Nachhall der Dreyfus-Affare sein, die auch liberale Geister verwirrt hatte. Ähnlich fanatisch ist Léon Bloys (1846-1917) Schrift Le Salut par les Juifs (1892), eine eigenartige Antwort auf Drumonts La France juive, das Bloy wegen seiner politischen und ökonomischen Stoßrichtung empörte. Er sieht in der ,Judenfrage' ein ausschließlich religiös-anthropologisches Problem: Israel habe als auserwähltes Volk nach wie vor eine Sonderstellung. Die fortdauernde Verfolgung der Juden werde erst enden, wenn sich die Juden zum Christentum bekehrten und im Heiligen Geist den Messias anerkennten. Erst dann werde der gekreuzigte Christus vom Kreuz herabsteigen, und seine Passion werde enden.53

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53

Bahr (Anm. 50), S. 83. André Gide, Journal 1889-1939, hier 24. Januar 1914, in: Bibl. de la Pléiade 1951, S. 395-397; vgl. auch Wolff (Anm. 44), S. 90. Dt.: Das Heil durch die Juden, übers. C. ten Holder, Heidelberg 1953; vgl. R. Barbeau, Un prophète luciférien, Paris 1957, S. 242-277.

Wolfgang Frühwald (München)

Antijudaismus in der Zeit der deutschen Romantik

Am 22. August 1819 berichtete Ludwig Robert aus Karlsruhe seiner Schwester Rahel Varnhagen in Baden (bei Rastatt) von den Exzessen der „HepHep-Bewegung" im deutschen Südwesten: Was die Judengeschichten betrifft, so glaube ich, dass man sie für unwichtiger hält, als sie sind. In Heidelberg sind vier Häuser total geplündert worden, Betten aufgeschnitten u.dgl. [...] Gestern endlich ist es denn auch hier losgegangen. Die Hilfe war aber schnell da, und ausser dem bekannten Ruf und einiges Pochen an Fensterladen ist nichts vorgefallen.

In ihrem berühmt gewordenen Brief vom 29. August 1819 hat Rahel darauf geantwortet und als intellektuelle Urheber des Pogroms die Professoren Jakob Friedrich Fries und Christian Friedrich Rühs genannt, die 1816 über „die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden" geklagt, beziehungsweise die „Rechte des Christentums und des deutschen Volkes gegen die Ansprüche der Juden und ihrer Verfechter" verteidigt hatten, dazu Achim von Arnim und Clemens Brentano, deren Auftreten in der 1811 in Berlin gegründeten „Deutschen christlichen TischGenossenschaft" durch eine öffentliche Kontroverse und durch Brentanos Satire Der Philister vor, in und nach der Geschichte bekannt geworden war, und schließlich Karl Borromäus Sessa, dessen dramatische Satire auf das Judenleben Unser Verkehr in Berlin sogar zum Eingreifen des Staatskanzlers geführt hatte.1 Ich bin gränzenlos traurig", beginnt Raheis Brief, und in einer Art wie ich es noch gar nicht war. Wegen der Juden. Was soll diese Unzahl Vertriebener thun. Behalten wollen sie sie: aber zum Peinigen u[nd] Verachten; zum Judenmauschel schimpfen; zum kleinen dürftigen Schacher; zum Fußstoß, und Treppenrunterwerfen. Die Gesinnung ist's die verwerffliche gemeine, vergiftete, durch und durch faule die mich so üef kränkt, bis zum herzerkalten? Schrek. Ich kenne mein Land! Leider. Rahel Vamhagen: Briefe und Tagebücher aus verstreuten Quellen. Hrsg. von Konrad Feilchenfeldt. München 1983, S. 579f., 583. Das folgende Zitat ebd. S. 583. Zur Situation vgl. Hans-Joachim Neubauer: Auf Begehr: Unser Verkehr. Über eine judenfeindliche Theaterposse im Jahre 1815. In: Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herben A. Strauss. Hrsg. von Rainer Erb und Michael Schmidt. Berlin 1987, S. 313-327; Stefan Rohrbacher: Die ,Hep-Hep-Krawalle' und der .Ritualmoni' des Jahres 1819 zu Dormagen. Ebd. S. 135-147.

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In wenigen Sätzen hat Rahel Varnhagen damit das Schicksal der Juden in Deutschland umrissen, die selbst in den gebildeten Kreisen den ,Makel' ihrer Herkunft trugen, sozial stigmatisiert und von den Errungenschaften der bürgerlichen Bewegung auch im Zeitalter der Vernunft ausgeschlossen waren. Die von aufgeklärten Staatsmännern erkannte ökonomische und soziale Notwendigkeit der bürgerlichen Gleichstellung der Juden in Deutschland wurde seit dem Ende des 18. Jahrhunderts heftig diskutiert und weithin abgelehnt, wobei die Debatte in den Jahren des Kampfes um Hardenbergs Emanzipationsedikt in Preußen (1811/12) einen Höhepunkt erreichte und von den Wortführern der Hoch- und Spätromantik getragen wurde. So verbindet sich für Rahel die Judenhetze in Deutschland nicht ohne Grund mit ihrer Vorstellung der romantischen Bewegung: Die Gleißnerische Neuliebe zur Kristlichen Religion Gott verzeihe mir meine Sünde!, zum Mittelalter, mit seiner Kunst, Dichtung und Gräueln, hetzen das Volk zu dem einzigen Gräuel zu dem es sich noch an alte Erlaubniß erinnert, aufhezen liißt\ Judensturm. Die Insinuatzion die seit Jahren alle Zeitungen durchlaufen. Die Professoren Fr:[ies] und Rü:[hs], und wie sie heißen. Arn:[im] Brent:[ano], unser Verkehr; und noch höhere Personen mit Vorurtheil. Es ist nicht Religionshaß: sie lieben ihre nicht, wie wollten sie andere hassen: kurtz wozu die Worte die ich ohne Ende häufen kann: es ist lauter Schlechtes; - That, und Motif; und nicht die That des Volks, das man hep schreien lehrte.

Der tiefgreifende, an die Wurzeln des Menschenbildes reichende Emanzipations- und Toleranzgedanke des 18. Jahrhunderts tritt hier gegen die dezidierte Ablehnung dieses Toleranzgedankens als der Signatur des Indifferentismus an, die Wiederentdeckung des Christentums und zumal des Katholizismus, die Festigung der Orthodoxie und der Unterscheidungslehren (im Zeitalter der Restauration) kollidierten mit dem Assimilationsbegehren des deutschen Judentums, so daß aus ökonomischen, politischen, sozialen, kulturellen und ideologischen Elementen eine Gemengelage entstand, in der die Fortschritte, die in den zwei Generationen seit Moses Mendelssohn vergangen waren, radikal in Frage gestellt wurden. „Hep", das heißt „Hierosolyma est perdita" oder viel einfacher: )rJude", rief man Moses Mendelssohns Enkel, Felix Mendelssohn-Bartholdy, der 1818 mit neun Jahren erstmals öffentlich als Pianist aufgetreten war, auf der Straße grinsend ins Gesicht; und schrecklicher noch als diese offene Verachtung ist der latente Antijudaismus, der auch die Schriften so vornehmer Gestalten wie Achim von Arnims, seiner Freunde Jacob und Wilhelm Grimm und seines Schülers Joseph von Eichendorff prägt. In den zwei Generationen von Moses bis Felix Mendelssohn, die Abraham Mendelssohn, Felix Mendelssohns Vater und der Bruder von Dorothea Schlegel, mit dem Bonmot charakterisiert hat, er sei so lange der Sohn seines Vaters gewesen, bis er der Vater seines Sohnes geworden sei, hat sich nicht nur literarisch, sondern auch ökonomisch und historisch jenes spannungsvolle Verhältnis einer christlich-jüdischen Kulturgemeinschaft herausgebildet, welches bis in die ersten Jahr-

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zehnte unseres Jahrhunderts hinein die deutsch-jüdische Geschichte bestimmte und - mit einem etwas seltsamen Vokabular - als ,deutsch-jüdische Kultursymbiose' bezeichnet wird. Parallel zur Herausbildung dieses kulturell fruchtbaren Spannungsverhältnisses aber entstanden in der beschriebenen Generationenfolge, in der man nicht nur .Juden' und .getaufte Juden', sondern auch Juden' ganz allgemein und ,edle Juden' unterschied, sämtliche Topoi, alle literarischen Requisiten und alle Stereotypen des Vorurteils, die das christlich-jüdische Zusammenleben während des 19. Jahrhunderts bis zur Entstehung des pöbelhaften rassischen Antisemitismus im letzten Drittel des Jahrhunderts so schwer belasteten. So ist es für die Dauerhaftigkeit derartiger Vorurteile aufschlußreich, daß der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (des Ersten Weltkrieges) in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts zur Begründung des Heimatrechtes der Juden in Deutschland die gleiche Blutrechnung aufmachte, wie das assimilationswillige Judentum in der Zeit der Befreiungskriege. Saul Ascher, der „früh gealterte und von politischen Enttäuschungen zermürbte Kosmopolit",2 von Heinrich Heine als Figuration des Berliner Spätrationalismus mißbraucht, schrieb 1815 eine gegen die deutsche Romantik (das heißt eine gegen die Idee der Deutschheit und gegen den katholisierenden Protestantismus) gerichtete Streitschrift Die Germanomanie. Skizze zu einem Zeitgemälde; darin setzt er sich unter anderem mit dem von Rühs 1815 in der „Zeitschrift für die neueste Geschichte der Staaten- und Völkerkunde" veröffentlichten Aufsatz Ueber die Ansprüche der Juden auf das deutsche Bürgerrecht auseinander. Rühs hatte gefordert, daß das „Kriegesheer der Deutschen [...] den Kern und die Blüthe des Volkes enthalten" solle, daß nur „Deutsche [...] neben Deutschen fechten" dürften. „Es muß eine Ehre seyn das Schwert zu tragen, die nur dem Volksgenossen zukommen kann, und daher ist es billig, daß die Juden keinen Theil daran haben."3 Saul Aschers Antwort fiel deutlich genug aus: In dem fanatischen Eifer eines echten Germanomanen vergißt er [Rühs], daß Deutschlands Heere in dem Kampf gegen Frankreich unterlagen, ehe noch die Juden in ihrer Mitte Theil daran nahmen und erinnert sich nicht, wie folgenreich sie in den Jahren 1812 und 1814 kämpften, als die Juden aus Rußland, Pohlen, Oestreich und Preußen mit ihnen in Reihe und Glied standen?

„Wehrwürdig" zu sein, bedeutete also schon in der Zeit der jüdischen Emanzipation eine Klimax der Gleichstellung, und das Stereotyp angeblicher jüdischer Feigheit war so tief im kollektiven Bewußtsein verankert, daß der Einsatz des Lebens für das Vaterland allein den „magischen JudenWalter Grab: Saul Ascher. Ein jüdisch-deutscher Spätaufklärer zwischen Revolution und Restauration. In: Ders.: Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner. Frankfurt am Main u.a. 1984, S. 466. Saul Ascher: Die Germanomanie. Skizze zu einem Zeitgemälde. Berlin 1815, S. 66. Das folgende Zitat ebd. S. 67.

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kreis" 4 durchbrechen konnte. In dem bei Markus Simion, Eichendorffs Verleger, erschienenen „Volks-Kalender für 1846" wurde eine Bittschrift des Magistrats und der Stadtverordneten-Versammlung zu Königsberg an den am 9. Februar 1845 eröffneten Provinziallandtag zu Danzig veröffentlicht, in dem die schrittweise Rücknahme jüdischer Emanzipationsrechte getadelt und die Erfüllung dreißig Jahre alter Versprechungen angemahnt wurden. Die preußischen Juden hätten, so heißt es in dieser Eingabe, ihren Dank für das Emanzipationsedikt des Jahres 1812 „dem neuen Vaterlande in den Kriegen von 1813 und 1815 mit ihrem Blute" abgestattet und sich „vielfach des ihnen verliehenen Staatsrechts würdig" erwiesen. So wird die zurückgenommene Gleichstellung der Juden zum Spiegel einer restaurativen, auf die revolutionäre Einforderung längst überfälliger Versprechungen zutreibenden Politik: Anstatt der feierlich verheißenen Verbesserungen des bürgerlichen Zustandes der Juden traten Beschränkungen der ihnen garantirten Rechte ein. Durch die Kabinetsordre vom 18. März 1822 wurde ihnen die Befähigung zu akademischen Lehrämtern genommen und das Gesetz über die preußischen Provinzialstände spricht ihnen nicht nur nach §.22 die Wählbarkeit zum Landtagsabgeordneten ab, sondern nach §.3 sogar das Wahlrecht. Um „Gerechtigkeit für ihre Brüder" also bitten Magistrat und Stadtverordnete der Stadt Königsberg, darum, „daß den jüdischen Unterthanen im preußischen Staate gleiche Rechte mit den christlichen gewährt werden". 5 In Mecklenburg, um nur eine Zahl zu nennen, soll in den Freiheitskriegen tatsächlich die Zahl der jüdischen Freiwilligen die der christlichen um das Dreifache überstiegen haben, und das Blutopfer, das die deutschen Juden im Ersten Weltkrieg brachten, lag prozentual weit über dem anderer Bevölkerungsgruppen des Deutschen Reiches. Diese Blutrechnung also wurde erstmals in den Auseinandersetzungen um die Rücknahme des Emanzipationsediktes im Preußen der beginnenden Restaurationszeit eröffnet; konsequent ausgezogen aber endet diese Linie in - Theresienstadt. Neben den über 65 Jahre alten Juden, so heißt es in den Protokollen der „Wannseekonferenz" (1942), „finden in den jüdischen Altersghettos weiterhin die Schwerkriegsbeschädigten Juden und Juden mit Kriegsauszeichnungen (ΕΚ I) Aufnahme. Mit dieser zweckmäßigen Lösung werden mit einem Schlage die vielen Interventionen ausgeschaltet."6

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Terminus von Marcel Reich-Ranicki. Vgl. u.a. dessen Aufsatz: Im magischen Judenkreis. In: Der Deutschunterricht 36 (1984), S. 16-26. Volks-Kalender für 1846. Hrsg. von Karl Steffens. Verlegt von M. Simion. Zerbst [1845], S. 121-126. Für den Nachweis dieser Petition danke ich Sibylle von Steinsdorff. Bruno Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte. Bd. 4: Karl Dietrich Erdmann: Die Zeit der Weltkriege. Stuttgart 1959. 8. Aufl., S. 288.

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Ganz im Sinne des charakterprägenden Vorurteils hat der „preußische Tyrtaios", der Mitarbeiter Hardenbergs, Friedrich August Stägemann, Mitglied der „Deutschen Tischgesellschaft", um 1813/14 die Affäre Arnim-Itzig (aus dem Jahre 1811) parodiert: Eine Geschichte. Der Jude fordert den Edelmann. Der Edelmann fragt Seinesgleichen: ob er dem Juden möcht' ausweichen? Die edle Jury also begann: ,Dem Juden giebt der Edelmann mit Kugeln nicht Bescheid, allein mit Peitschenhieben. So steht's von Beiseba bis Van, Von Potsdam bis Berlin geschrieben.' Trotz diesem Spruch der edeln Sieben sind alle Beide doch geblieben! ,Wie ging das zu?' Das höret an. Die Kriegstrompete scholl nach hüben und nach drüben. Zu Hause blieb der Edelmann; der Jud' ist in der Schlacht geblieben.7 Stägemanns Gedicht führt in die Konfliktsituation der Zeit mitten hinein, denn die Rede ist von Achim von Arnim und dem jungen Juden Moritz Itzig, den Arnim 1811 für sechzehn Jahre alt hielt, der aber damals schon 24 Jahre alt war. Erst Heinz Härtl und Gisela Henckmann haben die seit der Darstellung in Karl August Varnhagen von Enses Vermischten Schriften umstrittene Affäre, die im aufgeregten Berlin der Emanzipationszeit großes Aufsehen erregte, nach den erhaltenen Originaldokumenten so rekonstruiert, daß sie in die Geschichte der „Christlich-deutschen Tischgesellschaft" eingeordnet werden kann.8 Achim von Arnim und Adam Müller nämlich 7

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Vgl. Hans Karl Krüger: Berliner Romantik und Berliner Judentum. Mit zahlreichen bisher unbekannten Briefen und Dokumenten. Bonn 1939, S. 130 f. Es gehört zu den Schwierigkeiten eines Themas wie des vorliegenden, daß die Interpretation unter dem Mangel an Textdokumentaüonen leidet und daher häufig noch auf antisemitische Literatur angewiesen ist. Vgl. dazu Heinz Härtl: Arnim und Goethe. Zum Goethe-Verhältnis der Romantik im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Anhang: Ein fragmentarischer Erzählzyklus Arnims. Diss, masch. Halle 1971; ders.: Romantischer Antisemitismus: Arnim und die .Tischgesellschaft'. In: Weimarer Beiträge 33 (1987), S. 1159-1173; Gisela Henckmann: Das Problem des .Antisemitismus' bei Achim von Arnim. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 46 (1986), S. 48-69. - Die Geschichte der christlich-deutschen Tischgesellschaft ist noch nicht geschrieben, die Dokumente, die man sich aus unterschiedlichen Darstellungen zusammensuchen muß, sind noch immer nicht vollständig veröffentlicht. Heinz Härtl beklagt sich (Antisemitismus, Anm. 32) über die „etwas obskure Zweitveröffentlichung" des im Anhang seiner Dissertation publizierten Arnim-Textes durch Bruce Duncan in: Aurora 40 (1980). Eine „Veröffentlichung" kann man die Abschrift eines so wichtigen Textes innerhalb seiner maschinenschriftlichen, schwer über Femleihe zu erhaltenden Dissertation aber kaum nennen. Diese Arbeit von 1971 verdiente noch heute einen Druck, der sie der Forschung erst zugänglich machte.

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gründeten am 18. Januar 1811 eine „Deutsche christliche Tisch-Genossenschaft", auch „Deutsche Tischgesellschaft" oder „christlich-deutsche Tischgesellschaft" genannt, in der nach Arnims Programm keine Politik getrieben, aber viel „für deutsche Geschichte, Kunst und Wissenschaft, für Sprache oder andre allgemeine Bedürfnisse" gewirkt und gesammelt wurde. Die Tischrunde, die sich bis zu Adam Müllers Abschied von Berlin am 18. Juni 1811 insgesamt zwölfmal getroffen hat, sollte, ihrer Satzung entsprechend, nur „wohlanständige" Männer aufnehmen und verstand unter dieser Wohlanständigkeit, „daß es ein Mann von Ehre und guten Sitten und in christlicher Religion geboren sei"; Frauen, Juden und Philister waren von den Zusammenkünften ausgeschlossen; der ironisch scherzhafte Kampf gegen das Philistertum und der „gründliche, emsthafte und aufrichtige" Kampf „gegen die Juden" waren - nach Adam Müller - Gesinnung und Absicht dieser Gründung. Davon zeugen unter anderem Clemens Brentanos Anfang März vorgetragene scherzhafte Abhandlung Der Philister vor, in und nach der Geschichte, die noch im März 1811 von der Zensur zum Druck freigegeben wurde und im Mai dieses Jahres schon im Druck erschien, Achim von Arnim, vermutlich ebenfalls im März/April 1811 gehaltene Rede Ueber die Kennzeichen des Judenthums, Arnims antijüdisches Gedicht Die Glokkentaufe und Adam Müllers Rede vom 18. Juni 1811, mit der er sich als Sprecher der Tischgesellschaft verabschiedete.9 Brentanos Philisterabhandlung, von der Tischgesellschaft mit Jubel und Vergnügen aufgenommen, ist von antijüdischem Ressentiment durchtränkt, ohne freilich das Judenthema in den Vordergrund zu spielen. Die Juden, so heißt es darin, wolle der Verfasser gar nicht berühren, da jeder, der sich ein Kabinett zu sammeln begierig, nicht weit nach ihnen zu botanisieren braucht; er kann diese von den ägyptischen Plagen Ubriggebliebenen Fliegen in seiner Kammer mit alten Kleidern, an seinem Teetische mit Theaterzetteln und ästhetischem Geschwätz, auf der Börse mit Pfandbriefen und überall mit Ekel und Humanität und Aufklärung, Hasenpelzen und Weißfischen genugsam einfangen.

Die Trödler, die Schauspieler, die Intellektuellen und die Bankiers also sind die von Brentano gemeinten Juden, deren Gesinnung in den Umkreis des Berliner Rationalismus gehört, so daß es ein Leichtes ist, den Staatskanzler selbst mit den Juden in Verbindung zu bringen und ihn in Gerüchten sogar der Bestechlichkeit zu bezichtigen. Deutlicher noch wurde Arnim in seiner (nicht veröffentlichten) Rede Ueber die Kennzeichen des Judenthums, die gleichsam die antijüdische Ergänzung zu Brentanos Philisterschelte darstellte; und gerade ihre Halböffentlichkeit hat sie zum Zentrum des Klatsches 9

Zur Geschichte der christlich-deutschen Tischgesellschaft vgl. Häitl, Arnim und Goethe, S. 287-313. Das folgende Zitat aus Brentanos Philisterabhandlung in: Clemens Brentano: Werke. Hrsg. von Wolfgang Frühwald und Friedhelm Kemp. Bd. 2. München 1980. 3. Aufl., S. 965 f.

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und der Verdächtigungen gemacht. Das antijüdische Stereotyp und insbesondere Eisenmengers bösartige Legenden gehören zu den Quellen einer nur scheinbar scherzhaften Rede, in welcher in der Tat „der allmählich versterbende Glaubenshaß mittelalterlicher Tradition [...] funkelnagelneuem RassenhaH romantischer Faktur" gewichen ist.10 Arnim schreibt den Juden „eine seltene Kunst" zu, „sich zu verstecken, und ihre Eigenthümlichkeiten [seien] noch keineswegs wissenschaftlich bestimmt"; auch hätten sie „eine teuflische Neugierde das Gute kennen zu lernen, um es schlecht, oder nach einem Sprichwort sich unter den Pfeffer wie ein - Rezensent zu mischen." So bedauert Arnim, daß die jüdischen Kleiderordnungen aufgehoben seien, vielleicht, meint er, „wäre es schon hinlänglich, wenn sie nur ihre rechte und ihre linke Seite in verschiednen Farben trügen, oder wenn ihre Hände reinlich mit Oehlfarbe angestrichen würden um sie beym Geldzählen gleich zu erkennen." Rechte „Speivögel" seien die Juden zu nennen, da sie von ihren Rabbinern angehalten würden auszuspeien, „wenn von Christus die Rede" sei, und die Späße gehen rasch in Geschmacklosigkeiten über: „Es wird erzählt, daß eine Lilje giftig werde, die nur eine Nacht mit einer Jüdin in einem Bette geschlafen [...]."" Die abschließende Verbeugung vor den wenigen „edlen" Juden, die Arnim andeutet, kann der vorausgehenden Rede ihren antisemitischen Charakter nicht mehr nehmen. „Selten hat sich dichterische Sprache und Fantasie so direkt in den Dienst des übelsten Judenhasses gestellt."12 Saul Ascher hat die Linie des neueren Antijudaismus von Fichte bis zur christlich-deutschen Tischgesellschaft nachgezogen und Arnims Gründung - unter Berufung auf Brentanos Philisterrede - mit Recht als eine Zentrale des rohen und abschreckenden Tones gekennzeichnet, in dem die Auseinandersetzung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts geführt wurde. Die antisemitische Tendenz der christlich-deutschen Tischgesellschaft verbreitete sich durch mündliche und schriftliche Berichte in Berlin (und weit darüber hinaus bis nach Paris), so daß es nicht verwunderlich ist, wenn Moritz Itzig, der Neffe Sarah Levys, Arnims Anwesenheit im Salon seiner Tante als eine Beleidigung empfand und den „Gesetzgeber" der Tischgesellschaft in zwei Briefen (am 27. und 28. Mai 1811) zum Duell forderte. Arnim aber sandte den ganzen Briefwechsel - „weil der Fall eines Duells zwischen einem landsässigen Edelmann und einem Juden sich noch nicht ereignet hat"13 - einigen Freunden mit der Bitte um deren Rat. Die Antworten, die er erhielt, liefen alle darauf hinaus, daß ein Jude nicht satisfaktionsfähig sei, ihm gebühre nur eine Tracht Prügel:

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11

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Josef Kömer: Romantischer Antisemitismus. In: Jüdischer Almanach auf das Jahr 5691. Prag [1931/32], S. 145. Härtl, Arnim und Goethe, S. 471-490; Text von Arnims Rede Ueber die Kennzeichen des Judentums-, Zitate S. 472, 476, 484, 488, 490. Ebd. S. 302. Text von Arnims „Anfrage" bei Henckmann (Anm. 8), S. 65.

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Nach meiner Ueberzeugung kann der Herr Achim von Arnim einem so naseweisen u. unverschämten Buben [...] nicht anders als mit dem Stocke die verdiente Antwort ertheilen. Chasot. Die Vergehungen eines so naseweisen Buben, wie besagter Moritz Itzig, sind nach meiner Ueberzeugung nur durch Maulschellen oder Ruthenstreiche zu beantworten. Curth von Barnekow. Ich trete der Meinung des Grafen von Chasot und des Majors von Barnekow unbedingt bei, und versichere übrigens mich überzeugt zu halten daß ein Mann von Ehre, wie der Herr von Arnim, so einen lausigen Judenjungen nicht verächtlich genug behandeln kann, um demselben seine ganze Jämmerlichkeit anschaulich zu machen, v. Bardeleben Hauptmann der Artillerie.14 „Ein Mann von Ehre" also sollte der „Jude" nicht sein können, und die Offiziere des preußischen Heeres, deren Rangabzeichen der Stock war, denen Gneisenau vergeblich die Ehre auch des gemeinen Mannes vor Augen stellte, indem er als Voraussetzung für das von ihm und Scharnhorst geschaffene Volksheer „die Freiheit des Rückens" proklamierte, äußerten sich in diesem Falle noch als Repräsentanten der friderizianischen Militärmaschinerie. Als Adam Müller vor der deutschen Tischgesellschaft am 18. Juni 1811 seine Abschiedsrede hielt, nahm er auch auf die Kontroverse zwischen Arnim und Itzig Bezug: Wir führen Krieg [...] gegen die Juden, gegen ein Gezücht, welches mit wunderbarer Frechheit, ohne Beruf, ohne Talent, mit wenig Muth und noch weniger Ehre, mit bebendem Herzen und unruhigen Fußsohlen, wie Moses ihnen prophezeit hat, sich in den Staat, in die Wissenschaft, in die Kunst, in die Gesellschaft und letztlich sogar in die ritterlichen Schranken des Zweikampfes einzuschleichen, einzudrängen und einzuzwängen bemüht ist. Vom Staat, von der Wissenschaft und von der Kunst es zurückzuweisen, stehet nicht in unsrer Macht; aber vom Hufeisen dieses Tisches es zu verbannen, das steht nicht blos in unsrer Gewalt, sondern halten wir für unsre Pflicht. [...] Nein! kein Beschnittener nahet diesem Tische, und zum ewigen Schrecken für sie, uns aber zur Erinnerung unsrer Gesinnung stehe künftig immer auf diesem Tische ein großer Schinken [,..]15 Am 16. Juli 1811 überfiel Moritz Itzig Achim von Arnim im Badehaus mit einem Stock, wurde selbst von Arnim durch dessen Stock am Kopf verletzt und vom Berliner Kammergericht wegen dieses Überfalls dann verurteilt. Ende Juli 1811 trug Arnim den ganzen Fall der Tischgesellschaft vor, wobei er auch über die „Ehrenverhältnisse" der Juden sprach und eine „Gesellschaft zur Judenbekehrung" vorschlug.16 Die im gleichen Jahr 1811 begonnene Erzählung Die Versöhnung in der Sommerfrische, in der Arnim den ihn selbst, seine Familie, seine Freunde und die Zeitgenossen erregenden Fall poetisch zu gestalten versuchte, blieb unvollendet, was darauf schließen 14 15

16

Die zitierten Antworten von Arnims Freunden bei Härtl, Arnim und Goethe, S. 304. Text von Adam Müllers Abschiedsrede bei Härtl, Arnim und Goethe, S. 289-293; Zitate S. 29lf. Härtl, Antisemitismus, S. 1164.

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läßt, daß Arnim erst in den Majoratsherren (1819) und das heißt erst nach dem Schock, den er durch den tragischen und für ihn blamablen Ausgang der Affäre Itzig erlitten hatte, die Situation des Judentums in der modernen Welt poetisch gültig gestalten konnte.17 Moritz Itzig wurde in der von Napoleon gewonnenen Schlacht bei Lützen am 2. Mai 1813 schwer verwundet und starb am 13. Mai in Leipzig, Achim von Arnim aber hat als Landwehroffizier nie im Gefecht gestanden. *

An dieser paradigmatischen Geschichte sind jene Konstanten des romantischen Antijudaismus abzulesen, die für den gesamten Zeitraum von etwa 1790 bis 1830 zu erkennen sind und hier thesenartig zusammengefaßt werden. (1) Die Entstehung der christlich-jüdischen Kulturgemeinschaft, die in Deutschland und Österreich seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine allzu kurze Blüte erlebte, war von Anfang an von heftigen Konflikten begleitet. Diese Konflikte aber sind als spezifische Phänomene eines rassisch-biologistisch begründeten Antisemitismus erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu fassen, auch wenn antisemitische Töne in den .launigen' Tischreden der christlich-deutschen Tischgesellschaft in Berlin schon anklangen. In ihrem Kern war die Auseinandersetzung um die jüdische Emanzipation seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Ingredienz der Konflikte um die bürgerliche Emanzipationsbewegung, wobei die romantische Judenschelte besonders deshalb auffiel, weil sie sich gegen die preußische Reformpolitik richtete, die in wesentlichen Teilen von der „deutschen Bewegung" getragen wurde, und sich an einer relativ kleinen, aber kulturell und ökonomisch einflußreichen Bevölkerungsgruppe profilierte. Aufstiegs-, Emanzipations- und Bildungsgeschichte des deutschen Judentums seit dem Ende des 18. Jahrhunderts spiegeln fast idealtypisch Aufstieg und Verfall des deutschen Bildungsbürgertums; nie hat es eifrigere .Bildungsbürger' gegeben als im deutschen Judentum. Die durch Lessing und Mendelssohn eingeleitete kulturelle Emanzipation, die - unter Aufgabe der eigenen Sprache und vieler spezifischer Kulturgewohnheiten - zu einer Assimilationsbewegung geriet, konnte erst beginnen, als die Konfessionskonflikte des Christentums abgeflaut waren. In dem Augenblick, in dem die von Karl Barth so genannte „Religionisierung" der Gesellschaft vollendet und damit der enge Zusammenhang von Christentum und Literatur gelöst war, hatte das deutsche Judentum zumindest die Möglichkeit, sich der deutschen Kultur zu assimilieren, und es drängte bei der Fortsetzung des Religionisierungspro-

17

Vgl. Bruce Duncan: Die Versöhnung in der Sommerfrische. Eine ungedruckte Erzählung Achim von Arnims. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorffgesellschaft 40 (1980), S. 100-146.

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zesses mit all dem Enthusiasmus, dessen nur eine lange unterdrückte und zur Gleichberechtigung drängende Minderheit fähig ist, auf Profanierung und Entchristlichung der Kultur und der Literatur. Die Auseinandersetzung um die Emanzipation des Judentums ist in Deutschland bis über das Jahr 1848 hinaus auch ein Kampf um Christianisierung oder Profanierung der Literatur, so daß die antijüdischen Exzesse gerade in romantischer Literatur, welche den Profanierungsprozeß aufhalten wollte, nicht zu entschuldigen, aber doch plausibel sind. Als der Freundeskreis um Joseph Görres in den späten zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in München die Zeitschrift „Eos. Münchener Blätter für Poesie, Literatur und Kunst" übernahm, fügte er dem Titel sogleich, als Kampfansage gegen das in seinem Kern protestantisch-jüdische Bildungsbürgertum, ein Zitat aus dem ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther bei:, Judaeis quidem scandalum, Gentibus autem stultitiam." Das Bibelzitat, zur politischen Kampfparole umgestaltet, war in der Situation im München Ludwigs I. jeder Metaphorik entkleidet und tatsächlich gegen Juden und neue Heiden als Wortführer der modernen Kultur gerichtet. Der große und überproportional starke Anteil des Judentums an der deutschen Kultur wird aus dieser Frontstellung deutlich, denn aus Religionisierung (also der Umgestaltung der Religion zu einer bloßen Bildungsmacht) und Literarisierung hat die jüdische Assimilationsbewegung ihre Kraft empfangen. Die religiöse Inbrunst, mit welcher die gebildeten Juden noch in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts an jener Kultur festhielten, die sie seit fast zweihundert Jahren mitgestaltet hatten, ist das notwendige und schicksalsschwere Pendant zu allen Versuchen, die Kultur Deutschlands, im Rückgriff über das 18. Jahrhundert zurück, erneut zu christianisieren und damit zu konfessionalisieren. Die jüdischen Anhänger Stefan Georges, die in Amsterdam hinter verschlossenen Gardinen deutsche Gedichte lasen, während draußen der Marschtritt deutscher Soldaten und deutsche Marschlieder erklangen,18 lebten in der Traumwelt der christlichjüdischen Kulturgemeinschaft des 18. und 19. Jahrhunderts. „Wenn wir Gedichte lesen, sind wir unsichtbar", sagte einer von ihnen. Und der Psychoanalytiker Heinz Kohut, 1938 der einzige Zuschauer bei Freuds Abreise ins Exil, berichtet in einem Interview noch 1980: Ich fühlte mich geradezu leidenschaftlich in der deutschen und österreichischen Kultur aufgehoben. Sie war für mich der Höhepunkt der Humanität - Goethe und die großen deutschen Philosophen und Schriftsteller und die deutschen Komponisten und diese ganze verfeinerte Wiener Kultur - und ich saß bis drei Uhr morgens in den Kaffeehäusern, jeden Abend über ein anderes Sonett von Rilke diskutierend. Sehen Sie, das war für mich das Leben. Und dann kamen plötzlich diese vierschrötigen Raufbolde und behaupteten, sie wären die wahren Deutschen, und ich war plötzlich ein Ausländer und gehörte nicht dazu. Es war das 18

Vgl. dazu Claus Victor Bock: Untergetaucht unter Freunden. Ein Bericht. Amsterdam 1942-1945. Amsterdam 1989.

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Ende einer Welt, es war das Ende einer Epoche. Und ich hatte das Gefühl, es war das Ende meines Lebens, nicht unbedingt in dem Sinne einer leiblichen Lebensbedrohung, sondern in dem Sinne eines Endes meines kulturellen Lebens.19 (2) Schon Friedrich Schleiermacher hat sich in den Briefen bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter (1799) gegen die Folgen der „inneijüdischen Modernisierung" und den „assimilatorischen Pragmatismus im Kreise der jüngeren Mendelssohn-Schüler" gewandt.20 Deren Assimilationspraxis nämlich, also die Entstehung eines jüdischen Bildungsbürgertums, unter Aufgabe der Religion, schien Schleiermacher für beide Religionsparteien, Christen wie Juden, verderblich. Schleiermacher ist dabei dem in der Zeit diskutierten Vorschlag entgegengetreten, daß das Bekenntnis zu einer gemeinsamen Vernunft- und Humanitätsreligion die Basis sein könnte, auf der die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden erfolgen sollte: Es ist unmöglich, daB Jemand, der Eine Religion wirklich gehabt hat, eine andere annehmen sollte; und wenn alle Juden die vortreflichsten Staatsbürger würden, so würde doch kein einziger ein guter Christ: aber recht viel eigenthümlich Jüdisches brächten sie in ihren religiösen Grundsäzen und Gesinnungen mit, welches eben um deswillen nothwendig antichristlich ist. - Ja! ein judaisirendes Christenthum das wäre die rechte Krankheit, die wir uns noch inokuliren sollten! [...] Ueberdies würden auch Jene, die nicht einmal Juden sind, dennoch wahrscheinlich größtenteils eine Menge jüdischer Vorurtheile und Aberglauben mitbringen; wenn es anders erlaubt ist, von unsem Christen, die keine Christen sind, auf sie zu schließen.21 Schleiermacher, der in seinen Reden Über die Religion. An die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) die Einerleiheit einer einzigen Weltreligion als das Ende aller Kultur betrachtet hat, der an die Gebildeten appellierte, „den eitlen und vergeblichen Wunsch, daß es nur eine Religion geben möchte, aufzugeben", der die positiven Religionen für die „bestimmten Gestalten" gehalten hat, in denen „allein eine wahre individuelle Ausbildung der religiösen Anlage möglich ist",22 wollte auch den Juden diese Religionsindividualität belassen sehen. Ihm lag „als Christ daran, die durch Staats- und Scheinchristen ohnehin schon verdünnte Substanz des christlichen Glaubens nicht durch quasi-bekehrte Juden noch weiter in Frage zu stellen", er wollte 19

20

21 22

Das Zitat aus dem unveröffentlichten Interview von Susan Quinn mit Heinz Kohut bei Uwe Henrik Peters: Emigraüon psychiatrischer Gruppen am Beispiel der Psychoanalyse. In: Die Erfahrung der Fremde. Hrsg. von Manfred Briegel und Wolfgang Frühwald. Weinheim 1988, S. 186. [Friedrich Schleiermacher]: Briefe bei Gelegenheit der poliüsch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter. Von einem Prediger außerhalb Berlin. Berlin 1799. Reprografischer Nachdruck mit einem Nachwort von Kurt Nowak. Berlin 1984, S. 72f. (Nachwort). Ebd. S. 36f. Schleiermachers Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Mit einer Einleitung von Siegfried Lommatzsch. Gotha 1888, S. 276, 280.

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die Emanzipation ,.nicht als religiöse, vielmehr als politische Frage" gelöst sehen.23 In diesem Sinne ist Schleiermacher, gerade weil seine Gedanken politisch folgenlos geblieben sind, „der gesalbte Lehrmeister des deutschen Rabbinats" geworden. „Wenn wir heute", schrieb Ludwig Feuchtwanger 1934, „in Gestalt einer Zentennar-Erinnerung an Schleiermacher die jüdischen Illusionen einer vergangenen Epoche verurteilen, so brechen wir damit den Stab über unsere eigenen Illusionen."24 Von Schleiermacher und den erschreckend pöbelhaften, antijüdischen Ausfällen Fichtes (1793) abgesehen, konzentriert sich die Mehrzahl judenkritischer Äußerungen romantischer Literatur auf die Jahre zwischen etwa 1810 und 1815, das heißt auf die Jahre der Berliner Romantik, mit dem genannten Höhepunkt im Jahre 1811, wobei nur in diesem Jahr die Affäre Arnim-Itzig die öffentliche Brisanz erhalten konnte, die ihr von den Journalen zugeschrieben wurde. Das jüdische Thema der romantischen Literatur wird also durch die Debatte um die Hardenbergischen Staatsreformen agitiert, in denen das Emanzipationsedikt für die preußischen Juden vom 11. März 1812 nur ein, aber doch ein besonders auffallender Baustein gewesen ist. Das Finanzedikt (1810), die Säkularisation des Kirchengutes (vor allem in Schlesien), die Verkündigung der Gewerbefreiheit (1811), die Bauernbefreiung (1811), das Juden- und das Gendarmerieedikt (1812), die Bildungsund die Heeresreform (seit 1810) bewirkten zusammen eine Umwälzung in den preußischen Staaten, die in diesem Ausmaß weder erwartet, noch durchgesetzt werden konnte. „Die adelige Opposition" gegen die Reformedikte, schreibt Franz Schnabel, „hatte den tiefen nationalen Sinn der Reform nicht begriffen. Auch der preußische Adel war durch den Absolutismus jeder politischen Einsicht entwöhnt worden, und so mußte ein Kampf zwischen Adel und Volk sich durch viele Jahrzehnte hindurchziehen."25 Anders und zugespitzt ausgedrückt: Die in der Literatur dieser Jahre erscheinende antijüdische Grundhaltung ist Ausdruck der altständischen Adelsopposition, der sich in bestimmten Bereichen (wie gerade dem der Judenemanzipation) Teile des gebildeten Bürgertums anschlossen. Die Opposition wurde aber in Preußen vor allem von den Junkern getragen, welche durch Bauernbefreiung und Gendarmerieedikt, insgesamt durch den Übergang vom Lehenswesen zur Geldwirtschaft, enorme wirtschaftliche Einbußen erlitten, und diese in erster Linie dem Judentum, als Nutznießer der Reform, zuschrieben. Da die jüdischen Mitbürger in den Städten sozial und ökonomisch so sichtbar von den Reformen profitierten, richtete sich die Abneigung, die dem Reformwerk als ganzem galt, fast ausschließlich gegen sie. 23 24

25

Nowak (Anm. 20), S. 78f. Ebd. S. 83. Nowak zitiert aus einem Aufsatz Ludwig Feuchtwangers, des Bruders von Lion Feuchtwanger: Die Religion der Gebildeten. Zum 100. Todestag von Schleiermacher (gest. 12. Februar 1834). In: Jüdische Rundschau Nr. 12, 9. Februar 1934, S. 3. Franz Schnabel in: Grundriß der Geschichte. Bd. ΙΠ: Die moderne Welt. Stuttgart 1953. 4. Aufl., S. 42.

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(3) Die um 1810 beginnenden großen Bevölkerungsverschiebungen in Preußen und Europa fielen zusammen mit Hungerkrisen und der Ausbreitung des Zins- und Kreditwesens; der landwirtschaftliche Besitz litt unter dem Wucher, dem mit Gesetzen zunächst nicht beizukommen war; Kreditinstitute aber standen den Gutsherrn vor 1848 kaum zur Verfügung. „Der Wucher wurde auf dem Lande besonders bis zur Jahrhundertmitte vor allem in Verbindung mit Grundstücks- und Güterhandel um so bedeutender, je weiter die Mobilisierung der Landwirtschaft fortschritt." Der bäuerliche Besitz war in Gebieten des Kleinbesitzes „dem oft wohlorganisierten Wucher fast hilflos ausgeliefert. Dieser führte vom Viehhandel über Geldleihen bis zur .Gütermetzgerei' [...] Der Wucher jeder Form befand sich auch nach der Emanzipation hauptsächlich in den Händen von Juden."26 So finden sich in den judenkritischen Passagen der zeitgenössischen Literatur immer wieder Hinweise auf persönliche Betroffenheit, und schon Fichte meinte, den Verdacht der „Privatanimosität" abweisen zu müssen.27 Achim von Arnim hatte als Gutsbesitzer unter dem Wucher zu leiden. Nach dem Tode seiner Großmutter Caroline von Labes traten er, sein Bruder und sein Onkel Hans Graf von Schlitz das Erbe an. „Gott sei Dank", schrieb Brentano am 13. März 1810 an Savigny, „wird die Dir so spaßhafte, uns so betrübte Amimsarmut dadurch wenigstens fürs erste in Credit [...] etwas gemildert. Aber Geld, Geld ist hier dennoch unter 20p% keines zu haben."28 Heinz Härtl belegt, daß sich Arnims Bruder 1807 in Geldgeschäfte eingelassen und die Familie dadurch „in der Juden Hände gebracht" hat: Eine undatierte Liste der Amimschen Wechselgläubiger weist 14 Positionen und eine Gesamtschuldensumme von 43 635 Reichstalem aus. Gegenüber Itzig gab Arnim offen zu: ,[...] daß ich nur darum zuweilen Ihrer Glaubensgenossen gespottet habe, weil sie mich betrogen haben und weil ich lange genug in ihren Klauen steckte.' 29

Adolf von Eichendorff, der zur Güterverwaltung besonders unfähige Vater der Brüder Wilhelm und Joseph von Eichendorff, war seit 1796, als Isaac Warburg von den Geldagenten Gebrüder Kuh in Breslau eine Hypothek von 11.000 Talern auf Lubowitz kaufte, bis etwa 1807 von Breslauer jüdischen Ärzten abhängig. Vor einer frühzeitigen Zwangsversteigerung seines Besitztums rettete Adolf von Eichendorff nur das preußische Generalmoratorium, das eine Vollstreckung der Schulden während der Kriegszeit nicht

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29

Wilhelm Treue: Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands im 19. Jaluhunden. In: Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte (Anm. 6). Bd. ΙΠ. Stuttgart 1960, S. 328. Johann Gottlieb Fichte: Beiträge zur Berichtigung der Unheile über die französische Revolution. In: J.G. Fichte's sämmtliche Werke. Hrsg. von J.H. Fichte. Dritte Abtheilung: Populärphilosophische Schriften. Erster Band: Zur Politik und Moral. Berlin 1845, S. 151. Das unsterbliche Leben. Unbekannte Briefe von Clemens Brentano. Hrsg. von Wilhelm Schellberg und Friedrich Fuchs. Jena 1939, S. 432. Härtl, Antisemitismus (Anm. 8), S. 1166.

Antijudaismus in der Zeit der deutschen Romantik

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erlaubte.30 In Joseph von Eichendorffs Denken hat sich die in der Kindheit erfahrene Abhängigkeit der Eltern von Spekulation und Geldwesen tief eingeprägt, zumal die Landschaft seiner Jugend durch dieses System verwüstet wurde. Graf York von Wartenburg, der spätere Feldmarschall der Befreiungskriege, hat die Stimmung des Adels gegen die Reformen des Freiherrn vom Stein, gegen die Aufhebung der „Grundsässigkeit" und die Bevölkerungsvermehrung, exemplarisch ausgesprochen: Der Spéculant, der ein Gut erwirbt, denkt nur auf die Gegenwart; er wird eilen, die schönen Eichen- und Buchenwälder niederzuhauen, weil sie nicht so viel einbringen wie Waizenfeld. [...] Der Calcül der in Progression steigenden Bevölkerung ist ganz richtig; gleicht aber solche Pöbelerzeugung [...] nicht dem Ungeziefer, das man aus Hobelspänen erzeugt?31

Die Ablösung des Hofjudentums durch das moderne Kredit- und Bankenwesen fällt in die Zeit von Reform und Befreiungskrieg in Preußen. Die großen jüdischen Bankiers haben häufig den Weg aus der Hofjudenzeit in die von Kapitalismus, Industrialisierung, Emanzipation und Aufschwung des liberalen Bürgertums dominierte Zeit gefunden. Der Name Rothschild ist repräsentativ für eine Reihe von Namen, zu denen in Berlin etwa die Mendelssohns, Benecke und Salomon Bleichröder gehörten. Damit aber verstärkte die subjektive, mit dem Zeiterlebnis in eins fallende Erfahrung vieler Autoren der Romantik eine literarische Tradition, in welcher der Jude als Händler, Wechsler, Geldverleiher und Wucherer erscheint, so deutlich, daß in romantischen Texten der Jude wie selbstverständlich zum Inbegriff des die Welt verdinglichenden Kapitals wurde, zum Bild eines Geldwesens, welches wie in Sparta zum zerstörenden Gift der festgefügten Gesellschaftsstrukturen wurde.32 In den Märchen der Brüder Grimm, bei Arnim und Eichendorff, aber - ohne judenkritische Töne - auch schon bei Novalis, ist das Geld jene Macht, welche die Reduktion des Menschen auf seine nur intellektuellen Fähigkeiten abbildet, eine Macht, durch welche die industrielle Produktion an die Stelle der nicht entfremdeten Arbeit tritt, das Vertragswesen an die Stelle der persönlichen Treuebindung, die finanzielle Abhängigkeit von Wucher und Kreditwesen an die Stelle des Lehnsrechtes. Die bekanntesten Beispiele dieser Art von Verbildlichung ökonomischer Prozesse sind Achim von Arnims Die Majoratsherren, Erzählungen E.T.A. Hoffmanns,33 Clemens Brentanos Kaufmannsmär30

31

32 33

Zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Familie Eichendorff vgl. Dietmar Stutzer: Die Güter der Herren von Eichendorff in Oberschlesien und Mähren. Würzburg 1974; Wolfgang Friihwald: Eichendorff-Chronik. Daten zu Leben und Werk. München 1977, passim. Joh. Gust. Droysen: Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg. Bd. I. Berlin 1854, S. 187 f. Vgl. ebd. S. 185. Zu antijüdischen Tendenzen im Werk E.T.A. Hoffmanns, einem von der Hoffmann-Forschung vernachlässigten Thema, hat Gerhard R. Kaiser soeben einen Aufsatz fertiggestellt; er erscheint in der Festschrift für Erwin Koppen (1989).

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Wolfgang Friikwald

chen und die Satiren Joseph von Eichendorffs. Dabei ist zu bedenken, daß Joseph von Eichendorff noch in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts vom Judenbild Achim von Arnims beeinflußt war und die Entwicklungen bis 1848/49 nur als Bestätigung eines fast gesetzmäßig verlaufenden Trends zu Materialismus, Rationalismus und Geschichtslosigkeit aufgefaßt hat. Die weitgehende Unabhängigkeit, die sich Eichendorff - im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen - gegenüber Heinrich Heine und der Heinekritik des 19. Jahrhunderts bewahrt hat, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß er, zum Beispiel in seinem Lustspiel Incognito und der politischen Satire Libertas und ihre Freier, in der Gestalt des Paphnutius und der raschen Karriere des Trödeljuden Pinkus zum Freiherrn, der Tendenz zur Allegorisierung des modernen Geldwesens folgte, in kenntlichen und historisch leicht zu identifizierenden jüdischen Gestalten, eben in den Gestalten der Familie Rothschild, Judentum und Geldwesen miteinander zu identifizieren. (4) Das Bild des Juden und des Jüdischen in der romantischen Literatur, welche eine hauptsächlich in Städten entstandene und diskutierte Literatur gewesen ist, hat eine stark ausgeprägte national-preußische, ja sogar eine Berliner Lokal-Komponente. Diese Komponente ist nicht typisch für die historische Situation des Judentums, sie ist vielmehr ihr Gegenbild, da in Berlin offenkundig die in anderen Städten und Landstrichen herrschende tatsächliche und geistige Getto-Situation gemildert war und die Mauern des Vorurteils in der preußischen Hauptstadt vom entstehenden Kulturbürgertum leicht zu überwinden waren. Rahel Varnhagens Brief über die Hep-hepBewegung stellt das Selbstbewußtsein des Berliner Judentums und die dort vollzogene Assimilation weit über das anderer Gegenden Deutschlands: „Noch ist's in Berlin ruhig: dort wär's am meisten zu fürchten: dort haben die Juden gedient; die Hälfte ist getauft, und ist Kristlich verehelicht, da hätte es nimmermehr gut gethan."34 Den Berlinern, meinte Franz Grillparzer (1858), merke man es ewig an, daß ihre Bildung von Franzosen und Juden den Anfang genommen habe, und Theodor Fontane soll gesagt haben, „daß Franzosen und Juden für die Entstehung der Berliner Eigenart sehr wesentliche Voraussetzungen geschaffen haben".35 Kurt Tucholskys Herr Wendriner ist das letzte aus dieser Tradition stammende literarische Beispiel des Berliner Juden. Die in der Auseinandersetzung um das Junge Deutschland von den Spätromantikern und der konservativen Presse in Deutschland so heftig strapazierte Gleichsetzung des Philosemitismus mit der Frankophilie, wobei Französisches mit „Undeutschem" und das heißt mit Republikanismus und allen Spielarten der Emanzipation, bis zur Libertinage, identifiziert wurde, hat ihren Ursprung nicht nur in der durch die Revolution erreichten 34 35

Rahel Vamhagen (Anm. 1), S. 583. Arthur Eloesser: Literatur. In: Juden im deutschen Kulturbereich. Ein Sammelwerk. Hrsg. von Siegmund Kaznelson. Berlin 1959. 2. Aufl., S. 7.

Antijudaismus in der Zeit der deutschen Romantik

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bürgerlichen Gleichstellung der Juden in Frankreich, sondern auch in solchen näherliegenden Erfahrungen. Da die französische Kolonie und die vom Großen Kurfürsten ins Land geholten, meist österreichischen Juden in der Stadt Berlin eine bedeutsame ökonomische und kulturelle Rolle spielten, hat die - statistisch leicht als Vorurteil zu entlarvende - Furcht vor der ,Veijudung' des preußischen Staates in der Realität doch eine Art von Basis. Das starke und in der Literatur (im Stereotyp jüdischer Schönheit) auffallend positiv dargestellte weibliche Element der jüdischen Thematik ist wohl unter anderem auch auf eine Berliner Erfahrung zurückzuführen. In den Salons der Sarah Levy, der Henriette Herz und der Rahel Vamhagen nämlich lernten die Romantiker jene gesellige, von Frauen dominierte Kultur kennen, die ihr Kunstdenken und zumal die Vorstellungen eines poetischen Lebens stark beeinflußt haben. Henriette Herz und Rahel Varnhagen, bei allen Unterschieden in Auftreten und Wirkung einander doch darin ähnlich, daß sie im Grunde unliterarische, auf persönliche Kommunikation und Briefkorrespondenz ausgerichtete Naturen waren, schufen in der Realität jenes Modell geistvoller, auch das öffentliche Leben tief beeindruckender Geselligkeit, an welcher sich die von Schleiermacher, Schlegel, Tieck und Brentano entworfene Theorie eines Kunstwerkes der Geselligkeit konturierte. In diesen von weiblicher Kultur geprägten Salons galten die üblichen Gesetze des öffentlichen Lebens und die Konventionen der Zeit nur im Ansatz. Die Standesschranken waren hier, im Kreis der gleich Gebildeten, ebenso weitgehend aufgehoben wie die Geschlechterrollen und die Religionsbarrieren.36 Die Gründung der christlich-deutschen Tischgesellschaft erscheint, auf diesem Hintergrund, im Modell reform-ständischer Staatsauffassung geradezu als Gegenentwurf zur Berliner Salonkultur. Schließlich ist es Henriette Herz und Rahel Varnhagen - und eben davon berichtet der Brief an den Bruder vom 29. August 1819 - nie gelungen, den „magischen Judenkreis" zu verlassen. Von den bei ihnen gebildeten und ihnen treu ergebenen Neuhumanisten (wie Wilhelm von Humboldt) einmal abgesehen, haben die Romantiker als eifrige Besucher dieser Salons zwar die Gastfreundschaft genossen, doch außerhalb der Salons über die Gastgeberinnen gespottet und sich durch die empfangene Freundlichkeit in ihrer Judenkritik nicht beirren lassen. Clemens Brentano hat sich Vamhagens Ohrfeigen wegen seiner abfälligen Bemerkungen über Rahel redlich verdient, und selbst der integre Achim von Arnim hat sich erst unter dem Einfluß der in diesem Punkt völlig vorurteilsfreien Bettine zu einer Wandlung in seiner Auffassung vom Judentum verstanden: 36

Zu den jüdischen Salons in Berlin vgl. u.a. Renate Böschenstein-Schäfer: Das literarische Leben 1800-1850. In: Berlin und die Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Hans Herzfeld unter Mitwirkung von Gerd Heinrich. Berlin 1968, S. 659-699; Konrad Feilchenfeldt: Die Berliner Salons der Romantik. In: Lili. Beiheft 14. Göttingen 1987, S. 152-163.

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Wolfgang Frühwald Brentano und Arnim verkehrten abends ganz selbstverständlich in den Salons, die sie am Mittagstisch feierlich verfluchten. Sie fühlten sich wohl in den Gesellschaften der emanzipierten Gastgeberinnen, bei den Philistern, bei den jüdischen Gesellschaftskreisen, denen sie bei anderer Gelegenheit alles Unglück in die Schuhe schoben. Es ist jener [...] Hauch der Instabilität, jenes IrrwischhaftUnstete, das schon Eichendorff an Brentano sosehr irritiert hatte und das von Anbeginn an ein wesentliches Element des literarischen Lebens in Berlin darstellte. Arnim hat die Tragweite des Itzig-Attentats auf ihn nie erkannt, Brentano hat seine antiliberalen und antisemitischen Sentenzen aus der Zeit um 1810 nur wenige Monate später ohne den Rest von Bewußtsein vergessen. Und Adam Müller löste sich wie unbeschwert aus seinen Berliner Verhältnissen, die Kleist in die Katastrophe trieben.37

(5) In den Zusammenhang der Berliner Adelsopposition gegen die Hardenbergischen Reformen gehört die von den Romantikern verbreitete, aber auch von ihnen selbst empfundene Furcht vor einem jüdischen Übergewicht im deutschen Presse- und Verlagswesen. „Das ist in der Tat ein verwünschtes Judenvolk, diese Verleger," schrieb Eichendorff am 28. Februar 1854 an August Corrodi, „um so widerwärtiger, da sie nicht mit Lumpen, sondern lumpig mit dem Geist schachern." Die Autoren der Romantik reagierten mit übergroßer Empfindlichkeit auf jüdische Buchhändler und Verleger, da sie in den Schlesinger, Heymann, Simion u.a. dem Typus des Wucherers zu begegnen wähnten, dem sie im außerliterarischen Leben soeben entronnen waren. Jacob Toury hat nachgewiesen, daß zwar, bezogen auf den Anteil von Juden an der Bevölkerung Deutschlands, der Anteil der jüdischen Verlagsbuchhändler am Verlagswesen relativ hoch war, daß aber von jenem von Ludolf Holst behaupteten Versuch, „sich in den Buchhandel .hineinzusetzen', um eine volle Herrschaft über die Ideenwelt zu erringen", keine Rede sein konnte.38 Um 1834 betrug der jüdische Anteil an der Gesamtbevölkerung Deutschlands etwa 1,2 %, der jüdische Anteil am Buchhandel dieser Zeit etwa 2 %. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hat sich dies quantitativ und qualitativ verändert, und darauf auch bezieht sich Joseph von Eichendorffs Abneigung gegen seinen Verleger Simion, der sich wie seine Kollegen Sittenfeld, Hirschfeld, Springer, Julius und Wolff erst zwischen 1834 und 1848 in Berlin etabliert hatte. In der Zeit der Romantik jedenfalls haben wir allenthalben mit Literarisierungen und Fiktionen zu rechnen, welche uns auch im ökonomischen Bereich Bilder der Realität, nicht diese Realität selbst geben.

37

38

Norbert Miller: Literarisches Leben in Berlin im Anfang des 19. Jahrhunderts. Aspekte einer preußischen Salon-Kultur. In: Kleist-Jahrbuch 1981/82, S. 31. Jacob Toury: Jüdische Buchhändler und Verleger in Deutschland vor 1860. In: Bulletin (des Leo Baeck Instituts) 3 (1960), S. 59f.

Antijudaismus in der Zeit der deutschen Romantik

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*

Die Phasen des Verhältnisses von Romantik und deutschem Judentum sind relativ einfach zu bestimmen, doch wechseln, entsprechend der Entwicklung von Emanzipation und Reform, diese Phasen sehr rasch. In der Frühromantik war Johann Gottlieb Fichte der Hauptfeind und nahezu der einzige Feind der jüdischen Emanzipationsbewegung. In seinen Beiträgen zur Berichtigung der Urtheile über die französische Revolution (1793) sah Fichte nämlich „durch alle Länder von Europa" einen mächtigen, feindselig gesinnten Staat verbreitet, „der mit allen übrigen im beständigen Kriege steht, und der in manchen fürchterlich schwer auf die Bürger drückt; es ist das Judenthum". Fürchterlich wurde dieses für Fichte als Staat im Staat, weil es „auf den Hass des ganzen menschlichen Geschlechtes aufgebaut" sei, und Fichtes Lösungsversuche nehmen - schrecklich genug - verbal spätere ,Endlösungen' schon vorweg: Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sey. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schicken. 39

Auch Schleiermacher drang zu einer vollen Billigung der jüdischen Emanzipation nicht durch und setzte statt dessen auf den inneijüdischen Reformprozeß. Parallel zur Debatte um die notwendige soziale und ökonomische Neuordnung Preußens schwoll der Antijudaismus in der Zeit der Reformopposition gewaltig an, um in der Zeit der Restauration - nun beim Volk angekommen - in intellektuellen Kreisen wieder zurückzugehen. Viele Romantiker, so etwa der späte Friedrich Schlegel, blieben zwar judenkritisch eingestellt, doch tritt die bewußt judenkritische Komponente in den Texten der Romantiker seit etwa 1820 auffallend zurück. Das heißt, daß in der Zeit des pöbelhaft ausartenden Antijudaismus, also in der Zeit des Streites um Hardenbergs Verbot von Sessas Unser Verkehr (1815/16) und der Hep-hepPogrome (mit Synagogensturm und Plünderung jüdischen Besitzes, 1819) die Romantiker weder aktiv propagandistisch, noch literarisch stilisierend am anschwellenden Antijudaismus der Zeit teilnahmen. Die Jungdeutschen bekämpften sie eher als unchristlich denn als jüdisch, und die Affinität zu Mythen und Märchen des Judentums, den „ewigen Juden" als ein Identifikationsmuster, haben sie erst in den Jahren seit dem Beginn der Restaurationszeit entdeckt. Clemens Brentano hat in die zweite Fassung seines Märchens von Gockel, Hinkel und Gackeleia (1837) die jungdeutschlandkritischen Passagen eingefügt, aber alle plakativ antijüdischen Passagen der Erstfassung (von 1810/11), welche Ruth Angress überzeugend als toleranz-

39

Fichte (Anm. 27), S. 149-151.

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Wolfgang

Frühwald

kritische Kontrafaktur von Lessings Ring-Parabel erwiesen hat,40 etwas zurückgenommen. Die Romantiker haben Emanzipation, Assimilation, Heimatsuche durch Sprache und in Sprache akzeptiert, und gerade jene sprach- und kulturassimilatorische Leistung Moses Mendelssohns bewundert, welche - nach Sander Gilman - die Identität des westlichen Judentums schädigte, weil sie um der Anerkennung durch christliche Intellektuelle willen auf ein Hauptmerkmal der jüdischen Identität verzichtete, auf „die an das Jiddische gebundenen polemischen Wortspiele als rabbinische Diskussionsform". 41 Da die kulturelle Assimilation nach einer Generation bereits durchgedrungen war, hatte die Judenkritik der Romantiker keine Basis mehr. Der primär auf das Ästhetische gerichtete Subjektivismus der Romantik erweist sich auch im Falle des romantischen Antijudaismus als die ästhetisierende Begleitung aktiv-politischer Tendenzen der Zeit. Mit dem Reformelan in Preußen und Deutschland erlosch der Elan der Reformopposition. Dies bedeutet freilich auch, daß sich das ethnische und religiöse Vorurteil zu Stereotypen verfestigt hat, welche nun unbedenklich, und das heißt nahezu unbewußt tradiert wurden. Die Germanomanie der Arndt und Jahn, also die auch von Eichendorff belächelte Vaterländerei, arbeitete mit den Klischees der Judenkritik, und der religiöse Antijudaismus hatte mit Brentano und Joseph Görres ein Zentrum in München. Im vierten Band von Joseph Görres' Christlicher Mystik (1842) findet sich ein großer Abschnitt über „Einwirkungen des Judenthums auf das Zauberwesen", 42 in dem Sagen und Erzählungen von Kindermorden der Juden wie historische Aktenstücke behandelt werden, und Clemens Brentano versuchte in den Vorarbeiten zu seinem Buch über Die Barmherzigen Schwestern in Bezug auf Armen- und Krankenpflege (1831) gar eine psychologische Erklärung für den die Völker und die Zeiten durchziehenden Judenhaß zu geben: Die Beschuldigung Jüdischer Geldgier, ihres Wuchers, und des Verderbens der Münzsorten in jenen Zeiten ist der gesunden Critick nicht ganz unverständlich geworden. Das Geld, als das Blut des weltlichen Lebens [...] scheint dieser Ansicht allerdings eine Art von Blut, welches ein vernünftiger Mensch dem andern auszupressen ein Bedürfniß fühlen könnte [...]; sind aber erst die Geister zu höheren Ansichten reif, so wird es nicht länger nöthig seyn, unsre Vorältem und ihre Protockolle Lügen zu strafen, jedermann wird dann in jenen Beschuldigungen der Blutgier, und Mishandlung der Mysterien nichts Anders mehr sehen als durch Priesterschwärmerei in mythologische Bilder eingehüllte gezwungene 40

41

42

Ruth K. Angress: Wunsch- und Angstbilder. Jüdische Gestalten aus der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. In: Internationaler Germanisten-Kongreß in Göttingen. Ansprachen, Plenarvorträge, Berichte. Hrsg. von Albrecht Schöne. Tübingen 1986, S. 87. Vgl. Leif Ludwig Albertsen: Der Jude in der deutschen Literatur 1750-1850. Bemerkungen zur Entwicklung eines literarischen Motivs zwischen Lessing und Freytag. In: Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft 19 (1984), S. 32; Sander L. Gilman: Moses Mendelssohn und die Entwicklung einer deutsch-jüdischen Identität. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 99 (1980), S. 506-520. Joseph Görres: Die christliche Mystik. Band IV, 2. Regensburg 1842, S. 50-73.

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Geldanleihen und Münzoperationen ohne Erlaubniß der Obrigkeit. Ebenso wird aus diesem Gesichtspunkt die so oft wiederkehrende Anklage von Brunnen- und Quellenvergiftungen als bloses Verderben des Handels und Nahningsquellen der Christen erscheinen [...]. 4 3

Diese geld-psychologische Deutung der zahllosen überlieferten und von den Romantikern ausgegrabenen Geschichten von Ritualmord, Hostienentweihung und Brunnenvergiftung, wobei immer wieder Johann Andrea Eisenmengers Entdecktes Judenthum, Oder: Gründlicher und Wahrhaffter Bericht, Welchergestalt die verstockte Juden Die Hochheilige Dreyeinigkeit, GOtt Vater, Sohn und Heiligen Geist, erschrecklicher Weise lästern und vermehren [...] (1700) wegen der „vollkommenen" Register die schier unerschöpfliche Quelle des Vorurteils ist, belegt zwar die Mühe, welche sich die Spätromantik mit dem Judenthema gemacht hat, belegt aber auch, wie sie im Kreis antijüdischer Stereotypen gebannt war. Das Märchen Der Jude im Dorn, das als ein Haus- und Haßmärchen jedes jüdische Kind als Bedrohung empfinden mußte,44 wurde in späteren Auflagen der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm keineswegs in die alte Form zurückverwandelt. In der Fassung des 16. Jahrhunderts nämlich ist die böse und betrügerische Gestalt dieses Märchens nicht ein Jude, der in den Domen tanzen muß und schließlich zum Galgen geführt und gehenkt wird, sondern ein Mönch. Doch jetzt, um 1815, galt der Mönch wieder als eine literaturfähige Gestalt; der Stereotypenwandel verdeutlicht die sich ändernden Sozialstrukturen. Im Grunde haben die Romantiker trotz ihrer Nähe zu vielen jüdischen Freunden deren soziale und psychische Konflikte nie völlig verstanden und wohl auch nicht verstehen wollen. Die Minderheit mußte sich angleichen oder im Getto bleiben, auch nachdem dessen Mauern gefallen waren. Achim von Arnims prekäre Entstellung der Trauungsformel steht auch nach dem Ablaufen der Flutwelle antijüdischer Themen und Texte über dem Verständnis von Juden und Judentum durch die deutsche Romantik: „[...] aber der Mensch soll nicht binden, was der Himmel zertrennt hat Juden und Christen."45

43

44 45

Die Handschriften Brentanos, aus denen hier zitiert wird, werden demnächst von Renate Moering in Band 22,2 der Frankfurter Brentano-Ausgabe, dem Apparatband zur Edition der Barmherzigen Schwestern, veröffentlicht. Angress (Anm. 40), S. 86. Duncan (Anm. 17), S. 127.

Hans-Peter Bayerdörfer (München)

„Harlekinade in jüdischen Kleidern"? Der szenische Status der Judenrollen zu Beginn des 19. Jahrhunderts

I. „Kein anderes Volk wie das deutsche hat solch ein Werk" - dieser Satz über Lessings Nathan der Weise findet sich in einer Festschrift, die der DeutschIsraelitische Gemeindebund im Jahre 1879, zur Feier des hundertjährigen Nathan-Jubiläums und zugleich des hundertfünfzigsten Geburtstages von Moses Mendelssohn herausgegeben hat.1 Es ist ein bedrückender Satz für die Nachgeborenen, für den Theaterhistoriker um so mehr, als der sich angesichts des Vertrauens, das hier in das deutsche Drama und das deutsche Theater gesetzt wird, herausgefordert fühlen muß.2 Freilich gibt es frühe Gegenstimmen. Die Erfahrungen der Dreyfus-Jahre zeichnen sich auch in das Nathan-Bild ein. Wollte man warten, „bis sich der Sinn auch der mittleren Menschen zur Milde abklärt, die Lessing hatte, als er .Nathan den Weisen' schrieb" - dies die Stimme Theodor Herzls - „so könnte darüber unser Leben und das unserer Söhne, Enkel und Urenkel vergehen."3 Um die Bedeutung des Traumas, das mit den Äußerungen von 1879 und 1904 umschrieben ist, für die gesamte deutsche Theatergeschichte zu erken-

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Lessing-Mendelssohn-Gedenkbuch. Zur hundertfünfzigjährigen Geburtsfeier von Gotthold Ephraim Lessing und M. Mendelssohn, sowie zur Secularfeier von Lessing's „Nathan". Hrsg. v. Deutsch-Israelitischen Gemeindebunde. Leipzig 1879. S. 5. Die Theatergeschichte Nathans, sowohl die künstlerische Darstellung wie auch die Wirkung betreffend, ist nicht geschrieben. Für die ersten Jahrzehnte liegt immerhin seit langem die historisch erläuterte Sammlung der „Fortsetzungen, Nachahmungen und Travestien von Lessings Nathan" von Heinrich Stümcke vor (Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte. Bd. 4. Berlin 1904); außerdem der Überblick über Lessing-Aufführungen von Ursula Schulz (Lessing auf der Bühne. Chronik der Theateraufführungen 1748-1789. Bremen und Wolffenbüttel O.J.). - Für die Nachkriegszeit legt Bettina Dessau eine auf vollständiger Materialbasis der deutschsprachigen Länder beruhende Gesamtdarstellung vor, welche die Jahre 1945-1977 umfaßt (Nathans Rückkehr. Studien zur Rezeptionsgeschichte seit 1945. Frankfurt a.M. / Bem / New York 1986). Eine Gesamtdarstellung der Präsentation dramatischer Judenrollen auf der deutschen Bühne liegt nicht vor. Die alte, antisemitische Darstellung von Elisabeth Frenzel (Judengestalten auf der deutschen Bühne. Ein notwendiger Querschnitt durch 700 Jahre Rollengeschichte. München 1942) ist ausschließlich als Materialverzeichnis benutzbar. Aus neuer Forschung gibt es bislang nur literaturwissenschaftliche Studien zu Teilbereichen, die indessen, wie im Falle von Hans-Joachim Neubauer und Horst Denkler (s.u. Anm. 33 u. 39) wichtige theatergeschichtliche Entwicklungen mit einschließen. Theodor Herzl: Der Judenstaat. Jerusalem 121970. S. 10.

,Harlekinade in jüdischen Kleidern"?

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nen, bedarf es nicht des Hinweises auf die jüngste Theateraffäre um Rainer Werner Fassbinders Stück und dessen Judenfigur. 4 Man kann bei Nathan bleiben, denn auch die Nachkriegskarriere der Figur auf den deutschen Brettern spricht für sich. Von vornherein schillert sie zwischen wirklicher Erleichterung über das Ende des Nationalsozialismus und Versuchen der Endastung, die in West und Ost zwar unterschiedlich ausfallen, aber doch so problematisch erscheinen, daß das Thema .Nathan und der deutsche Holocaust' noch einmal zur großen Herausforderung der Bühnen Ende der 70er Jahre wird. Die Frage erhebt sich, ob die deutsche Theatergeschichte wie Hans Mayer dies für die Literaturgeschichte bereits getan hat - nicht unter der Namens-Chiffre , Shy lock' besser zu erfassen wäre als unter der .Nathans'. 5 Indessen liegen die Dinge sehr komplex, und außerdem sind sie theatergeschichtlich zur Zeit noch wesentlich weniger überschaubar und im Detail aufgearbeitet, als dies bei der Literaturgeschichte der Fall ist. Auf den Bühnen scheint es von Anfang an geradezu die kontrapunktische Stellung der beiden Figuren zu sein, die die wichtigsten Impulse gegeben hat, und es ist wohl kein Zufall, daß die bedeutendsten Darsteller, von Iffland über Ernst Deutsch bis zu Walter Schmidinger, es sich nicht nehmen ließen, die beiden Rollen aus einer schauspielerischen Individualität heraus zu entfalten. Im folgenden soll über die erste Etappe dieser Bühnengeschichte berichtet werden, ausgehend von Nathan, und geschichtlich so weit vorgreifend, bis sich erste großräumige, wiewohl vorläufige historische Thesen formulieren lassen. Daß hierbei der Horizont letztlich .Judendarstellung auf der deutschen Bühne' heißt und daß unter diesem Stichwort die alten Gesamtdarstellungen aus nazistischer Feder immer noch zur Revision - aufs Ganze gesehen und im Detail - anstehen, kennzeichnet eines der Hauptdesiderate der deutschen Theatergeschichtsschreibung. 4

5

In der Kontroverse um die Aufführung von Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod" besagte eines der meistdiskutierten Argumente, vierzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus, nach Jahrzehnten materieller Wiedergutmachungsanstrengungen und mehreren Phasen der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Holocaust, müsse es möglich sein, auf die deutsche Bühne auch „negative Judengestalten" zu bringen, zumal wenn diesen nachweisbare regionale Vorgänge zugeordnet werden könnten. Es wirft ein Schlaglicht auf die Kontinuität der Probleme und der (Schein-)Antworten in der Geschichte des deutsch-jüdischen Verhältnisses, wenn man dazu folgende Erörterung aus der „Berlinischen Correspondenz historischen und litterarischen Inhalts" vom Jahre 1784 liest (S. 607/608): Aber wenn nun ein Jude - und das geschieht so selten nicht - so höchst unverschämt wuchert, daß er, wie ich selbst einen solchen Fall weiß, für 300 Thaler auf ein halbes Jahr [...] sich 400 Thaler verschreiben läßt, und also nicht weniger als einige 60 Thaler Prozent nimmt; soll man da, (weil solche Geschäfte meistens in der Finstemiß geschehen [...]) einen solchen Menschen, darum weil er ein Jude ist, nicht aufs Theater bringen, und ihn der Verachtung oder vielmehr dem Hasse preis geben? Einigermaassen würde der Rezencent Recht haben, wenn immer nur schlechte Juden auf das Theater gebracht würden; aber auf einem Theater, wo vor Zeiten Lessing's Juden und wohl noch vor kurzem Nathan der Weise gegeben wurde, durften auch wohl nichtswürdige Juden aller Welt vor Augen gebracht werden. Hans Mayer: Außenseiter. Frankfurt a.M. 1981 (Teil 3: „Shylock").

Hans-Peter Bayerdörfer

94 II.

Als Nathan - früher als der Autor erwartet hat - bereits 1783 von Doebbelin in Berlin uraufgeführt wird, hält sich der Zuschauerandrang sehr in Grenzen, doch ist die Presse des Lobes voll. Sie hebt die „rührenden Situationen" und „Göttlichkeiten" hervor; Maßstab ist offensichtlich die Dramaturgie des ,genre sérieux' und seiner rührenden .tableaux'. Dieser Wertung entspricht auch die des Hauptdarstellers, mit einer freilich eigenartigen Nebenbemerkung: Herr Doebbelin selbst war Nathan und gab ihn mit vieler Innigkeit; sein Spiel erinnerte noch immer an seine theatralischen Verdienste, durch die er den Harlekin verbannt und reinere Vergnügungen uns schmecken gelehrt hatte. 6

Möglicherweise fehlte zum großen Publikumserfolg etwas Harlekinade, also das, was der Rezensent eben positiv vermerkt. Fünfzehn Jahre später jedenfalls, 1798, präsentiert Iffland in einer beim Publikum überaus erfolgreichen Darstellung die Gestalt des Shewa aus Richard Cumberlands Schauspiel The Jew, erntet aber heftige Vorwürfe, er habe mit seinem Rollenkonzept, mit dieser „Harlekinade in jüdischen Kleidern" eine höchst unangemessene, dem Geist der Zeit widersprechende Konzession an das Publikum der Galerie gemacht.7 Offenbar gibt es im Fall von Judenrollen auf den deutschen Bühnen Aufführungskonventionen, die an jene komischen Figuren, jene Harlekine und Hanswürste denken lassen, die im Zuge der bürgerlichen Theaterreform des 18. Jahrhunderts mit mehr oder weniger Aplomb und Erfolg von den Brettern verbannt worden sind. Diese Vermutung erhärtet sich angesichts der Untersuchung von Helmut Jentzsch,8 der für das Drama der deutschen Aufklärung überwiegend positive Judengestalten nachgewiesen hat: Händler, die ehrlich, Kaufleute, die integer, geschäftlich wie moralisch einwandfrei sind, sogar erzieherisch wirken und Vorbildfunktion im gesamtgesellschaftlichen Sinne gewinnen. In ihrer Mehrzahl werden die literarisch konzipierten Judenrollen der Dramatik dem bürgerlichen Erfahrungsbereich und Lebenszusammenhang angenähert, ideologisch zu Wertträgern und Demonstrationsfiguren aufgeklärter Weltsicht. Dem steht offensichtlich die Bühnenpraxis entgegen, sowie die Erwartungshaltung des größeren Teils des Theaterpublikums noch Ende des Jahrhunderts. „Trotz der positiven Beurteilung [...] haben die Zeitgenossen diese [Judengestalten] überwiegend als

7

8

Berliner „Litteratur- und Theaterzeitung", zitiert nach Gerhard Wahnrau: Berlin. Stadt der Theater. Berlin (Ost) 1957. S. 156. Schreiben an den Herrn Direktor Iffland, über das Schauspiel Der Jude und dessen Vorstellung auf dem hiesigen Theater. Berlin 1789. S. 8f. Helmut Jentzsch: Jüdische Figuren in deutschen Bühnentexten des 18. Jahrhunderts. Diss. Hamburg 1971.

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komische Elemente einer Handlung verstanden", resümiert Jentzsch.9 Soweit dies aber nicht möglich war, wurden die Judenrollen durch Annäherung an den bürgerlichen Kaufmannsstand jüdischer Züge entkleidet, „zu schemenhaften Wohltätern" entrealisiert: Es scheint das Schicksal der edlen Juden zu sein, nicht mehr als Juden verstanden zu werden. Nur die komischen Figuren wurden als Juden gesehen, während man die edlen immer für Charaktere hielt. 10

Ab Mitte der 80er Jahre verschärft sich die Lage. Zum einen kommt ein dezidiert inhaltliches Problem ins Spiel, etwa wenn der Essayist der „Berlinischer, Correspondenz" die Frage aufwirft, ob es denn auf dem Theater bei all den edlen Judengestalten, darunter dem im Vorjahr aufgeführten Nathan, nicht auch negative geben dürfe - dafür habe man reale Vorbilder. Zum anderen handelt es sich um ästhetische und schauspieltheoretische Argumente, die sich etwa, wie im Falle Dalbergs und des Mannheimer Nationaltheaters, an der Shylock-Figur entzünden und im Zusammenhang mit der Neubewertung Shakespeares in den 70er und 80er Jahren zu sehen sind. Die Problemlage wird im folgenden beispielhaft an August Wilhelm Iffland demonstriert, in dessen Mannheimer Anstellungsvertrag von 1783 sich noch die alte Festschreibung der Chargen findet: „Komische Alte und CaricaturRollen, auch Juden", der aber in den folgenden Jahren die bedeutendsten Muster jüdischer Charakterrollen entworfen und sich damit unter anderem die Vorwürfe des Jahres 1798 eingehandelt hat. Mit Ifflands schauspielerischen Leistungen realisiert sich auch bei den Judenrollen jenes grundlegende Darstellungsniveau, das nach Jahrzehnten bürgerlicher Theaterreform zu erwarten ist. Im Hinblick auf Bewegung, Gestik und Mimik erfolgt bekanntlich im 18. Jahrhundert, wenn auch mit einer Phasenverschiebung von etwa zwei Jahrzehnten, dasselbe, was sich in der allgemeinen Ästhetik und in der Literarästhetik abzeichnet: die Durchsetzung des neuen Naturprinzips gegenüber dem älteren artifiziellen, hochästhetisierten der Stilisierung im 17. Jahrhundert. Von Rémond de Sainte Albin's Schrift Le Comédien 1747 bis zu Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik 1785/86 vollzieht sich die Inthronisation des Prinzips, dessen klassische Formulierung Conrad Eckhof in den Diskussionen seiner Schauspielerakademie gefunden hat: Die Schauspielkunst ist: durch Kunst der Natur nachahmen und ihr so nahe kommen, daß Wahrscheinlichkeiten für Wahrheiten angenommen werden müssen oder geschehene Dinge so natürlich wieder vorstellen, als wenn sie jetzt erst geschehen. 11

9 10 11

Ebd. S. 317. Ebd. S. 310. Heinz Kindermann: Conrad Eckhofs Schauspieler-Akademie [Protokolle der Sitzungen]. Wien 1956. S. 12.

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Bei aller Differenzierung und Kontroverse im einzelnen ist doch die das ganze Jahrhundert hindurch geltende Prämisse für die .langage d'action' als ursprünglichste Form aller Sprachen - , daß die Natur eine klare und notwendige Entsprechung zwischen einer bestimmten psychischen und einer physischen Bewegung hergestellt hat, so daß der Mensch die körperliche Bewegung als eindeutiges Zeichen für jene seelische Regung hervorbringt.12 Gegen Ende des Jahrhunderts ist die Bewegungslehre so differenziert, daß unter der Charakterrolle diejenige Form der darstellerischen Präsentation zu verstehen ist, die sehr spezifische Momente nach Individualität, Nation, geschichtlichen und sozialen Umständen, also der jeweiligen Realität gemäß, einbezieht, jedoch so, daß in allem Spezifischen stets das Allgemeine des menschlichen universellen Ausdrucksvermögens durchscheint. Soweit diese Vermittlung nicht gelingt, bleibt die Rolle abstrakt allgemein, und d.h. jenseits des unmittelbaren Naturpostulats, sofern die Besonderheit überwiegt, wird diese zum Zeichen außer- oder vormenschlicher, .pathognomischer' Zustände, oder sie zeigt einen Schauspielstil an, der diesseits der allgemeinen Naturforderung verbleibt und damit nicht die Höhe des Jahrhunderts erreicht. Die genannten Prämissen bilden den Hintergrund für Dalbergs Erörterung der Shylock-Rolle aus Anlaß von Ifflands Mannheimer Präsentation. Dalberg geht aus von den Rollenbildern, die Schröder und Steinicke in Hamburg bzw. Dresden - die beide den venezianischen Juden „in einem fast unmerklichen jüdischen Accent gesprochen hätten" - kreiert haben. Für die Tatsache, daß in beiden Aufführungen das Stück sehr schwach erschienen sei, kann Dalberg „keinen andern Grund [...] finden, als eben in dem gewöhnlichen Ton, in welchem die Rolle des Shylock in Hamburg und Dresden gesagt worden ist". Dann führt Dalberg aus: Die jüdische Sprache und die eigenen Geberden dieses Volkes haben so etwas eigenes Ausgezeichnetes, daß deren Darstellung auf der Bühne wirken muß, wenn sie in den gehörigen Schranken der Natur gezeigt werden, wozu freilich Kunst gehört.13 Iffland habe in Mannheim eben diese Balance erreicht, diesen .jüdischen Ton" in „gleicher Stimmung" durchgehalten und dadurch das Stück zum großen Erfolg gemacht; auch die Darstellerin der Jessica, Mademoiselle Baumann, „war ganz Jüdin". Bezogen auf die Situation der 80er Jahre, sowohl im Hinblick auf den Stand der Theatertheorie wie auf den der .Judenfrage', scheint mit dem Mannheimer Aufführungsversuch der Status der Judenrolle auf der deut12 13

Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Bd. Π. Tübingen 1983. S. 115. Max Maitersteig (Hrsg.): Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters. Mannheim 1890. S. 224f.

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sehen Szene dem aller anderen Rollen gleich zu sein, zumindest soweit angenähert, daß von einem szenischen Sonderstatus nicht mehr gesprochen werden kann, und schon gar nicht im Rückblick auf frühere Judenstereotype im Falle der .komischen Judenfiguren'.

III. Das Gleichgewicht zwischen universal-menschlicher Darstellung und jüdischer Eigenart, das Iffland in seiner Mannheimer Zeit offensichtlich erreicht, ist entscheidend für seine spätere, lebenslange Bemühung um Judenrollen und seine Verdienste um die Durchsetzung der jüdischen Charakterrolle auf der deutschen Bühne. Die geschichtlichen und gesellschaftlichen Veränderungen der folgenden Jahre lassen indessen das auf der Bühne erreichte Gleichgewicht sehr rasch wieder prekär werden. Wenn Iffland und Dalberg selbstverständlich das Jüdischdeutsche als Sprachebene der jüdischen Rollen verlangen, so bildet dabei die alte europäische Auffassung der Juden als einer eigenen .Nation' - Nation verstanden im Sinne des 18. Jahrhunderts - die Voraussetzung. Dalbergs Formulierung von der .jüdischen Sprache" und den „eigenen Geberden dieses Volkes" kann dafür als Beleg gelten.14 Die beiden letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts bringen freilich durchgreifende Änderungen - nicht nur im Zusammenhang mit der Französischen Revolution, welche die staatsbürgerliche und rechtliche Gleichstellung der Juden, unter Aufhebung ihres ,nationeilen' Minoritätenstatus, verfügt; gemeint ist der Einzelne als citoyen und Mensch, nicht die Gruppe in kollektiver Eigenart.15 Auch in Deutschland, zumal in Preußen und in Berlin, vollzieht sich die Frühphase der Assimilation trotz fehlender rechtlicher Gleichstellung mit großer Geschwindigkeit.16 Eigene Impulse des deutschen Judentums - die 14

15

16

Ifflands Schaffen als Dramatiker scheint dem ebenfalls zu entsprechen. Die in starker Anlehnung an das zeitgenössische Judendeutsch konzipierte Judenrolle etwa in seinem überaus erfolgreichen Stück „Verbrechen aus Ehrsucht" hat freilich verschiedentlich Widerspruch herausgefordert. Indessen bliebe genauer zu überprüfen, ob und in welcher Weise im breiten Strom der Familiendramatik der Spätaufklärung dialektale Kennzeichen etwa der Bedientenrollen und sonstiger Nebenrollen nach wie vor gebräuchlich sind, insbesondere wären auch die Aufführungsgepflogenheiten zu untersuchen. In der französischen Nationalversammlung ging es - nach der stets verkürzt wiedergegebenen Formel des Abgeordneten Clermont-Tonnère - darum, dem einzelnen Juden alles, den Juden als Volk nichts zu gewähren; dem entspricht ziemlich genau die Prämisse von Nathans Argumentation im Gespräch mit dem Templer: „Verachtet/Mein Volk sosehr Ihr wollt. Wir haben beide/Uns unser Volk nicht auserlesen. Sind/Wir unser Volk? Was heißt denn Volk?/Sind Christ und Jude eher Christ und Jude/Als Mensch?' (11,5) Vgl. die Darstellung der Judenemanzipation in Preußen" von Heinz Holeczek in: Die Juden als Minderheit in der Geschichte. Hrsg. v. Bemd Martin und Ernst Schulin. München 1981. S. 131-160. - Außerdem H. Mayer: Außenseiter (Anm. 5). S. 344f.

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Mendelssohnsche Reform mit der Sprachempfehlung zugunsten des reinen Deutschen - wirken in der gleichen Richtung wie der aufgeklärte Absolutismus, dessen Staatsinteresse an den Juden als nutzbringenden Staatsbürgern - so in Preußen mit der Schrift Christian Dohms - die zivile Statusveränderung in den Blick nimmt. Für Ifflands Judendarstellungen in seiner Berliner Zeit muß bereits eine grundlegende Veränderung vorausgesetzt werden. Was 1785/86 im Hinblick auf die Judendarstellung noch als ,Natur' gelten kann, ist im Jahre 1798 in Berlin bereits Vergangenheit, an der - unter unterschiedlicher Perspektive betrachtet - ein Makel haftet, und zwar ein Makel grundsätzlicher Art. Es bedeutet mehr als ein äußerliches Moment absolutistischen Reglements, daß Joseph II. bereits 1780 auf dem Gesetzeswege das Tragen von speziellen Judenzeichen verboten und Preußen 1790 - vier Jahre nach dem Tode Friedrichs des Großen - auf dem Verordnungswege für die Juden verfügt hat, „den äußeren Unterschied durch Tragen der Barte einzustellen."17 Es entspricht diesen .Gleichmachungsdekreten', daß Ende des Jahrhunderts die von Dalberg selbstverständlich als eigene Größe anerkannte jüdische Sprache' jetzt als Jargon' verstanden wird, sowohl von Seiten der sich assimilierenden Juden, die darin den sprachlichen status quo ante sehen, als auch von ihren Gegnern, die diesen als .unveräußerliches Kennzeichen', und das heißt gegebenenfalls auch als Anhaltspunkt für Diskreditierung und Abwertung gewahrt wissen wollen. Im Jahre 1798 kommt es, wie schon gesagt, zum Konflikt zwischen Iffland und einem Teil seines Berliner Publikums, und zwar genau an den genannten heiklen Punkten. Der anonyme Schreiber bemerkt zu Ifflands Aufführung des Cumberlandschen The Jew: Es ist unleugbar, daß Sie mein Herr Direktor, bei der Übernehmung der Rolle des Juden und deren Vorstellung das leisten, was Kunst vermag, daß Sie die Szenen, die das Herz angehen, herzlich vortragen, und man sieht bei Ihrem Spiele, daß Sie alles dasjenige warm fühlen, was Sie von der Unterdrückung einer Nation, worunter Sie diesen Augenblick gehören, sagen; aber unbegreiflich bleibt es, warum Sie den Juden und seine Diener gerade von dem allergemeinsten Schlage, vom Jargon der Sprache sowohl, als auch der Kleidung, zu nehmen beliebt haben, welches doch die Absicht des Verfassers wohl nicht gewesen ist, da solches in reiner englischer Sprache geschrieben worden.

Diesem grundsätzlichen, in Mendelssohnscher Terminologie gefaßten Argument folgt ein zweites, das regional auf Ort und Zeit bezogen ist: Und da Sie, wie aus einzelnen Nuancen zu bemerken ist, das Spiel in Berlin beginnen lassen, so bleibt es am aller auffallendsten, wo Sie h i e r das Ideal zu dieser Jüdischen Gruppe gefunden und genommen haben? In der Provinz sind dergleichen Subjekte in Menge anzutreffen, aber nicht leicht in einer deutschen großen Handelsstadt [...] 1 8 17 18

Zitat nach E. Frenzel: Judengestalten (Anm. 2), S. 54. Vgl. Anm. 7.

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In diesem Zusammenhang fällt dann das bereits zitierte Wort von der „Harlekinade in jüdischer Kleidung", das offensichtlich die Darstellungsweise charakterisieren soll, und dem dann das rezeptionsgeschichtlich interessante Argument folgt, diese ,Harlekinade' sei doch wohl als Konzession an die Galerie zu werten. Kaum dürften die Angriffe des Schreibers Ifflands persönliche Absichten treffen, doch bleiben sie theatergeschichtlich höchst aufschlußreich. Das doppelte Argument, die Judendarstellung entspreche keineswegs mehr dem zivilen und kulturellen Stand des Publikums, vielmehr einem status quo ante, und demgemäß kämen vorbürgerliche, vorreformerische Elemente der Judendarstellung ins Spiel, ist von größter Bedeutung. Daß außerdem die Situation eines heterogenen Publikums beschworen wird, bezeichnet die grundlegende Schwierigkeit, in der sich nicht nur das Berliner, sondern das deutsche Theater an der Jahrhundertwende befindet; die ästhetischen und theatralen Konsequenzen des Jahrhunderts der Reformen und die Realität der Publikumserwartungen und -ansprüche klaffen weit auseinander. Zentral für die Geschichte des deutsch-jüdischen Zusammenlebens ist freilich das Sprachargument, hinter dem sich das allgemeine Bildungspostulat verbirgt; denn Bildung - im deutschen Sinne als sprachliche, ästhetische, literarische Bildung akzentuiert - ist neben Wohlstand und damit kultureller Anpassung der zweite Hauptweg, auf dem die Gleichstellung erreichbar erscheint und von den Juden in der Gefolgschaft Mendelssohns erwartet wird, wie auch der anonyme Verfasser am Ende seines Schreibens ausdrücklich formuliert. Aufschlußreicher als Ifflands Erwiderung19, die sich in einigen gewundenen Rechtfertigungsargumenten ergeht, ist ein Gegenangriff, der in der „Berlinischen Dramaturgie" 1799 geführt wird.20 Ausdrücklich weist die Erwiderung den Vorwurf der „Harlekinade" zurück, betont, daß im zeitgenössischen Judentum edelmütige Gesinnung und gegenteilige Grundzüge des jüdischen Charakters, moderne Erziehung und altjüdische Grundsätze nebeneinander bestehen könnten. Die Hoffnung, daß „Philosophen und Denker jetzt an der Vereinigung von Christen und Juden (wofür uns der Himmel bewahre!)" arbeiteten, ist nicht die seinige. 19

20

Ifflands Erwiderung ist an einem Punkt interessant: Er bestreitet die Festlegung des Stükkes auf Berlin und gibt seinem Kontrahenten zu bedenken, daß die Akkulturationsstufe des Berliner Judentums einzigartig, im übrigen Preußen, für das seine Inszenierung ebenfalls gedacht ist, jedoch nicht anzutreffen sei: „Hier, wo die Bildung unter allen Klassen Fortschritte tat, hat sie auch unter Shewas Nation sehr früh bedeutende und große Fortschritte gethan, - aber was die Letztere anlangt - fast nur allein hier [...] auswärts wird die Darstellung des Shewa [...] nicht nur nirgends widrig aufgefallen seyn, sondern seine Glaubensgenossen würden in der Vermeidung des jüdischen Accents eine Ziererei gefunden haben, die sie dem Darsteller wenig Dank gewußt hätten" (Anwort des Direktor Iffland auf das Schreiben an ihn über das Schauspiel „Der Jude" und dessen Vorstellung auf dem hiesigen Theater. Berlin 1798. S. 12-14). Berlinische Dramaturgie 1799, S. 288ff.

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Die Kontroverse zeigt, wie heikel die Situation in Berlin bereits ist und welche Schwierigkeiten zu gewärtigen sind, wenn eine jüdische Gestalt auf der Bühne erscheinen soll. Iffland hat dem offensichtlich Rechnung getragen und seine Judenrollen sehr differenziert angelegt, um zwischen dem ästhetisch-künstlerischen Anspruch, den Erwartungen des Parketts und den Bedürfnissen der Galerie zu vermitteln. Soweit die Figurenskizzen und zeitgenössische Berichte Zeugnis geben, scheint Ifflands Nathan in keiner Weise jüdisch gekennzeichnet gewesen zu sein, weder sprachlich, noch in Gestik und Mimik. Die erhaltenen Skizzen lassen erkennen, daß sich Iffland offenbar vollkommen an das Natürlichkeits- und Verinnerlichungsideal der Darstellung gehalten hat, wie sie in Engels Mimik unter anderem demonstriert worden war (vgl. Abb. 1 und 2). Im Falle der Aufführung von The Jew, die Anlaß zu der Auseinandersetzung gab, lassen die Shewa-Figurinen an sich keine spezifisch jüdische Kennzeichnung erkennen; doch ist diese ausdrücklich für Sprache, Proxemik, Gestik und Mimik bezeugt, unter anderem vom Rezensenten der „Allgemeinen Theaterzeitung"21: „Iffland als Jude Shewa ist ein Muster für alle Künstler, Sprache, Gang, Miene, Füße, Hände, Ton, kurz alles an ihm ist Jude, etwas so Vollkommenes habe ich nie gesehen" (vgl. Abb. 3). Deutlicher sichtbar in der überlieferten Skizze ist die Charakterisierung einer Judenrolle im Falle von Shewas Bedientem Jabal; bezeichnend sind hier - abgesehen von physiognomischen Kennzeichen der Klischeetradition - die auffallend breite Beinstellung sowie das Gedrungene der Gestalt, die dadurch insgesamt als .schief' erscheint (vgl. Abb. 4). In diesen Kennzeichen dürften sich ältere Darstellungsmuster komischer Judengestalten, die sich in der Nähe zu komischen Figuren insgesamt bewegten, erhalten haben.22 Am deutlichsten und vielseitigsten sind die Kennzeichen der jüdischen Gestalt im Falle von Ifflands Shylock. Im Kostüm bereits ergeben sich Andeutungen nach ostjüdischem Muster: zum pelzbesetzten Kaftan kommt die auffallende haubenähnliche Mütze, dazu pluderige Hosen und die unter dem Gewand hervorhängenden Schaufäden (Zizess). Zur äußeren Charakterisierung kommt als wichtigste Unterstützung die sprachliche, die offensichtlich von stark judendeutscher Satzintonation sowie syntaktischen Umstellungen gekennzeichnet war. Demgemäß scheinen sich Proxemik, Gestik und Mimik stark an stereotypen Mustern der komischen Figur orientiert zu haben, wobei möglicherweise drei Grundelemente zu

21 22

Allgemeine Theaterzeitung Berlin. I. Theil, 1800 (Rhode), S. 110. Erika Fischer-Lichte hat für die Darstellungsästhetik des 17. Jahrhunderts, die indessen noch weit in das 18. Jahrhundert hineinwirkt, nachgewiesen, daß das Maß, in dem sich die Bühnenfigur aus der stabilen Stellung des Kontrapost herausbewegt, zugleich ein Maß für die innere Instabilität bedeutet. Sollte es sich nachweisen lassen, daß in der Darstellung der Judengestalten diese älteren darstellungsästhetischen Maximen bis zur Jahrhundertwende Geltung behalten, so wäre damit ein historischer Deutungshorizont gewonnen, vor dem sich die Entsprechung zwischen Darstellungsmuster und ideologischem Diskreditierungsmuster aufweisen ließe.

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Abb. 3: Iffland als Shewa in Cumberlands „The Jew"

Abb. 4:

Shewa und sein Diener

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unterscheiden sind: die häufige Neigung der Körperachse aus der Vertikalen, die Bewegung der Figur durch lebhafte, aber kleinformatige Schritte und nach eher kreiselnden als geradlinig verlaufenden Bewegungsmustern, schließlich eine heftige Gebärdensprache von Armen und Händen, die sich überwiegend auf der Höhe von Brust und Schultern vollzieht (vgl. Abb. 5 und 6). Johann Gustav Büsching verweist in seinen Beobachtungen vom 5.3.1810 besonders auf:23 das trippelnd im Kreise Herumgehen, wenn er [ S h y l o c k ] innerlich beunruhigt war, das windschiefe Kompliment, das Zerknittern der Mütze im vierten Akt nach Daniels Spruch, der heißere Ton der Stimme, von Angst und Wut gepreßt, als er aus dem Saale geht. Dieses Bild wird ergänzt durch den Bericht von Heinrich Döring hinsichtlich der Gestik, der im Iffland-Artikel der Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und der Künste aufgenommen ist:24 Ein so unzugängliches, versteinertes Gemüth verstattet dem Darsteller nur wenige Gradationen der Wut und der Schadenfreude und verlangt notwendig die kalte, starre Haltung, die Iffland seinem ganzen Spiele gab, verbunden mit der äußersten Beweglichkeit der Hände, die bisweilen wie Ressorts zusammenschlugen. Die ganze Seele des Juden schien sich zuweilen in die Spitzen seiner Finger verloren zu haben.

Abb. 5:

23

24

Iffland als Shylock

Abb. 6:

Iffland als Shylock

Büschings Beschreibung ist überliefert in Monty Jacobs' „Deutscher Schauspielkunst" (Leipzig 1913, S. 345f. - Frenzel, Anm. 2, S. 49f.) Heinrich Döring: Iffland. In: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste. Hrsg. v. J.S. Ersch und J.G. Gruber. Leipzig 1839. Bd. 16, S. 39.

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Hinsichtlich der Sprache wie der Gesamtwirkung, ist noch einmal an Biisching zu erinnern:25 Der Versbau des Originals war zwar zerstört und in Prosa aufgelöst, aber dieser Auflösung verdanken wir soviel humoristische Scherze, soviel echt jüdische Worte und Wendungen, daß auch wir von der allgemeinen Lust mit fortgezogen wurden.

Macht man sich klar, daß Schröder in seiner Shylock-Aufführung die Rolle an die Grenze des Tragischen gespielt hat, so ist die Veränderung deutlich. In Ifflands Shylock sind ganz offenkundig humoristische Elemente dominant; in der jüdischen Charakterisierung der Rolle dürften in erheblichem Maß Rollenstereotypen der älteren Judenrollen enthalten und erneut zur theatralen Wirkung entfaltet worden sein. Die „allgemeine Lust" des Publikums scheint darauf hinzudeuten, daß hier Traditionen einer klischeehaften Darstellung von Juden aufgenommen worden sind, zumindest aber, daß Ifflands Gestaltung der Rolle die Möglichkeit einer derartigen Auffassung nicht ausschloß, sondern unterstützte. Im Unterschied zu seiner NathanDarstellung, in der der Judenrolle derselbe szenische Status zukommt wie allen anderen Figuren auch, ist offensichtlich im Falle von Shylock die Grenze erreicht, wo dem Juden ein szenischer Sonderstatus zukommt. Dieser entspricht seiner äußeren Erscheinungsform - nach einem anachronistischen Judenbild im Vergleich zur Realität des Publikums und des zeitgenössischen Judentums.

IV. Ifflands Bemühungen, den theatralen Status der Judenrollen den anderen anzugleichen und dennoch charakteristische Momente herkömmlicher Judengestaltung in die Charakterisierung zu übernehmen, wird mit Beginn des neuen Jahrhunderts stärker herausgefordert als 1798/99. Im Jahre 1804 erfolgt der Gegenschlag im Falle derjenigen Rolle, die als Inkarnation der Judengestalten der Aufklärung die Bühne erreicht hat. Es ist der Versuch, den positiven Juden der Spätaufklärung auf den alten Status zurückzuwerfen. Der erste Anlauf vollzieht sich literarisch-dramatisch, aber im Umkreis jener Bemühungen, aus denen wenig später die Berliner Lokalposse als wichtige theatergeschichtliche Größe für die nächsten 70 Jahre hervorgehen wird. Julius von Voß, der Verfasser des für das Genre archetypischen Strahlower Fischzugs, sieht sich durch Emanzipationsmöglichkeiten und Assimilationserwartung des Berliner Judentums dazu herausgefordert, die positiven Judengestalten durch die Karikatur zurückzuschlagen. Literarisch anspruchsvoll, schon in der Auszeichnung mittels Untertitel und von daher 25

Vgl. Anm. 23.

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von vornherein mit literarischem Effekt versehen, wird das Stück angekündigt: „Der travestirte Nathan der Weise. Posse in zwey Akten, mit Intermezzos, Chören, gelehrtem Zweykampf, Mord und Totschlag, auch durch Kupfer verherrlicht." Von den allgemeinen Verfahrensweisen der Parodie her kennzeichnet es die Travestie der Judenrolle zu Beginn des neuen Jahrhunderts, daß erstens die sprachliche Barriere - und zwar jenseits der dialektalen Kolorierung oder eines Natur- und Realitätsprinzips - wieder errichtet wird, und zwar möglichst hoch, zum zweiten, daß der herkömmliche, negative Jude der antijüdischen Stereotype mit einer jüdischen Gegenfigur, dem emanzipierten, besser gesagt .emanzipiert sein wollenden' Juden konfrontiert wird. Die Tendenz zeigt sich gleich zu Anfang, wenn der Lessingsche Nathan inhaltlich auf das Niveau des alten, schmuddeligen und kleinkarierten Krämers zurückgestuft, sprachlich aber auf ein pedantisch mit Hebraismen angereichertes Judendeutsch festgelegt wird, wie es realiter nie gesprochen worden ist: Ich höbe die Beforo Roo gekriegen, [üble Botschaft] Das Bais hat gebrannt, wer hat doch Schuld? [Haus] Ich werd ihm die Chatonn schon medibbern. [den Text lesen] Doch hat das Erch bald wieder aufgehört - [Feuer]26

Dieses Judendeutsch stammt aus dem Lexikon, und der Verfasser ist daher von vornherein bereit, einen Übersetzungskommentar zu seinem Text zu geben, der, in seiner ganzen pedantisch-philologischen Penetranz, auch herablassend wohlwollende Bemerkungen über das Jiddische und die Juden einschließt. Der Rückstufung des Nathan auf den mauschelnden Schacheijuden, mit allen zusätzlichen physiognomischen Klischees (vgl. Abb. 7), entspricht die Anlage des Konflikts zwischen Vater und Tochter. Die Neuerung der Travestie liegt inhaltlich darin, daß die historische Situation der Assimilation ins Figurenschema einbezogen wird. Recha ist die bildungsbeflissene Jüdin, die von modischen Zeitungen, etwa „Für die elegante Welt", bis zu Wissenschaftsberichten, von Goethes Dichtung bis zu Artikeln über das Nationaltheater alles verschlingt, was sie erreichen kann - mit ebenso viel Energie als Unverstand. Der Vater, der es bedauert, daß sie überhaupt - das westliche Schriftsystem - lesen kann, wird entsprechend begrüßt: zwischen Vater und Tochter entsteht das Gefalle zwischen Emanzipationsjüdin, schwärmerisch-empfindsam und ihren eigenen stilistischen Ansprüchen noch nicht gewachsen, und altjüdischem Habitus, dem der quasi fremdsprachlich abgefaßte Text entspricht.

26

Voß: Der travestirte Nathan der Weise. Berlin 1804 (Nachdruck bei H. Stiimcke, Anm. 2). S. 135.

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Abb. 7:

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Frontispiz der Nathan-Travestie von Julius von Voß, Berlin 1804

So sind Sie schon, schon angelangt mein Vater? O das ist einzig, immer wähnt ich sie Noch eine Antipodenferne von Der heiigen Laren Vaterherde, von Des Töchterchens pierischem Umarmen O wai, o wai, daß du melummod bist, [studiert] Die Sipper hob ich schon gehört; doch wos [Zeitung] Is dos? kttmm ich in mein Bais, du dibberst Nicht loschon kaudesch, dibberst aach nicht Scholem [Ebräisch] Elechem, ach nicht Tate, dibberst Vater [,..]27 Die Bestürzung des Alten gibt der Tochter dann Gelegenheit zu einer langen und belehrenden Rede, in der sie die Mendelssohnschen Regeln der Sprachreinheit in leicht verballhornter Form zum besten gibt und sich dem Vater als sanfte Pädagogin zur Assimilation anbietet, bis zu dem Punkt, wo die bildungsbeflissene Jüdin zu ihrer eigenen Verlegenheit in die alte Spra27

Ebd. S. 150f. - Worterläuterungen von Voß.

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che zurückfällt.28 Die Voßsche Travestie hat ihre Bedeutung in der nachhaltigen Erweiterung traditioneller antijüdischer Klischeebestände. Zum Stereotyp von Mauschel und Schacher kommen dessen moderne Varianten, die sprachliche und die kulturelle Assimilationsbereitschaft. In ihr wird das alte Klischee vom charakterlosen Juden abgewandelt, der anpassungsfähig und anpassungsbereit ist, soweit es um seinen eigenen Nutzen geht. Damit wird die alte Diskreditierung, die sowohl die verstockte Absonderung als auch die Anpassung, da sie angeblich aus Kalkül unternommen wird, anprangert, auf die moderne sozialgeschichtliche Entwicklung übertragen. Die scheinbar harmlose, mit literarischen Mitteln arbeitende Travestie, die außerdem den Literaturbetrieb und die Literaturmoden der Zeit aufs Korn nimmt, erweist ihre hintergründige sozialgeschichtliche Relevanz. Die Akkulturationsbereitschaft des deutschen Judentums wird in alt-neuen Klischeezusammenhängen gesehen. Sprache und Bildung, die auf eineinhalb Jahrhunderte das Selbstbewußtsein des deutschen Judentums ausmachen, werden ganz im Gegensatz zu der den Juden unterstellten Macht- und Geldmentalität - nach der Aussage der Posse mit Fadenscheinigkeit und Unfähigkeit verbunden, wobei beide wieder als typisch jüdisch - Anpassung aus Gewinnsucht - verstanden werden.

V. Im theatergeschichtlichen Sinne geht die antijüdische Rechnung, die Julius von Voß mit seiner Nathan-Travestie literarisch und gattungstypologisch aufgemacht hat, rund ein Jahrzehnt später auch theatralisch auf. Dies ist der Zeitpunkt, als sich nach Hardenbergs Judenedikt und im Zusammenhang mit der antinapoleonischen Erhebung bereits starke nationalistische mit antijüdischen Impulsen verbinden. Die Posse, die sich anschickt, sich als .Lokalposse' gattungsgeschichtlich zu profilieren, prägt sich zugleich auch als antijüdisches Genre aus, indem die Theatergestalt des Nathan nachdrücklich widerrufen und auf die stereotype Figur des alten Schacheijuden und des neueren Kapitaljuden zurückgeführt wird. 29 Das Stück Die 28

29

Ein weiteres Stück mit antijüdischen Elementen veröffentlicht Julius von Voß 1807: „Die Griechheit"; auch nachdem er sich im Zusammenhang mit der Sessa'schen Posse gegen antisemitische Einstellung ausgesprochen hat (in seinem Gegenstück „Euer Verkehr"), veröffentlicht er weitere Theatertexte mit antijüdischem Grundzug (z.B. „Das Judenkonzert in Krakau", 1826). Interessanterweise erscheint auch im Folgejahr, 1816, ein als historisches Drama verkleidetes Tendenzstück, das als Gegenentwurf zu den jüdischen Haman- und Esther-Spielen des Purimfestes konzipiert ist. Brühweins „Hamaniade" malt den Teufel an die Wand: die Übernahme der preußischen Staatsmacht durch jüdische Minister. Das Stück muß daher ideologiegeschichtlich als Vorläufer zu jenen Gedanken und Texten verstanden werden, die die Vorstellung jüdischen Weltmachtstrebens zum Inhalt haben und in den sogenann-

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Judenschule von Karl Borromäus Sessa, das aus Zensurgründen unter dem Titel Unser Verkehr gespielt und publiziert wird, entfaltet das NegativPanorama des Judentums zunächst nach alten Klischeemustern.30 Der ältere und der jüngere Handelsjude verkörpern Finanz- und Machtstreben, an dem übrigens auch die anderen Figuren des Stückes Anteil haben. Das ökonomische Klischee verbindet sich dabei auf neue Weise mit dem religiösen, wobei der alte Vorwurf des Gottesmordes ausgewechselt wird gegen das Argument von der ideologischen Dienstfertigkeit der jüdischen Religion gegenüber jüdischem Finanz- und Handelsgeist. Die entscheidende Neuerung gegenüber den alten Diskreditierungsmustern besteht aber - in Fortsetzung der Voßschen Ansätze - darin, daß dem Schacherjuden (Abraham) der Assimilationsjude der jüngeren Generation (Jakob) zugesellt und beide mit der Assimilationsjüdin von gesellschaftlichen Ambitionen konfrontiert werden. Das Macht- und Geltungsstreben der jüngeren Generation besteht nicht mehr ausschließlich im Schacher; vielmehr geht es darum, die Welt durch Bildung und „Schänie" (Genie) zu gewinnen. Sprachliche Anpassung und Bildungsstreben, das an entscheidenden Punkten ins Leere läuft und mißlingt, bilden auch hier, wie bei Voß, die Grundlage der Diskreditierung sowie der sprachlichen Stilistik insgesamt. Freilich ist das Jüdischdeutsche, wie es Sessa vorschreibt, wesentlich näher an der gesprochenen Sprache der Juden, soweit sie dem hochsprachlichen Druck nicht nachgeben, als die gelehrte .Konstruktion' der Nathan-Travestie; insofern - und dies macht die sprachgeschichtliche Bedeutung wie die gattungsgeschichtliche Brisanz des Stückes aus - ist von vornherein eine Nähe zur lokalen Posse und damit auch zur lokalen Bühne gegeben, die Zukunft haben. As wer uns werden hinlegen und pekern [sterben], werd kümmen su gaihn der Rebbe Obrahamn, nü? werd er fragen, was hast de gemacht uf de Welt? Bist de gewesen fleißig? Do werden mer zeigen, wos mer hoben gemacht. Perzente, wos mer hoben genummen, Wechselche, wos mer höbe mit Profit gekaaft, Gold, Jouwelen, Geschmeide, wos mer hoben gehandelt von de reichen Gois [sie!] [...]31 Die Assimilationsjuden wiederum sind gekennzeichnet durch mißlingende sprachliche Anpassung an das Schriftdeutsche sowie durch eine Serie verkrachter Bildungsbeweise, angefangen mit dem falschen Französisch bis zu falsch gebrauchten Fremdwörtern, sowie - von besonderer Bedeutung - die bemühte, aber in jüdischen Tonfall zurückgleitende Deklamation deutscher Dichtung, in diesem Fall von Gottfried August Bürgers Lenore. Der Assimilant ist dabei mehrfach vertreten, zum einen, wie in der Nathan-Travestie,

30

31

ten „Protokollen der Weisen von Zion", einem gefälschten .Dokument' vom Ende des 19. Jahrhunderts, bzw. in dessen ab 1918/20 unmittelbar zu Pogromen führender Wirkung, ihren publizistisch-agitatorischen Höhepunkt erreichen. Erstpublikation Berlin 1815 (anonym), durch die .Expedition des dramaturgischen Wochenblatts'. Vielfach nachgedruckt und im Jahre 1869 noch in Reclams Universalbibliothek aufgenommen. - Im folgenden wird nur nach Auftritten zitiert. Unser Verkehr. 1. Auftritt.

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durch die bildungs- und kunstbeflissene Assimilationsjüdin, die es bereits zur Mozart-Sängerin gebracht hat, zum zweiten durch ihren Jugendgespielen Jakob, der ihr nur so lange willkommen ist, wie er - fälschlicherweise der Gewinner eines großen Lotterieloses zu sein scheint, schließlich der nach Taufe und Namenswechsel sich zur burschenschaftlichen und romantisch fühlenden deutschen Jugend zählende Student (Isaschar alias Isidoras Morgenländer). Die pseudo-Herderschen und pseudo-romantischen Sentenzen - „Der Osten ist der Quell des Lichts [...] V o m Osten kam die Weisheit zu uns her und aus der Weisheit Born hab ich getrunken" - verleihen diesem jüdischen Konvertiten ein Moment des Paradoxen und stempeln ihn zum Möchte-Gern-Intellektuellen. Eine neue Stereotypen-Serie gewinnt damit Eingang in das Drama: zu den alten ökonomischen, moralischen, religiösen und sexuellen Klischees kommen die jüdischen Intellektuellen, deren geistiges Profil als unecht, falsch und lächerlich dargestellt wird. „ A e Kaufmann handelt mit seine Wooren, ä Schänie mit seine Tälente!" - so lautet die Analogieregel, die das Stück dem wirtschaftlichen und dem geistigen Bereich des Judentums zuweist.32 Der Hauptweg, auf dem sich Emanzipation und Assimilation des deutschen Judentums ergeben und wo sie Zugang zur deutschen Nation zu erhalten hoffen - Sprache, Bildung, Kultur und Kunst - , sind damit prinzipiell dem Fundus der Diskriminierungsklischees einverleibt. Der Umwertungsprozeß, den die positiven Judengestalten der Aufklärung, allen voran Lessings Nathan, im Hinblick auf Intellekt, Geist, Moral und Ethos vollzogen haben, wird in allen Punkten rückgängig gemacht. Nathan der Reiche, der Weise, der geistig Führende, der Großzügige, der Versöhnende - er wird im Zusammenhang mit der Wiederbelebung aller alten antijüdischen Klischees wiederum auf Altporträts umgemalt. Zu Recht hat Hans-Joachim Neubauer aus seiner ebenso sorgfältigen wie instruktiven Analyse der Sessaschen Posse das Ergebnis formuliert, daß sie die wirkungsgeschichtliche Schaltstelle der deutschen Dramatik darstellt, an der der antijüdische Diskurs des 18. in den des 19. Jahrhunderts exemplarisch überführt wird.33 Diese Feststellung gilt auch analog im engeren bühnengeschichtlichen Sinne, denn mit Sessas Stück hat der alte Theaterjude wiederum die Bühne, und das heißt die Vorstadtbühne des 19. Jahrhunderts, erreicht, freilich in modernisierter Form, denn auch seine Bühnenwirkung beruht in der Zuspitzung auf die Assimilationsfrage. Dem entspricht eine erneute Professionalisierung der Judenrollen, die diesen in gewisser Weise den Sonderstatus zurückvermittelt, den sie dank der Theater- und Schauspieltheorie der Auf-

32 33

Unser Verkehr. 2. Auftritt. Hans-Joachim Neubauer: Auf Begehr: Unser Verkehr. Über eine judenfeindliche Theaterposse im Jahr 1815. In: Antisemitismus und jüdische Geschichte. Zu Ehren von Herbert A. Strauss. Hrsg. v. Rainer Erb und Michael Schmidt. Berlin 1987. S. 313-327. - Herrn Neubauer bin ich für viele weitere wertvolle Hinweise zu Dank verbunden.

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klärung verloren hatten. Der Schauspieler Wurm, der in der gegen Hardenberg (und das Berliner Judentum) erzwungenen Aufführung der Sessaschen Posse die Starrolle des Jakob spielt, muß als .Virtuose' antijüdischer schauspielerischer Techniken bezeichnet werden. Jakobs rollenmäßige Festlegung auf Deklamation geht möglicherweise bereits auf Wurms zu hoher Professionalität entwickelten Technik des jiddelnden Deklamierens zurück. Julius von Voß hat im Jahr 1817 in einem Sammelband Jüdische Romantik und Wahrheit dies einläßlich beschrieben; Wurm setzte „die Zwerchfelle in Bewegung, wenn er einen Israeliten der Gattung darzustellen hatte, welche durch eine abweichende Mundart und gewisse eigentümliche Gebärden sich zu erkennen gibt".34 Grundlegend für die szenische Gestaltung scheint auch hier zu sein, daß die Körperachse aus der Senkrechten herausgenommen wird, die Figur in eine Kipplage gerät, die den Eindruck des Instabilen verleiht; wie man im Falle von Wurm und Ludwig Devrient (als Jakob und Abraham Hirsch) den Abbildungen entnehmen kann, kommt eine gedrungene, gebückte, sich zusammenziehende Körperhaltung hinzu, das Gegenteil vom aufrechten Gang, des weiteren offensichtlich eine hohe Flexibilität der Arm- und Handgestik, mit deutlichen Verweisen auf die religiöse Ritualgestik (vgl. Abb. 8 und 9); in einem Huldigungsgedicht auf Devrient, genauer gesagt: auf seine Abraham-Darstellung, heißt es demgemäß: Geiz wohnt im Kinn, Lug in der Rede Singen, Trug in dem Funkelblick, Gier in der Arme Schwingen, die dürren Finger krümmen sich wie Zangen, und Angelhaken, Geld damit zu fangen.35 Hinzu kommt indes im Falle Wurms das systematische Studium der verschiedenen Assimilationsversuche: Vom altsittigen Trödler an, bis zum reichsten Wechsler, der seine Abkunft platterdings in Rede und Tun nicht offenbaren [...] will [...], dem aber doch in manchen Augenblicken ein Zeichen davon entflieht, weiß dieser Mime nicht allein die Endpunkte, sondern auch die zwischen ihnen liegenden Abstufimgen treffend auszudrücken. Von besonderem Interesse scheinen innerhalb dieser Darstellungsmuster noch jene Szenen künstlerischer Selbstpräsentation des jüdischen Assimilationswillens zu sein, die Wurm zum Kernpunkt seiner Deklamation erhoben hat; sie laufen jeweils auf die Pointe hinaus, daß dem Juden, der neueste deutsche Literatur in neuestem Vortragston zum besten gibt, nach und nach Anklänge an jüdische Mundart und Versprecher untermischt werden, bis

34

35

Über des Schauspielers Herrn Wurm jüdische Deklamation. In: Jüdische Romantik und Wahrtieit. Hrsg. v. Julius von Voß. Berlin 1817. S. 291. In: „Geschichte eines Heißhungers und seiner Stillung, oder Unser Verkehr in Berlin" (Anonym). 1816. - Vgl. Neubauer (Anm. 33). S. 315.

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Abb. 8: Jakob findet seine Geliebte im Aim des Rivalen

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Abb. 9: Wurm und Devrient als Jakob und Abraham Hirsch in Sessas Posse „Unser Verkehr"

sich das Ganze in das alte jiddelnde Diskriminierungsmuster des Jargon' umgeformt hat.36 Sprechtechnik und Sprechstilistik, Bewegungscharakteristik, schließlich physiognomische und gegebenenfalls Kleidungsstereotypen, wie sie damit für die antijüdische Posse festgestellt werden können, haben ihre genaue Entsprechung in der verbreiteten antijüdischen Tendenzliteratur der Zeit, beispielsweise in den Schriften des Itzig Feitel Stern, und deren Illustrationen. Populare Bühne und Popularliteratur verbinden sich zur Weitergabe von antijüdischen Stereotypen, deren Beliebtheit offensichtlich in dem Maße wächst, wie sie immer weniger der sozialgeschichtlichen Realität des sich anpassenden Judentums noch zugeordnet werden können. Die Kostümbogen des Ifflandschen Theaters, die unter anderem einen der Ansatzpunkte

36

Wurms Verfahren, den Bildungsjuden an dessen eigenem Selbstbewußtsein, seiner literarischen und künstlerischen Fähigkeit, zu karikieren, läßt deutlich die Methode erkennen, wie alte antijüdische Klischees (Geldversessenheit, Unreinlichkeit und Wasserscheu) mit dem neuen Judenbild verbunden werden. Im Falle der Deklamationsrolle „hebräische .Dame beim Vortrag von Schillers Taucher" sollte der Rückfall aus literarisch-hochdeutscher Diktion in den jüdischen Jargon an jenen inhaltlichen Punkten erfolgen, die die Einbildungskraft „insbesondere judenthümlich" zu stimulieren vermögen, d.h. beim Motiv des goldenen Bechers als Assoziationsvehikel für Reichtum und Geld sowie beim Motiv der Wellen und des Meeres als Assoziationsansatz für die »ungemeine Scheu vor dem Wasser" (In: Voß: Jüdische Romantik und Wahrheit, S. 296).

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für die Entfaltung der Theater-Popularkultur (mittels Haus- und PapierTheater) bilden, vermitteln zugleich die antijüdischen Momente, durch die sich das Theater in die allgemeine Entwicklung einfügt. Die historische Bedeutung, die der Wiedergeburt des Theaterjuden zukommt, hat bereits Ludwig Börne aus Anlaß einer Frankfurter Aufführung der Sessaschen Judenschule umrissen. Er sieht in dem Stück das Fanal „einer albernen Verbrüderung", in der sich ideologische Momente von Volkstumsidee, von Nationalismus sowie das Gefühl eigener politischer Schwäche in der Aktivierung eines Feindbildes zusammenfanden. Diese Konstellation des Jahres 1815 ist, so befürchtet Börne, durchaus wiederholbar, unter neuem Vorzeichen in analoger Weise. Damit wäre es auch möglich, daß der Judenhaß, der damals „Sitte" war, oder „zur Sitte hat gemacht werden sollen", jederzeit wiederum aktiviert werden könnte, wenn die Juden „zur Zielscheibe irgendeines politischen Witzes hingestellt oder als Schlachtopfer einer Staatslist auserlesen werden sollten."37 Aber auch allgemeiner gefaßt ergeben sich für Börne grundsätzliche wirkungsästhetische Überlegungen, die sich keinesfalls mit dem Hinweis auf die Harmlosigkeit von Humor oder die allseitige Stände- oder Regionalsatire der Posse beschwichtigen lassen: In dem Falle auch [...], der dramatische Schriftstellerund der Schauspieler unbefangen genug wären, hierbei nach nichts Weiterem, als nach Belustigung zu streben, so sind doch wenige Zuschauer so arglos, sich hiermit zu begnügen. Sie werden vielmehr die bei solchen Anlässen empfangenen Eindrücke mit sich aus dem Schauspielhause tragen und die auf der Bühne mit Treue und Überladung vorgespiegelten Gebrechen der Juden üblicherweise allen diesen Glaubensbekennem anrechnen. Wer weiß es nicht, wem braucht man es erst zu erzählen, wie dieses beklagenswerthe Volk auch darin stets mit Ungerechtigkeit behandelt worden ist, daß man alle in Zeit und Raum zerstreute Schlechtigkeiten, solche, welche Juden verschiedener Gegenden und verschiedener Zeiten eigen oder angedichtet waren, gesammelt, und stets auf den einzelnen Kopf jedes nächst dastehenden Juden als eine Tontine gehäuft hat!38

VI. Im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts steht den jüdischen Charakterrollen unterschiedlicher Ausprägung, wie sie zumal Iffland für die Bühne geschaffen hat, die wiedererstandene, um neue Wirkungsmomente bereicherte Gestalt des Theaterjuden gegenüber, von der sich offensichtlich manche geradezu die „Wiedergeburt des vertriebenen Hanswurst" und damit die Entstehung eines im norddeutschen Raum charakteristischen neuen Volks37

38

In: Gesammelte Schriften von Ludwig Börne. Neue vollständige Ausgabe. Bd. IV. Hamburg/Frankfun a.M. 1862. S. 351. Ebd. S. 149.

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stíicks erwarten.39 Der Streit um das Sessasche Stück ist der Streit um den Status der Judenrolle im 19. Jahrhundert, und um die Frage, ob diese dem szenischen Status nach allen anderen gleichgestellt sein oder gesonderten Status annehmen sollte. Die damit aufgeworfenen theatergeschichtlichen Probleme sind beim heutigen Stand der Forschung noch keinesfalls lösbar. Die Frage etwa, inwieweit sich in der Wirkungsgeschichte der Sessaschen Posse eine kontinuierliche antijüdische Possentradition ergibt, ist weder insgesamt noch auf regionalem Bereich eindeutig zu beantworten. Auch die bedeutende Stoffsammlung, die Horst Denkler in seiner Studie „Zum Rollenspektrum der Juden-Figuren" ausgebreitet hat, gestattet noch keine Antwort; wohl aber ist ein .Grundgesetz' der Entwicklung formuliert, daß die Judenfiguren „ideologisches Argumentationsmaterial lieferten, welches über ihre innerdramatisch-handlungsbedingte Funktion weit hinaus reichte."40 Das Problem läßt sich auf rein dramengeschichtlicher Grundlage auch nicht lösen; der theatergeschichtliche Zusammenhang ist hier unmittelbar funktionsbestimmend, und zwar in der Weise, daß er die Vorgaben der jeweiligen Dramen seinerseits überformt und historisch wie wirkungsmäßig erst festlegt. Der Schlüssel zu einer Antwort dürfte in der Differenzierung des deutschen Theaterwesens insgesamt liegen, das heißt darin, daß mit der Teilung der Theaterbereiche eine entsprechende unterschiedliche Festschreibung von Rollenbildern im Grundsätzlichen erfolgt. Zu betrachten sind zunächst die repräsentativen Bühnen, die in sich Elemente des Nationaltheatergedankens des 18. Jahrhunderts aufnehmen, die sich also mutatis mutandis der bürgerlichen Theaterreform aussetzen oder sich von ihr her verstehen; dabei ist zu bedenken, daß den großen Reformbemühungen der Aufklärung, sodann dem Einfluß Weimars nach der 48erRevolution eine neue Phase der Theaterreform nach 1848/9 folgt, die den bürgerlichen Theatergedanken als Bildungstheater zu realisieren versucht. In diesem Theaterbereich ist die jüdische Rolle grundsätzlich als literarisch vorgeprägte Charakterrolle zu verstehen. Das Jahrzehnt nach Ifflands Tod bringt für die Charakteristik neue, vertiefende Impulse, die im wesentlichen von der Shakespeare-Auffassung und damit u.a. von der Shylock-Darstellung von Edmund Kean ausgehen (vgl. Abb. 10). Diskreditierende Restbestände von Judenklischees werden dabei ausgeschlossen oder in individualisierende Charaktermomente überführt, womit zugleich eine gewisse Entju-

39

40

Vgl. Horst Denkler: „Lauter Juden". Zum Rollenspektrum der Juden-Figuren im populären Biihnendrama der Mettemichschen Restaurationsperiode (1815-1848). In: Conditio Judaica [...] Erster Teil. Hrsg. v. Hans Otto Horch u. Horst Denkler. Tübingen 1988. S. 158. - Auch Denkler verweist in diesem Zusammenhang auf die anonyme Schrift vom „Heißhunger" (Anm. 35), in der ausdrücklich zwischen Judenrollen und einer neuen .norddeutschen' Posse Verbindungen hergestellt werden. Ebd. S. 156.

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Abb. 10: Edmund Kean als Shylock

daisierung eintritt. Edmund Kean hat als .Prototyp des romantischen Schauspielers' die Shylock-Rolle maßstabsetzend umgestaltet (ab 1814 am Drury Lane Theatre) und die traditionelle Perücke und roten Bart abgelegt. Die Andeutung eines charakterlich Dunklen, Hintergründigen, eines Dämonischen ersetzt das Stereotyp des Schachers, charakterisierende Pantomimen lassen die Karikatur jüdischer Gestik zurücktreten. Der große existentielle Ausbruch des Individuums ersetzt die Lamento-Szene des Theateijuden. Auch auf den deutschen Bühnen setzt sich diese Rollencharakteristik nach und nach durch, wie unter anderem die Shylock-Rolle Ludwig Devrients in ihrer Anlehnung an Keansche Vorgaben belegt.41 (Vgl. Abb. 11). In der Folgezeit wird daher Shylock im Rahmen des ShakespeareRepertoires eines Schauspielers zur gleichwertigen Charakterrolle zusam-

41

Die Tatsache, daß der Schauspieler Ludwig Devrient in der Sessaschen Posse als Abraham großen Erfolg hat, im selben Jahrzehnt jedoch die Charakterrolle des Shylock nach Keanschem Vorbild anlegt, muß als Zeugnis für die Prägekraft der Genres und der Theaterformen hinsichtlich der Judenrollen und ihrer Kontinuität verstanden werden.

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men mit allen anderen; gegen Ende des Jahrhunderts ergibt sich im Zeichen der .Charakterisierung' sogar eine gewisse Annäherung der Nathanund der Shylock-Charaktere. Historisierung und Ästhetisierung, die in der Ära des ,Bildungstheaters' stattfinden, erleichtern diese Annäherung (vgl. Abb. 12 und 13). Der Satz in der Theater-Enzyklopädie von Herloßsohn, Blum und Marggraff aus dem Jahre 1846, daß mit Nathan, Schewa und Shylock der Bestand charakteristischer Judenrollen auf der anspruchsvollen Reformbühne grundsätzlich umrissen sei, ist in diesem Zusammenhang auch verräterrisch. Denn er besagt, daß diese Rollen damit im wesentlichen auch festgelegt und .saturiert' sind, das heißt, daß sie sich nach .außen', zur geschichtlich-sozialen Veränderung der Zeit eher neutral verhalten. In der Blütezeit des bürgerlichen Bildungstheaters nach 1860 entfallen offenkundig antijüdische Momente in der Judendarstellung; es entfällt damit aber auch die Möglichkeit, die aktuellen Probleme im deutsch-jüdischen Verhältnis in die Rollengestaltung einzubeziehen. Der durch das Anwachsen des Antisemitismus ab 1878/80 entstehenden Lage steht das Bildungs- und Kulturtheater damit weitgehend isoliert und unbeteiligt gegenüber. Seine Judenrollen bedeuten jederzeit das Alibi der deutschen Theaterkultur gegenüber allen Befürchtungen oder Vorwürfen einer grundlegend anti-jüdischen Komponente in der deutschen Kultur, auf der anderen Seite bedeuten sie wohl auch ein Plakativ für alle diejenigen, die in Lessings Nathan die Ehrenerklärung des deutschen Geistes für ihre jüdisch-deutsche Identität sehen und darin irrtümlich die Garantie ihrer Zukunft erblicken, wie die Herausgeber der Gedenkschrift des Jahres 1879. Im kommerziellen Sektor des Theaterwesens liegen die Dinge anders. Auf den sogenannten Vorstadtbühnen - und Schrittmacherrolle übernimmt hier offensichtlich das Berliner Königstädtische Theater, das paradoxerweise unter anderem von jüdischen Aktionären getragen wird - gelangen die Theaterjuden nach altem Muster, aber im neuen biedermeierlichen Gewand zu neuer Wirkung. Der springende Punkt, theatergeschichtlich gesehen, ist die Annäherung der Judenrollen an die der komischen Figur, die die genregeschichtliche Leitlinie der Possenformen zwischen 1815 und 1848 festlegt. Der Theateijude tritt damit in die Hauptrolle, die auch innerhalb der Possendramaturgie noch Sonderstatus aufweist. Wie weit ihm in dieser Eigenschaft auch inhaltlich zu den alten Stereotypen die neuen des Assimilationsjuden und des bildungsbeflissenen Heuchlers zugewiesen werden, muß von der Forschung erst noch überprüft werden. Grundsätzlich ist aber festzustellen, daß der Jude der Lokalposse alle Arten und Grade antijüdischer Verzeichnung annehmen, aber auch in jene changierenden Zwischenlagen eintreten kann, dank denen eine vermeintlich harmlose Komik oder eine genrespezifische Allgemeinsatire den Transport antijüdischer Stereotype möglich macht. Diese Möglichkeiten teilt die Vorstadtbühne, seit der Ära von Wurm und Louis Angely und ihren prekären Judenrollen, mit dem Jahrmarktstheater,

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Abb. 13:

A d o l f Sonnenthal als Nathan

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den Puppenbühnen, dem Kindertheater das ganze Jahrhundert hindurch, so daß der rassistische Antisemitismus des letzten Jahrhundertdrittels hier ohne weiteres Aufnahme und Weitervermittlung finden kann. Philosemitische Gegenschläge sind im Rahmen des genre- und rollenspezifischen Grundmusters freilich genauso möglich, so im Falle von F. Berg in Wien oder David Kaiisch in Berlin.42 Gemeinsam ist freilich beiden Seiten, daß die jeweilige Darstellung der Judenrolle keine direkten mimetisch vermittelten Korrelate in der gleichzeitigen sozialen Wirklichkeit des deutsch-jüdischen Zusammenlebens findet, sondern stattdessen Muster und Bilder entwirft, deren Bedeutung historisch und ideell konstituiert wird. Dem entspricht - worauf Horst Denkler aufmerksam gemacht hat - die Äußerung Harry Breßlaus, im Zusammenhang mit dem Antisemitismusstreit in Berlin 1880, daß in jedem Judenleben in Deutschland der Kampf gegen die Klischeevorstellungen, die von fiktiven Judengestalten des Theaters und der Literatur weitergetragen werden, gefordert sei. Die Wirkungsgeschichte des einzigartigen Werkes der deutschen Literatur- und Theaterkultur, des Nathan, kennt offensichtlich nicht nur ,Gegenwerke', die sie aufführungsmäßig beeinflußt hat, wie das Drama von Shylock, oder die, angefangen mit den Travestien, ihrerseits im ideologischen Gegensinn entworfen worden sind. Lessings „dramatisches Gedicht" hat auch Theater- und Aufführungstraditionen reaktiviert und provoziert, die geeignet waren, seinen ursprünglichen gehaltlichen Appell zu verwässern, zu neutralisieren, oder gar im gegenteiligen Sinn zu übermalen. Trotz aller äußeren, in den Höhenlagen der deutschen Kulturentwicklung formulierten Anerkennung bleibt der Bühnenstatus von Nathan und seinesgleichen labil und allen Anfeindungen gegenüber anfällig. Weit entfernt davon, die Garantie für die letztlich humane Respektierung der jüdischen Minorität zu sein, versinnbildlicht er vielmehr deren realen historischen Status in aller Ausgesetztheit und Gefährdung.

42

Vgl. Ottokar Franz Berg [Ebersberg]: „Isaak Stem". Wien 1871; David Kaiisch: „Einer von unsere Leut'."

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Bildnachweise Abb. 1, 2, 3, 5: Heinrich Härle: Ifflands Schauspielkunst, I. Teil, 1. Abt.: Bildertafeln. Berlin 1925 [ = Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte, Bd. 34], Tafel 15, 16, 35. Abb. 4: Laut Angabe von Elisabeth Frenzel, Judengestalten auf der deutschen Bühne, München 1942, S. 272 aus: Brüder Henschel: Ifflands mimische Darstellungen. Berlin 1908/1911 Abb. 6: s. Abb. 4 Abb. 7: Julius von Voß: Der travestirte Nathan der Weise. Berlin 1804 (Nachdruck bei Heinrich Stümcke: Die Fortsetzungen, Nachahmungen und Travestien von Lessings „Nathan der Weise". Berlin 1904 [= Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte, Bd. 4], S. 130) Abb. 8: Laut Angabe von E. Frenzel, Judengestalten auf der deutschen Bühne, S. 272: Zeichner unbekannt. Besitz des Museums der preußischen Staatstheater Abb. 9: Julius Bab: Die Devrients. Geschichte einer deutschen Theaterfamilie. Berlin o.J., S. 33 Abb. 10: Hermann Sinsheimer: Shylock. Die Geschichte einer Figur. München 1960 Abb. 11: Joseph Gregor: Wiener Szenische Kunst. Bd. II: Das Bühnenkostüm. Zürich/Leipzig/Wien 1925, Abb. 136 Abb. 12: Laut Angabe von E. Frenzel, Judengestalten auf der deutschen Bühne, S. 272: Besitz des Museums der preußischen Staatstheater Abb. 13: Rollenporträt im Besitz des Deutschen Theatermuseums, München

Hartmut Steinecke (Paderborn)

Gutzkow, die Juden und das Judentum

Zwei Charakterisierungen Karl Gutzkows durch Zeitgenossen zur Einstimmung in das Thema und seine inneren Widersprüche vorab: Wolfgang Menzel, der einflußreiche deutschnationale Kritiker, nannte Gutzkow den „frechsten Parteigänger" der Juden;1 Berthold Auerbach, der liberale jüdische Erzähler, schrieb zwei Jahrzehnte später, Gutzkow sei zeitlebens ein „intimer Judenfeind"2 gewesen. Wie sind solche Urteile zu erklären? Welches ist zutreffend oder zumindest: sachbezogen? Das Thema „Gutzkow, die Juden und das Judentum" wird noch zusätzlich kompliziert, weil von kaum einem anderen nichtjüdischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts so viele Stellungnahmen zu jüdischen Fragen vorliegen wie von Gutzkow, Zeugnisse, die durchaus auch Widersprüche enthalten. Sie differieren nach Lebensetappen, Schreibzweck und Veröffentlichungskontext. Gutzkow war fast ein halbes Jahrhundert lang - von seinem publizistischen Debut mit der Zeitschrift „Forum der Journalliteratur" 1831 bis zu seinem Tod 1878 - einer der politisch aktivsten, vielseitigsten und streitbarsten deutschen ,Zeitschriftsteller'. Diese Bezeichnung, die von dem von Gutzkow verehrten Ludwig Börne stammt, spricht dem Literaten zwei Aufgaben zu: .Historiograph' der eigenen Zeit zu sein, also ihre geistigen, kulturellen, politischen, sozialen Strömungen seismographisch zu erfassen und einprägsam darzustellen; und zum anderen: durch die Kommentierung und die Darstellungsart in Entwicklungen der Zeit selbst einzugreifen, sie mitzuprägen, voranzutreiben, ihre Richtungen und Ziele im Sinne des Liberalismus mitzubestimmen. Für den liberalen Zeitschriftsteller Gutzkow war die .Judenfrage' - das Problem der bürgerlichen Gleichstellung der Juden - Teil der Debatte um allgemeine bürgerliche Freiheiten und Rechte und zugleich Prüfstein dafür, wie ernst die Gleichheitsforderungen genommen, wieweit die Juden als gleichberechtigte Bürger im Sinne des preußischen Ediktes von 1812 betrachtet wurden. Zu diesem allgemeinen Interesse an einer Zeitfrage tritt das besondere, das sich für Gutzkow aus der Akkulturation der deutschen Juden

2

Wolfgang Menzel: Schriften über die Juden. In: Morgenblatt für gebildete Stände, Literatur-Blatt Nr. 93, 15.9.1837, S. 370, Anm. Berthold Auerbach: Briefe an seinen Freund Jakob Auerbach. Ein biographisches Denkmal. Frankfurt 1884, Bd. II, S. 385.

Gutzkow, die Juden und das Judentum

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in seiner Epoche stellte: Unter den Schriftstellern, insbesondere im liberaloppositionellen Lager, dem er sich zugehörig fühlte, war eine große Anzahl von Juden anzutreffen, zu denen er sich als konkurrierender Autor wie als politischer Kombattant verhalten mußte. Das ist nicht nur aus biographischen Gründen wichtig, sondern vor allem deshalb, weil Gutzkow auch in Sachfragen meistens ad hominem argumentierte. So zeigte er z.B. in Rezensionen von Werken seiner jüdischen Freunde ein sehr weitgehendes Verständnis für progressive Ideen von Vorkämpfern der jüdischen Emanzipation. Aber umgekehrt bezog er auch, wenn er in literarischen oder politischen Fehden stand, die jüdische Herkunft des Gegners in aggressiver und polemischer Weise mit in seine Angriffe ein. All dies ergibt ein eher verwirrendes Bild für den, der sich mit Gutzkows Stellung zum Judentum befaßt. So kann nicht verwundern, daß bereits die Urteile von Zeitgenossen in dieser Frage so weit auseinanderklafften, wie es die Eingangszitate von Menzel und Auerbach andeuteten. Dieses zwiespältige Bild findet sich ebenso in der wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema. Die bisher einzige detaillierte wissenschaftliche Beschäftigung mit der Frage „Gutzkow und das Judentum", die sich auf die Kenntnis der meisten relevanten Texte stützt, stammt von Heinrich Hubert Houben in seinem Buch Gutzkow-Funde (Berlin 1901).3Houbens noch immer unentbehrliche Studien haben den Nachteil, daß sie von vornherein für Gutzkow Partei ergreifen und einen durchgehend apologetischen Zug aufweisen. Alle späteren durchweg kurzen Beiträge zum Thema ziehen ein sehr begrenztes Material heran, meistens um ein einseitiges Urteil zu stützen, und behandeln nur einzelne Aspekte und Phasen des Gutzkowschen Werkes.4 Auf begrenztem Raum kann auch dieser Vortrag nur einige Perspektiven zeigen und Thesen formulieren. Dabei soll es vor allem darum gehen, historische Prozesse und ihnen zugrundeliegende Motivationen zu analysieren und in ihren Interdependenzen zu verstehen. Ich will die folgenden Erörterungen über Gutzkows Verhältnis zum Judentum unter drei Aspekten durch-

4

Heinrich Huben Houben: Karl Gutzkow und das Judentum. In: H.HJî.: Gutzkow-Funde. Beiträge zur Litteratur- und Kulturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin 1901, S. 144-280. Die neuere Gutzkow-Literatur ist verzeichnet in meinem Band: Literaturkritik des Jungen Deutschland. Entwicklungen - Tendenzen - Texte. Berlin 1982, S. 73f. Seither sind u.a. erschienen: Karl Gutzkow: „Der Verleger ist des Schriftstellers Beichtvater". Briefwechsel mit dem Verlag F.A. Brockhaus. 1831-78. Hg. von Gerhard K. Friesen. Frankfurt 1978; Joseph A. Kruse: Gutzkows „Wally" und der Verbotsbeschluß. In: Das Junge Deutschland. Kolloquium zum 150. Jahrestag des Verbots vom 10. Dezember 1835. Hg. von J.A.K. u. Bernd Kortländer. Hamburg 1987, S. 39-50; Peter Stein: Probleme der literarischen Proklamation des Politischen. Karl Gutzkow im Jahre 1835. In: ebd., S. 134-154; Erwin Wabnegger: Literaturskandal. Studien zur Reaktion des öffentlichen Systems auf Karl Gutzkows Roman „Wally, die Zweiflerin" (1835-1848). Würzburg 1987.

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führen: Der biographische Aspekt - Gutzkows persönliches Verhältnis zu Juden - soll den Hintergrund bilden zum einen für den theoretischen Aspekt: zu seinen Äußerungen als Essayist und Journalist; und zum anderen für den poetischen Aspekt: Gutzkows Stellung in seinen literarischen Werken, besonders in dem Drama Uriel Acosta. Gutzkow wurde 1811 in Berlin geboren, 1812 versprach das von Hardenberg durchgesetzte „Edikt über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden" diesen fast volle Rechtsgleichheit. Dennoch blieben Vorbehalte, Vorurteile, Ungleichzeitigkeiten im Urteil der Bevölkerung bestehen. Vor diesem Hintergrund sind die Schilderungen von Juden in Gutzkows autobiographischer Schrift Aus der Knabenzeit (1852) zu lesen: Man hat sie [die Juden] für den Landbewohner recht als die Boten der Hölle geschildert, die mit Mephistopheles, dem Seelenfänger, in nächstem Accord stünden. Von seiner Vaterstadt [Berlin] kann der Knabe so grelle Jugendbilder nicht heraufbeschwören. Der Jude ist wohl dem Kinde früh ein Wort des Schreckens; nähert er sich aber, selbst im Barte [...] und das Kind hält Stand und wechselt die Hand und einige Worte des Vertrauens mit dem Juden, so gewinnen die blitzenden Augen, die scharfen bestimmten Mienen des Antlitzes, die wohlklingenden Accorde der Betonung jedes Kind für den seltsamen Freund.5 Gutzkow beschreibt jüdische Mitschüler, Händler, Geldverleiher - insgesamt freundlich und humorvoll, wenn auch gelegentlich etwas herablassend. Auf der Universität Berlin wurden dem Theologiestudenten die historisch verfestigten, wenig differenzierten Bilder der Religionen übermittelt. Im näheren Umgang mit August Neander und Eduard Gans - „Zwei jüdische Konvertiten - wie ungleich im Äußern und Innern!" 6 - wurde er auch mit innerjüdischen Kontroversen vertraut. In den Rückblicken schilderte er das Berliner Judentum der dreißiger Jahre, dessen „hohe [...] Bedeutung für deutsche Bildung überhaupt und im besondern für Kunst und Literatur" er nachdrücklich betonte.7 Nach seiner Beobachtung dominierte bei der großen Mehrzahl der jüdischen Intellektuellen die „vornehme Gleichgültigkeit" 8 gegenüber Religionsfragen; eine Fülle von Konversionen war Ausdruck teils 5

6 7 8

Karl Gutzkow: Aus der Knabenzeit. Frankfurt 1852, S. 220. Nicht uninteressant sind die Abweichungen zur Ausgabe letzter Hand (K.G., Gesammelte Werke. 2. Ausg., Bd. I, Erste Serie, Jena 1872), deren Fassung Gensei in seiner Werkausgabe von 1912 abdruckt: „In jenen Tagen schienen sie [die Juden] dem gemeinen Mann noch mit dem Seelenfänger, dem Teufel, in Verabrechnung zu stehen. ,Der Jude kommt!' war noch ein Schreckwort für den Knaben. Bald aber hielt man selbst einem mit einem Barte stand [...] Die blitzenden Augen, die scharfen, bestimmten Mienen des Antlitzes, die wohlklingenden Akkorde der Betonung nahmen sogar bald für einen Freund des Hauses ein [...]" Gutzkows Werke. Hg. von Reinhold Gensei. 7. Teil. Berlin (1912), S. 125 [Reprint Hildesheim, New York 1974], Im folgenden ziüert: Werke [Gensei]. Im Anmerkungsteil verzeichnet Gensei die Varianten des Textes von 1852 nicht. Karl Gutzkow: Das Kastanienwäldchen in Berlin. In: Werke [Gensei], 8. Teil, S. 33. Karl Gutzkow: Rückblicke auf mein Leben. In: Werke [Gensei], 9. Teil, S. 72. Gabriel Riesser: Jüdische Briefe. Zur Abwehr und zur Verständigung. 2. Heft, Berlin 1842, S. 105.

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von kulturellem Integrationswillen, teils von Opportunismus. Der Umgang mit assimilierten oder weitgehend auf Anpassung bedachten Berliner Juden prägte Gutzkows Bild in starkem Maße. Gutzkows distanzierte Haltung änderte sich entscheidend durch seine Bekanntschaft mit der neuen oppositionellen Literatur. Er berichtet in einer Szene, die über das Biographische hinaus durchaus zeitsymptomatischen Charakter besitzt, von dem Schock, den er als Student - aufgewachsen in deutschnationalen, preußischen Traditionen - empfand, als er erfuhr, daß sein verehrtes Vorbild Börne ebenso wie Heine Jude war. Ich gestehe, daß ich in früherer akademischer Zeit Heinen auch deßhalb nicht mochte, weil er Jude war und daß mir vor acht Jahren ein Dolch in's Herz fuhr, wie ich hörte, daß auch mein angebeteter Börne [...] ein Jude sein sollte. Aber ich glaube, daß man allen antijüdischen Fanatismus naturgemäß verlieren muß, wenn man so ehrlich ist, seine Liebe zu so ausgezeichneten Geistern, wie diese, nicht zu betäuben, sondern sie zu hegen quand même! Nicht das Literarische wurde mir, wie so vielen, durch das Nationale verleidet, sondern durch das Literarische grade, dessen Werth ich nicht läugnen konnte, kam ich zur Toleranz gegen das Nationale, zur Hingebung an die Interessen einer innigeren Verschmelzung mit einem Stamme, der kein Stamm mehr ist, und keiner mehr sein sollte.9 Die Verehrung für Börne bringt Gutzkow 1840 dazu, in seiner Biographie dieses Schriftstellers ein sehr eindringliches, differenziertes, von Sympathie getragenes Bild der Lage des Judentums in Deutschland zu entwerfen; aber wie der letzte Satz zeigt, führt ihn die Hochschätzung Börnes auch dazu, dessen Weg der kulturellen Angleichung für den einzig gangbaren und sinnvollen anzusehen. Diese Vorstellung - daß die Juden „kein Stamm mehr" sein sollten - blieb für Gutzkow zeitlebens prägend. Er fand diese Haltung bestätigt im Umgang mit den jüdischen Schriftstellern Gabriel Riesser und Berthold Auerbach, der seinen Niederschlag in einem Programmartikel über Jüdische Theologie (1835) fand. 10 Gutzkow gibt hier teilweise die Ansichten der beiden Freunde wieder: Er wendet sich vehement gegen die Orthodoxen, proklamiert das Ende des alten Judentums und fordert eine neue übergreifende .Weltreligion'. In welchem Maße solche Parteinahmen und Prognosen auch als politisch gedacht und von den Zeitgenossen verstanden wurden, zeigte sich noch im gleichen Jahr 1835, als Gutzkow mit dem Roman Wally, die Zweiflerin zum ersten Mal in den Mittelpunkt einer in Deutschland bis dahin beispiellosen öffentlichen Diskussion trat. Die Titelheldin wird von ihrem Geliebten, Cäsar, verlassen, der - als Christ - schließlich die Jüdin Delphine heiratet. Wally 9

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Karl Gutzkow: Götter, Helden, Don-Quixote. Abstimmungen zur Beurtheilung der literarischen Epoche. Hamburg 1838, S. 258. Phönix, Literaturblatt Nr. 22, 5.6.1835, S. 525-527. Gutzkow schreibt, S. 527: „und bereitet euch vor, auf die große universelle Weltreligion, deren Taufe und Beschneidung im Handschlage liegen, deren Symbol also lauten wird: Thuet recht und scheuet Niemand!".

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schildert und analysiert ihre Gegenspielerin, die selbst gar nicht auftritt. Dabei fallen Äußerungen über Familie, Ehe und Liebe, die viele zeitgenössische Leser als unmoralisch und atheistisch empfanden.11 Meistens wurden diese fiktionalen Passagen als Gutzkows Überzeugungen betrachtet. In der heftigen öffentlichen Polemik gegen Gutzkow verbanden sich politische, konfessionelle, ökonomische und private Interessen; Antisemitismus und der Vorwurf der Unmoral waren die gesellschaftlich wirksamen Hebel der Denunziation. Insbesondere Menzel verquickte den Vorwurf der Unmoral mit Ausfällen gegen das .Jüdische' an Gutzkow und am Jungen Deutschland. Seine Formulierungen .junges Palästina" und „Brut gemeiner Judenjungen"12 appellierten in brutaler Offenheit an antisemitische Instinkte. Gabriel Riesser konstatierte in seinen Jüdischen Briefen, Menzel habe die Jungdeutschen in Juden verwandelt, um sie dadurch verhaßt zu machen; „in der Absicht, die Schriftsteller [...] zu beschimpfen, schimpfte man auf die Juden".13 Gutzkow sah sich - zumal der Roman im Verlag seines jüdischen Freundes Carl Löwenthal erschienen war - öffentlich als Parteigänger der Juden hingestellt, und das hieß in einer Gesellschaft, deren zentrales Problem die Gleichheitsidee war: er wurde auch politisch denunziert. So eiferte und geiferte z.B. Gustav Pfizer in dem Pamphlet Votum über das „Junge Deutschland" über Gutzkows „Wahlverwandtschaft zu jenem Volke", die sich u.a. darin zeige, daß er sich nur mit jüdischen Literaten und Themen beschäftige und „von Christus in einem Tone spricht, als ob er einen Apostaten des Judenthums in ihm haßte. Zu alle dem kommt noch [...] der ätzende und fressende Verstand [...] als charakteristisches Merkmal des Judenthums".14 Für die „Münchener Politische Zeitung" war das alles noch zu differenziert, sie teilte ihren Lesern bündig mit: „So ist Gutzkow ein Jude"}5 Die meisten Juden waren ihrerseits entsetzt über den unerwünschten Parteigänger. Sie fühlten sich durch diese Polemik in eine für sie unangenehme, ja gefährliche Nachbarschaft zu undeutsch-unmoralischen Literaten versetzt Schärfer noch als Angriffe von dieser Seite traf Gutzkow der Gesinnungswandel seines jüdischen Studienfreundes Joel Jacoby, der vom streitbaren, radikalen Demokraten zum Denunzianten der jungen Literatur ge11

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Diese Kontroversen sind dokumentiert bei Alfred Estermann (Hg.): Politische Avantgarde 1830-1840. Eine Dokumentation zum Jungen Deutschland". 2 Bde. Frankfurt 1972 und als „Dokumente zum zeitgenössischen Literaturstreit" in Karl Gutzkow: Wally, die Zweiflerin. Roman. Hg. von Günter Heintz. Stuttgart 1979, S. 259-435. Wolfgang Menzel: Unmoralische Literatur. In: Morgenblatt für gebildete Stände, Literaturblatt Nr. 110, 26.10.1835, S. 440; und W.M.: Die deutsche Literatur. 2. Aufl., Stuttgart 1836, Bd. 2, S. 211. Gabriel Riesser [Anm. 8], 1. Heft, Berlin 1840, S. 115. Gustav Pfizer: Votum über das .Junge Deutschland". Stuttgart 1836. Zitiert nach Estermann I, S. 155. Münchener Politische Zeitung Nr. 307, 29.12.1835, S. 2038-2039. Zitiert nach Estermann I, S. 295.

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worden war und auch Gutzkow selbst bespitzelte und öffentlich angriff. Der Verleumdete schlug zurück, literarisch in der Gestalt eines satirisch gezeichneten opportunistischen jüdischen Überläufers in seinem Roman Seraphine (1837), publizistisch in einer scharfen Rezension von Jacobys Buch Klagen eines Juden (1837).16 Zugleich versuchte Gutzkow in immer neuen Anläufen, seine Position zur Frage der Judenemanzipation klarzulegen. Die wichtigsten dieser Arbeiten sind: das Kapitel „Religion und Christentum" in dem Werk Die Zeitgenossen (1837), ein Abschnitt über die religiösen und gesellschaftlichen Bedingungen der jüdischen Existenz im Rahmen seiner Börne-Biographie (1840) und eine Reihe von Artikeln in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Telegraph", begonnen mit einem Beitrag über Julius Mosens Stück Ahasver}1 Diese Rezension ist vor allem deshalb wichtig, weil sie zeigt, wie Gutzkow Kritik an Tageserscheinungen und grundsätzliche Einstellung miteinander verband. Er verspottete die Mode der Ahasver-Dichtungen als billige Variante des Weltschmerzes. Die Sünde Ahasvers sieht er nicht so sehr als Vergehen eines Juden gegen Christus, sondern als allgemeinmenschliches Versagen - Ahasver verkörpere „das Schlechte am Judenthum, das Lieblose, Partheiische, Hämische, Zersetzende, er ist grade Alles das, was noch immer die Emanzipation am meisten verhindert".18 Gutzkow entwickelt gegenüber den gängigen Ahasver-Dichtungen und ihrem psychischen Korrektiv des Selbstmitleids eine eigene aktionistische Auffassung. Sein Ahasver würde zur Erkenntnis seiner Fehler kommen, sich auf den Standpunkt Spinozas aufschwingen, sich selbst taufen. Gutzkow faßt seine Haltung zusammen in der Aufforderung: „Juden that will ich sehen, nicht den ewigen JudenicA/werz."19 Gutzkows Äußerungen sind teilweise widersprüchlich, weil sie zwar fast immer an Einzelfällen und -beobachtungen ansetzen, aber dann in einer für ihn kennzeichnenden Weise oft überspitzen, verabsolutieren. Neben diesem Sprung von der Empirie zur Idee ist allerdings auch nicht zu übersehen, daß er sich von einigen Vorurteilen seiner Jugend und seiner Zeit nie getrennt hat. Es ist für diese Widersprüche bezeichnend, daß Gutzkow auch in der 16

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Karl Gutzkow, Rezension über Jacoby, Klagen eines Juden. In: Frankfurter Telegraph, April 1837, II. Quartal, Nr. 1, S. 1-5. Abdruck in: K.G., Götter [Anm. 9], S. 309-323. Karl Gutzkow, Die Zeitgenossen. Ihre Schicksale, ihre Tendenzen, ihre großen Charaktere. 2 Bde. Stuttgart 1837. Später u.d.T.: Säkularbilder in: K.G., Gesammelte Werke. Frankfurt 1845-52, Bde. 9 u. 10. - K.G., Böme's Leben. In: Ludwig Böme's gesammelte Schriften. Supplementband. Hamburg 1840, S. 20ff. - Rezension über Mosen, Ahasver. In: Telegraph für Deutschland, Nr. 124 und 128, August 1838, S. 985-991 u. 1017-1022. Auch in: K.G., Vermischte Schriften. Leipzig 1842, Bd. 2, S. 154ff. Einleitender Artikel zur Rezension von Mosens Ahasver in: Telegraph für Deutschland, Nr. 124, August 1838, S. 987. Ebd., S. 990.

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Ahasver-Debatte von mehreren Seiten scharf angegriffen wurde, so daß er sich gezwungen sah, Erläuterungen und Erklärungen folgen zu lassen. So kann zwar kein Zweifel daran bestehen, daß er immer wieder nachdrücklich für die bürgerliche Gleichstellung der Juden eintrat, und ebensowenig, daß er stets Gegner der politisch und religiös Orthodoxen war und die Assimilation befürwortete. Er sah die Emanzipation jedoch mehr als Mentalitätsproblem an, weniger als eine Frage des Rechts. Offensichtlich hat Gutzkow die mangelnde Emanzipationsbereitschaft der preußischen Gesellschaft im Blick, wenn er, in scheinbarem Widerspruch zu seiner Grundhaltung, als HegelSchüler mit der „faktischen Staatsräson" argumentiert. So empfiehlt er etwa - um keine antisemitischen Ausschreitungen durch zu raschen Wandel zu provozieren - eine nur schrittweise Gleichstellung und plädiert dafür, den Juden zumindest zunächst noch nicht den Zugang zu Ämtern in der Staatsverwaltung und der Schulerziehung in .moralischen' Fächern zu gewähren.20 Auf den wütenden Protest konsequenterer Emanzipationsanhänger reagierte Gutzkow mit einer etwas schalen Ironie: er habe nicht erwartet, daß die liberalen Juden so lüstern „nach dem Heu in der großen Staatskrippe trachten", was für jeden demokratisch Gesinnten eigentlich verwerflich sei. Ein in der Zeit weitverbreitetes Vorurteil wird deutlich, wenn er seine Furcht äußert, die Juden könnten in der Beamtenschaft „zusammen eine Art Kaste bilden", während „wir an dem sich einander poussirenden Adel bereits Kaste genug haben";21 und schließlich führt er auch seine Sorge um das Schicksal der Juden an: Er fürchte, daß „die christliche Majorität noch zu unaufgeklärt ist, um sich denken zu können, bei einem jüdischen Beamten werde man gut berathen seyn. Man sehe doch nur in den Rheinprovinzen, wie gehässig es gefunden wird, wenn Protestanten Beamte über Katholiken werden!"22 Mit solchen durchaus auf die preußische Verfassungsrealität bezogenen Gedankengängen setzte sich Gutzkow scharfen Angriffen der „Allgemeinen Zeitung des Judenthums"23 aus, aber auch Riesser führte (in seinen Jüdischen Briefen) eine freilich weit niveauvollere Polemik gegen den Freund.24 Er 20

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Auch in Hardenbergs „Edikt" von 1812 spiegelt sich diese Volksmeinung; so war den Juden der Zugang zu öffentlichen Ämtern verwehrt, mit Ausnahme des Gymnasial- und Hochschulunterrichts, ein Privileg, das dann nach 1815 nur noch Trägem des Eisernrai Kreuzes zugesprochen wurde. - Vgl. hierzu Henri Brunschwig: Gesellschaft und Romantik in Preußen im 18. Jahrhundert. Die Krise des preußischen Staates am Ende des 18. Jahrhunderts und die Entstehung der romantischen Mentalität. Frankfurt, Berlin, Wien 1975, S. 169. Telegraph für Deutschland, 1841, Nr. 134-138. Zitiert nach Houben [Anm. 3], S. 274. Ebd., S. 275. Ludwig Philippson: Ahasver, Gutzkow und Juden. In: Allgemeine Zeitung des Judenthums 2, Nr. 114 u. 117, 22. u. 29.9.1838, S. 460f„ 472f. Vgl. zu Gutzkows Haltung: Hans Otto Horch, Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" (1837-1922). Frankfurt, Bern, New York 1985, S. 45-52. Gabriel Riesser [Anm. 8], S. 108ff.

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wirft ihm insbesondere vor, daß er mit seiner Argumentation in dem alten ausweglosen Zirkel beharre: Er stelle fest, die Unterdrückung der Juden sei eine Folge des Vorurteils gegen sie, wisse aber auf der anderen Seite, dieses Vorurteil werde erst mit der Emanzipation schwinden. Riesser wehrt sich dagegen, die ,Judenfrage' als eine solche des .Gemüts' zu behandeln, vielmehr müsse das Problem politisch gelöst werden. Verschiedene jüdische Bekannte - so Salomon Steinheim - verteidigten Gutzkow, dieser selbst warf in seiner Gegenantwort den Angreifern vor, die bloße Schilderung gegenwärtiger Zustände als Billigung zu nehmen. Er beklagt sich, daß jemand, dessen Gesinnung in dieser Frage außer Diskussion stehe, wegen der kleinsten kritischen Einwände überempfindlich angeprangert werde. Zwar gibt er die Berechtigung der jüdischen Empfindlichkeit zu, da eine derartige Wunde „bei der leisesten Berührung" schmerzen müsse, aber er führt auch die Konsequenzen vor Augen: selbst er, ein unverdrossener Kämpfer für die Emanzipation, wage es kaum mehr, „das Wort J u d e zu schreiben", weil er „zittre, daß man es für eine Beleidigung nehmen kann". Gutzkow schließt die Auseinandersetzung mit der eher resignativen Feststellung: Es liegt eine Kluft zwischen Jüdischem und Christlichem, die sich mit Phrasen nicht ausfüllen läßt. Die Bildung und Humanität kann sie überspringen, die Freundschaft und der erkannte wahre Menschenwerth kann eine frei schwebende, sichere und den innigsten Verkehr vermittelnde Brücke hinüberschlagen; aber von dem Standpunkt der naturwüchsigen Volksexistenz prallen alle diese Motive ab, bis nicht die Masse reifer oder durch die faktisch vollzogene Emanzipation, für die ich von Herzen stimme, gegen das Trennende beider Confessionen indifferenter geworden ist.25

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Bei einem Autor wie Gutzkow, für den Literatur die „Blendlaterne des Ideenschmuggels"26 war, versteht es sich von selbst, daß auch poetische Werke, die Probleme des Judentums behandeln, zunächst nur andere Ausdrucksformen der journalistischen und publizistischen Arbeiten bilden. Trotzdem erhalten die Themen durch die fiktionale Einbettung eine andere Dimension und vor allem eine andere Wirkung. Das soll abschließend an Gutzkows wichtigstem Werk mit jüdischer Thematik, dem Drama Uriel Acosta27 von 1846, gezeigt werden. Gutzkow hatte den bekannten Stoff von dem jüdischen Freidenker Acosta, der 1640 in Amsterdam von der Gemeinde als Ketzer ausgestoßen wurde, seine Ideen widerrief, den Widerruf zurücknahm und Selbstmord 25 26 27

Telegraph für Deutschland, Nr. 4, Januar 1842, S. 14. Der deutsche Roman. In: Phönix, Literaturblatt Nr. 12, 25.3.1835, S. 285. Werke [Gensei], 3. Teil, S. llff.

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beging, bereits 1834 in der Novelle Der Sadduzäer von Amsterdam behandelt. Das Verhältnis der Erzählung zum Drama ist kompliziert, da die Handlungsführung und die Charakterzeichnung wesentliche Wandlungen erfuhren (auf die hier nicht näher eingegangen werden kann). Der Titelheld des Dramas, Uriel Acosta, ein geborener Jude, ist Christ geworden, aus Zweifel am Christentum zur Religion seiner Väter zurückgekehrt, aus Furcht vor der Inquisition von Portugal nach Holland ausgewandert. Dort wachsen seine Zweifel am Judentum, er äußert seine Skepsis und wird vom Rat der Rabbiner als Ketzer verflucht. Schweren Herzens ist er bereit, sich von seiner Geliebten Judith Vanderstraaten zu trennen und abermals auszuwandern. Ben Jochai, sein Nebenbuhler bei Judith, enthüllt, daß Acosta getauft sei damit zwar jüdischer Gerichtsbarkeit entzogen, aber auch kein Konkurrent um Judiths Hand mehr. In dieser Situation bekennt sich Acosta nachdrücklich zum Judentum, mit dem er fast schon gebrochen hatte. Des Ahasvérus Söhne müßt Ihr wandern Und wandern, wandern, wandern ruhelos Und weil ich nicht im Schatten ruhen will, Als Christ mich in dem Grün behaglich streckend, Indessen ihr im Staub der Straße zieht So will ich leiden mit den Leidenden Ihr dürft mir fluchen! Denn ich bin ein Jude! (v. 756-762) Den Kampf für die philosophische Wahrheit stellt Acosta über die religiöse Dogmatik: Hab' ich geirrt, so irrt' ich nur der Wahrheit; Den Priestern widerruf ich nicht, (v. 1156-1157) Doch der Druck auf Acosta von privater Seite nimmt zu. Die Bitten der alten kranken Mutter einerseits, die verzweifelte Lage von Judiths Vater andererseits (der von der jüdischen Gemeinde wirtschaftlich boykottiert wird und vor dem Ruin steht) machen ihn zum Widerruf bereit. Er stellt also private Empfindungen - die Liebe zur Familie und zu Judith - über das Wahrheitsstreben. Doch er muß erfahren, daß das intellektuelle Opfer umsonst war: die Mutter ist gestorben, Judith heiratet Ben Jochai, um den Bankrott des Vaters abzuwenden. Rasend vor Wut und Eifersucht bricht Acosta aus der Haft der Rabbiner aus, er eilt zum Haus Vanderstraaten, wo die Hochzeitszeremonie im Gang ist. Die Liebenden sehen sich noch einmal, in einem melodramatischen Finale geben sich beide selbst den Tod. Acostas Meinungsänderungen, sein Widerruf und dessen Zurücknahme, führten zu Angriffen der Kritik, Acosta sei ein schwankender und charakterloser Held.28 Gutzkow verteidigte sich vehement dagegen und betonte Aco28

Der Herausgeber von Gutzkows Werken, Reinhold Gensei, resümiert dies so: „[...] von Julian Schmidt bis auf Theodor Fontane ist Uriels Charakterschwäche aufs schärfste verurteilt worden" (1. Teil, S. 16). Vgl. Julian Schmidt: Geschichte der Deutschen Literatur seit Lessing's Tod. 4. Aufl., Leipzig 1858, Bd. 3, S. 120ff.

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stas Konsequenz und damit die tragische Notwendigkeit des Widerrufs.29 Der heutige Betrachter wird Gutzkow hier kaum folgen können; sicher ist Acosta kein jüdischer Hamlet, aber doch wohl ein im Sinn des 19. Jahrhunderts modernes Individuum, das Gefühle und private Werte über religiösphilosophische Prinzipien stellt. Letzten Endes steht für ihn jedoch die Wahrheit so hoch, daß ihm - in ein unlösbares Dilemma zwischen gleich hohen Werten getrieben - nur noch die klassisch-tragische Lösung bleibt. In der Vorbemerkung der Bühnenmanuskriptfassung des Dramas steht ein interessanter Satz, der im Druck fehlt: „Da in diesem Stück alle Juden sind, so ist es k e i n e r."30 Dieser Satz benennt die Bedeutung, aber auch die Angriffsflächen des Werkes in der Emanzipationsdebatte. Es zeigt die Juden in der ganzen Vielfalt menschlichen Handelns und Denkens, damit gleichsam als völlig normale Menschen; Gutzkow hat alles getan, die Haltungen der auftretenden Personen als allgemein menschlich, nicht als spezifisch jüdisch zu kennzeichnen. So verbot er z.B. ausdrücklich auch den „leisesten Versuch", .jüdische Eigentümlichkeiten in Sprache oder Benehmen" anzudeuten.31 Dennoch schuf der radikale Ansatz, alle Juden zu Menschen zu erklären, indem man alle Menschen zu Juden machte, auch Probleme. Denn das Stück führt neben den beiden tragischen jüdischen Hauptgestalten als Gegenspieler eine Fülle anderer Figuren vor: Sie sind dumm, geschäftstüchtig, prunksüchtig, dogmatisch eng, bösartig, intrigant, intolerant - und auch all diese Gestalten sind Juden. Gutzkows Fähigkeit und Neigung zur Pointierung schuf eben nicht nur so eindrucksvolle jüdische Gestalten wie Ben Akiba (der trotz seines zu Büchmann-Ehren gekommenen Spruchs durchaus differenziert argumentiert), sondern auch raffgierige Händler und geistig enge fanatische Priester. Diese Judenbilder boten denen, die jeden negativ gezeichneten Juden als Symptom von Antisemitismus ansahen, Anlaß zur Kritik. Dem heutigen Leser erscheint das Drama in klassischen Jamben sehr pathetisch, melodramatisch, psychologisch teilweise etwas gezwungen. So überrascht es zu erfahren, daß Uriel Acosta ein ganz außergewöhnlicher Bühnenerfolg war. Es wurde nach der Dresdner Uraufführung sofort auf vielen anderen Bühnen des Reiches nachgespielt, bezeichnenderweise immer wieder behindert von der Zensur, daher z.B. in Wien erst nach der Revolution, im Juni 1848; die bekanntesten Tragöden spielten den Titelhelden: Emil Devrient, der Acosta der Dresdner Uraufführung, gab die Rolle noch 39mal, Ludwig Barnay verkörperte sie „auf 57 deutschen und ausländischen Theatern".32 Dieser große Bühnenerfolg, der von einer umfangreichen kontroversen öffentlichen Diskussion begleitet war, ist gewiß nur zu einem Teil auf 29 30 31 32

VoiTede Gutzkows zum „Uriel Acosta". In: Werke [Gensei], 3. Teil, S. 8. Zitiert bei Houben [Anm. 3], S. 442. Ebd. Houben [Anm. 3], Zur Bühnengeschichte des .Uriel Acosta', S. 375-435. Zitat S. 435.

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die theaterwirksame Handlungsführung und Charakterdarstellung zurückzuführen. Offensichtlich waren es also das jüdische Problem und der angebotene Lösungsvorschlag, die zu den heftigen und lange - Jahrzehnte - andauernden Diskussionen über das Drama führten. Das Etikett ,das Judenstück' haftete bald, Gutzkow zitiert es selbst im Vorwort einer späteren Ausgabe.33 Houben faßte die Wirkungsgeschichte über ein halbes Jahrhundert später in den Satz zusammen: „An keine deutsche Dichtung hat sich der Titel ,Das Judenstück' mit solcher Zähigkeit festgeklammert."34 Allerdings genoß das Drama andererseits bei den Liberalen und den Befürwortern der Emanzipation hohes Ansehen. Sicher erscheint es dem heutigen Betrachter als fast maßlose Überschätzung, wenn nicht wenige Kritiker das Drama neben Lessings Nathan stellten; aber wenn man die Diskussion des 19. Jahrhunderts analysiert, erkennt man, wie die Kritik auf einen solchen Vergleich verfallen konnte. Gemeinsam ist der Aufruf zur Toleranz, zur Achtung; der jüdische Held wird bei Gutzkow als eine Art kämpferischer Vormärz-Liberaler, aber zugleich doch auch als ein persönlichen Gefühlen unterworfenes .zerrissenes' Individuum dargestellt. Auch im Nachmärz befaßte sich Gutzkow noch gelegentlich mit der Judenfrage, Juden gehören selbstverständlich zum Personal seiner umfassenden Zeitromane der fünfziger Jahre (Die Ritter vom Geiste; Der Zauberer von Rom)·, aber die Thesen, Ansichten und Bilder ändern sich nicht mehr wesentlich. So ist es möglich, hier abzubrechen, ohne Wichtiges zu übergehen. *

Der Fall Gutzkow ist interessant, weil dieser Schriftsteller in seiner Zeit und ihren Kämpfen stand wie nur wenige. Ihm kommen zweifellos einige Verdienste im Einsatz für die Judenemanzipation zu. Er scheute sich nicht, publizistisch vehement für jüdische Anliegen und jüdische Schriftsteller einzutreten, obwohl er wußte, wie verhaßt er sich dadurch bei vielen seiner Landsleute machte. Ohne Zögern setzte er seinen Ruf als Dramatiker mit einem demonstrativ für die Gleichheit der Juden eintretenden Stück aufs Spiel. Andererseits zeigt sich - gerade weil Gutzkow mutiger und ausdauernder als die meisten für liberale Ideale stritt - , wo Grenzen dieser liberal-christlichen Position lagen. Gutzkow glaubte den Weg zu kennen, der zur Überwindung der beklagenswerten Gegensätze führen konnte: die völlige Assimilation. Er fand wenig dabei, diesen Weg der aufgeklärten Toleranz auch denen nachdrücklich zu empfehlen, ja aufzudrängen, die selbst andere Wege zur Emanzipation - den der Bewahrung der eigenen Identität oder den der

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Vorrede. In: Werke [Gensei], 3. Teil, S. 7. Houben [Anm. 3], S. 144.

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revolutionären Veränderung - für richtig und sinnvoll hielten. In der Verfolgung seines Weges zur Toleranz wurde er nicht selten unduldsam und dogmatisch, ein Widerspruch der Aufklärung, der sich dialektisch erklären läßt, aber zugleich deutlich macht, welche Schwierigkeiten auch ein für die Judenemanzipation aufgeschlossener Liberaler des 19. Jahrhunderts mit sich, seiner geistigen Herkunft und seiner politischen Ausrichtung hatte.

Klaus Christian Köhnke (Berlin)

Ein antisemitischer Autor wider Willen Zu Gustav Freytags Roman Soll und Haben

Unzweifelhaft hat Gustav Freytags Soll und Haben antijüdische Ressentiments bestärkt, hat sie geschürt und weiterzuverbreiten geholfen.1 Unzweifelhaft scheint mir aber auch, daß Gustav Freytag kein Antisemit war2 und daß auch dieser Roman nicht von antisemitischer Gesinnung diktiert worden ist. Das haben vergleichende und immanente Interpretationen inzwischen zwar klargestellt,3 aber ein Problem dabei noch offengelassen, das ich im Anschluß an eine den jüngsten Forschungsstand ausdrückende Frage erörtern möchte, und zwar anhand der Frage Hans Otto Horchs, wie ein erwiesenermaßen seit seiner Jugend vorurteilsfreier und über den konfessionellen und religiösen Streitereien stehender aufgeklärter Autor dazu komme, die Komposition seines Romans so anzulegen, daß man als Leser den Eindruck gewinnt, hier werde mittels einer Romanfiktion antijüdische Propaganda betrieben?'4 1

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Vgl. beispielhaft Max Borns Äußerungen in Anm. 57, und - diesen Hinweis verdanke ich Frau Antje Gerlach - Sigilla Veri (Ph. Stauffs Semi-Kürschner) 2. Aufl. Bd. 2 Erfurt 1929. S. 496-500, wo es S. 496 u.a. heißt. Freytag habe „in .Soll und Haben' [...] das Judentum so ziemlich, wie es leibt und lebt, geschildert, - z.B. den kleinen polnischen Schacherjuden Schmeie Tinkeles, den Hehler Löbel Pinkus, den wohlhabenden Bankier Hirsch Ehrenthal, der einen ehrenfesten [sie!] Grundbesitzer in Spekulationen stürzt, und Veitel Itzig, [...] Hebräische Schlauheit und Grausamkeit ist kräftig und eindringlich in diesem Roman gezeichnet [...]" usf. - Max Bom, der jüdische Emigrant, hat den Roman nicht anders als der Semi-Kürschner verstanden. Nach 1945 mehrten sich die Vorwürfe des Antisemitismus, lösten Debatten aus, etc. - vgl. hierzu rezeptionsgeschichtlich vor allem: Hartmut Steinecke: Gustav Freytag: Soll und Haben (1855). Weltbild und Wirkung eines deutschen Bestsellers. In: Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen. Hrsg. v. Horst Denkler. Stuttgart 1980. S. 138-152. Vgl. insbes. Freytags der Abwehr des Antisemitismus zuzurechnende Schriften: Der Streit über das Judenthum in der Musik (Grenzboten 1869 2. Bd. S. 333-336) und: Eine Pfingstbetrachtung. In: Neue Freie Presse 1893, 21. Mai. Hinzuzunehmen sind andere Aufsätze wie z.B. die über Leopold Kompert, Jacob Kaufmann und Passagen in den .Bildern aus der deutschen Vergangenheit' etc. - schließlich Biographica. Vgl. insges. auch Hans Otto Horch: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der .Allgemeinen Zeitung des Judentums' (1837-1922). Frankfurt 1985. S. 55ff. Insbesondere die Arbeiten Steineckes (vgl. Anm. 1 u. 36) und Horchs (Anm. 2, 4, 101), femer: Karin Wirschem: Die Suche des bürgerlichen Individuums nach seiner Bestimmung. Frankfurt etc. 1986 (S. 69f.); Michael Schneider: Geschichte als Gestalt. Formen der Wirklichkeit und Wirklichkeit der Form in Gustav Freytags Roman .Soll und Haben'. Stuttgart 1980. Hans Otto Horch: Judenbilder in der realistischen Erzählliteratur. Jüdische Figuren bei Gustav Freytag, Fritz Reuter, Berthold Auerbach und Wilhelm Raabe. In: Juden und

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Ich möchte zunächst noch nicht zu der Unterfrage Stellung nehmen, ob Freytag denn tatsächlich dieser vorurteilsfreie, religiös indifferente und aufgeklärte Mann war, von dem hier die Rede ist. Ich beginne mit der zweiten Problemstellung, und zwar mit der .Komposition' oder Konzeption des Romans, über die aus der Freytag-Literatur und auch aus seinen Lebenserinnerungen allerlei zu entnehmen ist,5 nur gerade das nicht, was tatsächlich geschehen ist und aus Akten hervorgeht, die mir geeignet scheinen, dieses seit Generationen immer wieder sich stellende Problem zu lösen. Das Werk Soll und Haben war ursprünglich nicht auf 5 oder 6,6 sondern nur auf die ersten drei Bücher hin angelegt, die Freytag - ungefähr zwei Jahre vor dem Erscheinen - bereits im Frühsommer des Jahres 1853 weitgehend fertiggestellt hatte. Dies jedenfalls geht aus einer im Nachlaß in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz befindlichen unveröffentlichten Handschrift des Autors über die Entstehung von Soll und Haben hervor,7 denn zu diesem Zeitpunkt stellt er seinem Verleger Hirzel die Fertigstellung des ganzen Werkes binnen 6 Wochen in Aussicht;8 jetzt, da noch mehr als 400 spätere Druckseiten9 abzufassen wären: der ganze zweite Teil von Soll und Haben, einschließlich einer Überarbeitung des ersten Teiles, dies neben Redaktionspflichten für die ,Grenzboten' sowie einigen anderen Tätigkeiten, auf die ich noch komme - zu erledigen binnen 6 Wochen! Aber ich muß hier eine längere Passage aus diesem zwar veröffentlichten, aber vorderhand kaum verstehbaren Brief zitieren, damit deutlich wird, daß der Autor mit seinem Manuskript zwar noch nicht zufrieden ist, aber doch sehr bald fertigzuwerden glaubt. Zudem urteilt er zu diesem Zeitpunkt bereits über das Ganze, d.h. über sein ursprüngliches, aber eben nicht über

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Judentum in der Literatur. Hrsg. v. Herbert A. Strauss u. Christhard Hoffmann. München 1985. S. 140-171; hier: S. 140. Horchs These von einem .Konstruktionsfehler' (S. 151) unterstellt eine Autorabsicht, die im Widerspruch zum .Roman' stehe. Späteren Selbstinterpretationen Freytags kann keinerlei Glauben geschenkt werden, hat er seine Leser doch nicht einmal über seine Tätigkeit im .Verein* und das Volksbuch-Konzept in Kenntnis gesetzt. Vgl. die Dissertationen (Anm. 3, 92), die weder immanente noch biographische Interpretation leisteten und Widersprüche nicht bemerkten. Anders: Horch: Judenbilder S. 143ff. (dort auch Literatur), unentbehrlich immer noch: Paul Ulrich: Gustav Freytags Romantechnik. Marburg 1907; vgl. Freytags .Erinnerungen aus meinem Leben' (in: ders.: Ges. Werke, Leipzig oJ., Zweite Serie Bd. 8), S. 600ff. Vgl. Freytag: .Erinnerungen..', insbes. S. 600f., wo er behauptet, von Anfang an 5-6 Bücher konzipiert zu haben, während er am 19.4.1855 in seiner .Geschichte des Romans' (vgl. Anm. 7) von ursprünglich 5 Büchern spricht und die Tatsache des Plans, .Ein Deutscher in Posen' als eigenes Volksbuch auszuarbeiten, ganz verschweigt (vgl. Anm. 26). Nachlaß Gustav Freytag, erschlossen durch: Walther Gebhardt: Die Briefsammlung Gustav Freytags. In: Jb. d. Schles. Friedrich-Wilhelms-Univ. zu Breslau 4/1959, S. 152-175; S. 155 (Kapsel 1 .Varia'). Überschrieben ist der handschriftlich von Freytag abgefaßte Text: .Soll und Haben' (linker Rand: Geschichte des Romans) und mit dem Datum (nachträgliche Datierung!) vom 19.4.55 versehen. Vgl. Gustav Freytag an Salomon Hirzel und die Seinen. Mit einer Einleitung von Alfred Dove o.O. oJ. (= Leipzig 1902). Br. vom 13.7.1854 (S. 9ff.), vgl. auch S. 12-19.

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das schließlich durchgeführte Konzept von Soll und Haben, wenn er sagt: Wie das Ding jetzt ist, hat es vielleicht manche löbliche Eigenschaft, aber es fehlt ihm eine Kleinigkeit, es ist nicht schön. Eine gewisse Lebendigkeit der Darstellung reicht nicht aus, die zu sehr in den Vordergrund getretene Tendenz: Ruin eines adligen Gutsbesitzers zu überziehen. Ich bin darüber, dem abzuhelfen und arbeite überall das hinein, was dem letzten Theil [sic! KCK] nur zu sehr fehlt, eine bescheidene gute Laune und etwas nothwendige Arabeskenarbeit. [...] Die Arbeit ist mir jetzt nicht unlieb, wenn nur das Schreiben selbst nicht wäre. Ich habe diese Thätigkeit eines Staatsbürgers, dies gebückte Sitzen, langsame Spinnen und diese ewigen Polizeichikanen, die man dabei selbst gegen seinen Stil und Ausdruck anwenden muß, von je, schon als Kind, für sehr langweilig gehalten. Ich bin überzeugt, daß ich viel mehr schriftstellem würde, wenn ich das ohne kluge Benutzung der Schrift thun könnte. - In vier Wochen bin ich noch nicht fertig, doch hoffe ich auf Ende August.10 Statt Ende August fertig zu werden, geht's nun in Wahrheit erst richtig los: „Im Sommer 1854 ging ich von August ab mit Emst an die Vollendung", heißt es in jener handschriftlichen .Entstehungsgeschichte', die - allen Freytagschen Kaschierungen der wahren Entstehung zum Trotz11 - auch einen Hinweis auf das ursprüngliche Konzept gibt: Buch I, Buch II größter Teil, der Anfang des ΙΠ. Buches - und - vom „Winter vorher", dem Winter 1853/54 - „Einiges, z.B. ... [der] Untergang des Advocaten im Letzten Buch", sind zu diesem Zeitpunkt fertiggestellt,12 - jetzt, im Frühsommer 1854, da er seinen Verleger auf Ende August vertröstet Wie allgemein bekannt, gehört dieser Untergang des Advocaten Hippus (und damit auch das Ende Veitel Itzigs) nicht in das damals gerade in Arbeit befindliche, abschließend gedachte ΙΠ. Buch, sondern erst in das Buch VI,13 so daß also bis dahin noch sehr viel zu tun blieb: Von August bis zum Schluß des Decembers schrieb ich die 2te Hälfte des 3ten, die landwirtschaftlichen Scenen des 4ten, das 5te und den Anfang des 6ten Bu-

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Ich lege die dtv-Diinndruck-Ausgabe (München 1978) zugrunde, - auch für alle Zitate aus .Soll und Haben', hier mit der Sigle ,SuH' zitiert, die dem Erstdruck von 1855 folgt. Vgl. Freytag an Hirzel 13.7.1854 (S. 9-11). Hervorhebungen sind von mir. Vgl. Amn. 6; von Kaschierungen spreche ich nicht polemisch, sondern allein wegen der verklärenden Rückerinnerung, wegen des geschönten Nachlasses, der nichts mehr enthält, was diese Kaschienmgen direkt widerlegte, und vor allem wegen der ganz anderslautenden SelbstäuBerungen im Brief an Heinrich Geffcken (vgl. Johannes Geffcken: Die Tendenz in Gustav Freytags .Soll und Haben'. In: Zeitschrift fur vergleichende Literaturgeschichte. Neue Folge Bd. ΧΠΙ. Berlin 1899. S. 88-91; und: Carl Hinrichs: Unveröffentlichte Briefe Gustav Freytags an Heinrich Geffcken aus der Zeit der Reichsgriindung. In: Jb. für die Geschichte Mittel- u. Ostdeutschlands. 3/1954. S. 65-117), Br. vom 23.8.1856, wo es heißt: „[...] Wenn das Publikum wohlwollend über die Unterhaltungsfähigkeit des Buches urtheilt, so ist mir das schon recht, aber im Grunde lag mir während der Arbeit am meisten an der Tendenz und zwar an der poliüschen [...]" (S. 76). Vgl. .Geschichte des Romans' S. 1 mit dem Brief an Hirzel vom 13.7.1854. Vgl. Buch VI.3 und VI.4. Entgegen seinen .Erinnerungen' hat Freytag, wie seine .Entstehungsgeschichte' eindeuüg klarlegt, die Kapitel nacheinander abgefaBt (vgl. dort S. 601, hier die Zitate im Text); ohnehin setzt die von jüdischen Figuren getragene Handlung S. 560 bis 765 ganz aus.

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ches. Mitte Januar 55 kam ich in Leipzig an, nachdem ich Ende December mit Hirzel in Gotha abgeschlossen hatte und ihm den Anfang zum Druck übergeben. Der Druck begann Anfang Januar. [...] während des Drucks comgirte ich noch das Manusc. und füllte die Lücken aus (Schluß des 3ten Buches, einiges aus dem vierten und sechsten). Mitte April war der Druck beendet, am 19ten wurde versandt.14

Nicht sechs Wochen, sondern vielmehr neun Monate nach jenem Brief an Salomon Hirzel, - und dies' nicht etwa, weil Frey tag sich einfach nur grob verschätzt hätte, sondern weil er die insgesamt 260 Seiten Schilderung der Begebnisse in Rosmin, in Polen, noch nachträglich in sein Werk eingebaut hat: die Bücher IV, V und einen Teil des VI. Buches.15 Der zweite Aufenthalt in Polen,16 genauer: der in Posen, Bezirk Bromberg, in Strelno am Gopla-See, von Oktober 1847 bis Oktober 1848,17 gehörte nicht zum ursprünglichen Plan - und für diesen Teil orientierte sich Freytag an einer Schilderung lokaler Verhältnisse zur Zeit des polnischen Aufstandes von 1848,18 die der Strelnower Oberamtmann Kühne19 verfaßt hatte und die dann 1861 anonym in den „Grenzboten" veröffentlicht wurde: Ein Deutscher in Posen war dieser Text betitelt,20 der dem zweiten Teil von Soll und 14 15

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Vgl. .Geschichte des Romans' S. 1. D.i.: S. 493-752, nach der Chronologie der erzählten Zeit von einem „Oktobertag" (SuH S. 493) „ein Jahr" (S. 739, 744, 749); vgl. unter Anm. 17. Der erste Aufenthalt (Buch ΙΠ. 1-5) reflektiert (jahreszeitlich verschoben) die Ereignisse in Krakau 1846 (grundlegend: Gill, Amon: Die polnische Revolution 1846. München/ Wien 1974), wie Frey tag auch in seinen Erinnerungen anführt (SuH S. 603f. biographisch), womit .Geschichte des Romans' S. 2 zu vergleichen ist. Vgl. Anm. 15; zur Datierung auf 1847-1848 weiterhin: S. 632 „dies verrückte Jahr" (vgl. 648); über die 48er Revolution: 624ff. (625: „ [...] daheim bei euch bebt der eigene Boden", 626: „Wenn die weiter drinnen ärgerlich miteinander streiten [...J") - mit der Tendenz: Einheit geht vor Freiheit; Bagatellisierung der Revolution. - Ereignisse in Strelno: (vgl. Anm. 20) Kontext - militärisch: Thätigkeit der 4ten Division im Regierungsbezirk Bromberg vom 20sten März bis zum lsten Mai. In: Beiheft zum Militair-Wochenblatt für Mai, Juni, Juli 1849. Berlin 1849. S. 61-81; Gustav Schreiber: Geschichte des Infanterie-Regiments von Borcke (4. pommersches) Nr. 21 (1813-1889). Berlin 1889. S. 158-181; historisch-politisch: Hans Schmidt: Die polnische Revolution des Jahres 1848 im Großherzogtum Posen. Weimar 1912 - alle von hervorragendem erläuternden Wert. Zum politischen Kontext und im Hinblick auf Freytags Tendenz: Martin Broszat: Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik. Frankfurt Ί981. Wie Anm. 17; vgl. Freytags .Erinnerungen' 603f., zu ergänzen um seine GrenzbotenAufsätze: Das stille Leben in den polnischen Wäldern I u. Π (1851 Bd. 1 S. 201-211; 261-271) Polnische Dörfer I u. Π (1851 Bd. 2 S. 81-93; 136-145) im Hinblick auf seine Sichtweise der Verhältnisse in Polen; über die landwirtschaftlichen Verhältnisse bei Polen und Deutschen in dieser und späterer Zeit im Kreis Inowraclaw berichtet: Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff: Erinnerungen 1848-1914, Leipzig oJ. (= 1928), 1. Kap.; vgl. insbes. S. 37: „die Polen wirtschaften so gut wie die Deutschen"; über Freytag u. Strelno vgl. S. 26. Die Verhältnisse in ökonomischer Hinsicht: Claus v. Heydebreck: Markowitz. Beiträge zur Geschichte eines kuwarischen Dorfes. Posen 1917. S. 36-50. Vgl. Erinnerungen S. 604. Anonym (= Kühne): Ein Deutscher in Posen im Jahre 1848. In: Die Grenzboten 21/1862. 1. Bd. S. 161-176; auch in: Gustav Freytag: Bilder von der Entstehung des Deutschen Reiches. Ges. u. hrsg. v. Wilhelm Rudeck. Leipzig oJ. S. 73-99.

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Haben zugrunde liegt21 und der - in freilich höchst tendenziöser Weise - bis hin zu Personennamen, Chronologie und anderen Details der Historie folgt.22 Wenden wir uns der ersten Hälfte zu - und damit der ursprünglichen Romanidee - , so schien Freytag die Tendenz: „Ruin eines adligen Gutsbesitzers" zu sehr in den Vordergrund zu treten, und dieser Ruin ist denn auch erfolgreich abgewendet worden: Ein neuer Gutshof, durch Anton Wohlfahrt gerettete Kapitalien, schließlich eine Heirat, ein Happyend. Freytag mußte im ΙΠ. Buch, um seinem Werk ein wenig mehr „Schönheit" und „gute Laune" - wie er sich ausdrückte - einzuhauchen, - dies vor allem, indem er die Posener Geschichte einflocht - zunächst nicht sehr viel mehr tun, als den ursprünglich geplanten Suizid des Barons von Rothsattel scheitern zu lassen: „Ein Feuerstrahl und ein Knall, und er sank in das Sofa zurück"23 - Punkt, fertig, aus: Ruin eines adligen Gutsbesitzers perfekt, und nicht, wie jetzt: 400 Seiten Elend eines geblendeten Freiherrn und schließlich errettete 30.000 Taler - die 60-fache Summe übrigens, die der Autor für die erste Auflage seines Werkes erhalten sollte.24 Es scheint nun ein naheliegender Gedanke, diese Konzeptänderung auf den nachträglichen Erhalt des Textes Ein Deutscher in Posen zurückzuführen, - eine Möglichkeit, die sich jedoch verbietet, wenn man einen nicht zufällig unveröffentlichten Anhang zu einem veröffentlichten Brief Freytags an Ernst II. vom 31. Oktober 185325 zur Kenntnis nimmt, der sich diesmal im Staatsarchiv Coburg findet.26 Dort nämlich heißt es in einem Passus: Es scheint wünschenswerth, die einzelnen Volksbücher buchhändlerisch dadurch zu verbinden, daß man dieselben in bestimmten Zwischenräumen als eine zusammengehörige Folge herausgibt. Die ersten sollen: Leben Steins, Leben Yorks, Ein Deutscher in Posen sein. - Es steht zu hoffen, daß diese Bücher sich selbst bezahlen werden. 21

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Von Freytag bei Veröffentlichung in den Grenzboten (Anni. d. Red.) und in den Erinnerungen bagatellisiert; vgl. aber die folgende Anm. - In SuH finden sich dezidierte Hinweise gleich zu Beginn von Kap. IV.: S. 505ff. Bratzky; S. 527: „Ein Deutscher aus Kunau"; S. 531: Kartoffelwagen, blaue Ölfarbe ... usw. Vgl. Anm. 17-21. Beispielsweise sei angeführt, daß Bratzki sowohl eine Roman- als auch historische Figur darstellt (vgl. Ein Deutscher in Posen S. 165, 170; Hans Schmidt S. 164, leicht abgewandelte Lesart des poln. Namens Brodzki; S. 179: „Rolle Kühnes bei der Ermordung Brodzkis") (Quellen z.T. sehr schwer oder nicht mehr beschaffbar); wichtig noch die Nennung des polnischen Freiheitskämpfers Ludvik v. Mieroslawski, von dem Biographica in SuH eingegangen sind. Vgl. SuH S. 468. Vgl. Freytag Nachlaß: Kapsel 1. Mappe 1 (letztes Blatt) Aufstellung der Auflagenhöhe 1.—11. Aufl. 1855-1865 mit Honorarverzeichnung (insges. 9300 Taler). Gustav Freytag und Herzog Ernst von Coburg im Briefwechsel 1853—1893. Hrsg. v. Ed. Tempeltey. Leipzig 1904. S. 11-12; vgl. insbes. die Anmerkung Tempelteys. Auch die Widmung von SuH an Emst Π. wird erst in diesem Zusammenhang voll verständlich. Staatsarchiv Coburg. Bestand LA AI 28b Ia Nr. 13 Bl. 80-81: Brief unterzeichnet von M. Duncker u. G. Freytag mit Datum vom 31. Oktober 1853, und: Ausgabenanschlag des Vereins.

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Und auch der folgende Text wäre der Veröffentlichung wert gewesen, denn ganz allmählich kommt man Freytag auf die Spur: Da aber ein sehr niedriger Preis die erste Bedingung eines massenhaften Verkaufs ist, so wurde der BeschluB gefaßt, den Buchhändler zu veranlassen, daß er die nach dem Vorsatz des PreBcomité im letzten Jahr herauszugebenden 40 Bogen zusammen für den Preis von 1 Tl, also die einzelnen Volksbücher zum Preise von 3-5 Gr. verkaufe. Bei einem solchen Preis würden ihm erst durch den Verkauf v. c. 1800 Exemplaren seine Kosten incl. Honorar und Buchhändlerprovision gedeckt werden, und ist demselben für diesen Fall also ein Zuschuß von Seiten des Vereins in Aussicht zu stellen. [,..]27 Ein Deutscher in Posen - ein Volksbuch! - Ein Beschluß - ein beabsichtigter massenhafter Verkauf - ein PreBcomité und eine eventuelle Subvention dieser Volksbücher durch einen .Verein' - alles Dinge, von denen Kenntnis zu nehmen die bisherige literaturwissenschafdiche Freytag-Forschung verschmäht hat. Völlig zu Unrecht, wie leicht zu sehen ist, denn Gustav Freytag war eins der führenden Mitglieder eines geheimen, im Jahre 1852 gegründeten liberalen Vereines,2* der, unter dem Protektorat Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha, für eine Einigung Deutschlands als konstitutioneller Monarchie unter preußischer Führung eintrat. Dem .literarisch-politischen Verein', dessen Programm Ernst Π. 1888 erstmals der Öffentlichkeit bekannt machte,29 gehörten u.a. so prominente Liberale wie Rudolf Haym, Max Duncker, Johann Gustav Droysen, Karl Mathy und die Verleger Veit und Hirzel an.30 Freytag selber war nicht nur Mitglied des Vereines, sondern gehörte zu den Initiatioren eines dem Verein angeschlossenen Komitees, das auf die öffentliche Meinung einzuwirken - wörtlich: „die öffentliche Meinung in Preußen zu revolutionieren" suchte,31 - ohne freilich der Öffentlichkeit je etwas von der Existenz dieses .Vereins' zu verraten: Pressekorrespondenzen, Herausgabe von Broschüren und die Publikation von Volksbüchern waren als Mittel vorgesehen; bereits 1853, in einer, im übrigen ebenfalls unveröffentlichten, von Gustav Freytag abgefaßten Denkschrift, die sich im Nachlaß eines Vereinsmitgliedes im Schleswig-Holsteinischen Landesarchiv 27 24

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BL.81 versus unter „Ad 5". Grundlegend: Jens Peter Eichmeier: Anfänge Liberaler Parteibildung (1847 bis 1854) Göttingen 1968 (phil. Diss. Göttingen 1969) S. 282-291 und: Renate Hemnann: Gustav Freytag. Bürgerliches Selbstverständnis und preußisch-deutsches NationalbewuBtsein. o.O. 1974 (= phil. Diss. Würzburg 1974) S. 18 Iff.; letztere für historische Fragestellungen unentbehrlich. Vgl. ferner: Paul Ostwald: Gustav Freytag als Politiker. Berlin 1927. S. 29ff. Emst II.: Aus meinem Leben und aus meiner Zeit. 3 Bde. Berlin 1887-1889, vgl. Bd. 2. S. 305-334. Vgl. Johann Gustav Droysen: Briefwechsel. Hrsg. v. Rudolf Hübner. 2. Bd. (1851-1884). Berlin/Leipzig 1929. S. 173f. (Anm.), Ernst Π.: Aus meinem Leben .... 2. Bd. 216ff.; Rudolf Haym: Das Leben Max Dunckers. Berlin 1891. S. 151ff. An Emst Π. am 18.5.1854 (Briefw. S. 22); vgl. Anm. 48 u. 64.

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findet.32 Sie umfaßt 15 Seiten über Die Thätigkeit des Vereins in Bezug auf die Preße [...] und sie enthält - wie nun nicht anders zu erwarten - auch das politische Programm von Soll und Haben. - Dem V o l k s b u c h , wie man sich gewöhnen sollte zu sagen, denn nicht nur das gleichzeitig geplante Buch Ein Deutscher in Posen, sondern auch Soll und Haben stellt ein solches dar. Bereits ein halbes Jahr vor Erscheinen dieses politischen Romans schrieb Frey tag an Ernst II.: Lebhaft wünsche ich, daß Ew. Hoheit Huld auch das dicke Buch, das ich geschrieben, für keinen unwürdigen Beitrag zu der Literatur deutscher Volksbücher halten mögen.33 Und dieser hält, wie aus einem späteren Schreiben hervorgeht, 34 denn in der Tat hat Freytag die grundlegenden Gesichtspunkte des mit dem Herzog und dem Verein abgestimmten Programms von Volksschriften zur Geltung gebracht. Dabei handelt es sich um solche, die zugleich zeigen, was ein V o l k s b u c h im Sinne des .Vereins* auszeichnet: Vielleicht ist es als eine Versäumniß zu beklagen, daß die große Mittelpartei in den letzten Jahren so wenig gethan hat, ihre Ideale und praktischen Zwecke der großen Zahl naiver Leser durch Unterhaltungs- und belehrende Lectüre verständlich und lieb zu machen.35 Schon an dieser Stelle wird deutlich, daß es sich um ein Dokument handelt, das nicht nur zur Interpretation von Soll und Haben heranzuziehen ist, sondern u.a. auch dem Begriff des .programmatischen' oder .bürgerlichen Realismus' eine neue, gewichtige Sinndimension verleiht,36 wenn hier gesagt wird: Freilich muß man die langsame und stille Wirkung der Volksschriften und Unterhaltungsbücher auch nicht überschätzen und schnelle, in die Augen springende Resultate erwarten, wo eine allmälige, aber dauerhafte Einwirkung auf das Gemüthsleben und das Unheil der Leser das beste Resultat ist. 32

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Nach!aß Karl Samwer: Abt. 399.52. Nr. 79, bezeichnet als: Anlage I; vgl. Einst Π.: Aus meinem Leben ... S. 319. An Emst II. am 26. November 1854 (Briefw. S. 36). Brief an Freytag vom 26.4.1855 (Briefw. S. 38) und ff. Briefe. Denkschrift S. 4-5; Hervorhebungen von mir, KCK. Vgl. Hartmut Steinecke: Gustav Freytags .Soll und Haben' - ein realisüscher Roman. In: Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift for Charlotte Jolies. In Honour of her 70th Birthday. Nottingham 1979. S. 108-119; speziell: 116f., dem hinzugefügt werden kann, welche Dimensionen der Realität in ,Soll und Haben' nicht zur Geltung gelangen: (Orte: Schlesien, Polen; Zeit: 1846-48) Pogrome in Breslau, Polenfreundschaft deutscher 48er, „Befreiung" Krakaus durch Österreicher; Religionskämpfe in Breslau, - vgl. dazu vor allem: Adolf Weiß: Chronik der Stadt Breslau von der ältesten bis zur neuesten Zeit. Breslau 1888. S. 1111-1148; und Julius Stein: Geschichte der Stadt Breslau im neunzehnten Jahrhundert. Breslau 1884. Zweiter Teil insges. - Ferner: Denkwürdige Jahre 1848-1851. Karl Friedrich Hempel: Die Breslauer Revoluüon. Bearb. v. Norbert Conrads. Adolf Kohn: Politische Tagebücher 1848-51. Bearb. v. Günter Richter. Köln/Wien 1978. Polen betreffend; vgl. Anm. 16-22 genannte Literatur.

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Auch an die Gewinnung neuer Leserschichten ist gedacht, und man erinnere sich an das oben von Freytag an Hirzel über die „kluge Benutzung der Schrift", „Polizeichikanen gegen Stil und Ausdruck" Gesagte, wenn es jetzt über die Volksbücher heißt, sie seien zudem „schwer zu schreiben", - „es gehöre ein nicht gemeines Talent dazu, männlich, gemüthvoll und einfach zum Volke zu reden [...]. Die Schriftsprache habe sich noch nicht hinreichend gegen die Dialekte durchgesetzt (Verzicht auf Dialektismen!), endlich sei „bei der Zerrißenheit, ja bei dem Mangel einer deutschen Geschichte das Gebiet der Stoffe, welche sich zu volkstümlicher Behandlung eignen, allerdings kleiner, als bei manchen anderen Völkern." - Diese Schwierigkeiten jedoch dürfen den Verein nicht abhalten, die Einwirkung auf diesen Zweig der Literatur zu einer seiner vorzüglichsten Aufgaben zu machen. Denn gerade durch e i n e s t i l l e , fast u n b e m e r k b a r e E i n w i r k u n g auf das V o l k s g e m ü t h wird es bei Ausdauer und Geschick viel von dem erreichen, was sein nächstes und edelstes Ziel ist: die Gefahren, welche der politischen Sittlichkeit des Volkes drohen, abzuwenden und das Gefühl von Hoffnung und Selbstvertrauen, das letzte Gut des Staatsbürgers, wieder lebendig zu machen.

Dies könne sowohl durch belehrende Bücher wie durch „poetische Erfindungen", durch „Bilder aus dem wirklichen Leben der Gegenwart und Vergangenheit" sowie schließlich auch durch Erzählungen erreicht werden.37 Danach geht Freytag zu den Zwecken über, die er selbst auch bereits im ursprünglichen Konzept, konsequenter aber noch im 2. Teil von Soll und Haben verfolgte:38 Belebung des deutschen Nationalgefühls. Erinnerung an die brüderliche Genossenschaft der deutschen Stämme. Kampf gegen die Stammesantipathien und provincielle Abgeschlossenheit, Pfahlbürgerthum usw. Musterbilder männlicher Kraft, festen Rechtsgefühls, sicherer Ehre und Beharrlichkeit. Darstellung der Theile deutscher Geschichte, wo ein Nationalinteresse siegreich hervorbricht. Erhebung der Verzweifelnden aus der Entmuthigung durch den Hinweis, daß es besser geworden, als es gewesen und daß unsere Lage keineswegs hoffnungslos. Belehrungen über Auswanderung, das Leben unter fremden Nationen, usw. mit der Tendenz Liebe zur Heimat und zum Haus und Hof zu erhalten.39

Die allgemeine politische Einbindung dieser Zwecke finden sich im Programm des literarisch-politischen Vereins40 - die Durchführung in ,Soll und 37 38

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Denkschrift S. 5; Hervorhebungen von mir, KCK. Der 1. Teil (Buch Ι-ΙΠ) stellt gewissermaßen den kritischen Teil dar, dessen Wirkung durch den 2. Teil, der das .Positive' und die .Erfolge' der Helden beschreibt, nochmals gesteigert wurde. Denkschrift S. 6. Wie Anm. 29 - hinzuzunehmen ist aber auch die hier zugrundeliegende Denkschrift insges., die etliche Präzisierungen des allgemeinen Programms enthält.

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Haben' und einigen anderen Volksschriften und Broschüren, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehen kann.41 Wichtig ist in unserem Zusammenhang auch nur, daß es sich um p a r t e i p o l i t i s c h eingebundene Schriftstellerei handelt - auf langfristige Beeinflussung der Massen, einschließlich der .naiven Leser' berechnet, - alles andre also als um eine im gemeinsprachlichen oder auch literaturwissenschaftlichen Sinne .realistische' Abschilderung, sondern vielmehr um das gerade Gegenteil: Mit Vorbildern aus den Freiheitskriegen, Ertüchtigung zu neuen Taten, zur Stärkung und Überwindung des Pessimismus der nachmärzlichen Reaktionsperiode mit Blücher, Gneisenau, mit Friedrich dem Großen in ein Preußen-Deutschland als konstituioneller Monarchie!42 Der literarisch-politische Verein setzt p o l i t i s c h fort, was das linke Zentrum von 1848 wollte, und u.a. aus ihm wird 1859 der .Nationalverein', seinerseits wiederum Vorgängerorganisation der Nationalliberalen Partei, hervorgehen.43 Literarhistorisch aber haben wir es erstmals mit in diesem Fall als solcher bis heute unerkannter Parteiliteratur zu tun. Zuständig für die Pressearbeit war zunächst Rudolf Haym,44 für Broschürenliteratur Max Duncker45 - und für die Abteilung der Volksschriften freilich Gustav Freytag, gegen ein Gehalt von 450 Talern jährlich, die er als ,3eamter des Vereins" erhielt.46 Zu seinen Pflichten gehörte die Rekrutierung von qualifizierten Volksbuchschreibern, die Bestellung von Schriften, ebenso wie die Überarbeitung und Redaktion vorliegender Manuskripte immer nach Maßgabe der Vereinsziele und auf Beschlußfassung durch den Verein hin.47 Diese in sprachlicher, stilistischer und nicht zuletzt semantischer Hinsicht auf ein Massenpublikum zugeschnittenen Volksbücher können nun freilich nicht, wie fast sämtliche Interpreten von Soll und Haben ganz selbst41

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Vgl. dazu Emst II. Memoiren, Freytag ,Karl Mathy' (in: ders.: Ges. Werke, Leipzig oJ., Zweite Serie Bd. 8), S. 350f. sowie die Briefwechsel Droysens und: Max Duncker: Politischer Briefwechsel aus seinem Nachlaß. Hrsg. v. Johannes Schultze. Osnabrück 1967 (zuerst 1923). Der gesamte Themenkreis der Volksschriften ist m.W. unbearbeitet. Vgl. die wiederkehrenden Helden und Ereignisse in SuH S. 27, 625, 755 (Friedrich II.), 522 (1813 und 1814), 744 (Blücher), 709 (Melodie des Dessauers), 636, 755 (Schiller), 755 (Luther) - im Ggs. dazu S. 128: „Einer solchen höflichen Resignation ist nur ein Deutscher fähig." Vgl. Lit. in Anm. 28 und ergänzend: Gerhard Eisfeld: Die Entstehung der liberalen Parteien in Deutschland 1858-1870. Hannover 1969. Vgl. Rudolf Haym: Aus meinem Leben. Erinnerungen. Aus dem Nachlaß herausgegeben. Berlin 1902. S. 223ff., 258ff. Vgl. Max Duncker: Politischer Briefwechsel aus seinem Nachlaß. Hrsg. v. Johannes Schultze. Osnabrück 1967. S. 55ff.; vgl. .Ausgabenanschlag'. Ausgabenanschlag: wie Anm. 26: S. 81r. Ebd.; ein informeller Vorgang in bezug auf SuH (vgl. Geschichte des Romans); wichtiger (sd.) dürfte gewesen sein, daß er bis ΙΠ. (Anfang) alles Julian Schmidt und Salomon Hirzel vorgelesen hatte, d.h. den fast fertigen Roman (nach altem Konzept). Schmidt war auch weiterhin Ratgeber.

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verständlich getan haben,48 direkt im Hinblick auf die Autormeinung, als individuelle literarische Äußerung oder auch in dem Sinne interpretiert werden, daß hinter der einen oder anderen Figur die Ansichten des Autors sichtbar würden. Ein Rückschluß vom Werk auf vermeintliche Autorintentionen verbietet sich zunächst ebenso wie diejenigen von der Rezeptionsgeschichte aus. Dem Verständnis der Autorintention , die nur im Zusammenhang der politischen Parteien und ihrer Geschichte sowie der zeitgenössischen Streitfragen erörtert werden kann, steht - in wohl seltener Unvermitteltheit mit dieser - eine Rezeptionsgeschichte gegenüber, die vor allem dadurch gekennzeichnet ist, daß die Meinungen über den Autor letztlich auch diejenigen über das Werk bestimmten, statt daß man etwa entweder das Werk als solches ernstgenommen, oder aber das Werk in seinen historischen Kontext eingerückt und interpretiert hätte.49 Mir kommt es hier das sei ausdrücklich gesagt - lediglich auf das Werk und seinen historischen Kontext, nicht aber auf die Rezeptionsgeschichte an; ich will dem Werk zu einem adäquaten Verständnis verhelfen. Was deshalb zu geschehen hätte, wenn man denn überhaupt an Neuausgaben dieses so überaus belasteten Buches denken wollte, die alte Ressentiments nicht weiterhin schüren, sondern den Text erklären wollten, ist einfach zu sagen: historisch-politische Rekonstruktion des Kontextes, niederzulegen in Form einer Dokumentation unveröffentlichten und veröffentlichten Schrifttums zu Genese, Hintergrund und Absichten, ergänzt durch einen Stellenkommentar, der die zahllosen Anspielungen, Querbezüge und politischen Veranlassungen erstmals nachvollziehbar machte.50 Ich will hier nur kurz skizzieren, was speziell in bezug auf Freytags Darstellung jüdischer Figuren zu sagen ist: Der zweite Teil von Soll und Haben - ich nenne ihn ,Ein Deutscher in Posen' - führt in weniger als 4 von insgesamt 18 Abschnitten51 die von Juden getragene Handlung des 1. Teiles lediglich noch zuende, und hier handelt es sich um Partien, die ursprünglich 48

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Ausnahme (wenngleich einseitig nur ein ökonomisches privates Interesse Freytags in den Vordergrund stellend): Renate Herrmann (wie Anm. 28), der Michael Schneider (wie Anm. 3) mangels historischer Kenntnisse nur beleidigend entgegentreten konnte: „der Vorwurf, Freytag habe nach Auskultation der Leserinteressen seinen Roman an ihnen ausgerichtet, scheint mir so schäbig (und unsinnig: Freytag schrieb nicht im Zeitalter Simmeis), daß ich es mir nicht verkneifen kann, ihn an die Verfasserin, in Ansehung ihres Freytag-Bildes, zurückzugeben." (S. 169). Vgl. z.B. die in Anm. 92 genannten Autoren. Historisch oder biographisch ist seit 1933 kein Fortschritt zu verzeichnen; auch die .Gustav Freytag Blätter* haben sich diesen Fragen verschlossen. Mit der Absicht, vor der Freytag (Erinnerungen, 602) ausdrücklich warnte: „... bereiten die Ausnahmefälle, wo der Dichter sich mit größerer Treue der Wirklichkeit anschließen muß, z.B., wo er eine wohlbekannte historische Person in seine Dichtung setzt, ihm und seinem Werk besondere Schwierigkeiten. Denn leicht empfindet der Leser vor solchen Abbildern eine Besonderheit in Farbe, Ton und Schilderung, welche erkältet und die Wirkung des gesamten Kunstwerks nicht mehrt, sondern mindert." Vgl. die Abschnitte IV.4., VI.3. und 4, VI.6.

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für das abschließende dritte Buch geplant waren. Die Problematik der Darstellung der Juden gehört demnach - zugespitzt formuliert - sogar ausschließlich in eine Interpretation des 1. Teiles des Romans, d.h. die jüdischen Figuren gehörten ganz ins ursprüngliche Konzept, dessen Thema und Tendenz lautete: Ruin eines Adelshauses. Wie der ursprüngliche Schluß konzipiert war, kann man teils aus dem jetzigen Roman,52 dann aus der Entstehungsgeschichte53 sowie einigen stehengebliebenen Passagen entnehmen, die noch nach dem alten Konzept gearbeitet waren.54 Zudem ist auf vermutlich pseudonym erschienene Beobachtungen auf einer Geschäftsreise in das Großherzogtum Posen hinzuweisen, die ein William Rogers 1848 in den „Grenzboten" veröffentlicht haben soll,55 ein Text, der aber, wenn er nicht von Freytag selber stammt, immerhin reichliche Benutzung in Soll und Haben gefunden hat.56 Hier geschieht denn auch genau jener perfekte Ruin des Adelshauses: Zwangsversteigerung, Tod des Gutsbesitzers, hinterbleibend: Mutter und Tochter, ein authentischer Fall.57 52

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Gemeint sind die rasch aufeinander folgenden Ereignisse in Buch ΠΙ: Bernhards Tod (465), Suizid Rothsattels (468), Ehrenthals Zugrunderichtung (468), sowie die ab jetzt unvermittelt neben der polnischen Geschichte stehende Zuendefiihrung der Schachergeschichte (vgl. die Anm. 15 u. 51). Vgl. oben das über die Hippus-Itzig-Passage Gesagte. Vgl. die nicht weitergeführte Alternative, vor die Fink von Anton gestellt wird (472), Fink, der Spekulant (47 If., 423ff.). Finks Brief erscheint als möglicher Abschluß, gleichlaufend mit den Verdikten gegen Rothsattel und Ehrenthal: drei Spekulanten. Die Pointe wäre die gewesen, daß Spekulanten in Amerika ihr gewisses Existenzrecht erhielten. Vgl. weiterhin die Annäherung Sabines und Antons in Kap. ΠΙ.5, die offenbar alternierend zu Π.10 gedacht ist. — Die von Juden getragene Handlung insges. s.u. — Schließlich muß noch erwähnt werden, daß bereits Auerbach in s. Rezension die Löbel PinkusGeschichte für nicht zuendegeführt und aus einem älteren Konzept übriggebliebenen Rest hielt und ihm die Häufung der Todesfälle im VI. Buch auffiel. Wie erst, wenn sie allesamt ins ΠΙ. Buch geraten wären! In: Grenzboten 1848 Bd. 3. S. 35-43. Zu vergleichen S. 35 mit .Soll und Haben' S. 495 „polnische Wirtschaft"; S. 30: „Kastanienallee"; S. 548: „durch die halbgeöffnete Thür [...]", - vgl. Eduard Rothfuchs: Der selbstbiographische Gehalt in Gustav Freytags Werken (bis 1855) [...] Münster 1929. S. 74-77, wo dieser Text mit guten Argumenten Freytag zugeschrieben wird. Herrn Jost Lemmerich verdanke ich den Hinweis auf: Max Bom: Mein Leben. Die Erinnerungen des Nobelpreisträgers. München 1975. S. 11, wo es heißt: „Eigenartigerweise erinnere ich mich noch an die Leute, die die Wohnung über uns bewohnten. Die erste Mieterin war eine adelige alte Dame, eine Gräfin v. Rothkirch, mit ihrer ältlichen Tochter. Einer der populärsten Romanschriftsteller war damals Gustav Freytag; meine Großmutter Bom hat mir manches Mal erzählt, daß sie ihn als Kind, als sie in derselben kleinen Stadt (Kreuzburg) wohnten, gut kannte. Freytags bekanntester Roman „Soll und Haben" spielt in Breslau und Umgebung, und die Hauptfiguren sind nach lebenden Vorbildern gestaltet: Der fürstliche Kaufmann Schröter aus dem Roman steht stellvertretend für den ehemaligen Chef der bekannten schlesischen Firma Molinari (was im Italienischen Müller oder Schröter bedeutet), und die Romanfamilie v. Rothsattel entspricht den tatsächlich existierenden v. Rothkirchs. Wie mein Vater mir versicherte, gehörte die in unserem Haus wohnende alte Dame zu dieser Familie. (Ich habe .Soll und Haben' jetzt wieder gelesen und kann mich über die grenzenlose Bewunderung, die diesem Buch im Kreise unserer jüdischen Familien entgegengebracht wurde, nur wundern; denn es ist von starkem Antisemitismus geprägt und erscheint heute als eine der Wurzeln für die Nazikatastrophe.

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Von hier aus wird die Äußerung im Brief an Hirzel verständlicher: das Ganze „ist nicht schön", denn zwar ehelicht Anton Wohlfahrt seine Sabine Schröter und wird Compagnion des Handelshauses - die Rothsattels aber sind zugrundegerichtet, genau wie die Familie Ehrenthal, denn Bernhard, der positiv, fast ideal gezeichnete Jude, stirbt, und sein Vater verzweifelt darüber: Zum Untergang verurteilt ist - so lautete die politische Moral nicht allein der rittergutbesitzende Geburtsadel, sondern gleich ihm auch deijenige jüdische Kaufmann, der ein Gut an sich bringen will.58 Dies nun ist freilich Geschichtsphilosophie, und sie stammt ursprünglich - wie manch' andrer allgemeiner Leitgedanke des Werkes auch, so z.B. die Kritik der Kommerzialisierung der Landwirtschaft59 (wie Werner Sombart sagen würde60), die Gründung geschichtlichen Fortschritts auf Arbeit (eine hegelianische Reminiszenz),61 schließlich sogar der Name Wohlfahrt62 von dem historischen Chefdenker des Vereins, von Johann Gustav Droy-

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Darauf werde ich später noch einmal zurückkommen.)" - und S. 43-44 wird fortgesetzt: „Die Familien Bom und Kauffmann waren Juden, die sich einige Generationen zuvor emanzipiert und ihrer nichtjüdischen Umgebung assimiliert hatten. Sie glaubten, daß sie sich von ihren Nachbarn nur in bezug auf die Religion, die sie kaum ausübten, unterschieden und von der Kultur und den Bräuchen her Deutsche seien. Wie stark diese Auffassung war, hatte ich unlängst Gelegenheit, mich wieder zu erinnern, als mir ein Band von Gustav Frey tags Roman .Soll und Haben' in die Hände fiel, ein Buch, das, wie ich bereits erwähnte, damals, in den Jahren vor 1900, als klassicher Roman galt. Nachdem ich ihn jetzt wieder gelesen habe, muB ich zugeben, daß er gut geschrieben ist und eine faszinierende Handlung besitzt. Andererseits ist er aber äußerst antisemitisch gefärbt. Die Helden sind .arische' Adelige und Kaufleute, die Schurken jüdische Financiers und Händler - mit einer Ausnahme allerdings: Der Sohn eines dieser üblen Moneymaker ist ein stiller und vornehmer Gelehrter. Die in diesem Buch geschilderten Juden unterscheiden sich durch nichts von jenen im .Stürmer', dem berüchtigten Blatt des Obemazis Streicher. Dennoch wurde dieses Buch in unseren Familial begeistert gelesen und gepriesen. Sie betrachteten sich offensichtlich als zur Klasse der vornehmen deutschen Kaufleute gehörend und glaubten, mit den .galizischen' Kleinhändlern mit ihrem Jiddischen' Dialekt und niederen Bildungsniveau nichts zu tun zu haben. Die Geschichte hat freilich bewiesen, daß die Mehrheit der arischen Deutschen diese Ansicht nicht teilte." Gedacht ist dies (vgl. Briefw. mit Emst Π. S. 4f.) unter dem Oberbegriff .Spekulation' und alternativ zum Schaffen von Werten. Das sozialhistorische Faktum einer Art Symbiose von regulär nicht mehr kreditfähigen Großgrundbesitzern und Wucherern gibt hierfür den Hintergrund ab (vgl. dazu Toury, Sombart sowie Freytag über die Verschuldung und Kreditprobleme in Schlesien: .Die neuen Geldinstitute' (1856), S. 62. Vgl. in: Johann Gustav Droysen: Politische Schriften. Hrsg. v. Felix Gilbert. München/ Berlin 1933, den Aufsatz .Zur Charakteristik der europäischen Krisis' (zuerst 1854) S. 307-342, speziell S. 323ff. Zum Begriff vgl. Werner Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben. Leipzig 1911. S. 60 (u. ff.) und zur Sache: ders., Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert und im Anfang des 20. Jahrhunderts. 4. durchges. Aufl. Berlin 1919. Kap. 13, insbes. S. 330ff. (antisemitisch gefärbt!). Vgl. Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hrsg. v. Rudolf Hübner. Darmstadt 1977. S. 246ff„ 265ff„ 352ff. Droysen: Historik §§ 68-69: Die Sphäre der Gesellschaft / Die Sphäre der Wohlfahrt. „Wohlfahrt" als Theoriebegriff (vgl. S. 352) expliziert durch die „Geschichte der Arbeit", in der „das Wesen der Stände" liege (S. 248) usw.

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sen,63 mit dem Freytag speziell auch das Problem der Volksbücher erörtert64 hat und dem sich auch die Quintessenz des ursprünglichen Konzeptes verdankte: Die Zukunft gehört hier dem landwirtschaftlich ausgebildeten Mittelbauern, den Karl Sturms - , der Adel muß zugrundegehen.65 Die .Spekulation', d.h. der Handel mit Werten, denen ein marktabhängiger Geldbetrag entspricht, - sog. .Geldgeschäfte', wie T.O. Schröter und Anton Wohlfahrt sie prinzipiell ablehnen,66 - charakterisieren ebenso den politischen Hauptfeind, den Adel, wie den jüdischen Händler, weil beide keine Werte (und sei's auch in Form von Dienstleistungen) schaffen.67 Beide verdienen es deshalb unterzugehen, wenn und wo sie die Integration in die bürgerliche, d.h. die auf Arbeit basierte Gesellschaft, nicht schaffen. So denkt Freytag - und seine Feindschaft gegenüber den mit „Gütern schachernden Adligen"68 gilt jenen „tüchtigen Reaktionären"69, die im Berlin Manteuffels und im nachmärzlichen Schlesien das Sagen haben.70 Damit aber noch nicht genug der Symmetrien des Untergangs, denn nicht nur die Rothsattels und Ehrenthals gehen zugrunde, sondern ausgewogen deutsch-ostjüdisch gehen auch Mentor und Schüler, Hippus und Veitel Itzig unter, während, ebenfalls ausgewogen, Herr von Fink und Schmeie Tinkeles im Ausland verbleiben. Ein im übrigen eingängiges Bild ihrer Fremdheit - gemeint auch als Warnung vor Auswanderungsabsichten71 denn sie sind beide Spekulanten, die deutsche Ehr- und Rechtsauffassungen 63 64

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Vgl. in den Briefwechseln Droysens, Dunckers und anderer Vereinsmitglieder. Vgl. Droysen: Briefw. 2 Bde. S. 203-206 (an Freytag 14.12.1853 - ein herausragendes Dokument), zu vergleichen mit seiner früheren Äußerung Karl Francke gegenüber: „Vor allem nur keine Einwirkung auf das sogenannte Volk durch Volksschriften usw. Das Volk ist nur demagogisch zu fassen, mögen die Demagogen jene Sorte politischer Schwindler sein, die 1848 am Brett waren, oder Pfaffen, katholische und lutherische. Wir müssen unsere Wirkung durchaus höher greifen; am besten, wenn wir dem Wahnsinn des Großgrundbesitzes ein Interesse von gleicher Wucht entgegenzustellen vermögen." (Br. vom 21.8.1853, S. 174f.). Vgl. Droysen: Briefw. S. 205, Anm. 64 und Freytag: Schlesien. Sociale Trauerspiele in der preußischen Provinz Schlesien. In: ders.: Vermischte Aufsätze aus den Jahren 1848 bis 1894. Hrsg. v. Ernst Elster 2. Bd. Leipzig 1903. S. 319-332 (zuerst 1849), hier: S. 326ff. Vgl. SuH S. 292; Karl Sturm vgl. SuH 234; „starker Landwirt" (399), Landwirt will auch - und wird auch - Fink werden: vgl. SuH S. 103; - bezeichnend die sich durchziehende Chiffre .Erinnerung', die die damalige Rolle des Adels charakterisiert: S. 29, 286f„ 292, 479ff. (!), 487. SuH S. 389 u. S. 479ff. SuH S. 309, 734. SuH S. 480 vgl. dazu den Brief an Ernst Π. vom 26.7.1853 (Briefw. S. 4-7) und den Aufsatz .Die Leiden Oberschlesiens' (Grenzboten 1855. 1. Bd. S. 413-422). Vgl. Freytag: Die Physiognomie von Breslau. In: ders.. Vermischte Aufsätze [...] S. 332-339, hier S. 338; Br. an Emst II. vom 18.5.1854 (Briefw. S. 22-26). Ich vermeide an dieser Stelle, näher auf die politisch-historisch ahnungslosen Attributierungen Freytags als „liberal-konservativ", „liberal", „bürgerlich", „bürgerlich-liberal", konservativ" etc. einzugehen, die sich durch die Nachkriegsschriften über Freytag ziehen, da sie wissenschaftlich ohne jede Bedeutung sind. Vgl. SuH 267, 27Iff., 425, 624f. und die Zwecke, die die Denkschrift nennt (s.o.); ferner Droysen: Zur Charakteristik ... S. 330.

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zutiefst verletzen (wie im Falle Finks allerdings nur im 1. Teil stehengeblieben ist und überlesen zu werden pflegt).72 Freytags Soll und Haben ließ im ursprünglichen Konzept zwei Witwen mit zwei heiratsfähigen Töchtern im Elend enden, deutsch-jüdisch, - genauso zwei Schurken, genauso zwei ins Ausland gehen, zwei von fremder Art, im rechtlichen Sinne zwar unbescholten,73 im moralischen jedoch undeutsch. So - oder jedenfalls so ähnlich - war das Ganze geplant,74 von einer Absicht einer einseitigen Negativdarstellung der jüdischen Figuren konnte, jedenfalls was die ursprüngliche Konzeption des Werkes anbetrifft, keine Rede sein. Das Konzept war politisch gedacht, klar gegen die Restaurationspolitik des preußischen Herrenhauses gerichtet, übte Kritik an Standesprivilegien des Adels,75 insbesondere aber an der Wiederbelebung der genossenschaftlichen Kreditvereine des Adels, den sog. .Landschaften'76 und der Wiedereinrichtung von .Majoraten', Fideikommissen,77 einer für den adeligen Gutsbesitz geltenden erbrechtlichen Regelung, die die Pfändung von Landbesitz geradezu verunmöglichte. Diesen Gesetzgebungen der Jahre 1850 und 185278 galt die parteipolitisch spezifizierbare Kritik. Hinzu kommt freilich diejenige an der Kommerzialisierung des Wirtschaftslebens überhaupt, d.h. an der Anschauung, daß Land, Güter und Dienste prinzipiell durch Geldäquivalente darstellbar seien,79 - ebenfalls vor dem Hintergrund einer neuen Gesetzgebung, insbesondere für Mobiliarkredite, die Hypotheken und Pfandbriefe (d.i. für Freytag Agrarland!) dem freien Markt und Spekulationen überantwortete.80 Äußere Veranlassung mochte die in der ersten Hälfte der 1850er Jahre in der Öffentlichkeit breit diskutierte Einführung von Hypothekenaktienbanken81 gewesen sein, im übrigen eine Erfindung zweier „französischer Ju72 73

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Vgl. SuH S. 306ff„ 47Iff.; vgl. Anm. 54. Schmeie Tinkeles hat sich zwar nicht strafbar gemacht (SuH S. 821), „trug" aber „fortan sein Bändel und seinen Kaftan in einen andern Schlupfwinkel". Vgl. in bezug auf die Symmetrien auch Freytags Erinnerungen S. 603: „[...] kann man finden, daß sie unter einem eigentümlichen Zwange gebildet sind, dem des Gegensatzes: Anton und Fink, der Kaufmann und Rothsattel [...]" SuH S. 479f.; satirisch: S. 146; in bezug auf Polen S. 330f.: „das arbeitsame Bürgertum" hingegen „zum ersten Stande des Staats" geworden (331). SuH S. 34f„ 209ff„ 483 u. passim. Vgl. zum ganzen Komplex: Gustav Schmoller: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. 2. Teil. Leipzig 1904. S. 239-248 (697-706). Prägnant: SuH S. 480f.; vgl. S. 29, 723; vgl. dazu: ,Die neuen Geldinstitute . . . ' S . 62, wo Freytag unumwunden dieses Privileg kritisiert, vgl. Schmoller. Vgl. dazu Näheres schon bei Kurt Classe: Gustav Freytag als politischer Dichter. Hildesheim 1914 (= phil. Diss. Münster 1914). S. 65f. und bei Schmoller. Diese Kritik äußerte gleichzeitig die von Freytag und Droysen rezipierte ältere Schule der historischen Nationalökonomie, insbes. Knies und Roscher; Sombart lobt später mehrfach den wirtschaftsethischen Gehalt von SuH. Vgl. alles über die freie Verkäuflichkeit von Hypotheken in SuH gesagte (S. 21 Iff. und S. 306 in bezug auf „Wallstreet in New York"). Die von der .Landschaft' ausgegebenen Pfandbriefe stellten noch Personalkredite dar, Hypotheken und Wechsel hingegen nur noch Realkredite, vgl. Schmoller (wie Anm. 76) S. 238f. mit SuH S. 671. Vgl. Anonymus: Das heutige Credit- und Bankwesen. In: Die Gegenwart. 11. Bd. Leipzig 1855. S. 417-466; hier: 443f. u. 463ff.

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den", wie Werner Sombart noch 1927 sagen wird,82 ohne deren Namen zu nennen. Es sind die Brüder Péreire, zwei Pariser Bankiers, „bonapartistische Bank- oder Bankeruttskreaturen", wie Marx zu dieser Zeit sagte,83 die denn in der Tat nach Jahren ungeheurer Spekulationsgewinne im Konkurs endeten.84 All dies bestimmt die Logik des ursprünglichen Konzeptes von Soll und Haben. Und wenn man sich vergegenwärtigt, wie und weshalb nun die Juden Veitel Itzig und Hirsch Ehrenthal in die Handlung eingeführt werden, so handelt es sich beidemale um Anspielungen auf die jüngsten Veränderungen in der Kreditgesetzgebung.85 Und das beidemale unter ausdrücklichem Hinweis auf die Gesetzgebungen ,86 die freilich erst voll greifen, wenn moralische Verworfenheit hinzukommt, wie dann wohlgemerkt - in den Fällen Rothsattels, Hippus' und Veitel Itzigs. Freytag hat über Bankund Kreditwesen publiziert, mehrmals,87 aber die Leser und Interpreten von Soll und Haben offenbar nicht erreicht. Der tagespolitische, kritische Sinn, der auch nach der Änderung des Konzeptes voll erhalten blieb, wurde wohl kaum je wahrgenommen,88 und haften blieb lediglich die moralische Verworfenheit der jüdischen Spekulanten!89 Damit komme ich zu Schlüssen: 1. Die jüdischen Hauptfiguren, im ursprünglichen Konzept als Vehikel, Funktionsträger innerhalb der Kritik von adeliger Verkommenheit angelegt, stehen für den Gustav Freytag von 1853 für das Spekulantenwesen ein, - mit gleichem Gewicht und in gleicher Weise.90 Nur, daß man 2. eben bereits damals und allemal späterhin nicht den Adel, sondern vielmehr nur (noch) ,den Juden' mit Spekulationsge-

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Werner Sombart: Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus. 1. Halbbd. München 1987 (= ders.: Der Moderne Kapitalismus. 3. Bd. 1. Halbbd.) S. 200. Vgl. MEW 11 S. 558. Vgl. MEW 11 S. 681 und MEW 12: Marx': Der Credit mobilier. S. 202-209 (S. 20-36) u. S. 696. SuH S. 23ff. Itzig spricht davon, daß man den unverschuldeten Gutsbesitzer „zwingen" könne (25) zu verkaufen (Verschuldung). Das Instrument liefert „die Wissenschaft", die er später bei Hippus lemt (= Gesetzeskenntnis); S. 29: Wunsch der Verwandlung des Gutes in ein Majorat, S. 32ff. Ehrenthal, der die Landschaft und die Pfandbriefe etc. anbringt. SuH S. 25f„ 110, 114; 456 („ m i t dem Gesetz"!). Vgl. vor allem den Aufsatz ,Die neuen Geldinstitute in Deutschland', in: Grenzboten 1856 Bd. 3 S. 55-63, insbes. S. 61f.; vgl. die Bibliographie in Freytags Verm. Aufsätzen: 1850, 1850, 1853 etc. Bereits die Rezensenten von SuH, wie z.B. Auerbach, Fontane, Gutzkow, Marggraff, Prutz, gehen hierauf nicht ein; was aber nicht heißen muß, sie hätten diese Anspielungen insges. nicht erkannt. Das gilt auch für die zahlreichen ideologiekritischen Stellungnahmen zu SuH - bis hin zu dem bekannten Nachwort Hans Mayers: Gustav Freytags bürgerliches Heldenleben. In: SuH S. 839-846, hier: 842f. Vgl. den Brief an Emst II. vom 26.7.1853, wo es wörtlich heißt: „Es ist eine merkwürdige Thatsache, daß der adlige Gutsbesitzer, sobald er Spéculant wird, in großer Gefahr ist, so gemein zu werden, wie der schlechteste Jude." (Briefw. S. 5).

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Schäften assoziierte, zumal dann seit dem Gründerkrach,91 während 3. auch die von Freytag kritisch ins Visier genommenen Adelsprivilegien und neuen Kredit- und Aktiengesetze, die diese Spekulationen überhaupt erst ermöglichten, vom Leser als Objekte der Kritik nicht verstanden und als solche überhaupt nicht (mehr) erkannt wurden.92 4. Anklage und Schuld traf damit nicht mehr den finanziell unverantwortlich jonglierenden und spekulierenden Adeligen, der mittels eines Bruches seines Ehrenwortes eindeutig betrügerisch weitere Kapitalien an sich bringt und damit gesetzlich völlig legitime Geldforderungen eines jüdischen Kaufmanns vereitelte - nein, im Gegenteil, nach der Konzeptänderung entsteht Mitleid mit ihm, mit seiner Familie und zumal mit der attraktiven Tochter, während den Juden notwendig jetzt die Rolle der Neider zufällt.93 Aber - und darauf kommt es an: diese Rollenverteilung war ursprünglich nicht beabsichtigt, nur durch den abgewendeten Ruin des Adelshauses, durch den Existenzkampf, den es zu führen hat, kommt dieses Mitleid zustande.94 Und damit ergibt sich auch die Beantwortung der eingangs gestellten Frage, denn erst in dem Moment, da das Adelshaus nicht untergeht, der Suizid mißlingt und stattdessen Anton Wohlfahrt die Familie des Freiherrn rettet, - erst in diesem Moment verliert der Roman (neben einem Gutteil seiner tagespolitischen Brisanz) auch die ursprünglich intendierte Ausgewogenheit der Schuldverteilungen. Die Symmetrien des Untergangs werden durch die Konzeptänderung zerstört: Nun wird zwar der Adel durch Wohlfahrt und die Heirat mit Fink gerettet - die jüdischen Schicksale aber bleiben in alter Form erhalten, denn sie verhalten sich indifferent zu der Geschichte .eines Deutschen in Posen'. So bleibt der Bruch des adligen Ehrenwortes als bloßer, wenngleich tragischer Makel, aber eben nicht als einzig durch den Tod zu sühnen,95 stehen, während für die jüdischen 91

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Vgl. für die SuH-Zeit: Jacob Toury: Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland 1847-1871. Düsseldorf 1977, insbes. Anhang K; femer Sombart: Die Juden [...] passim; Tatsachenbehauptungen gegenüber darf man lt. Toury sehr, sehr zweifelhaft sein. Vom Leser so wenig, wie von der neueren Literatur über .Soll und Haben' - vgl. etwa die Arbeiten von: Hermann Kinder (1973), Peter Heinz Hubrich (1974), Michael Kienzle (1975), Claus Richter (1978), Michael Schneider (1980), Karin Wirschem (1986) - während Kurt Classe (1914) und Eduard Rothfuchs (1929) aufgrund dieser Kenntnisse Freytags politische Stellungnahme noch deutlich zu erkennen vermögen. Die gesetzlichen Neuerungen der 1850er Jahre unterlagen der Trivialisierung - und mit ihnen die Geschäftsunfähigkeit Rothsattels (Vater und Sohn), die „amerikanische" Mentalität Finks, die als „normal" empfunden wurden; vgl. hingegen die Neider: Itzig (SuH S. 281), karikierend: Junker Itzig" z.B. S. 24, 53 - und Ehrenthal in der Sterbeszene Bernhards Kap. ΠΙ.6. Auf die Techniken der Sympathielenkung kann ich hier im einzelnen nicht eingehen, möchte aber darauf hinweisen, daB z.B. der Bruch eines Ehrenworts, der in den 1850er Jahren ganz anders als nach 1918 oder 1945 bewertet wurde, zudem sozial abhängig, in SuH ausgesprochen „human" behandelt wird: die damals notwendige Konsequenz hingegen würde heute zunehmend weniger verstanden. SuH S. 417; vgl. Anm. 94.

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Hauptfiguren die ursprüngliche, durch politische Motive und agitatorische Zwecke bedingte Logik bestehen bleibt: die Logik des Untergangs. Wie aber kam es zu dieser verhängnisvollen Änderung des Konzeptes? Ist es der just in diesem Moment96 gegen Freytag ausgestellte preußische Haftbefehl und eine davon ausgehende Nötigung, der Adelskritik die Schärfe zu nehmen?97 Oder ist es vielleicht doch jenes noch kurz zuvor gefällte Urteil, es sei ,.nicht schön"? Fehlte der Schrift vielleicht, ohne die PolenKolonisation, der politische Aufforderungscharakter und damit das „wahrhaft Nationale"? - Wir werden es nicht mehr erfahren. „Schöner" ist dieses Volksbuch - jedenfalls für uns heute - durch die hinzugekommene Polenfeindschaft nicht geworden, aber es hat in hervorragender und wohl einmaliger Weise als Volksschrift gewirkt: langsam und still, allmählich aber dauerhaft - durchaus auch auf zahllose „naive Leser" ganz, wie Freytag in seiner Denkschrift konzipiert hatte: im einzelnen in den politischen Motiven unbemerkt, aber auf Millionen Deutscher.98 Es ist deshalb auch mitverantwortlich für alles, was Deutsche Juden angetan haben. - Aber wohl gemerkt: vor allem das Werk Soll und Haben - nicht so sehr der (auch selber von seinem Erfolg überraschte)99 Mann Gustav Freytag, der zwar - seiner Gesinnung nach - kein Antisemit war, als politischer Schriftsteller dennoch aus propagandistischem Kalkül an bereits damals geläufige antijüdische Ressentiments angeknüpft, sie bestärkt, geschürt und weiterverbreitet hat, ohne sich später je zu einer Klarstellung durchzuringen, welchen Zwecken diese Judendarstellungen dienten.100 In der Zwecksetzung nationaler politischer Beeinflussung durch Volksbücher - im Gegensatz etwa zu der von seinem Freund101 Berthold Auer96

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Geheimer Verhaftungsbefehl vom 26.6.1854 - (Konzeptänderung erfolgte Juli/August 1854) - vgl. den Brief Freytags an Einst Π. vom 6.8.1854 (Briefw. S. 28-30) und die Memoiren Emst Π. Bd. 2 S. 325ff. Vgl. Emst II. S. 326f., ein Brief äußerster Devotion, - anders als der Briefw. sonst. Vgl. zu Auflagehöhen: T.E. Carter: Freytag's Soll und Haben'. A Liberal National Manifesto as a Best-Seller. In: German Life and Letters 21/1967-68. S. 320-329. Die bis heute verkauften Auflagenhöhen (1960 ca. 1 Million) sind unbekannt. Gegenwärtig sind zwei Ausgaben auf dem Markt. Freytag: Erinnerungen S. 600. Das beweisen auch die Verlegerprognosen, denn die Auflagenhöhen in den ersten beiden Jahren, in denen 6 Auflagen gedruckt wurden, betrugen: 1000, 750, 750, 1000, 1500, 2000. Ich halte -es für wahrscheinlich, daß Freytag mit seinen Schriften zur Abwehr des Antisemitismus (vgl. Anm. 2) eine Richtigstellung beabsichtigt hat, - ohne jedoch dieselben Leser mit ihnen erreichen zu können, die SuH kannten! Vgl. neuerdings: Hans Otto Horch: Gustav Freytag und Berthold Auerbach - Eine repräsentative deutsch-jüdische Schriftstellerfreundschaft im 19. Jahrhundert. In: Jb. der Raabe-Gesellschaft 26/1985. S. 154-174, wo gesagt wird: „Daß Freytags Roman und Auerbachs Rezension am guten Verhältnis zwischen den beiden Autoren nichts geändert haben, zeigen die folgenden Briefe aus den Jahren 1855 und 1856 [...]" (S. 161). Die dann abgedruckten drei Briefe, die dies belegen sollen, sind jedoch: 1. Auerbach an Freytag vom 2.2.1855, d.h. aus einer Zeit, da der Roman noch nicht gedruckt war, 2. Freytag an Auerbach, „ca. 1855", d.h. ein undatierter Brief, der völlig nichtssagend ist, und 3. ein Brief Freytags an Auerbach vom 14.2.1856, der eine „dringende Frage" an Auerbach

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bach vertretenen Volksbuchidee102 - fand Gustav Freytags Vorurteilsfreiheit und Aufgeklärtheit ihre (wohl zeitgemäße) Grenze: in der Bestätigung der Sichtweise des Fremden, des Anderen, der oft nur als Typus (Deutscher, Jude, Pole), aber kaum je als Individualität in Erscheinung tritt.103 Das Wertvolle am Anderen (und vielleicht seine Andersartigkeit) wird damit vernichtet: Genau das aber gehört m.E. zum Wesen des Antisemitismus und in genau dieser Bedeutung war Freytag nicht frei von antijüdischen Ressentiments, die in Soll und Haben insbesondere dort erkennbar wurden, wo Schmeie Tinkeles zumeist ,der Jude' ist, Bernhard Ehrenthal aber lediglich einer anderen ,Konfession' zugehört.104

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richtet, aus dem man allenfalls wird interpretieren können, daß Frey tag sein Verhältnis Auerbach gegenüber nicht geändert habe - aber nicht umgekehrt! Die Grußformel dieses Briefes „Du aber behalte lieb Deinen Freytag" spricht eher für das Gegenteil obiger These: sie ist so ungewöhnlich wie auffordernd, nichts mehr zu verübeln. Wenn Horch die neuerliche Kontaktaufnahme Freytags vom 5.8.1858 (dreieinviertel Jahre nach Erscheinen von .Soll und Haben"!) damit motiviert, Freytag habe „ H e r z o g Emst um eine Audienz für den Freund" gebeten (162), so ist es gerade umgekehrt gewesen: der Herzog bat Freytag, ein Zusammentreffen mit Auerbach zu arrangieren (Briefw. S. 98). Selbst wenn Horchs These stimmte, ist sie bisher also noch keineswegs nachgewiesen. Vgl. Schrift und Volk. Grundzüge der volkstümlichen Literatur, angeschlossen an eine Charakteristik J.P. Hebel's. Leipzig 1846; ein Vorabdruck erschien in den Grenzboten (1848), und es wäre einer eigenen Untersuchung wert, Auerbachs Einfluß auf Freytags Denkschrift, Konzept, Sprache, Stil etc. in SuH nachzugehen. Vgl. Georg Simmel: Der Fremde (zuerst in: Soziologie 1908). In: ders.. Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. Frankfurt 1987. S. 63-70; hier: S. 66f. Vgl. SuH: S. 58 tritt als .Schacherjude' Schmeie Tinkeles auf, der jederzeit als Typus behandelt wird. Er ist von Freytag als einzige jüdische Figur fast immer bezeichnet mit „der Jude" vgl. S. 382ff. und 766ff. vgl. speziell dazu ders.: Die Juden in Breslau. In: ders.: Vermischte Aufsätze ... S. 399-347, hier: S. 340 (auch aus Brody), (mit vielleicht biographischem Hintergrund). Im Gegensatz dazu Bernhard Ehrenthal (SuH S. 238), der nicht als „Jude" tituliert wird; wie zu vermuten ist, weil „das Jüdische" für Freytag (in SuH) nichts Positiv-wertvolles beinhaltete.

Horst Denkler (Berlin)

Verantwortungsethik Zu Wilhelm Raabes Umgang mit Juden und Judentum

I. Als Uwe Johnson 1975 den Wilhelm-Raabe-Preis der Stadt Braunschweig entgegennahm, ging er in seiner Dankrede auf Beruf und Arbeit des Schriftstellers ein und führte aus: „Dies ist ein subjektives Gewerbe, und es bedeutet eine ungeheure Verantwortung, wenn ein Einzelner seinen Blick auf die Welt öffentlich anbietet als eine Form der Realität zum Prüfen und Vergleichen."1 An diese generelle Feststellung ließe sich als spezielle Schlußfolgerung anschließen, was Theodor Mommsen im Verlauf seiner Auseinandersetzungen mit Heinrich von Treitschke während des .Berliner Antisemitismusstreites' 1880 betont hat: „Die gute Sitte und noch eine höhere Pflicht gebieten, die Besonderheiten der einzelnen Nationen und Stämme mit Maß und Schonung zu discutiren. Je namhafter ein Schriftsteller ist, desto mehr istCTverpflichtet, in dieser Hinsicht diejenigen Schranken einzuhalten, welche der internationale und der nationale Friede erfordert."2 Wollte Johnson das von ihm vorausgesetzte schriftstellerische Verantwortungsbewußtsein ausdrücklich für Wilhelm Raabe beanspruchen und geltend machen, so sind immer wieder Zweifel geäußert worden, ob Raabe im Umgang mit Juden und Judentum dem Mommsenschen Toleranzappell gefolgt sei und sein Friedensgebot beherzigt habe. Erst in der jüngsten Vergangenheit scheint sich als Ergebnis textphilologischer, biographischer, sozialpsychologischer und rezeptionsgeschichtlicher Forschungen3 die LehrUwe Johnson: Dankrede. 1975. In: Wilhelm-Raabe-Preisträger. Vier Ansprachen. Ein Bericht. Braunschweig 1981 (= Bibliophile Schriften der Literarischen Vereinigung Braunschweig, 28). S. 44. Theodor Mommsen: Auch ein Wort über unser Judenthum. 1880. In: Der Berliner Antisemitismusstreit. Hrsg. von Walter Boehlich. Frankfurt am Main 1965. S. 218. Dieter Arendt: „Nun auf die Juden!" Figurationen des Judentums im Werk Wilhelm Raabes. In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 19 (1980) H. 74. S. 108-140. - Hans-Jürgen Schräder: Nachwort. In: Wilhelm Raabe: Höxter und Corvey. Nach der Handschrift von 1873/74 hrsg. von Hans-Jürgen Schräder. Stuttgart 1981 (= Reclams UB, 7729). S. 189-213, vgl. auch S. 124f„ 143-146. - Horst Denkler: Wohltäter Maienbom. Ängste und ihre Bewältigung im Werk Wilhelm Raabes. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1984. Braunschweig 1984. S. 7-25; ders.: Das „wirckliche Juda" und der „Renegat": Moses Freudenstein als Kronzeuge für Wilhelm Raabes Verhältnis zu Juden und Judentum. In: The German Quarterly 60 (Winter 1987) 1. S. 5-18; beides neuerdings in: ders.: Neues über Wilhelm Raabe. Zehn Annäherungsversuche an einen

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meinung zu stabilisieren, daß Raabe „nicht zu den .Anttsemiten' zu zählen" ist.4 Damit dürfte sich nicht nur eine briefliche Versicherung des Autors vom 4.2.1903 bestätigen, sondern auch erklären, warum Juden - wie Raabe an gleicher Stelle zu verstehen gab - zu seinen „besten Freunden und verständnißvollsten Lesern" gehört haben. Konkreter gesagt: Raabe erwarb sich um nur wenige unveröffentlichte Quellenzeugnisse aus seinem Nachlaß anzuführen - die Achtung Engels, Hardens, Waldens, Sterns, Bergs und Bies, die Verehrung Jacobowskis und Franzos', die Liebe Wassermanns, Karpeles' und des Ehepaars Lazarus;5 er fand in dem Deutsch-Römer Salomonsohn einen „Apostel" und in dem Berliner Epstein einen , Jünger", den die Lektüre des Schüdderump „am Versöhnungstage [...] mehr erschüttert [...] als [...] die Molltöne unserer Synagogengesänge";6 er wurde von Isidor Singer um eine Stellungnahme gegen die „antisemitische Bewegung" gebeten und von Max Aram (möglicherweise mit Wissen von Theodor Herzl) nach seiner „Meinung über die zionistische Bewegung" befragt.7 Kurzum: Raabe hat offensichtlich alle Genannten genauso von seiner .objektiven' Einschätzung der Juden und seinem .Respekt' vor dem jüdischen Volk überzeugen können8 wie die „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums", die „C.V. Zeitung" des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, das „Israelitische Familienblatt" und die

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verkannten Schriftsteller. Tübingen 1988. S. 48-80. - Hans Otto Horch: Judenbilder in der realistischen Erzählliteratur. Jüdische Figuren bei Gustav Freytag, Fritz Reuter, Berthold Auerbach und Wilhelm Raabe. In: Juden und Judentum in der Literatur. Hrsg. von Herbert A. Strauss und Christhard Hoffmann. München 1985 (= dtv, 10513). S. 140-171. - Jeffrey L. Sammons: Wilhelm Raabe and his Reputation Among Jews and Anti-Semites. In: Identity and Ethos. A Festschrift for Sol Liptzin. Hrsg. von Mark H. Gelber. New York, Bern und Frankfurt am Main 1986. S. 169-191. - Vgl. auch die partiell abweichende Deutung von: Michael Schmidt: Marginalità als Modus der ästhetischen Reflexion. Juden und „unehrliche Leute" im Werk Wilhelm Raabes. In: Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss. Hrsg. von Rainer Erb und Michael Schmidt. Berlin 1987. S. 381-405. Wilhelm Raabe: Brief vom 4.2.1903 an Philippine Ullmann. In: Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe. Freiburg i.Br. und Braunschweig 195 Iff., Göttingen 1960ff. Erg.-Bd. 2. S. 445. Raabes gedruckt vorliegende Werke und Briefe werden im folgenden nach der „Braunschweiger Ausgabe" unter Verwendung der Sigle BA zitiert. Briefe von Eduard Engel, Maximilian Harden, Herwarth Waiden, Adolf Stern, Leo Berg, Oscar Bie, Ludwig Jacobowski, Karl Emil Franzos, Jakob Wassermann, Gustav Karpeles, Moritz und Nahida Ruth Lazarus u.a. an Raabe mit entsprechenden Versicherungen befinden sich in seinem Nachlaß. Fundort: Stadtarchiv Braunschweig. Signatur: Η ΠΙ 10 Nr. 6. Ungedruckte Quellen aus dem Stadtarchiv Braunschweig werden im folgenden mit der Sigle SaB und der Signaturangabe gekennzeichnet. Adolf Glaser: Brief vom 24.1.1899 an Raabe (SaB Η ΙΠ 10 Nr. 6); vgl. L. Salomonsohn: Beitrag zur Glückwunschmappe zu Raabes 70. Geburtstag am 8.9.1901 (SaB Η ΙΠ 10 Nr. 36). - Paul Epstein: Glückwunsch zu Raabes 75. Geburtstag 1906 (SaB Η ΠΙ 10 Nr. 76). I[sidor], Singer: Brief vom 27.8.1884 an Raabe (SaB Η ΙΠ 10 Nr. 6). - Gedrucktes Rundschreiben vom Dezember 1898, unterzeichnet von Max Aram (SaB Η ΙΠ 10 Nr. 29). Raabe: Brief vom 21.11.1883 an M. Schulze. In: BA. Erg.-Bd. 2. S. 243. - Ders.: Brief vom 24.2.1902 an S. Bachenheimer. Ebd. S. 437.

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„Bayerische Israelitische Gemeindezeitung", die 1910, 1911,1931 bzw. 1935 davor warnten, den Autor den .Judenfeinden" zuzurechnen und ihn diesen zu überlassen.® Denn - so folgerte Dora Edinger 1935 in der „Gemeindezeitung" - „Ressentiment" dürfe nicht „den Sinn für Rang und Wert einer Leistung" trüben, die sie unter dem Eindruck ihres „augenblicklichen Erlebens" in Raabes „positiver Einstellung" zu den Juden und seiner Botschaft von der Überlebenskraft dieses „tapfersten aller Völker" erkennen wollte.10 Damit war jedoch der Bogen zu der 1910 veröffentlichten These des jüdischen Schulrats und Raabe-,3ewunderers" Josef Baß geschlagen, daß Raabe „immer und überall [...] auf Seite der Unterdrückten und Verachteten" stehe und folglich auch für die Juden Partei ergreife, indem er ihnen „wohlwollend" entgegentrete und sie als „Schützlinge seiner Muse" behandle.11 Wie angestrengt sich Raabe diese .Leistung' erarbeitet hat, aus der die Verachteten, Unterdrückten, Bedrängten, Bedrohten und Verfolgten im .Dritten Reich' Trost und Lebensmut schöpfen mochten, will ich im folgenden zeigen. Dabei werde ich seine bekannten, im Hinblick auf das Juden-Thema und die Juden-Motive weithin ausgedeuteten Schriften mit unbekannten, neue Deutungsperspektiven eröffnenden Nachlaßmaterialien konfrontieren und zufällige Alltagserfahrungen ohne Tiefgang, substantielle Schlüsselerlebnisse mit Langzeitwirkung und literarische Produktion in Beziehung setzen. II. Für den jungen Raabe lassen sich freilich nur spärliche, lückenhafte Informationen beibringen, weil das (kontinuierlich geführte) Tagebuch erst am 1.10.1857 einsetzt und die (wenigen erhaltenen) frühen Briefe nichts Einschlägiges verraten. Wilhelm Brandes erfuhr von Raabe, er habe als Kind in Stadtoldendorf oder Holzminden gesehen, daß „dem Judenjungen in die offene Hand ge-

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Josef Baß [auch: Bass]: Die Juden bei Wilhelm Raabe. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums. Neue Folge 18 (1910) S. 641-688. - G[utmann], Riilf: Ein Nachtrag zu „Wilhelm Raabe und die Juden". Ebd. 19 (1911) S. 247. - Herbert Eulenberg: Raabes jüdische Gestalten Freudenstein, Jemima und Frau Salome. In: C.V. Zeitung. Organ des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 11 (4.9.1931) S. 433-435. - A. Posner: Wilhelm Raabe und wir. In: Israelitisches Familienblatt (Hamburg 10.9.1931). - Dora Edinger: Jüdische Gestalten bei Wilhelm Raabe. Anläßlich des Todestages des Dichters. In: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung 11 (1.12.1935) 23. S. 524. Edinger (Anm. 9). Baß (Anm. 9). Ich zitiere nach der erweiterten Fassung des Aufsatzes: Die jüdischen Gestalten bei Raabe. In: Raabe-Gedächtnisschrift. Hrsg. von Heinrich Goebel. Leipzig 1912 (= Sonderheft der Xenien, 1). S. 112 und 136; vgl. ders.: Brief vom 15.9.1910 an Raabe (SaB Η ΠΙ 10 Nr. 6) und Beileidsschreiben zu Raabes Tod am 15.11.1910 (SaB Η ΠΙ 10 Nr. 78/79). - Eulenberg (Anm. 9); vgl. Hennann Wendel: Wilhelm Raabe. In: Leipziger Volkszeitung (5.9.1931).

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spuckt wurde", wie es im Hungerpastor beschrieben ist.12 Und Maximilian Müller-Jabusch entdeckte in dem 1921 verstorbenen Gerbermeister Seckel Falkenstein aus Holzminden einen „Schulfreund" und „Spielkameraden" des Autors, auf dessen Namen wohl im Stopfkuchen angespielt wird, wo man Erkundigungen über Sekkel Katerfeld beim Postmeister einholt.13 Eine andere Spur leitet sich von dem Holzmindener „Postrath" August Raabe, dem aufklärerisch gesinnten Großvater des Autors, her. Von ihm erbte der Enkel Exzerpte aus den Hinterlassenen Gedichten (1792) und der Lebensbeschreibung des Ephraim Moses Kuh, der „sich oft über die Leibzölle" geärgert habe und prompt in den Gänsen von Bützow herbeizitiert wird, nachdem der Grund für sein Ärgernis bereits im Hungerpastor abgehandelt worden ist.14 Neben solchen literarischen Reminiszenzen schlagen die Alltagsstoffe, die Raabes Vater Gustav überliefert hat, stärker zu Buche: ein Kommerslied aus dem Jahre 1825 zum Abschied vom Stammlokal „zum goldnen Perpendikel", das der „Schacherei" des „Juden-Gesindels" zum Opfer gefallen sei; ein Kalender von 1838 mit Gerichtsterminen, die sich auf den Prozeß zwischen einem jüdischen Gläubiger und seinem Schuldner beziehen; Reisetagebücher, verfaßt zwischen 1814 und 1843, in denen Juden wie der Stadtführer „Noël", ein „widriger Juden-Junge", eine auffallende „Judenfamilie", „des Sabbaths halber elegante Jüdinnen", „freundliche und gebildete Leute" aus dem „Geschlechte Abrahams" Beachtung finden, aber auch die billige Einkaufsquelle bei „,Marx Ochs', neue Krame" oder „Rothschilds Villa" in Frankfurt am Main erwähnt werden und besonders ausführlich die 1819 losbrechenden ,Hep-, Hep-Stürme' der .Judenfeinde" im Würzburgischen und Südhessischen beschrieben sind.15 Knüpfte Raabe an den Augenzeugenbericht seines Vaters über diesen .Judentumult" mit der ihm unterlegten Hetzformel .//ierosolyma est perdita!' in der PogromErzählung Höxter und Corvey an,16 indem er die väterlicherseits gewürdigte Friedensstifter-Rolle der Heidelberger Studenten auf einen fiktiven Helden übertrug, der wie sein Großvater in Helmstedt studiert hatte, so bewegte er sich zunächst wohl überhaupt auf jenen Pfaden fort, die von dem emanzipatorisch engagierten August Raabe und dem neugierig-distanziert beobach12

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Wilhelm Brandes: Raabe-Notizbuch (SaB Η ΠΙ 10 Nr. 86). S. 39. - Raabe: Der Hungerpastor. In: BA. Bd. 6. S. 41f. Maximilian Müller-Jabusch: Raabes letzter Schulfreund. In: Deutsche Allgemeine Zeitung (21.12.1921); ders. in: BA. Erg.-Bd. 4. S. 14f. - Raabe: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte. In: BA. Bd. 18. S. 18. August Raabe: Collectanea (SaB Η ΠΙ 10 Nr. 31). - Raabe: Die Gänse von Bützow. Eine obotritische Historia. In: BA. Bd. 9/2. S. 69 und: Der Hungeipastor (Anm. 12). S. 46f. Gustav Raabe: Lied, beim Auszuge aus dem Gasthofe zum goldnen Perpendikel (SaB Η ΠΙ 10 Nr. 70). - Ders.: Terminkalender (ebd.). - Ders.: Meine Reisen (SaB Η ΙΠ 10 Nr. 39). Notizen vom 17. und 13.6.1842, 2.-13.9.1830, 18.6.1842, 20.9.1818, 26./27.7.1843, 11.-17.9.1819. Ders.: Meine Reisen (Anm. 15). Notizen vom 14. und 17.9.1819. - Raabe: Höxter und Corvey. In: BA. Bd. 11. S. 322.

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tenden Gustav Raabe betreten worden waren und sich zwangsläufig am klassenspezifischen Erfahrungshorizont der braunschweigischen Beamtenfamilie Raabe orientierten. Ergänzt durch die Hochschätzung der monotheistischen „althebräischen Phantasie" und die Würdigung der „großen Culturbedeutg" der spanischen Juden, die Raabe an der Berliner Universität in den Vorlesungen von Professor Hotho und Dr. Gosche vermittelt wurden17 und die sein Interesse für jüdische Geschichte anregten oder bestärkten, bestimmten jedenfalls individuelle Aufmerksamkeit und soziale Anteilnahme die Tagebuchnotizen des Autors von 1857 bis in die siebziger Jahre hinein. Raabe vermerkte Begegnungen mit bekannten jüdischen Mitbürgern wie dem geneckten .jungen Rosenthal", dem „geigespielenden Juden Singer", Herrn Löwenstein, „Frau Dr. Cohn etc.", den Familien Rothschild aus Stadtoldendorf und Cohn aus Wolfenbüttel;18 er hielt Einkäufe bei den Geschäftsleuten Levi, Baruch, Jüdel u.a. fest;19 er konstatierte Juden im Wald, auf der Eisenbahn, an Ausflugsorten und in Gaststätten.20 Er verzeichnete (ungeschilderte) Genreszenen zwischen Juden und dem Onkel Just, einem Potsdamer und mehreren Hunden;21 er registrierte Geschichten von „der zusam gekauften Dinte den Kreuzern u dem Judenjungen" oder von der Rothschildschen Lotterie, dem Schmiedegesellen und der Kreisdirektion, Anekdoten wie „der Jude in der Synagoge", Spiele wie die .Judenverlobg" usw.22 Doch für die gleiche Zeitspanne bezeugt das Tagebuch auch Raabes Hinwendung zu jüdischer Kultur, listet es auch seine intensiven literarischen und politischen Kontakte zu jüdischen Kollegen, Parteifreunden und Gesinnungsgenossen auf, spricht es auch von Schicksalsbegegnungen mit Menschen jüdischer Abstammung. Sind Raabes Besuche der Präger „Synagoge" und des Prager ,Judenkirchhofs" oder des „Gefängnisses d. Jud. Süß" auf dem Hohenneuffen vielleicht noch auf touristische Besichtigungsimpulse zurückzuführen, obwohl sich schon die Ausführlichkeit des Prager Beobachtungsprotokolls und seine spätere Auswertung für die Erzählung Holunderblüte als Indizien für Studiereifer und Studienmotivation deuten lassen,23 unterstreichen andere Tagebuchvermerke den Emst seines Informationsbedürfnisses. Das ist seiner Beschäftigung mit Heine, Börne, Auerbach, Rahel Vamhagen zu entnehmen, ergibt sich aber auch aus seiner Lektüre der Bücher Ahasvérus in 17

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Raabe: Kollegnachschriften 1854 - 1856: Hotho: Ästhetik. Wintersemester 1855/56 (SaB Η ΠΙ 10 Nr. 26). S. 14f.; Gosche: Spanisch-arabische Kulturgeschichte. Wintersemester 1854/55 (SaB Η ΙΠ 10 Nr. 35). S. 49. Raabe: Tagebücher (SaB Η ΠΙ 10 Nr. 159). Notizen vom 4.5.1860, 23.9.1862, 23.6.1867, 1.8.1874, 10. und 30.6.1867. Ebd. Notizen vom 19.2.1863 (und viele Folgetermine; die geschäftliche Verbindung mit dem Buchhändler Levi entwickelte sich zur Freundschaft), 22.5.1867, 6.12.1871. Ebd. Noüzen vom 6.7.1874,4.6.1867,3.8.1870,1.8.1874, 10.6.1867,11.7.1867,19.8.1870. Ebd. Noüzen vom 11.4.1858, 17.11.1857, 18.5.1859. Ebd. Notizen vom 10.6.1859, 11.8.1864, 12.1.1864, 23.6.1867. Ebd. Noüzen vom 18.5.1859, 30.6.1870.

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Rom (1866) von Robert Hamerling, Le juif errant (1844/45) von Eugène Sue oder der Geschichte der Israeliten (1846) von Julius Heinrich Dessauer.24 Angaben über Raabes politisches Verhältnis zu jüdischen Zeitgenossen enthält das Tagebuch in breiter Fülle. Allem Anschein nach nahm er 1861/ 62 Partei für den Braunschweiger Linksliberalen Dr. Adolf [Aron] Aronheim gegen ,Juden-Schulze", einen stockkonservativen, hyperorthodoxen, intolerant-demagogischen Juden-Missionar,25 fand ein Redebeitrag von Gabriel Riesser auf der Coburger Generalversammlung des Deutschen Nationalvereins am 5.9.1860 ebenso seinen Beifall wie die „Wahlrede", die Leopold Zunz am 4.1.1862 in Wolfenbüttel hielt.26 In Stuttgart verbanden ihn politische Gesinnung und Parteiarbeit bis 1866 mit Ludwig Walesrode, bewegte ihn 1864 der Tod Lassalles, hörte er 1866 Bernhard Oppenheim, freute er sich 1868 über den Wahlsieg Eduard Pfeiffers,27 ohne sich damit aufzuhalten, wie die Genannten zu ihrer jüdischen Abstammung standen. Doch den größten politisch-literarischen Einfluß auf den Stuttgarter Raabe gewannen der jüdische Achtundvierziger Moritz Hartmann und die Kollegenfrau Marie Jensen, Tochter des jüdisch geborenen und zum Katholizismus übergetretenen Publizisten Dr. Moriz Augustin Brühl.28 Während die persönliche Beziehung zu Hartmann bereits am 7.6.1858 in Braunschweig über das gemeinsame Verlagshaus Vieweg angebahnt worden war, sich seit Ende 1862 beruflich und familiär intensivierte und am 31.8.1866 im „Politisch. Zank" um Raabes kleindeutsch-nationalliberale Standpunktwahl und Hartmanns großdeutsch-demokratische Überzeugungstreue abriß, entwikkelte sich aus dem Zusammentreffen mit Marie und Wilhelm Jensen am 12.10.1866 eine Lebensfreundschaft, die Raabes Gefühlsleben und Kunstbewußtsein derart herausforderte, daß er sich in mehreren Anläufen an ihr literarisch abarbeitete.29 Was sich seit dem vertraulichen Umgang mit Hartmann und mit Marie Jensen an seiner Juden-Darstellung veränderte, läßt sich aus Raabes Schriften bis zu den 1875 erschienenen Erzählungen Höxter 24

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Ebd. Notizen zu Heine vom 23.12.1857 (und viele Folgetermine, siehe Anm. 40); zu Börne vom 22./25.1.1867; zu Auerbach vom 1.2.1859, 23.-27.2.1866 (siehe Anm. 53); zu Rahel Vamhagen vom 18.9.1868; zu Hamerling vom 24.6.1867; zu Sue vom 11.11.1868; zu Dessauer vom 8.11.1862 in: Notizbuch. Bd. 1. S. 97 (SaB Η ΠΙ 10 Nr. 65). Ders.: Tagebücher (Anm. 18). Notizen vom 31.1.1861 und 12.2.1862. Vgl. Deutsche Reichs-Zeitung (Braunschweig 31.1.1861) 30. S. 2; außerdem: Hans-Heinrich Ebeling: Die Juden in Braunschweig. Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von den Anfängen der Jüdischen Gemeinde bis zur Emanzipation (1282-1848). Braunschweig 1987 (= Braunschweiger Werkstücke, 65). S. 336 und 374. Raabe: Tagebücher (Anm. 18). Notizen vom 5.9.1860, 4.1.1862. Ebd. Notizen vom 7.1.1866 (und weitere Termine), 3.9.1964, 12.2.1866, 18.7.1868. Denkler: Marie Jensen. Angaben zur Person einer schönen Unbekannten. In: Mitteilungen der Raabe-Gesellschaft 73 (1986) 1. S. 4-8. Neuerdings in: ders.: Neues über Wilhelm Raabe (Anm. 3). S. 4 1 ^ 7 . Raabe: Tagebücher (Anm. 18). Den angegebenen Daten folgen viele weitere Termine, die in den Tagebüchern notiert sind.

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und Corvey und Frau Salome ablesen. Im Frühwerk laufen die von Großvater und Vater überlieferten und an der Universität vermittelten Motivstränge mit Raabes eigener irritiert-faszinierter Sicht- und Urteilsweise zusammen. Die Menge der Belegbeispiele ist daher entsprechenden Bezugsfeldern zuzuordnen, muß aber in ihrer widersprüchlichen Zusammengehörigkeit erfaßt und kann als Ausdruck der generationstypischen Verunsicherung des aufbrechenden jungen Autors gedeutet werden. Überkommen, übernommen und bestenfalls durch flüchtige Oberflächeneindrücke bekräftigt sind stereotype Figurenklischees, Verhaltensmuster, Milieumerkmale: die Auffüllung des Personenspektrums mit abstammungstypologisch karikierten häßlichen Alten, schönen, guterzogenen Töchtern und eng miteinander verbundenen und hingebungsvoll füreinander sorgenden Familienangehörigen;30 die Eingrenzung des Berufsspektrums auf Hausierer, Trödler, Agenten, Intellektuelle, Bankiers und Hofjuden 31 samt der damit einhergehenden Überbetonung von Schacher, Gelegenheitsmacherei, Spekulation und Intrige; die Kontrastierung von Schmutz und Gestank, Armut und Elend im Äußerlich-Sichtbaren mit Reichtum, Kultur und Glanz im Verborgenen, Errungenschaften, die mit „Schweiß" und „Blut" erworben sind32 und als Gottesgeschenke mit frommer Dankbarkeit genossen werden. Genauso traditionsverhaftet und konventionell bleiben die vielen Anspielungen der nichtjüdischen Personen auf „den Juden", „des Juden Haus", „die Juden", eine .Judenbande" und eine .Judenwelt" oder ihre nicht minder häufigen Berufungen auf das heroische Volk der alten Hebräer und „die Sprüche und Erzählungen der jüdischen Seher und Propheten" aus der Bibel, die „mit den Ereignissen, den Empfindungen, den Hoffnungen und Befürchtungen, den Freuden und Schmerzen des eigenen Daseins" der jeweiligen Sprecher verknüpft werden.33 Und auch die Leidenstradition der Juden in der Diaspora hat ihre eigenen Topoi produziert, die Raabe aufgriff und einbrachte: In alle Welt zerstreut, anders als die anderen, behindert, benachteiligt, bedrängt, ausgepreßt, umdroht und dennoch „als ein schmutzig beißend Ungeziefer [...] am reinen Leibe der deutschen Nation" verteufelt,34 sind sie steter Pogromgefahr ausgesetzt, müssen sie ihre nichtjüdische Umwelt durch ihr rechtschaffenes Tun und Treiben ständig eines Besseren belehren und die Vorurteile ihrer Verächter dauernd durch die eigene ehrlich-ehrbare Leistung widerlegen. Dieses vorgeprägt-unoriginelle Juden-Bild, in dem sich konservative und liberale Züge mischen, ist - wie ich vermuten

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Bezugsstellen bei Raabe: BA. Bd. 1. S. 260 und 279 sowie besonders: BA. Bd. 6. Ebd. Bd. 3. S. 319; Bd. 1. S. 260, 279, 357; Bd. 3. S. 365; Bd. 6; Bd. 5. S. 66; Bd. 7. S. 132. Ebd. Bd. 1. S. 231. Ebd. Bd. 2. S. 170, 467; Bd. 3. S. 320; Bd. 2. S. 69; Bd. 8. S. 84; Bd. 1. S. 167; Bd. 5. S. 244 (vgl. Bd. 3. S. 369; Bd. 4. S. 462, 21). Ebd. Bd. 3. S. 320. Diese Luther-Anspielung wird von Raabes Romanhandlung widerlegt.

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möchte - unter dem Einfluß Moritz Hartmanns und Marie Jensens wirksam ergänzt und beträchtlich bereichert worden. Radikaldemokrat, Agnostiker und Spinozist, war Hartmann zwar Verfechter der Emanzipation aller Juden zu Staatsbürgern mit gleichen Rechten und Pflichten, mußten ihm jedoch - wie sich auch aus einem Brief an Raabe vom 6.7.1864 herauslesen läßt35 - religiöse und ethnische Sonderprivilegien zuwider sein. Infolgedessen erfreute er den „lieben Freund" Raabe am 6.12.1864 nicht nur mit seiner Reimchronik des Pfaffen Maurizius (1849), in der ein jüdischer Vaterlandskämpfer als positive Leitfigur bloß noch revolutionärer Patriot und „Kein Jude mehr" sein will, während die zu Antihelden bestimmten Wiener Börsenjuden „Emanzipation", „Freiheit und Constitution" ihren Geschäften opfern.36 Darüber hinaus dürfte er Raabe auch zur Niederschrift der Erzählung Gedelöcke (1866), eines Toleranzappells an Christen und Juden, sowie des Romans Der Hungerpastor (1863/ 64) ermuntert haben, den Hartmann so hoch einschätzte, daß er ihn dem zeitgenössischen Lesepublikum noch nach seinem Zerwürfnis mit Raabe als „schönes Buch"37 anpries. Denn dieser Roman rechnet - wie ich an anderem Ort zeigen konnte38 - am Beispiel eines abtrünnigen Juden mit der Reaktion in Preußen ab und ist partiell als politischer Schlüsselroman zu verstehen, dessen reale Bezugspersonen, der Denunziant und Druckschriftenüberwacher Dr. Joël Jacoby wie der Restaurationsprogrammatiker und -politiker Professor Friedrich Julius Stahl, die Verachtung, den Zorn und den Haß der damaligen Linken und somit wohl auch Hartmanns Aversionen auf sich gezogen hatten. Vermittelte Hartmann eine emanzipationspolitische Perspektive, die den Juden staatsbürgerliche Gleichberechtigung zusprach und ihnen als gleichberechtigten Bürgern weder Sonderrollen noch Minderheitenschutz zubilligte, lehrte die streng katholisch aufgezogene und von ihrem Gatten zum Agnostizismus bekehrte Marie Jensen, den Beitrag der Juden zur deutschen Kultur zu würdigen und ihr Schicksal mit Einfühlungsvermögen wahrzunehmen: Was Hartmann mit seinem kühlen politischen Engagement zur Erweiterung der konventionellen Sichtweise des frühen Raabe beitragen konnte, erreichte Marie Jensen mit ihrer warmen Empfindung und ihrer enthusiastischen Kulturbegeisterung. Sie identifizierte sich halb im Ernst, halb im Scherz mit der Tänzerin Mahalath aus Raabes Erzählung Holunderblüte (1863), die am Schmerz über die Leiden ihres Volkes, aus unerfüllter Liebe oder an einem organi35 36

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Moritz Hartmann: Brief vom 6.7.1864 an Raabe (SaB Η ΠΙ 10 Nr. 6). Raabe: Tagebücher (Anm. 18). Notiz vom 6.12.1864. - [Hartmann:] Reimchronik des Pfaffen Maurizius. Frankfurt am Main 1849. S. 198 und 145. Raabe: Tagebücher (Anm. 18). Notiz vom 30.11.1867. Denkler: Das „wirckliche Juda" und der „Renegat" (Anm. 3). Zusätzliche Beachtung wäre in einer weiterführenden Untersuchung dem Vater Samuel Freudenstein zuzuwenden.

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sehen Herzleiden gestorben sein soll;39 sie regte Raabe zu rauschhafter HeineLektüre an und inspirierte ihn, ihr Leben nebst dem ihres Gatten - wie dieser am 24.3.1870 festgestellt hat - in sein Leben und in sein Werk hineinzuziehen.40 Das reichte von Anspielungen wie der Zitierung ihres Geburtsnamens bei der Erwähnung des „lateinischen" Juden „Scholem nomine Brühl" im Deutschen Adel (1878/79)41 über Parallelisierungen bei der Figurengestaltung des (Jüdisches und Deutsches vorbildlich zusammenführenden und musterhaft vereinigenden) halbjüdischen Malers Rudolf Haeseler im Dräumling (1872) bis zur Auseinandersetzung mit Wilhelm Jensen in Höxter und Corvey und mit Marie Jensen in Frau Salome, jeweils konzentriert auf die Juden-Thematik. Denn nachdem Raabe am 5.4.1869 Jensens Novelle Die Juden von Cölln (1869) geschenkt bekommen hatte, die sich explizit auf Marie beruft und die Eskalation mittelalterlicher „Christengrausamkeit" gegen das „alte Pariavolk" zur vernichtenden , Judenschlacht" schildert,42 fühlte er sich offenbar herausgefordert, den Jensens zu zeigen, wie eine solche Pogrom-Erzählung geschrieben werden muß. Als „echte und rechte Geschichte" konzipiert, die „das Krumme grade" machen und „der Wahrheit zu ihrem Rechte" verhelfen sollte, setzt Höxter und Corvey historische Quellenexegese, abhandlungensparende Handlungserfindung, milieugerechte Sprachprägnanz, distanzierenden Humor gegen Geschichtsklitterei, Thesenjournalismus, Literaturlüge, Kolportagestil, Identifikationsanreiz, Schwulst, Pathos und Tendenz, um die Sündenbock-Funktion bloßzulegen, die dem „hebräischen Völklein" als „tapferstem aller Völker*' immer wieder aufgezwungen wird. 43 Und wie zum Ausgleich für die literarische Zurechtweisung des Gatten folgte mit Frau Salome eine so reminiszenzenreiche Verbeugung vor der Gattin, daß sich Wilhelm Jensen am 23.4.1875 zu dem Ausruf „Zu toll nicht aufgetragen!" veranlaßt sah.44 Im Entwurf als „Gräfin Marie" noch enger an das Inspirationsmodell gebunden, hat sich die Titelfigur der Druckfassung zur emanzipierten jüdischen Heroine vom Zuschnitt althebräischer Seherinnen entwickelt, die in Heines deutscher „Affrontenburg" jedem „Affront" die lachenden oder beißenden Zähne zeigen lernte und so stark wie würdig ist, ein flachsblondes, mit dem altsächsischen Vornamen Eilike 39

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[Marie Jensen:] „Hollunderblüthe - Mahalat." (Faltblatt mit dieser Aufschrift, inliegend Fliederblüte aus rotem Lackpapier, SaB Η ΠΙ 10 Nr. 5); vgl. Raabe: Tagebücher (Anm. 18). Notiz vom 5.5.1869. - Raabe: Holunderbliite. Eine Erinnerung aus dem „Hause des Lebens". In: BA. Bd. 9/1. S. 105f. und 109f. Raabe: Tagebücher (Anm. 18). Notizen vom 25./26.11. und 6.12.1867 sowie vom 17.9.1870. - Wilhelm Jensen: Brief vom 24.3.1870 an Raabe („Du zogst unser Leben in Deines hinein"). In: BA. Erg.-Bd. 3. S. 99. Raabe: Deutscher Adel. Eine Erzählung. In: BA. Bd. 13. S. 271. Ders.: Tagebücher (Anm. 18). Notiz vom 5.4.1869. - Wilhelm Jensen: Die Juden von Cölln. Novelle aus dem deutschen Mittelalter. Flensburg 1869. S. IX, 199, 10, 193. Raabe: Höxter und Corvey (Anm. 16). S. 350, 314, 281, 319, 351, 286. Wilhelm Jensen: Brief vom 23.4.1875 an Raabe. In: BA. Erg.-Bd. 3. S. 245.

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bedachtes .Germanen'-Mädchen nach ihrem Bilde aufzuziehen.45 Allem Anschein nach hat die Begegnung mit der Halbjüdin Marie Jensen den literarisch und politisch an der Judenthematik interessierten Raabe so für die .Judenfrage"46 sensibilisiert, daß er sie ästhetisch zu beantworten suchte, indem er mit höchster Kunstanstrengung und ernsthaftestem Problembewußtsein die sozialgeschichtlichen Bedingungsfaktoren und Begleitumstände der jüdischen Leidensgeschichte aufdeckte, der verheißungsvollen Zukunft einer deutsch-jüdischen Symbiose ihre Chance ließ und sich zu jener schriftstellerischen Verantwortlichkeit bekannte, die seine Lebens- und Arbeitsweise fortan bestimmen sollte.

III. Diese Verantwortungsethik äußerte sich seit Mitte der siebziger Jahre im literarischen Artikulationsverzicht. Gerade weil ihn der gleichzeitig aufbrandende Streit um die Stellung der Juden im Deutschen Reich politisch berührte und weil ihm berufliche Konflikte mit einzelnen deutschen Juden auf den Leib rückten, fühlte Raabe sich zu erregt und betroffen, um sich an der öffentlichen Diskussion beteiligen zu wollen und daran anknüpfende „objective Dichtungen" verfassen zu können.47 So öffnete sich nach 1875 die Schere zwischen Privataussagen in Tagebuch, Notizensammlung, Korrespondenz und öffentlich bekundeter Meinung in den literarischen Publikationen. Einerseits sind die werkimmanenten Juden-Anspielungen bis auf wenige Humanitätsbeweise, Literaturzitate oder sprichwörtliche Wendungen zurückgenommen, hat deshalb auch der (höchst positiv gezeichnete) jüdische Buchbinder-Meister Abraham Veigel aus dem Entwurf (1881) von Prinzessin Fisch in der endgültigen Druckfassung (1882/83) seinem ebenso sympathischen nichtjüdischen Buchbinder-Gesellen Heinrich August Baumann, genannt Bruseberger, weichen müssen.48 Andererseits finden sich im Tagebuch zahlreiche judenbezügliche Eintragungen, die sich nicht selten im Briefverkehr spiegeln. Sie beziehen sich auf persönliche Erfahrungen, berufsbedingte Begebenheiten und öffentliche Ereignisse. Beschied Raabe Autographenwünsche jüdischer Leser, Buchwünsche jüdischer Institutionen und wohl auch die bizarren Bettelbriefe und prächtigen 45

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Raabe: Frau Salome. In: BA. Bd. 12. S. 463 (Entwurf), 94, 67f.; vgl. Heinrich Heine: Affrontenburg. In: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb. Bd. 11. München und Wien 1976. S. 199-201. Harry Breßlau: Zur Judenfrage. 1880. In: Der Berliner Antisemitismusstreit (Anm. 2). S. 53. Raabe: Brief vom 1.12.1891 an Edmund Sträter. In: BA. Erg.-Bd. 2. S. 316. - Ders.: Brief an M. Schulze (Anm. 8). S. 243. Ders.: Prinzessin Fisch. Eine Erzählung. In: BA. Bd. 15. S. 598, 602, 617 (Entwurf) und 225.

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Segensbotschaften des Rabbiners O. Krohn aus Borszczów in Galizien mit Freundlichkeit und reagierte er mit verbindlicher bzw. gereizter Strenge auf die briefliche Hungerpastor-Kritik von Philippine Ulimann und S. Bachenheimer,49 so dürfte ihn der Stoßseufzer seines wegen Homosexualität verfolgten und verhafteten Freundes Adolf Glaser besonders bewegt haben: „Wie ganz anders", schrieb ihm dieser am 30.4.1878, „begreife ich jetzt Judenverfolgung, Hexenprozeß und Alles, wobei Fanatismus und blindes Vorurtheil die Menschen zur größten Wuth, ohne jeden wirklichen Grund, brachte."50 Dementsprechend wehrte Raabe sich 1883 gegen antisemitische Anbiederung, Vereinnahmung und Mißdeutung, entrüstete er sich 1898/99 über den antisemitisch infizierten Dreyfus-Prozeß, der seinem Briefpartner Edmund Sträter das „Atemholen [...] greulich verkümmerte" und die „Fäuste bleischwer" auf die Knie sinken ließ, verfolgte er 1880 angespannt den Berliner „Antisemitenkampf', der zu nächtelangen Streitgesprächen im Freundeskreis der .Kleiderseller' führte und am 20. sowie 22. November in der (vom Tagebuch mit „N[ota]B[ene]"-Zeichen registrierten) .Juden-Debatte" des Preußischen Abgeordnetenhauses gipfelte, die die Fortschrittspartei aus Anlaß antisemitischer Breitenagitation und Massenorganisation beantragt hatte.51 Dieser Grundhaltung entsprach das politische Vertrauen, das Raabe seinem prominenten jüdischen Mitbürger Max Jüdel durch die Wahl zum Braunschweiger Stadtverordneten am 13.1.1897 und am 26.1.1903 bezeigte;52 mit ihr ließen sich aber auch abfällig-diskriminierende und bösartig-generalisierende Bezugnahmen auf Herkunft und Stammeszugehörigkeit jüdischer Rezensenten, Redakteure und Literarhistoriker vereinbaren, die Raabe verletzt, verärgert, erzürnt hatten. Als der Autor erfuhr, daß (der 1858 von ihm als „wackerer deutscher Meister von der Fedei" gepriesene und auch weiterhin beachtete) Berthold Auerbach ein Dankschreiben für die freundliche Rezension des Horns von 49

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O. Krohn: Briefe vom 3. und 24.9.1906 (mit hebräischem Segen) an Raabe (SaB Η ΠΙ 10 Nr. 76); vgl. Raabe: Tagebücher (Anm. 18). Notizen vom 7. und 26.9.1906, 22.3.1907, 9.4. und 26.9.1908. - Raabe: Briefe an Philippine Ulimann (Anm. 4) und S. Bachenheimer (Anm. 8); die Briefe der beiden Adressaten sind erhalten geblieben (SaB Η ΠΙ 10 Nr. 6 und Nr. 2). Briefe von Krohn (3.9.1906) und Bachenheimer (27.2.1902) lasse ich im Anhang zu diesem Aufsatz folgen. Glaser: Brief vom 30.4.1878 an Raabe (SaB Η ΙΠ 10 Nr. 6). Raabe: Brief an Schulze (Anm. 8) als Antwort auf dessen Brief vom 15.11.1883 (SaB Η ΠΙ 10 Nr. 2); vgl. Tagebücher (Anm. 18). Notiz vom 16.11.1883. - Ders.: Tagebücher. Notizen vom 23.2.1898 und 9.9.1899; Edmund Sträter: Briefe vom 2.10.1898 und 7.9.1899 an Raabe (SaB Η ΙΠ 10 Nr. 6). - Raabe: Tagebücher. Notizen vom 25.2.1881, 7.2.1880 und 20./22.11.1880; vgl. Circitorum Palingenesis, / das ist: / der ehrlichen / Kleidersellere in Braunschweig / Neu- und Wiedergeburt [...]. Braunschweig 1882 (SaB Η ΠΙ 10 Nr. 28). S. 11. - Vgl. Wanda Kampmann: Deutsche und Juden. Die Geschichte der Juden in Deutschland vom Mittelalter bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. Frankfurt am Main 1979. S. 253-260. Raabe: Tagebücher (Anm. 18). Notizen vom 13.1.1897 und 26.1.1903.

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Wanza erwarte, vertraute er seinem Tagebuch am 8.4.1881 an: „Herr B. Auerbach verlangt's schriftlich, ,daß ich merr gefraid hab'."53 Die in Schriftbild und Schreibstil hingesudelte Ablehnung der Alten Nester durch Dr. Oscar Blumenthal riß Raabe am 19.3.1879 zu dem Tagebuch-Aufschrei „Grimm über die Berliner Judenschufte!" hin.54 Und nachdem ihm Richard Moritz Meyer in seiner Geschichte der Deutschen Litteratur des Neunzehnten Jahrhunderts (1900) „Reichsverdrossenheit" vorgeworfen hatte, kehrte er sich in einem (nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen) Brief vom 20.11.1900 empört von „Herrn Richard Moses Meyer" und seinen Berliner „Genossen" ab.55 An anderem Ort habe ich versucht, diese streng privaten Äußerungen auf den breiteren Argumentationskontext zu beziehen und ihren Begründungszusammenhang wie ihre Ventilfunktion zu erklären.56 Hier möchte ich mich mit dem Hinweis begnügen, daß sie als singulare Momentausbrüche zwar dem sonst bezeugten Gerechtigkeitssinn und der sonst beachteten Sprachdisziplin des Autors zuwiderlaufen, sich aber mit seinen Vorstellungen von der Rolle der Juden im Deutschen Reich verbinden lassen, ohne mit ihnen deckungsgleich zu sein. Denn nachdem die Juden 1869 bzw. 1871 den Angehörigen anderer „religiöser Bekenntnisse" gesetzlich gleichgestellt worden waren,57 erwartete Raabe von ihnen, daß sie sich unter Aufgabe ihres gesellschaftlichen Sonderstatus und unter Wahrung ihrer Privatrechte als Konfessionsgemeinschaft in das neugegründete Reich integrierten und staatsbürgerlich assimilierten oder bei Beanspruchung besonderer Gruppeninteressen mit der Duldung als ,Gäste' zufrieden gäben. Schloß das „Ideal nationaler Assimilation", wie 53

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Ders.: Berthold Auerbachs Deutscher Volkskalender auf das Jahr 1859. Rezension. 1858. In: Sämtliche Werke. Dritte Serie. Bd. 6. Berlin-Grunewald [1916], S. 519; vgl. Tagebücher (Anm. 18). Notizen vom 26.4.1859, 23.-27.2.1866. - Ders.: Tagebücher. Notiz vom 8.4.1881; vgl. Notizen vom 5.1., 22.4., 27.4.1881 und Brief vom 22.4.1881 an Auerbach (in: BA. Erg.-Bd. 2. S. 221f.). Oscar Blumenthal: Brief vom 15.3.1879 an Raabe (SaB Η ΠΙ 10 Nr. 6); Faksimile und Übertragung dieses Briefes im Anhang. - Raabe: Tagebücher (Anm. 18). Notiz vom 19.3.1879; vgl. Notizen vom 6.1., 16.3., 18.3., 20.3.1879. Raabe: Brief vom 20.11.1900 an Erich Liesegang. In: BA. Erg.-Bd. 2. S. 418. Vgl. Richard M. Meyer: Die deutsche Litteratur des Neunzehnten Jahrhunderts. Berlin 1900. S. 566-573; ders.: Wilhelm Raabe und das neue Reich. In: Zeitfragen. Montags-Beilage der Deutschen Tageszeitung (5.3.1912). Dazu: Max Adler: Hastenbeck, ein Zeugnis von Raabes Patriotismus. In: Wilhelm Raabe-Kalender 1913. Hrsg. von Otto Elster und Hanns Martin Elster. Berlin 1912. S. 151. Denkler: Das „wirckliche Juda" und der „Renegat" (Anm. 3). S. 8f.; ders.: „In Berlin nicht zu ermitteln!" Berlin im Leben Wilhelm Raabes. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1988. Braunschweig 1988. S. 9-23. Außerdem in: ders.: Neues über Wilhelm Raabe (Anm. 3). S. 17-31. Faksimile-Druck des Gesetzes des Norddeutschen Bundes über die Gleichberechtigung der religiösen Bekenntnisse vom 3.7.1869 (nach der Reichsgründung als Reichsgesetz übernommen). In: Juden in Preußen. Dortmund 1981 (= Die bibliophilen Taschenbücher, 259/260). S. 240.

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Hermann Cohen 1880 formulierte,58 die von Raabe und anderen Zeitgenossen geargwöhnte Cliquenbildung jüdischer Literaten in den kulturellen Schaltzentren der Reichshauptstadt aus, verbot sich für ,Gäste' die schlechte Behandlung der .Gastgeber', die Raabe am eigenen Leibe erfahren zu haben meinte. Doch sein (in der politischen Praxis und im privaten Verkehr mit Juden erworbenes) soziales Verantwortungsgefühl äußerte sich gerade darin, daß er solche Gedanken - sofern er sie überhaupt gedacht hat - für sich behielt und nicht in die Öffentlichkeit trug: Mußten sie ihm als Ausgeburten subjektiver Verstimmung von vornherein suspekt sein und hatte er ihr Störpotential für Reichsfrieden und Reichseintracht in Betracht zu ziehen, behauptete er die Integrität seiner Person und die Objektivität seines Werks, indem er sich auf den „Wahlspruch der Königin Elisabeth von Engelland" berief: „Video, Taceo!"59 Dieser Verhaltensregel widerspricht auch nicht die Funktionsbestimmung des Maienborns in dem postum veröffentlichten Fragment Altershausen (1911), der deutsche Kinder „in genügender Menge gegen ein- und andringendes Semiten-, Welschen- und Slawentum" bereithält.60 Denn zum einen ist zu berücksichtigen, daß die zitierte Wendung das allgemeine Bedrohtheitsgefühl und die weitverbreitete Kriegsangst nach der Entlassung Bismarcks reflektiert und auf die patriotische Schlagzeile „Feinde ringsum!" vorausweist, zu der die .Jüdische Rundschau" am 7.8.1914 ausholte.61 Zum zweiten gilt es zu beachten, daß diese Bemerkung einem fiktiven „Schreiber" unterläuft,62 den freilich vieles mit Raabe verbindet. Und zum dritten bleibt zu bedenken, daß Raabe sein letztes Werk als ,4m Grunde" für sich allein" gesponnenes „bitteres Ding"63 vom Druck ferngehalten hat und daß die erwähnte Formulierung bei möglicher Drucklegung zu Raabes Lebzeiten vom Autor ohne Sinnverlust zu streichen gewesen wäre. Nichtsdestotrotz hinterläßt die stehengebliebene Aussage wie manches andere Wort und mancher andere Satz Beklemmung und Unbehagen, öffnet sich doch mit ihr für die modernen Leser jene „Zwickmühle", von der Uwe Johnson in seiner einleitend erwähnten Dankrede sprach:64 die Zwickmühle zwischen dem Wunsch, das Vergangene aus seiner Zeit heraus zu verstehen, und der Verpflichtung, in der Gegenwart mit dieser Vergangenheit fertigzuwerden. Auf einen pathetischen Schluß verzichtend, möchte ich mich wie Johnson aus der Affäre ziehen und diese Zwickmühle den Lesern überlassen. 58

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Heimann Cohen: Ein Bekenntnis in der Judenfrage. 1880. In: Der Berliner Antisemitismusstreit (Anm. 2). S. 142. Raabe: Brief an Sträter (Anm. 47). Ders.: Altershausen. In: BA. Bd. 20. S. 268. Vgl. Denkler: Wohltäter Maienbom (Anm. 3). S. 13f. - Siehe Juden in Preußen (Anm. 57). S. 347. Raabe (Anm. 60). S. 204. Ders.: Brief an G. Grote vom 13.7.1910. In: BA. Erg.-Bd. 2. S. 504. Johnson (Anm. 1). S. 45.

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Anhang Drei Briefe jüdischer Mitbürger an Wilhelm Raabe I. O. Krohn, Borszczów (vgl. Anm. 49; Fundort: Stadtarchiv Braunschweig, Zugangsnummer: H III 10 Nr. 76) Euer Hochwohlgeboren Herrn Wilhelm Raabe Braunschweig Zu Ihrem 75 Geburtstag beehre ich mich Ihnen eine hebräische Gratulation, eine eigene Handarbeit zu überreichen und wünsche Ihnen, daß Ihnen noch langes Leben beschieden sei, daß Sie zur Veredelung und Besserung der Menschheit viele Leistungen beitragen und daß Sie sich ewigen Ruhm verschaffen, daß Sie ein segensreiches und freudenvolles Leben führen. Amen. Bei dieser Gelegenheit erlaube mir Ihnen meine Leiden zu schildern, ich bin ein ausgewiesener russischer Rabiner, habe hier in dem armen kleinen Nest einen sehr geringen Gehalt, davon habe ich zu erhalten eine zahlreiche Familie und eine aus Russland zu mir geflüchtete Tochter mit 3 Enkelkinder. Ich bitte Sie daher mit blutige Tränen mit mir Erbarmen zu haben und mich mit einer beliebigen Spende unterstützen zu wollen, wofür ich für Euer Leben und Wohl in den körnenden heiligen Tagen zum HeiTgott flehen werde Borszczów Galizien 3/9 1906

[Stempel]

Ergebenster Rabiner O. Krohn

[Kommentar: Raabe erhielt viele Bittbriefe. Daß auch jüdische Mitbürger seine Hilfe und Unterstützung suchten, zeigt dieses Glückwunschschreiben. Die erwähnte, im Original farbige hebräische Gratulation folgt als Faksimile.]

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S. Bachenheimer, Geestemünde (vgl. Anm. 49; Fundort: Stadtarchiv Braunschweig, Zugangsnummer: H III 10 Nr. 2) Geestemünde den 27. II. 1902 Hochgeehrter Herr! Sie haben mir eine ,.riesige Freude" gemacht. Und Sie wollten mir eine Freude machen, sonst hätten Sie mir ja überhaupt nicht geantwortet. Empfangen Sie daher meinen innigsten Dank für Ihre Zeilen! „Wenn es aber auch nur unter einem Dache eine trübe Stunde verscheucht, eine schwere Stunde sanfter gemacht hätte so wäre sein Wirken und Sein nicht vergeblich gewesen." (S. Chronik der Sperlingsgasse - pro domo!) Das hat Ihr Schreiben bei mir bewirkt. Und nun kann ich Ihre Werke, die mir so lieb und wert sind wie wenige, erst genießen, denn ich weiß, sie kommen aus einem edlen Herzen und sie stammen von einem gerechten Manne. Ihre Antwort genügt mir. - Nur hätte ich gewünscht, daß Sie die Juden nicht nur als Gastgenossen betrachten. Wir Alle sind Fremdlinge und Beisassen auf Erden. Für mich gibt es in Deutschland nur Deutsche, in der ganzen großen Gotteswelt nur Menschen, aber der nur geduldete Gast möchte ich in dem Lande nicht sein, in dem meiner Väter Grab und meine Wiege sich befinden. Daß übrigens nur Germanen in Germanien wohnen und sich als dessen Eigentümer betrachten dürfen, wollen Sie doch im Ernste nicht behaupten. Wie viel romanisches, slawisches, semitisches, mongolisches Blut mag in den Adern mancher Chauvinisten rollen! Ich bin kein Chauvinist, aber Sie dürfen mir auf mein Wort glauben: ich bin ein Deutscher durch und durch, fühle, rede und handle deutsch und die Pflichten, die ich gegen mein Vaterland zu erfüllen habe, stehen mir gleich mit meinen religiösen, die sich zudem nie im Gegensatz mit jenen befinden. Was verstehen Sie unter Gastgenossen? - Ein Gast hält sich doch gewöhnlich nur kurze Zeit zum Besuche auf. Glauben Sie, daß Deutschland die Juden dermaleinst wieder vor / [eingefügt: 3. März 1902.] / die Thüre setzen wird - , darf? Es würde sich diese Ungerechtigkeit, diese Inhumanität an Deutschland nicht minder bitter rächen, als an Spanien und allen denjenigen Ländern, in welchen man die Juden schlimmer als das Vieh behandelt hat. Meine armen Juden!!! Ich möchte Ihnen, hochgeehrter Herr, keine Vorlesungen halten, aber eine Stelle aus Nietzsches Jenseits von Gut [und] Böse, die mich getröstet hat, möchte ich hier anführen: „Die Juden waren jenes priesterliche Volk des Ressentiment p[ar], e[xemple]., dem eine volkstümlich-moralische Genialität sondergleichen innewohnte: man vergleiche nur die verwandtbegabten Völker, etwa Chinesen oder die Deutschen, mit den Juden, um nachzufühlen, was ersten und fünften Ranges ist. Wer von ihnen einstweilen gesiegt hat, Rom

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oder Judäa? - vor 3 Juden und einer Jüdin (vor Jesus von N., dem Fischer Petrus, dem Teppichwirker Paulus und Maria) beugt sich die Welt. - Nun zurück zu Ihrem Moses Freudenstein! Es ist ja wahr, daß er ein Renegat ist, und da muß ich Ihnen zugeben, daß die jüdischen Renegaten Lumpen sind und daß es Lumpen gibt, können wir Weltverbesserer nicht verhindern. Nachdem ich Ihren Hungerpastor noch einmal gelesen, will ich auch zugeben, daß die Schilderungen bis zur Taufe des Moses eher dem Judentum zur Ehre gereichen, aber die Sanduhr kann ich nicht vergessen; sie will mir nicht aus dem Sinn und daß der getaufte jüdische Streber eine solche perverse Natur sein muß, auch nicht. - Haben Sie einmal „Werther, der Jude" von Jacobowski gelesen? Der hat mir auch, als ich ihn las, die Schamröte in's Gesicht getrieben, denn der perverse Werther ist ebensowenig ein Jude wie Moses Freudenstein. Verbrechen, Laster, Geilheit und Unsittlichkeit sind kein Erbgut der Gemeinde Jakobs, sondern vogelfreies Eigentum, von dem jeder nehmen kann, so viel er mag. Wenn man aber die modernen Romane liest, so sollte man fast meinen, daß man diese bösen Dinge nur bei den Juden findet. Und das ist doch gottlob nicht der Fall. Wenn mancher Dichter sich tiefer in die Volksseele Israels versenken würde, und wenn er vorher noch so viele Vorurteile besessen, er müßte doch gleich dem blinden! Seher Bileam ausrufen: „Wie schön sind deine Zelte Jacob, deine Wohnungen Israel!" - Und ein wenig Liebe müßten die Dichter und Schriftsteller, die Fürsten und Völker besitzen, wirkliche, wahre, vorurteilsfreie Menschenliebe, die nicht danach fragt, ob Sem, Ham oder Japhet der Stammvater eines Volkes gewesen, sondern, die sich an die Worte des Profeten halten: „Haben wir nicht Alle einen Vater, schuf uns nicht Alle ein Gott etc."? Nach dieser messianischen Zeit sehnt sich der wahrhaft gebildete Jude, und das wage ich zu behaupten, der besitzt nur eine Religion - und die heißt: Menschenliebe. O möchte diese Gemeingut aller Menschen werden! - Nein, nicht Gastgenosseüü - Nehmen Sie dieses Wort zurück! Mit vorzüglicher Hochachtung ergebenst S. Bachenheimer P.S. Ich lese jetzt die Chronik aus der Sperlingsgasse, die mir sehr gefällt u. werde dann die Bekanntschaft der Frau Salomé machen. [Kommentar: S. Bachenheimer hatte sich in einem Brief vom 17.2.1902 als Prediger der israelitischen Gemeinde in Geestemünde vorgestellt und gefragt:

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„1) Soll der Herr Moses Freudenstein typisch für das Judentum und das jüdische Volk sein? 2) Wollten Sie damit den Beweis liefern, daß alle Juden voller Schlauheit, Arglist, Pietätlosigkeit, Undankbarkeit, Geilheit, Strebertum etc. etc. sind? 3) Wenn Sie das nicht beabsichtigt - waren Sie sich bewußt, daß der christliche Leser generalisieren wird und daß der jüdische sich abgestoßen fühlt, wenn er diesen Moses Freudenstein kennen lernt. 4) Und weshalb machen Sie diesen Lumpen für das Unheil im Hause der Götzen verantwortlich, wozu die Flucht nach Paris?" Und er war zu dem Schluß gelangt: „Ich kann es mir nicht erklären, daß gerade der Jude schlecht sein soll, daß gerade sein Thun allein verwerflich, daß gerade er allein der Unsittliche ist. Sie können es mir auf mein Wort glauben [...], solche Mißgeburten wie die des Freudenstein, die die Sanduhr ablaufen lassen, weil sie vor Ungeduld vergehen bis der Vater gestorben, gibt es nicht." (Stadtarchiv Braunschweig, H III 10 Nr. 2). Darauf antwortete Raabe mit seinem bekannten und vielzitierten Brief vom 24.2.1902, in dem er die Juden „Unsere Gast-Genossen" nannte und zugleich zu verstehen gab, daß Moses Freudenstein unter der jüdischen „Volksgenossenschaft" genauso anzutreffen sei wie Frau Salome (BA. Erg.Bd. 2. S. 437f.). Bachenheimers Erwiderung ist der oben abgedruckte Brief, auf den Raabe nicht mehr reagiert zu haben scheint.]

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ΙΠ. Dr. Oscar Blumenthal, Berlin (vgl. Anm. 54; Fundort: Stadtarchiv Braunschweig, Zugangsnummer: Η ΠΙ 10 Nr. 6 Β) / / ¿ W ^ / V REDACTION DES .BERLINER T A G E B L A T T

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Übertragung: Blumenthal [von fremder Hand] REDACTION DES BERLINER TAGEBLATT' Berlin SW., den 15/III 1879 Jerusalemer Strasse 48. Hochverehrter Herr. Noch niemals habe ich ein Manuscript mit so schwerem Herzen abgelehnt, wie Ihren Roman, denn ich weiß, daß ich da eine feine liebenswürdige fesselnde Dichtung aus der Hand gebe. Aber ich brauche Ihnen kein Wort über die barbarischen Forderungen des Fortsetzungs-Romans zu sagen: Diese Art der Veröffenüichung - vielleicht eine Mißgeburt unserer grobhäutigen Zeit - bedingt starke stoffliche Reizungen, die von Tag zu Tag das ungeduldige Interesse der Leser mit immer erneuten Sporenstichen weitertreiben. Bei Ihren „Zwei Büchern Lebensgeschichte" liegt der Hauptreiz aber in den feinen Stimmungsfäden, mit welchen Sie uns leise und allmählich umspinnen - in der subtilen scharfsichtigen Art, mit der Sie Menschen und Dinge schildern. Dies Buch ist gleichsam mit zu leiser Stimme erzählt, um in dem wirren Geräusch eines täglichen Blattes Gehör und Verständniß finden zu können. Und wenn wir noch umfangreichere Fortsetzungen brächten! Etwa wie die „Kölnische Zeitung." Aber eßlöffelweise verabreicht, wie es bei uns der Fall wäre, könnte Ihr feines dichterisches Elixir die gewünschte Wirkung nicht ausüben. So bitte ich denn, mir Ihr Wohlwollen trotzdem zu - bewahren! Die „Krähenfelder Geschichten" bespreche ich demnächst ausführlich. In warmer Verehrung Ihr stets ergebener Dr Oscar Blumenthal Manuscript folgt am Dienstag. [.Kommentar: Seit 1876 hatte sich Blumenthal mit einschmeichelnden Briefen und hohen Honorarangeboten an Raabe gewandt, um ihn zur Mitarbeit an Publikationsorganen zu gewinnen, die er redigierte. 1879 erklärte sich Raabe schließlich bereit, Blumenthal das Manuskript von „Alte Nester" zum Abdruck zu überlassen. Daran knüpfte sich ein reger Briefwechsel. Um so überraschter war Raabe, als er den oben wiedergegebenen Brief erhielt: Die Nachlässigkeit in der äußeren Form entsprach der Oberflächlichkeit der Begründungen, mit denen das Manuskript zurückgewiesen wurde. Denn Blumenthal hätte wissen müssen, worauf er sich einließ, als er Raabe umwarb. So erklärt sich Raabes zorniger Tagebuch-Ausbruch, auf den ich im vorangegangenen Aufsatz eingegangen bin.]

Karlheinz Rossbacher (Salzburg)

Der Prozeß der Zivilisation und sein jüdisches Opfer Vater und Sohn in Ferdinand von Saars Novelle Seligmann Hirsch (1889)1

I. Drei Türen ins Thema: Zunächst eine Stelle aus einer Wiener Flugschrift, die im Jahre 1888 in der Reihe „Gegen den Strom" veröffentlicht wurde. Der Titel: Moderne Vornehmheit. Es geht darin um den Lebensstil der Wiener Finanzbourgeoisie, um Kritik an der neureichen Repräsentationsgeselligkeit. Wir sind nun in einem Hause an der Ringstraße, und es findet gerade eine Abendgesellschaft statt: Und dann geht in der Regel im Hintergrunde eine Tapetenthüre auf, die in die inneren Wohngemächer führt, und es tritt ein mageres, altes Männchen in den strahlenden Salon. Seine Toilette ist dürftig, sein Benehmen scheu und linkisch, er grüsst ängstlich und unterwürfig nach allen Seiten, spricht nichts und verliert sich sehr bald wieder; Herr und Dame des Hauses stellen ihn flüchtig mit einiger Verlegenheit als den Papa vor und gehen rasch auf ein anderes Gesprächsthema über. Der armselige Alte ist es aber, der die Millionen zusammengescharrt hat, mit Hilfe deren der Sohn nun modern vornehm thut; er ist vor einem Menschenalter mit dem Sacke auf dem Rücken bei einer Barriere der grossen Stadt hereingeschlichen, jetzt schleicht er durch die Tapetenthür wieder in sein Schlafzimmer zurück, um die noblen Gäste nicht zu stören, deren ganze Herrlichkeit er geschaffen hat, der arme Hausirer von dazumal, der Ahnherr des vornehmen Hauses!2

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Die Novelle wird zitiert nach der Ausgabe Ferdinand von Saar: Das erzählerische Werk. Wien 1959 (= F.v.S., Gesamtausgabe des erzählerischen Werkes, Bd 1). Von jüngeren Arbeiten zur Novelle seien erwähnt: Detlef Haberland (Anm.48) und Norbert Miller (Anm. 28). Haberland sieht die Novelle in der Art der Deutungen, wie sie den Einzelbänden der seit 1980 in Bonn erscheinenden Saar-Ausgabe beigefügt sind, als symbolisch verschlüsselte Darstellung des Untergangs der Monarchie bzw. der monarchischen Tradition. Miller behandelt die Novelle zusammen mit Arthur Schnitzlers Roman „Der Weg ins Freie" und zeigt, wie der Roman Typen und Motive der Novelle aufnimmt, fortführt, kontrapunktiert. Es entstehen in dieser umsichtigen Analyse gleichsam zwei literarische Schnitte durch die Situation der Juden in Wien. Anonymus [= Albert Ilg]: Moderne Vornehmheit. Wien 1888. S. 31f. (= Gegen den Strom. Flugschriften einer literarisch-künstlerischen Gesellschaft Nr. 20). Die Reihe, die von 1885 an erschien, dokumentiert in satirisch-polemischer Form eine wachsende Opposition gegenüber dem seit 1873 dekouvrierten, seit 1879 politisch absteigenden Liberalismus.

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Diesem Abschnitt läßt sich eine historische Begebenheit anfügen, von der in einem populär gehaltenen Buch über die Wiener Gesellschaft berichtet wird. Sie handelt von einem Juden aus der Finanzwelt, der in der Gesellschaft als laut und lästig berüchtigt gewesen sei: „Heinrich Mayer, Stametz-Mayer, der eigentliche Typus des Geschlechts der Schreier." Eine Gruppe von Bankiers, besorgt um den Ruf ihres Standes, habe sich gegen ihn verbündet und ihn gezwungen, sein Haus zu liquidieren.3 Schließlich eine Szene aus einem Stück des Wiener Schriftstellers Friedrich Kaiser (1814-1874). Es stammt aus dem Jahre 1868 und heißt Neu-Jerusalem.4 Damit ist Wien gemeint, und das Thema ist das Verhältnis von Juden und Christen: Ein jüdischer Bankier hat seine Tochter Sarah einem ostjüdischen Händler zur Ehe versprochen. Sie jedoch liebt einen (vermeintlich christlichen) Zimmermeister. Sie verweigert sich der Arrangementehe und verläßt das Haus und ihren Vater. Der begeht gleich darauf auf der Börse in seinem seelischen Schmerz einen schweren Fehler: Als nämlich Nachrichten vom Bankrott eines Londoner Bankhauses eintreffen und die Börsianer über ihre etwaigen Verluste sprechen, bricht es aus ihm heraus: „Ich hab mein Alles verloren!" 3 Sofort zieht das Mißverständnis seine Kreise, ein Sturm auf seine Bank setzt ein, alle Einleger fordern ihre Gelder zur Auszahlung, und der Mann gerät an den Rand des Bankrotts. Die folgende sehr knappe Handlungsskizze von Ferdinand von Saars Novelle Seligmann Hirsch soll auch einige Verbindungen zu diesen Vorbemerkungen herstellen: Es ist Nachsaison in einem Kurort der kleineren Kategorie. Der Ich-Erzähler richtet sich auf einen nachsommerlich stillen Aufenthalt ein, als ein Mann eintrifft, den er für einen Armenier oder Bulgaren hält und an dem überlautes Gebaren, ungeniertes Ausspucken, anzügliche Redensarten gegenüber der Kellnerin, ungewöhnliche, nicht allzu reinliche Kleidung und protziger Gold- und Juwelenschmuck auffallen. Als er, eine Illustrierte in der Hand, von leisem zu lautem Lesen übergeht, wird er an der Sprechweise als Jude erkennbar. - Am nächsten Tag erfährt der Erzähler, dessen Nachtruhe durch das Schnarchen des Alten im Nachbarzimmer empfindlich gestört worden ist, vom Wirt, daß der Mann Seligmann Hirsch aus Wien ist, daß er schon zur Hauptsaison im Ort gekurt habe, von den Gästen des Kurhauses aber hinausgeekelt worden und deshalb in diesem Gasthaus gelandet sei. Als er am späten Nachmittag das Tarockspiel einer einheimischen Stammtischrunde in aufdringlicher Weise bekiebitzt, wird er lautstark aus dem Gastzimmer gewiesen. Der Erzähler kommt mit dem sichtbar Erschütterten ins Gespräch, vom Gespräch in eine Runde Billard, das der Alte schlecht, weil sehr impulsiv spielt. Beim Abendessen, er 3

4 5

Paul Graf Vasiii [Pseud. für Edmonde Adam]: Die Wiener Oesellschaft. Autorisirte Übersetzung. 2. Aufl. Leipzig 1885. S. 396ff. Friedrich Kaiser: Neu-Jerusalem. Original-Zeitbild mit Gesang in drei Acten. Wien 1868. Ebenda, HI/1, S. 35.

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hat Wildschweinbraten vor sich, erzählt er seine Geschichte. Sie fügt sich, mit einigen Varianten, in jenes zeitgenössische Muster von Generationsgängen und Ortsveränderungen, wie es für österreichisches Judentum im 19. Jahrhundert schon beschrieben worden ist.6 Das Folgende ist nun eine Vermischung seiner Erzählung mit diesem Muster: Die erste Generation verläßt Galizien, ermutigt durch Erwerb eines gewissen Vermögens (bei Seligmann Hirsch ist es ein beträchtliches, bevor er es verliert); es folgt der Aufbruch in Richtung Wien, mit oder (wie bei Seligmann Hirsch der Fall) ohne Zwischenstation in Böhmen oder Ungarn; in Wien wird das Geschäft konsolidiert und ausgebaut (Seligmann Hirsch muß, nach seinen Verlusten, neu anfangen und schafft es). Die zweite Generation baut die finanzielle Position aus und die gesellschaftliche auf. Die Variante in der Novelle: Für Sohn Bernhard Hirsch ebnet der Vater einen karriereträchtigen Bildungsweg, im weiteren bringt er es zum Millionär. Seligmann Hirsch dagegen verliert auf der Börse sein Vermögen, und damit beginnt sein Leidensweg. Seine Tochter, die er an einen Gutsbesitzer in Ungarn verheiratet hat, schiebt ihn bald ab, sein Sohn übernimmt es, ihn finanziell zu unterstützen, begleicht auch seine zahlreichen Spielschulden. Als Seligmann Hirsch, wie wir später erfahren, wiederum an der Börse spielt, gleicht der Sohn so manchesmal die Verluste aus. - Vom Sohn erzählt Seligmann Hirsch mit Stolz, gleichzeitig mit Bangigkeit. Denn dessen Frau, die sich vom Judentum bereits abgewendet hat und einen ehrgeizigen Salon führt - auch das fügt sich ins Muster - , betreibt den Schritt in die Taufe und hat auch sonst weitreichende Pläne. - Die diffuse Angst des Alten erweist sich als begründet, als der Sohn eintrifft. Durch die Wand zum Nachbarzimmer hört der Erzähler mit an, daß der Alte Wien verlassen und, ohne daß er den wirklichen Grund erfährt, den Winter in Venedig verbringen soll. Sein Flehen, in der Nähe seiner beiden geliebten Enkelkinder in Wien bleiben zu dürfen, ist fruchtlos. Der Sohn bleibt hart. - Jahre später, auf einem Wohltätigkeitsball in Wien, erfahren wir mit dem Erzähler das Ende der Geschichte. Ein als jüdischer Antisemit beschriebener Salonspötter liefert die Umstände nach: Bernhard Hirsch habe, gegen die Stimme seiner Sohnesliebe, den Vater aus Wien entfernt. Er habe damals die Nobilitierung zum Baron von Hirtburg betrieben und den als unmöglich verschrieenen Alten als Hindernis auf dem Weg zum Adelstitel betrachtet. In Venedig habe Seligmann Hirsch mit dem Rasiermesser Selbstmord begangen. An dieser Stelle gehe ich zurück zu meinen drei Vorbemerkungen. Keiner von ihnen schreibe ich Repräsentativität für ihre Aussage zu, jedoch eignen sie sich zur Begründung, warum ich das Problem jüdischer Assimi-

Egon Schwarz: Schmelztiegel oder Hexenkessel? Juden und Antisemiten im Wien der Jahrhundertwende. In: E.S.: Dichtung, Kritik, Geschichte. Essays zur Literatur 1900-1930. Mit einem Vorwort von Helmut Kreuzer. Göttingen 1983. S. 27-47. Hier 34f.

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lation in dieser Novelle mit Hilfe von Norbert Elias' Theorie der Zivilisation betrachten möchte:7 Der Abschnitt aus der Flugschrift, die sich von der Textsorte her auf reale Beobachtung beruft, mag andeuten, daß eine mildere Form von Abgeschobenwerden denkbar war und daß ein in seinem Verhalten sich unauffällig machender Seligmann Hirsch sein Leben in den Hinterzimmern hätte beschließen können.8 Die Anekdote mit dem Schreier Stametz-Mayer verrät einiges von der Empfindlichkeit und dem „Selbstreinigungswillen" assimilationsbereiter jüdischer Bankleute. Die Episode aus Friedrich Kaisers NeuJerusalem führt mitten in die Bedingungen, unter denen Sohn Bernhard Hirsch sich in der Welt bewegen muß, wenn er in ihr vorankommen oder auch nur mithalten will. Unkontrolliertes Verhalten, das schimmert sogar durch das komödienhaft eingebaute Mißverständnis hindurch, kann schwere Folgen für Ruf und Status haben. Sowohl impulsiv ungehobeltes Benehmen, als auch das Zurschaustellen intimer Emotionalität verstoßen gegen die Regel, sich konstant-höflich und kühl-abwägend zu verhalten und sich dadurch unangreifbarer zu machen.

Rainer Wild hat einen „Entwurf einer theoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft" (Untertitel) auf der Basis von Norbert Elias' Theorie vorgelegt (Literatur im Prozeß der Zivilisation. Stuttgart 1982). Die Theorie wird darin zu einer Art Dachverband für verschiedene Funktionen der Literatur (didaktische, sensibilisierende, entlastende, erfahrungserweitemde, kritische u.a.), die z.T. auf der Grundlage bereits existierender Literaturtheorien beschrieben werden. Im Vergleich dazu verfolgen die vorliegenden Ausführungen ein herabgestuftes Ziel. Sie berühren, da nicht Literatur im Prozeß der Zivilisation, sondern ein Stück dieses Prozesses in einem Stück Literatur behandelt wird, das bei Wild unter „Der dokumentarische Charakter der Literatur" Gesagte (S. 73), vielleicht auch einige Ausführungen über die didaktische (S. 75f.), die sensibilisierende (S. 92) und eventuell über die kritische Funktion (S. 121). Knapp vor Fertigstellung des Manuskripts erschien das Buch „Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß" von Hans Peter Duerr (Frankfurt/M. 1988). Duerr zielt in diesem Buch - drei weitere sind angekündigt - auf eine Widerlegung von Elias' Theorie und beginnt mit jenen Abschnitten (insgesamt 44 Seiten), die Elias dem Wandel des sexuellen Verhaltens seit dem Mittelalter gewidmet hat. Duerr bringt zum einen neue Belege, deutet zum anderen Elias' Belegmaterial anders. Die Auseinandersetzung mit Duerrs Gegenthesen hat in den „schnellen" Medien weite Kreise gezogen, die gelehrtakademische ist im Anlaufen. - Da in Saars Novelle Sexualität keine Rolle spielt, bleibt die vorliegende Interpretation von Duerrs Angang so lange unberührt, als nicht die für die Novelle viel wichtigeren Kategorien des Selbstzwangs im allgemeinen Verhalten, der Affektmodellierung, der Langsicht, der Psychologisierung und Rationalisierung zum Gegenstand der Theoriefalsifikation geworden sind. Saar hat, nachdem die Novelle im Herbst 1888 (mit Jahreszahl 1889) erschienen war, die Flugschrift „Moderne Vornehmheit" gelesen und in einem Brief an Fürstin Marie Hohenlohe geäußert, sie enthalte „schlagende Wahrheiten" über den Typus der „Hirsche". Vgl. Fürstin Marie zu Hohenlohe und Ferdinand von Saar: Ein Briefwechsel. Hrsg. von Anton Bettelheim. Wien 1910. S. 195. 8.2.1889.

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II. Der Begegnung und Angleichung von Judentum und christlich-westeuropäischer Gesellschaft hat Herbert A. Strauss ein theoretisches Profil zu geben versucht. Er faßt sie unter den Begriff der Akkulturation und definiert sie als „Begegnung von Elementen verschiedener Kulturen und ihre Synthese zu einer neuen Einheit".9 Subjektiv könne sie an wachsender ,,emotionale[r] oder intellektuelle[r] Identifizierung mit einer Kultur", objektiv an Veränderung von Merkmalen wie „Sprache, Gewohnheiten und Kleidung" beobachtet werden. Im Gegensatz zum Assimilationsbegriff vermeide der Akkulturationsbegriff die „Unterordnung eines kulturellen Stranges unter einen anderen [,..]" 10 Diese Begriffsbestimmung ist von der Absicht gekennzeichnet, der schwächeren der beiden einander begegnenden Kulturen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Allerdings berücksichtigt sie nicht, daß die Angehörigen der einen Kultur viel preisgeben, ohne daß die anderen notwendigerweise dasselbe tun müssen. De facto erweist sich, daß es die Minderheit ist, die die Anpassungsleistung zu erbringen hat, und daß sie dadurch selbst eine implizite (Ab-)Wertung der Kultur, von der sie sich entfernt, vornimmt. Marsha Rozenblit geht von einem Nacheinander von Akkulturation, die nicht mehr dasselbe bedeutet wie bei Strauss, und Assimilation aus.11 Akkulturation ist demnach beobachtbar als Übernahme des Kulturverhaltens einer Mehrheit durch eine Minderheit. Die beobachtbaren Faktoren sind Sprache, Kleidung, Freizeitverhalten, Wirtschaftsgebaren, politische Ansichten. Das Bewußtsein der eigenen Gruppenidentität ist dabei noch nicht verlorengegangen. Assimilation, der weiterführende Schritt, bedeutet Verschmelzung mit der Mehrheit. Entscheidend dabei ist, daß die Mehrheit solches durch weitgehende Vorurteilsfreiheit unterstützt. Geschieht das, so wird Assimilation strukturell, d.h. sie wird mit Hilfe von Vernetzung durch Freundschaften und intensive Kontakte abgesichert. Der Schlußstein ist Heirat zwischen den Gruppen. Die Familie des Sohnes Bernhard Hirsch steht demnach mitten in der Assimilation. Ginge es nach seiner Frau, stünde sie durch Taufe - und eine hier hypothetisch gesetzte, im Text nicht angedeutete Heirat der Kinder mit Christen - in der strukturellen Assimilation. Seligmann Hirsch dagegen steht noch in der Akkulturation und ist, wie sein Überwechseln in jüdischdeutschen Sprachduktus andeutet, auch darin noch nicht firm. 9

10 11

Herbert A. Strauss: Akkulturation als Schicksal. Einleitende Bemerkungen zum Verhältnis von Juden und Umwelt. In: Herbert A. Strauss und Christhard Hoffmann (Hrsg.): Juden und Judentum in der Literatur. München 1985 (= dtv 10513) S. 9. Ebd. Marsha Rozenblit: The Jews of Vienna 1867-1914. Assimilation and Identity. State Univ. of New York Press 1984. S. 3, in Anlehnung an Milton Gordon: Assimilation in American Life, 1964.

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Ich sage dies nicht, weil es mir darauf ankommt, literarische Figuren auf bestimmten Punkten einer Skala glücklich untergebracht zu haben. Vielmehr möchte ich versuchen, die Ansätze von Strauss und Rozenblit mit einem anderen zu verbinden und damit diese Figuren aus einer Fixierung zu befreien, die notwendig entsteht, wenn man fragt, an welchem Punkt sie sich gerade befinden. Da man dabei in jedem Fall mehr auf die Minderheit blickt, verliert man die Frage aus dem Auge, ob nicht beide Gruppen in einer zivilisatorischen Bewegung begriffen sind, die von beiden Anstrengung erfordert. Für ein Verständnis von Assimilation sollte es nützlich sein, die für beide Gruppen geltenden, an die Minderheit allerdings in ungleich schärferer Form herantretenden Anforderungen zu beschreiben, mit denen sie enorme und rasch aufeinanderfolgende gesellschaftliche Veränderungen zu bewältigen haben. Der allgemeine Prozeß der Zivilisation grundiert in diesem Sinne den der jüdischen Assimilation. Für die angleichungsbereiten Juden treten allerdings verschärfte Bedingungen, unter denen sie diesen Prozeß zu bewältigen haben, hinzu: Es sind dies - und die Beiträge von Jochmann und Häusler in diesem Band bieten dazu ein ausgefaltetes Bild - : der auf die Juden stärker als auf die Mehrheit zurückwirkende .cultural shock', hervorgehend aus der kulturellen Diskrepanz zwischen ihnen als den Zuwandernden aus dem Osten und der ortsfesten christlichen Bevölkerung, aber auch aus der zwischen Zuwanderern und bereits etablierten Juden; die Umstände der Zuwanderung, also die Tatsache, daß sie, wie Seligmann Hirsch in der Erzählung, als Fremde, als das Andere, oft Bizarre, aus dem Nichts zu kommen scheinen und plötzlich da sind; die alte, religiös genährte Judenfeindschaft, die z.B. im katholischen Wien, durch die Agitation Karl Luegers, mit dem ökonomischen Ressentiment der zu kurz kommenden sozialen Schichten aufgeladen wird und eine neue, radikale Qualität annimmt; der rassistische Antisemitismus. Der vorliegende Aufsatz ist ein Versuch, das Schicksal Seligmann Hirschs als eine literarisch lizensierte Verschärfung jener seelischen und gesellschaftlichen Konflikte zu begreifen, die bereits ein ,normaler', nichtjüdischer Assimilationsgang hervorrufen mochte, und im weiteren diesen Assimilationsgang unter den erwähnten verschärften Bedingungen zu betrachten. Norbert Elias' Theorie über den Prozeß der Zivilisation12 hat man eine „Soziologie der Formierung von Machtlagen und Affektbalancen" genannt.13 Damit ist ausgedrückt, daß sie sowohl Veränderungen gesellschaftlicher als 12

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Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen (1936). l.Bd: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. 2.Bd.: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. 5. Aufl. Frankfurt/M. 1978 (= suhrk. tb. wiss. 158). Kurztitel: Elias, PdZ. Karl-Siegbert Rehberg: Form und Prozeß. Zu den katalysatorischen Wirkungschancen einer Soziologie aus dem Exil: Norbert Elias. In: Materialien zu Norbert Elias' Zivilisationstheorie. Hrsg. v. Peter Gleichman, Johan Goudsblom und Hermann Körte. Frankfurt/ M. 1977 (= suhrk. tb. wiss. 233). S. 150.

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auch psychischer Strukturen umfaßt und daß sie das Prozeßhafte daran besonders betont. In der Zusammenfassung am Ende des zweiten Bandes scheinen einige der grundlegenden Aspekte der Theorie als Kapitelbenennungen auf:14 Zunahme des gesellschaftlichen Zwangs zum Selbstzwang; Ausbreitung des Zwangs zur Langsicht; Dämpfung der Triebe; Psychologisierung und Rationalisierung; Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle. Dies sind die Pfeiler der Theorie, wenn man den Fokus auf die „immer differenziertere Regelung der gesamten psychischen Apparatur" richtet.15 Diese Regelung ist bestimmt - und damit richtet man den Fokus auf den sozialgeschichtlichen Prozeß - „durch die Richtung der gesellschaftlichen Differenzierung, durch die fortschreitende Funktionsteilung und die Ausweitung der Interdependenzketten, in die, mittelbar oder unmittelbar, jede Regung, jede Äußerung des Einzelnen unausweichlich eingegliedert ist."16 Dieser Vorgang erstreckt sich über Jahrhunderte, von der Verhöflichung der Krieger im Mittelalter17 bis, was ich hier als Beispiel ansteuern möchte, in eine Abendgesellschaft in einem Salon des Wien der Gründerzeit. Im Folgenden versuche ich, Elias' Theorie gleichsam von diesem Salon aus zu umschreiben: Man steht in vielfältigen Beziehungen und Abhängigkeiten zu Menschen, deren Verhalten es abzuschätzen gilt. Dazu muß man sein eigenes kennen und zu kontrollieren wissen. Das muß, wenn es nicht in die Sozialisation des Kindes gefallen ist, erst gelernt werden und gelingt, wie Elias festhält, „in einer Generation nur ausnahmsweise einigen Wenigen. Bei den meisten Menschen der aufstiegsbegierigen Schichten führt das Bemühen darum zunächst unvermeidlich zu ganz spezifischen Verkrümmungen des Bewußtseins und der Haltung."18 (Das ostentative Zurschaustellen von Statussymbolen mag als Beispiel dafür gelten). Das Ziel ist Ansichhalten, zu vermeiden ist Sichgehenlassen. Dies gilt auch für Dezenz in Sprache und Sprechen. Die bewußte Beherrschung solcher Fähigkeiten führt zu allgemeineren Steuerungsfähigkeiten wie Psychologisierung und Rationalisierung des eigenen Denkens und Handelns. Affektäußerungen sind somit nur in modellierter Form erlaubt, d.h. Manieren, Takt und Sensibilität sind nötig. Plötzlich-Impulshaftes ist zu dämpfen, Körperäußerungen müssen beherrscht werden, und das reicht bis in die „Modellierung der Gesichtsmuskulatur".19 .Kreatürliche' Vorgänge sind hinter die dafür vorgesehenen gesellschaftli14

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Elias, PdZ 2, S. 312-434; vgl. auch Johan Goudsblom: Die Erforschung des Zivilisationsprozesses. In: Macht und Zivilisation. Materialien zu Norbert Elias' Zivilisationstheorie 2. Hrsg. von Peter Gleichman, Johan Goudsblom und Hermann Körte. Frankfurt/M. 1984 (= suhrk. tb. wiss. 418). S. 91ff. Elias, PdZ 2, S. 317. Ebd. Bias, PdZ 2, S. 351ff. Elias, PdZ 2, S. 425f. Elias, PdZ 2, S. 378.

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chen Kulissen zu verlagern, weil die Toleranzschwellen der Peinlichkeit und der Scham sich gesenkt haben.20 Langsicht - das ist die Fähigkeit, verflochtene Abhängigkeitsverhältnisse abzuschätzen und eigenes Handeln daran zu orientieren - ist einzuüben; das betrifft sowohl einzelne Lebenssituationen als auch die Planung des Familienweges. Das Ansichhalten schließt auch ein, daß Impulse, körperliche Gewalt auszuüben, nicht ausgelebt werden dürfen; sie müssen in gewaltlose Strategien der Selbstbehauptung übergeführt werden. Der Zwang zur Dämpfung und Modellierung von instinktiven Impulsen wiederum ist eine der stärksten Quellen von diffusen Ängsten im Individuum; sie ihrerseits werden zu Ursachen von Unsicherheit im Verhalten dann, wenn der einzelne sich seiner Kontrollfähigkeiten noch nicht sicher ist. Ausdrücklich werden ökonomische Verflechtung und wirtschaftliche Zwänge als Beispiel für die „waffenlosen Zwänge und Gewalten" erwähnt, die in sich schon jenen Druck enthalten, der den einzelnen zur Dämpfung seiner Affekte anhält.21 Das alles summiert sich zu den Kosten, die man für den Eintritt in jene Räume zu entrichten hat, in denen über die „Machtlagen"22 entschieden wird. Es sind gleichzeitig die Kosten für die Chance, einen erreichten gesellschaftlichen Status zu sichern und Rückschläge zu vermeiden.

III. Der Jude im Badeort: das ist nicht neu in der österreichischen Literatur. Im ersten, anonym gedruckten Werk Marie von Ebner-Eschenbachs ist er z.B. auf eine Weise der Gegenstand zwar nicht aggressiver, aber deutlich satirischer Beschreibung, die nicht unbedingt ahnen läßt, mit welcher Entrüstung Marie Ebner Jahrzehnte später den von Karl Lueger geschürten Antisemitismus verurteilen wird.23 Und bei Daniel Spitzer, dem jüdischen Liberalen und „Wiener Spaziergänger", ist der Jude im Bade mehrmals Gegenstand herabsetzender Beschreibung geworden.24 Aber bei beiden geht es um feuilletonistische Zeichnung.25 Saars Figur übersteigt bei weitem die Dimension 20

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Elias schreibt meist, sie seien vorgerückt, was dasselbe bedeutet: Sie sind früher erreicht, weil die Empfindlichkeit gestiegen ist. PdZ 2, S. 328. Rehberg (Anm. 13). Marie von Ebner-Eschenbach: Aus Franzensbad. Sechs Episteln von keinem Propheten. Reprint der Ausgabe von 1858. Hrsg. und eingel. v. Karlheinz Rossbacher. Wien 1985. S. 97f. und 114ff.; Tagebuch 23.5.1891 zit. in Jiri Vesely: Tagebücher legen Zeugnis ab. In: Österreich in Geschichte und Literatur 15 (1971). H. 4, S. 214. Z.B. Briefe aus Baden bei Wien, 29.6.1873. In: Daniel Spitzer: Wiener Spaziergänge. 2.Sammlung. Leipzig und Wien 1879. Reprint Wien: Haase o J . S. 322. Bei Spitzer bleibt es im weiteren so, Ebner-Eschenbach hingegen schreitet von der .stock figure' des Juden im Bade weiter zu ihrem Dr. Nathanael Rosenzweig, dem „Kreisphysikus" aus der gleichnamigen, zur Zeit der Bauernrevolte in Galizien (1846) spielenden

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einer solchen .stock figure'. Von Seligmann Hirsch ist gesagt worden, er sei „eine der unvergeßlichsten jüdischen Gestalten der deutschen Literatur".26 Saar selbst war sich dieser Gestalt, zumindest in einer bestimmten Phase des Feilens am Text, nicht ganz sicher und meinte, um Juden gut zu schildern, müsse man wohl selbst Jude sein.27 Man wird jedoch Seligmann Hirsch neben jüdische Figuren bei Grillparzer und Stifter stellen dürfen. Das liegt vor allem an den ästhetisch differenzierten und bewußt strukturierten Oppositionen, die vom Generationskonflikt bis zu stilistischen Gegensätzen reichen. Norbert Miller hat auf einige der Gegenüberstellungen im Text bereits verwiesen.28 Hier sollen sie systematischer und auch auf ihre fruchtbare Janusköpfigkeit hin untersucht werden. Bei Saar, der sich auch als literarischer Chronist seiner Epoche verstand, offenbart die persönliche Psychologie seiner Figuren auf ihrer Rückseite immer auch ihre Prägung durch den gesellschaftlichen Wandel.29 Seligmann Hirsch tritt laut auf und macht laut weiter. Es geht Saar an dieser Stelle jedoch nicht darum, ein Klischee des Juden, das noch heute international ist,30 einklinken zu lassen, denn der Erzähler identifiziert den Eintretenden erst später als Juden. Aber auch nachher geht es lange Zeit primär um die „Gesittungserwartung des Bürgers von Lebensart"31 und nicht so sehr um das Rassenvorurteil. Seligmann Hirsch wirkt umso lauter, weil er in eine sorgfältig komponierte Stille tritt. Ein fast leerer Gasthof, draußen ein „wahrer Nachsommer" (376) in Anspielung an den leisen Grundton in Adalbert Stifters Roman, eine Natur, die durch ihre eigenen Geräusche hervorund nicht mehr hinter denen des Saison-Amüsements zurücktritt, die Verdichtung solcher Atmosphäre durch ein Zitat aus Nikolaus Lenaus Waldliedern (Nr. 9) - es handelt sich bezeichnenderweise um den .leisen' Lenau, nicht um den zu jener Zeit bereits in den Hintergrund getretenen revolutio-

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Erzählung aus dem Jahre 1883. Zwar ist er die Hauptfigur, doch nicht eigentlich als Jude, sondern als jüdischer Arzt, den sie als tüchtigen, aber auf seinem Lebensweg verhärteten Mediziner zeichnet, ihn mit den Attributen des Aufsteigers und Erfolgsmenschen der liberalen Ära ausstattet, um an ihm schließlich zu zeigen, wie sie sich eine Veränderung der Welt zum Besseren vorstellen könnte: Nicht als blutige Revolte und auf einen Schlag, sondern als eine Art Infektion durch das Gute. Menschen, die in sich eine Metanoia, eine Abkehr vom egoistischen Selbst erfahren haben, sollen sie an andere weiterreichen. Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 1966. S. 200. Anm. 8, 8.7.1887; Hervorhebung im Original, die Stelle im Zusammenhang S. 178f. Norbert Miller: Das Bild des Juden in der österreichischen Erzählliteratur des Fin de Siecle. Zu einer Motivparallele in Ferdinand von Saars Novelle „Seligmann Hirsch" und Arthur Schnitzlers Roman „Der Weg ins Freie". In: Anm. 9, S. 172-210. Vgl. dazu Karlheinz Rossbacher: Leutnant Burda und sein Erzähler. In: Die Andere Welt. Aspekte der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Hellmuth Himmel zum 60.Geburtstag. Bern und München 1979. S. 147-163. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (1974). Frankfurt/M. 1983 (= Fischer TB 7353). S. 386. Miller (Anm. 28) S. 182.

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nären ,lauten'32 - , die „trauliche Stille" (377) im Speisezimmer, die örtlichen Kleinbürger in „ziemlich schweigsamer Geselligkeit" in der Schankstube: Wenn der laute Ankömmling in solche Stille tritt - und dazu noch plötzlich, worüber noch zu sprechen sein wird - , dann tritt auch neue Gesellschaft mit ein, und dies nicht, wie in der zu Ende gegangenen Saison, nur zur Kur. Die „überlaute, schnarrende Stimme" (377) wird als erstes erwähnt; mit dieser Stimme begrüßt Hirsch Bekannte, die, was er gar nicht wahrnimmt, „sehr kleinlaut" erwidern (377); ein taktloses Wortspiel gegenüber der Kellnerin belacht er „sehr laut und selbstgefällig" (377); einer ähnlich losen Bemerkung läßt er später „eine dröhnende Lachsalve" folgen (381). Mit Körpergeräuschen hält er nicht gerade an sich - „pustend" saugt er an seiner Zigarrenspitze (378) - , und die „mit Ringen überladene Hand" (378) ist ein gleichsam .schreiender' Sinneseindruck auf der Netzhaut. Am Abend verfolgt der Erzähler, notgedrungenermaßen, durch die Wand zum Nachbarzimmer die Verrichtungen Hirschs für die Nachtruhe mit penibel zu nennender Detailfreudigkeit: Poltern, in allen Tonarten singen, Dinge fallen lassen, Äußerungen des Körperbehagens und schließlich ein Schnarchen, mit physiologischer Akribie und kräftigen Vergleichen beschrieben, deren schwach humoristische Form sich gegen den Zorn des Schlaflosen nur mühsam durchzusetzen vermag. Es ist, als wolle der Erzähler noch dem Schlafenden seine mangelhafte Körperkontrolle vorwerfen (382). Keinerlei Konzession an Humor gestattet sich der Erzähler hingegen in jener Szene, in der Hirsch von leisem in lautes Lesen verfällt: Dabei hatte seine Summe, obwohl sie eines gewissen sonoren Klanges nicht entbehrte, doch so etwas unangenehm Lautes und Eindringendes, daß es mir durch Mark und Bein ging und alle Nerven in Aufregung brachte. Ich konnte nicht länger an mich halten und rief: [...] (379).

Wie häufig bei Saar geht es um Nuancen. Das Laute allein ist es nicht, sondern auch das „Eindringende" eines Eindringlings; es geht nicht bloß metaphorisch „durch Mark und Bein", sondern auch durch die Nerven. Was Seligmann Hirsch nicht tut, nämlich an sich zu halten, erweist sich nun, durch diese Provokation der Sinne, auch für den Erzähler als unmöglich. Man hat hier nicht allein die Psychologie eines de jure Befreiten, der sich von allem etwas zu viel erlaubt, sondern auch die Darstellung eines ReizReaktions-Schemas vor sich. Es erfährt eine Verschärfung am nächsten Spätnachmittag, als Hirsch sich zum Kiebitzen in die Runde der Tarockspieler drängt. Ein Greißler, ein Lederermeister, ein Tischlermeister bilden einen geradezu musterhaften Querschnitt durch wirtschaftendes Kleinbürgertum. Als Saar die Novelle schrieb, schlugen sich ihre Wiener Standesge32

Vgl. Walter Weiss: Das Lenau-Bild und Lenaus Sprache. Voruntersuchungen zu einem Wörterbuch. In: Lenau-Forum 1 (1969). H. 2. S. 3-23.

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nossen bereits zu den radikalisierten Antisemiten. Hier in der Provinz jedoch sind sie, wie der Wirt sagt, jene, die „noch immer eine gewisse Antipathie gegen die - Sie verstehen mich." (385) „Noch immer" also und nicht „immer mehr": Darin liegt das Bemühen um historische Genauigkeit, denn Saar hat nicht unreflektiert Wiener Verhältnisse auf die Provinz übertragen. Trotzdem ist die Tarockszene ein Bild für das Hervorrufen einer Reaktion durch eine Irritation. Die Szene - nicht die Autorintention - drückt aus, was noch heute antisemitisches Vorurteil prägt: Der Jud gibt ka Ruah! Beide erwähnten Szenen zeigen auch die bei Saar so häufige zweite, gesellschaftsbezogene Ebene hinter der ersten: Der Jude dringt in vorindustrielle Stille und bringt sowohl Menschen von Lebensart als auch verschlafene Kleinbürger in Aufregung. Allerdings: Die Abneigung gegen den Juden beginnt hier mit der Abneigung gegen einen Ungesitteten. Der Erzähler hat ihn als solchen, nicht als Juden, zurechtgewiesen: „Mein Herr, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie hier nicht allein sind!" (379) Der rabiate Tischlermeister hingegen „donnert" ihn an: „Schauen Sie, daß Sie weiterkommen, sonst zeigen wir Ihnen, wo die Tür ist." (387) Das ist nun wohl mehr als Abneigung gegen einen Ungesitteten; Saars Methode, ins Persönliche das Gesellschaftliche hineinzuformen, läßt durchblicken: Der Jude stört nicht nur diese Kleinbürger beim Stammtisch-, sondern den ganzen Stand beim LebensTarock. Ein weiterer Gegensatz neben dem zwischen dem Leisen und dem Lauten ist der zwischen dem Allmählichen, Übergangshaften und dem Plötzlichen. Mit einem „plötzlich eingetretenen rauhen Herbstwetter" (375) wird gleichsam die Bühne von den letzten Saisongästen geräumt und für den Auftritt Hirschs hergerichtet. Zweimal sind es späte Nachmittage, die den Fluß von Zeit als Phasen allmählichen Übergangs vom Tag zum Abend markieren, und beide Male (377, 385 f) sind sie die Folien für die abrupten Auftritte des Alten. Insofern ist also das Plötzliche eine Variante des Lauten. Es hat aber noch eine andere Qualität, die in der Figur des Seligmann Hirsch selbst liegt. Als ihn der Erzähler wegen seiner lauten Stimme zurechtweist, schrickt er zusammen, zieht „mit demütiger Gebärde die Mütze" und entschuldigt sich. „Aber gleich darauf - also plötzlich - nimmt er „eine vornehme Haltung" an und bietet „herablassend" die Zeitung an. Als der Erzähler sich abwendet, entkommt dem Alten ein Seufzer, dann schleicht er, „behutsam", aus dem Zimmer. In der Schankstube stimmt er aber „sofort wieder [...] seinen lautesten, jovialsten Ton" an (jeweils 379). In der Tarockszene hat dieses Verhalten der abrupten Übergänge eine Entsprechung. Nachdem Hirsch vom Tischler niedergedonnert worden ist, erscheint er „sofort" im Speisezimmer, „bleich, mit schlotternden Knien", wankt zu einem Stuhl, auf dem er niedersinkt (387) und in Klagen ausbricht. Als es aber ans gegenseitige Bekanntmachen geht, nimmt er „plötzlich eine stolze Haltung" an (388). Nach einigen Konversationsfloskeln fragt er „plötzlich", ob der

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andere Karten spiele (389). Das Losrennen hin zum Billard, der Übergang zu einem „flehenden Ton" (389), die plötzliche Unterbrechung eines Trinkspruchs vor dem Abendessen und der Wechsel von Betroffenheit zu lautem Lachen, als ihm klar wird, daß er den Erzähler zuvor schon einmal gesehen hat, die heftige Armbewegung, mit der er die Zigarrendose zieht (396), die plötzliche Unterbrechung der Erzählung, „als fehle es ihm an Atem", unruhiges Hin- und Herrutschen auf seinem Platz, „in Gedanken versinkend" (durchaus solche der Angst), schließlich die Art, wie er die Erzählung abbricht, nämlich „ganz unvermittelt" (398): Das ist, in seiner Vernetzung von Situationselementen und stilistischer Variation des Plötzlichen, nicht allein die Schilderung mangelnder Manieren, das over-acting eines Möchte-Aufsteigers, die psychologische Charakterisierung eines Ungesitteten, sondern es ergibt auch den Mangel an Affektmodellierung und den Mangel an Selbstbeobachtung als Quelle adäquater Einschätzung anderer. Zusammen mit Verletzungen der Scham- und Peinlichkeitskontrolle ist das ein umfassender Verstoß gegen die Anforderungen, die der Prozeß der Zivilisation den Menschen auferlegt. Um von dem einen Scheinwerfer, auf den sich Elias' Theorie richtet, den persönlichen Verhaltensstandards und den Verstößen dagegen, zu dem anderen, dem gesellschaftlichen, zu kommen, ist ein Blick auf die Billardszene nützlich. So wie Saar hier das Billardspiel einbaut, hat er mit sicherem Gespür ein geeignetes .objective correlative' (im Sinne T.S. Eliots) seiner Intentionen gewählt. Die Wirkung einer Handlung - des Stoßes - auf die Kugeln abzuschätzen, die dazu erforderliche Körperkontrolle, die Notwendigkeit, Impulsivität in Behutsamkeit zu verwandeln, die Tatsache, daß man nicht nur mit einer Kugel zwei andere treffen, sondern, da man in solchem Falle ja am Zug bleiben und punkten kann, auch so treffen muß, daß sie für weitere Stöße immer günstig konstelliert bleiben: Diese Faktoren machen das Billardspiel zu einer nahezu perfekten symbolischen Entsprechung von Langsicht im Sinne Elias' - und wenn sie nicht zutreffen, eben zum Gegenteil. „ H e r r Hirsch lobte mein Spiel überschwenglich, suchte mich aber stets durch prahlerisch angekündigte ,Kunststöße' zu überbieten." (390) Nicht nur gibt er damit preis, wann er sich besonders viel vornimmt, sondern er plakatiert dadurch, daß die besonders angekündigten Stöße danebengehen, daß er über keine angemessene Einschätzung seiner Fähigkeiten verfügt. Das Schwerwiegende ist hier vielleicht nicht so sehr, daß prahlerisches Gehaben auf den anderen verletzend wirken kann - das tut es immer auch, aber Hirsch lobt andererseits den Gegner auch mal - , sondern daß man sich verwundbar macht. Folgerichtig merkt Hirsch auch nicht, daß der andere ihn gewinnen läßt, strahlt vielmehr „vor Triumph" (391).33 Es ist ebenso

33

Ein Jiddischsprecher würde dazu sagen: „Er quellt." Hinweis von Margarita Pazi, Tel Aviv.

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folgerichtig, daß er nicht nur während seines Aufenthalts in Ungarn (396) beim Kartenspiel verloren hat, sondern auch jetzt, im Nachbarort, ausgenommen wird (400). Schließlich hat auch noch Logik, daß Hirsch in zwei Anläufen Vermögen erwirbt und beide Male wieder verliert. Das zweite Mal ist es an einem Schlüsselort des 19. Jahrhunderts: „Die Börse! Die Börse!" ruft er an dieser Stelle seiner Erzählung aus (396). Wenn am Ende von ihm gesagt wird, er habe „das Börsenspiel nicht lassen" können (409), so sind der Hasardspieler und der Börsenspieler in ihm nicht nur durch ein Wortspiel, sondern auch durch einen zeitgenössischen Verstehenszusammenhang verbunden. In dem Kapitel „Zufall und bürgerliches Leben" seines Buches Verfall und Ende des öffentlichen Lebens schreibt Richard Sennett über die Wirtschaftsteilnehmer des 19. Jahrhunderts: „[Sie] begriffen ihre Arbeit gewissermaßen als Spiel, als Glücksspiel nämlich - und der Ort des Glücksspiels war die Börse."34 Hirsch der Kartenspieler ist nur die andere Ansicht von Hirsch dem Börsenspieler. In beidem verkörpert er das Gegenteil von Affektkontrolle als der Bedingung von Langsicht. Spielen erinnert an Aleatorik, die dem wirtschaftlichen Prozeß zugrundeliegt und die, zusammen mit anderen Formen rapiden Wandels, eine Quelle wachsender und zunehmend diffuser Ängste ist.35 Vollends gilt dies nach dem Börsenkrach von 1873. Hasardspiel gleicht zu sehr den im 19. Jahrhundert weder durch volkswirtschaftliche Analysen erkannten noch durch Maßnahmen zu steuernden Bewegungen des Glücksrades in der Ökonomie. Darin also ist Sohn Bernhard gewarnt, denn nicht nur hat er seines Vaters zweimaligen Fall erlebt, sondern er hat ihn auch als leidenschaftlichen Spieler weiterhin auf der Tasche liegen (397). Als der aus der Schankstube geworfene Hirsch vom Erzähler hört, er hätte eben vorsichtiger sein sollen, antwortet er: „Richtig! Ganz richtig! Vorsichtig hätte ich sein sollen! Leider, leider bin ich es nie gewesen! - " (388) Das klingt nach Einsicht und Reflexionsfähigkeit, nach Selbstkenntnis als Voraussetzung zur Kenntnis anderer, ist es aber nicht. Denn am nächsten Morgen zieht es ihn wieder nach M..., zu jenen Kartenspielern, die, wie der Wirt sagt, „den alten Vogel [rupfen], was das Zeug hält." (401) Was im einen Fall als schlechte Manieren erscheint und im anderen als existenzgefährdende Leidenschaft, hat dieselbe Wurzel: Mangelhaft verinnerlichter Zwang zur Langsicht. Es gibt eine Fülle von Hinweisen im Text, daß Hirsch, im Gegensatz zu seiner verstorbenen Frau Gittel, aus der jüdischen Tradition herausgefallen, in einer anderen aber noch nicht wirklich angekommen ist. Ihm hilft keine Tradition mehr in ihrer Leistung, von permanentem Entscheidungsdruck zu 34 35

Sennett, Anm. 30, S. 386. Peter Gay: Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter. München 1986.

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entlasten, und so wird jede Situation zur Situation, in der das eigene Verhalten entworfen werden muß. Das führt zu tiefgreifender Unsicherheit. Er weiß zwar einerseits wohl, daß man an ihm Lebensart vermißt, hat aber andererseits als Gegenbeweis nur anzuführen (in einem Augenblick, als er gerade das Gegenteil bewiesen hat): „Aber ich sage Ihnen, ich h a b e Lebensart - ich m u ß Lebensart haben, denn ich bewege mich in Wien in der feinsten Gesellschaft." (391) Damit verschafft er dem Erzähler - und uns - erst recht die Einsicht, daß er sich selbst und seine Umgebung nicht einzuschätzen vermag: So ist zum Beispiel der Entschluß des Sohnes, ihn aus genau dieser Gesellschaft zu entfernen, zu diesem Zeitpunkt bereits gefaßt. Damit wenden wir uns dem Sohn Bernhard Hirsch zu (40Iff). Er reist aus Venedig an, wo er die Exilierung seines Vaters arrangiert hat und wo dieser später Hand an sich legen wird. Venedig erhält dadurch einen besonderen Stellenwert. Er liegt allerdings nicht nur in der eher konventionellen Symbolik als Stadt des Vergehens (die Saar z.B. in einer früheren Novelle, Das Haus Reichegg aus dem Jahre 1876, viel deutlicher textlich gestützt hat), sondern mehr noch in einem anderen, etymologisch allerdings nicht restlos gesicherten Bedeutungsverweis, der sich in die gesellschaftliche Dimension des Vater-Sohn-Konflikts integriert: Aus der assimilierten Welt der Ringstraße wird der Alte in jene Stadt abgeschoben, deren Judenviertel dem Ghetto einst den Namen gegeben hat. Es ist nicht allein die Trennung von seinen Enkeln, sondern auch das symbolische Zurückgestoßenwerden in die Welt, aus der er kommt und die er hinter sich lassen wollte, was ihn in den Selbstmord treibt. Bernhard Hirsch ist „eine distinguierte, aber keineswegs anspruchsvolle Erscheinung" - also jemand, der weiß, daß Geschmack und Übertreibung einander ausschließen. Er ist „kleiner und viel zarter gebaut als sein Vater " - das erleichtert das Nicht-Auffallen. „Die Augen blickten etwas müde durch eine feine Stahlbrille" - es ist ausgeschlossen, daß solche Augen, wie es die des Vaters am Anfang der Novelle tun, so starren, also mangelhafte Modellierung der Gesichtsmuskulatur verraten werden, daß der Angestarrte sich abwendet (378). „Er nahm geräuschlos an dem Tische Platz" - hier stellt sich auf die pointierteste Weise der Gegensatz zu der polternden Ankunft und den geräuschvollen Schlafvorbereitungen des Alten her. Auch wird das Sprechen mit gedämpfter Stimme hervorgehoben, als eine Leise-Folie für das durch die Zimmerwand vernehmbare Klagen, Drohen und Flehen des Alten. Als nach der Auseinandersetzung der Alte endlich leise wird, ist es das leise Weinen und Seufzen eines Geschlagenen (405), hingegen ist das Leise an Bernhard, zusammen mit dem Konstanten und Beherrschten, das Zeichen des Überlegenen. „Wer keinerlei Reaktion zeigt, wer seine Gefühle verbirgt, der wird unverletzlich [...]." 36 36

Sennett (Anm. 30) S. 270.

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Ist Bernhard Hirsch deshalb schon souverän? Hat er, wie gesagt worden ist, „[...] die ungefährdete Position des wirtschaftlich Mächtigen [...] und die ungefährdete Sicherheit des im richtigen Ambiente Großgewordenen,"37 oder trifft zu, was Herbert A. Strauss allgemein von der zweiten Generation in der Assimilation sagt: „Die Maske, die noch nicht zur zweiten Haut verwachsen war, der Verlust an sicherem Boden, der zweite Generationen überall kennzeichnet, erscheint auch hier."38 Bernhard Hirschs Erscheinungsbild deutet auf das erstere, andere Informationen über ihn lassen auch letzteres zutreffend erscheinen. Sein Ehrgeiz ist, so hören wir, mehr der Ehrgeiz seiner Frau, deren Drang zur Taufe (394) er allerdings aus Geschäftsgründen stoppt (408). Einerseits wird er für „eine Art Geschäftsgenie" gehalten, andrerseits schreiben ihm die Worte des Salonspötters eine „Dummheit" zu, nämlich Liebe zu seiner Frau „bis zum Exzess" (408). Das allerdings ist seine Sache. Daß er den Vater abschiebt und daß der daran stirbt, ist es nicht. Warum tut er es? Ist die Maske doch nicht so zur zweiten Haut verwachsen, steht er doch nicht auf sicherem Boden, trotz eines geschätzten Vermögens von 20 Millionen Gulden? Ist es wirklich „das nüchterne Kalkül [...]", ist es „Empfindungslosigkeit gegenüber dem Aufschrei des Opfers [..,]"? 39 Daß der Sohn den Vater zweimal mit „lieber Vater" anredet (402, 403), mag Floskel sein. In der Erzählung des Salonspötters gibt es aber eine markante Information, die Empfindungslosigkeit als Begründung unzureichend erscheinen läßt: Bernhard Hirsch habe - und das sei „unbegreiflich" - seinen Vater „außerordentlich geliebt" (409). Kein Ironiesignal relativiert diese Aussage über Sohnesliebe, und daß sie unbegreiflich genannt wird, unterstreicht sie noch. Lieben und Verstoßen - ein Widerspruch! Und doch wohnt diesem Handeln Bernhards, das seinen Vater zum Selbstmord veranlassen wird, die Logik des Prozesses der Affektmodellierung und des Ansichhaltens inne. Es gibt in diesem Prozeß einen Punkt, wo es, wie Elias schreibt, notwendig wird, „sich gewissermaßen selbst gegenüberzustehen]". Der Mensch auf dieser Stufe „verbirgt seine Passionen", er „verleugnet sein Herz".40 Bernhard Hirsch hat diesen Punkt erreicht, und sein Vater hat durchaus recht, wenn er in der entscheidenden Auseinandersetzung flehend sagt: „Ich weiß, der Vorschlag kommt nicht aus deinem Herzen." (404) Aber Bernhard, die Frage, ob sein Herz beteiligt sei, umgehend, hat ebenfalls recht, wenn er sagt: „[...] die Verhältnisse machen es durchaus notwendig". (404) Vor die Sohnesliebe stellt sich das langfristig Ersehnte, von dem der Vater kein Teil sein kann. „Die augenblickliche Lust oder Neigung", führt Elias weiter aus, „wird in Voraussicht der Unlust, die kommen wird, wenn

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Miller (Anm. 28) S. 184. Strauss (Anm. 9) S. 17. Miller (Anm. 28) S. 187. Elias, PdZ 2, S. 372.

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man ihr nachgibt, zurückgehalten."41 Der „Dämpfung der Triebe"42 folgt in der Novelle eine Dämpfung der Liebe unter denselben Zwängen. Nur ja nicht mehr zurück, diktieren die Ängste. Was dort hinten ist, mag dort bleiben. Die Frage, ob die Novelle nicht nur die Tragik des Alten, sondern auch eine des Sohnes gestaltet, darf durchaus gestellt werden.

IV. In der Novelle gibt es Äußerungen, die nicht nur von heute aus judenfeindlich klingen, sondern von einer Reihe von Zeitgenossen auch so verstanden wurden. Die Ablehnung, die die Kleinbürger des Kurorts Hirsch entgegenbringen, wird allerdings vom Wirt dem Erzähler gegenüber als eine Judenantipathie des „Noch immer" dargelegt. Es so zu benennen deckt sich übrigens mit dem, was Hirsch von den erlauchten Gästen im Salon seiner Schwiegertochter sagt, nämlich daß „man noch immer sehr gegen uns eingenommen ist." (393) Diese Noch-immer-Perspeküve ist nicht unvereinbar mit einer liberalen Position,43 die vom erfolgreichen Verlauf der Assimilation überzeugt ist und sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Illusion entlarvt. Die Äußerungen des von Saar erst in der Ballszene eingeführten jüdischen Salonspötters, Herr X genannt, gehen viel weiter. Er läßt nicht nur Kritik am juwelenglitzernden Protzentum hören - „Pofel! Glänzender Pofel - nichts weiter!" (407f) - , sondern erregt sich auch über physische - und also erbdeterminierte - Merkmale: „Betrachten Sie nur gefälligst diese Nasen! Diese runden Rücken!" (407) Später, als er dem Erzähler Hirschs Enkel Richard zeigt und die Ähnlichkeit zwischen den beiden hervorhebt, erklingt Naturwissenschaft in Plauderversion: „Was sagen Sie zu diesem Exemplar? Ist er nicht ganz sein Großvater in nuce? Seit Darwin kennt man die Sache." (410) Das ist nicht mehr Anti-Judaismus der älteren Art, von dem ein Liberaler annehmen konnte, er werde verschwinden. Das brauchte ein Anhänger Georg von Schönerers nicht anders zu formulieren, um einem „Noch immer, aber nicht mehr lange" ein „Immer mehr, und nun rassistisch!" entgegenhalten zu können. 1885 war das Linzer Programm der Deutschnationalen um einen antisemitischen Passus erweitert worden,44 der Spruch „Was der Jude glaubt, ist einerlei, in der Rasse liegt die Schweinerei!" war bereits

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Ebd. Elias, PdZ 2, S. 369-397. Vgl. dazu die Ausführungen von Hartmut Steinecke über Karl Gutzkow im vorliegenden Band. Dazu Peter GJ. Pulzer: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich, 1867 bis 1914. Gütersloh 1966. S. 127.

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gängige Münze des Antisemitismus auf Hochschulboden.45 Und so ist es konsequent, wenn der Erzähler über den Salonspötter sagt: „Kein eingefleischter Antisemit konnte gegen das jüdische Wesen ärger losziehen [...]." (407) Das ist irritierend und wirft Fragen auf. Saars Stellung als eine Art Tasso innerhalb eines Kreises von jüdischen Großbürgem (Gomperz, Wertheimstein, Todesco, Lieben, Auspitz) ist von einigen seiner Kritiker für die These verwendet worden, Saar habe in die Novelle einen latenten Antisemitismus eingeschrieben, weil ihm ein offener nicht möglich gewesen wäre.46 Wer damit die Abneigung meint, die der Erzähler zu Anfang Seligmann Hirsch entgegenbringt, überliest den Umschlag einer gewissen „Schadenfreude" in „Mitleid", als Hirsch so roh aus dem Schankraum geworfen wird und zum Erzähler tritt (387). Im weiteren steigert sich diese Haltung zu „Teilnahme" und zur Erkenntnis, „daß er ein unglücklicher Mann war". Auf die ironische Frage des Wirts, wie er sich mit Hirsch unterhalten habe, gibt er „gar keine Antwort" (399) und distanziert sich damit von der judenfeindlichen Atmosphäre des Gasthauses. Wie häufig bei Saar erfolgt auch hier die potentielle Beeinflussung von Lesevorgängen über seine manchmal mithandelnden, meist aber beobachtenden Erzähler-Vermittler. In diesem Fall ist der Erzähler jenes Medium, das die für Saar so wichtige Kategorie des Mitleids im Sinne Arthur Schopenhauers aufzurufen geeignet ist. Nicht so ohne weiteres abzutun ist die Einführung des Salonspötters mit seinen rundheraus antisemitischen Bemerkungen. Der Hinweis, daß Saar in seinen Novellen häufig Sub-Erzähler als Informanten eingeführt und dieses erzählstrukturelle Verfahren nicht für den vorliegenden Zweck erfunden hat, schwächt das Problem zwar ab, erledigt es jedoch nicht. Es wird nicht geringer, wenn man, wie Adolf Muschg es getan hat, überlegt, ob ein heutiger Interpret sich in jedem Falle an jene interpretatorische Regel zu halten hat, die die Trennung von fiktionaler Figur und Text-/Autorintention fordert. In einer Rede über das Verhältnis Goethes zu den Juden stellt Muschg Aussagen Goethes, die den Juden Gerechtigkeit widerfahren lassen, solchen aus Wilhelm Meisters Wanderjahren gegenüber:47 Der .heitere Friedrich' erläutert Wilhelm einen Plan für eine Ansiedlung in Amerika, aus der Juden ausgeschlossen sein sollen („dulden wir keinen Juden unter uns".)48 Im Zusammenhang damit hält Muschg fest, wer Rede von literarischen Figuren 45

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Drabek, Häusler, Schubert, Stuhlpfarrer, Vielmetti: Das österreichische Judentum. Wien, München 1974. S. 112. Z.B. Adelheid Runggaldier: Die Novellen Ferdinand von Saars. Phil.Diss. Innsbruck 1978. S. 212. Adolf Muschg: Mehr Licht für ein Ärgernis. Goethe und die Juden. Eine Rede, gehalten im Goethehaus Frankfurt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 26.9.1987. Nr. 223 (= „Bilder und Zeiten"). Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. 8.Aufl. München 1973 (= Hamburger Ausgabe Bd 8) S. 405.

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lese, „muß wissen, daß der Autor nicht sagt, sondern gesagt sein läßt. Er kann zeigen, daß jeder einzelne Satz darin dem Kunstvorbehalt untersteht." Das sei auch für diese Stelle (und andere) leicht zu sagen, ohne daß der Deuter sich verrenken müßte. Und doch ist es dem heutigen Leser unmöglich geworden, solche Sätze zur Disposition des Kunstcharakters zu stellen. Denn der Antisemitismus und seine Früchte entziehen sich der ästhetischen Disposition. Detlef Haberland hat Äußerungen Saars zusammengestellt, die es nicht gestatten, ihm einen Antisemitismus der Art, die sich gegen seine Freunde hätte richten können, zu unterstellen.49 Auch aus anderen seiner Werke ist das schwerlich zu erkennen. Wenn Saar z.B. in der Novelle Vae victis (1882) einen jüdischen Politiker, der in der liberalen Ära zum Minister aufsteigt, mit deutlich weniger Sympathie beteilt als den General Brandenberg, dann richtet sich dies nicht gegen den Juden, sondern gegen den Störer und schließlich Zerstörer einer Ehe, gegen einen Ab- und Auflöser älterer Verhältnisse, denen Saar emotional und als Traditionalist - nicht als deklariert Konservativer - anhängt.50 Ähnlich ist der Ausfall des Erzählers gegen die „Hirsche" zu Beginn von Seligmann Hirsch" zu bewerten: Als Äußerung eines sich durch neu Heraufkommende gestört Fühlenden, eine Einstellung, die im 19. Jahrhundert, wie Sigurd Scheichl erläutert hat, zwischen 49

50

Detlef Haberland: Ferdinand von Saar und das Judentum. In: Cosmographia Spiritualis. FS für Hanno Beck zum 60.Geb. Bonn 1983. S. 17-51. In geraffter Form in: Ferdinand von Saar: Seligmann Hirsch. Kritisch hrsg. u. gedeutet von Deüef Haberland. Tübingen 1987. S. 142-148 (= F.v.S.: Kritische Texte und Deutungen, Bd 3). Beide Male geht es Haberland nicht nur um die persönliche Haltung Saars, sondern auch darum, was sie für die Novelle bedeutet. Die Argumentation ist, wie seine übrigen Ausführungen, auf seine Deutung der Novelle als Gestaltung des Untergangs der österreichischen Monarchie überhaupt hin perspektiviert. Darin nehme Seligmann Hirsch die symbolisierte Stelle untergegangener Monarchen und ihrer ebenfalls untergegangenen Reiche ein (Lear, mit dem sich S i l . ja selbst vergleicht, dazu, auf schwer nachvollziehbaren Wegen, Salomo und Attila). Alles andere, die Situation der Juden in Wien und Österreich, ihre Assimilation auf verschiedenen Stufen, eigentlich alles, was die Novelle in ihrem historischen Kontext verankert, erscheint solcher Deutung nur als koloristische Verpakkung des großen Eigentlichen. Die Deutung ist in Methode und Ergebnis anfechtbar, nur ein Beispiel: Der Hinweis des Salonspötters auf die vererbte Ähnlichkeit zwischen Großvater und Enkel („Seit Darwin kennt man die Sache") wird, zusammen mit dem Texthinweis, daß S.H. eine Zigarrenspitze aus Bernstein benützt und einmal einen glasigen Blick zeigt, was ihn flugs zu einem wie in Bernstein gefaßten, aber derweil eben noch lebenden Fossil mache, zu einem tragenden Aspekt der Deutung verknüpft: Mit und nach dem Alten seien auch sein Enkel, weil er ihm ähnlich sieht, seine Enkelin, die, weil sie schlank ist, zur femme fragile überdeutet wird, und überhaupt alle, auch die Spießbürger im Kurort, dem Aussterben und deshalb auch die Monarchie dem Untergang verfallen. Hier wird eine Aussage einer Novellenfigur zur Stimme der Autorintention überdehnt. Die antisemitischen Äußerungen derselben Figur hingegen werden praktisch negiert, die Figur also geteilt. Zum Verhältnis von Traditionalismus und Konservatismus vgl. Karl Mannheim: Das konservative Denken. In: K.M.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Eingel. und hrsg.v. Kurt H. Wolff. Neuwied am Rhein und Berlin 1964 (= Soziol. Texte 28) S. 408-482.

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Ressentiment und entschiedener Abneigung pendeln konnte und einem verbreiteten Typus von Kulturkritik entsprang.51 Was Adolf Muschg mit den zitierten Ausführungen einmahnt, ist zwar als Stachel ins Methodenbewußtsein sozialgeschichtlich orientierter Literaturwissenschaft gesenkt und daher nicht so ohne weiteres zu ignorieren. Ob man aber, wenn man die antisemitisch klingenden Sätze der Novelle der „ästhetischen Disposition" entzieht, zu einem Antisemiten Saar gelangen würde, darf bezweifelt werden. Trotzdem gilt es, sich nicht von puristischen Bedürfnissen nach einem fleckenlosen Anti-Antisemiten Saar den Blick auf komplexe sozialgeschichtliche und politische Verhältnisse und wohl auch psychische Dispositionen verstellen zu lassen, als deren scharfer Beobachter Saar auch das Problem der Juden mit ihrer und für ihre Umgebung wahrgenommen hat. Es ist schlüssig auf Äußerungen über Saars integren Charakter und auf seine vorbehaltlose Loyalität gegenüber Freunden, also auch seinen jüdischen, verwiesen worden.52 Trotzdem ist die Frage berechtigt, in welchem Grade seine Loyalität in der sogenannten Judenfrage beansprucht wurde, wenn selbst Juden aus seinem Kreis ihre Abneigung gegenüber Nicht-Assimilierten keineswegs verschwiegen. Einer von Saars langjährigen Vertrauten, Theodor Gomperz (1854-1912), der z.B. im Sommer 1854 stellvertretend für Gustav Freytag in Leipzig die Redaktion der „Grenzboten" leitete, Bruder von Saars Gönnerin Josephine von Wertheimstein, als Altphilologe und Philosophiehistoriker einer der Paradegelehrten Wiens, Übersetzer John Stuart Mills und Inbegriff des .liberal man', berichtet 1884 seiner Frau von einem Ausflug in den Prater, „wo es wunderschön war, wo man auch Dr. Pattai und seine Richtung begreifen lernte. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß längs den Kaffeehäusern kein einziger Nicht-Jude zu erblicken war u.zw. lauter verbogene, verzerrte, mauschelnde Erscheinungen utriusque generis..."53 Der erwähnte Antisemit Dr. Robert Pattai war, zusammen mit dem noch radikaleren Judenhasser Ernest Schneider, Gründer des seit 1882 bestehenden „Österreichischen Reformvereins".54 Zusammen mit Ernst Vergani, Josef Gregorig, Hermann Bielolahwek u.a. gehörten sie nach der Formierung der 51

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Sigurd Paul Scheichl: The Contexts and Nuances of Anti-Jewish Language: Were all the .Antisemites' Antisemites? In: Jews, Antisemitism and Culture in Vienna. Ed.by Ivar Oxaal, Michael Pollak and Gerhard Botz. London and New York 1987. S. 89-110 und 250-256. Hier 93-95. Haberland 1987 (Anm. 49) S. 143. Dazu auch der Hinweis bei Haberland 1983 (Anm. 49) S. 37, daß Saar von der dritten Generalversammlung des 1891 gegründeten „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus", dem u.a. auch das Ehepaar Ebner-Eschenbach beitrat, zum Ehrenmitglied ernannt wurde. Theodor Gomperz: Ein Gelehrtenleben im Bürgertum der Franz-Josephs-Zeit. Auswahl seiner Briefe und Aufzeichnungen, 1869-1912, erläutert und zu einer Darstellung seines Lebens verknüpft von Heinrich Gomperz. Neu bearb.u.hrsg. von Robert A. Kann. Wien 1974. S. 153f„ Brief vom 30.5.1884. Drabek u.a. (Anm. 45) S. 116.

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Christlichsozialen Partei unter Karl Lueger zu deren Führern. Elf Jahre später schreibt Theodor Gomperz an seine Frau einen ähnlichen Brief, jedoch ist der Ton ungleich gereizter geworden. Es ist das Jahr 1895, das seit dem Frühjahr im Zeichen der Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen steht. Luegers Partei hat am 29. Mai über die Liberalen gesiegt, aber so knapp, daß Lueger die Wahl zum Bürgermeister als Risiko betrachtet und ablehnt. Neuwahlen werden für die Zeit vom 17. bis 29. September angesetzt;55 Theodor Gomperz' Brief vom 8. September fällt somit in den Höhepunkt des Wahlkampfs: ...Gestern Abend war ich wieder bei Franzy [von Wertheimstein]. Da sie mit Saar ausgefahren war und erst um 8 heimkehrte, so blieb mir nichts übrig als mit dem 11 Uhr-Zug [nach Vöslau] herauszufahren, der diesmal nahezu voll war, hauptsächlich von Stammesbrüdern und -Schwestern, die sich wirklich in sehr unangenehmer Weise bemerkbar machen. Tout entendre c'est comprendre Lueger!...Mit einem frechen semit. Gsc/nvu/hätte ich, wenn mein Blut nicht kühl genug wäre, gestern einen heftigen Auftritt gehabt; so blieb es bei einer ruhigen u. erfolgreichen Zurückweisung seiner Dreistigkeit. Aber man schämt sich wirklich der Zusammengehörigkeit mit dieser Gesellschaft, für die das Wort vorlaut erfunden werden müßte, wenn es nicht vorhanden wäre. Nun denke man, daß zu diesen gesellschaftlichen Widerwärtigkeiten noch geschäftliche Schädigungen treten, und man beginnt den Socialismus des dummen Kerls von Wien einigermaßen zu begreifen...56 Hier liegt es noch einmal vor, das Ensemble von Aspekten aus der Novelle. Die lärmenden Juden, die in den Badeort fahren, ein Erzähler/Briefschreiber von Lebensart, den sie durch ungezügeltes Verhalten irritieren, das Laute, genauer das Vorlaute als offensivster Reiz: Das ist die Konfrontation von Menschen auf verschiedener Stufe des Zivilisationsprozesses. Höhepunkt ist eine Auseinandersetzung, in der das kontrollierte Verhalten des einen, wie aus einem Lehrbuch für Affektmodellierung, über die Dreistigkeit des anderen siegt. Wie in der Novelle wird auch hier die Entrüstung über die mangelhaft Zivilisierten zum Einfallstor für Judenfeindlichkeit. Die beiden Briefstellen spiegeln in dem Maße, wie diese Entrüstung des Assimilierten über die kaum Akkulturierten ausführlicher geworden ist, auch die Verschärfung des Antisemitismus während der vorangegangenen elf Jahre. Aber nicht nur Entrüstung, sondern auch Stolz über die zivilisatorische 55

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Johannes Hawlik: Der Bürgerkaiser. Karl Lueger und seine Zeit. München 1985. S. 87ff. Wie zeitgenössische Literaten Karl Lueger beschrieben, wie z.B. Felix Saiten Lueger als antisemitischen Agitator und Demagogen porträtierte, habe ich in dem Aufsatz „Karl Lueger im Essay. Literarisierende Darstellungen eines politischen Phänomens bei Hermann Bahr, Alfred von Berger, Robert Scheu und Felix Saiten" behandelt. Erscheint demnächst in dem Band „Die österreichische und die ungarische Literatur um die Wende vom 19. zum 20Jahrhundert und ihre Wechselbeziehungen". Hrsg.von der Österreichischen und der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Theodor Gomperz (Anm. 53) S. 263, Brief vom 8.9.1895. Hervorhebungen im Original; der Ausdruck in der letzten steht für eine zeitgenössische Bezeichnung des Antisemitismus.

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Leistung, Affekte und Impulse kontrolliert zu haben, ist hörbar. Beides zusammen ist jedoch letztlich zu lesen als Abdruck der Angst, das Programm der Assimilation könnte scheitern. Es ist eine Angst, die den Freund Saars mit seiner Novellenfigur Bernhard Hirsch verbindet. Bei Theodor Gomperz, der sich zweimal, wenn auch sehr widerwillig, als mit den „Stammesbrüdern und -Schwestern" zusammengehörig deklariert, gebiert diese Angst das in beiden Briefen geäußerte Verständnis für die führenden Antisemiten. Da er außer den „gesellschaftlichen Widerwärtigkeiten" auch die „geschäftlichen Schädigungen" erwähnt, beweist er in dieser Grobanalyse Einsicht in gängige zeitgenössische Erklärungen für den Antisemitismus. Was man bei ihm jedoch vermißt, hat Saar antizipatorisch in der Novelle verankert: Die Ahnung, daß die Assimilation nicht an der Anstößigkeit von Wenig-Akkulturierten und Noch-nicht-Assimilierten, sondern am Rassismus scheitern wird. Daß in der Novelle der Sohn den Vater opfert, war, wie sich in der Wirklichkeit herausstellen sollte, umsonst. Wie Theodor Gomperz' Sohn Rudolf, Ski- und Fremdenverkehrspionier in St. Anton am Arlberg,57 hätte auch Bernhard Hirsch den Weg in die Vernichtung angetreten.

57

Dazu Hans Thöni: Der Anlaß zum Stück: Das Schicksal des Rudolf Gomperz. In: Felix Mitteler: Kein schöner Land. Ein Theaterstück und sein historischer Hintergrund. Innsbruck 1987. S. 93-117.

Thomas Winkelbauer (Wien)

Leopold Kompert und die böhmischen Landjuden

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Zur rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Lage der böhmischen Dorf- und Kleinstadtjuden im 19. Jahrhundert

Die Existenz der Juden in den böhmischen Ländern war bis 1848 in das juristische Prokrustesbett des berüchtigten Familiantensystems gezwängt, das - mit Modifikationen - über 120 Jahre in Kraft war: Karl VI. hatte, auf Druck des städtischen Bürgertums, des katholischen Klerus, der böhmischen Statthalterei und der Böhmischen Hofkanzlei - und gegen den Widerstand der Böhmischen Kammer, der Hofkammer und der böhmischen Stände - mit Hofdekret vom 25. September 17261 verordnet, daß in Hinkunft in Böhmen und Mähren nur der älteste Sohn eines Juden, und zwar erst nach dem Tod des Vaters, heiraten durfte. Noch im selben Jahr hatte er die Zahl der jüdischen „Familienstellen" für Böhmen mit 8541 und für Mähren mit 5106 limitiert.2 Seit 1731 waren in besonderen Fällen mit kaiserlicher Dispens zusätzliche .Judenehen" möglich.3 Um den Kreis der „steuerbaren Juden" zu vergrößern, wurde die Familiantenzahl für Böhmen 1789 geringfügig auf 8600 erhöht.4 Ebenfalls mit dem Ziel, das Steueraufkommen zu erhöhen, wurde 1792 für wohlhabende Juden eine Sonderregelung getroffen: Mit besonderer Bewilligung der Statthalterei konnten jüdische Familienväter, die mehr als 700 Gulden Steuern zahlten, für weitere zwei Söhne die Ehebewilligung erlangen, jene mit über 500 Gulden Steuerleistung für einen Sohn außerhalb der Quote - jeweils gegen Entrichtung einer „Hoftaxe".5 Das sog. „Systemalpatent" für die Juden Böhmens vom 3. August 1797 schließlich sicherte allen Juden, die sich freiwillig als Soldaten stellten, mit

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In Böhmen publiziert am 16,Oktober 1726. G[erson] Wolf: Judentaufen in Österreich. Wien 1863. S. 34. Anm.*). Vladimir Lipscher: Zwischen Kaiser, Fiskus, Adel, Zünften: Die Juden im Habsburgerreich des 17. und 18. Jahrhunderts am Beispiel Böhmens und Mährens. Phil.Diss. Zürich 1983. S. 62. Ebd. S. 187, Anm. 162. Ruth Kestenberg-Gladstein: Neuere Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern. l.Teil: Das Zeitalter der Aufklärung 1780-1830. Tübingen 1969. S. 80. - Heinrich Weiß: Die Judengesetzgebung der österreichischen Regierung in Bezug auf den Realitätenbesitz, Hie und Taufe vom Jahre 1848-1867. Phil.Diss. Wien 1927. S. 135. Lipscher (Anm.2) S. 71.

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eigenen Händen bzw. mit jüdischen Dienstboten auf gepachtetem obrigkeitlichen Grund Ackerbau oder ein zünftisches Handwerk durch drei Jahre betrieben, sowie jüdischen Doktoren in Sachen Eheschließung völlige Gleichstellung mit den Christen zu.6 Dazu ist zu bemerken, daß den Juden vermöge Landtagsschluß vom Jahre 1650 die Erwerbung allen unbeweglichen Eigentums verboten war 7 und daß die Ausübung eines nicht „typisch jüdischen" Handwerks (z.B. Goldschmied) häufig nicht zuletzt am Widerstand der christlichen Handwerksmeister scheiterte.8 Für die Schließung einer staatlich anerkannten , Judenehe" war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (gemäß § 124 ABGB) die Bewilligung des Kreisamts nötig, die an zahlreiche Bedingungen geknüpft war. Der Bräutigam mußte im Besitz einer „Familienstelle" sein,9 die Verlobten mußten ein Normalschulzeugnis, ein sog. Religionszeugnis (d.h. ein Zeugnis über die Prüfung aus dem seit 1810 vorgeschriebenen religiös-moralischen Lehrbuch „Bné-Zion" von Herz Homberg) vorlegen etc.10 Es gab daher immer eine nicht genau bestimmbare Zahl von geheimgehaltenen, „illegalen" oder „Bodenhochzeiten" (von tschechisch „pod poklickou" = im geheimen, wörtlich: unter dem Topfdeckel). Kinder aus diesen Ehen galten den Behörden gegenüber als unehelich.11 Erst 1859 wurden die Juden bezüglich ihrer Verheiratung den Andersgläubigen ganz gleichgestellt.12 Die hoffnungslose Ausgeliefertheit der böhmischen Juden des Vormärz an die staatlichen Behörden in der existentiellen Frage der Eheschließung veranschaulichte Leopold Kompert eindringlich in der in seinem ersten Buch Aus dem Ghetto enthaltenen Erzählung Ohne Bewilligung. Er schreibt, die Leute im Ghetto seien „Steine und müssen sich schieben und wälzen lassen, wie man nur will".13 In einer späteren Auflage des Buches, nach der Aufhebung des „pharaonischen Familiantengesetzes", charakterisierte Kompert das vormärzliche Verhältnis des Ghettos zum „Staat" folgendermaßen: Es gab so viele nicht aufgehobene, sondern nur „eingeschlummerte" Bestimmungen und Verordnungen, die über dem Nacken eines jeden wie unsichtbare Schwerter hingen, daß selbst niedere Beamte sich in der Rolle eines kleinen „Harnan" gefallen konnten.14 6 7

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Weiß (Anm.4) S. 136. W. Gustav Kopetz: Allgemeine östreichische Gewerbs-Gesetzkunde, oder systematische Darstellung der gesetzlichen Verfassung der Manufacture- und Handelsgewerbe in den deutschen, böhmischen, galizischen, italienischen und ungarischen Provinzen des östreichischen Kaiserstaates. Bd.l. Wien 1829. S. 318. Ebd. Der „Handel" mit Familienstellen war ein blühendes Feld der Bestechung und Korruption. Kestenberg-Gladstein (Anm.4) S. 355. Weiß (Anm.4) S. 132f. und 135f. - Vgl. Leopold Komperts sämtliche Werke in zehn Bänden. (In Hinkunft zitiert als Kompert: SW.) Leipzig o J . (1906) Bd.l. S. 232. Weiß (Anm.4) S. 132. - Kestenberg-Gladstein (Anm.4) S. 356. Weiß (Anm.4) S. 149. - Mit kaiserlicher Verordnung vom 29.November 1859 wurde der § 124 ABGB aufgehoben. Ebd. S. 186. Kompert: SW. Bd.l. S. 229. Ebd. S. 238

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Die böhmischen Landjuden (d.h. die Dorfjuden und die Juden der kleinstädtischen „Gassen") nahmen in der Wirtschaft Böhmens eine wichtige Vermittlerrolle zwischen den Grund- und Gutsherren einerseits und den bäuerlichen Untertanen und den lokalen Märkten andererseits ein. Beim Handel mit den Produkten der Grundherrschaften („Versilberung") kann man seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts geradezu von einem .jüdischen Monopol" sprechen.15 Viele der nach dem Dreißigjährigen Krieg verpachteten Branntweinbrennereien, Gerbereien und Pottaschesiedereien gingen im Laufe des 17. und während des 18. Jahrhunderts in die Hände von Juden über.16 Genaue Zahlen über die Sozialstruktur der böhmischen Landjuden besitzen wir aus dem Jahre 1724. Sie verteilten sich damals auf 168 Städte und Märkte sowie auf 672 Dörfer.17 52% der Familienväter waren Händler (wohl nur zum kleineren Teil Großhändler und in deren Diensten stehende Kleinhändler und Hausierer, großteils aber arme „Dorfgeher" und Trödler), 19% waren Dienstboten und 14% Pächter von herrschaftlichen Gewerbehäusern („Bestandjuden").18 Unter den letzteren, den in Komperts Werken häufig begegnenden „Randaren" (jiddisch für „Arendatoren"), dominierten mit 328 die Schnapsbrenner gegenüber 56 Pottascheherstellern und 26 Gerbern.19 Diese Statistik dürfte sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts im wesentlichen nur durch die wachsende Bedeutung der freien Berufe (Ärzte, Unternehmer, Journalisten, Schriftsteller) verändert haben.20 Von großer Bedeutung für die Zukunft (wenngleich nur eine halbherzige Maßnahme) war das programmatisch „Verordnung zur besseren Bildung und Aufklärung" betitelte Hofdekret Josephs Π. für die Juden Böhmens vom 19. Oktober 1781 („Toleranzpatent"), das unter anderem bezweckte, die besitzlosen Juden der Landwirtschaft und dem Handwerk zuzuführen.21 An erster Stelle (§§ Iff.) fordert das Dekret aber die Verbreitung der deutschen Sprache unter den Juden Böhmens innerhalb von zwei Jahren und die Errichtung jüdischer Schulen mit deutscher Unterrichtssprache. Schon am 25. Januar 1782 wurde in Prag die erste deutsche jüdische Schule eröffnet; 15 16 17 18 19

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Lipscher (Anm.2) S. 75f. Ebd. S. 77. Kestenberg-Gladstein (Anm.4) S. 3. Lipscher (Anm.2) S. 104. Ebd. S. 110. - Zu den böhmischen Dorfjuden vgl. Wilma Iggers (Hrsg.): Die Juden in Böhmen und Mähren. Ein historisches Lesebuch. München 1986. S. 90-104. - Salomon Ehrmann: Böhmische Dorfjuden. Erinnerungen aus früher Jugend. In: B'nai B'rith. Monatsblätter der Großloge für den Cechoslovakischen Staat 4 (1925) S. 217-223, 235-244 und 261-268. - Nicht zugänglich war mir: Oskar Donath: Die böhmischen Dorfjuden (Brünn 1926). Christoph Stölzl: Zur Geschichte der böhmischen Juden in der Epoche des modernen Nationalismus I. In: Bohemia 14 (1973) S. 191, Anm. 60. Die wichtigsten Bestimmungen des Toleranzpatents sind zusammengefaßt bei Josef Karniel: Die Toleranzpolitik Kaiser Josephs II. Gerlingen 1985 (Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv 9) S. 400f.

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1787 gab es in Böhmen - in Stadt und Land - bereits 25, in weiteren 56 Ortschaften besuchten jüdische Kinder christliche Schulen.22 Das verhaßte „Familiantensystem" und die Sondersteuern der Juden tastete Joseph II. nicht an - sie hielten sich, in der neuen gesetzlichen Form des „Systemalpatents" von 1797, bis 1848 bzw. bis 1846. Im zuletzt genannten Jahr konnten die Juden Böhmens, ebenso wie jene Ungarns, die Last der jüdischen Sondersteuern gegen eine hohe Ablösungssumme abwälzen, der Eid „more judaico" erhielt eine bedeutend mildere Form.23 Der Staatsdienst war den Juden im Vormärz verschlossen. Daher waren - neben dem Arztberuf - Journalistik und Berufsliteratentum für die assimilierte jüdische Intelligenz Böhmens, die sich zu einem großen Teil aus den kleinstädtischen Ghettos rekrutierte, „fast der einzig offene Berufsweg mit Chancen zum sozialen Aufstieg".24 Nach der militärischen Niederwerfung der Wiener Revolution im Oktober 1848 und der Auflösung des nach Kremsier verlegten Reichstages sprach die oktroyierte Verfassung des 4. März 1849 die volle Emanzipation der Juden aus, was unter der gesamten jüdischen Bevölkerung Österreichs einen Sturm dankbarer Begeisterung auslöste.25 § 28 der Grundrechte etwa garantierte den allgemeinen Zutritt zu den Staatsämtem - auch für Juden.26 Die Erfahrung, daß der habsburgische Zentralismus Josephs Π. und Franz Josephs gegen den Widerstand einer von Judenfeindschaft geprägten Gesellschaft die Judenemanzipation durchsetzte, ist die eigentliche Ursache für die auch von Kompert häufig bezeugte „Kaiser- und Reichstreue der Juden".27 Trotz der Beseitigung der Märzverfassung durch das Silvesterpatent 1851 und verschiedene judenfeindliche Maßnahmen des neoabsolutistischen Regimes (etwa die 1853 erfolgte Rückführung der Bestimmungen über den Erwerb von Grundbesitz durch Juden auf die vormärzliche Gesetzgebung)24 ist immerhin festzuhalten, daß weder 22 23

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Ebd. S. 522f. Rudolf Leitoer: Die Judenpolitik der österreichischen Regierung in den Jahren 1848-1859. Phil.Diss. Wien 1924. S. 14. - Nicht betroffen von dieser Regelung waren die Sondersteuem der Juden in Galizien, Mähren, Schlesien und Wien, die erst 1848 vom Österreichischen Reichstag abgeschafft wurden. Ebd. S. 15 und 26f. - Den ungarischen Juden gewährte der Landtag bereits 1840 das Wohnrecht im ganzen Land mit Ausnahme der Bergstädte, das Recht, Grundbesitz zu erwerben und Handel und Gewerbe frei auszuüben. Wolfdieter Bihl: Das Judentum Ungarns 1780-1914. In: Studia Judaica Austriaca Vin (Eisenstadt 1976). S. 20. Stölzl I (Anm.20) S. 197. Ebd. S. 220f. Leimer (Anm.23) S. 40f. Stölzl I (Anm.20) S. 221. - Zur Verehrung Josephs Π. seitens der mehr oder minder assimilierten Juden Wiens und Österreichs im 19 Jahrhundert vgl. etwa Gerson Wolf, der unter das Vorwort zu seinem bekannten Buch „Geschichte der Juden in Wien (1156-1876)" nicht ein X-beliebiges Datum oder ein Datum aus dem jüdischen Festkalender setzte, sondern die Zeile: „Wien, am Todestage Josef II. 1876." Weiters erklärte die Regierung die besondere Form des Ehekonsenses für Juden für bestehend; die Notariatsordnung von 1855 ordnete die Ausschließung der Juden vom Notariat

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das Familiantensystem noch die Sondersteuem des Vormärz wieder eingeführt wurden. Ghettos gab es in der Monarchie nach 1848 nur mehr in einigen Städten Galiziens, v.a. in Krakau und in Lemberg. Die Gewerbeordnung von 1859 brachte auch die Juden in den Genuß der allgemeinen Gewerbefreiheit. Die Zahl der jüdischen Offiziere in der Armee ging in den fünfziger Jahren bereits in die Hunderte.29 Erst 1859 kam die Gesetzgebung bezüglich der Juden wieder in Richtung volle Emanzipation in Gang. Der Grund dafür war die Absicht der Regierung, auf ausländischen Finanzmärkten Anleihen unterzubringen, die durch Gerüchte, Österreich wolle die Rechte der Juden weiter einschränken, gefährdet schienen.30 Nach den Niederlagen auf den oberitalienischen Schlachtfeldern beseitigte die Regierung auf Antrag des Innenministers Goluchowski Ende 1859 und Anfang 1860 eine Reihe von die Juden betreffenden Beschränkungen, u.a. das Verbot, christliche Dienstboten zu halten, die Vorschriften über die Bewilligung von Judenehen, das Verbot des Besitzes von Mühlen, Brauereien und Wirtshäusern, den Ausschluß vom Apothekerberuf und den Unterschied zwischen Zeugenaussagen von Juden und Christen. Schließlich erhielten die Juden in Niederösterreich, Böhmen, Mähren und Schlesien sowie in Ungarn und seinen Nebenländern im Februar 1860 die völlige Gleichstellung in dem Recht, Grundbesitz zu erwerben. Bauernwirtschaften konnten sie allerdings in den meisten der genannten Kronländer nur dann erwerben, wenn sie sich darauf häuslich niederließen und sie selbst oder mit Dienstboten bewirtschafteten. In den Kronländern Galizien und Bukowina wurden nur Juden, die bestimmte mittlere Schulen absolviert hatten, bezüglich der Besitzfähigkeit den christlichen Untertanen gleichgestellt. Die übrigen „Israeliten" waren weiterhin den vormärzlichen Bestimmungen unterworfen, durften aber landtäfliche Güter pachten. In den restlichen Kronländern (Oberösterreich, Salzburg, Tirol, Vorarlberg, Kärnten, Krain und Steiermark) wurden - dem Wunsch des Kaisers und dem Anraten des Reichsrates gemäß - überhaupt keine Verordnungen erlassen.31 Die vollkommene Gleichberechtigung aller Staatsbürger wurde erst 1867 vom siegreichen Liberalismus durchgesetzt. Allerdings blieben jüdisch-christliche Mischehen auch nach dem Interkonfessionellen Gesetz des Jahres 1868 verboten. Beide Ehepartner mußten entweder einer christlichen oder der jüdischen Konfession angehören; Konfessionslosigkeit war gestattet, was die Möglichkeit sog. Notzivilehen eröffnete - ein Thema, dem Leopold Kompert den Roman Zwischen Ruinen gewidmet hat.

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an, eine Bestimmung, die erst 1863 aufgehoben wurde; die Ernennung von Juden zu Staatsbeamten galt wieder als unzulässig; 1856 wurde sogar der Judeneid in der Form des Jahres 1846 wieder eingeführt. Leitner (Anm.23) S. 79f„ 95, 98 und 118. Ebd. S. 99f. Ebd. S. 103. Weiß (Anm.4) S. lOOff.

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Ruth Kestenberg-Gladstein hat auf die Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse der böhmischen Juden nach 1848/49 den Begriff des „Wirtschaftswunders" angewendet. Christoph Stölzl hat zu Recht festgestellt, die „wachsende Prosperität der böhmischen Landjuden" sei in „Zusammenhang mit dem Eindringen des Kapitalismus in die Landwirtschaft" gestanden.32 Gleichfalls mit Stölzl ist festzuhalten, daß die von Leopold Kompert „erträumte und propagierte Rückkehr zur Scholle" nicht stattfand. Auch jüdische Handwerker, auf die Kompert im Geiste Josephs Π. ebenfalls große Hoffnungen setzte, blieben angesichts des raschen kapitalistisch-industriellen Aufschwungs in Böhmen eine unbedeutende Randerscheinung. Ein Indiz dafür ist das Verkümmern des 1846 begründeten „Vereins zur Beförderung des Ackerbaus und des Handwerks unter den Israeliten" nach 1849.33 Typisch für viele böhmische Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war vielmehr der erstaunlich rasche Aufstieg vom „Dorfgeher" zum Besitzer einer „Gemischten Warenhandlung" sowie zu industrieller, städtischkaufmännischer Tätigkeit und, in der nächsten Generation, zu wissenschaftlich-intellektuellen Berufen.34

2. Leopold Komperts Weg „aus dem Ghetto" Unerklärlich, daß der Kompert Dichtend nur von Juden spricht. Unter Christen ist er Jud zwar, Unter Juden ist er's nicht.

Dieser mit „W." signierte und mit dem Datum „29. Mai 1863" versehene Aphorismus findet sich handschriftlich in der Materialsammlung des mit Kompert gut bekannten Wiener Biographen Constant von Wurzbach.35 Er charakterisiert treffend das Dilemma der assimilierten Juden der Habsburgermonarchie (zwischen jüdischer Orthodoxie und Antisemitismus) in der 32

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Christoph Stölzl: Zur Geschichte der böhmischen Juden in der Epoche des modernen Nationalismus Π. In: Bohemia 15 (1974) S. 129. - Vgl. ders., Die Àia Bach in Böhmen. Sozialgeschichtliche Studien zum Neoabsolutismus 1849-1859. München-Wien 1971. S. 28ff. Stölzl II (Anm.32) S. 131. - Zu dem 1840 von Joseph Wertheimer in Wien gegründeten „Verein zur Beförderung der Handwerke unter den inländischen Israeliten" vgl. G[erson] Wolf: Vom ersten bis zum zweiten Tempel. Geschichte der israelitischen Cultusgemeinde in Wien (1820-1860). Wien 1861. S. 172-177. - Ders. (Anm.114) S. 147 und 216, Anm.l. Ebd. S. 130. - 1900 waren 47,7% der Katholiken, aber nur 4,6% der Juden Böhmens in der Land- und Forstwirtschaft tätig. Gustav Otruba: Statistische Materialien zur Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern seit dem Ausgang des 18 Jahrhunderts. In: Die Juden in den böhmischen Ländern. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee 1981. Hrsg. Ferdinand Seibt. München-Wien 1983. S. 338. Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Sammlung Wurzbach, s.v. Kompert.

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zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und entspringt derselben distanzierten Haltung der nichtjüdischen Intelligenz wie das bekannte, Emancipation betitelte Epigramm Grillparzers aus dem Jahre 1865:36 Spät ward man billig eurem Geschlechte, Das Haß und Rachsucht mit Schmach beluden, Ihr habt nun alle Bürgerrechte, Nur freilich bleibt ihr immer Juden.

Als Kompert am 5. (nicht, wie meist zu lesen, am 15.) Mai 182237 in der jüdischen „Gasse" des nordböhmischen Städtchens Münchengrätz (Mnichovo HradiStè) in der Nähe von Jungbunzlau (Mladá Boleslav) geboren wurde, hätten sich seine Eltern nicht träumen lassen, daß es 40 Jahre später möglich sein würde, die eingangs zitierten Zeilen auf ihren Sohn zu münzen. Die Ghettobewohner lebten seit Jahrhunderten im Machtbereich der Waldsteinischen Herrschaft Münchengrätz. 1837 wohnten in Münchengrätz 177 Juden; 1848 hatte die Stadt 4074 Einwohner, von denen nur mehr 135 Juden waren.38 Seit etwa 1800 besaßen die Münchengrätzer Juden eine neue Synagoge, die Schule befand sich seit ungefähr 1820 in einem eigenen Gebäude, 1850 gab es eine Beerdigungsbruderschaft, einen Verein zur Unterstützung von Kranken, einen promovierten Religionslehrer und zwei Schullehrer.39 Der kleine Leopold war der Liebling seiner Mutter. Er wird von seinen Biographen als kränkliches, träumerisches und einzelgängerisches Kind beschrieben, das sich von den Altersgenossen fern hielt.40 Stundenlang las er der Mutter aus den Büchern des Großvaters vor. Schon mit sieben Jahren soll der lesewütige Knabe fast alle Dramen Schillers, den moralisierend-

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Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Hrsg. Peter Frank und Karl Pömbacher. Bd. 1. München 2 1969. S. 577. Allgemeine Deutsche Biographie 51 (1906). S. 750. - Auf Komperts Grabstein in der Israelitischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs - zwischen den Gräbern von Ignaz Kuranda und Josef und Henriette Wertheimer, gegenüber jenen von Salomon Sulzer, Adolf Jellinek und Adolf Fischhof - ist allerdings ebenfalls der 15. Mai als Geburtstag angegeben. - An neueren Arbeiten über Kompert sei hingewiesen auf: Gerhard Schneider: Nachwort. In: Leopold Kompert: Christian und Lea. Erzählungen. Berlin (DDR) 1964. S. 409-419. - Wilma A. Iggers: Leopold Kompert, Romancier of the Bohemian Ghetto. In: Modem Austrian Literature. Vol.6. No. 3/4 (1973), S. 117-138. - Bernhard Denscher: Vergessene jüdische Literatur. In: Kat. 1000 Jahre österreichisches Judentum. Hrsg. Klaus Lohrmann. Eisenstadt 1982 (Studia Judaica Austriaca IX). S. 205-224, über Kompert S. 211-215. - Ders., Leopold Kompert. Zu Unrecht vergessen (V). In: Wien aktuell ΠΙ (1984). S. XXVmf. - Joseph P. Strelka: Leopold Kompert - Erzähler des jüdischen Ghetto. In: Herbert Zeman (Hrsg.): Die österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert (1830-1880). Graz 1982. S. 431-438. V. Pafik: Dêjiny Zidû ν Mnichovê HradiSti. In: Hugo Gold (Hrsg.): Die Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergangenheit und Gegenwart. I. Brünn-Prag 1934. S. 410. Jahrbuch der Gesellschaft für Geschichte der Juden in der Cechoslowakischen Republik 7 (Prag 1935). S. 378. Stefan Hock: Einleitung: Komperts Leben und Schaffen. In: Kompert: SW. Bd.l. S. IX.

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sentimentalen Roman Clarissa Harlow von Samuel Richardson und den Don Quixote - ein Lieblingsbuch des Großvaters - gelesen haben.41 Vom sechsten bis zum zehnten Lebensjahr besuchte er die deutsche Schule.42 Komperts Vater war ein wohlhabender Wollhändler und hatte die Münchengrätzer Straßenmaut in Pacht.43 Wie seine fünf Brüder hatte er mit 13 Jahren das väterliche Haus verlassen müssen, um sich sein Brot selbst zu erwerben.44 Er wurde dabei hart und streng, der weichherzige Leopold dürfte ihn gefürchtet haben. Die sensible und zärtlichkeitsbedürftige Mutter war Leopolds erste Lehrerin, mit ihr teilte er die Liebe zur Lektüre und zum Träumen. „Auch so eine arme, verlassene Judenseele hat ihre Träumereien und Gedankenblumen, und ihr Duft legt sich nicht weniger weich an den Himmel als von denen, die ihn in Pacht zu haben meinen", wird er später in Judith die Zweite schreiben.45 Dem Einfluß der Mutter auf Komperts Persönlichkeit und Charakter ist es auch zuzuschreiben, daß fast alle seine weiblichen Figuren warmherzig, tolerant und menschenfreundlich sind. „In den meisten meiner weiblichen Gestalten lebt ein Zug, der dem Gemüthe meiner Mutter entnommen ist", sagte er selbst einmal zu Adolf Neustadt.44 Er vermißte im Judentum später das Weibliche.47 In einem Fragment aus Komperts Nachlaß {Auf der Beschau) sagt der Hauslehrer zu der 17jährigen Golde Mandelzweig, dem Judentum fehle das Weibliche, es sei eine Religion für Männer, das weibliche Geschlecht werde im Judentum gering geachtet.48 In demselben Fragment übt der Erzähler scharfe Kritik an der Gepflogenheit, Mädchen gegen oder jedenfalls ohne ihren Willen zu verheiraten.49 Kompert war zeitlebens ein sensibler und sentimentaler, ein zurückhaltender und rücksichtsvoller Mensch. Sogar in seinem Händedruck, berichtet Franzos, sei „etwas Erwärmendes, ich möchte sagen: Zärtliches" gewesen. Er grübelte über alles und nahm alles schwer. Vielleicht hat Franzos recht, wenn er die „gewisse Gedrücktheit und schüchterne, ja scheue Zurückhaltung", die nicht nur dem Menschen, sondern auch dem Dichter Kompert angehaftet habe, damit in Zusammenhang bringt, „daß seine Wiege in einem Ghetto gestanden hat".50 Nicht zuletzt dürfte es sich hiebei aber um 41

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Adolf Neustadt: Leopold Kompert. Biographische Skizze. In: Libussa 19 (Prag 1860). S. 354. Ebd. S. 355. Hock (Anm.40) S. VIII. Neustadt (Anm.41) S. 350. Kompert: SW. Bd.l. S. 14. Neustadt (Anm.41) S. 353. „Was unserer Religion fehlt, ist das Weibliche", notiert Moritz, der Sohn des Randars Rebb Schmul in den „Kindern des Randars". Kompert: SW. Bd.l. S. 197. Ebd. Bd.10. S. 115. Vgl. ebd. S. 120. Karl Emil Franzos: Leopold Kompert. In: Neue Freie Presse. 3.Dezember 1886 (Morgenblatt) S. lf.

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Charakterzüge handeln, die mit Komperts intensiver Mutterbeziehung zu tun haben. Komperts gefühlsbetonte Religiosität und seine Pietät gegenüber allem Religiösen und allen Religionen, keineswegs nur der jüdischen,51 aus der sich seine Hoffnung auf eine künftige Vereinigung von Judentum und Christentum speiste, sind wohl ebenfalls ein mütterliches Erbe. Sara, die Mutter Leas in der 1862 entstandenen Erzählung Christian und Lea, vergleicht Christentum und Judentum mit den Teilen einer zerbrochenen Schiefertafel. Auf jedes der beiden Stücke habe Gott etwas geschrieben, „und daran hält ein jeder fest, und nur Gott der Allmächtige allein ist imstande, die zerbrochene Tafel wieder so ganz zu machen, daß, was auf dem einen Stücke geschrieben steht, zu demjenigen paßt, was auf dem anderen geschrieben steht. - Den Tag, wo das geschieht, den werden wir nicht erleben f...]."52 Sara ist aber noch so in die Fesseln der von Kompert später immer entschiedener abgelehnten Gesetzesreligion verstrickt, daß sie die Ehe von Christian und Lea verhindert. Die blinde Lehrerswitwe Veile Oberländer in Komperts nach der Einführung einer sog. Notzivilehe in Österreich in den frühen 70er Jahren entstandenem Roman Zwischen Ruinen hingegen begünstigt eine solche „Notzivilehe" zwischen einem Juden und einer Christin, „weil sie die Liebe höher achtet als die confessionellen Bedenken".53 Kompert lernte im Laufe seines Lebens, das Judentum mit den Augen eines aufgeklärten und an die bürgerliche Gesellschaft der Ringstraßenzeit assimilierten Juden zu betrachten, ohne - naiv formuliert - sein Gottvertrauen zu verlieren. Doch zurück zu dem kleinen Leopold in der Münchengrätzer „Gasse". Wäre er ausschließlich in der Obhut der Mutter aufgewachsen, hätte er das Haus wohl selten verlassen. Der Großvater mütterlicherseits ist es gewesen, der ihn die „Gasse" und die Dorfjuden kennen und lieben lehrte und dem es zu verdanken ist, daß er zum Schilderer des Lebens der böhmischen Landjuden werden konnte. Der vielseitig begabte Mann - er sang und spielte Geige, band sich seine Bücher selbst und goß die Kerzen für den eigenen Haushalt - war „Rabbiner, Lehrer, Vorbeter, Schächter in einer Person".54 Leopold begleitete den Großvater regelmäßig, wenn er zu den Dorfjuden und „Randaren" Schächten ging. Das Münchengrätzer „Hekdisch" (die Herberge für die durchziehenden „Schnorrer") war nur durch einen kleinen Hof von der großväterlichen Wohnung getrennt. Hier lauschte Kompert am Sabbat und an Feiertagen viele Stunden den Erzählungen der weitgereisten, vor allem polnischen und ungarischen „Schnorrer". Der Tod des Großvaters im 51

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Vgl. etwa die Szene in „Eine Verlorene", in der der Dorfjude Jossef den antiklerikalen Bauern Stepan Parzik an der Schändung der Nepomuk-Kapelle hindert. Kompert: SW. Bd.2. S. 158ff. Kompert: SW. Bd.5. S. 277. Vgl. auch das Gebet Saras ebd. S. 266f. Wilhelm Goldbaum: Literarische Physiognomieen. Wien-Teschen oJ. (1884) S. 170. Hock (Anm.40) S. VID. - Neustadt (Anm.41) S. 351.

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September 1835 war der Anlaß für Komperts erstes ernstgemeintes Gedicht, eine Elegie in der Manier Klopstocks.55 Als der Großvater starb, hatte Kompert bereits das dritte Schuljahr im Jungbunzlauer Piaristengymnasium hinter sich. Die Trennung von zu Hause im September 1832 war nach der Aussage seines Biographen Komperts „erster großer Lebensschmerz".56 Der Vater hatte dem Drängen der Mutter, den blassen, schüchternen Jungen gemeinsam mit dem älteren Bruder Moritz aufs Gymnasium zu schicken, wohl nicht zuletzt deshalb nachgegeben, um Leopold, der als Zweitgeborener kein „Familiant" war, die Möglichkeit zu geben, durch die Erwerbung des Doktorats das Recht auf die Heiratsbewilligung zu erlangen.57 Der heimwehgeplagte Leopold litt besonders unter dem Spott der christlichen Mitschüler für ihre jüdischen Kollegen. Er Schloß sich eng an den um ein halbes Jahr älteren und viel selbstbewußteren Mitschüler Moritz Hartmann an, der ihm die schmerzlich vermißte Mutter ersetzte. Hartmann dachte bis ins Alter nur mit Erbitterung an das Jungbunzlauer Gymnasium mit seiner stumpfsinnigen Paukerei zurück. Er erzählte später, der Präfekt habe die jüdischen Gymnasiasten von Zeit zu Zeit verhöhnt und habe häufig seine Ansicht zum besten gegeben, die Juden sollten „schachern und nicht lateinisch lernen".58 In der Freizeit lasen Hartmann und Kompert gemeinsam historische Bücher, v.a. aus der böhmischen Geschichte und Sagenwelt, auf die sie ihr Lieblingslehrer, P.Conrad Böhm, hingewiesen hatte.59 Die beiden übten sich eifrig im Verseschmieden; als Thema wählten sie mit Vorliebe die Hussitenkriege.60 Ebenso wie Moschele/Moritz in Die Kinder des Randars interessierte Kompert wahrscheinlich an der Geschichte der Hussiten weniger das spezifisch „Böhmische", als der „Kampf um Gut und Freiheit und Selbständigkeit", der ihn an den bewaffneten Kampf und die Leiden der Makkabäer erinnerte.61 Im Zentrum der Gedichtlektüre an den vormärzlichen Gymnasien standen die Oden Klopstocks, Höltys Elegien und die sentimentalen Gedichte Matthissons.62 Dem bereits genannten Piaristenpater Conrad Böhm verdank55 56 57 58

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Neustadt (Anm.41) S. 350-358. - Hock (Anm.40) S. IX, ΧΠΙ. Neustadt (Anm.41) S. 356. Ebd. S. 355. Otto Wittner: Moritz Hartmanns Jugend. Wien 1903. S. lOf. - Kompert ließ die Erinnerungen an seine zu Leisetreterei und Duckmäuserei erziehende Schulzeit in die Erzählung „Ohne Selbstlaut" (1859) einfließen. Vgl. Kompert: SW. Bd.9. bes. S. 186f. und 191ff. Zur Judenfeindschaft am Gymnasium der Piaristen in Jungbunzlau siehe auch ebd. Bd.l. S. 116ff. („Die Kinder des Randars"). - Neustadt hingegen berichtet, Kompert habe die Gymnasialjahre später „als die glücklichsten seines Lebens" bezeichnet. Neustadt (Anm. 41) S. 357. Hock (Anm.40) S. ΧΠ. Ebd. S. XIV. Kompert: SW. Bd.l. S. 141f. Hock (Anm.40) S. ΧΠ.

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te Kompert nicht nur die Vorliebe für die klassischen Sprachen und das Geschichtsstudium,63 überraschenderweise lernten die beiden Freunde durch ihn auch den „Prototyp" der politischen Lyrik des österreichischen Vormärz kennen, die 1831 erschienenen, nicht zuletzt scharf antiklerikalen Spaziergänge eines Wiener Poeten von Anastasius Grün. In einem Festgruß zum 70.Geburtstag von Anastasius Grün (1876), in dem er übrigens mit dem vormärzlichen Absolutismus schonungslos ins Gericht geht, berichtet Kompert, P. Conrad habe ihm, dem Fünfzehnjährigen, ein Exemplar der Spaziergänge geschenkt - „mit der Warnung [...], niemand zu sagen, woher es stamme". „Das Büchlein", schreibt Kompert weiter, „hat mich durch alle Fährnisse des Lebens bis zum heutigen Tage begleitet und blieb mein Eigentum, so vieles mir seitdem auch abhanden gekommen sein mag."64 Kompert und Hartmann hatten also bereits erste Bekanntschaft mit der „neuen" Poesie geschlossen, als sie durch den im Jungbunzlauer Ghetto geborenen Isidor Heller in den Bannkreis des revolutionären Skeptizismus der Jungdeutschen und eines Heine oder Lenau gezogen wurden. Heller, der zwanzigjährige, weltmännische Freigeist, der in Frankreich zum Demokraten und Republikaner geworden war, der „erste Typus eines jüdischen Bohemien" (Christoph Stölzl), führte die befreundeten Gymnasiasten in die politische Ideologie des .Jungen Deutschland" ein.65 Der Bankrott von Komperts Vater setzte der Jungbunzlauer Gymnasialzeit Leopolds ein jähes Ende. Um dem Vater nicht länger „auf der Tasche zu liegen", ging Kompert im Herbst 183766 nach Prag, bezog ein ärmliches Quartier in der Judenstadt und schlug sich mit Stundengeben mehr schlecht als recht durchs Leben. Der einsame, schüchterne Jüngling zog sich völlig in sich selbst zurück, als man ihm wegen seiner schlechten schulischen Erfolge Vorwürfe zu machen begann. Trotzdem absolvierte er in Prag das letzte Jahr des Gymnasiums und das erste Jahr der .Philosophie" an der Universität. Stefan Hock meint, die traurigen Prager Jahre hätten „den Grund zu der Melancholie und Hypochondrie" gelegt, „die ihn selbst in späten Jahren oft befiel".67 Im September 1839, nach den Sommerferien, wanderte Kompert zu Fuß von Münchengrätz nach Wien, um in der Reichshauptstadt sein Glück zu versuchen. Nach einem halben Jahr fand er eine feste Anstellung als Hauslehrer bei einem wohlhabenden Kaufmann, dessen fünf Söhne er zu unterrichten hatte.68

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Neustadt (Anm.41) S. 357. Kompert: SW. Bd.10. S. 269. Stölzl I (Anm.20) S. 198f. - Neustadt (Anm.41) S. 360f. Paul Amarai: Leopold Komperts literarische Anfänge. Prag 1907 (Prager deutsche Studien 5). S. 17. - Nach Neustadt (Anm.41) S. 362 und Hock (Anm.40). S. XV bereits im Herbst 1836. Hock (Anm.40) S. XVIf. Hock (Anm.40) S. XVII. - Neustadt (Anm.41) S. 365.

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Kompert hielt es nicht lange in der Großstadt und in der vermutlich aufreibenden Hauslehrerstelle aus. Eine unwiderstehliche Sehnsucht nach der ungarischen Puszta hatte ihn gepackt - sei es geweckt durch „Lenaus Heidebilder",69 durch die Lektüre der lebhaften Schilderung eines Pusztadorfes „in einer deutschen Zeitung"70 oder durch die soeben erschienene Erzählung Das Heidedorf von Adalbert Stifter. Jedenfalls faßte der Achtzehnjährige den romantischen Entschluß, „der Kultur den Rücken zu kehren und sich auf einer Puszta anzusiedeln".71 Im Juli 184072 gab Kompert seine Stelle auf und fuhr donauabwärts bis Pest Von dort begab er sich, ohne ein Wort Ungarisch zu verstehen, in die Ungarische Tiefebene, und schlug sich, mit seiner lateinischen Eloquenz brillierend, von Pfarrhof zu Pfarrhof durch. Drei Monate hielt ihn, wie es scheint, ein Liebeserlebnis in Szegedin fest. Ein Brief der Mutter und die leere Reisekasse rissen ihn schließlich aus seinem Traum - im Oktober 1840 kam er in Preßburg an.73 In Preßburg, in dessen Ghetto sich im Vormärz rund 5000 Juden in einer Gasse des Schloßbergviertels zusammendrängten,74 verbrachte Kompert den Winter 1840/41. Der verunsicherte, um Orientierung in existentiellen und in Fragen der künftigen Lebensgestaltung ringende Student trat hier in den anregenden Kreis um die „Pannonia", das von dem gebürtigen Prager Adolf Neustadt redigierte belletristische Beiblatt der „Preßburger Zeitung". Neustadt wurde Komperts journalistischer und literarischer Lehrer, führte ihn in die Preßburger Gesellschaft ein und machte ihn nicht zuletzt mit ihrer beider böhmischem Landsmann Ludwig August Frankl in Wien bekannt. Besonders viel verkehrte Kompert in den Preßburger Jahren mit Josef Rank, der damals im Hause Neustadts wohnte.75 Gegen Ende des Jahres 1841 brachte Neustadt in der „Pannonia" als erste gedruckte Arbeit Komperts zwei ganz unter dem Einfluß der jungdeutschen Reiseberichte stehende Reisebilder aus Ungarn76 und Anfang des nächsten Jahres Die Heineanerin, einen frühen, von hoffnungsloser Sentimentalität und diffusem Weltschmerz geprägten novellistischen Versuch.77 Bald erschienen auch Beiträge aus Komperts Feder in Frankls „Sonntagsblättem", etwa 1842 die ungarische Skizze Die Donauufer und 1845 ein Aufsatz über den Fürstenkongreß von 69

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Johann Willibald Nagl, Jakob Zeidler, Eduard Castle: Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte. Bd.3. Wien 1926ff. S. 495. Neustadt (Anm.41) S. 366. Franzos (Anm.50) S. 2. Hock (Anm.40) S. XIX. Nach Neustadt (Anm.41) S. 366 bereits im Mai. Neustadt (Anm.41) S. 366. Wolfgang Häusler: Assimilation und Emanzipation des ungarischen Judentums um die Mitte des 19 Jahrhunderts. In: Studia Judaica Austriaca IH (Eisenstadt 1976) S. 38. Neustadt (Anm.41) S. 366ff. - Hock (Anm.40) S. XXff. Der letzte Aufsatz in Komperts Preßburger Reiseskizzen, die „Monographie des böhmischen Stellwagens", lehnt sich schon im Titel an eine Böme'sche Plauderei an („Monographie der deutschen Postschnecke"). Vgl. Amann (Anm.66) S. 19 und 27ff. Ebd. S. 11, 13, 17. - Neustadt (Anm.41) S. 368.

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Münchengrätz und über Wallensteins ebendort ruhende Gebeine. 1843 folgte Kompert der Einladung des Grafen Andrássy, als Erzieher des jungen Grafen auf das Schloß Hoszúrét (im Komitat Gömör) zu übersiedeln.78 Hier hatten seine finanziellen Nöte ein Ende. Die Erzieherpflichten ließen ihm genügend Muße, sich mit dem Französischlehrer und dem Deutschlehrer zu befreunden und weiterhin regelmäßig Artikel für die „Pannonia" und die „Sonntagsblätter" zu schreiben. 1844 brachte die „Pannonia" eine Art Vorrede zu einem geplanten „Roman der Pußta". Kompert bekennt sich darin zu den Zielen der Begründer der deutschen Dorfgeschichte (Auerbach, Rank): Wir sehnen uns nach derben, schwielenbesäeten Fäusten, die beschmutzt sind vom Ruße der Hütte und dem Lehme der Erde. Wir wollen das Volk belauschen, wenn es betet, liebt, heiratet, begräbt, tauft, sich freut, weint; wir wollen seine Leiden und seine Leidenschaften kennen lernen, wenn sie in der Kneipe riesenstark sich aufbäumen wie die Töne der Baßgeige, die der Dorfmusikant so meisterlich handhabt!79

So wie die deutschen Dorfpoeten das Interesse des Publikums „am Binnenexotikum des eigenen Sprachraumes"80 befriedigten, interessierte sich Kompert für das fremdartig Exotische, das „Romantische" des ungarischen „Volkslebens": „Ja, der braune Zigeuner, der schwarzlockige Czikos, der schwerbewaffnete Räuber, das sind die echten Söhne der Pußta ..."81 Im Jahre 1846 entdeckte Kompert auf Schloß Hoszúrét das Judentum und das böhmische Ghetto als literarisches Thema. Zu Karl Emil Franzos sagte er Jahrzehnte später, es sei ihm plötzlich zu Bewußtsein gekommen, daß er „der einzige Jude auf mehrere Meilen in der Runde" gewesen sei. „Das Ghetto kam mir so fem, so verschollen vor, als wäre ich Tausende von Meilen, Hunderte von Jahren von ihm entfernt - und aus dieser Empfindung heraus erhielt es plötzlich für mich, zu meiner eigenen Überraschung, seine poetische Bedeutung."82 Angeregt durch eine Anthologie von Volksmärchen habe er zunächst, aus seinen Kindheitserinnerungen schöpfend, die Märchen aus dem Ghetto aufgeschrieben, die dann am Schluß seines ersten Buches (Aus dem Ghetto) abgedruckt wurden - „in Wahrheit sind sie meine erste Arbeit in diesem Buche". Nach längerem Zögern habe er die Märchen an Frankl gesandt, der sie für die „Sonntagsblättef" akzeptiert und mehr verlangt habe. Das wunderte mich; ich hatte gedacht, daß diese Märchen nur Juden interessieren könnten, und die „Sonntagsblätter" hatten ja einen vorwiegend christlichen Le-

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Neustadt (Anm.41) S. 369. - Hock (Anm.40) S. ΧΧΠ. Zit. nach Hock (Anm.40) S. ΧΧΙΠ. Uwe Baun Dorfgeschichte. Zur Entstehung und gesellschaftlichen Funktion einer literarischen Gattung im Vormärz. München 1978. S. 41. Zit. nach Amann (Anm.66) S. 60. Franzos (Anm.50) S. 3.

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serkreis; nun, er mußte es besser wissen. Aber was ich an Märchen kannte, hatte ich aufgeschrieben, so dachte ich denn: Vielleicht versuchen wirs mit einer Novelle! [...] Von Preßburg her war mir eine alte Geschichte, die man dort erzählte, im Kopfe geblieben: ich schrieb sie fast ganz getreu der Überlieferung nach, das war die Erstlings-Novelle des Bandes: .Judith die Zweite".*3 Die als nächste entstandene Erzählung, Alt Babele, spielt gleichfalls im Preßburger Ghetto; sie erschien zuerst 1846 in dem von Isidor Busch in Wien herausgegebenen .Jahrbuch für Israeliten".84 „Damit aber", erzählte Kompert weiter, war der Preßburger Faden ausgegangen, und es bedurfte einiger Zeit, bis ich auf das Nächstliegende geriet: in die Heimat zu gehen, das böhmische Ghetto. Von dorther wuchs mir aus Kindheits-Erinnerungen die Gestalt des Schlemiel zu, durch einen Brief vom Hause der Stoff zu „Ohne Bewilligung", durch einen Besuch in der Heimat 1847 kam ich zu den „Kindern des Randars". Da haben Sie die Geschichte meines ersten Buches.85 Im Juni 1847 war das Manuskript fertig,86 Anfang 1848 erschien Aus dem Ghetto, mit einer Widmung an Frankl und Neustadt, im Leipziger Verlag Herbig.87 In das Buch nicht aufgenommen wurden zwei ethnographische Studien über das böhmische Ghetto von hohem kulturgeschichtlichem Quellenwert, die 1846 in den „Sonntagsblättern" erschienen waren: Die „Schnorrer" und Das Verbrennen des Gesäuerten.88 In den eigentlichen „Ghettogeschichten" seines Buch-Erstlings „entriegelt" Kompert, wie Ferdinand Kümberger in seiner Besprechung in den „Sonntagsblättem" vom 10. September 1848 schreibt, „die traurigen Pforten des Ghettos und zeigt uns im Spiegel der Dichtung, die ihre Schönheit nur von der Wahrheit leiht, hinter den eisernen Gittern ein ebenso würdiges Volk als vor denselben".89 Kümberger stellt Kompert neben den von diesem verehrten Auerbach90 und betont den demokratischen und emanzipatorischen Aspekt der Dorf- wie auch der Ghettogeschichte. In der Tat, wenn man diese verklärte Ruhe und Milde betrachtet, mit welcher Auerbach, Rank und Kompert den so sehr aufreizenden Stoff einer empörenden Volksknechtschaft behandelt haben, so sollte man glauben, als ob bereits die Ahnung der Freiheit wie ein seliges Morgenrot ihrem prophetischen Blicke entgegenleuchtet." 83 E b d 84

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Vgl. Jacob Toury: Die Jüdische Presse im Österreichischen Kaiserreich. Ein Beitrag zur Problematik der Akkulturation 1802-1918. Tübingen 1983. S. 11, Anm.30. Franzos (Anm.50) S. 3. Hock (Anm.40) S. XXIV. Ebd. und Neustadt (Anm.41) S. 371. Abgedruckt in Kompert: SW. Bd.10. Ferdinand Kümberger: Gesammelte Werke. Hrsg. Otto Erich Deutsch. Bd.2. MünchenLeipzig 1911. S. 399. Ebd. S. 402. Ebd. S. 403.

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Berthold Auerbach, der in dem Württembergischen Dorf Nordstetten, in dem es, wie ja auch in den böhmischen Dörfern, kein Ghetto gab, geboren und aufgewachsen ist und der auch in seinem späteren Leben nie in einem Ghetto wohnte,92 begann um 1840 aus einer ähnlichen „ H e i m w e h s t i m m u n g " heraus mit Skizzen zu den Schwarzwälder Dorfgeschichten,93 wie einige Jahre später Kompert mit seinen böhmischen Ghettogeschichten, denen vielleicht sogar im jiddischen .Jargon" verfaßte Skizzen vorangegangen sind.94 Auch der starke pädagogische Impetus und das Lob der großen ethischen Kraft des Ackerbaus - eines der Leitmotive in Komperts Werk verbindet die beiden.95 Selbst mit der Wahl der jüdischen Thematik trat Kompert in Auerbachs Fußstapfen, er vollzog aber den Schritt von der Vergangenheit zur Gegenwart: Auerbach hatte 1837 (Spinoza) und 1840 (Dichter und Kaufmann) zwei Romane über Themen aus der jüdischen Geschichte (des 17. bzw. 18. Jahrhunderts) erscheinen lassen, denen noch eine ganze „Reihe historischer Zeit- und Sittenbilder aus dem Leben der Juden" folgen hätte sollen. In der „Das Ghetto" betitelten Einleitung zu dem großen Spinoza-Roman hatte Auerbach 1837 die Intention seines geplanten Romanzyklus - ex negativo - mit Worten umrissen, die Kompert für seine eigenen Projekte ohne Änderungen übernehmen hätte können: Das jüdische Leben zerfällt nach und nach, ein Stück nach dem andern löst sich ab; darum scheint mir, daß es an der Zeit ist, Poesie und Geschichte und beide vereint seine Bewegungen im Bilde festhalten zu lassen. [...] So wenig ich nun diese Bilder unmittelbar für den Zweck der religiösen oder moralischen Aufklärung aufzustellen gemeint seyn kann, so wenig habe ich hiebei den einzigen und höchsten Lebenszweck der für den Fortschritt arbeitenden Juden, die Emancipation, im Auge. Poesie ist sich höchster und einziger Selbstzweck. 96

Nach dem Erscheinen von Komperts zweitem Buch (Böhmische Juden, 1851) begrüßte Auerbach in einem Brief an seinen Schwager Heinrich Landesmann (Pseudonym: Hieronymus Lorm) Kompert geradezu als den Vollstrecker seines eigenen Programms: Er hat die Aufgabe genommen und gelöst, die ich mir noch vorgesetzt hatte, nämlich das jüdische Dorfleben selbständig zu behandeln.97 92

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Wilhelm Stoffers: Juden und Ghetto in der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Weltkrieges. Nymwegen 1939 (Deutsche Quellen und Studien 12). S. 255. - Anton Bettelheim: Berthold Auerbach. Sein Leben und Schaffen. In: Berthold Auerbachs Werke. Bd.l. Leipzig oJ. (1907) S. 8. Jürgen Hein: Nachwort. In: Berthold Auerbach: Schwarzwälder Dorfgeschichten. Stuttgart 1984 (Reclams Universal-Bibliothek 4656) S. 292 und 301. Neustadt (Anm.41) S. 370. Zur Übernahme von Details aus Auerbachs Werken durch Kompert vgl. Hock (Anm.40) S. XXXII. Berthold Auerbach: Spinoza. Stuttgart 1837. S. ΙΠ. Zit. nach Hock (Anm.40) S. ΧΧΧΙΠ. - Vgl. auch Stefan Hock: Berthold Auerbach und Leopold Kompen. In: Sonntagsbeilage Nr.21 zur Vossischen Zeitung Nr.241 vom 26.5.1907. S. 161-164.

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Die Dorfgeschichten Berthold Auerbachs und Josef Ranks, des Joumalistenkollegen aus Preßburger Tagen,98 sind zweifellos wichtige Vorbilder für Komperts Ghettogeschichten gewesen. Auf eine zweite, entscheidende äußere Anregung, die Kompert den Entschluß erleichterte, Geschichten aus dem Leben der böhmischen Dorf- und Kleinstadtjuden zu verfassen, hat Paul Amann hingewiesen. Es handelt sich um die essayistische Erzählung Der böhmische Dorfjude von Jakob Kaufmann, die 1840 in dem in Leipzig herausgekommenen Taschenbuch „Jeschurun" erschienen ist.99 Insbesondere in Komperts Schilderung der Randarhöfe - etwa bei der Darstellung des inmitten seiner bäuerlichen Gäste betenden Randars - sowie in Komperts Charakterisierung des Unterschieds zwischen Dorf- und Stadtjuden finden sich zum Teil wörtliche Anlehnungen an Kaufmann.100 Dieser hatte seinem theoretisch-deskriptiven Essay drei Skizzen angefügt, in denen er drei Familien aus verschiedenen sozialen Schichten, drei Typen jüdisch-böhmischer „ H a u s v ä t e r " vorstellte, die Amann als „vollendete Expositionen jüdischer Novellen" bezeichnet hat.101 Soviel über Komperts erstes Buch, das sein größter literarischer Erfolg geblieben ist: 1850 erschien bereits die zweite Auflage, 1859 eine dritte.102 Nicht lange nach der Fertigstellung des Manuskripts war 1847 Komperts Mutter gestorben. Ende September 1847 kam Kompert wieder nach Wien, um hier sein Medizinstudium fortzusetzen, aber sicher auch in der Absicht, in der literarischen Metropole der Monarchie seine schriftstellerischen und journalistischen Arbeiten weiterzuführen. Tatsächlich lieferte er im Revolutionsjahr 1848 einige bemerkenswerte Beiträge für das von Isidor Busch und Meir Letteris herausgegebene „Österreichische Centrai-Organ für Glaubensfreiheit, Cultur, Geschichte und Literatur der Juden". Bereits in der ersten Nummer berührte Kompert in seinem Artikel Für unsere armen Juden die soziale Seite des Emanzipationsproblems. Er forderte eine Umformung der Berufsstruktur der Juden, eine Hinwendung zu den produzierenden Wirtschaftssektoren parallel zur Durchsetzung der politischen Gleichberechtigung.103 Die pogromartigen antijüdischen Ausschreitungen in Prag, Budapest, Preßburg und vielen Orten der Slowakei (z.B. der Sturm auf das Prager Ghetto am l.Mai 1848) riefen bei der jüdischen Bevölkerung der Monarchie Ernüchterung hervor. Kompert verlieh der resignativen Stimmung in zwei Leitartikeln unter dem Titel Auf, nach Amerika beredten 98

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Zum Einfluß Ranks v.a. auf Komperts ethnographische Studien vgl. Amann (Anm.66) S. 98f. Vgl. ebd. S. 88-100. - Der Aufsatz ist teilweise abgedruckt bei Iggers (Anm.19) S. 97ff. Amann (Anm.66) S. 91 und 97. Ebd. S. 96. Constant von Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaisertums Österreich. Bd. 12. Wien 1864. S. 407. A.a.O. Nr.l. 4.April 1848. S. 19f. und Nr.3. 15.April 1848. S. 36f. - Vgl. Toury (Anm.84) S. 14.

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Ausdruck. Den im Habsburgerreich offenbar vergeblich auf Recht und Sicherheit harrenden Juden bleibe nun, „in der Stunde, die uns die Freiheit ins Land gebracht", nichts anderes übrig, als „dieser Freiheit aus dem Wege zu gehen" und in Übersee ihr Glück zu versuchen.104 Noch im selben Jahr starb Komperts Vater. Zwei unverheiratete Schwestern waren nun auf Leopold und seinen Bruder Moritz, der damals als Arzt in der Slowakei lebte,105 angewiesen. Kompert gab das Medizinstudium endgültig auf106 und übernahm im Juli 1849 aus den Händen Karl Becks die Redaktion des Feuilletons im „Österreichischen Lloyd", dem Sprachrohr des Handelsministers Bruck, in dem bereits seit Anfang des Jahres Artikel aus seiner Feder erschienen waren.107 Kompert plante, nach dem Vorbild von Auerbachs Gevattersmann, als Beilage zum „Lloyd" ein Volksblatt zu gründen. Zur Mitarbeit lud er neben anderen Betty Paoli ein, die er im Hause ihrer Freundin Henriette Wertheimer kennengelernt hatte.108 Nachdem sich dieser Plan zerschlagen hatte, gab Kompert die Redaktionstätigkeit bereits 1852 auf und nahm wieder einen Hofmeisterposten an, und zwar im Hause des preußischen Generalkonsuls Goldschmidt, des Prokuristen des Bankhauses Rothschild.109 Anfang März 1857 wurde Kompert für kurze Zeit Beamter der Creditanstalt. Am 8. März dieses Jahres heiratete er die 1821 als Marie Löwy geborene, wohlhabende Witwe Marie Pollak, die er, wie Betty Paoli, im Salon von Henriette Wertheimer kennengelernt hatte.110 Seither konnte sich Kompert, ungehindert von dem Zwang, einer reinen Erwerbsarbeit nachgehen zu müssen, seinen schriftstellerischen, pädagogischen und caritativen Neigungen widmen. Er wurde Vorstandsmitglied des Wiener Zweigvereins der Schillerstiftung und nach dem Tod seines Freundes Mosenthal sogar der zweite Präsident dieses Wohltätigkeitsvereins für in Not geratene Schriftsteller.111 Er gehörte viele Jahre dem Ehrengericht 104 105

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Österr. Central-Organ [...] Nr.6. 6.Mai 1848. S. 77f. und Nr.7. 13.Mai 1848. S. 89f. Margarita Pazi: Jüdisch-deutsche Schriftsteller in Böhmen im 19Jahrhundert. In: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte. Beiheft 4. Tel-Aviv 1982. S. 225. - Um 1860 war Moritz Kompert praktizierender Arzt in Warasdin. Neustadt (Anm.41) S. 355. Sein Doktorat war übrigens ein 1857 verliehenes philosophisches Ehrendoktorat der Universität Jena. Neustadt (Anm.41) S. 375. - Hock (Anm.40) S. XXXIX. Hock (Anm.40) S. XXVIII. Stefan Hock (Hrsg.): Briefe Betty Paolis an Leopold Kompert. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 18 (1908). S. 177. Die Antwort Betty Paolis, die erst ab 1852 wieder in Wien lebte, auf Komperts briefliche Einladung enthält ein gemäßigt liberales politisches Credo, das Komperts damaligen Anschauungen in politicis sehr ähnlich gewesen sein dürfte: .Jedes Bestreben, den neuen Einrichtungen eine andre als eine demokratische Basis zu geben, wäre eitel und erfolglos [...]. Je unvermeidlicher aber die Demokratie ist, um so wichtiger ist es auch, dafür zu sorgen, daß sie nicht zerstörend über uns hereinbreche; es handelt sich darum, ihr die Wege zu bereiten. Dieß kann auf keine Weise sicherer geschehen als durch Hebung des intellectuellen und moralischen Zustandes der untem Klassen." Ebd. S. 181. Neustadt (Anm.41) S. 374. - Hock (Anm.40) S. XXX. Hock (Anm.40) S. XXXVÜ. Hock (Anm.40) S. XXXIX.

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der Journalisten- und Schriftstellervereinigung „Concordia" an112 und wurde in den Vorstand der Wiener israelitischen Gemeinde gewählt. Besondere Verdienste erwarb er sich bei der Einführung der Jugendgottesdienste in den Synagogen in der Seitenstettengasse im ersten und in der Tempelgasse im zweiten Bezirk, die erstmals im November 1870 abgehalten wurden.113 In seiner Eigenschaft als Präsident der Schulsektion wurde er, gemäß dem neuen Statut für den Landesschulrat, das die Vertretung der einzelnen Konfessionen im Landesschulrat vorsah, im Herbst 1870 vom Vorstand der Kultusgemeinde in den Wiener Bezirksschulrat delegiert. Sechs Jahre später wurde er zum Landesschulrat für Niederösterreich ernannt.114 Kompert war einer der vier Vertreter der Wiener Gemeinde auf der „Zweiten Israelitischen Synode", die 1871 in Augsburg stattfand, und fungierte sogar als Vizepräsident des Kongresses, der sich mit der Stellung der Juden in der „modernen Welt" und mit der Reform der jüdischen Lebensweise und der religiösen Riten im Zeitalter der Emanzipation und Assimilation befaßte.115 Seine versöhnliche und moderate Haltung in allen seinen öffentlichen Funktionen wurde auch vom österreichischen Staat honoriert: Kompert wurde zum k.k. Regierungsrat und im Jahre 1868 zum Ritter des Franz JosefOrdens ernannt.116 1873 wurde er als Kandidat des Bürgervereins, also des gemäßigt liberalen Bürgertums, in den Wiener Gemeinderat gewählt, wo er allerdings kaum in Erscheinung trat. Im Februar 1881 legte er sein Mandat aus Gesundheitsgründen zurück, nachdem ein Jahr zuvor seine Funktionsdauer von der ersten Kurie des ersten Bezirkes bis 1883 verlängert worden war.117 Wenige Jahre nach seiner Verheiratung begann Kompert sich auch wieder journalistisch zu betätigen. 1860 trat er als Mitredakteur an die Seite Joseph Wertheimers, des Herausgebers des „Jahrbuchs für Israeliten".118 Im Jahr darauf wurde er der literarische Berater von Simon Szántó, des Herausgebers des neugegründeten repräsentativen Wochenblatts des liberalen Wiener Judentums,119 der „Neuzeit", die den Kampf für eine konstitutionell gesi112

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Julius Stern: Der Journalisten- und Schriftsteller-Verein Concordia 1859-1909. Eine Festschrift. Wien 1909. S. 56. G[erson] Wolf: Zur Culturgeschichte in Österreich-Ungarn (1848-1888). Wien 1888. S. 94f. G[erson] Wolf: Geschichte der Juden in Wien (1156-1876). Wien 1876 (Reprint 1974). S. 186. Wolfgang Häusler: „Orthodoxie" und „Reform" im Wiener Judentum in der Epoche des Hochliberalismus. In: Studia Judaica Austriaca VI (Eisenstadt 1978). S. 51. - Eine kurze Zusammenfassung der 1869 in Leipzig und 1871 in Augsburg gefaßten Synodalbeschlüsse findet sich in: Die Neuzeit 11 (Wien 1871). S. 497-500. Biographisches Lexikon der böhmischen Länder. Hrsg. Heribert Sturm. Bd.2. München 1984. S. 238. Brigitte Fiala: Der Wiener Gemeinderat in den Jahren 1879 bis 1883. Phil.Diss. Wien 1974. S. 256. Vgl. Toury (Anm.84) S. 37f. Häusler (Anm.115) S. 44.

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cherte politische Emanzipation auf ihre Fahnen schrieb. Szántó und Kompert hatten viel Verständnis für „die magyarisch-nationalen Bestrebungen unserer Brüder in Ungarn", lehnten aber die Ansprüche der galizischen Polen auf kulturelle und politische Autonomie und insbesondere den „tschechomanischen Eifer in Böhmen" strikt ab.120 Schließlich erstreckte sich Komperts journalistische Tätigkeit seit 1861 auch wieder auf die Zeitung des Österreichischen Lloyds: In diesem Jahr wurde er Feuilletonredakteur des nunmehr „Konstitutionelle Österreichische Zeitung" benannten Blattes.121 Die fünfziger und die erste Hälfte der sechziger Jahre waren auch die fruchtbarste Periode des Schriftstellers und Dichters Kompert. 1855 erschien in Berlin der Roman Am Pflug, in dem Kompert eine seiner Lieblingsideen - ein zeitgenössischer Rezensent meinte sogar, Kompert habe „eine fixe Idee [...], nämlich die vom jüdischen Bauern" 122 - , mit vielen ganz unwahrscheinlichen Situationen, breit auswälzt. Die meisten der 1860 (Neue Geschichten aus dem Ghetto) und 1865 (Geschichten einer Gasse) in Buchr form zusammengefaßten Erzählungen sind zuerst im .Jahrbuch für Israeliten" und in der Zeitschrift „Die Neuzeit" erschienen, sie richteten sich also zunächst an ein jüdisches Publikum.123 In seiner Funktion als Mitherausgeber des .Jahrbuchs für Israeliten" wurde der alles andere als konfliktfreudige Kompert 1863 in einen von klerikalen Antisemiten ins Rollen gebrachten Presse- und Religionsstörungsprozeß verwickelt. Im .Jahrbuch" für das Jahr 1864 erschien ein Artikel des angesehenen Professors am jüdisch-theologischen Seminar in Breslau Dr. Heinrich Graetz, in dem es um die Frage der Existenz eines persönlichen Messias geht. Auf Betreiben des katholischen Priesters und Redakteurs der „Wiener Kirchenzeitung", Albert Wiesinger, erhob der später als konservativer Politiker bekannt gewordene Staatsanwalt Dr. Lienbacher gegen Kompert Anklage wegen „Beleidigung einer gesetzlich anerkannten Religions-Genossenschaft" (sc. des „orthodoxen" Judentums!) und wegen Religionsstörung (in bezug auf das Christentum). Kompert hielt vor Gericht am 30. Dezember 1863 eine eindrucksvolle Rede, in der die .communis opinio' der liberalen Wiener Juden in Religionsdingen in wenigen Sätzen zusammengefaßt ist:

120 121 122

123

Toury (Anm.84) S. 41f. Hock (Anm.40) S. XL. Michael Klapp: Besprechung von „Neue Geschichten aus dem Ghetto". In: Ostdeutsche Post. Jg.12. Nr.41. 10.Februar 1860. Klapp fährt fort: „Bauern, die Riehl gelesen haben und Veiwel und sein Sohn thun so - sind am wenigsten Bauern. Wer nur im geringsten übrigens das jüdische Leben auf dem böhmischen Lande kennt, wird all' den Bauernstolz, den Kompert darstellt, für unwahr erklären. Wie kann man auch Liebe zu Grund und Boden bekommen, wo einem ein Ministerwechsel vielleicht denselben für immer nehmen kann. Verwachsen kann man immer nur mit etwas Traditionellem sein." Hock (Anm.40) S. XLI.

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Ich kenne keine orthodoxe Judenlehre. Es gibt kein Gesetz in Europa, das eine orthodoxe Judenlehre anerkennt, und ich muß mich ganz entschieden dagegen verwahren, daß man den Dr. Grätz als Verfasser des incriminirten Artikels und mich, den Herausgeber des Jahrbuches, als sogenannten „Reformjuden" hinstelle, umsomehr, da ein Blatt in Wien, das den Namen der Kirche an seiner Spitze trägt, den Juden im allgemeinen Mord, Betrug und Wucher in die Schuhe schiebt, die Reformjuden als Revolutionäre hinstellt. Es gibt keine orthodoxe Judenlehre, es gibt nur eine Judenlehre. Es gibt mehr oder minder fromme Juden, und allenfalls kleine Abänderungen in der Liturgie, aber die Basis ist allen Juden gemeinschaftlich.124

Da sich die von der Verteidigung aufgebotenen Zeugen, der Prediger Isak Noa Mannheimer und der Rabbiner Lazar Horwitz, der Aussage Komperts anschlossen und an dem inkriminierten Artikel nichts Anstößiges finden konnten, wurde Kompert von der Anklage wegen Beleidigung der jüdischen Kirche (!) freigesprochen, jedoch wegen „Religionsstörung" (Außerachtlassung der pflichtgemäßen journalistischen Obsorge) zu einer Geldstrafe von 40 Gulden verurteilt.125 Wie zurückhaltend Kompert vor Gericht agierte, zeigt seine Beurteilung durch Albert Wiesinger in der „Wiener Kirchenzeitung" (Jänner 1864): „Sein Benehmen während der ganzen Schlußverhandlung war sehr taktvoll."126 Derselbe Wiesinger führte den Kampf von Sebastian Brunner, des Gründers der „Wiener Kirchenzeitung", dem er 1861 nachgefolgt war, gegen „PreßJudenthum" und „Geldsack-Judenthum" erbittert fort127 und begann 1865, die bisher verstreut in der„Kirchenzeitung" erscheinenden judenfeindlichen Notizen und Nachrichten zu einer Artikelfolge unter dem Titel Ghetto-Geschichten zusammenzufassen. Diese pervertierten „Ghettogeschichten", in denen Wiesinger bis zur Kolportierung von Ritualmordgeschichten herabstieg, erschienen von nun an viele Jahre in der Beilage der „Kirchenzeitung".12« Judenhaß und Antisemitismus werden in Komperts Werk übrigens sehr selten thematisiert. Kompert integrierte sich nach 1848 ganz in die großbürgerliche literarische Gesellschaft Wiens, so daß eine Auswanderung nach Amerika - sollte der Gedanke jemals ganz ernst gemeint gewesen sein nun jedenfalls nicht mehr zur Debatte stand. Er scheint gehofft zu haben, der atavistische Judenhaß werde im Zuge der Assimilation von selbst aussterben. Nur in seinem nach dem den Antisemitismus gewaltig anheizenden Börsenkrach von 1873 erschienenen Roman Zwischen Ruinen schildert er 124 125 126

127

128

Zit. nach: Die Presse. Jg.16. Nr.358. 31 .Dezember 1863. Ebd. Zit. nach Otto Schiller: Albert Wiesinger. Pionier und Nestor der katholischen Journalistik Österreichs. Phil.Diss. Wien 1952. S. 51. Richard Charmatz: Österreichs innere Geschichte von 1848 bis 1907. Bd.l. Leipzig M911. S. 126f. - Georg Franz: Liberalismus. Die deutschliberale Bewegung in der habsburgischen Monarchie. München 1955. S. 418 mit Anm.2. Schiller (Anm.126) S. 65f. (Antisemitisch!)

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den wachsenden und in einen antisemitischen Krawall mit Brandstiftung und Beinahe-Totschlag mündenden Unmut der tschechischen Arbeiter in der Textilfabrik des Juden Jonathan Falk. Die Pogromstimmung unter den Tschechen (nicht nur unter den Arbeitern) wird von drei archetypischen Judenfeinden geschürt: von einem jungen Studenten, von einem „tückischen" Schmiedegesellen und von einem katholischen Priester. Während die führenden Persönlichkeiten des böhmischen Judentums die gewalttätigen antisemitischen Ausschreitungen in Prag und Böhmen in den sechziger Jahren vorsichtig abwartend beobachteten und Kurandas „Ostdeutsche Post" immerhin auf die Sozialrevolutionäre Komponente der Unruhen einging (es waren sowohl tschechische als auch deutsche Arbeiter beteiligt!), gab die von Kompert redigierte „Neuzeit" mit eindeutig antitschechischer Stoßrichtung den empörten Gefühlen des jüdischen Großbürgertums der Reichshauptstadt unverhüllten Ausdruck. Sie nannte die Ausschreitungen „Exzesse tschechischer Kultur", sprach von der „scheußlichen Volksbewegung" in den „fanatisch tschechischen Kreisen Böhmens" und ging dann zu einer undifferenzierten Herabsetzung der Tschechen über.129 Viele der verwendeten beleidigenden Phrasen scheinen mit Komperts Charakter so gut wie unvereinbar zu sein, doch er deckte sie jedenfalls durch seine Herausgeberschaft. Als, geschürt durch die deutschnationale und christlichsoziale Propaganda, der Antisemitismus in den achtziger Jahren auch in den habsburgischen Kernländern zu einer politischen Massenbewegung wurde, trat Kompert nicht mehr offen dagegen auf - „er war schon zu krank dazu", schreibt Franzos, „wohl auch zu stolz, vielleicht auch nicht Kämpfernatur genug".' 30 Am 2. Juli 1880 schrieb Kompert resigniert an Franzos: „Ich bin ein verträumter .Vormärzlicher', mit welchem nichts mehr anzufangen ist."131 Betty Paoli, die dem Freund 1882 zum vierzigjährigen Schriftsteller-Jubiläum ein Sonett widmete, sprach dem vom wieder aufflackernden Judenhaß tief beunruhigten Kompert in der letzten Strophe Trost zu:132 Scheint sich der Himmel jetzt auch zu umgrauen, Getrost! Es siegt das Recht, es siegt das Wahre, Und Du wirst leben, seinen Tag zu schauen. Schon viereinhalb Jahre später war es dann Komperts Tod, der Betty Paoli ein weiteres Sonett diktierte, dessen erste zwei Strophen Werk und Charakter des Toten kurz und treffend umreißen:133

129 130 131 132 133

Stölzl II (Anm.32) S. 157. Franzos (Anm.50) S. 2. Wiener Stadt- und Landesbibliothek. Handschriftensammlung. I.N. 63.820. Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 18 (1908) S. 208. Ebd. S. 209.

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Als treuen Kämpfer sah'n wir Dich bemüht, Dein Volk, ein Ziel dem Haß, dem gift'gen Hohne, Zu lösen aus zweitausendjähr'ger Frohne Kein and'res Streben hat Dein Herz durchglüht. Die Dichtergabe, still in Dir erblüht, Der Welt zur Freude und Dir selbst zum Lohne, Sie wurzelte in der Empfindung Zone, Ihr Urquell war Dein liebevoll Gemüth.

3.

„Verklärte" Kompert das böhmische Ghetto?

Abschließend soll nun noch kurz auf die Frage eingegangen werden, wie adäquat (,realistisch") Kompert das Leben und die Probleme der böhmischen Dorf- und Kleinstadtjuden seiner Zeit in seinem erzählerischen Werk dargestellt hat und wer seine Leser gewesen sind. Das Bild des böhmischen, konkret des Münchengrätzer Ghettos, insbesondere aber der Welt der Dorfjuden im Werk Komperts ist geprägt von Heimweh und von der Sehnsucht des Autors nach der Geborgenheit seiner Kindheit,134 die in den Reflexionen, die den Gang der Handlung häufig unterbrechen, sogar ausdrücklich zu Wort kommen. So heißt es etwa anläßlich der Schilderung des Sabbatfriedens, der übrigens von dem härteren und .realistischeren" Franzos kaum weniger mythisiert wurde,135 in Die Kinder des Randars·. Gute Rachel, guter Rebb Schmul! Noch jetzt, nach so vielen Jahren, wenn ihr an meinem innern Gesichte vorüberzieht, ist es mir jedesmal, als legte der Sabbat seine geheimnisreichen Fittiche an meine Brust, und es wird Friede in ihr, wenn sie auch noch so durchstürmt war.13*

Dem nicht zuletzt durch die Bedrohungen und Anfeindungen von außen geförderten Zusammengehörigkeitsgefühl der Ghettobewohner, von Kompert durch den Begriff „jüdisch' Herz" charakterisiert, bringt der assimilierte, aber etwas wehmütig zurückblickende Autor in der Erzählung Die Seelenfängerin137 folgende Laudatio dar: 134

135 136 137

Diesen Umstand erkannte schon der bekannte Berliner Philologe und Philosoph Heymann Steinthal in seinem Nachruf auf Kompert und verband damit auch seine Kritik: „Wer in Kompert's Sinne die Juden aus dem Geistes-Ghetto erlösen, das Ghetto tendentiös schildern wollte, der hätte dasselbe realistisch nach modernstem französischem Rezept darstellen müssen, und durfte nicht Lust erwecken, in dasselbe zurückzukehren oder darin zu bleiben. Was also führte Kompert's Feder? - Dankbarkeit! Die Liebe des jüdischen Sohnes zu seiner jüdischen Mutter, der Ghetto-Gasse. Diese führte seine Feder, weil sie seinem Geiste den Ort der Kindheit vom hellsten Sonnenlicht umwoben zeigte." Prof. Steinthal in Berlin über Dr. Leopold Kompert. In: Die Neuzeit 26 (Wien 1886) S. 499. Z.B. in „Der Shylock von Bamow". Kompert: SW. Bd.l. S. 80. Zuerst erschienen in dem von Paul Aloys Klar in Prag herausgegebenen Jahrbuch „Libussa" 19 (1860).

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Thomas Winkelbauer Dieses Herz ist eine geschichtliche Überlieferung - wer an dasselbe einen Anspruch erhebt, will damit sagen: Vergiß nicht! Sei eingedenk dessen, was deine, was meine Väter miteinander erlebt, gelitten, wie sie sich gefreut und wieder geweint haben! Es ist der Ausdruck der stärksten Zusammengehörigkeit, der geheimnisvolle Zug mitfühlender Teilnahme des einzelnen fiir das Geschick seines Bruders - was die „Gasse" ist und wie sie sich immer darstellt, ohne jenes „Herz" wäre sie ein ganz anderes. Wir hätten wahrscheinlich nichts von ihr zu berichten! 138

Kompert hat aber das „real existierende" Ghetto Böhmens, das sich ja schon, als er sich literarisch mit ihm zu beschäftigen begann, im Zustand der fortschreitenden Auflösung befand, keineswegs konsequent idealisiert oder gar idyllisiert. Sonst hätte er sich schließlich seine Lieblingsthemen - die Aufforderung an die Ghettobewohner, sich dem Ackerbau und dem Handwerk zuzuwenden und die Problematik der Mischehe bzw. der Liebe zwischen Christen und Juden - sparen können. Der Sohn des Randars in Die Kinder des Randars beispielsweise empfindet bei der Rückkehr vom Dorf in das Jungbunzlauer Ghetto Unbehagen, das Ghetto kommt ihm „wie ein dumpfes Grab vor. Er konnte sich lange nicht hineinfinden. Gegenüber dieser hastigen Beweglichkeit, diesem Schreien, Feilschen und Schachern, tauchte die Ruhe seines Heimatdorfes wie eine Insel der Seligen auf."139 In Schlemiel schildert Kompert nicht zuletzt den Terror der „öffentlichen Meinung" des Münchengrätzer Ghettos gegen die aus dem Ghetto von Kolin stammende Esther, die manche ihr unbekannte ungeschriebene Gesetze verletzt, wie auch gegen ihren Mann, den „Schlemiel" Anschel Gloser.140 In der frühen ethnographischen Studie Die „Schnorrer" wird das Elend der, zum Teil in Begleitung von Frau und Kindern, Böhmen durchstreifenden polnischen und ungarischen „Schnorrer" durchaus „realistisch" beschrieben.141 Dennoch ist mit Franzos festzuhalten: „Es ist unleugbar, daß das jüdische Leben in Komperts Darstellung leichter erscheint, als es tatsächlich ist [...]." Das war aber „kein Ergebnis berechnender Tendenz, sondern seines künstlerischen Naturells, seines Gemüts, seiner Eigenart als Mensch; er konnte kein hartes Wort sagen, kein verdammendes Urteil sprechen; das Schlechte bereitete ihm geradezu eine seelische Pein [,..]."142 Komperts große Prosawerke Am Pflug (1855) und Zwischen Ruinen (1875) knüpfen an aktuelle Fragen der Gesetzgebung an - an die Diskussionen 138 139

140 141 142

Kompert: SW. Bd.5. S. 60. Kompert: SW. Bd.l. S. 130f. - Zu den böhmischen „Randaren" des Vormärz sei bemerkt, daß sie nicht nur Pächter herrschaftlicher Gewerbebetriebe waren, sondern daneben auch von der Herrschaft gepachtete Äcker und Wiesen bewirtschafteten. Infolge der gesetzlichen Hindemisse, die einer Ortsveränderung im Wege standen, waren die Randarsfamilien häufig „bereits ein Jahrhundert in dem betreffwiden tschechischen Dorf' ansässig „und auf ihre spezifische Art mit ihm verwachsen". Kestenberg-Gladstein (Anm.4) S. 7. Anm.31. Kompert: SW. Bd.l. S. 46-75. Ebd. Bd.10. S. 86ff. Franzos (Anm.50) S. 3.

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über das 1853 stark eingeschränkte Recht der Juden, Grundbesitz zu erwerben, bzw. an die 1868 eingeführte Möglichkeit einer konfessionslosen sog. „Notzivilehe".143 Kompert griff also mit seinen Romanen auch in die Tagespolitik ein. Den Antrieb dazu bezog er nicht zuletzt aus seinem stark vom Josefinismus geprägten pädagogischen Impetus. Kompert war sich im klaren darüber, wie schwer es sei, die von ihm geforderte soziale Assimilation mit der Bewahrung der traditionellen jüdischen Lebensweise zu vereinbaren bzw. zu definieren, was von dieser Lebensweise unverzichtbar sei und was nicht. Franzos, von dem Kompert in einem Brief 1882 schrieb, daß er ihn „gewissermaßen als meinen Sohn betrachte und liebe",144 und der den reifen Kompert wohl besser kannte als irgend jemand anderer, der seine Erinnerungen an ihn niederschrieb, meinte, es sei ihm „die Beseitigung nicht blos des äußeren, sondern auch des inneren Ghetto" am Herzen gelegen. „Daß es mit der bloßen Emanzipation nicht getan sei, daß auch das Judentum zu diesem Zwecke Vieles aufgeben müsse, war ihm stets klar; über das Ausmaß dessen, was es aufzugeben hatte, dachte er in verschiedenen Phasen seiner Entwicklung anders, und zwar von Jahr zu Jahr freier und menschlicher."145 Der freisinnige, aber judenfeindliche Brandeiser Arzt in dem Roman Am Pflug sagt zu der im Ghetto aufgewachsenen, im christlichen Bauerndorf todunglücklichen Nachime: Die neue Freiheit wird Sie um das Judentum bringen. Ihre Leute, die jetzt alles werden können, Advokaten, Beamte, Minister, Bauern, werden sich von einer Religion nicht genieren lassen, die ihnen mehr als einen Riegel vorschiebt. Als gescheite Leute, die nichts unternehmen, was nicht einen gewissen Zweck hat, werden sie sich bald fragen: Ist es ein besseres Geschäft, wenn wir unsere alte Religion beibehalten, die bei aller Freiheit so viel Unbequemes hat, oder wenn wir es so machen? 146

Anschel, der Sohn Nachimes, gibt 100 Seiten später die Antwort: Dafür sind wir ja Juden und gehören alle zu einem Volk, daß wir tun und halten, was die andern alle tun und halten. [...] Was wär' denn das für eine Kunst, Bauer zu werden, wenn man gleich aufhören will, ein Jude zu sein? Bauer sein und ein Jud' dabei, das ist die Kunst.147

Die Novelle Die Seelenfängerin ist eine Parabel auf die psychischen Kämpfe der sich assimilierenden und aus dem Ghetto emanzipierenden Juden. Die Kinder des reichen Ghettojuden Ruben Schönmann werden areligiös und 143

144 145 146 147

Am 9. Dezember 1874 schrieb Kompert in einem Brief an Wurzbach, Anfang des nächsten Jahres erscheine von ihm „ein neues Buch .Zwischen Ruinen', die Geschichte einer confessionslosen Ehe". Wiener Stadt- und Landesbibliothek. Handschriftensammlung. I.N. 170.084. Wie vorige Anm. I.N. 63.821. Franzos (Anm. 50). S. 3f. Kompert: SW. Bd. 3. S. 157. Ebd. S. 269.

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westlich-weltlich erzogen. Der Sohn Rubens stirbt an dem Identitätskonflikt, als er plötzlich mit der unbekannten Welt des orthodoxen Judentums konfrontiert wird. Ruben verläßt daraufhin das Ghetto und seine Familie. In dem Abschiedsbrief an seine in der „Gasse" zurückbleibende Frau schreibt er, indem er die von zahllosen Geboten reglementierte traditionelle jüdische Lebensweise mit einer sinnlosen Bürde vergleicht: „Dein ,Das darf man und das darf man nicht!' hängt an dir wie eine Zentnerlast... und hält dich in der .Gasse'."148 Der einer assimilierten mährischen Familie entstammenden Bella in Zwischen Ruinen kommt das orthodoxe Judentum ihres Mannes Jonathan vor wie die eisernen Kugeln der Sträflinge. Warum wartet man nicht, bis das Kind von selbst kommt und sagt: Ich will eine Religion oder ich will auch keine. Vielleicht sagt es dann auch: Ich will alle Religionen, und das Beste davon will ich für mich behalten. [...] Soll denn die eiserne Kugel ewig nachgeschleppt werden?149

Die Christin Dorothea hingegen versucht, den Geboten beider Religionen gerecht zu werden - so weigert sie sich zum Beispiel, am Sabbat zu fahren; weil der ihrer Obhut anvertraute kleine Bernhard sonst gegen ein Gebot seiner Religion, des Judentums, verstoßen würde. Seit das Kind bei mir ist, hat es niemals gehört, daß sein Sabbat nicht auch mein Sabbat und mein Sonntag nicht auch sein Sonntag ist. 150

Kompert geht es in den genannten Werken insbesondere um die Vermittlung seiner Überzeugung, daß, allen gesetzlichen Schwierigkeiten zum Trotz, eine Ehe zwischen einem „frommen" Juden und einer „frommen" Christin alle Aussichten auf Gelingen besitze, während eine Ehe zwischen einem religiösen Juden und einer der Religion gleichgültig gegenüberstehenden Jüdin zum Scheitern verurteilt sei.151

4.

Komperts Publikum

Die Frage nach Komperts Publikum impliziert vor allem die Frage, ob er zu Lebzeiten mehr von assimilierten Juden oder mehr von Christen bzw. Nichtjuden gelesen worden ist. Heymann Steinthal meinte dazu in seinem Kompert gewidmeten Nachruf: „Er hatte ursprünglich gar nicht die Hoffnung, 148 149 150 151

Ebd. SW. Bd. 5. S. 90. Kompeit: SW. Bd. 6. S. 55. Ebd. Bd. 7. S. 71. Vgl. etwa Johannes Baita: Jüdische Familienerziehung. Zürich 1974. S. 133: J n Mitteleuropa bestand [in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; Th.W.] kein so grosser Unterschied zwischen einem modernen Juden und einem Nichtjuden wie zwischen einem liberalen und einem orthodoxen Juden. Das gilt freilich nur aus jüdischer Sicht." „Mischehen" zwischen orthodoxen und assimilienen Juden waren freilich in der Praxis so gut wie ausgeschlossen. Vgl. ebd. S. 62.

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auch von anderen als Juden gelesen zu werden. Ich vermuthe jetzt, daß er in der That weniger von Juden gelesen worden ist."152 Gerson Wolf, der Wiener Korrespondent von Ludwig Philippsons „Allgemeiner Zeitung des Judentums", hatte sich 1882 in einem Artikel aus Anlaß von Komperts 60. Geburtstag auf keine Quantifizierungen eingelassen, hatte jedoch betont, daß die Erzählungen Komperts „auf Nichtjuden [...] einen besondern Reiz" ausübten und sie „um so mehr" fesselten, „da sie keine Ahnung von dem höheren idealen Leben unter den Juden hatten. Sie hatten bis dahin mit dem Begriffe Jude die abfalligsten Vorstellungen verbunden, und nun erkannten sie, daß die Juden denn doch etwas Anderes seien, als sie gedacht hatten."153 Kompert selbst dürfte schon bei Aus dem Ghetto, wie Stefan Hock bemerkt hat, „als Leser [·..] zunächst an Nichtjuden gedacht" haben, „denen Bräuche und Redensarten erläutert werden".154 Schon die Tatsache, daß in Komperts Werken auf Schritt und Tritt der Name Gottes - ohne Umschreibung - begegnet, könnte ein Indiz dafür sein, daß Kompert nicht in erster Linie für Juden geschrieben hat. Dagegen spricht allerdings, daß die einzelnen Erzählungen von Neue Geschichten aus dem Ghetto (1860) und Geschichten einer Gasse (1865) großteils zuerst in der „Neuzeit" und im .Jahrbuch für Israeliten" erschienen sind, also ursprünglich für jüdische Leser geschrieben wurden. Durch die zweifellos von vornherein intendierte Buchpublikation freilich richteten sie sich dann an ein größeres Publikum. Im Unterschied besonders zu Aron Bernstein, der für einen jüdischen Leserkreis schrieb, wandten sich sowohl Kompert wie Franzos auch an assimilierte Juden und an Christen.155 Mina Schiffmann ist zuzustimmen, die betont hat, die Autoren der Ghettogeschichten hätten sich mit wenigen Ausnahmen an die feindliche - d.i. christliche - Außenwelt gewandt, „um ihr Vorurteil zu bekämpfen, um ihr die Menschlichkeit der von ihr Verfolgten vor Augen zu führen, um zu beweisen, daß sie vielfach an ihrem Schicksal unschuldiger sind als die Verfolger".154 In dem 1864 verfaßten Vorwort zu Geschichten einer Gasse hat Kompert unmißverständlich betont, daß er für das „deutsche Volk" geschrieben habe, dem er sich selbst zugehörig fühlte: 152

153

154 155 156

Steinthal (Amn.134) S. 499. - Margarita Pazi hingegen, die derzeit wohl beste KompertKennerin, ist der Ansicht, Kompert habe „fast nur jüdisches Publikum" gehabt. Pazi (Anm.105) S. 257. Zit. nach Hans Otto Horch: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" (1837-1922). Frankfurt/M.-Bem-New York 1985 (Literarhistorische Untersuchungen 1). S. 147. - Anläßlich des Erscheinens von Komperts erstem Sammelband („Aus dem Ghetto", 1848), der in der AZJ als „Kleinod unserer Literatur" gefeiert wurde, hatte der Herausgeber Philippson noch gemeint, der Autor der Ghettogeschichten müsse sich mit dem kleinen jüdischen Leserkreis begnügen und könne nicht, wie der Modeautor Auerbach, mit einem Massenpublikum rechnen. Ebd. S. 146. Hock (Anm.40) S. XXIV. Mina Schiffmann: Die deutsche Ghettogeschichte. Phil.Diss. Wien o.J. (1931) S. 171. Ebd. S. 167.

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Und wenn man mich nun fragt: Wie kommt es, daß Du noch immer den alten Standpunkt einnimmst? Hat das deutsche Volk in seinem ausgleichenden Gerechtigkeitsgefühle diese „Gasse" nicht geschlossen? hat es nicht im Schöße seiner Städte und Weiler Raum geschaffen, damit es den Bewohnern jener dumpfen Gegenden an Luft, Licht und Sonnenschein nicht gebreche? ... so sage ich hierauf: Eben dem deutschen Volke schrieb ich zu Dank, und wenn jemals eine Stimme der Anerkennung oder gerechten Tadels mich tief ergriffen hat, so war es jene, die mir jüngst nachrühmte, ich hätte die Welt der „Gasse" für die deutsche Literatur erobert. Ja! ich wiederhole es, dem deutschen Volke sollen diese Geschichten erzählen, was diese „Gasse" einst an Leid und Freud', an Drangsal und Aufrichtung umschloß; ihre Gestalten und Naturen, so treu wiedergegeben, als ich es vermochte, sollen darthun, unter welchen Kämpfen und Wehen das Licht des Morgens nach so langer Nacht für sie angebrochen ist; mit welchen Gefühlen, Anschauungen, Widersprüchen und Dissonanzen sie hart an der Schwelle stehen, die in das Thor der Gegenwart führt, einer Verjüngung entgegen, deren letztes Ergebniß noch nicht abzusehen ist.157 Eineinhalb Jahre vor dem zitierten Vorwort, im Januar 1863, schrieb Kompert in einem seiner wenigen Gedichte (Der deutsche Jude zur Mendelssohnfeier) in der euphorischen Stimmung des deutschliberalen Juden, der das Morgenrot der vollständigen und endgültigen Emanzipation leuchten zu sehen vermeinte:158 Sprecht nicht mehr von des Orients fremdem Sohn Und höhnt nicht mehr das träum'rische Zion! Ein Deutscher bin ich, will ein Deutscher heißen! [...] Es schrieb mir Mendelssohn die deutsche Bibel. Kompert, der sich selbst als Juden und Deutschen identifizierte, war sich völlig im klaren darüber, daß diese doppelte Identität als böhmischer Jude und Deutscher von den deutschen Antisemiten abgelehnt und von den tschechischen Nationalisten zum Anlaß heftiger Angriffe auf die böhmischen Juden genommen wurde. In Böhmen und anderen gemischtnationalen Gebieten der Monarchie waren die nationale, die soziale und die jüdische Frage engstens miteinander verflochten.159 Bereits 1843 meinte ein anonymer Autor in der Leipziger Wochenzeitschrift „Der Orient", alle Juden Böhmens und Mährens stünden vor der Alternative, sich entweder an die Tschechen oder an die Deutschen zu assimilieren, und formulierte das Dilemma prägnant mit der Frage: „was sollen wir inter Charybdem et Scyllam machen?"160 Ganz ähnliche Worte legte dreißig Jahre später Kompert dem 157 158 159

160

Leopold Kompert: Geschichten einer Gasse. Novellen. Bd.l. Berlin 1865. Vorwort. Kompert: SW. Bd.10. S. 21f. Michael A. Riff: Jüdische Schriftsteller und das Dilemma der Assimilaüon im Böhmischen Vormärz. In: Juden im Vormärz und in der Revolution von 1848. Hrsg. Walter Grab und Julius H. Schoeps. Stuttgart-Bonn 1983. S. 58. Zit. nach ebd. S. 65. - Vgl. auch Eduard Goldstücker: Jews between Czechs and Germans around 1848. In: Year Book of the Leo Baeck Insütute 17 (1972) S. 61-71. - Ruth

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tschechischen Schmied Jaroslaw Patek in dem Roman Zwischen Ruinen in den Mund: „Tschechen gegen Deutsche und Deutsche gegen Tschechen, und wenn Leute aus Jonathans [= des jüdischen Fabriksbesitzers; Th.W.] Volk zwischen sie kommen, werden sie von beiden erdrückt!"161 Kompert hat sich, was bei seiner starken Prägung durch den Josefinismus und durch die deutsche Literatur nicht verwunderlich ist, als deutscher Jude böhmischer Herkunft gefühlt. Die wenigen ausgesprochenen Antisemiten in seinem Werk sind stets nationalistische Tschechen, bei denen die Judenfeindschaft mit dem Deutschenhaß Hand in Hand geht. Der Bauernsohn Honza, der mit dem Randarssohn Moritz gemeinsam das Jungbunzlauer Piaristengymnasium besucht, faßt die Ansichten der antisemitischen Tschechen über die Dorfjuden in dem Satz zusammen: „[...] dein Vater ist ein Blutigel, der das Blut des ganzen Dorfes aussagt."162 Der konskribierte Schustergeselle Waclav Jaresch sagt haßerfüllt zu seinem jüdischen Kompaniekameraden Markus Spitz: „Ich geb' keinem Juden Antwort.'"63 Mit diesen Hinweisen soll natürlich keineswegs gesagt werden, Kompert sei ein Tschechenhasser gewesen. Vielmehr reflektiert sein Werk in diesem Punkt die Realität des mit sozialen Konflikten verknüpften Nationalitätenstreits in Böhmen, in dem die Juden zumindest bis in die achtziger und neunziger Jahre den Tschechen als Deutsche bzw. als deutsche Parteigänger erscheinen mußten. Daß Kompert nicht mit nationalen Klischees hantiert hat, beweisen zwei Gestalten des Romans Zwischen Ruinen: Eine der sympathischsten Figuren des Buches ist der dem tschechischen Mob unter Lebensgefahr entgegentretende tschechische Dorfschmied, die dämonischste Gestalt hingegen ist der fanatisch tschechisch-nationale Kaplan, der ein gebürtiger Dèutscher, also in gewissem Sinne ein Renegat ist. Gegen Ende seines Lebens wurde Kompert angesichts des neuen Antisemitismus der Alldeutschen und der Christlichsozialen schmerzlich bewußt, daß 1848/49 und 1867/68 nur die sichtbaren Ghettomauern gefallen waren und daß die Juden in der Habsburgermonarchie weiterhin in einem auf den ersten Blick unsichtbaren Ghetto lebten, so daß Theodor Herzl den Helden seines Dramas Das neue Ghetto (1894) mit dem Ruf: „Ich will hinaus, hinaus aus dem Ghetto!" sterben lassen konnte, Worte, die man sich gut auch als die letzten Komperts vorstellen könnte.

161 162 163

Gladstein-Kestenberg: Identifikation der Prager Juden vor und während der Assimilation. In: Die Juden in den böhmischen Ländern (Anm.34) S. 161-200. - Wilma Iggers: Juden zwischen Tschechen und Deutschen. In: Zeitschrift für Ostforschung 37 (1988) S. 428441. Kompert: SW. Bd.7. S. 55. Ebd. Bd.l. S. 170. Ebd. Bd.9. S. 46.

Margarita Pazi (Tel-Aviv)

Karl Emil Franzos' Assimilationsvorstellung und Assimilationserfahrung

„Aus den Juden gute und nützliche Staatsbürger zu machen, ist nicht bloß ein Gebot der Menschlichkeit oder der Gerechtigkeit, sondern noch weit mehr ein Gebot der Staatsklugheit", schreibt Karl Emil Franzos 1876 in seinem Vorwort zu dem Band Aus Halb-Asien. Die Juden, die hier gemeint sind und die in den Erzählungen, Romanen und Kulturbildem Franzos' dargestellt werden, leben hauptsächlich in den , Stetlach' Südostgaliziens. Auch Franzos selbst kam aus dieser Gegend. 1848 in Czortkow geboren, lebte er in diesem „Kotstädtchen", wie er es später nennen sollte, bis zu seinem elften Lebensjahr. In seiner autobiographischen Darstellung Mein Erstlingswerk schildert er 1894 seine Kindheit folgendermaßen: von seinem Vater, dem in Galizien geborenen und in Wien erzogenen k.k. Bezirksarzt Dr.Heinrich Franzos „zum freiheitlichen Deutschen, der lediglich aus Pflichtgefühl Jude bleiben sollte", erzogen, besuchte er die Klosterschule der Dominikaner; sein Lehrer für Hebräisch war [...] der einzige meiner Czortkower Glaubensgenossen, mit dem ich bis in mein zehntes Jahr in nähere Berührung kam [...]. Ich betrat selten ein jüdisches Haus, nie die Synagoge. Religiöse Bräuche sowie die Speisegesetze wurden im elterlichen Hause nicht gehalten. Ich wuchs wie auf einer Insel auf. Von meinen Mitschülern schieden mich Glaube und Sprache, und genau dasselbe schied mich von den jüdischen Knaben. [...]

Wie Franzos im weiteren zugibt, hatte er „viel Begeisterung für das Judentum, aber einen sehr dürftigen Einblick in das reale Leben um mich her."1 Diesen Einblick gewann er, wieder nach seinen eigenen Aussagen, erst in Czemowitz. Nach dem Tod des Vaters im Jahre 1859 übersiedelte die Mutter mit Karl Emil und seinen beiden älteren Schwestern nach Czemowitz, und dort absolvierte er das Gymnasium und legte am 3.August 1867 als Primus seiner Klasse die Reifeprüfung ab. Anschließend besuchte er mit der Mutter seinen in Odessa lebenden mütterlichen Großvater, Abraham Klarfeld, einen auch weltlich gebildeten Geschäftsmann; auch ein Besuch in Czortkow, Vgl. dazu Karl Emil Franzos: Ein Vorwort. In: Allgemeine Zeitung des Judentums 58 (1894) S. 259-261, 271-274, 282-284, 294f. Dass, auch in Franzos (Hrsg.): Die Geschichte des Erstlingswerks. Berlin 1894. S. 213-240; außerdem als Vorwort zu Franzos: Der Pojaz. Stuttgart 1905.

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am Grab des Vaters, ist bekannt. Weitere Reisen in den Osten, in den Teil der Monarchie, der zum Schauplatz seiner dichterischen Darstellungen werden sollte, erfolgten erst seit den späten 70er Jahren zu Vortragsreisen oder im Rahmen seiner Tätigkeit in jüdischen Wohlfahrtsvereinen. Wie weitgehend Franzos' Ghettoschilderungen also von außen gesehene Lebensformen sind, wird noch erörtert werden; er selbst, wie er in dem Vorwort zu Die Juden von Barnow (1876) und auch in späteren Aufzeichnungen hervorhebt, war anderer Meinung. Aus dem „Bedürfniß, künstlerisch zu gestalten", entsprang seine literarische Tätigkeit Ich wollte Novellen schreiben und rang danach, ihnen poetischen Werth zu geben. Aber gerade zu diesem Zwecke schien es mir nothwendig, ein Leben zu wählen, welches ich auf das Genaueste kannte. Bezüglich des podolischen Judentums war dieß der Fall [...].

Die vielleicht schärfste Widerlegung dieser Behauptung kam von einem Autor, der das gleiche Genre darstellte, von Sacher-Masoch. 1884 nahm Sacher-Masoch die Rezension von Elisa Orzesckos Roman Meir Esofowicz zum Anlaß, darauf hinzuweisen, daß die „Unwahrheit, Schwäche und Tendenzmacherei" der Franzos'schen Darstellungen aus dem polnisch-jüdischen Leben „noch niemals [...] in dieser vernichtenden Weise bloßgelegt worden" sei wie in diesem Roman. 2 Und Sacher-Masoch gibt auch eine Antwort auf die selbstgestellte Frage, warum „der polnische Jude Franzos die polnischen Juden nicht kennt": Weil die Christin [die Autorin] im polnisch-jüdischen Hause ein willkommener Gast ist, [...], während dem von klein auf christlich erzogenen Juden Franzos jedes wahrhaft jüdische Haus in Polen verschlossen blieb [...].

Wohl basierten auch Sacher-Masochs literarische Schilderungen dieses Lebens nicht auf persönlichen Erfahrungen und Kenntnissen, er hatte dies aber auch nie behauptet. Von jüdischen Autoren, die den gleichen Themenkreis gewählt hatten, wurden keine ausgesprochen kritischen Stimmen laut. Berthold Auerbach, Leopold Kompert, Aron Bernstein, die in ihren Darstellungen aus eigener Kenntnis schöpften, standen Franzos' Werk positiv gegenüber. Franzos hatte Die Juden von Barnow in gewissem Sinn ein „streitbares Buch" genannt (IX), und bereits im Vorwort zu seinem ersten Buch über diesen Themenkreis, auf dem sein Ruhm als Autor der Ghetto- und ethno2

Leopold von Sacher-Masoch: Ein polnischer Roman. In: Auf der Höhe Bd 13 (Leipzig 1884) S. 458 ff. Eine persönliche Verbindung gab es anscheinend zwischen diesen beiden Autoren nicht, und in der Korrespondenz befinden sich nur zwei Briefe: eine Einladung Sacher-Masochs vom 19.August 1881, an der von ihm gegründeten Zeitschrift .Auf der Höhe" mitzuarbeiten, und die Antwort Franzos' vom 25 .August, in der er bedauert, dies aus vertraglichen Gründen nicht tun zu können. Dazu auch Andrea Wodenegg: Das Bild der Juden Osteuropas. Ein Beitrag zur komparatistischen Imagologie an Textbeispielen von Karl Emil Franzos und Leopold von Sacher-Masoch. Frankfurt am Main, Bern, New York 1987. (= Europäische Hochschulschriften Reihe I Bd 927).

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graphischen Erzählung fußt, zu Aus Halb-Asien (1876), glaubte Franzos mit vollem Recht fordern zu dürfen: daß meine Stimme gehört werde als die eines vorurteillosen Beobachters, welcher die geschilderten Länder kennt und ihr Bestes will. Dies erhoffe ich jedoch nur von meinen deutschen Landsleuten [...]. (S. VI)

Hier führt Franzos besonders an, daß ,.Polen, Russen und Rumänen" seine Darstellungen „grimmig befehdet" hätten. Auffallend ist die ausgesparte jüdische Reaktion. Nun konnte auch nicht von einer einheitlichen jüdischen Reaktion gesprochen werden: die Orthodoxie las diese Bücher und Zeitungen nicht; es erschienen wohl zahlreiche und sehr heftige Gegenstimmen in den verschiedenen jüdischen Blättern und Schriften, wie sich aus Franzos' verstreuten Hinweisen in seinen Briefen erschließen läßt, aber die jüdischen Leser waren zum Großteil Emanzipation und Assimilation anstrebende Juden, und deren positive Reaktion läßt sich auf den Seiten der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" dank der sehr gründlichen Untersuchung Hans Otto Horchs mühelos verfolgen. Es gab in diesen Kreisen kaum Gegenstimmen, der „kritische Konservatismus", so Horch, gleitet über Franzos' sehr subjektive Darstellungen hinweg, und auch die freiheitliche religiöse Einstellung des Autors wird in den Jahren nach Philippson als Historisierung des Religiösen aufgenommen. 3 Die Bemühungen, die Schilderungen Franzos' in eine literarische Epoche einzuordnen, werden häufig von der ideologischen Warte des Kritikers oder Literaturhistorikers bestimmt - Karpeles und Geiger waren keine Ausnahmen - und schwanken zwischen der Betonung des Realismus oder gar Naturalismus der Ghettodarstellungen, vor allem im Vergleich mit den Darstellungen Komperts, und der Einschätzung als verallgemeinernde, flüchtige bis unrichtige Interpretationen; wichtiger sind die in den letzten Jahren durch das Interesse am Ostjudentum geforderten vergleichenden Untersuchungen, die sich um neue Akzentsetzungen bemühen. Was die politische Orientierung Franzos' betrifft, kann dazu wahrscheinlich die Definition herangezogen werden, die Hieronymus Lorm (Heinrich Landesmann, 1821-1902) in seinem Brief vom 15.März 1849 an Berthold Auerbach formulierte: „Die Trennung von Deutschland wird eine stets schmerzlichere Sehnsucht da3

Vgl. Hans Otto Horch: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" (1837-1922). Frankfurt am Main, Bern, New York 1985. (= Literarhistorische Untersuchungen Bd 1). S. 173-179, hier S. 178. Gustav Karpeles' und Ludwig Geigers Wertschätzung für Franzos wurde nicht nur in ihren Nachrufen deutlich. Wie sich einem Brief Ottilie Franzos' an Cotta vom 17 .Februar 1905 entnehmen läßt, lehnte sie es aber ab, das Vorwort zu dem von Karl Emil Franzos vorbereiteten Buch über Emst Schulze - nachdem sich Geigers Honorarforderungen als zu hoch erwiesen hatten - von Anton Bettelheim schreiben zu lassen, der „meinem geliebten Mann im Leben wenig wohl gesinnt war". Wegen „horrender Geldanforderungen" der Familie Schulze für die Rechte erschien dieses Buch nie. Die Briefe Ottilie Franzos' befinden sich im Cotta-Archiv des Deutschen Literaturarchivs Marbach a.N., dem ich hiermit für Hilfe und Zitiererlaubnis danke.

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nach [nach einem starken, einigen Deutschland] erzeugen"; und Franzos blieb bei dieser Orientierung auch noch zwanzig Jahre später, als dieser von ihm sehr verehrte Autor im Juli 1869 - nun ganz anderer Ansicht - wieder an Auerbach schrieb: Ein Schriftsteller in dem jetzt zum erstenmale wirklich liberalen Österreich mit englischer Pressefreiheit muß sich übrigens besinnen, bevor er sich herabläßt, im Bereich des an schmachvollen Polizeizuständen und Landesübermacht krankenden Nordbundes einen politischen Artikel zu veröffentlichen. Diese Bemerkung möchte ich sogar in der Berliner „Zukunft" abgedruckt sehen [...]. 4

Wie sich einem Brief Franzos' vom 5. April 1881 an Berthold Auerbach, den er als Schriftsteller und väterlichen Freund sehr verehrte, entnehmen läßt, beurteilte er auch Bismarck ganz anders als Auerbach und Lorm: Es tut mir weh, Sie klagen zu hören. Sie haben Recht - und doch nicht ganz. Vielleicht muß man Österreicher sein und den nationalen Jammer täglich humpenweise genießen, um diesem Bismarck gerecht zu werden und zu bleiben! Der Mann hat das deutsche Reich geschaffen, mit brutaler Gewalt, weil es nicht anders ging - dürfen wir uns darüber beklagen, daß er nun nicht anders geworden, sondern brutal geblieben? Der Mann hat das deutsche Reich geschaffen ich denke, der Mann ist zu ertragen wie ein Schicksal! Uns fernen steht er übermannsgroß da, wie man ihm zürnen kann, begreifen wir kaum. Und was das „praktische Christentum" betrifft - wir werden es überstehen! „Auch dieses zum Guten"! t···] 5

Nicht zu Unrecht sieht Maria Ktariska in Franzos' kritiklosem Einverständnis mit der Vorrangstellung der deutschen Kultur und Art eine „Huldigung für den siegreichen Bismarck" und führt als Beweis hierfür die Novelle Der deutsche Teufel (1888) an.6 Sicherlich setzt nach dem österreich-ungarischen Ausgleich 1867 die zunehmende Abwendung Franzos' von der Habsburgermonarchie ein und parallel hierzu die Bewunderung für Deutschland, in dessen Kraft und Stärke das Versprechen für eine bessere Zukunft zu liegen scheint; seine politische Tätigkeit im Kreis der Grazer Studentenschaft liefert dafür viele Beweise, und die vordringliche Assimilationstendenz seiner Ghettodarstellungen wird gleichfalls von diesen Vorstellungen genährt. Aufschlußreiche Einsicht in die Selbstbeurteilung Franzos', seine Tendenz und Motivation betreffend, gewährt sein 1894 in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" veröffentlichter Essay über Aron Bernsteins Ghettogeschichten. Neben dem Stellenwert dieses Aufsatzes als literarische 4

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Hieronymus Lorm: Ausgewählte Briefe. Eingeleitet u.hrsg.v. Emst Friedegg. Berlin 1912. S. 57 u. 313. Lorm war sich als Jude aber stets der „theoretischen Judenliebe des Publikums" bewußt; dazu der Brief an Eduard von Hartmann vom April 1870 im Zusammenhang mit Mosenthals Deborah (ebd. S. 314). Im Cotta-Archiv des Deutschen Literaturarchivs Marbach. „Auch dieses zum Guten": gebräuchliches Zitat nach Gam-su, Ta'anit, kaf/alef. Maria Kfcuiska: Problemfeld Galizien. Krakau 1985. S. 73.

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Untersuchung der Erzählungen Bernsteins gestatten Franzos' Ausführungen Schlußfolgerungen auf sein Selbstverständnis als Darsteller der Ostjuden. Wenn Bernstein nach dem Erscheinen von Die Juden von Barnow Angriffe von jüdischer Seite gegen Franzos wegen zu krasser Schilderungen des ostjüdischen Lebens mit dem Argument zurückgewiesen hatte, daß es nicht die Aufgabe eines jüdischen Autors sei, ein idealisiertes Bild des jüdischen Lebens zu geben, entsprach seine Reaktion nicht nur der Einstellung eines um seine literarische Freiheit besorgten Autors, sondern auch der des Barrikadenkämpfers von 1848 und des (die Judenemanzipation fördernden) Gründers der ersten Reformgemeinde in Berlin. Franzos betont in seinem Essay vor allem die Tendenzlosigkeit der Bernsteinschen Erzählungen, hebt hervor, Bernstein sei „ein Jude, der für Juden schreibt", und sieht hierin den gravierenden Unterschied; denn kein Autor dieses Genres, „der auch für Christen schreibt, kann alle Lebensbeziehungen in dem Maße erschöpfen oder doch streifen", wie es Bernstein tut, weil er zuviel erläutern müßte, und das gleiche gelte auch für die Sprache Bernsteins. Als Beispiel führt Franzos die zwei Versionen des Liebesgesprächs in Vögele der Maggid an. „Man sieht, wie unendlich viel charakteristischer, aber auch dichterisch wertvoller die erste Fassung ist" als die zweite, die für ein mit der .jüdischen Mundart" nicht vertrautes Publikum geschrieben wurde. Nun gibt Franzos zu, daß Bernstein gewiß „unter allen deutschen Novellisten dieser Gattung der talmudisch gelehrteste Mann" gewesen sei. Aber auch Auerbach und Kompert waren Kenner des Talmuds und „hätten mehr geben können als sie gaben". 7 Aus diesen Erklärungen und Vergleichen ergibt sich aber auch die Diskrepanz zwischen Franzos und den andern Autoren. Ihm fehlte, was sie besaßen: das jüdische Wissen, Kenntnis des Talmuds und persönliche Erinnerungen. Bernstein war in seiner frühen Jugend bereits als „künftige Leuchte in Israel", als Iluj geschätzt worden; Auerbach hatte in Hechingen von 1825 bis 1827 eine Talmudschule besucht und anschließend in Karlsruhe seine theologischen Studien in Vorbereitung für den Rabbinerberuf fortgesetzt; Kompert hatte als Kind in der „böhmischen Gasse" eine traditionelle Erziehung erhalten, und sein jüdisches Wissen wurde durch seinen mütterlichen Großvater, den ehemaligen Rabbiner der Gemeinde, weiter gefördert; und allen diesen und andern Autoren der Ghettoerzählungen gemeinsam war die Kindheit in einer orthodoxen jüdischen Gemeinschaft. Keiner dieser Autoren war von dem gleichen Eifer wie Franzos geleitet, die deutsche Kultur als höchstes erstrebenswertes Ziel einem nur in negativen Formen dargestellten Behalten in jüdischer Tradition gegenüberzustellen, und keiner dieser Autoren war so scharf in der Verurteilung der Orthodoxie, des Chassidismus und der „Wunderrabbis". Franzos setzt sich in 7

Dazu Horch, Auf der Suche (Anm.3) S. 168f. u. 267 Anm.16.

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seiner von assimilatorischen Wunschzielen bestimmten Bezugs- und Vergleichswelt über die sozio-historischen Umstände hinweg, läßt die religiösen und ethischen Werte der Bewegung außer Acht und geißelt die Auswüchse, die er als das Wesen des Chassidismus auffaßt und darstellt. Ähnlich verfährt er auch in seiner Verdammung des Cheders; er zeigt die Mißstände - ohne Berücksichtigung ihrer sozialen Ursachen - und bedenkt nicht, daß es in diesem geographischen Raum nur unter den Juden dank dieses Cheders keine Analphabeten gab, daß der Bildungshunger der Juden, im besondern der Ostjuden, in diesem Cheder seinen Ursprung hat. Wenn er also in Moschko von Parma, dessen literarischer Wert hier nicht bezweifelt werden soll, schreibt, die „[...] Judenjungen waren, wozu sie ihr Körper und ihre Erziehung gemacht: fromm, faul, feig [...]" (5), muß nicht nur das Fehlen einer Perspektivierung verwundern, auch der Widerspruch in seinen Schilderungen ist unübersehbar. Seine Darstellungen des ostjüdischen Lebens widerlegen die Eigenschaft „faul", in seiner eigenen Lebensform und in seinen Beziehungen zu Nicht-Juden zeigt sich keine Abneigung gegen „Frömmigkeit" als solche, und was den dritten angeprangerten Fehler „feig" betrifft - wieviel Mut erforderte es im Laufe von Jahrhunderten der Verfolgung, nicht den Weg der Taufe zu wählen! Anfechtbar ist auch Franzos' Definition der „Bar Mizvah" in dieser Novelle: Im Westen, wo Bildung und Gesittung wohnen, wo selbst ein uraltes Gesetz nur nach seiner Vernünftigkeit geschätzt wird, begnügt man sich damit, diese plötzliche Wandlung des Kindes zum Manne durch einen religiösen Akt anzudeuten. [...] [In Podolien ist] die Anlegung der Gebetriemen ein Freibrief der Selbständigkeit für den Knaben, für seine Eltern aber der Freibrief, sich nicht länger für ihn zu mühen; das heißt, sofern sie dies nicht können oder wollen. (7) In dieser bitterarmen Gegend war die Mehrzahl der Knaben schon lange vor der Bar-Mizvah genötigt, zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Und zweifellos war sich Franzos der eigentlichen Bedeutung der [recte ,des'] Bar Mizvah - „Gebotsverpflichteter" - bewußt. Wenn in der Erzählung Der Blaubart von Barnow der Eindruck entsteht, daß die dem „Gebotverpflichteten" nun auch gegebene Möglichkeit einer Eheschließung ein durchaus übliches Verfahren gewesen sei, zeigen die meisten von Franzos' Darstellungen, daß dies aus wirtschaftlichen Gründen nicht der Fall sein konnte. Das Motiv der außergewöhnlichen Berufswahl, das Franzos in Moschko von Parma, einer seiner besten Ghettoschilderungen, aus einem physischen und psychischen Impetus erwachsend schildert - Moschko will Schmied werden - , wurde fast drei Jahrzehnte zuvor in Komperts Erzählung Trenderl (.Böhmische Juden, 1851) in einer ähnlich strukturierten Entwicklung dargestellt; auch die Motivation der Autoren war die gleiche: den Weg zu Handwerk, zu körperlicher Arbeit als Emanzipationsetappe zu empfehlen. Auch bei Kompert wird ein .jiddisch Kind" zum Entsetzen eines großen Teils der

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„Gasse" Schlosser. Doch Kompert prangert nicht nur die durch die soziogeschichtliche jahrhundertelange Abgesondertheit bestimmten Vorstellungen der Juden an, er zeigt auch die (aus Berufsneid und aus nicht weniger tief und fest verwurzelten Vorurteilen aufgebauten) Widerstandswälle der christlichen Umgebung; die sich verändernden Daseinsbedingungen werden zwar bei Kompert .verschönert', er läßt jedoch die anfängliche Angst des Judenlehrlings von dem christlichen Meister besänftigen und erklären. Die Ausgewogenheit der ,3ösen" und der „Guten" bei Juden und Christen verhilft der (literarisch hinter Franzos' Erzählung zurückstehenden) Darstellung Komperts zu größerer Überzeugungskraft.8 Es ist die so oft verzerrte Perspektive in der Verhaltensschilderung der jüdischen Bevölkerung, die auch den ästhetischen Gehalt der Franzosschen Erzählung herabmindert; es sind die westlichen Maßstäbe, die Franzos an ein völlig anderes System geistiger Anhaltspunkte und ethischer Wertungen anlegt, die den Leser irritieren; erst in den letzten Werken, in Der Pojaz und Leib Weihnachtskuchen und sein Kind, kommt Franzos zu einer differed zierteren, objektivierteren Erfassung dieser Lebensform. Wie in den folgenden Vergleichen mit den Darstellungen anderer zeitgenössischer Autoren anhand der Motive Liebe, Ehe und Taufe gezeigt werden soll, kann Franzos seine mehr ver- als beurteilende Darstellung nicht konsequent durchhalten, weil trotz all seiner didaktischen Bemühungen unter der Schicht der Anpreisung westlicher (d.h. für ihn deutscher) Kultur und Lebensart durchbricht, was Wilhelm Goldbaum als das Wesentliche an der Ghettogeschichte erachtete - „seelische Züge oder Eigenschaften des Geistes [...], welche dem Judentum, so lange es in Ritus, Observanz und Bekenntniseifer intact war, durchaus eigentümlich waren".9 In Franzos' Ghettogeschichten häufen sich die Hinweise und die Beispiele dafür, daß die Liebe zwischen Mann und Frau von den Ostjuden im wesentlichen als Schrulle der christlichen Umgebung - in den gehobenen Gesellschaftsklassen vor allem - gesehen werde. Er kann aber nicht umhin, in seinen Schilderungen immer wieder die guten Ehen, das Gefühl gegenseitiger Achtung und Wertschätzung zwischen den Ehepartnern, hervorzuheben. Bei der Anprangerung der Vernunftgründe, die Franzos als die entscheidenden für eine von Eltern oder Verwandten vermittelte Ehe darstellt, ignoriert er die Tatsache, daß dies ein nicht nur bei Juden üblicher Vorgang war. Es ist richtig, daß in den orthodoxen Kreisen vermittelte Ehen gebräuchlich waren und sind, aber die Erwägungen sind keineswegs stets von materiellen Interessen geleitet, wie es Franzos unterstellt. Gelehrsamkeit war und ist der einzige von Juden anerkannte Adel, und ein rabbinisch gelehrter Schwieger-

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„[...] die Furcht, das ist der Unterschied zwischen Juden und Christen; ihr seid ein geplagtes Volk gewesen und darum fürchtet ihr euch; aber wie ihr das einmal abgelegt habt, so seid ihr uns gleich [...]". 2.Aufl. Berlin 1882. S. 272. Wilhelm Goldbaum: Literarische Physiognomien. Wien u. Teschen 1884. S. 189.

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söhn oder eine aus einem jüdisch gebildeten Haus kommende Schwiegertochter war und ist das erstrebenswerteste Ziel dieser Ehevermittlungsbemühungen. Es ist von besonderem Interesse, daß die Ehestiftung in Franzos' bekanntestem und bestem Werk Der Pojaz fast zu einem Merkmal der Differenzierung seines Standpunkts wird. In der ersten Fassung des Romans aus dem Jahr 1878 drängt [der Pojaz] seine angeborenen Triebe zurück und läßt sich verheiraten. Nun wird die Ehe und der innere Kampf des Pojaz geschildert. Er verfällt allmählich körperlich [,..] 1 0

In der endgültigen Fassung wird der Pojaz nicht verheiratet, aber eine ausführliche Beschreibung ist der Ehe der Ziehmutter Rosi Kurländer gewidmet. Rosi wird zur Projektionsfigur der Zurücknahme der bis dahin verfochtenen Verurteilung der vermittelten Ehen: das reiche und häßliche Mädchen hatte mit Erfolg darum gekämpft, sich seinen Mann selbst zu wählen, und „es war eine jämmerliche Ehe": der Mann vergeudete das Vermögen seiner Frau und verließ sie, nachdem er sie um all ihren Besitz gebracht hatte. Das einige Male aufgenommene Motiv der Liebe und Verbindung zwischen Christen und Juden erhält in der Franzosschen Darstellung ein besonders düsteres Gepräge, vornehmlich durch den Widerstand, sogar die Verfemung von Seiten der jüdischen Gemeinschaft; aber auch hier wird dieser Eindruck durch die gegenläufige Schilderung der unethischen, herzlosen Reaktion der christlichen Umwelt abgeschwächt. Die Vergleichsbeispiele müssen hier auf zwei Erzählungen, auf Nach höherem Gesetz (1874) und Judith Trachtenberg (1890), eingeschränkt werden. In der ersteren ist der verzichtende, nach dem (Schillerschen Gedichten entnommenen) „höheren Gesetz" handelnde jüdische Gatte die einzige wirklich positive Gestalt; seine geschiedene Frau, nun als getaufte Jüdin mit dem Bezirksrichter verheiratet, bleibt auch als Christine von Negrusz ein geächteter Außenseiter der deutsch-österreichischen Gesellschaft des Städtchens. In der zweiten Erzählung wird in der Jüdin wie in dem polnischen Grafen das Überwiegen der erziehüngsbedingten Einflüsse dargestellt, aber auch der Gleichklang der Ablehnung der „Mischehe" von Seiten der Juden wie der Christen. Judith erzwingt die Eheschließung, die ihr der charakterschwache Graf Baranowski vorgetäuscht hatte, durch die Zivilehe in Weimar, gibt sich dann aber deh Tod, der Erkenntnis folgend: „als Sieger [...] darf nur der Schuldlose leben." (218) In der Schwarz-Weiß-Zeichnung dieser Novelle, die der Autor nur wenige Jahre danach in Der Pojaz und noch deutlicher 10

Zitiert nach Unterlagen und Korrespondenzen in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, der ich gleichfalls für ihre Hilfe und Zitiererlaubnis zu danken habe. Die im weiteren angeführten Briefe befinden sich, wenn nichts anderes vermerkt, in der Handschriftenabteilung dieser Bibliothek.

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in Leib Weihnachtskuchen und sein Kind zurücknehmen sollte, wird die fanatische Strenggläubigkeit von Judiths Bruder vordergründig mit der uneingeschränkten Assimilationsbereitschaft der Schwester kontrastiert; im weiteren Handlungsgeschehen wird aber Judiths Entscheidung durch das unehrenhafte Verhalten des Grafen als Fehlentschluß dargestellt, und daß Judith erst in der tragischen Erkenntnis ihrer Unfähigkeit, sich vom Judentum zu lösen, zur überzeugenden Gestalt wird, ist ein Beweis für die mangelnde Authentizität der Darstellungsintention, für den Zwiespalt des Autors zwischen Erwünschtem und Erkanntem. Das ergibt sich auch aus dem widersprüchlichen Satz in einem Brief Franzos' an einen Unbekannten, den er am 13.Dezember 1890 um eine Rezension der Erzählung ersucht: [...] wenn ich meine Judith durch ihr Schicksal eine Erzjüdin werden lasse, so geschieht es, um davor zu warnen, daß nicht Andere in's Judentum zurückgetrieben werden, nachdem sie sich bereits eine allgemein-menschliche Anschauung erobert [...]

Der Gegensatz von „Judentum" und „allgemein-menschlicher Anschauung" wird durch Franzos' Leben, durch sein Verharren im Judentum bis zur strikten Ablehnung der Taufe und der „Getauften" und durch seine ethischen Grundsätze und sein rigoroses Gerechtigkeits- und Rechtsgefühl restlos widerlegt. Das spröde Thema der Mischehe wurde von allen jüdischen Autoren dieser Zeit mehr oder weniger ausführlich gestaltet, von einigen auch gelebt, keiner fand eine befriedigende Lösung, hauptsächlich wegen des Folgeproblems, das sich mit Bezug auf die Religion der aus diesen Ehen kommenden Kinder stellte. Auch Kompert gelang es nicht völlig. Zwar wird Dina in Eine Verlorene (Böhmische Juden, 1851) zur guten Christin und Frau des Bauern, die ihre Kinder streng nach katholischen Dogmen erzieht, und sie erringt sowohl die Liebe ihres Schwiegervaters als auch die Verzeihung ihrer Familie. Aber zwanzig Jahre später, in dem Roman Zwischen Ruinen (1871), mündet die äußerst dramatisch und ereignisreich geschilderte seelische und gesellschaftliche Beziehungsentwicklung zwischen dem Juden und der deutschen Christin in einer tschechischen Umgebung doch in den beiderseitigen Kompromiß, ins „draußen stehen, jeder vor seiner Kirche". Die bürgerliche Trauung im Bürgermeisteramt, nun gesetzlich ermöglicht, löst die Frage der Eheschließung, ungelöst aber bleibt die Frage der Religion der Kinder aus dieser Ehe. Leo Herzberg-Fränkel (1827-1915) nimmt 1878 in einer dem Erzählband Polnische Juden (Geschichten und Bilder, 1866) hinzugefügten Erzählung Eine Mischehe dieses Problem auf und zeigt die Unmöglichkeit einer Lösung. Die bürgerliche Ehe einer polnischen Adligen mit einem Juden scheitert an dem Widerstand der Umgebung. Die Vereinbarung, daß das erste Kind katholisch, das zweite jüdisch sein soll, wird von der christlichen Verwandtschaft mit allen Mitteln nach der Geburt des zweiten Sohnes vereitelt und führt zu der von dem Gatten

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beantragten Trennung der Ehe. Daß die Mischehe im Westen, „wo Bildung und Gesittung wohnen", wie Franzos 1880 schrieb, nicht weniger problematisch war, wird von Auerbach, der dieses Thema nur einmal aufnimmt, in Das Landhaus am Rhein (1869) veranschaulicht. Die „Haushälterin" des Majors ist seit vielen Jahren dem Major bürgerlich angetraut, aber „vor der Welt [...] verzichtete ich auf alle Ehre [...] als eine Buße und Kasteiung, weil ich doch meine Eltern und die Meinen verlassen hatte" (463f.). Die Frage nach der Religion der Kinder erübrigte sich in dieser Konstellation, es ist aber, wieder im Hinblick auf Franzos' Brandmarkung der jüdischen Ehen, aufschlußreich, die einleitenden Sätze des Geständnisses der Majorin zu zitieren: Meine Mutter, die aus einem vermögenden Hause stammte, hatte nach dem Willen ihrer Eltern meinen Vater um seiner Frömmigkeit und Gelehrsamkeit willen geheiratet; sie war voll Anbetung für meinen Vater. (460)

Als letztes Vergleichsbeispiel für die Gefühlsbeziehungen zwischen Juden und Christen, das von einer getauften Jüdin stammt und daher besonders prägnant ausgefallen ist, sei Fanny Lewaids Roman Jenny (1843) angeführt. Er behandelt mit unverkennbarer Bitterkeit die Taufe wie die Unmöglichkeit einer ehelichen Verbindung zwischen Christen und Juden, die dreimal vor Augen geführt wird, um gleiche Denk- und Verhaltensweisen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten zu verdeutlichen - die religiöse Unduldsamkeit der christlichen Umwelt und ihren Dünkel gegenüber den Juden, auch wenn diese, wie im Falle Jennys, getauft sind (1 lOff. und 328ff.). An Jennys Bruder, einem geschätzten Arzt und völlig assimilierten deutschen Juden, wird eine jüdische Haltung exemplifiziert, die ungeachtet des zeitlichen Abstands von einem halben Jahrhundert auch die von Franzos war. Jennys Bruder kann das Mädchen seiner Wahl, das ihn liebt, nicht heiraten, weil der Staat die Zivilehe nicht gestattet; zur Taufe aber kann er sich nicht entschließen: [ . . . ] es [ist] nicht der Glaube f...], der mich an das Judentum bindet [...]. Aber meine Ehre fesselt mich an mein Volk, das gleich mir in Unterdrückung seufzt. Was dem verbannten Polen sein Vaterland, das ist dem Juden die Gemeinde; nur der Verräter sagt sich von ihr los [...]. (170f.)

Als Beispiel dafür, daß auch fast ein Jahrhundert später, doch vor dem Zeitpunkt, in dem die Verfolgungen durch die Nationalsozialisten all diese Überlegungen gegenstandslos machten, das Problem der Mischehen und der in ihnen geborenen Kinder noch nicht gelöst war, sei die Erzählung Die Geopferten von Oskar Baum aus dem Jahr 1928 angeführt. Hier wird die Tragik der Kinder gezeichnet, die durch die religiösen Begriffsvorstellungen des neuen Glaubens in ein unlösbares Spannungsverhältnis zu einem Teil der Eltern und Verwandten gezwungen werden und so für den Schritt

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der Eltern büßen müssen, mit dem sie ihren Tribut an die Konvention geleistet haben.11 Die Mehrsträngigkeit des Wahmehmungsmusters läßt sich bei Franzos nicht nur in seinen dichterischen Darstellungen verfolgen, sondern auch in intertextuellen Diskrepanzen; seinen Briefen ist die Notwendigkeit abzulesen, auch im „hellen Westen" aus Existenzgründen gegen die wachsenden antisemitischen Strömungen ankämpfen zu müssen. So schreibt er am 31.Dezember 1880 an den Jugendfreund Wilhelm Fischer, daß ein Vortragszyklus, anscheinend in jüdischem Rahmen, vorläufig wegen Befürchtungen vor antisemitischen Protesten unterbleiben müsse. Wie Franzos dann hinzufügt, ist ihm dies „zehnmal recht, wie mir denn überhaupt jedes national jüdische Auftreten gegen die Judenhetze ein Unsinn und Verbrechen erscheint". Die für Franzos - und viele andere assimilierte Juden der Epoche - charakteristische Vermengung von Antisemitismusbewußtsein und Patriotismus zeigt auch der Brief vom 26.0ktober 1881 an Wilhelm Fischer: Ad notam „Deutscher Club"12 - dieser bornierte, in seinem tiefsten Motiv aus Feigheit und Neid entquellende Judenhaß ist ein schweres Unglück - nicht für die Juden, sondern für die Deutschen in Österreich! Er treibt das bereits der Cultur gewonnene, bisher so treue jüdische Element unaufhaltsam den Czechen, den Polen in die Arme, wie er im Küstenlande bereits Italianittiner gemacht hat! Jenen von uns, die gleich mir mit jeder Fiber ihres Herzens am Deutschthum hängen und doch zu stolz sind, den Elias Kohn zu copiren, bleibt eben nur, was ich thue: ich meide jede Berührung mit den Leuten!

Nicht weniger symptomatisch ist der Brief an Dagobert von Gerhardt vom 22.Mai 1886, in dem die dünne Trennungslinie zwischen Apologetik und Verteidigung nicht leicht erkennbar bleibt. Dieser Autor hatte in einem offenen Brief im „Magazin" gegen die Kritik seines Buches Vom Buchstaben zum Geist protestiert. Dabei war von ihm die Vermutung ausgesprochen, daß der Kritiker der „Wiener Allgemeinen Zeitung" ein Jude sei, zugleich die Notwendigkeit angedeutet, daß ein „Kritiker mit dem religiösen Geist und den rituellen Gebräuchen" eines Buches dieser Thematik vertraut sein sollte, ehe er an dessen Kritik herangehe, und als Beispiel hierfür die Novellen von Franzos angeführt, die „mit Vorliebe jüdisches Leben" schilderten. Franzos versichert in seinem Brief, er habe dies nie verlangt, bemerkt „nebenbei", daß die jüdischen Themen „kaum ein Fünftel meiner bisherigen literarischen Tätigkeit" ausmachen, und fügt dann hinzu, daß es sich in meinen Schriften niemals um die Schilderung rein religiöser Nüancen des Judenthums als Selbstzweck handelt. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß es 11 12

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Veröffentlicht in Menorah 6 (Wien 1928) H. 10. Franzos' - manchmal führende - Mitgliedschaft in den verschiedenen Burschenschaften und Vereinen habe ich eingehend untersucht: Der frühe Franzos. Graz 1987. Wahrscheinlich war Elias Kohn ein getaufter Jude ihrer Bekanntschaft; irgendwelche brieflichen Hinweise konnten nicht festgestellt werden.

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für meine Glaubensgenossen die wichtigste Pflicht ist, den Prozeß der Abstreifung des nationalen Judenthums und die Assimilation an die Völker, unter denen sie leben, so bald und so energisch als möglich durchzumachen und berühre das religiöse Moment nur insofern, als es mit diesem Prozeß irgendwie zusammenhängt [...]. Hierzu wäre zu bemerken, daß Franzos niemals die Assimilation an die slawischen Völker empfahl. Ein klares Bild von der Situation und von Franzos' zwiespältiger Einstellung kann sein Brief an Ernst Eckstein vom 31 Januar 1891 geben.14 Die „Neue Freie Presse" hatte auf Franzos' Vorschlag, eine Besprechung von Judith Trachtenberg zu bringen, geantwortet, sie sei sehr gern dazu bereit, wolle sogar ein großes frontales Feuilleton bringen, aber ich möge einen Vollblut-Arier von bekanntestem Namen bewegen, es zu schreiben [...]. Der Grund, der die Redaktion zu diesem Wunsche bewegt, leuchtet mir ein. Es ist ja so wenig ein Buch für als ein solches gegen die Juden, sondern eine unbefangene Dichtung mit dem ausgesprochenen Tendenzzweck, für die Assimilierung des Judenthums und die Mischehe einzutreten, in dem ich den Leuten den Spiegel vorhalte und Alle, die es angeht, Christen und Juden frage: „Wollt Ihr's ebenso treiben, wie diese Gesellschaft vor 60 Jahren in HalbAsien?" Zudem ist selbst diese Tendenz mir nicht die Hauptsache, sondern die Dichtung selbst. Aber es kommen nun mal Juden in der Historie vor, die N.Fr.Pr. ist ein .Judenblatt" und in Österreich ist der Antisemitismus los [...]. An den Publikationsproblemen dieser Erzählung mußte Franzos in nicht mehr zu übersehender Weise erfahren, wie stark der Antisemitismus geworden war. Bereits bei den vorhergegangenen Versuchen, die Beziehungen zu seinem bisherigen Verleger Bonz in Stuttgart, mit dem es seit längerem Unstimmigkeiten gegeben hatte, zu lösen, war Franzos - wie er am 21.Juni 1895 an einen Ungenannten schrieb nirgendwo [...] einer Abneigung, die „christlichen" Bücher zu übernehmen, begegnet, aber überall der Abneigung, es auch bezüglich der jüdischen zu tun. Auf meinen Hinweis, daß ja gerade diese die gangbarsten seien, ist mir stets gesagt worden: „Daran zweifeln wir nicht, aber - -" Auf den Stoffkreis zu verzichten, ist mir aus inneren Gründen unmöglich. Darum schrieb ich 1890 die Judith von Trachtenberg [...]. Keine Zeitung oder Zeitschrift wollte den Roman erwerben; ich mußte ihn in der ,.D.Dichtung" drucken lassen. [...] Daß es überall hieß: es liege nur am Stoffkreis, machte mir die Ablehnung nicht unempfindlicher. Endlich nahm Trewendt das Buch [...]. [Es hatte] den stärksten Erfolg, der mir bisher an Absatz beschieden war: es steht seit 1894 in der vierten Auflage.15 14

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Dagobert von Gerhardt, Pseudonym von Gerhard von Amyntor, 1831-1910, Autor vieler konservativ-christlicher Werke (Brief Staatsbibl. Berlin); Emst Eckstein, 1845-1900, Feuilletonist, Autor humoristischer Werke, 1874-82, Hrsg. der „Deutschen Dichterhalle". Am 19 Juni 1894 hatte sich Franzos in einem Brief an Georg Ebers darüber gewundert und beschwert, daß mit „Beharrlichkeit [...] meine Bücher" in der Zeitschrift „Uber Land und Meer totgeschwiegen werden". Die Briefe Franzos' an Georg Ebers befinden sich im Georg-Ebers-Nachlaß der Staatsbibliothek in Berlin, Handschriftenabteilung, in der mir

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Margarita Pazi

Es ist also nicht weiter überraschend, daß ein sonst doch so erfolgreicher Autor wie Franzos 1892 keinen Verleger für einen weiteren Roman jüdischer Thematik gefunden hatte. Wie er in dem gleichen Brief weiter schreibt, lehnte 1893 die Zeitschrift „Vom Fels zum Meer" nach vorhergehender Zustimmung den Roman Der Pojaz ab, „unter einem lächerlichen Vorwand: die frommen Juden unter den Lesern könnten daran Anstoß nehmen!! [...]". Auch die Deutsche Verlagsanstalt, an der Franzos als nicht unwesentlicher Aktionär beteiligt war, wagte es nicht, in dem von ihr vertriebenen Journal „Über Land und Meer" diesen Roman aus dem östlichen Volksleben zu veröffentlichen. In einem sehr ausführlichen Brief vom 11.Juli 1893 schildert Georg Ebers, getaufter Jude, Autor historischer Romane und langjähriger Freund von Franzos, die Verhältnisse, die es dem Redakteur dieser Zeitschrift ganz unmöglich [machen], einen .Judenroman" in dieser Zeit in seinem Journal zu bringen. Das begründete er mit Tatsachen, die mir tief beklagenswert, ja geradezu entsetzlich erscheinen. [...] Lauser [der Chefredakteur], der viele Juden zu seinen liebsten Freunden zählt und die antisemitische Bewegung verabscheut, erzählte mir, eine wie große Menge von Zuschriften er erhielt, die „Über Land und Meer" wegen seiner judenfreundlichen Richtung bedrohen [...] Er blieb dabei, daß er keinen judenfreundlichen, unter Juden spielenden Roman bringen dürfe, wie billig er auch der moralischen Tugenden gedenke, wie hoher ästhetischer Wert dem auch innewohnen möge. [...] Es ist tief bekümmernd, daß Deutschland diesem so durchaus unchristlichen, barbarischen und schändenden Unhold [gemeint ist der Antisemitismus, M.P.] in 16 solcher Weise in die unsauberen Hände fallen mußte Franzos dankte für diesen Brief am 12. Juli 1893; es ist ein für diesen passionierten Briefschreiber außergewöhnlich kurzer Brief: Nehmen Sie herzlichen Dank für die Bemühung und den so freundlichen Brief. So schlimm habe ich's mir nicht gedacht, obgleich es nicht das erste Mal ist, daß ich den Antisemitismus am eigenen Leib zu fühlen bekomme. Zur Sache selbst habe ich nur zu sagen: ich begreife Lauser vollkommen. Er ist als Redakteur des Blattes jung und kann sich unmöglich einem Mißerfolg aussetzen [...]. Die sehr aufschlußreiche Korrespondenz Franzos' mit Georg Ebers in Angelegenheit der Veröffentlichung von Der Pojaz kann hier nicht gebracht

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viel Hilfe geleistet wurde. Ich danke für die Ziüererlaubnis und im besondem Frau Siegrid Seitmann für ihre Hilfe bei Materialbeschaffungen. In dem gleichen Brief schreibt Ebers: „[...] Ich war einer der ersten, der etwas von dem Antisemitismus zu fühlen bekam; denn nachdem ich den Roman .Ein Wort' geschrieben hatte, in dem ich einen edlen Juden darstelle und eine Lanze für Menschlichkeit und Duldung breche, kündigte mir Th.H. Pantenius [1843-1915, Red. von „Daheim" und der „Velhagen & Klasingschen Monatshefte"], ein Landsmann meiner Frau, mit dem wir sehr angenehm verkehrten, die Freundschaft, weil dieser Roman sich gegen seine .redlichsten Bestrebungen, das hohe Ziel seines Lebens, Deutschland von den Juden und deren alles vergiftenden Einfluß zu befreien', richte. Aber ich hielt das für private Velleität einer polemischen Natur, die es in Livland mit den ,νοη den Deutschen vergewaltigten' Letten gehalten hatte [...]."

Karl Emil Frotaos' Assimilationsvorstellung und Assimilationserfahrung

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werden; nur im Hinblick auf die unfundierten Mutmaßungen wegen der erst 1905 von Franzos' Witwe durchgeführten Veröffentlichung dieses Romans sei hier noch ein Satz aus einem Brief des Autors an Ebers vom 18.0ktober 1894 zitiert; er erwähnt wieder die Ablehnung von „Über Land und Meef" und fährt fort: Meiner Tasche hat damals übrigens der Refus nicht geschadet. Ich habe den Roman zum ersten Erscheinen in englischer und russischer Sprache verkauft und für die Verpflichtung, ihn durch 2 Jahre nicht deutsch erscheinen zu lassen, eine hübsche Summe bekommen, die mir sonst entgangen wäre [...]. 1887 war endlich der große Wunsch Franzos', nach Berlin zu übersiedeln, in Erfüllung gegangen; dort hatte er auch die Zeitschrift,.Deutsche Dichtung" im Oktober 1886 zum ersten Mal erscheinen lassen; auch auf diese Zeitschrift kann hier nicht näher eingegangen werden. Es war eine der bedeutendsten der Zeit, mit Erfolg und Geschick und endloser Mühe von Franzos redigiert. Der finanzielle Aspekt war stets ein problematischer, und das - wie die Notwendigkeit, für seine jüdischen Bücher eine Publikationsmöglichkeit zu haben - führte Franzos dazu, 1895 einen eigenen Verlag zu gründen. In dem oben erwähnten Brief vom 21.Juni 1895 teilt Franzos dem Adressaten - wie aus dem letzten Briefpassus zu schließen ist, war es ein naher Bekannter - mit, daß er sich entschlossen habe, „eine kleine Verlags-Gesellschaft mit einem Kapital von M. 50.000, von denen ich 10.000 M. einzahle, zu begründen". Im weiteren erläutert Franzos die Gründe für diesen Entschluß, die zum Teil hier bereits angeführt und zitiert wurden; dann gibt er eine sehr detaillierte Hochrechnung der voraussichtlichen Spesen und Reinerträge und schließt: So solid die Grundlagen sind, so sind mir doch, weil mich die Rücksicht auf meinen Namen bindet, die gewöhnlichen Wege der Kapitals-Beschaffung ungangbar [...]. Franzos hatte daher seinen Freund Schlesinger gebeten, „mit dem und jenem Rücksprache zu nehmen"; für diesen Weg fühlte sich Franzos dem Briefadressaten zu nahe, und dem entspricht der Brief, der nun einen genauen Einblick in die Erwartungen Franzos' ermöglicht. Sie realisierten sich durchaus, das Vorhaben fand lebhafte Unterstützung; die Gesellschafter waren fast ausschließlich jüdische Geschäftsleute oder Akademiker aus Franzos' Bekanntenkreis, und die „Concordia Deutsche Verlagsanstalt" erfüllte bis zu seinem Tod im Januar 1904 die in sie gesetzten Hoffnungen. Stefan Zweig hatte in einem sehr eingehenden Essay über Karl Emil Franzos in „Jung-Deutschland" im Juni 1900 geschrieben, er finde „die stärkste Ähnlichkeit von allen deutschen Poeten zwischen Franzos und Rosegger", und diese Annahme mit der Überwindung der klerikalen und milieubedingten Einflüsse durch die beiden Autoren begründet (S. 41). Doch diese Überwindung hatte bei Franzos, trotz all seiner Assimilationsbeja-

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Margarita Pazi

hung, genau gezogene Grenzen; nicht nur lehnte er die Taufe entschieden ab, sein Idealbild der weitgehenden Akkulturation ohne Aufgabe der jüdischen Identität formulierte er 1891 in seinem Brief an den Präsidenten der „Berthold-Auerbach-Loge", deren Vorstandsmitglied er war. In diesem Brief teilte er seinen Austritt mit und führte aus: Was wir brauchen, ist ein Bund, der einerseits auf dem Boden des Judentums steht und sich andererseits rastlos intellektuell, wie moralisch weiter bildet. Nur so kann dem deutschen Judentum genutzt sein, nur so können wir Juden bleiben und Deutsche werden [...].

Diese Vorstellung, die sich ungefähr mit jener der Reformgemeinde deckt, konnte sich nicht mit „Elementen" abfinden, welche die gefallenen Ghetto-Mauern durch eine geistige Mauer, die sie um sich ziehen, ersetzen und nur Juden, nationale Juden, nicht auch Deutsche sein wollen

Vielleicht aber war die Begegnung mit dem Antisemitismus, der in Berlin nicht weniger spürbar war als in Wien, doch die Ursache, daß sich seine Ansichten in seinen letzten Ghettodarstellungen weit genug gemildert hatten, um die andere Seite als fast gleichberechtigt anzusehen. 1902 weist er in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" darauf hin, daß die Juden des Ostens derselben schlechten Meinung über die des Westens seien wie umgekehrt:„Der Jude des Ostens hält sein Wissen für das tiefere; ein Mensch, der nicht Talmud studiert, ist eben für ihn ein ungebildeter Mensch." Wie er in diesen Kleinigkeiten weiter hervorhebt, war es „immer ein Hauptpunkt der Lebensaufgabe, die ich mir als Schriftsteller gesetzt hatte, den Gegensatz zwischen dem Judentum des Ostens und dem des Westens ausgleichen zu helfen [...]". Er sieht hier den Unterschied in dem Vorsprung der Westjuden, der „nicht ihr Verdienst" sei, und glaubt sicher zu sein, daß dieser Vorsprung „in einigen Menschenaltern von den Juden des Ostens eingeholt sein wird". Er rügt aber auch die Haltung der Westjuden, die „sich höchst ungern an die Pflicht erinnern, die sie gegen [die Ostjuden] haben".18 Franzos gehörte jedenfalls nicht zu diesen; er war in verschiedenen Wohlfahrtskomitees tätig, und besonderen Eifer entwickelte er in dem „Deutschen Zentralkomitee für russische Juden", das im Frühjahr 1891 zusammentrat. Auch hier wandte er sich mit großem Nachdruck gegen die Bestrebungen der Flüchtlinge, nach Palästina zu gehen; in der Delegiertenversammlung vom Oktober 1901 erhob er dagegen „Vernunftsgründe" und empfahl Brasilien als das einzig mögliche Aufnahmeland. 17

18

In einem Brief vom 25.Januar 1893 hatte Franzos Justizrat August Simon ersucht, für ihn einen Antrag auf die Erteilung der deutschen Staatsbürgerschaft zu stellen. Ob Franzos die Staatsbürgerschaft nicht erhielt oder ob er sie letzten Endes nicht gegen die österreichische eintauschen wollte, konnte nicht geklärt werden. „Kleinigkeiten", In: Allg. Zeitung des Judentums 66 (1902) Nr. 14ff.

Karl Emil Franzos' Assimilationsvorstellung und Assimilationserfahrung

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Eine deutliche Veränderung des Schilderungs- und Reaktionsmusters zeichnet sich aber auf einem anderen Gebiet ab: die ideologische und ästhetische Verurteilung der Orthodoxie wird von einer wachsenden Sensibilisierung des Autors für die Problematik der sozialen und emotionellen Konfliktssituationen entschärft, ein neues Verständnis für die komplexe Realität dieser Lebensform kommt in den Vordergrund der Darstellung. Das Gerechtigkeitsbedürfnis Franzos' führt zu einer fast kreisförmigen Entwicklung der Bezugs- und Vergleichswelt seiner Ghettonovellen. In den beiden ersten Erzählungen dieser Thematik, David der Bocher (1870) und Ein einzig Kind (1873), läßt das der empfohlenen Emanzipations- und Assimilationsbestrebung gegenübergestellte Bild der deutschen Gesellschaft, deren Dummheit und unbegründete Selbstüberschätzung bloßgelegt wird, das kompromißlose Verharren im Gegebenen und die Rückkehr zu Tradition und strikter Gebotserfüllung als Ausdruck verständlicher Leidabwehr erscheinen. In den beiden letzten Werken, Der Pojaz und Leib Weihnachtskuchen (1893 und 1896), ist das Wertungsprinzip der traditionellen jüdischen Lebensform ein wesentlich ausgewogeneres als in den vorhergehenden Texten; in Der Pojaz werden nicht nur die Einschränkungen, sondern auch die gegenseitige Hilfsbereitschaft veranschaulicht und das in dieser Lebensform mögliche Nebeneinander von sozialem Tiefstand und davon unabhängiger Wertschätzung innerhalb der Gemeinschaft in seiner Wirkung und Nachwirkung gezeigt. Die Schilderungen des „Kowner", dieses „Schnorrers", und des „Gerechten" Leib Weihnachtskuchen, die den „künstlerischen Drang" allein, ohne überlagernden Tendenzzweck, ihre Eindrucks- und Überzeugungskraft verdanken, bezeugen, daß Franzos gelernt hatte, nicht bloß seine Sicht der Dinge für die Wahrheit zu halten, und daß er bereit war, andere Schwerpunkte zu setzen. Franzos wies in seinem 1893 geschriebenen Vorwort zu dem Roman Der Pojaz darauf hin, daß er hier eine andere Tonart anschlage als in den vorangegangenen Texten: die humoristische nämlich. Und er erklärte auch, warum das erst in diesem Werk geschehe: [...] vielleicht muß man älter geworden sein, mehr erfahren und mehr gelitten haben, um das „Lächeln unter Tränen" zu erlernen [...]. [Der Roman] sucht dem Leser die Fülle jenes eigentümlichen Witzes und Humors nahe zu bringen, der im Ghetto des Ostens zu finden ist [...]. (294) Die Franzossche Erklärung für den „Witz" in diesem seinem Meisterwerk ist ein Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis, daß dieser Witz nicht nur im Ghetto des Ostens beheimatet, sondern auch „imstande war [...], den Selbstbetrug, den die Assimilation in der Realität darstellte, zu artikulieren, wenn nicht gar zu durchschauen", wie ein anderer deutscher Jude, Gershom Scholem, fast hundert Jahre später sagte.19 19

Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Frankfurt 1977. S. 39.

Julius H. Schoeps (Duisburg)

Bilder aus dem Ghetto Aron Bernsteins Novellen Vögele der Maggid und Mendel Gibbor

Aron Bernstein gilt als „Klassiker der Ghettogeschichte",1 seine beiden Novellen Vögele der Maggid und Mendel Gibbor sind „Perlen der Erzählungsliteratur"2 genannt worden. Bereits kurz nach dem Ersterscheinen von Vögele der Maggid bemerkte Ludwig Philippson, der Herausgeber der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" (AZJ), Bernstein habe mit seiner Novelle ein „wahres Meisterstück seiner Art" geliefert. Er habe, hieß es in der Besprechung, eine Gemeinde im Osten Preußens „im Zustande der naiven Orthodoxie" geschildert. Dadurch, daß er die „barocke altjüdische Mundart" gewählt, es aber gleichzeitig verstanden habe, „eine so ansprechende Harmlosigkeit und Naivität darüber zu breiten", könne das vorgestellte Genrebild „eine der ersten Stellen in unserer Literatur"3 beanspruchen. Was die Entstehung der beiden Novellen angeht, so gibt es unterschiedliche Versionen. Im Verlauf der Rezeptionsgeschichte haben sich einige Fehler eingeschlichen, die bis heute in Lexika, Nachschlagewerken und Sammelbänden tradiert werden. Unterschiedlich sind zum Beispiel die Angaben, wann Bernstein die Novellen niedergeschrieben und veröffentlicht haben soll. Lange Zeit galt es als ausgemacht, daß die Erstveröffentlichungen 1837 und 1838 erfolgten, was zur Folge hatte, daß Bernstein fälschlicherweise der Ruhm zukam, der „Vater der Ghettonovelle" zu sein. Strittig war lange Jahre, wer für die nicht zutreffenden Auskünfte verantwortlich war, Bernstein selbst, der nicht sehr gern über die eigene Person sprach, oder die Literarhistoriker wie zum Beispiel Ludwig Laistner, die durch ungenaues Recherchieren falsche Fährten gelegt haben. Im „Neuen deutschen Novellenschatz", herausgegeben von Paul Heyse und besagtem Ludwig Laistner, wird Bernstein als „Bahnbrecher"4 bezeichnet, der Ende der dreißiger Jahre die Ghetto-Novelle schuf, die nicht nur, wie es dort heißt,

Hans Otto Horch, Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" (1832-1922). Frankfurt am Main u.a. 1985. S. 168. 2 3 4

Ludwig Geiger: A.Bemstein. Ein Gedenkblatt. In: AZJ 76 (1912) S. 161-163. AZJ 24 (1857) S. 460f. Neuer deutscher Novellenschatz, hrsg. von Paul Heyse und Ludwig Laistner, Bd.X. München u.Leipzig 1885. S. 4.

Bilder aus dem Ghetto

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die Arbeiten von Leopold Kompert, Salomo Hermann Mosenthal, Alexander Weill und Karl Emil Franzos beeinflußt, sondern auch Berthold Auerbach als Vorbild für dessen „Dorfgeschichte" gedient habe. Wie ist nun der Beweis erbracht worden, daß Bernstein nicht als „Vater der Ghettonovelle" zu gelten hat? Das war, wie wir heute wissen, das Verdienst von Karl Emil Franzos, der in seiner in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" veröffentlichten Bernstein-Studie5 bekannte, er habe lange Zeit selbst geirrt, was auf die falschen Auskünfte zurückzuführen sei, die er erhalten habe. So habe er sich auf eine Information des Predigers Dr. Jellinek verlassen, sowie auf einen Artikel des Rabbiners und Publizisten Isaak Rülf, 6 in dem dieser versicherte, er habe es persönlich aus dem Munde Bernsteins 1872 erfahren, daß die Novellen Ende der dreißiger Jahre entstanden seien. Nachdenklich geworden und der Angelegenheit nachgegangen sei er erst, als er mit Leopold Kompert zusammengetroffen sei, der Bernstein zwar geschätzt, aber bezweifelt habe, daß er der Schöpfer der Ghetto-Novelle sei. „Die Herren Literar-Historiker", habe Kompert spöttisch bemerkt, „kommen sehr leicht ins Konstruieren".7 Veröffentlicht wurden die Ghetto-Novellen zum ersten Mal in den Jahren 1857 und 1858, und zwar in dem „Kalender und Jahrbuch für die jüdischen Gemeinden Preußens", 8 der von Philipp Wertheim herausgegeben wurde; der Sekretär der Berliner Jüdischen Gemeinde war es auch, von dem der Anstoß dazu ausgegangen sein soll, daß Bernstein sich die Zeit nahm, die Novellen niederzuschreiben. Wir verdanken diese Information einem Gespräch,9 das Franzos mit Wertheim geführt und mit dem Ziel veröffentlicht hatte, den Gerüchten und wuchernden Spekulationen um die Entstehungsgeschichte der Novellen ein Ende zu bereiten. Demnach hat Bernstein die Novelle Vögele der Maggid im Frühjahr 1857 geschrieben. Inwieweit er damit seiner 1854 verstorbenen Frau ein Denkmal setzen wollte, ist dabei umstritten. Fest steht jedenfalls, daß der Umgang mit Philipp Wertheim und dessen Schwager, dem Sanitätsrat Dr. Goldbaum, die beide, gleich Bernstein, aus dem Osten des preußischen Staates stammten und ihre Jugend unter ähnlichen Eindrücken wie er verlebt hatten, ihn stark beeinflußt hat. An Abenden, die sie gemeinsam verbrachten, soll häufig, wie Franzos bemerkt, von der Welt ihrer Kindheit die Rede gewesen und auch darüber gesprochen worden sein, was getan werden könnte, damit die Erinnerung an diese Welt nicht verloren geht.10 5

6 7 8

9 10

Karl Emil Franzos: Über A.Bernstein. In: AZJ 59 (1895) S. 5-8, 56-58, 67f., 92-94, 116-118, 128-130, 140-142, 247-249, 259-261, 273f„ 285-287, 295f„ 308f„ 330f. Isaak Rülf. Eine Begegnung mit A.Bemstein. In: AZJ 60 (1896) S. 438^440. Franzos, Über A.Bemstein (Anm.5) S. 92. Kalender und Jahrbuch auf das Jahr 5618 (5619) für die jüdischen Gemeinden Preußens, hrsg. von Ph.Wertheim. Zweiter und dritter Jahrgang, Berlin 1858. S. 5-108 und Berlin 1859, S. 5-144. Franzos, Über A.Bernstein (Anm.5) S. 140. Ebd.

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Weitere Einzelheiten über die Umstände der Entstehung von Vögele der Maggid ergeben sich aus zwei Briefen, die Bernstein im Sommer 1857 aus Bonn an den mit ihm befreundeten Berliner Rechtsanwalt Otto Lewald geschrieben hat. „Ich fühle", heißt es in dem Brief vom 23.Juli 1857, „seit längerer Zeit den Drang in mir nach schönwissenschaftlichen Arbeiten, und deshalb war ich sehr freudig erregt, als ich die kleine jüdische Novelle mit rasender Hast in zwölf Tagen, oder richtiger in zwölf Nächten abfaßte".11 Und in dem Brief, der das Datum vom 9.September 1857 trägt, findet sich die Bemerkung, die Beleg dafür sein könnte, daß Bernstein tatsächlich im Angedenken an seine verstorbene Frau die Novelle geschrieben hat: „Es geht mir wunderbar mit dieser kleinen Novelle. Sie ist mir lieb, weil die Geschichte ihres Entstehens und Werdens mir ganz besonders heilig ist."12 Die biographische Note in Bernsteins Novellen ist unverkennbar. Ort der Handlung ist in beiden Ghettogeschichten vermutlich jeweils Fordon, jener Ort, in dem Bernstein in jungen Jahren die Rabbinerschule besucht hat. Beide Novellen, die bemüht sind, die Lebenswirklichkeit der jüdischen Welt im Osten des Königreichs Preußens zu Beginn des 19 Jahrhunderts zu schildern, enthalten eine Reihe versteckter und offener Andeutungen, die erkennen lassen, daß Bernstein sich nicht nur märchenhaft wirkende Geschichten ausgedacht, sondern beim Schreiben die realen Umstände seiner Kindheit und Jugend vor Augen gehabt haben muß. So findet sich in Mendel Gibbor die Anspielung auf den sagenumwobenen Saul Wahl, der einen Tag König von Polen gewesen sein soll. Eine Bemsteinsche Familienüberlieferung besagt, daß Handele, das jüngste Kind von Saul, der angeblich fünf Söhne und zwei Töchter hatte, die „Ältermutter" der Familie gewesen sei. In Vögele der Maggid wiederum gibt es Passagen wie zum Beispiel die Charakterisierung der beiden Bachurim, „des Zempelburgers" und „des Kosminers", die von der Welt außerhalb des Ghettos träumen, Passagen, die in gewisser Weise an die Zeit erinnern, die Bernstein selbst als Talmudschüler in Fordon und Inowrazlaw verbracht hat. „Mich", sagt der Zempelburger in der Novelle, „treibt es fort aus der Kehilla und aus der Jeschiwo, ich will ein ordentlicher Lehrer werden, mein Examen ordentlich machen [...]"." Die Novelle Vögele der Maggid ist nicht nur eine idyllische Liebesgeschichte zwischen den zwei Talmudschülern, „dem Zempelburger" und „dem Kosminer", und den Töchtern des Badehausverwalters, dem sogenannten Mikwenitzer. Sie ist auch eine Schilderung der Probleme und Nöte eines Judentums, das aus der Enge der Ghettogassen ausbrechen will, aber in gewisser Weise Angst vor diesem Schritt hat. Vögele, die älteste Tochter 11

12 13

Bernstein an Otto Lewald, 23 Juli 1857 (Nachlaß Lewald-Stahr, Staatsbibliothek, Berlin/ DDR). Bernstein an Otto Lewald, 9.September 1857 (Ebd.). Kalender und Jahrbuch auf das Jahr 5618 (Anm.8), S. 88.

Bilder aus dem Ghetto

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des Mikwenitzer, die den Beinamen „der Maggid" (Prediger, Redner) trägt, weil sie häufig in ihren Gesprächen mit Zitaten aus Bibel und Talmud brilliert, verkörpert die im Aufbruch befindliche junge Generation, die zwar Ehrfurcht vor der Überlieferung hat, gleichzeitig aber davon überzeugt ist, daß es in der Zukunft möglich sei, und auch möglich sein müsse, jüdische Tradition und die Erkenntnis der modernen Welt miteinander zu verbinden. Bernsteins Erzählung hat ihren Höhepunkt, als Vögele in einer „Deroscho" (RabbineiTede), die sich mit den beiden Begriffen „Bereschit" (Anfang) und „Tachless" (Ende, Zweck) auseinandersetzt, den Rabbiner überzeugt; für die Kehilla würde es von Vorteil sein, wenn ihr und ihrer Schwester Liebster die Talmudschule verließen, um sich im Verlauf von drei Jahren in der Großstadt eine weltliche Bildung anzueignen. „Von heut über drei Jahr", erklärt sie dem Rabbiner, kommen die zwei Bachurim heim, und Reb Noachs Haus wird sein gebenscht (gesegnet). Und Reb Noach wird erfüllen, was er gelobt hat vor Gott und wird auftreten und geben das erste Geld zum Bauen einer Schule für jüdisch und deutsch, für alle Kinder der Kehilla [...] dann wird man wissen, daß da ist vorhanden Tauro und Derech erez (jüdische Lehre und Bildung des Landes), daß das ist „Reischess" (Anfang) und „Tachless" (Ende). 14

Bei der Novelle Mendel Gibbor steht nicht ein Talmudschüler im Mittelpunkt der Handlung, sondern ein Hausierer, der ohne staatliche Genehmigung mit Taschentüchern, Kattun, Stecknadeln, Propfenziehem, Hosenträgern, Kämmen, Spiegeln und dergleichen handelt. Wie in Vögele der Maggid ist auch die Diktion dieser Erzählung mit Bildern, Gleichnissen und witzigen Anspielungen durchwoben, die unverkennbar auf Geschichten aus Bibel und Talmud hinweisen. Beschrieben werden die Mühen und Schwierigkeiten, die Mendel vor allem mit den preußischen Behörden, aber auch mit seiner „K'hille" (Gemeinde) hat. Mit der letzteren hat er hauptsächlich Probleme wegen seiner übernatürlichen Körpergröße und -kraft, derentwegen er „Gibbor" (Starker) genannt wird. Schlägereien mit den „Gojim" führen dazu, daß Mendel, der gutmütig und fröhlich ist, zum Rabbiner bestellt wird. Unter Androhung des gefürchteten „Cherem" (Bann) wird ihm auf Handschlag das Wort abgenommen, „daß er gegen keinen Jüd die Hand und gegen keinen Goj die Faust aufheben werde, so lange er nicht in Aunus Nefoschaus, d.h. in lebensgefährlicher Notwehr, so handeln müsse". 15 Mendel, der nur ungern sich unterordnen und lieber zu den Soldaten gehen oder unter den Bauern leben will, ist ungebärdig und zum Ärger des Rabbiners nicht bereit, seine Rauflust zu zügeln. Er tut dies erst, als die greise Malko ihm von seinen Vorfahren und von seinem Vater erzählt, der ums Leben kam, als er einer Bäuerin helfen wollte, die vom reißenden 14 13

Ebd. S. 102. Kalender und Jahrbuch auf das Jahr 5619 (Anni.8), S. 20.

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Hochwasser der Weichsel hinweggeschwemmt worden war. Auch Mendel vollbringt eine gute Tat. Er schlägt zwei Koronower Räuber in die Flucht, als diese gerade dabei sind, den Gendarmen des Ortes zu überfallen - eine Tat, die die „K'hille" mit unbändigem Stolz erfüllt und Mendel zu einem viel bewunderten Mitglied der Gemeinde macht. Der Rabbiner, allen aufgestauten Ärger herunterschluckend, reicht ihm die Hand, und der Landrat ist sogar bereit, ihm einen lebenslänglich gültigen Hausierschein auszustellen. Bernstein ging es in seinen beiden Erzählungen darum, das Lebensgefühl und die Lebensumstände einer kleinen Judengemeinde im Osten zu schildern. Fast ist es schon ein Zuviel, ein Übermaß an Gemütsfülle und Warmherzigkeit, die er vor dem Leser ausbreitet. Die „K'hille" wird stets die „gute" genannt, und immer wieder heißt es „die heilige, liebe Schul", wie auch immer von den „lieben heiligen Büchern" gesprochen wird. Vögelchen, Golde, Täubchen, Händele und Jändele sind Namen, die jüdisches Leben kennzeichnen sollen, aber darüber hinaus von Bernstein auch bewußt als Mittel eingesetzt worden sind, den Stoff poetisch zu idealisieren.16 Auffallend sind die wie gestanzt wirkenden Sprachformeln und die immer wiederkehrenden jüdisch-deutschen Ausdrücke und Wendungen, die Bernstein benutzte, um dem Atmosphärischen seiner beiden Erzählungen eine spezifische Note zu geben. So spricht Mendel wiederholt aus „wärmster Seele", und der Sabbat Nachmu wird bald „der liebe Sabbath Nachmu", bald „der gute Sabbath Nachmu" genannt. Wendungen wie „Gott, gelobt sei er" oder „Gott boruch hu" tauchen immer wieder im Text auf. Typisch auch die Sätze, in denen es heißt, „der Maggid, Friede sei mit ihm" oder „mein Vater, sein Andenken sei gesegnet". War es nun der für den Leser ungewohnte Stoff, oder war es der spezifisch Bemsteinsche Stil, der es bewirkte, daß die beiden Erzählungen sofort Aufmerksamkeit erregten? Aufschlußreich sind die ersten Kommentare, die unmittelbar nach Erscheinen von Vögele der Maggid geäußert wurden. Philipp Wertheim, der Bernstein den vermutlich entscheidenden Anstoß gegeben hatte, die Novelle zu schreiben, meinte zum Beispiel, der literarische und ästhetische Wert könne gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. „Ich kann", teilte er ihm mit, „Ihnen aber sagen, daß die Innerlichkeit, die durch die ganze Erzählung geht, jedes Gemüt ergreifen und erfreuen muß [...] es ist ein wirkliches Kiddusch Haschem [„Heiligung des göttlichen Namens"] in der Weise, die alten Juden und das Judentum darzustellen".17 Ein wahrer „Ausbruch des Entzückens",18 teilte Bernstein voll Stolz Otto Lewald mit, sei die Stellungnahme des Buchhändlers Moritz Veits, des 16

17 18

Vgl. Max Aram, Ghettodichter (l.Aron David Bernstein). In: Die Welt, Nr. 47/1898, S. 13-15. Philipp Wertheim an A.Bemstein, 11 Juli 1857. In: AZJ 80 (1916) S. 223. A.Bemstein an Otto Lewald, 9.September 1857 (Nachlaß Lewald-Stahr, Staatsbibliothek, Berlin/DDR).

Bilder aus dem Ghetto

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einstigen Abgeordneten des Paulskirchenparlamentes. Aus einem Brief Veits, den er an Bernstein Anfang August 1857 geschrieben hatte, geht in der Tat hervor, daß dieser sehr angetan war vom .jüdischen Geist der Erzählung", „in dem alles, bis in das kleinste Detail hinein, gehalten ist".19 Veit, der im übrigen für die „Volkszeitung" die vermutlich erste Besprechung überhaupt verfaßt hat,20 war der Ansicht, daß Bernstein nicht genug dafür gedankt werden könne, daß er „eine Rechtfertigung der jüdischen Weltanschauung in ihren beschränktesten, wohl gar häßlichsten Erscheinungsformen gegeben"21 habe. Auf Veit hatte die Lektüre einen überwältigenden Eindruck gemacht. Seine Bewunderung galt besonders der Tatsache, daß es Bernstein gelungen sei, „das Leben abzubilden mit jener poetischen Wahrheit, die allein den Namen verdient". Er hätte, so heißt es in dem an Bernstein gerichteten Brief, oft die Beobachtung gemacht, daß die wirklichen Dinge, in einer camera obscura aufgefangen, einen Schein von Idealität haben, der ihnen in der Wirklichkeit abgeht. Die Verkleinerung des Gegenstandes, die Projektion des Körperlichen auf die Fläche, die Zierlichkeit der Einrahmung, die aus dem bunten Leben da draußen ein Stück gruppenartig hervorhebt - alle diese Umstände tragen dazu bei, den Schein des Genrebildes hervorzurufen.

Geradezu genial fand Veit Bernsteins Einfall, Vögele eine „Deroscho" (Rabbinerrede), eine „Tachliss-Drasche", wie er sie nannte, halten zu lassen: „Die ganze Wendung der Ereignisse wie der Zustände haben Sie verstanden, in diesem witzigen Einfall auf die anmutigste Weise zu verhüllen".22 Im übrigen gab er zu erkennen, daß er die Erzählung zu dem Besten zähle, was jüdische Literatur bisher hervorgebracht habe. Er meinte, die Novelle vermittele nicht nur ein authentisches Bild von der Welt des Judentums im Osten, sondern auch eine gehörige Portion Lebensweisheit, von der zu hoffen sei, daß sie nicht ohne Eindruck auf die Leser bleiben werde. Lobend über Vögele der Maggid äußerten sich neben dem Rabbiner Michael Sachs23 auch Abraham Geiger, den Bernstein einst als Rabbiner an die von ihm mitgegründete Reformgemeinde nach Berlin hatte holen wollen. Philipp Wertheim, der ihm den Kalender mit der Erzählung zugeschickt hatte, schrieb er, daß er Bernsteins Arbeit für eine „Perle der Poesie" halte, „deren Wert allerdings nur von denjenigen vollkommen erkannt wird, wel19 20

21 22 23

Moritz Veit an A.Bemstein, 4.August 1857. In: AZJ 57 (1893) S. 69f. Volkszeitung vom 11 Juli 1857. Vgl. Philipp Wertheim an A.Bemstein, llJuli 1857: „Dr.Veit ist so entzückt, daß er ihnen wohl schon geschrieben haben wird, um ihnen eine Freude auszudrücken. Irre ich nicht, so ist die Rezension in der heutigen Nummer der .Volkszeitung' seiner Feder entflossen." (Anm.17). Moritz Veit an A.Bemstein, 4.August 1857 (Anm.17). Ebd. Michael Sachs an Moritz Veit, 17 Juli 1857. In: Michael Sachs und Moritz Veit. Briefwechsel. Hrsg. von Ludwig Geiger, Frankfurt a.Main 1897, S. 104f.

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che mit den geschilderten Zuständen und den in ihnen herrschenden geistigen und gesellschaftlichen Voraussetzungen vertraut sind".24 Unterschwellig klingt eine leichte Kritik an, wenn er behutsam zu bedenken gibt, daß überwundene und entschwundene Zustände leicht verklärt werden könnten - eine Gefahr, von der er jedoch meinte, sie würde auf Bernsteins Erzählung nicht zutreffen. Es dürfte ziemlich sicher sein, daß Bernstein einige der Ghettoerzählungen gekannt hat, die bereits von anderen vor ihm geschrieben worden sind. Als intimer Kenner des Werkes von Heinrich Heine 25 hat er mit Bestimmtheit dessen Rabbi von Bacherach gelesen. Vielleicht, wenn auch nicht nachweisbar, hat er die Erzählungen von Hermann Schiff 26 in Händen gehabt, der ein Cousin Heines war und mit seinem kurz vor der Märzrevolution erschienenen Ghettoroman Schief-Levinche mit seiner Kalle oder Polnische Wirtschaft (1848) eine radikal aufklärerische Haltung eingenommen hatte, die nur noch einen für alle Menschen gültigen Glauben an Vernunft, Aufklärung und Toleranz gelten ließ. Den entscheidenden Anstoß hat Bernstein zweifellos jedoch von Berthold Auerbach erhalten. Seine Romane Spinoza (1837) und Dichter und Kaufmann (1840), aber auch seine Schwarzwälder Dorfgeschichten haben nicht nur ihn, sondern auch eine Reihe anderer Schriftsteller beeinflußt. So wissen wir, daß Auerbach Vorbild für Leopold Kompert27 war, dessen im böhmischen und mährischen Judentum angesiedelten Erzählungen wiederum die Werke anderer deutsch-jüdischer Autoren beeinflußten, wie zum Beispiel die von Meir Lehmann, David Honigmann, Josef Samuel Tauber, Max Grünfeld, Eduard Kulke und Salomon Kohn, bei denen immer wieder die gleichen Motive in den Ghetto-Erzählungen eine Rolle spielen - die Konflikte, die für viele Juden daraus entstanden, daß sie nicht wußten, ob sie an der überlieferten Tradition festhalten oder den Verlockungen der aus dem Westen herandrängenden bürgerlichen Freiheiten nachgeben sollten.

24 25

26

27

Abraham Geiger an Philipp Wertheim, 14.September 1857. In: AZJ 57 (1893) S. 70. Vgl. Julius H. Schoeps: Aron Bernstein über Heinrich Heine. Ein Kapitel Heine-Rezeption in der Zeit des Vormärz. In: Juden in Deutschland. Zur Geschichte einer Hoffnung. Historische Längsschnitte und Einzelstudien. Hrsg.von Peter von der Osten-Sacken. Berlin 1980 (= Veröffentl. aus d.Institut Kirche uJudentum H.ll). S. 143-148. Hermann Schiff, eigentlich David Bär Schiff, Pseudonyme Isaak Bemays und Heinrich Preese (1801-1867), hatte als Journalist für den „Dichterspiegel", den „Gesellschafter" und den „Freimüthigen" gearbeitet, lebte ab 1835 in Hamburg und war dort als Schauspieler, Musiker, Fechtmeister, Balettänzer, Schriftsteller, Notenschreiber und Journalist tätig, ließ sich protestantisch taufen und starb im Armenhaus. Leopold Kompert (1822-1896), hatte anfänglich Erzählungen und Reiseskizzen im Stile der Jungdeutschen veröffentlicht, übernahm 1848 von Karl Beck die Feuilletonredaktion des „Österreichischen Lloyd" in Wien, später Mitdirektor einer Bank, Leiter der Schulsektion der israelitischen Kultusgemeinde Wiens, Landschulrat für Niederösterreich und Regierungsrat. Vgl. Wilma A.Iggers: Leopold Kompert. Romancier of the Bohemian Ghetto. In: Modem Austrian Literature 6 (1973), S. 78-97.

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Auerbach ist unverkennbar das große Vorbild für Bernstein gewesen. Das hängt nicht nur damit zusammen, daß sie befreundet waren und in einem persönlichen Verkehr miteinander standen, sondern vor allem damit, daß Bernstein von Anfang an ein uneingeschränkter Bewunderer der Auerbachschen Arbeiten gewesen ist und großen Wert auf dessen Urteil gelegt hat. Es gibt dafür verschiedene Belege, wie zum Beispiel die Bemerkung gegenüber Otto Lewald, die in dem schon erwähnten Brief vom 9.September 1857 nachzulesen ist. Lewald gegenüber bekannte er offen, daß er Berthold Auerbach Dank schulde: „Wie gerne möchte ich Auerbach ein paar Worte des Dankes schreiben! Aber ich schäme mich, mich ihm zu zeigen, wie ich mich stolz fühle und finde den Ton nicht, in welchem ich die wirkliche Verehrung vor seinem Urteil aussprechen kann [...]". M Ob Auerbach Vögele der Maggid gelesen hat, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Anders steht es mit Mendel Gibbor. Diese Erzählung hat er gekannt, wie aus einem Brief zu entnehmen ist, den er Bernstein geschrieben hat und der voll des Lobes ist. „Noch selten in meinem Leben", beginnt er, habe ich des Morgens unmittelbar nach dem Frühstück, bei der ersten Cigarre gelesen; es ist das meine wache Dämmerungsstunde und allerlei Träumereien und Phantasien steigen mit den Rauchwölkchen auf. Heute mußte ich Morgens lesen, ich hatte gestern Abends die Geschichte von Ihrem kindhaften Riesen begonnen, lieber Bernstein, wollte gar nicht einschlafen, und doch taten mir die Augen weh und als wäre keine Nacht dazwischen gewesen, mußte ich gleich weiter lesen. 29

Auerbach, den Mendel Gibbor an Clemens Brentanos bekannte Erzählung Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl (1817) erinnerte, war besonders angetan von der Komposition der Novelle, von der Schilderung der Einzelfiguren und Einzelgruppen, von denen er meinte, Bernstein habe sie zu einem grandiosen Ensemblestück vereinigt. Er hielt zwar den Ton für etwas elegisch, beinahe sentimental und manche Stellen schon fast für Wehmut erregend. „ A b e r " , s o schrieb er ihm, „die Ablösung von Dur und Moll ist Ihnen meisterlich gelungen".30 Bernstein war nach Ansicht Auerbachs mit Mendel Gibbor ein Meisterwerk in Sprache und Form gelungen. „Die Art", teilte er ihm mit, wie Sie das Denken und Empfinden im Dialekt als solches festhalten, gäbe viel zu besprechen, einschränkend und beistimmend. Sie gewinnen dadurch jene Erzählungsform, die dem tönenden Worte und nicht dem lautlos geschriebenen eigen ist [...] Ihre Charaktere sind wie die Rembrandt'schen Bilder so aufgetragen, daß die Fläche verschwindet und man die Erhabenheiten greifen zu können glaubt. Aber nein, Rembrandt ist hier falsch angewendet. Sie malen wie jene

28 29 30

Vgl. Anm.12. Berthold Auerbach an A.Bemstein, 22.September 1858. In: AZJ 57 (1893) S. 43. Ebd.

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alten frommen Maler, betend, andächtig, und diese Andacht dringt in das Bild hinein und aus ihm heraus in den Schauenden und Lesenden. „Ja, mein herzlich geliebter Freund", heißt es schließlich, „ich habe beim Lesen Ihrer Erzählung eine tiefinnerste Sättigung empfunden, für die es kein Dankeswort gibt".31 Bernstein war selbst sehr überrascht über den Erfolg, den seine Novellen hatten. Otto Lewald schrieb er nach Erscheinen von Vögele der Maggid, er habe eine ganze Reihe von zustimmenden Briefen erhalten, die ihn zu der Überzeugung gebracht hätten, „daß ich selber in aller Schöpferfreude mein Kind nicht richtig beurteilt habe". In Frankfurt am Main, berichtete Bernstein, habe er einen kleinen Kreis „halb verzückter Verehrer" der Novelle gefunden, „die in einer Weise über die Vorzüge derselben stritten, welche mich stolz oder närrisch hätte machen können". „Genug", bekannte Bernstein seinem Freunde Lewald gegenüber, „ich habe mehr Freude daran, als ich mir jeweils hätte vorstellen können!"32 Bernstein ist in den folgenden Jahren von Freunden verschiedentlich angesprochen worden, ob er nicht an den Erfolg seiner beiden Ghetto-Erzählungen anknüpfen und noch einmal etwas Ähnliches schreiben wolle. Besonders Elisabeth Lewald, die Ehefrau Otto Lewaids, hat ihm immer wieder zugeredet, sich weiter literarisch zu betätigen. Wahrscheinlich war es das Vertrauen, das er in sie und ihr literarisches Urteil hatte, daß er ihr seine frühen Jugendarbeiten33 mit der Bitte übergab, sie bei Gelegenheit durchzusehen und sich kritisch zu diesen zu äußern. Daß sie dies getan hat, daran dürfte eigentlich kein Zweifel bestehen. Schon aus der Tatsache, daß im Nachlaß Lewald-Stahr sich einige unveröffentlichte Gedichte und Texte Bernsteins befinden, die Elisabeth Lewald und ihrer Familie gewidmet sind, läßt sich ersehen, daß die Beziehung zwischen beiden mehr war als nur eine Freundschaft, die sich auf einen Austausch familiärer Informationen und Unverbindlichkeiten beschränkt hat. Als Mendel Gibbor im Winter 1857/58 entstand, hat Bernstein Elisabeth Lewald Partien aus dem Manuskript vorgelesen und sie zu ihrer Meinung befragt, ob er die Arbeit einem größeren Leserkreis zugänglich machen sollte oder nicht. „Nehmen Sie sie", schrieb er ihr am 9.0ktober 1857, „nicht mit Schonung, aber doch mit Freundlichkeit auf! Sie ist eine schnell entstandene Zwischenarbeit, vielleicht nur eine Tagesblume, die auch schnell vergessen sein soll. Aber was so leicht ver-

31 32

33

Ebd. A.Bernstein an Otto Lewald, 9.September 1857 (Nachlaß Lewald-Stahr, Staatsbibliothek, Berlin/DDR). In Gubitz' „Gesellschafter" hatte Bernstein u.a. die Novellen „ S o h n oder Bruder" (Nr.53-62/ 1836), „Erlebnisse, oder die Nachtwache bei einer Kranken" (Nr.168-189/1836), „Die Kinder" (Nr.87-89, 91-94/1837), „Beate" (Nr.l 15-120/1837), „Vetter Tonnenmast" (Nr. 140-152/1838), in der „Mittemachtzeitung" die Novelle „Die Göttin" (Nr.58-63/ 1836) und im „Freimüthigen" die Novelle „Herzenserlösung" (Nr.100-104/1835) veröffentlicht.

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gänglich ist, das verdient zum Trost schon ein wenig Teilnahme". 34 Elisabeth Lewald und Bernstein standen in einem regen Gedankenaustausch, der sich auf alle möglichen Wissensbereiche erstreckte, unter anderem auf Probleme der sie beide interessierenden literarischen Ästhetik. Aufschlußreich ist ein erhaltener Brief mit Datum vom 7.Januar 1857, in dem Bernstein, ganz in der Tradition der sokratischen Philosophie, aber auch Baumgartens, Kants und des deutschen Idealismus sich mit dem „Wahren" und dem „Schönen" auseinandersetzte. „Das Urteil für das Wahre", bemerkt Bernstein hier, „muß der Sinn für das Schöne sein, zwei Quellen der menschlichen Erkenntnis". Und weiter: Wenn man das, was man Urteil nennt, in seine Grundbestandteile zerlegt, so ists entweder logisch, also wahr nach den Gesetzen des Geistes, oder es betrifft das Schöne und Unschöne, worüber ein harmonisches Gesetz unserer Sinne entscheidet; oder es fällt in den Bereich des Guten und Bösen, worüber unser sittliches Gefühl entscheidet. Und Bernstein kommt zu dem Schluß: „Das Wahre, das Schöne und das Gute sind daher Maßstäbe unserer Erkenntnis. Ein vierter [Maßstab] ist nicht vorhanden." 35 Es ist behauptet worden, Bernsteins Ghetto-Schilderungen hätten einen ausgesprochen unpolitischen Charakter, seien „fast tendenzlos", 36 wie das Karl Emil Franzos formuliert hat. Dieser Feststellung ist zuzustimmen,37 denn Bernstein hat im Gegensatz zu Heinrich Heine (Rabbi von Bacherach), Annette Droste-Hülshoff (Die Judenbuche), Berthold Auerbach (.Dichter und Kaufmann) oder Leopold Kompert (Christian und Lea) alle Bemerkungen vermieden, die in den Kampf um die rechtliche und faktische Gleichstellung eingegriffen oder die inneijüdischen Auseinandersetzungen thematisiert hätten. Bernstein ging es in seinen beiden Novellen in erster Linie ganz offensichtlich nur darum, die Lebensumstände der Juden im Osten so zu zeichnen, wie er sie noch aus der Zeit seiner Jugend und Kindheit her kannte. Vorschläge über eine Veränderung der Zustände, wie man sie eigentlich von dem liberalen Publizisten und aufgeklärten naturwissenschaftlichen Volksschriftsteller Bernstein hätte erwarten können, hatte er jedenfalls nicht im Sinn, als er sich daranmachte, die beiden Novellen für Wertheims „Kalender" niederzuschreiben. 34

35 36 37

A.Bernstein an Elisabeth Lewald. 9.Dezember 1857 (Nachlaß Lewald-Stahr, Staatsbibliothek, Berlin/DDR). A.Bernstein an Elisabeth Lewald, 7Januar 1857 (ebd.). Vgl. oben Anm.5. Zurückzuweisen ist die Behauptung Wilhelm Goldbaums, Kompert und Bernstein seien Tendenzpoeten gewesen. Der tolerante Kompert habe die Verächter des Judentums in Freunde verwandeln wollen, während der auf dem Rechtsstandpunkt stehende Bernstein sie unbarmherzig mit den Mitteln der talmudischen Logik geiBele. Bernstein, meint Goldbaum, fasse das Judentum nationalpolitisch auf (Literarische Physiognomien. Wien und Teschen 1884, S. 175-184).

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Auf der anderen Seite wäre es falsch, würde man annehmen, Bernstein hätte um jeden Preis an der Welt des Ghettos festhalten wollen. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Sein Ideal war der emanzipierte Mensch, derjenige, der sich löst von den Fesseln der Tradition und an den Fortschritt der Menschheit glaubt. Belegt werden kann dies zum Beispiel durch eine in der „Volkszeitung" erschienene Besprechung des Franzosschen Buches Aus HalbAsien, in der Bernstein die Ansicht zu erkennen gab, daß, wenn die Völker des Ostens kein demokratisch-parlamentarisches Regime ertragen könnten, sie zu „schmerzhaftem Absterben"38 verurteilt seien. Diese Bemerkung, dazu noch die von Franzos kolportierte Äußerung Bernsteins,39 die faktische Gleichberechtigung könne nur durch die Entnationalisierung, die Assimilierung bewirkt werden, lassen zweifelsfrei erkennen, daß Bernstein die Zukunft nicht im Ghetto, sondern in der Überwindung desselben gesehen hat. Im Gegensatz zu anderen Ghetto-Schriftstellern hat Bernstein keine der berüchtigten ostjüdischen Klischees benutzt, die seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts verstärkt in die Literatur Eingang gefunden haben.40 Das halb dialektale, halb jargonhafte Sprachgemisch, das Hermann Schiff und manche andere jüdische und nichtjüdische Schriftsteller benutzten, diente dazu, die Welt des traditionellen Judentums als mittelalterlich, abergläubisch und fortschrittsfeindlich zu zeichnen. Anders Bernstein, der mit den in seinen Novellen verwandten idiomatischen Charakterisierungen weder denunzieren noch stereotypisieren, schon gar nicht zwischen einem höherstehenden Westjudentum und einem tieferstehenden Ostjudentum unterscheiden wollte. Ihm ging es um die authentische Wiedergabe des ostjüdischen Lebens, um das Aufzeigen der traditionellen jüdischen Bindungen, wobei die stellenweisen humorvollen und satirischen Glossierungen nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, daß es Bernstein durchaus bewußt war, „welche persönlichen und sozialen Werte im Rahmen dieser gebundenen Lebensform lebbar sind".41 Ursprünglich waren die Novellen für ein jüdisches Publikum verfaßt. Er schreibe, bemerkte Bernstein am Schluß von Mendel Gibbor, für die „lieben Leser mit guten jüdischen Herzen". 42 Aber es ergibt sich auch daraus, daß die Erstfassungen der beiden Novellen, die in dem „Kalender und Jahrbuch für die jüdischen Gemeinden Preußens" 1858 und 1859 erschienen, in einer Mischung aus drei Sprachen (Hochdeutsch, Jüdisch-Deutsch, Hebräisch) geschrieben waren, die nur von einem jüdischen Publikum verstanden werden konnte. Hätte Bernstein die Erstfassung für ein breiteres Publikum ge38 39 40

41 42

Franzos, Über A.Bemstein (Anm.5) S. 5f. Ebd. S. 6. Vgl.: Hans-Peter Bayerdörfer. Das Bild des Ostjuden in der deutschen Literatur. In: Juden und Judentum in der Literatur. Hrsg. von Herben A.Strauss und Christhard Hoffmann. München 1985. S. 211-236. Ebd. S. 225. Vgl. Anm.8. Berlin 1859, S. 144.

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schrieben, dann hätte er ganz sicher auf manche Wortwitze im Jargon, auf manche Proben talmudischer Dialektik oder kabbalistischer Mystik verzichten müssen. Vermutlich war es der Zuspruch, den Bernstein von verschiedener Seite erfuhr, der ihn bewegte, die Novellen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. 1860 erschienen bei Gerschel in Berlin beide Novellen vereinigt in einem Band. Sie waren jetzt mit offensichtlichem Blick für ein nichtjüdisches Lesepublikum überarbeitet und von zahlreichen Hebraismen befreit worden - zum Schaden für die Ursprünglichkeit und die Echtheit der Erzählungen. Franzos empfand dies bereits, als er in seiner Bernstein-Abhandlung meinte, die überarbeitete Fassung sei nur ein Notbehelf, der zur Unterdrükkung oder Abschwächung vieler charakteristischer Details geführt habe man lese nun statt des Orginals bloß eine gewandte Übersetzung. 43 Vögele der Maggid und Mendel Gibbor sind im deutschen Judentum viel gelesen worden. In den Familien hatten die beiden Novellen fast den Charakter von Hausbüchern. Immer wieder wurden sie neu aufgelegt. 44 Die einen waren stolz auf die Novellen, weil sie die eigene Herkunft in ihnen wiederzuerkennen glaubten. Die anderen meinten, die Novellen seien ein Stück jüdischer Kultur, das es gelte zu bewahren. Die frühen Zionisten gingen sogar soweit, Bernstein als einen der ihren anzusehen. Moses Hess zum Beispiel hat die Novellen gelesen. An einer Stelle in Rom und Jerusalem bemerkte er, Leopold Kompert, Alexander Weill und Aron Bernstein gebühre Lob für ihre „den großen Erinnerungen unserer unsterblichen Nation"45 gewidmeten Poesie. Und Max Aram glaubte sogar, in einem in der zionistischen „Welt" veröffentlichten Artikel,46 die Ghettogeschichten hätten unterschwellig für das nationale Erwachen eine gewisse Rolle gespielt. In der Zeit des Nationalsozialismus sind die beiden Novellen noch einmal neu herausgebracht worden, und zwar in der berühmten SchockenBücherei, in der zwischen 1933 und 1938 insgesamt 83 Bände erschienen sind. Der Verlag erhoffte sich, daß mit dieser Bücherei bedeutsames jüdisches Schrifttum dem Leser zugänglich gemacht werden könnte. Wie die anderen Bände, die in der Schocken-Bücherei erschienen, waren auch Vögele der Maggid und Mendel Gibbor sorgfältig bearbeitet und ediert. Für die Neuausgabe hatte man die Urfassung herangezogen und nur einige unwesentliche Episoden um der Erzielung größerer Geschlossenheit willen gestrichen. Der Erfolg der Bücherei war enorm, was jedoch damit zusammengehangen haben dürfte, daß das jüdische Publikum sich unter dem Eindruck 43 44 45

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Franzos, Über A.Bemstein, S. 308f. 1892 erschien die siebte Auflage im Verlag Freund & Jeckel (Carl Freund) in Berlin. Moses Hess: Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätenfrage. Briefe und Noten. Leipzig 1862. S. 34f. Vgl. Julius H.Schoeps: Moses Hess - ein Vorläufer des modernen Zionismus. In: Emuna 3/4 (1975) S. 67. Vgl. Anm.16.

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der Dissimilationspolitik der Nazis verstärkt auf die Wurzeln des Judentums zu besinnen begann und die Lektüre von Texten zur jüdischen Religion, Geschichte und Kultur von vielen als ein notwendiger „Akt der Selbstbehauptung" in schwerer Zeit begriffen wurde47.

47

Noch in der letzten Ausgabe des .Jüdischen Nachrichtenblattes", das am 31. Dezember 1942 in Berlin erschien, wurde die Lektüre von „Vögele der Maggid" empfohlen.

Gerhard Kurz (Gießen)

Widersprüchliche Lebensbilder aus Galizien Zu Leo Herzberg-Fränkels „Polnische Juden"

Leo Herzberg-Fränkel gehört zu den poetae minores des 19. Jahrhunderts. Heute ist er so gut wie unbekannt und wird in den Literaturgeschichten, wenn überhaupt, nur beiläufig erwähnt. Immerhin ist seine Geschichte Der Klausner neuerdings in die Anthologie Geschichten aus dem Ghetto aufgenommen worden. 1 Ende des 19. Jahrhunderts war er dem jüdischen literarischen Publikum als Verfasser von Geschichten über die galizischen Juden gegenwärtig. Gustav Karpeles, der einflußreiche Literaturhistoriker und - seit 1890 - Herausgeber der „Allgemeinen Zeitung des Judentums", schreibt in seiner Übersicht Ein Blick in die jüdische Literatur von 1895 über die moderne literarische[n] Arbeit, die die Schilderung des Judenthums vergangener Tage, seines Familienlebens und seiner Konflikte mit der modernen Weltanschauung, zu ihrer Aufgabe sich gesetzt und die der deutschen Literatur eine neue Spezies von Erzählungen, die jüdische Dorfgeschichte zugeführt hat. Der Meister dieser Ghettogeschichten ist Leopold Kompert; von seinen Schülern, denn so kann man alle Nachfolgenden nennen - haben A. Bernstein die Juden in Posen, K.E. Franzos und Herzberg-Fränkel die polnischen, E. Kulke die mährischen, M. Goldschmied die holländischen, Mosenthal die hessischen, M. Lehmann die süddeutschen, S. Kohn die böhmischen Juden mit Liebe und Verständnis geschildert. Natürlich darf hier der Name Berthold Auerbachs nicht vergessen werden, der dieser Literatur die Pfade geebnet hat, und auch Heinrich Heine kommt uns wieder in den Weg, dessen .Rabbi von Bacharach' ihr Vorbild gewesen. Karpeles fährt fort: Damit tritt das Judentum und seine Literatur in einen neuen Kreis, der vielleicht der Wendepunkt der Entwicklung beider sein kann. Ist jene Literatur zu Ende oder wird diese Poesie noch eine neue Auferstehung erleben?2 Die Übersicht von Gustav Karpeles, der die jüdische Literaturgeschichte „in der modernen Entwicklung" in die deutsche Literaturgeschichte übergehen läßt, die „der Poesie der jüdischen Lyriker deutscher Zunge das Wort der Verteidigung und unparteiischen Würdigung gesprochen" habe, erschien als Heft 8 der ,Jüdischen Universal-Bibliothek", die 1895 im Prager Verlag J. Hermand (Hrsg.): Geschichten aus dem Ghetto. Frankfurt a.M. 1987. G. Karpeles: Ein Blick in die jüdische Literatur (Jüdische Universal-Biblioihek H. 8). Prag 1895. S. 95.

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Brandeis erschien, nach dem Muster von Reclams Universal-Bibliothek konzipiert und aufgemacht. Heft 1 enthielt die Erzählung Die schöne Hausiererin von Eduard Kulke, Heft 2/3 die Erzählung Geheime Wege von Leo Herzberg-Fränkel, Heft 4 die Jüdischen Kulturskizzen, Heft 5 Genrebilder aus dem jüdischen Familienleben von Ida Barber und Heft 9 die Polnischen Judengeschichten von Leopold von Sacher-Masoch. Mit diesen ersten Titeln erhob die „Jüdische Universal-Bibliothek" einen programmatischen Anspruch. Herzberg-Fränkels Erzählung wird dabei eine repräsentative Bedeutung zuerkannt. Sein Werk hat danach seinen Ort in der gegenwärtigen jüdischen Literatur, die, nach den Worten von Karpeles, die „Schilderung des Judentums vergangener Tage, seines Familienlebens und seiner Konflikte mit der modernen Weltanschauung" sich zur Aufgabe macht. In Kürze nun die Daten zu Leo Herzberg-Fränkels Biographie, soweit sie zu eruieren waren.3 Leo Herzberg-Fränkel wurde am 19. September 1827 in der galizischen Stadt Brody geboren. Brody war eine wichtige Grenz- und Freihandelsstadt an der russischen Grenze des (seit 1772) österreichischen Kronlandes Galizien. Neben dem Gymnasium in Lemberg gab es nur in Brody eine höhere Schule in Ostgalizien. 1913 bestand auf dieser höheren Schule, dem späteren Kronprinz-Rudolf-Gymnasium, Joseph Roth seine Matura mit Auszeichnung. Galizien war Mitte des 19. Jahrhunderts beherrscht von tiefen sozialen und nationalen Spannungen zwischen polnischen Grundherren und ruthenischen Bauern. Zwischen diese nationalen und sozialen Fronten gerieten die Juden.4 Die Juden ihrerseits waren gespalten in Anhänger der jüdischen Reformbewegung, der Haskala, und in Verteidiger der orthodoxen Religiosität und des Chassidismus. 1848 kam es in Galizien zu einem regelrechten Kulturkampf, in dem der für geistige und religiöse Reformen eintretende 3

4

Zur Biographie von Leo Herzberg-Fränkel vgl.: Deutsches Literatur-Lexikon. Begr. v. W. Kosch, hrsg. v. H. Rupp u. C.L. Lang, dritte Auflage 1979. Bd. 7, S. 1038; Encyclopaedia Judaica. Jerusalem 1971. Vol. 8, S. 406; Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950. Hrsg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Graz/Köln 1952. Bd. 2, S. 296; Jüdisches Lexikon. Hrsg. v. G. Herlitzu. B. Kirschner, Berlin 1927; Nachdruck: Königstein/Ts. 1982. Bd. 2, Sp. 1569f.; J.W. Nagl, J. Zeidler, E. Castle (Hrsg.): Deutsch-österreichische Literaturgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung in: Österreich-Ungarn. Bd. 4: von 1890-1918. Wien 1937. S. 139f. Zu Galizien vgl.: W. Häusler: Das galizische Judentum in der Habsburger Monarchie im Lichte der zeitgenössischen Publizistik und Reiseliteratur von 1772-1848. München 1979; ders., „Aus dem Ghetto". Der Aufbruch des österreichischen Judentums in das bürgerliche Zeitalter (1780-1867). In: H.O. Horch u. H. Denkler (Hrsg.): Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. 1. Teil. Tübingen 1988. S. 66f.; M. Klánska: Problemfeld Galizien. Zur Thematisierung eines nationalen und politisch-sozialen Phänomens in deutschsprachiger Prosa zwischen 1846 und 1914. Krakow 1985; M. Pollack: Nach Galizien. Von Chassiden, Huzulen, Polen und Ruthenen. Wien 1984; F. Rinner u. K. Zerinschek (Hrsg.): Galizien als gemeinsame Literaturlandschaft. Innsbruck 1988.

Widersprüchliche Lebensbilder aus Galizien.

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Rabbiner Abraham Kohn von Lemberg ermordet wurde. Brody war ein Zentrum der jüdischen Reformbewegung, die sich unter anderem gegen die Kinderehe und gegen das Cheder, die orthodoxe Kinderschule, richtete. Herzberg-Fränkel nahm Partei für die jüdische Reformbewegung. 1848 engagierte er sich in Brody für die Revolution und wurde Unteroffizier der Nationalgarde. Deswegen wurde er wohl gezwungen, Brody zu verlassen. 1848/49 führte ihn eine Reise zu den deutschen Kolonisten in Bessarabien. 1851 veröffentlichte er darüber seine Bilder aus Rußland und Bessarabien. Er ging nach Wien, lebte dort bis 1852 als Mitarbeiter von Zeitschriften (vonSaphirs„Humorist"unddes„Österreichischen Lloyd")undalsMitherausgeber der „Reichszeitung". Wieder in Brody zurück, wurde er 1856 als Sekretär der Industrie- und Handelskammer angestellt. Diesen Beruf übte er bis 1896 aus. Später übernahm er daneben die Funktion des Inspektors der israelitischen Hauptschule (einer Baron-Hirsch-Schule), die im josephinischen Geist westliche Bildung gegen den orthodoxen Unterricht des Cheder zu verbreiten suchte. Er wurde auch Mitglied des Stadtrats. Vielfältig geehrt starb er am 5. Juni 1915 in Teplitz-Schönau in Böhmen, wohin er gezogen war. Von seinen Werken sind neben den Bildern aus Rußland und Bessarabien vor allem zu erwähnen: Polnische Juden. Geschichten und Bilder, 1867, 2. Auflage 1878. Von diesen Geschichten erschienen französische, polnische, russische und hebräische Übersetzungen. 1889 veröffentlichte er die Geschichte Ein Meschumed aus den Polnischen Juden unter dem Titel Abtrünnig. Ein Lebensbild aus Galizien. Geheime Wege von 1895 ist seine letzte Erzählung. Schließlich, 1898, veröffentlichte er den Beitrag Die Juden in Galizien als ein Kapitel des monumentalen Werks Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, das vom Kronprinzen Rudolf initiiert wurde. In dieser Darstellung des galizischen Judentums fällt eine unaufgelöste Widersprüchlichkeit auf, die für Herzberg-Fränkels Werk überhaupt als charakteristisch angesehen werden kann. Einerseits preist er hier die .Abgeschlossenheit" und „Isolierung" des jüdischen Lebens, weil in dem „engen communalen Zusammenhalten und Zusammenwirken" die wunderbare „Widerstandskraft" liege, „welche Jahrhunderte schwerster Leiden und härtester Prüfungen überdauerte." Andererseits redet er kritisch von der „mumienhaften Starrheit" der jüdischen Verhältnisse im Lande.5 Das Milieu von Herzberg-Fränkels Erzählungen bildet das galizische Judentum an der Grenze zu Rußland, das Zusammenleben von Juden und Polen. Seine Themen: die Emanzipation des Juden aus der orthodoxen Enge; der Konflikt von orthodoxen Juden und aufgeklärten, freigläubigen, assimilationswilligen Juden, für die Deutschland das kulturelle Vorbild ist. Weniger im Vordergrund, aber doch unübersehbar, erscheint der mit Sympa5

Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, Bd. 12: Galizien. Wien 1989. S. 475f.

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thie gezeichnete Kampf der Polen um nationale Selbständigkeit. Der Konflikt zwischen orthodoxen und aufgeklärten Juden macht ein großes Thema der deutschsprachigen .jüdischen' Literatur des 19. Jahrhunderts aus. Berthold Auerbachs Spinoza (1837) und Dichter und Kaufmann (1840), Gutzkows Uriel Acosta (1846), Leopold Komperts Kinder des Randars in Aus dem Ghetto (1848) und Moritz Rappaports (ebenfalls ein galizischer Autor) Bajazzo (1863) mögen als Beispiele genügen. Von großer Wirkung war auch der Roman der polnischen Autorin Eliza Orzeszkowa Meier Ezofowicz. Erzählung aus dem Leben der Juden (polnisch 1878, die dritte Auflage der deutschen Übersetzung erschien in Dresden / Leipzig 1891). DieserRoman beginnt mit der Apostrophierung der „Aufklärung" als dem „besten Apostel der allgemeinen Verbrüderung". Auch die Werke von Karl Emil Franzos und Leopold von Sacher-Masoch, die eigentlich Galizien als Literaturlandschaft schufen, sind für dieses Grundthema der jüdischen deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts anzuführen. Der Konflikt zwischen orthodoxen und aufgeklärten Juden konnte sich leicht zur Opposition von ostjüdischer und westjüdischer Welt verfestigen. In ihr erschien die ostjüdische Welt gegenüber dem aufgeklärten liberalen Westen als eine Welt der Finsternis und des Unglücks, als eine sozial und intellektuell archaische Welt. In Prag, Wien und Berlin wurde diese ostjüdische Welt jedoch zugleich als abstoßende und faszinierende, exotisch-fremde Welt erfahren. Sie faszinierte, weil sie das verkörperte, was man nicht mehr sein wollte, aber zugleich auch das, was man nicht mehr war: die ferne, verlorene Identität. Die Herausbildung dieses ambivalenten Bildes des osteuropäischen Judentums läßt sich schon an Heinrich Heines Reisebild Über Polen von 1823 ablesen. Über die polnischen Juden schreibt Heine: ... ihre Geisteswelt versumpfte zu einem unerquicklichen Aberglauben [...] Dennoch, trotz der barbarischen Pelzmütze, die seinen Kopf bedeckt, und der noch barbarischeren Ideen, die denselben füllen, schätze ich den polnischen Juden weit höher als so manchen deutschen Juden, der seinen Bolivar auf dem Kopf, und seinen Jean Paul im Kopfe trägt. In der schroffen Abgeschlossenheit wurde der Charakter des polnischen Juden ein Ganzes [...] Der polnische Jude mit seinem schmutzigen Pelze, mit seinem bevölkerten Barte und Knoblauchgeruch und Gemauschel, ist mir noch immer lieber als mancher in all seiner staatspapierenen Herrlichkeit.6

Dieser Text enthält schon alle Elemente der späteren Verklärung des Ostjudentums. Für diese Positivierung eines negativen Bildes im Verlauf des 19. Jahrhunderts wären noch Aron Bernsteins Erzählungen Vögele der Maggid (1857) und Mendel Gibbor (1858) und ) ein Beleg. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird diese Positivierung des ostjüdischen Judentums integriert in die kulturkritische Opposition Osten - Westen, in der der Osten als au6

H. Heine: Sämtliche Schriften in 12 Bänden. Hrsg. v. K. Briegleb. Frankfurt a.M. 1981. Bd. 3. Hrsg. v. G. Häntzschel. S. 76f.

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thentische Welt gegen den Westen ausgespielt wird, z.B. bei Rilke, Hofmannsthal und Kafka. Das Bild des Ostjuden wird jedoch auch antisemitisch instrumentalisiert. Hans-Peter Bayerdörfer hat darauf hingewiesen, daß im Antisemitismus das alte Judenstereotyp auf die Figur des Ostjuden ausgelagert wurde, so daß sie von dorther jederzeit wieder „rückgeführt und vom östlichen Erscheinungsbild revitalisiert werden konnte." 7 Bei der Entstehung des positiven Bildes des Ostjuden spielte neben den Reisebildern die Anfang der vierziger Jahre sich entfaltende europäische Gattung der Dorfgeschichte eine bedeutende Rolle. 8 Gattungskonstitutiv für die Dorfgeschichte sind die thematische Begrenzung auf die dörfliche oder kleinstädtische Welt, die couleur locale, die kulturhistorische, ethnographischentdeckende Perspektive, die mit Erinnerungsappellen versehene Idyllisierung und Sentimentalisierung der Lebenswelt, ein der mündlichen Sprache angenäherter Stil. Diese Gattung enthält im Vormärz freilich, denkt man z.B. an die Rezension Ferdinand Kümbergers von Leopold Komperts Erzählungen Aus dem Ghetto von 1848, auch politische Implikationen. 9 Die jüdische Ghettogeschichte bildet einen Teil der europäischen Dorfgeschichte.9" Auf den durch die Tradition dieser Dorfgeschichten bestimmten kulturhistorischen Erwartungshorizont des Lesers bezieht sich explizit die Vorbemerkung des Verlags zu Herzberg-Fränkels Polnischen Juden·. Wir übergeben dem Publikum hiermit einen Band einer ethnographischen Collection, in der das Leben der Völker in seinen socialen Äußerungen zur Veranschaulichung gelangen soll, in Bildern die dem Gesellschafts-, dem häuslichen und Familienleben entnommen, die Völker und ihr Leben, ihre Zustände und Verhältnisse in anschaulicher, novellistischer Form festhalten. Unsere Collection wird in solchen .internationalen Novellen' das gesammte zeitgenössische Volksleben der Erde schildern. Das vorliegende Bändchen, einer geachteten vielfach bereits anerkannten Feder entstammend, hat ein bisher schriftstellerisch fast noch gar nicht behandeltes Volk zum Gegenstand seiner Schilderung.

H.-P. Bayerdörfer: Das Bild des Ostjuden in der deutschen Literatur. In: H.-A. Strauss u. Chr. Hoffmann (Hrsg.): Juden und Judentum in der Literatur, München 1985. S. 221; vgl. auch S. Gilman: The Rediscovery of the Eastern Jews. German Jews in the East: 1890-1918. In: D. Bronsen (Hrsg.): Jews and Germans from 1860 to 1933. The Problematic Symbiosis. Heidelberg 1979. S. 338-361. 8 Vgl. U. Baur: Dorfgeschichte. Zur Entstehung und gesellschaftlichen Funktion einer literarischen Gattung im Vormärz. München 1978. 9 F. Kümberger: Literarische Charaktere. Leopold Kompert. In: M. Bucher u.a. (Hrsg.): Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880. Bd. 2. Stuttgart 1975. S. 167f. Die Rezension Kümbergers beginnt mit dem Satz: „Wie der französischen Revolution, als bedeutungsvolles Vorzeichen, der Umschwung der Philosophie durch die Enciklopädisten [sie!] voranging, so war die schöne Literatur, und zwar die Poesie der Dorfgeschichten das Symptom der Revolution in Deutschland." 9 * Vgl. L. Kahn: Tradition and Modernity in the German Ghetto Novel. In: Judaism 28. 1979. S. 31-41

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Gerhard Kurz Wer kennt nicht jene sonderbaren Bewohner des europäischen Nordostens, die mit merkwürdiger Zähigkeit ererbten Glauben, ererbte Sitte, ererbte Volksthümlichkeit festhalten, die geistig so sehr mit dem allerlächerlichsten Mystizismus, ethnographisch mit dem unveränderlichen Oriente identifizierbar sind, und die dennoch, trotz ihrer scharf ausgeprägten, genau begränzten nationalen Individualität, ihrer gesellschaftlich niedrigen Stellung, das unentbehrliche, vermittelnde, producierende und belebende Element der sarmatischen Ebene bilden, deren national-slavische Bewohner einen ausgebildeten Bürgerstand nicht besitzen; wer kennt nicht, mit einem Wort, die p o l n i s c h e n J u d e n ? - So sehr das Eigenthümliche dieses Volkes, welches in seinem innem häuslichen und socialen Leben noch weit eigenthümlicher als in seinem Äußern ist, zur Beobachtung reizt, um so mehr muß es befremden, in der modernen Literatur kein Buch zu finden, welches sich mit solchen Beobachtungen beschäftigt. Diese Erscheinung läßt sich nur durch Hindernisse erklären, welche solchen Beobachtungen entgegenstehen. Der Verfasser dieser Skizzen befindet sich in der seltenen Lage, ein ebenso unbefangener und ungestörter als kenntnisreicher Beobachter des jüdisch-nationalen Lebens in Polen sein zu können. 10

Leo Herzberg-Fränkels (hier: Härzberg-Fränkel geschrieben) Geschichten Polnische Juden. Geschichten und Bilder erschienen im Arnold Hilberg's Verlag in Wien 1867. Auf sie möchte ich mich im folgenden konzentrieren. Die erste Auflage enthielt zwölf Geschichten, die allerdings keinen Zyklus, etwa nach dem Vorbild der Dorfgeschichten von Auerbach, bildeten. Die meisten dieser Geschichten waren schon früher veröffentlicht. Die zweite Auflage von 1878 war um zwei Erzählungen vermehrt worden, darunter das explosive Thema! - die Erzählung Eine Mischehe: Die Erzählung von einer Ehe zwischen einem Juden und einer russischen Christin, die scheitert. Erzählt sind diese Geschichten in einem auktorial-szenischen Stil mit häufigen Erzählereinschüben und Erzählerreflexionen. Die Erzählerrolle akzentuiert den Gestus des .Erzählens von' oder des .Redens über' mit didaktischem und kulturhistorischem Anspruch. Sprachlich ist dieser Stil gekennzeichnet durch die Verwendung von hyperbolischen, melodramatischen Formen, starken Kontrasten, Summationen von Bildern, durchgängigen Klischees: bleierne Wirklichkeit, bleiche Sorge, eisige Fluten, grüne Gestade, Labyrinthe des Talmud, Katakomben der Vergangenheit, Ariadnefaden des Lehrers, welke Jugend, matter, fahler, schlotternder Körper, die fahle Sandwüste der Kindheit, ein Himmel ohne Sonnenschein, das Reich der Schatten, wallende Beter, die Welt kocht, braust und siedet wie ein Hexenkessel, eine würgende Seuche, gelb wie Pergamentblätter, lebendige Menschenflut, die an das Haus brandet, Ozean des Lebens, in dem man Schiffbruch erleidet; das Leben als Jagd, Kampf, Arena; die Sichel des Todes, der kalte Schweiß, der Richterstuhl der Ewigkeit, der Ameisenhaufen der arbeitenden Juden usw. Selbstverständlich wird das Klischee vom ewigen Juden (59, 10

Vorbemerkung der Verlagshandlung zu Leo Herzberg-Fränkels Polnische Juden. Wien 1867. S. V f.

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271) nicht übergangen. Bildungsklischees führen zu manifesten Bild- und Sachbrüchen, so wenn vom .Opiumrausch des Sabbat' oder davon geredet wird, daß das Ziel einer jüdischen Pilgerfahrt ein „Mekka" (30) sei, wenn die Synagoge mit einem Dom gleichgesetzt wird, wenn mitten in der Beschreibung jüdischen Lebens Frau Fortuna und Gott Saturnus apostrophiert werden.11 Aus der Wortwahl, der Verwendung von Fremdwörtern, der gebildeten Klischierung, der Verwendung von Anführungszeichen für hebräische Begriffe des jüdischen Rituals, aus erläuternden Anmerkungen z.B. für Schadchen, Rendar (das ist der jüdische Branntweinpächter) läßt sich als Rolle des impliziten Lesers die eines gebildeten, aufgeklärten Lesers erschließen, der mit der ostjüdischen Welt nicht oder nicht mehr vertraut ist. Dieser Leser ist aufgeklärt, weil der Erzähler mit dem Einverständnis dieses Lesers, z.B. mit seiner Kritik am Cheder, rechnet. Dieser Leser kann ein Nichtjude sein, gedacht ist aber vor allem an Juden als Leser. An nicht wenigen Stellen richtet sich der Erzähler in didaktischer Absicht an Juden und identifiziert sich und seine Leser mit einem „wir" gerade in Kontexten, in denen die Feier des Sabbats mit Erinnerungsappellen versehen wird. Beispielhaft für diese Konstruktion der jüdischen Leserrolle und für die klischeehafte Sprache ist der Erzähleingang der ersten Geschichte, Der Klausner: Es ist Sabbath Nachmittag und die Stube menschengefüllt. Der Messingkandelaber steigt lang von der Decke herab. Die Tische tragen sabbathlich ihre weißen Schleier, das Zimmer Festtagsputz und die Leute d'rin Festgewänder, Männer ihre schwarzseidenen Talare, Frauen ihre Atlasschibbes und ihren Perlenschmuck. Alle brachten Kinder mit, welche die Stube mit einem ungeheuren Lärm erfüllten; Alles spricht bunt durcheinander, neckt, lacht und lärmt in gehobener Stimmung. Leben wir doch in der Sabbathruhe wie im Opiumrausche, wir vergessen die Sorgen des Lebens, die uns gestern noch umsponnen und uns morgen wieder umstricken werden. Wir schwimmen für eine kurze Weile aus den eisigen Fluthen an's grüne Gestade; wir werfen die schweißtriefenden Kleider für Augen11

Die Rezension der 2. Auflage in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" (Jg. 42, 1878, S. 186) geht auf diesen Klischeestil ein: „Der Verfasser sagt hierüber in seinem Vorwort: .Und doch giebt es in dem lichtlosen Sein des polnischen Juden, in seinem stillen Heim, in seinem dezenten und bescheidenen Familienleben Momente, welche der Menschenfreund und Menschenforscher bewundern müssen, begegnen uns im Dunkel bemithleidenswerther Existenzen lichte Punkte - wie zuweilen aus bewölktem Nachthimmel hier und da ein Stem bricht - und diese Punkte aus dem Leben, Streben und Glauben des polnischen Juden waren es, die der Verfasser dem Leser vorfuhren wollte, und zwar in erster Linie dem nichtjüdischen Leser.' Wir haben diese Stelle citirt, um der Unparteilichkeit zu genügen. Ob der Verfasser seinen Zweck erreicht hat? Wir lesen die beiden ersten Geschichten .Der Klausner', .Heirathen'. Wir finden in ihnen nichts vom .Stern', sondern nur .bewölkten Nachthimmel*. derselbe finstere Aberglaube, dem das Menschenglück zum Opfer fällt, das längst bekannte Cheder, die welke Jugend, das frühe Heirathen, dieser Moloch der polnischen Juden, der Wunderrabbi, die zänkischen Frauen u.s.w., alles Dies schon in den beiden ersten Geschichten! Man sage uns nicht, in anderen Theilen dieses Buches komme es anders. Möglich, aber Jedermann hat nur ein bestimmtes Maß von Ausdauer und dies war für uns bereits erschöpft."

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Gerhard Kurz blicke ab, die bleierne Wirklichkeit wird für einen Tag verabschiedet und der luftige Traum mit seinem rosigen Geschäume, seinem Sonnenlichte, seinen Regenbogenfarben und seinem Blumenduft tritt seine kurze Herrschaft an. Deßhalb auch begrüßen wir den Sabbath wie eine liebe Braut, die die Freude im Auge und das Lächeln auf den Lippen trägt, mit Hymnengesang und Lichterglanz.

Das Wort „Atlasschibbes" wird in der Anmerkung als „Eine Art Burnus mit Pelzverbrämung" erläutert. Die Themen dieser Erzählungen lassen sich von der jüdischen Reformbewegung zuordnen. Kritisiert wird das Cheder, das Talmudstudium, das in den Aberglauben führt und einer „längst verblichenen Zeit" angehört. Fanatische Wunderrabbis und bigotte Eltern werden dafür verantwortlich gemacht. Ein lichtloser Fanatismus herrscht in dieser unzivilisierten (vgl. S. 32) Welt. Galizien und Polen sind überhaupt der „Sitz des bigotten Judentums". Kritisiert wird die von Eltern vermittelte Kinderehe. Sie (z.B. in den Erzählungen Heirathen, Eine Carrière) enden alle im Unglück. Mischehen zwischen Juden und Nichtjuden enden ebenfalls im Unglück. In der besonders melodramatischen Geschichte Ein Meschumed, in der zweiten Auflage überschrieben: Eine Mischehe, heiratet ein abtrünniger Jude eine „nordische Schönheit", die Tochter eines reichen russischen Leibeigenen. Er läßt sich sogar taufen, um diese Frau heiraten zu können. Sein Abfall stürzt seine Eltern ins Unglück: „Ein Renegat in einer jüdischen Familie verursacht derselben außer dem Schmerz des Verlustes eine erst nach Generationen erlöschende Schande. Und sehr Viele scheuen jede Verschwägerung mit einer Familie, von der ein Mitglied dem Glauben seiner Väter abgeschworen" (85). Jedoch halten diesen Renegaten „Tausend unsichtbare Fäden" an das verlassene „Land der Väter, eine Art von Patriotismus, welcher nicht der der Scholle ist, sondern dem Himmel gehört" (84). Diese Ehe bleibt freudund kinderlos. „Die Verschiedenheit seines Gemüthes, seine Reizbarkeit und dagegen der Frohsinn seiner Frau schufen fortwährende Reibungen, die Beiden das Leben vergällten." (86) Der Meschumed trennt sich von seiner Frau und stirbt später im Hause seiner Eltern, nur vom blinden Vater erkannt. Er ist wieder zurückgekehrt in seine jüdische Heimat: „Geboren als Jude, starb er als solcher im Schooße der Gemeinde, die ihn hinausgeleitete in's Reich der Ruhe!" (100) In der Erzählung Eine Carrière wird dagegen die Karriere eines vom Judentum erzwungenermaßen abgefallenen Mannes dargestellt. Ein jüdischer Junge studiert energisch und entsagungsreich Medizin. Er wird wegen seiner liberalen Vergangenheit angezeigt und von Deportation bedroht. Nur die Taufe kann ihn retten. Später wird er als junger Chefarzt seinen Vater und seinen Bruder vor dem Gefängnis retten können.

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Ein weiteres wichtiges Thema in Herzberg-Fränkels Erzählungen ist die Utopie des ackerbauenden, kolonisierenden Juden. Herzberg-Fränkel hat selbst Theodor Herzls Der Judenstaat begrüßt, ohne jedoch zu glauben, daß das zionistische Ideal verwirklicht werden könnte. Er befürwortete Pläne, die galizischen Juden auf dem Lande anzusiedeln. Schon Leopold Komperts Erzählungen (besonders in Am Pflug) enthielten die Botschaft, daß Ackerbau und Handwerk den Juden aus dem Ghetto erlösen soll. Auch in Eliza Orzeszkowas Roman Meir Ezofowicz liegt das Heil für den Juden im Ackerbau. In der Erzählung Baschinka läßt Herzberg-Fränkel eine Jüdin gegenüber einem Baron sagen: Glauben Sie, daß der Jude bloß Sinn für's Geld und keine für die Heimat habe? daß man Jedem sagen könne, hier aus diesem Hause, das du dir erbauet, aus dem Garten den du dir gepflanzt, lasse die wogenden Felder die du bestellt, die Heerden, die du gezüchtet, zurück - hier hast du Geld - Nein Herr. Auch der Jude liebt die Scholle, auf der die Geburt oder das Schicksal ihn ausgesetzt, und der alte Mann, der der rohen Gewalt wich, wird nicht allem Gelde weichen, das ihm für sein Haus und seinen Hof angeboten werden mag. (23f.) Auch der Jude kann eine „gute rationelle Landwirtschaft" betreiben. Die Erzählung Der Autodidakt endet in der Evokation des ackerbauenden Juden: Nach einigen Jahren grünten weitästige Linden vor einer kleinen niedlichen Hütte, wogte ein Meer goldgereifter Aehren, wo die brache Heide war. Man sah dem bärtigen sonnengebräunten Manne, in den hohen Stiefeln und kurzer Jacke, die Sense oder den Dreschflegel schwingen, nicht den ehemaligen schüchternen und stubenhockenden Gelehrten an, aber man erkannte leicht in dem rüstigen und robusten Weibe mit reizenden Zügen und glühnden Augen die schöne Freudele wieder. (151f.) Die Geschichte Täuschungen verlegt das verheißene Land nach Preußen. Vor dem Judenhaß in Rußland und Polen bietet nur Preußen Sicherheit. Der Vater rät seinem Sohn ab, sich am polnischen Aufstand gegen die russische Unterdrückung zu beteiligen: .Lasse hier den Tumult wogen, uns bringt er nichts. Siegt der Aufstand, so stehen wir da, wie die Aufwärter bei der Festtafel - man läßt sich bedienen, ohne zu danken; die Gutherzigen geben ein Trinkgeld, weiter nichts. Daß für uns nicht die Freiheit erkämpft und das Recht erobert wird, daß die Lerche nicht uns den Tag der Erlösung verkündet, daß man uns nicht in die Hoheitsrechte der Menschheit einsetzen wird, daß endlich die Juden in Warschau, die Juden in Polen Steine zu einem fremden Bau tragen, das glaube Deinem alten Vater, der lange genug gelebt, viel genug gesehen, gehofft und gelitten hat, um nicht hinter sich Erfahrungen und vor sich klaren Blick zu haben!' Der nächste Eisenbahnzug entführte Karl Holtheim aus Warschau und den Armen der Seinen. Er sah seinen Vater nicht mehr, der kurze Zeit darauf sanft entschlief, ohne daß eine Krankheit die letzten Lebenstage verbittert und ohne daß er Zeit hatte, den Sohn zu rufen. Jetzt lebt der junge Mann in Gesellschaft seiner reizen-

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den Schwester in der Nähe von Koblenz am Rhein in glücklicher Zurückgezogenheit als Landwirth - ein Leben der Arbeit und der Idylle. (320f.)1J Diese Erzählungen Herzberg-Fränkels verraten ein tief widersprüchliches, ambivalentes Verhältnis gegenüber dem Judentum. Noch in denselben Geschichten, in dem das bigotte und fanatische Judentum Galiziens scharf kritisiert wird, wird es, selbst das Cheder, gefeiert als lebendiges Leben, von dem man sich nur um den Preis des Untergangs lösen kann. Die „Barmherzigkeit ist im Judentum zu Hause." (55) Immer wieder wird die Zusammengehörigkeit der jüdischen Familie gepriesen. Charakteristisch für diese durchgängige Ambivalenz, die nie reflektiert oder gar thematisiert wird, ist eine Passage aus der Erzählung Aus den unteren Schichten über das Cheder: Das Cheder! Die Schule der bigotten Classen, in welcher die Kinder selbst der Bettler, ohne daß irgendeine kirchliche Behörde ihren Einfluß übte oder daß der Staat helfend eingriffe, geschickt werden, ihre Sprache, ihre Bibel, ihre Gebete und ihre Gesetze zu lernen, die Schule die dem Juden fast zum Tempel wurde, und die kaum Einer der zahlreichen Juden welche Galizien, Polen und Rußland bevölkern, nicht besucht hatte! Kein Jude, mag er noch so arm sein, versäumt es, seine Söhne in der Sprache unterrichten zu lassen, die sich seit Jahrtausenden unverändert fortgeerbt durch alle Geschlechter und heilig geworden, wie die Bibel selbst, die ihr Bom ist. (181) Im Zusammenhang mit dieser durchgängigen, unaufgelösten Ambivalenz kann auch dem klischeehaften Stil Herzberg-Fränkels eine symptomatische Bedeutung zugeschrieben werden. Klischees sind nicht einfach sprachliche Stereotypen, obgleich in der sprachwissenschaftlichen und stilanalytischen Forschung zwischen Klischee und Stereotyp nicht differenziert wird.13 Der Begriff des Klischees (Cliché) stammt aus der Druckersprache Ende des 19. Jahrhunderts. Er war gemünzt auf erstarrte Sprachformen im Gegensatz zum .Fließen' des natürlichen, lebendigen Sprechens. Nun gibt es jedoch gute Gründe, sprachliche Klischees und sprachliche Stereotypen zu unterscheiden. Klischees sind gerade noch nicht so automatisiert wie sprachliche Stereotypen. Viele sprachliche Stereotypen, wie z.B. Redewendungen, Glückwunsch- oder Grußformen, erscheinen uns gerade nicht als Klischees. Klischees sind nicht einfach Stereotypen, sondern Stereotypen, die originell und individuell sein wollen. Oder anders: Klischees entstehen, wenn die Intention auf einen gewählten, gesuchten, gebildeten, besonderen Ausdruck

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Zu den Projekten des jüdischen Ackerbaus und zu seinen Behinderungen vgl. den Artikel: Kolonien. Osteuropa. In: Jüdisches Lexikon, Bd. 3, Sp. 807ff. Kritisch setzt sich mit der Utopie des ackerbauenden Juden im 19. Jahrhundert auseinander T. Bermann: Produktivierungsmythen und Antisemitismus. Eine historisch-soziologische Studie. Wien 1973. Zur Funktion und linguistischen Analyse von Stereotypen vgl. U.M. Quasthoff: Soziales Vorurteil und Kommunikation. Eine sprachwissenschaftliche Analyse des Stereotyps. Frankfurt 1973; zur literarischen Funktion vgl. G. Blaicher (Hrsg.): Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in englischsprachiger Literatur. Tübingen 1987.

Widersprüchliche Lebensbilder aus Galizien.

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im abgegriffenen Ausdruck landet. Klischees sind semantisch nicht innovativ, aber auch nicht als Redewendung lexikalisiert. Man kann sagen, daß in Herzberg-Fränkels Erzählungen undurchschaut zwei Klischeesysteme widersprüchlich interferieren: das emanzipatorische Reden über die polnischen Juden und die Feier des frommen Judentums. Wenn davon geredet wird, daß „wir doch in der Sabbathruhe wie im Opiumrausche" leben, dann verkehrt der gesucht und gebildet sein wollende und gleichzeitig triviale, abgegriffene Ausdruck „wie im Opiumrausche" die Feier der Sabbatruhe ins Gegenteil. Da diese Widersprüchlichkeiten in diesen Erzählungen durchgängig festzustellen sind, kann in ihnen mehr als nur eine individuelle schriftstellerische Schwäche vermutet werden. Sie deuten vielmehr auf eine unaufgelöste Ambivalenz einer emanzipatorischen Situation hin, deren Klischeesysteme in ihrer symptomatischen Bedeutung noch weiter zu untersuchen wären.

Hans Otto Horch (Aachen)

Der Außenseiter als Judenraphael' Zu den Judengeschichten Leopolds von Sacher-Masoch

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Im August 1876 - so berichtet Wanda von Sacher-Masoch nicht ohne Hintergedanken in ihrer Lebensbeichte von 1906 - habe man im Badeort Frohnleiten das Vergnügen gehabt, in näheren Verkehr mit Ferdinand von Saar zu treten. Als dieser im Auftrag einer gewissen Frau Gomperz SacherMasoch aufforderte, deren „Hofstaat" zu verschönern, und einen abschlägigen Bescheid erhielt, ließ die beleidigte Dame durch ihr Faktotum mitteilen, daß ihre Köchin eine eifrige Leserin seiner [Sacher-Masochs] Werke sei, was den Saucen, die sie machte, sehr zu statten käme, denn sie wären fast ebenso pikant wie seine Novellen.1 Bis zu diesem Zeitpunkt konnte die Köchin der Frau Gomperz in der Tat einige einschlägige Rezeptbücher des bekannten Autors konsultiert haben, so zuletzt etwa die (noch unvollständige) Novellensammlung Liebesgeschichten aus verschiedenen Jahrhunderten (1874; 3.Sammlung 1877).2

Wanda von Sacher-Masoch: Meine Lebensbeichte. Memoiren. Berlin u. Leipzig 1906. Hier zitiert nach der von Michael Farin besorgten Taschenbuchausgabe: Die Beichte der Dame im Pelz. Rastatt 1986. (= Moewig Playboy Tb. 6576). S. 124. Zuvor bereits, zwischen 1870 und 1874, waren erschienen so eindriickliche Titel wie Die geschiedene Frau. Passionsgeschichte eines Idealisten (1870), Aus dem Tagebuche eines Weltmannes. Causerien aus der Gesellschaft und der Bühnenwelt (1870), Falscher Hermelin. Kleine Geschichten aus der Bühnenwelt (1873), Soziale Schattenbilder. Aus den Memoiren eines österreichischen Polizeibeamten (1873), Ein weiblicher Sultan. Historischer Roman (1873), Wiener Hofgeschichten. Historische Novellen (1873), Russische Hofgeschichten. Historische Novellen (1873/74), Sklave und Gemahl. Historischer Roman (um 1874). Alle bibliographischen Nachweise entstammen der bis dato gründlichsten Sacher-Masoch-Bibliographie von Michael Farin: Leopold von Sacher-Masoch. Materialien zu Leben und Werk. Hrsg.v.M.F. Bonn 1985. (= Abhandl.z. Kunst-, Musik- u. Literaturwiss. Bd 359). S. 370-437. Farin gebührt das Verdienst, den Autor als ernsthaften Gegenstand der Forschung wieder ins Blickfeld gerückt zu haben; seine Nachworte zu verschiedenen Neuausgaben bieten stets reiches Material, stoßen analytisch allerdings nicht besonders weit in Neuland vor. Zur literarhistorischen Einordnung im europäischen Maßstab vgl. neuerdings Hartmut Steinecke: Sacher-Masoch - europäische Perspektiven eines galizischen Erzählers. In: Galizien als gemeinsame Literaturlandschaft. Beiträge des 2.1nnsbrucker Symposiums polnischer und österreichischer Literaturwissenschaftler. Hrsg.v. Fridnrn Rinner u. Klaus Zerinschek. Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Sonderheft 62 (1988) S. 143-150.

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Eher jenseits des Küchenhorizontes freilich dürfte der erste Teil des Novellenzyklus Das Vermächtnis Kains angesiedelt gewesen sein, der, 1870 bei Cotta erschienen, in der seriösen Kritik den Ruhm Sacher-Masochs als eines originellen realistischen Schriftstellers begründet hatte. 3 Diese zweibändige Sammlung war zwar ebenfalls der ,Liebe' gewidmet, sein zweiter Band enthielt immerhin die bis heute berühmteste, berüchtigtste Erzählung Venus im Pelz; aber der Autor selbst sah die Sammlung nur als den ersten Bestandteil eines geplanten Hauptwerks an, in dem die unter das Kainszeichen gestellten Probleme des gesamten Menschenlebens novellistisch beschrieben werden sollten - neben der Liebe das Eigentum, der Krieg, der Staat, die Arbeit und der Tod. Dieser ehrgeizige Plan blieb unausgeführt; lediglich „Das Eigentum" kam noch als Zyklus 1877 heraus. 4 Im ersten Band dieser zweibändigen Sammlung „Das Eigentum" aber war eine Erzählung enthalten, die zugleich zu den bekanntesten .Judengeschichten' des Autors zählt: Hasara Raba.5 Juden hatten zwar - angeregt durch Kindheitserlebnisse6 - im erzählerischen Universum des aus Galizien stammenden Sacher-Masoch bereits früh - neben Ruthenen und Polen - eine nicht unbedeutende Rolle in der sozialen Figuration gespiel; ins Zentrum des Interesses rückten sie jedoch erst mit Hasara Raba. Es ist mit einiger Sicherheit anzunehmen, daß die Entstehung der Judengeschichten ursächlich mit dem seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre sich verstärkenden Antisemitismus in Österreich wie im Deutschen Reich zusammenhängt; eine weitere, eher persönliche Motivation für die Judengeschichten mag in der Konkurrenz zu Karl Emil Franzos liegen, der seine Berichte und Geschichten aus ,Halb-Asien' seit Beginn der siebziger Jahre in namhaften Blättern veröffentlicht und dann seit 1876 gesammelt vorgelegt hatte.7 1878 bringt Sach3

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Das Vermächtniß Kains. Novellen. I.Theil: Die Liebe. 2 Bde. Stuttgart 1870. Neuausgabe des ersten Bandes durch Michael Farin unter dem allerdings mißverständlichen Titel: Don Juan von Kolomea. Galizische Geschichten. Bonn 1985. (= Bouviers Bibliothek Bd 5). Nachwort und Anhang enthalten wiederum reichhaltiges Material zur Entstehung des Zyklus Das Vermächtnis Kains (S. 159-211). Das Vermächtniß Kains. Zweiter Theil: Das Eigenthum. 2 Bde. Bern 1877. Ebd. Bd 1, S. 309-510. Einzelausgabe: Leipzig 1882. In französischer Sprache erschien die Erzählung bereits am 15.September 1875 in der „Revue de deux mondes"; vgl. Farin, Sacher-Masoch (Anm.2) S. 409. So galt der Großvater mütterlicherseits Franz von Masoch als Wohltäter der armen Juden von Lemberg. Aus Halb-Asien (1876), Die Juden von Barnow (1877), Vom Don zur Donau (1878). Das Verhältnis zwischen beiden Autoren ist übrigens höchst distanziert. So lehnt Franzos 1881 eine Mitarbeit an Sacher-Masochs Zeitschrift „Auf der Höhe" ab; die einschlägigen Briefe sind bei Andrea Wodenegg (Anm.26) veröffentlicht (S. 119f.). 1884 veröffentlicht dann Sacher-Masoch in seiner Zeitschrift einen offenbar aus seiner eigenen Feder stammenden Angriff gegen Franzos, indem er den Roman Meier Ezofowicz der polnisch-christlichen Autorin Orzeszko positiv der „Unwahrheit, Schwäche und Tendenzmacherei seiner Bilder aus dem polnisch-jüdischen Leben" entgegensetzt: „Wie kommt es, daß der polnische Jude Franzos die polnischen Juden nicht kennt, bei denen die Christin Elisa Orzeszko so sehr zu Hause ist?

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er-Masoch seine erste Sammlung von Judengeschichten heraus, denen weitere folgen.8 1893 - im Jahr der für die Antisemiten besonders erfolgreichen Reichstagswahl - gründete der Autor in seiner Wahlheimat Lindheim den Oberhessischen Volksbildungsverein, um dadurch die Abwehr gegen den besonders militanten hessischen Antisemitismus zu befördern.9 Nach dem Tod des Autors dauert es lange, ehe man sich entschließt, die Judengeschichten wenigstens in Auswahl neu vorzulegen, während das .pikante' Werk Sacher-Masochs bis heute immer wieder nachgedruckt wurde. Gustav Karpeles bereitete 1909 eine Ausgabe Ausgewählte Ghetto-Geschichten vor, die dann allerdings erst 1918 erscheinen kann;10 1985 gibt Michael Farin in der Reihe der „Bibliophilen Taschenbücher" die Sammlung von 1891 Jüdisches Leben in Wort und Bild heraus und veröffentlicht in seinem Nachwort wichtige Materialien zum Gesamtkomplex von Sacher-Masochs Jüdischem Leben'. 11 In der jüngst von Jost Hermand veranstalteten Sammlung Geschichten aus dem Ghetto ist Sacher-Masoch mit zwei Erzählungen vertreten; daß damit allerdings bereits sein genuiner Beitrag zu dem in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts immerhin gewichtigen Genre der jüdischen Dorf- und Ghettogeschichte, oder allgemeiner, der .Judengeschichte', angemessen bestimmt wäre, läßt sich nicht behaupten.12 Es fehlt bis heute eine auch nur annähernd vollständige und problembewußte literarhistorische Gesamtdarstellung des Genres; eine solche Gesamtdarstellung wäre freilich erst möglich, wenn den wichtigsten Autoren zuvor zureichende Einzelstudien gewidmet würden - was bisher allenfalls für Karl Emil Fran-

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Wir glauben die Antwort gefunden zu haben. Weil die Christin im polnisch-jüdischen Hause ein willkommener Gast ist, durch welchen sich das selbe geehrt fühlt, während dem von klein auf christlich erzogenen Juden Franzos jedes wahrhaft jüdische Haus in Polen verschlossen blieb, er daher weniger Gelegenheit hatte, seine Glaubensgenossen kennenzulemen, als seine christlichen Landsleute Orzeszko und Okonski." (zit. nach Wodenegg S. 36) 1881 Neue Judengeschichten, 1882 Der Judenraphael, 1886 Polnische Ghetto-Geschichten, 1887 Polnische Geschichten, 1891 Jüdisches Leben in Wort und Bild, 1893 Neue Erzählungen, eine Auswahl der Sammlung von 1891, sowie Lustige Geschichten aus dem Osten, um 1895 schließlich Polnische Judengeschichten (in der Sammlung der Brandeisschen .Jüdischen Universal-Bibliothek"). Vgl. dazu detailliert Karl E. Demandi: Leopold von Sacher-Masoch und sein Oberhessischer Volksbildungsverein zwischen Schwarzen, Roten und Antisemiten. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 18 (1968) S. 160-208. Auch in Farin, Materialien (Anm.2), S. 272-331. Sacher-Masoch: Ausgewählte Ghetto-Geschichten. Mit einem Geleitwort v. Gustav Karpeles. Leipzig 1918. Sacher-Masoch: Jüdisches Leben in Wort und Bild. Mannheim 1892. Reprint Dortmund 1985. (= Die bibliophilen Taschenbücher Nr.463). Darin Michael Farin: Sacher-Masochs .Jüdisches Leben". Ein Dossier. S. 355-386. Der Handel um den Namen, Die Schlacht am Ruskabach. In: Geschichten aus dem Ghetto. Hrsg.v. Jost Hermand. Frankfurt am Main 1987. (= Athenäum jüdische Bibliothek). Zur Kritik an dieser Sammlung vgl. die Rezension von Hans Otto Horch in Verb, mit Dorothee Zimmermann: Arbitrium 1988» S. 308-311.

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zos zu konstatieren ist. So kann es auch im folgenden nur darum gehen, Sacher-Masochs Judengeschichten vorläufig gleichsam phänomenologisch zu bestimmen und ihre Eigenart im Kontext seines Gesamtwerks zu beschreiben.

II. Die Rezeption Sacher-Masochs bis zum Ersten Weltkrieg ist weitgehend von der Meinung bestimmt, man müsse sein .Skandaloeuvre' von den .seriösen' Werken getrennt behandeln. Zu den letzteren rechnet man Teile aus dem Vermächtnis Kains, vor allem aber die Geschichten aus Galizien, zu denen als Unterabteilung auch die Judengeschichten gehören. Besonders die jüdische Kritik reagiert in einer Zeit des grassierenden Antisemitismus seit Mitte der 1870er Jahre dankbar auf den Umstand, daß ein berühmter nichtjüdischer Autor die Juden gerecht behandelt. So wird in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" bereits 1878 Pintschew und Mintschew aus der ersten Sammlung Judengeschichten kommentarlos abgedruckt; weitere Abdrucke aus den späteren Sammelbänden folgen. 13 Die Berichte dieser liberalen, reformorientierten Zeitschrift über Sacher-Masoch sind ebenso vom Werk selbst wie von der Person des Autors inspiriert, vor allem von seinem Eintreten für die Juden in Vorträgen und journalistischen Veröffentlichungen. Als Sacher-Masoch auf Einladung des „Pester Lloyd" 1880 aus seinen jüdischen Schriften liest, begründet er - nachdem er seine rein christliche Abstammung aus (angeblich) spanisch-ungarischen Ursprüngen nachgewiesen hat - seine Vorliebe für die Juden mit deren für moderne Verhältnisse erstaunlich glücklichem Familienleben.14 In der Einleitung zu seiner Lesung verweist er auf die Anerkennung durch den Herausgeber der Zeitschrift, Ludwig Philippson. Dieser hatte 1878 in einer Rezension die Judengeschichten gegenüber den allzu kritischen Schriften aus .Halbasien' - also von Karl Emil Franzos, Leo Herzberg-Fränkel und anderen - positiv hervorgehoben; seine Kenntnis des jüdischen Lebens, der Bibel, des Talmud sei für einen Christen erstaunlich, er müsse wohl einen jüdischen Mitarbeiter gehabt haben.15 Als 1888 in Paris der Prachtband Contes Juifs. Récits de famille erscheint (drei Jahre danach die deutsche Ausgabe), ge-

13

14 15

Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung in Hans Otto Horch: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der Allgemeinen Zeitung des Judentums" (1837-1922). Frankfurt am Main, Bern, New York 1985. (= Literarhistorische Untersuchungen Bd 1). S. 179-181, hier S. 180. Allgemeine Zeitung des Judentums 44 (1880) S. 313f. Allgemeine Zeitung des Judentums 42 (1878) S. 276. Demgegenüber Philippsons Rezension von Leo Herzberg-Fränkels Polnische Juden. Geschichten und Bilder (2.verm.Aufl. 1878), ebd. S. 186.

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steht man dem Autor unter den Romanciers mit jüdischen Themen einen besonderen Platz zu, weil er als Christ und Adliger so viel Kenntnis des galizischen Judentums habe, „wie sie im westlichen Europa den Juden selbst nicht mehr einwohnt", zugleich aber den Juden sehr wohlwollend und human gegenüberstehe und damit im Kampf gegen den auch in Frankreich sich regenden Antisemitismus eine starke Stimme habe.16 Der Tenor dieser Kritik setzt sich unter der Ägide von Gustav Karpeles als Herausgeber der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" fort. Die jüdischen Werke SacherMasochs - so meint M. Friedeberg in seinem Nachruf auf den Autor würden zu einer Zeit noch leben, wenn das .Perverse' des übrigen Werks längst vergessen sei.17 Als Ludwig Geiger 1918 freilich den von Karpeles zusammengestellten Sammelband Ausgewählte Ghetto-Geschichten bespricht, tut er dies im Bewußtsein, daß das .seriöse' Werk Sacher-Masochs allmählich in Vergessenheit gerät.18 Geiger entwirft in diesem Zusammenhang eine Typologie der Ghettogeschichte, in der nichtjüdische Autoren wie SacherMasoch nur als Außenseiter eine Rolle spielen. Während sich bei den jüdischen Autoren .Kampf- und Trutzgeschichten' (z.B. Franzos), .Tendenzarbeiten' (z.B. Kompert) und .apologetische Schriften' (z.B. Bernstein) unterscheiden ließen, seien die besten Geschichten nichtjüdischer Autoren, zu denen er die Sacher-Masochs rechnet, von Tendenz- und Absichtslosigkeit gekennzeichnet (ebd.). Sacher-Masoch habe die Juden seiner galizischen Heimat oft und gern ohne Voreingenommenheit, ja mit einer gewissen Vorliebe geschildert; aber er streite weder für Emanzipation noch für Assimilierung und versuche Jüdisches weder zu verteidigen noch zu verklären, sondern beobachte scharf und objektiv das wirkliche Leben. Gerade die .Objektivität' - bei großer Kenntnis der jüdischen Sitten und religiösen Gebräuche im einzelnen - macht für Geiger den indirekten apologetischen Wert dieser Ghettogeschichten aus. Damit greift Geiger - wie vor ihm bereits Moritz Steckelmacher19 oder Karl Pinn20 - auf die Einschätzung Wilhelm Goldbaums aus dem Jahr 1884 zurück, der Sacher-Masoch in der Reihe von Ghetto-Poeten (Kompert, Bernstein, Mosenthal, Franzos) als christlichen Außenseiter gewürdigt und ihm sogar größere .Wahrscheinlichkeit' als Franzos zugebilligt hatte, zumindest was die Einbindung der jüdischen Figuren in die galizische Landschaft angeht.21 Positiv erscheint - etwa gegenüber dem katholischen Anti16 17 18 19

20

21

Allgemeine Zeitung des Judentums 53 (1889) S. 12-14, hier S. 13. Allgemeine Zeitung des Judentums 59 (1895) S. 144. Allgemeine Zeitung des Judentums 82 (1918) S. 596f. Dr. [Moritz] Steckelmacher: Jüdisches Leben in Wort und Bild. In: Israelitische Wochenschrift (Jüdisches Literaturblatt) Nr.30, 24.Juli 1890; abgedruckt in Sacher-Masoch, Jüdisches Leben (Anm.U) S. 367-369. Dr. Carp in [= Karl Pinn]: Der Jude im modernen Roman. In: Monatsschrift für neue Literatur und Kunst 1 (1896/97) S. 662-616, hier S. 671f. Wilhelm Goldbaum: Ghetto-Poeten. In: Goldbaum, Literarische Physiognomien. Wien, Teschen 1884. S. 163-216, insbes. S. 206-216; hier S. 208.

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semitismus eines August Rohling - Sacher-Masochs humane Perspektive: Er weiß, was es sagen will, wenn eine Race durch knappe zweitausend Jahre um ihres Religionsbekenntnisses willen verfolgt, abgesperrt und verbrannt wird, und gelangt zu dem Schlüsse, daß die edlen Eigenschaften, welche diese Race sich trotzdem erhalten hat, doppelt ehrwürdig, die unedeln, die ihr von außen her gewaltsam in die Seele gepflanzt wurden, doppelt entschuldbar seien. (S. 209) Freilich tut Sacher-Masoch nach Meinung des assimilatorisch und liberalreformistisch ausgerichteten Wilhelm Goldbaum zu viel des Guten: anstatt die „gewaltthätige Einseitigkeit und Ausschließlichkeit des Talmudstudiums" zu geißeln, die „bigotte Fanatiker hervorbringt", sentimentalisiere der Autor die Auswirkungen dieser überholten Glaubensform (S. 212). Dagegen würden die Frauentypen des Ghettos besser getroffen, die in der Tat „mehr als alle talmudische Grübelei dem Judenthum seine historische Dauerhaftigkeit und Beharrlichkeit" verbürgt hätten (S. 213). Abschließend versucht Goldbaum eine „Vergleichung" der verschiedenen „Concurrenten" auf dem Gebiet der Ghettogeschichte bezüglich ihrer Farbenmischung und der sie begründenden Glaubensverschiedenheit. Da habe ich mich denn der Wahrnehmung nicht verschließen können, daß er [Sacher-Masoch] treuer als Mosenthal, aber weniger treu als Bernstein, wohlwollender als Franzos, aber weniger wohlwollend als Kompert ist. Er bleibt naturgemäß auf das .Anempfinden' angewiesen, wo Bernstein und Kompert mitempfinden, Mosenthal und Franzos wenigstens nachempfinden können. (S. 214f.) Sacher-Masoch hat „die kärgliche Poesie des Ghettos wirklich ausgefunden" und „Blumen in dasselbe hinein[ge]tragen" (S. 215): [...] darin unterscheidet er sich von den jüdischen Ghetto-Dichtem, welche, die riesigen Talmudfolianten zusammenklappend, Staub und Motten hinausfliegen lassen, daß eine Wolke sich zwischen dem Ghetto und der übrigen Welt lagert. Kompert, Bernstein, Mosenthal rufen, der Eine beschwörend, der Andere vorwurfsvoll, der Dritte höflich petirend aus dem Ghetto heraus: Laßt uns Euresgleichen sein, ihr Uebrigen! Sacher-Masoch tritt in das Ghetto hinein und sagt theilnahmsvoll: Ihr Armen, grämt Euch nicht; es gibt draußen Manche, die es weniger verdienen als Ihr, Gottes Ebenbilder zu heißen und der Tag der Freiheit wird auch Euch dämmern. (S. 215f.) Im Grund ist die Forschung über diesen frühen Versuch einer systematischtypologischen Beschreibung der Ghettogeschichten Sacher-Masochs bisher nicht hinausgekommen. Dies gilt für Mina Schiffmann (1931) 22 ebenso wie

22

Mina Schiffmann: Die deutsche Ghettogeschichte. Diss.phil. Wien 1931. S. 55ff. Der Unterschied zwischen Sacher-Masoch und Franzos wird so formuliert: „Für Sacher-Masoch bedeutete das Ghetto einen Ausflug in ein neues, fremdartig-reizvolles Gebiet, für Franzos wird es zur künstlerischen Heimat, die seinem Schaffen Wurzel, Richtung und Farbe gibt." (S. 67f.)

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für Eberhard Hasper (1932),23 Wilhelm Stoffers (1939)24 oder Alfred Spirek (1949).25 Noch die erst 1987 erschienene imagologische Studie von Andrea Wodenegg über das Bild der Juden Osteuropas im Werk von Franzos und Sacher-Masoch beschränkt sich auf die Feststellung, daß Sacher-Masoch im Gegensatz zu Franzos - das galizische Ghetto konstatierend, ohne Tendenz beschreibe, bestimmt von einer kosmopolitischen Einstellung und unbeeinflußt von stereotypen Vorstellungen .jüdischen' Verhaltens.26 Bei Sacher-Masoch zeichnen sich auch [wie bei Franzos] die Konflikte, die zwischen Bewahren und Verändern entstehen, ab. Doch w o sich das Individuum zuerst gegen den starren Traditionalismus aufgelehnt hat, die vorgegebenen Muster durchbrechen wollte, um auf diese Weise wachzurütteln, vollzieht der Autor später eine Wende. Der umfassende revolutionäre Reformwille weicht einer resignierten Haltung. Nur ein Akzeptieren der bestehenden sittlichen Ordnung kann das Leben erträglicher machen. Jede Auflehnung ist vergeblich, denn die Geschichte geht ihren Lauf, ohne daß der Mensch eingreifen kann. Aus dieser Haltung resultiert auch ein wesentlich weniger militanter Grundton in den Novellen Sacher-Masochs. Das soll keineswegs heißen, daß er das Milieu des Schtetls deshalb idyllisiert, er ist im Gegenteil ein realistischer Beobachter. Doch fehlt durch die fatalistische Einstellung jeglicher Grund zur Anklage. (S. 47)

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25

26

Eberhard Hasper: Leopold von Sacher-Masoch: Sein Lebenswerk, mit vorzüglicher Berücksichtigung der Prosadichtungen. Diss.phil. Freiburg i.Br. 1931. Greifswald 1932. Johann Wilhelm Heinrich Stoffers: Juden und Ghetto in der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Weltkrieges. Diss. phil. Nijmegen 1939. Graz 1939. (= Deutsche Quellen und Studien Bd 12). S. 407ff. Stoffers meint allerdings zeitüblich Sacher-Masoch vor Goldbaums .Vorwurf' zu großer Judenfreundlichkeit (vgl. dort S. 209) in Schutz nehmen zu müssen: „Obwohl der Liberale Sacher-Masoch die Judenfrage nicht vom Rassenstandpunkt betrachtet, geht eine derart ehrfurchtsvolle Liebe doch nicht aus seinen Schriften hervor." (S. 411) Alfred Spirek: ,Das Vermächtnis Kains' von Leopold von Sacher-Masoch. Diss.phil. Wien 1949. Insbes. S. 45-57 („Der galizische Jude"). Der Autor hebt das Gerechtigkeitsgefühl Sacher-Masochs hervor und verweist auf dessen biographische Wurzeln; das Mitleid habe ihn zum Schilderer des Judentums gemacht (S. 47) und demgemäß auch zu einem dezidierten Gegner des Antisemitismus (S. 48f.). Hasara raba und Der ¡lau gelten dem Verf. als Reservoir jüdischer Bräuche, wobei das Urteil Sacher-Masochs über den Chassidismus (S. 49ff.) wie über das Talmudstudium unkritisch übernommen wird (S. 53ff.). Wie stark der Verf. noch von Vorurteilen bestimmt wird, zeigt sich an folgender Stelle: „Eines aber hat das jüdische Volk zweifellos durch das Studium von Generationen am Talmud [!] profitiert: Einen scharfen, durchdringenden, kombinationsreichen Verstand. Eine Schlauheit, die so zu deuteln versteht, wie es gebraucht wird. Jene Eigenschaft, die man auch .jüdischen Dreh' nannte. Es muß angesprochen werden, daß diese Fähigkeit nicht nur zu ehrlichen Zwecken verwendet wurde." (S. 55f.) Und weiter: „Hier sei erwähnt, daß Sacher-Masoch durchaus kein Idealbild vom Juden gab. Er zeichnete ihn so, wie er war, mit seinen Vorzügen und mit seinen Nachteilen. Der materialistische, krampfhaft auf Gelderwerb gerichtete Sinn wurde ebenso unbarmherzig bloßgestellt wie die Toleranzlosigkeit, die die Juden in Religionsdingen gegeneinander ausüben." (S. 56) Ein Kommentar erübrigt sich. Andrea Wodenegg: Das Bild der Juden Osteuropas. Ein Beitrag zur komparatistischen Imagologie an Textbeispielen von Karl Emil Franzos und Leopold von Sacher-Masoch. Frankfurt am Main, Bern, New York 1987. (= Europäische Hochschulschriften Reihe I Bd 927).

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III. Ein wesentlicher Schritt zu einer Analyse der Judengeschichten, die über die in der Rezeption kanonisierte Zweiteilung von Sacher-Masochs Oeuvre hinausgeht, besteht im Einbezug einerseits seines .pornographischen' Werks, andererseits in der Reflexion auf dessen sozialhistorische Prämissen. Auf eine kuriose Art deutet Kathrin Perutz eine Korrelation zwischen Judengeschichten und der spezifisch .masochistischen' Variante der Sexualität bei Sacher-Masoch an, wenn sie in ihrer - ansonsten peinlich die Position Wandas wiedergebenden - Romanbiographie des Autors den Inbegriff kraftvollen Lebens im Umkreis der Leidenden und Unterdrückten findet: Ihr [einer Dame am Nebentisch] Gesicht gefiel Leo - eine schöne Jüdin, mit der typischen Kraft der jüdischen Frauen. [...] Auch aus den Zügen der Slawen und Zigeuner sprach Charakter. Die Verfolgten, die Unterdrückten - das waren die Leute, die das Leben auf Grund ihrer Leiden verstanden. [...] Die Juden offenbarten ein einzigartiges Verständnis des Lebens. Sie hatten an seinen Brüsten gesogen und keine Milch gefunden, sie hatten Brot aus Steinen gemacht. 27

Und eine besonders intensive Phase der Arbeit an den Judengeschichten ist - der üppig wuchernden Phantasie der Romanautorin zufolge - mit regelmäßigen Peitschenhieben verbunden, die der .Beruhigung' dienen: Angetan mit der kazabaika peitschte Wanda ihren Gatten regelmäßig und ohne sich zu beklagen. Leo war also der Strafe sicher, die ihn für seine Schlechtigkeit büßen ließ und arbeitete, solchermaßen beruhigt, fleißig an seinen .Jüdischen Geschichten*. Der Zyklus kurzer Erzählungen handelte von Juden in aller Welt und in allen möglichen Situationen, vom Millionär Rothschild bis zum analphabetischen Dorfbewohner. Jetzt eben schrieb er über Adolf Tigersohn, den offiziellen .Possenreißer' der jüdischen Gemeinde von Lindenberg in Norddeutschland, der mit einer hübschen, gescheiten Frau namens Fischele verheiratet war. 28

Was hier zu einer trivialen Arabeske verkommt, wird von Gilles Deleuze in seiner psychoanalytischen Studie über den Masochismus ernsthaft abgehandelt.29 Deleuze zufolge hat Sacher-Masoch sein Werk in zwei Hauptzyklen gegliedert, die einerseits unter dem Zeichen des Täters Kain (Das Ver27

28

29

Kathrin Perutz: Leopold von Sacher-Masoch. Sein Leben und seine Zeit. München 1981. S. 173. Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel Reigning Passions 1978. Ebd. S. 309. Es folgt ein längeres Zitat aus der Geschichte Das Mahl der Frommen, in Jüdisches Leben in Wort und Bild, frz. 1888, dt. 1891 (Neuausgabe, vgl. Anm.ll, S. 69f.) - woraus erhellt, wie fahrlässig die Autorin mit den Fakten umgeht: bereits 1882/83 war die Ehe mit Wanda zerrüttet, zur Zeit der Niederschrift der zitierten Geschichte war Sacher-Masoch längst mit Hulda Meister verheiratet. Auch im folgenden bezieht sich Kathrin Perutz immer auf die späten Judengeschichten, siedelt sie aber in einer früheren Phase der Biographie an - etwa während des Aufenthalts der Familie Sacher-Masoch in Ungarn 1880/81. Gilles Deleuze: Sacher-Masoch und der Masochismus. In: Sacher-Masoch, Venus im Pelz. Frankfurt am Main 1980. (= insel tb. 469). S. 163-281.

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mächtnis

Kains),

andererseits unter dem Zeichen des Opfers stehen (die

„folkloristischen oder nationalen Erzählungen"; S. 167). Deleuze weist nach, daß die Rede vom Sado-Masochismus auf einer unzureichenden Differenzierung der Obsessionen de Sades und Sacher-Masochs beruht: Täter wie Opfer sind im einen und im andern Fall grundsätzlich verschieden disponiert. Gegenüber de Sade, der in seinen literarischen Texten zur Identifikation mit dem Henker zwingt, laden Sacher-Masochs Texte zur Identifikation mit dem Opfer ein (S. 188) - einem Opfer, dessen Ich letztlich nicht zugunsten eines dominanten Über-Ich gebrochen wird, sondern gleichsam humoristisch triumphiert (S. 268): Das masochisti sehe Ich liegt ja nur scheinbar am Boden. Welch ein Hohn, welch ein Humor, welch unbesiegbare Revolte verbergen sich in diesem Ich, das sich für so schwach ausgibt. [...] Der Sadismus hat kein anderes Opfer als die Mutter und das Ich. Er hat ein Ich nur außer sich: das ist die Grundbedeutung der sadistischen Apathie. Er hat kein anderes Ich als das seiner Opfer: ein Monstrum, reduziert auf ein Überich, ein Über-Ich, das seine ganze Grausamkeit verwirklicht [...] (268f.) Der Humor ist der Triumph des Ich über das Über-Ich [...] Der Humor ist das Exerzitium eines triumphierenden Ich, die systematisch betriebene Verdrehung oder Verneinung des Über-Ich mit allen Konsequenzen des Masochismus. (270)

Solcherart .Humor' findet sich im gesamten Werk Sacher-Masochs, ebenso lassen sich masochistische Phantasien in Texten entdecken, die scheinbar nur regional-folkloristisch motiviert sind: In zahlreichen Erzählungen fällt es Masoch nicht schwer, masochistische Phantasien als nationale und folkloristische Bräuche, unschuldige Kinderspiele, Scherze liebender Frauen oder als moralische und patriotische Forderungen zu präsentieren. [Es folgen Beispiele aus Der Pantoffel Sapphos, Die Seelenfängerin, Das weiße Blatt, Die Judith von Bialopol] (S. 180) Die nationalen Minderheiten des österreichischen Kaiserreichs bieten Masoch ein unerschöpfliches Reservoir von Bräuchen und Schicksalen (daher die galizischen, ungarischen, polnischen, jüdischen und preußischen Erzählungen, die den größten Teil seines Werks ausmachen). (S. 191)

Wenn Sacher-Masoch recht hat mit der Forderung, man müsse im Roman von der ,Figur' zum .Problem' fortschreiten, von der phantasmatischen Zwangsvorstellung zur theoretischen Struktur des zugrundeliegenden Problems (vgl. S. 206), dann ließen sich - im Sinne der Deleuzeschen These die Judengeschichten in besonderer Weise als Exempla masochistischer Phantasien lesen. Diese Argumentation enthält freilich in der Übertragung vom individuellen auf den kollektiven Fall einen entscheidenden Kurzschluß: das masochistische ,Opfer' überredet den ,Täter' zur Grausamkeit, um daraus einen Lustgewinn zu ziehen; der Täter selbst darf nicht Sadist sein, sondern muß sich vom Opfer gleichsam indirekt führen lassen. Die osteuropäischen Juden haben jedoch der Rolle als Opfer von Gewalt zwar eine unendliche Überlebensfähigkeit abgetrotzt, wohl kaum aber Lustgewinn

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daraus gezogen. Hier wird die .objektive' Identifikation des nichtjüdischen Autors mit den Opfern zur Scheinidentifikation - der Außenseiter vermag nicht zum sehr realen Kern des Problems vorzustoßen, sondern bleibt im Theoretischen, Ästhetischen stecken. Gleichwohl ist der psychoanalytische Ansatz für die hier behandelte Problematik fruchtbar, sofern er mit hermeneutischem Augenmaß - d.h. ohne die gerade auf diesem Feld häufig zu beobachtenden Überakzentuierungen und Reduktionismen - auf die literarische Materie angewandt wird: mit dem Ziel einer „präziseren Charakterisierung problematischer Figuren und Personenkonstellationen", einer „Erhellung der verdeckten Gesamtstruktur eines Werks",30 der „Suche nach der inneren Logik scheinbar ganz willkürlicher Phantasiebildungen".31 Daß dabei auch die Biographie des Autors mit ins Spiel kommen muß, ist legitim: gerade im Fall Sacher-Masochs besteht der Reiz psychoanalytischer Deutung in der Adaption biographischer Probleme auf das .nichtpornographische', scheinbar vom Masochismus freie Werk. Zugleich aber verweist die individuelle Problematik auf sozialhistorische Ursachen und wird damit bedeutsam für den Prozeß der Zivilisation im 19. Jahrhundert und seine literarische Ausprägung. So untersucht Zbginiew Swiatlowski in einem Aufsatz von 1976 den sozialgeschichtlichen Hintergrund der .pornographischen' Wendung SacherMasochs nach 1870.32 Er sieht in ihr „einerseits [den] Ausdruck tiefer seelischer Nöte, andererseits den verzerrten Niederschlag real gegebener, hier in verschlüsselter Form zum Ausdruck gelangender sozialer Widersprüche" (S. 149 Anm.l). Solange der Autor nah am persönlich Erfahrenen bleibt und den sozialen Rahmen zumindest noch andeutet, gelingen ihm eindrückliche Schilderungen (S. 15 lf.). Dazu gehören die galizischen Geschichten, in denen die Heimat nicht verklärt, sondern - anders als in der ,Heimatkunst' distanziert und historisierend gesehen wird (S. 153): Sacher-Masochs Anliegen erschöpft sich also nicht in bloßer, folkloristischer Schilderei. Dort, wo er in exotische, abgeschlossene, sei es jüdische, sei es ruthenische Milieus hinabsteigt, zeigt er Tendenzen auf, die zu ihrer Sprengung und Einbeziehung in die .weite Welt* führen. (S. 153f.) Swiatlowski sieht Sacher-Masoch als typischen Vertreter der habsburgischen Entsagungsliteratur in der Linie eines Stifter oder Saar (S. 160): in der untergehenden Donaumonarchie wird die soziale Problematik zunehmend verinnerlicht (S. 158), die .pornographische' Wende Sacher-Masochs 30

31 32

Hendrik Birus: Psychoanalyse literarischer Werke? Alternativen der Freudschen Literaturinterpretation. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des Vll.intemationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Hrsg.v. Albrecht Schöne. Bd 6. Hrsg.v. Inge Stephan u. Carl Pietzcker. Tübingen: Niemeyer 1986. S. 137-146, hier S. 138. Ebd. S. 139. Zbginiew Swiatlowski: Sacher-Masoch oder die bedrohte Normalität. In: Acta Universitatis Wratislaviensis; Germanica Wratislaviensia 27 (1976) S. 149-171.

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wäre demzufolge ein A u s w e g , die verdrängte soziale Problematik individualpsychologisch aufzuarbeiten. In der Fiktion können sozial - w i e individualpsychische Konflikte ausgelebt werden, wobei dem .exotischen' Raum Galiziens eine wichtige Funktion zukommt: Nicht zufällig hat Sacher-Masoch die Handlung seines Romans [Die Gottesmutter, 1883] in dem exotischen (sowohl in sozialer als auch in religiöser Hinsicht) galizischen Milieu angesiedelt. Er hat nämlich damit eine doppelte Wirkung erzielt: die Vorgänge gleichzeitig surrealisiert und in der Realität verwurzelt, sie verfremdet und empirisch belegt. Die geographische Entfernung schiebt eine gewisse innere Distanz zwischen den Leser und die sich ihm darbietenden Geschehnisse, aber die Exaktheit der Schilderungen läßt ihn keinen Augenblick vergessen, daß er hier zwar mit fremdländischen und sonderbaren, doch keineswegs nur erdachten und unwirklichen Erscheinungen zu tun hat. Auf eine indirekte, objektivierte, gleichsam kühle Art erforscht Sacher-Masoch seelische Bereiche, vor denen sich die abendländische Welt des 19.Jahrhunderts krampfhaft zu verschliessen suchte, und auf diesem Umweg dringen sie in ihr Bewußtsein ein. (S. 169f.) Gilles Deleuze w i e Zbginiew Swiatlowski postulieren also eine - psychoanalytisch oder sozialpsychologisch motivierte - einheitliche Sicht des Sacher-Masochschen Werks, ohne jedoch in Textanalysen die Probe aufs Exempel zu machen. Dies soll nun an ausgewählten Beispielen versucht werden.

IV. D i e frühste Erzählung Sacher-Masochs, Eine Galizische Geschichte. 1846 (1858; 2. Aufl. 1864 unter d e m Titel Graf Donski. Eine galizische Geschichte 1846) beginnt mit einem Gruß des (anonym bleibenden) Verfassers an seine galizischen Landsleute: So grüße ich Euch denn Alle, wie uns Alle ein Land: Galizien, gebar: Polen, Ruthenen, Deutsche und Israeliten [2.Aufl.: Juden]! Ob Ihr die Czemerka [polnischer Schnürrock] tragt, den Dreispitz, die Jarmurka [schwarzes Käppchen der Juden] oder den weißen Rock [Siérak]; ob Ihr hinter dem Pfluge geht, in der Esse oder in den Hörsälen schwitzt; ob Ihr an dem Wappenrock Eurer Gesinnung [2.Aufl. gleich mir] den siegreichen Doppelaar oder den wehmüthigen weißen Adler tragt; ob Ihr die Welt durch ein weißrothes oder schwarzgelbes Glas anseht; ob Ihr in Synagogen, Bethäusem, Cirkew's [Anm.: griechische Kirchen der Ruthenen] oder Kirchen betet - ich grüße Euch herzlich. 33 N i m m t man diesen ,Gruß* zugleich als programmatische Äußerung, dann wird klar, daß Sacher-Masoch seine Heimat als Mikrokosmos wertet, in dem die verschiedenen Nationalitäten, sozialen Klassen, Religionen und 33

[Leopold von Sacher-Masoch:] Eine Galizische Geschichte. 1846. Schaffhausen 1858. S. Vif.; 2.Aufl. (1864) S. Ulf.

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Weltanschauungen gleiches Recht auf Existenz und Achtung haben. Viel später, in den 1887 für die Pariser Zeitschrift „Le Gaulois" geschriebenen autobiographischen Souvenirs, findet sich ein ähnlich emphatisches Bekenntnis zu Galizien als „Wiege der Freiheit und der Religion": In einem Land wie Galizien, in dem es seit Jahrhunderten so viele verschiedene Nationalitäten und Konfessionen gibt, ist es nahezu eine Selbstverständlichkeit, sich zu tolerieren und gegenseitig zu achten. In einem Gebiet, in dem Polen, Russen, Kleinrussen, Rumänen, Juden, Deutsche, Armenier, Italiener, Ungarn, Zigeuner und Türken einträchtig zusammenleben, das also, was die Religionen betrifft, griechisch und römisch Katholische, Armenier, griechisch Orthodoxe, Lipowaner, Duchoborzen, Juden, Karäer, Chassidim, Lutheraner, Calvinisten, Mennoniten, Mohammedaner und Heiden aufgenommen hat, kann es keinen Rassenhaß, keine religiöse Verfolgung und auch keinen Antisemitismus geben. 3 4

Gleichwohl ist es bezeichnend, daß sich in Sacher-Masochs Judenbild der frühen Zeit Richtiges und Falsches, Beobachtetes und Kolportiertes unauflöslich vermischen: noch ist der Schriftsteller nicht in der Lage, seinen Gegenstand gedanklich und stilistisch zu bewältigen. Der für die polnische Revolution tätige .spekulative' Wirt Isaak Mendel,35 der „in gebückter Haltung, zugleich kriechend und lauernd wie ein morgenländisches Raubthier" dem Grafen Donski gegenübertritt (S. 116), ist eine klischierte jüdische Figur ebenso wie seine Frau Malke, „eine ächte polnische Jüdin, ein Kind Israels aus reinem Blute", „eine dieser Schönheiten von orientalischer Pracht, die etwas Blendendes und fast zugleich etwas Widerwärtiges haben" (S. 106). Beide sind - und dies ist immerhin bedeutsam - frühe Ausprägungen des Sacher-Masochschen Sexualitätsideals: die Frau hat Augen, die ihr Opfer mit einer „fast grausamen Wollust" an sich ziehen, „um es zugleich zu beglücken und langsam mordend zu quälen" (S. 107), der Mann ist trotz seiner Enttäuschung über Malkes Untreue bereit, sich von ihr überwältigen zu lassen (S. 112), so wie sie zuvor behaglich schmunzelnd (!) einen Floh zwischen den Nägeln ihrer Daumen entzweiknickt (S. 107). Die sexuelle Aberration wird hier noch den kollektiven Außenseitern zugewiesen, denen das Klischee immer schon eine besonders ausgeprägte Sinnlichkeit zugeschrieben hatte. Später, in den Novellen des die Liebe behandelnden ersten Teils des Zyklus Das Vermächtnis Kains (1870), wird die .masochistische' Liebesvariante universalisiert, wobei eigentümlicherweise der jüdische Kontext immer präsent bleibt. So erzählt der Don Juan von Kolomea in der gleichnamigen Novelle seine Leidens- und Liebesgeschichten in der Judenschenke des nur mit Spottnamen gerufenen Moschku, der bei Gelegenheit „wie ein Floh über den breiten Schenktisch" hüpft, um mit dem Erzähler, sich ,festsau34

35

Leopold von Sacher-Masoch: Souvenirs. Autobiographische Prosa. Aus d. Frz. v. Susanne Farin. München 1985. S. 42. Eine Galizische Geschichte (Anm.33) S. 102.

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gend', ein gebildetes Gespräch zu führen, 34 und Moschkus Frau wird als ebenso sinnlich-vamphaft vorgeführt wie Malke Mendel: Sie war schön, als Moschku sie heimführte, ich wette darauf. Jetzt ist alles so befremdend scharf in ihrem Gesichte. Schmerzen, Schande, Fußtritte, Peitschenhiebe haben lange in dem Antlitz ihres Volkes gewühlt, bis es diesen glühend welken, wehmüthig höhnischen, demüthig rachelustigen Ausdruck bekam. Sie krümmte ihren hohen Rücken, ihre feinen durchsichtigen Hände spielten mit dem Branntweinmaß, ihre Augen hefteten sich auf den Fremden. Eine glühende, verlangende Seele stieg aus diesen großen schwarzen, wollüstigen Augen, ein Vampyr aus dem Grabe einer verfaulten Menschennatur, und saugte sich in das schöne Antlitz des Fremden. (S. 23) In Venus im Pelz, der .masochistischen' Musternovelle, zitiert Sacher-Masoch die biblischen Modelle Simson und Delila sowie Judith und Holofernes, aus dessen Umkreis auch das Motto entnommen wird;37 die Juden sind .ungalant' und treffen damit das Wesen des Weibs und der Liebe (S. 21). Wie es der Zufall will, stimuliert ein jüdischer Händler durch den Verkauf einer Photographie von Tizians Venus mit dem Spiegel die imago der „Venus im Pelz" (S. 20); der Held der Novelle Severin ist ein „übersinnlicher Schlemihl" (S. 69), der aus der erzwungenen Gemeinschaft mit polnischen Bauern, Handelsjuden und gemeinen Soldaten, mit Masuren und fettlockigen Juden Lustgewinn zieht (S. 75). Daß sich der .sadistische* Grieche Alexis Papadopolis u.a. durch seinen .Rassehaß' auszeichnet, paßt zu dieser merkwürdigen Art eines .disguised symbolism'. Den ersten Versuch einer ausführlicheren Judendarstellung unternimmt Sacher-Masoch im Jahr 1874 - bezeichnenderweise mit zwei Bearbeitungen historischer Stoffe aus dem 17.Jahrhundert (beide Erzählungen erschienen in der zweiten Sammlung der Liebesgeschichten aus verschiedenen Jahrhunderten38). In Sabbathai Zewy. 1666 geht es um das Schicksal des vermeintlichen Messias, dessen lebensrettende .Bekehrung' zum islamischen Glauben bezeichnenderweise durch die erotische Intrige seiner Frau Miriam erfolgt. Miriam, getaufte Jüdin, hatte sich als Kurtisane durchgeschlagen und dient dann dem heiligen Wahnsinn Sabbathais als .Prüfung' (natürlich, indem sie Sabbathai pelzumhüllt durch Peitschenhiebe erotisiert), ehe sie sich dazu entschließt, ihn zu ihrem eigenen Nutzen auf die Ebene der Realität zurückzubringen. Die Judith von Bialopol. 1675 schildert - wiederum analog zum biblischen Modell von Judith und Holofernes - die couragierte Tat der polnischen Jüdin Judith Abrahamek, die die Belagerung ihrer Heimatstadt durch die Türken dadurch beendet, daß sie sich - entgegen dem 36 37

"

Don Juan von Kolomea (Anm.3) S. 21. Venus im Pelz (Anm.29), Motto aus Buch Judith 16,7: „Gott hat ihn gestraft und hat ihn in eines Weibes Hände gegeben." Simson und Delila S. 85, 88, 135; Judith und Holofernes S. 21. Liebesgeschichten aus verschiedenen Jahrhunderten. Novellen. Zweite Sammlung. Leipzig 1874. Darin Sabbathai Zewy. 1666 (S. 81-120), Die Judith von Bialopol (S. 121-154).

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Verdikt ihres Gatten - ins Lager des Paschas bringen läßt, ihn im Beisein ihres gefangenen Gatten durch scheinbare Liebesbeweise in Sicherheit wiegt und dann tötet. Wie fast immer bei Sacher-Masoch erweist sich die Frau generell als die Stärkere; die jüdischen Männer machen eine eher klägliche Figur, während ihre Frauen - übrigens dem Klischee der .belle juive' entsprechend - die eigentliche Heldenrolle übernehmen. Die historische Erzählung Ezech Elchanan (aus Polnische Geschichten, 188739), die stofflich unmittelbar in diesen Zusammenhang gehört, bietet demgegenüber ein (seltenes) Exempel männlicher Heldenhaftigkeit: kurz nach der Zeit der Pogrome Chmelnickis im 17.Jahrhundert rettet der junge Bocher Ezech Elchanan seine Braut Lea Jonas vor den Angriffen eines betrunkenen polnischen Offiziers, flieht in die Armee, zeichnet sich im Krieg gegen Schweden aus und wird ohne Taufe zum Offizier (mit dem neuen Namen Krakowski) befördert. Er bleibt aber trotz seiner Erhöhung und trotz des Interesses der Königin an ihm das, was er war: „der bescheidene Weise, der menschenscheue Talmudjünger" (S. 16). Als Bräutigam Leas zieht er schließlich wieder in seine Heimat, das Krakauer Ghetto Kasimierz ein. Einen anderen Weg militärischer Tugend wählt Monderisch Edelstein aus Kamienez Podolski im türkisch-russischen Krimkrieg: er verschmäht unvernünftige lebensbedrohende Heldentaten, verschafft aber seinem Oberst durch Vermittlung eines türkischen Juden die gegnerischen Gewehre, die dann den russischen Sieg und ein militärisches Avancement des klugen Juden ermöglichen (Monderisch40). Was in den Augen einer auf körperliche Heldentaten fixierten Leserschaft möglicherweise als Feigheit erscheinen könnte und damit das Klischee des ängstlichen Juden bestätigte, erweist sich im Sinne der Autorintention als durchaus ehrenwert und richtig: die Waffen des Geistes sind allemal von größerer Dignität als bloße Kraftprotzerei.

V. Erst mit der umfangreicheren Erzählung Hasara Raba, die in dem das Eigentum behandelnden zweiten Teil des Zyklus Das Vermächtnis Kains 1877 erscheint,41 verläßt Sacher-Masoch bezüglich seiner Judendarstellung das Gebiet der Kolportage - was ihn freilich nicht vor ,Rückfällen' ins Klischee in späteren Werken bewahrt.42 Mit der Gegenüberstellung der armen, klei39 40

41 42

Ezech Elchanan. In: Sacher-Masoch, Polnische Geschichten. Breslau 1887. S. 9-20. In: Sacher-Masoch, Polnische Judengeschichten. Prag ca. 1895. (= Jüdische UniversalBibliothek Nr 9). S. 3-14. Hier zitiert nach der Einzelausgabe Leipzig 1882. Frz. Ausgabe bereits 1875. Vgl. bereits den aufs Ganze gesehen nicht uninteressanten Roman Der neue Mob (Stuttgart: Cotta 1878): hier wird der russische Bauer Theofil Pisarenko als Figuration des

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nen Jüdin Chaike Wieselchen Rebhuhn und ihrer reichen, hartherzigen, schönen Schwägerin Peninna Konaw einerseits, dem schönen Lebemann und Freigeist Baruch Koreffle Rebhuhn und dem unpraktischen Talmudisten Jehuda Konaw andererseits gelingt es dem Autor, durch Differenzierung die Fixierung auf Stereotype wenigstens partiell zu überwinden. Freilich bleibt das jüdische Kollektiv in seiner kleinbürgerlichen Starrheit und religiösen Borniertheit eher Karikatur, und durch die Figur des mit offensichtlichem Behagen geschilderten polnischen Judenhassers Kalinoski, dem der von den Juden ungerecht behandelte Baruch bei seinen fürchterlichen Streichen hilft, kommt eine Ambivalenz in die Erzählung, die ihrer ursprünglichen Intention widerspricht Vollends unglaubwürdig ist dann Baruchs Rückkehr aus Jerusalem, wo er - gleichsam ein jüdischer Calvinist zugleich reich und fromm wurde; er setzt Chaike wieder in ihre Rechte als Mutter ein, die sie während seiner Abwesenheit nur durch illegale Machenschaften verteidigen zu können glaubte. Chaikes Appell an die Nächstenliebe als ein Grundprinzip jüdischer Moral, das von den Juden ihrer Heimat verletzt wird, ist zugleich eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Begriff des Eigentums; durch die innerjüdische Diskussion über das Thema des materialistischen Denkens wird immerhin erreicht, daß das Stereotyp eines speziell jüdischen' Materialismus ad absurdum geführt wird. Wenn dann allerdings wieder Chaikes .Werktagsseele' als „eine richtige, gewinnsüchtige, betrügerische, schmutzige Judenseele" ihrer .Sabbathseele' als einer ,,wahre[n], echtefn], gute[n] Menschenseele, wie irgend eine" (S. 98) gegenübergestellt wird, demontiert der Autor unfreiwillig seine eigentliche Absicht 43 Eine weitere Eigenart der Erzählung ist die Schilderung jüdischer Sitten und Festgebräuche - hier bezogen auf Sabbath, Hochzeit, Tod und insbesondere ,Hasara Raba' (.Hoschana rabba'), den siebten Tag des Sukkotfests, an dem der Überlieferung zufolge die Entscheidung über die Gewährung des Regens für das kommende Jahr fällt und sich das göttliche Gericht vollendet.44 Der (nichtjüdische oder dem Judentum bereits entfremdete) Leser kann Kenntnisse erwerben und Verständnis entwickeln; durch die Einbin-

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alttestamentlichen Hiob vorgeführt, dessen Geliebte, die Jüdin Joadan Abeles von Zablotow, von fanatischen Juden ermordet wird, weil sie sich taufen lassen will. Das (scheinbar jüdische) Racheprinzip wird dem (scheinbar christlichen) Liebesgebot gegenübergestellt, obwohl gleichzeitig als „Hiobs Weisheit" hervorgehoben wird, man solle das Übel vergessen und nur das Gute in der Erinnerung behalten (S. 376). Diese Zweiteilung ist ein beliebtes Denkmuster; vgl. auch Jüdisches Leben (Anm.ll) S. 93, insbes. aber S. 248 (Das Trauerspiel im Rosengässchen): „Einmal in der Woche, wenn sie im Kreise der Ihren den letzten Schöpfungstag feierten, waren sie beide Patriarchen, Könige, edel, weise, gütig, erleuchtet, aber in der Woche waren sie Handelsleute der schlimmsten Art, bomirte, ungebildete Kleinstädter, egoistisch, habgierig und abergläubisch." Vgl. Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens. Hrsg.v. Georg Herlitz u. Bruno Kirschner. Berlin 1927-30. Bd II, 1674-76.

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dung in eine je konkrete Erzählhandlung gewinnen die Bräuche an Plastizität, auch wenn man einräumen muß, daß die Terminierung bestimmter Handlungszüge auf symbolische Festtage häufig etwas konstruiert wirkt. Das Studium des Talmud und der Kabbala gelten als spiritualistischer Irrweg gegenüber dem Studium der Natur einerseits, der Bewährung in der gesellschaftlichen Praxis andererseits. Indem Sacher-Masoch jedoch den chassidischen Zadik von Sadagora gegenüber seinem Hofstaat als psychologisch erfahrenen, gütigen Ratgeber positiv herausstreicht, vermeidet er hier eine Schwarz-Weiß-Zeichnung, bei der orthodoxe oder chassidische Religiosität zur bloß exotisch-skurrilen Arabeske verkommt. Mit den Judengeschichten von 187845 legt Sacher-Masoch dann eine Sammlung von Erzählungen vor, deren Niveau - verstanden als Einfühlungsvermögen in jüdisches Leben - für einen nichtjüdischen Autor in der Tat erstaunlich ist. Im Motto von Longfellow („Zerstampft, getreten wurden sie wie Sand, / Und blieben standhaft wie der Bau der Erde") wird das Überdauern als eigentliche Leistung des jüdischen Volks hervorgehoben eine Einschätzung, die in der Sammlung Jüdisches Leben in Wort und Bild von 1891 (frz. 1888) ausdrücklich und mit Berufung auf Goethe noch einmal wiederholt wird.46 Das Opfer überdauert also die Täter aller Zeiten das ist seine eigentliche Leistung und macht seine Stärke aus. In Abe Nahum Waßerkrug wird das Stereotyp der jüdischen Ängstlichkeit analysiert: in der Sorge für seinen - die Choleraepidemie als einziges Kind überlebenden - Sohn Jossei wächst der kleine Schankwirt und Trödler Abe über sich selbst hinaus und wird - was er gegenüber seiner verstorbenen Frau nie gewagt hätte - zum Helden; um Josseis Begabung für den Beruf des Kutschers nicht im Weg zu stehen, gibt er auch den Wunsch auf, sein Sohn möge ein ,Ilau', also ein besonders erleuchteter Gelehrter werden. Jossei ist der Typus des ,Muskeljuden', des Draufgängers, der es mit einem polnischen Antisemiten aufnehmen kann - auch dies als Widerlegung der gängigen Vorstellung eines Juden gedacht, wie ihn Sacher-Masoch in seinem Frühwerk selbst vorgeführt hatte. Der Pächter Moses Goldfarb (in Moses Goldfarb und sein Haus) ist die positive Gegenfigur zum Isaak Mendel der frühen galizischen Geschichte: ein „unverfälschter gläubiger Jude" und Chassid (S. 29), der nur vom polnischen Besitzer des Dorfs sowie vom katholischen und protestantischen Pfarrer .Blutsauger' genannt, von den Bauern aber als integer anerkannt wird. Seine Kinder repräsentieren verschiedene Weisen der Emanzipation: die des Körpers (Esterka als Geliebte eines polnischen Grafen), die des Berufs (Abraham als Soldat), die des Geistes (Benjamin als Theaterkritiker und 45

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Sacher-Masoch: Judengeschichten. Leipzig 1878. Darin enthalten Abe Nahum Waßerkrug (1-26), Moses Goldfarb und sein Haus (27-48), Pintschew und Mintschew (49-128). Vgl. Jüdisches Leben (Anm.ll) S. 15-22, hier S. 15.

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Journalist). Aber sie bewahren die Pietät für ihren Vater und damit auch für die Religion der Väter, indem sie die Taufe ablehnen. In dieser Familie werden also zwei Weisen jüdischer Existenz ohne Bruch verwirklicht, wobei der traditionellen Weise religiösen Lebens die größere Poesie, ein gleichsam patriarchalischer Abglanz zuerkannt wird, der emanzipatorischen Weise die größere Wahrscheinlichkeit. War der Talmud in den beiden ersten Erzählungen der Sammlung Gegenstand manch humoristischer Bemerkungen, so steht der lebenslange Disput zweier Freunde über Fragen des Glaubens im Mittelpunkt der wohl schönsten Judengeschichte Sacher-Masochs, Pintschew und Mintschew. Es ist dies ein erstaunliches Bekenntnis zu dieser wesentlich geistigen Eigenart traditionell jüdischer Existenz, wobei die humoristische Grundierung zur Vermittlung einer sehr ernsthaften Botschaft eingesetzt wird. Der Geist triumphiert hier ebenso über die Sinnlichkeit (die Ehefrauen werden sozusagen durch den Diskussionseifer ihrer Ehemänner um die Freuden der Hochzeitsnacht betrogen) wie über die Erfordernisse des Berufs (Pintschew ist Schneider, Mintschew Kutscher) wie über Gefahren (Brand, Krankheit, Sumpf); zugleich aber geben die beiden Freunde den Mitbewohnern Gelegenheit zur Bewährung der Nächstenliebe, als sie verarmt von diesen bis ins hohe Alter versorgt werden und dadurch zur Freude der Zuhörer in der Lage bleiben, stellvertretend für sie selbst über die Grundprinzipien jüdischer Religiosität zu streiten. Letzter Streitpunkt vor ihrem am gleichen Tag erfolgenden Tod ist das - durch August Rohlings Machwerk Der Talmudjude von 1871 besonders verbreitete - Vorurteil, ein Jude dürfe die Gojim betrügen. Mintschews Definition jüdischer Moral im Sinne des Prinzips universaler Nächstenliebe („die jüdische Moral, meine Freunde, ist so rein und durchsichtig wie ein Krystall, kein Mensch kann sagen, daß seine Augen sie nicht sehen, am wenigsten kann dies aber ein frommer Mann behaupten, der Gott gefällig sein will"; S. 125f.) wird zugleich zu seinem Vermächtnis: er stirbt, und ihm nach sein etwas törichterer Freund Pintschew, auf den aber durch die Freundschaft mit Mintschew ein Abglanz wahrer Jüdischkeit' fällt.

VI. Das Niveau dieser ersten Sammlung von Judengeschichten wird von Sacher-Masoch zunächst nicht mehr erreicht. In den Neuen Judengeschichten von 1881,47 die in einer persönlich schwierigen Situation entstehen und 47

Neue Judengeschichten. Leipzig 1881. Enthält: Des Rabbi Wunderspiegel (5-12), Ein Aufgeklärter (13-31), Die Venus von Braniza (33-39), Der Scheidebrief (41-54), Die Deborah von Nagy-Némethy (55-69), Malach Schneefuß und sein Golem (71-88), Der Handel um den Namen (89-110), Cipre Goldfinger (111-126), Von Fenster zu Fenster (127-209).

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wohl auch aus finanziellen Gründen, unter Ausnutzung der Konjunktur, auf den Markt gebracht werden, fällt der Autor allzu häufig in das bloß Pikante, Kolportagehafte zurück. Mehrfach werden Geschichten erzählt, die nur äußerlich als jüdisch' gelten können: etwa Des Rabbi Wunderspiegel, wo ein zänkisches Weib durch den psychologischen Trick, sich selbst den Spiegel vorzuhalten, von ihrer Untugend geheilt wird, oder die Schwankerzählung von der sich langweilenden Schönen in Pelzjacke, die sich als Frau eines jüdischen Gelehrten einen Rittmeister als Geliebten nimmt, um das Kommen des Messias durch Beförderung der Schlechtigkeit der Welt zu beschleunigen (Die Venus von Braniza). In einer anderen Erzählung (Malach Schneefuß und sein Golem) bekehrt sich der entsprechend gehörnte Gelehrte auf Rat eines christlichen Arztes zum Studium der Natur, aufgrund dessen er seiner Frau verzeihen und mit ihr ein aktiveres Eheleben führen kann. Problembewußter sind da schon die Erzählungen Der Handel um den Namen und Cipre Goldfinger - im einen Fall geht es um die Usancen der Beamten bei der Zuweisung jüdischer Familiennamen gemäß dem Edikt Kaiser Josephs Π., im andern um die christlich-jüdische Differenz in der Liebe und in der richterlichen Bewertung tragischer Verfehlungen aufgrund unterschiedlicher Identität. Als humoristische Idylle trägt schließlich die Erzählung Von Fenster zu Fenster dazu bei, die Welt des Ostjudentums sympathisch erscheinen zu lassen. Es handelt sich um die romantisch-realistische Liebesgeschichte des schönen und .gebildeten' Verkäufers Barom Hirschbein und der imposanten Witwe Genendel Kosches einerseits, um eine Art Transponierung der Kaufmanns-Poesie von Soll und Haben ins Inneijüdische andererseits - das Anheimelnde des Kramladens (S. 130) wird ebenso nach Gustav Freytag stilisiert wie der gutmütige riesenhafte Ladendiener Abrahamek Zuckerhut. Eine Reminiszenz an Karl Emil Franzos (Schiller in Barnow) bildet die liebevolle Ausmalung von Baroms auf zwei Bücher - Schillers Gedichte und Goethes Faust - gestützter Bildung: was in dem kleinen, ostgalizischen Neste, in dem es nicht einmal eine Buchhandlung giebt, für den armen Juden ein zerrissenes, abgegriffenes Buch ist, und erst ein Buch wie der Faust. Es ist für ihn kein angenehmer Zeitvertreib, sondern ein ganzer Himmel voll goldener Sternenschrift, eine grüne Bergwiese mit duftenden Blumenbuchstaben bedeckt. Für ihn ist der Poet noch ein Magier, der sein kleines Stübchen mit wunderbaren Gestalten, Göttern und Helden bevölkert. (S. 146f.)

Eigentümlich ist wiederum, wie sehr die Liebesgeschichte nach dem ,masochistischen' Modell konstruiert wird: in dem Augenblick, als die Witwe Barom prophezeit, sie werde ihn schon unter den Pantoffel kriegen, gefällt sie ihm, während er vorher eher von ihr enttäuscht war, weil sie seinem romantischen Bild nicht entsprach (S. 177). Daß die Witwe immer Pelz trägt, braucht gar nicht besonders hervorgehoben zu werden: es gibt bei Sacher-Masoch schlechterdings keine Frau, deren Attraktivität nicht durch

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Pelze hervorgehoben, ja durch sie erst begründet würde. Die wahre .Poesie' der Liebe wird durch Leiden erweckt, nämlich durch die Leiden der (hier freilich unbegründeten) Eifersucht. Solcherart Obsessionen wirken auch in ihrer humoristischen Milderung eher peinlich, zumal, wenn sie als spezifisch jüdisch hingestellt werden; andererseits wird dadurch immer aufs neue die Korrelation zwischen Sacher-Masochs obsessiver Phantasie und der Entscheidung für die jüdische Welt als Gegenstand der Beschreibung deutlich. Zwei größere Erzählungen aus dem Jahr 1882, Der Judenraphael und Der Ilau, tragen ebenfalls ambivalente Züge. Im einen Fall (Der Judenraphael) geht es um das Schicksal eines griechisch-katholischen Pfarrersohns, der durch die Liebe zu einer Jüdin aus einem karikaturbegabten Judenhasser zum Genremaler jüdischen Lebens wird; im andern Fall (Der Ilau) wird eine dreifache Apostasie beschrieben, nämlich die Konversion eines zum Talmudgelehrten bestimmten jungen Juden zur Naturgeschichte (aus Erkenntnisdrang) und zum Christentum (aus Liebe zu einer Christin), zum Radikalliberalismus und antistaatlichen Engagement (aus Erbitterung über die Zwangsmechanismen des christlichen Staates). Die Ambivalenz der beiden Erzählungen ergibt sich aus ihrer impliziten Widersprüchlichkeit, die die Intentionen eines durchaus judenfreundlichen, um .Objektivität' bemühten Schriftstellers konterkariert. Der Judenraphael48 Plutin Samojlenko wird als Außenseiter beschrieben, dem der „fortgesetzte Anblick der grauenhaft gemalten Leiden Christi [...] den ersten Samen des Judenhasses in die reine, schuldlose Kinderseele senkte" (S. 8), ein Judenhaß, der ihn auf das Sujet des jüdischen Lebens als Objekt von Karikaturen geradezu fixiert. Seine dämonische Begabung Plutin ist der Typus des Originalgenies - richtet sich gegen die Juden, denen er .jeden aufrichtigen Sinn und jedes Verständniß für Wissenschaft und Kunst" ebenso bestreitet wie eine spezifische Schläue (S. 35), die ihn aber andererseits geradezu magisch anziehen: Plutin's Haß übte eine ähnliche Wirkung wie die Liebe; wo er ging und stand und saß, zeichnete er Juden und wieder Juden und immer nur Juden, schöne, gedankenvolle Köpfe brütender Weisen, die ihre Züge oft von dem Heiland geborgt zu haben schienen, und häßliche, abstoßende Schächervisagen, die sich um ein paar Kreuzer gegenseitig mit ihren krummen Nasen zu zerhacken drohten, Juden in pelzbesetzten Kaftanen mit der Zobelmütze auf dem Kopf, und andere in verschossenen, geflickten Talaren, mit einem schäbigen Filz und struppigem Haar unter der verbogenen Krämpe, Handelsjuden, Handwerker, Schänkwirthe, Chassiden [Anm.: Mitglied einer fanatischen Secte], Getreidehändler, Bocher [Anm.: Talmudschüler] und jüdische Soldaten, magere Jüdinnen im faltenlosen Ueberrock, mit der Haube auf den Scheiteln, den Hühnerkorb oder das Waarenbündel auf dem Rücken, und schöne jüdische Liebesgöttinnen, mit der Stimbinde gekrönt, den üppigen Leib in kostbares Pelzwerk geschmiegt, und Alle, klug oder 48

Sacher-Masoch: Der Judenraphael. Leipzig 1882.

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albern, schön oder garstig, hatten einen Stich in das Komische, es waren Caricaturen, deren raffinine Bosheit darin lag, daß man sie vollkommen ernst nahm, und in denen sich der satirische Zug des kleinrussischen Volkes mit seiner ganzen Kraft und Schärfe aussprach. (S. 37f.) Trotz seines Hasses bannt Plutin also das gesamte jüdische Universum auf die Leinwand - eine Faszination, deren Grund sich später ohne weiteres in eine - freilich höchst ambivalente, weil allein durch die Zuneigung zu einer schönen Jüdin hervorgerufene - Liebe verwandeln kann. Im Verein mit vier Freunden (nebst einem Pudel namens Mephistopheles) quält Plutin die Juden durch schlimme Streiche, die vom Autor aber recht genüßlich erzählt werden (S. 38ff.). So wird ein ärmlicher Geiger, Abraham Tabak, mit vorgehaltener Pistole zum Branntwein- und Schinkengenuß gezwungen und zugleich zum Leibmusikanten ernannt (S. 43); und eben dieser Jude verkündet von nun an das hohe Lied des guten Menschen und .Rosche' (Judenfeinds) Plutin (S. 44) und bleibt ihm bis in den Tod treu - der Quäler als Freund. Schlimmer noch ist der Scherz mit den jüdischen Ängsten vor dem Militär, als man alle als Ersatz angebotenen Krüppel einzieht (S. 47ff.), oder die blendende Idee, die Juden von ihrer Sehnsucht nach Jerusalem zu heilen, indem man sie vorgeblich in einer Kanone dorthin schießen lassen will (S. 56ff.). An Purim schließlich lernt Plutin, in der Verkleidung eines weisen Rebbe, die schöne Hadaßka kennen und lieben - was ihn nicht daran hindert, sich über Lebele Hirschs Talmudkenntnisse lustig zu machen: der durch die Liebe zu einer Jüdin hervorgerufene Gefühlsstau muß abgeleitet werden. Hadaßka sieht als ihre wichtigste Aufgabe an, Plutin von seinen Vorurteilen gegenüber den Juden zu heilen: Jeder hat die Fehler dessen, was er thut, womit er sich beschäftigt. [...] Die Juden sind ein Handelsvolk und haben alle Fehler eines solchen. Wenn aber diese Fehler eines Handelsvolkes den jüdischen Charakter ausmachen, wie kommt es dann, daß die Karaiten [Anm.: Eine uralte jüdische Secte in Rußland und Galizien] dieselben nicht an sich haben? Und diese sind vielleicht die echtesten Juden, weil sie sich nur an das mosaische Gesetz halten. Es ist erwiesen, daß seit vielen hundert Jahren, seitdem die Karaiten hier im Lande sind, keiner von ihnen gerichtlich bestraft wurde. Sie leisten keinen Eid und schließen keinen schriftlichen Vertrag, ihr Handschlag muß genügen, und doch ist noch nie ein Mensch von einem Karaiten betrogen oder übervortheilt worden! Wie kommt das? Weil sie keinen Handel treiben, sich ausschließlich mit Ackerbau und Viehzucht beschäftigen. [...] Je mehr man die Juden ausstößt [...], je länger man ihnen die Rechte vorenthält, welche die Christen haben, um so später werden sie jene Eigenschaften ablegen, die Vielen so verächtlich und gefährlich erscheinen. (83f.) Wie ambivalent sich Plutin trotz seiner .Bekehrung' nach wie vor verhält, zeigt sich daran, daß er in seiner Freude über eine mit Hadaßka und ihrer Familie verbrachte Sabbathfeier auf dem Heimweg jeden Juden umarmt und Lebele Hirsch unter Androhung von Prügeln zu dieser Umarmung zwingt (S. 90). Dies ist eine Schlüsselszene nicht nur für Plutins, sondern auch für Sacher-Masochs Vorstellung vom Glück durch Leiden: der Jude muß wie

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der .Masochist' gleichsam zu seinem Glück gezwungen werden. So sieht Plutin auch keineswegs von weiteren üblen Scherzen ab - im Gegenteil. Sein Freund Fflamton verkleidet sich als Esther und tritt dem verliebten Lebele Hirsch in pelzbesetzter Kazabaika gegenüber, um ihn scheinbar zur Liebe zu zwingen; als sich dieser aus Angst in den Kamin flüchtet, schießt man ihm Schweinsborsten in den Hintern - für Lebele ein „polnischer Spaß, wie das Sprüchwort sagt, zu dem man braucht einen Arzt, einen Geistlichen und einen Todtengräber" (S. 99). Obwohl Lebele völlig recht hat mit dieser Bewertung, kommt ihm in der Erzählung nur die Rolle des Geprellten zu, dem Plutin im ,Duell' Locken und Bart abschneidet (S. 128) - bis zu der Szene, als am Tag seiner Hochzeit mit Hadaßka Plutin in das Haus eindringt und mit der sterbenden Braut tanzt. Plutin dagegen wird wie Hadaßka vom Erzähler ein ./eines, gutes Herz" attestiert (S. 104) - noch bevor Plutin und seine Freunde die Angst der Juden vor dem Weltuntergang zu einem makabren Selektionsvorgang auszunutzen: wer sich nämlich in die von ihnen gebaute Arche flüchten darf (S. 122). Daß Plutins Verhalten aus seiner nihilistischen Verzweiflung über Hadaßkas Weigerung, sich taufen zu lassen, resultiert, nimmt ihm nichts von seiner Verwerflichkeit. Nach Hadaßkas Tod inszeniert Plutin sein eigenes Sterben - bis hin zu einem nach dem Abendmahl inszenierten letzten Treffen mit den Freunden in der Steppe. Daß Abraham Tabak, der früher von Plutin gequälte, dann unterstützte jüdische Geiger, im Schmerz um den Freund zum wirklichen Künstler wird (S. 157), unterstreicht noch einmal den Zusammenhang von Schmerz, Liebe und Künstlertum im Werk Sacher-Masochs - einen Zusammenhang, der in den Judengeschichten für den heutigen Leser höchst ambivalent, wenn nicht skandalös wirkt. Mit der Erzählung Der Ilau (die Karpeles, unter dem Titel Der Iluy, erstaunlicherweise in seine Auswahl von Ghettogeschichten Sacher-Masochs aufgenommen hat)49 verkommt das Erzähltalent des Autors zum bloßen Thesenanschlag; dessen formaler Niederschlag ist eine manichäische Erzählkonstruktion, die auch noch die größten Unwahrscheinlichkeiten lizenziert - so etwa die, daß ein junger, talmudisch gebildeter Jude, der auf den Geschmack moderner Naturforschung gekommen ist, sich nächtlings unter dem Galgenberg mit einem Skelett versorgt (S. 148ff.). Zwar wird die völlig selbstlose Wißbegierde als besonderes Kennzeichen des echten Juden angesehen, „der von der Wiege an dazu erzogen wird, dem Lichte der Erkenntnis um seiner selbst willen nachzugehen, und einer großen Idee die Welt mit ihrem bunten Farbenspiel, sein Leben, ja sich selbst ganz aufzuopfern" (S. 140); diesem Wissensdrang wird aber ein solches Zerrbild traditionellen geistigen und religiösen Lebens entgegengestellt, daß nun weder das eine noch das andere glaubwürdig wirkt. Sabathai Benaja, der abtrünnige ,üau', 49

Sacher-Masoch: Der Iluy. In: Sacher-Masoch, hrsg.v. Karpeles (Anm.10) S. 108-282.

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erklärt seinem hohlköpfigen jesuitischen Gönner das Spezifikum jüdischer .Bildung' folgendermaßen: Die Juden wissen von den Wissenschaften ebenso viel, als von den Bewohnern der Sterne. Es wäre aber falsch, sie deshalb für ungebildet zu halten. Die galizischen Juden leiden nicht an Unbildung, sondern an Ueberbildung. Wie sie die Frömmigkeit in der Asketik suchen, so gelten ihnen nur Scharfsinn, Witz und Sophistik als Tiefe, während ihnen das gesunde Wissen in seiner einfachen Form seicht erscheint. (S. 155) Daß ein nach weltlich-westlicher Bildung dürstender Jude wie Benaja der orthodoxen .jüdischen Polizei" (S. 159) in die Finger fällt und er danach notwendigerweise seine galizische Heimat verläßt, mag noch angehen; um so unverständlicher ist dann aber, wenn seine spezifische Begabung fast emphatisch auf das eben noch perhorreszierte Talmudstudium zurückgeführt wird: Wie alle jungen Männer jüdischer Abkunft, die sich frühzeitig mit dem Talmud beschäftigten, verdankte er demselben eine Frühreife, wie sie sonst nur das Genie besitzt [...]. Auf dieselbe Quelle war seine Beredtsamkeit zurückzuführen. Diese so eigentümliche, bald an die Wunderwelt des arabischen Märchens, bald an die Erhabenheit der Psalmen oder die Schalkhaftigkeit Eulenspiegels anklingende Beredtsamkeit, in der farbenglühende Bilder, überraschende Gleichnisse, anmutige Spruchweisheit und kecke Witze wie Blumen und Farben durcheinander sprühen. (S. 184) Überzeugender ist die Einfühlung des Autors in das Leid des sich wider Willen zur Taufe entschließenden Juden: Für den polnischen Juden heißt seinen Glauben wechseln - auswandern, das Haus verlassen, in dem er geboren wurde, seine Geschwister, seine Freunde, die Gräber seiner Eltern, das Volk, das seine Sprache spricht und dessen Herz den gleichen Schlag hat, alle Erinnerungen ausraufen wie das Gras, das die Juden beim Begräbnis, ohne umzublicken, hinter sich streuen, und fortan in der Fremde leben unter Fremden. (S. 193) Das sacrificium intellectus nützt Benaja jedoch nichts, da er seine Frau an einen Jesuiten verliert, ihm zum andern die versprochene Professur wegen Freigeisterei von den herrschenden christlichen Zeloten verweigert und er schließlich - nach seiner Weigerung zum Widerruf - zwangsweise in eine Irrenanstalt eingewiesen wird. Sein Kampf gegen die Zeloten aller Art und für die .wahre' Erkenntnis der Natur (im Sinne des Darwinismus und eines materialistischen Determinismus) bleibt zu plakativ, um glaubwürdig zu sein, auch wenn die Fähigkeit zum Kampf unmittelbar aus der Opfer-Rolle der Juden abgeleitet wird: In der jüdischen Natur hat sich die Fähigkeit, Leiden, Spott und Gewalt ruhig zu erdulden, seit zweitausend Jahren von Generation zu Generation vererbt und gesteigert, und Benaja war ein echtes Kind des verfluchten Stammes; Kampf, Beschimpfung, Haß, Verachtung, Qualen jeder Art entmutigten ihn nicht, son-

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dem steigerten nur seine fanatische Kraft, zu dulden und laut zu bekennen, was er für wahr hielt. (S. 244f.) Gedanklich schwach sind demgemäß die Überlegungen Benajas zum Segen von .Mischkulturen' im Kontext der Vererbungslehre; hier wird der jüdische ungemischte Typus negativ der Individualität des Mischtypus entgegengestellt, obwohl doch gerade die jüdische Konzentration auf den eigenen Umkreis Stärke und Dauer verbürgt haben: Auch bei ihnen [den Völkern] beruht Gedeihen oder Verfall auf der Entwicklung und Vererbung der zum Kampfe erforderlichen, den Sieg verbürgenden Eigenschaften. Diese Vererbung wird um so einseitiger erfolgen, je geringer die Mischung ist. Völker, welche sich von andern abgeschlossen erhalten, wie die Juden, werden durch Jahrtausende ihren leiblichen und geistigen Typus, ihre besonderen Talente, ihre Denkweise, ihren Glauben bewahren. [...] In keinem Staate zeigt die Bevölkerung ein so reiches individuelles Gepräge wie in dem unsem, und in keinem Lande dieses Staates in solchem Maße, wie in dem östlichen Galizien, wo seit Jahrhunderten Kleinrussen, Polen, Juden, Deutsche, Moskowiter, Armenier, Tartaren, Wallachen, Magyaren und Zigeuner neben einander leben und sich unter einander vermischen. In einem solchen Volke wird entsprechend dem Reichtum an individuellen Organismen auch ein Reichtum an den verschiedensten Gaben zu finden sein und diese verschiedenartige Befähigung der Einzelnen wird aus dem Volke einen zu allem befähigten großen Menschen, ein Universalgenie machen, wie es unter den Menschen der Erde ein Goethe war, sobald der Staat nur seine Aufgabe erfüllt. (S. 218f.) Sacher-Masoch versagt völlig, wenn er - wie etwa Franzos - ,Kampfund Trutzgeschichten' (Ludwig Geiger) zugunsten der Assimilation zu schreiben versucht; auf diesem Gebiet fehlt ihm als Nichtjuden jegliche Authentizität und Legitimation.

VII. In der von ihm zwischen 1881 und 1885, also in der Zeit eines sich verstärkenden Antisemitismus herausgegebenen .Internationalen Revue' „Auf der Höhe" 50 bemüht sich Sacher-Masoch - verglichen mit anderen Publikationen dieser Jahre - um größte Objektivität und Gerechtigkeit in der ,Judenfrage'. So bringt er - neben eigenen Erzählungen 51 - mehrfach religiöse Betrachtungen und Genreskizzen des Reformrabbiners Leopold Stein und schreibt dem 1883 Verstorbenen selbst einen Nachruf. 52 Weitere jüdische 50 51 52

Auf der Höhe. Internationale Revue. Hrsg.v. Leopold v. Sacher-Masoch. Leipzig. 4 Jahrgänge: Oktober 1881 bis September 1885. Der Judenraphael (Bd 1, 1881, S. 1-46, 161-209); Schma Isroël! Eine Geschichte aus Galizien (Bd 2, 1882, S. 359-366). Leopold Stein: Das Beste im Hause. Aus dem Talmud [...] (Bd 1, 1881, H.l, S. 126f.). Ders.: Maimonides erkennt die weltgeschichtliche Bedeutung des Christentums an [...]

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Mitarbeiter sind u.a. Adolph Silberstein (Korrespondent in Budapest), Nathan Samuely,53 Peter Smolenski,54 Theodor Stromer,55 Rabbiner J. Goldschmidt5® und H. Littrow.57 Als Sacher-Masoch 1883 in Leipzig sein fünfundzwanzigjähriges Schriftstelleijubiläum feiert, erhält er Glückwunschadressen u.a. von Victor Hugo, Moritz Rahmer (dem Herausgeber des .Jüdischen Literaturblatts" in Magdeburg), Ernest Renan, Rudolf Gottschall, Heinrich Seidel, Victor von Scheffel, Robert Hamerling, Ernst von Wildenbruch, Eugenie Marlin, Georg Ebers, Emile Zola, Eduard von Bauernfeld, Johann Gustav Droysen und Wilhelm Riehl.58 Die Disparatheit dieser Reihe von Namen verweist darauf, daß Sacher-Masoch bei möglichst vielen Schriftsteilem aller politischen und ästhetischen Richtungen Anerkennung suchte und fand. Prinzipienstrenge war - bei aller bewährter Liberalität - nicht seine Sache, und so verwundert es nicht, daß in einer Erinnerung SacherMasochs an Gedenktage unmittelbar neben Moses Montefiore der Name des notorischen katholischen Antisemiten Alban Stolz steht, über dessen Antisemitismus freilich kein Wort verloren wird.59 Auf der anderen Seite zieht Sacher-Masoch 1882 gegen die zunächst (freilich nur kurz) von Gustav Freytag zusammen mit Alfred Dove herausgegebene Zeitschrift „Im Neuen Reich" zu Felde: er empfindet Genugtuung darüber, daß dieses Organ, das „Menschen verschiedener Nationalität und verschiedenen Glaubens gegen einander gehetzt" und alle Stadien „nationaler Verblendung von der stolzesten Selbstüberhebung bis zur hoffnungslosen Verbissenheit, bis zum bonapartistischen Byzantinismus und bis zur Judenhetze durchgemacht" hat, in Deutschland kein Publikum gefunden habe.60 Belege für die .Judenhetze' der Zeitschrift bleibt er allerdings schuldig; tatsächlich macht sich der Treitschke-Freund Freytag gerade in der Zeit nach der Reichsgründung zu einem Anwalt der Juden als gleichberechtigten Mitbürgern. Der Angriff gilt denn auch vor allem dem Preußen Freytag, der mit seiner Romanreihe der

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(Bd 2, 1882, S. 130-134). - Ders.: Pfeifferle, der Possenmacher. Aus dem altjüdischen Familienleben (Bd 5, 1882, S. 331-334). - Sacher-Masoch: Rabbiner Leopold Stein (Bd 6, 1883, S. 150f.). - In Bd 7 (1883) wird ein (bejahendes) Gutachten Steins vom September 1881 über die Frage abgedruckt, ob ein mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichneter Jude mit diesem (formal christlichen) Ehrenzeichen zur Thora aufgerufen werden dürfe (S. 293f.). Nathan Samuely: Die Belletristik der neuhebräischen Literatur (Bd 2, 1882, S. 220-228). - Ders.: Shylock und Nathan (Bd 7, 1883, S. 448-456). Peter Smolenski: Des Windes Heulen. Eine jüdische Geschichte (Bd 2, 1882, S. 229-237 [aus dem Hebr.]). Th. Stromer: Die Juden in China (Bd 2, 1882, S. 466f.). J. Goldschmidt: Aus Talmud und Midrasch (Bd 9, 1883, S. 445-448). H. Littrow (Fiume): Die Juden in Europa (Bd 10, 1884, S. 389-410). Revue des geistigen Lebens. Das Sacher-Masoch-Jubiläum in Leipzig (Bd 6, 1883, S. 308-318). Bd 9 (1883) S. 286f. (Montefiore, 100. Geburtstag), S. 287-289 (Nachruf auf Stolz). Außerdem wird noch an Rudolf von Gottschalls 60.Geburtstag erinnert (S. 284-286). Bd 2 (1882) S. 305.

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Ahnen eine Rechtfertigung der deutschen Geschichte im Sinne preußischreichsdeutscher Ideologie vorgelegt hatte.

VIII. Angesichts der Ambivalenz seiner eigenen Judenerzählungen aus den Jahren der Herausgabe seiner Revue „Auf der Höhe" tut Sacher-Masoch recht daran, sich in den kommenden Jahren wieder vor allem dem Genrebild, der Skizze aus dem jüdischen Leben zuzuwenden. So wird die Erzählung vom Unglück und Glück des frommen Amster Löbl Regenstreif (Der Prostek aus der Sammlung Polnische Ghetto-Geschichten von 188661) zum hohen Lied jüdischer Nächstenliebe und Solidarität; durch eine große Geldsumme, die ihm ein von seiner Frau geschädigter Kleinrusse vermacht, wird er in die Lage versetzt, noch mehr als bisher wohlzutun - in den Augen kleinbürgerlicher Habsucht freilich das Verhalten eines .Prostek', eines Simpels. Die Funktion eines solidarischen Familienlebens unterstreicht die Geschichte Der Dalles des roten Pfeffermann (aus derselben Sammlung von 1886): dieser ,Dalles' (also das personifizierte Unheil) besteht darin, daß sich der Schuster Abram Pfeffermann zum Saufen verführen läßt und nachts seine Frau schlägt. Durch die Tapferkeit seiner kleinen Kinder, die dem Dalles auflauem, und durch die Tüchtigkeit seiner Frau Slobe wird der Vater wieder solide. In Chochmad Jad (abgedruckt auch in der Zeitschrift „Die Gesellschaft" als neue Talentprobe des „besonders als Judenmaler weitberühmten" Autors62) wird die Wahl der schönen und reichen Witwe Salon zwischen zwei Bewerbern geschildert, wobei die Chiromantik des Getzel Hasenfuß eine besondere Rolle spielt. Natürlich entscheidet sich die Witwe zuletzt für den häßlichen, aber mit inneren Werten begabten Perl Goldfisch und nicht für den habgierigen Filou Bensef. Mein Schneider Abrahamek (ebenfalls 1886) schließlich feiert die multiplen Begabungen eines einfachen, unansehnlichen jüdischen Schneiders, der zugleich ein ingeniöser Schildermaler, ein hervorragender Spaßmacher bei Hochzeiten, ein Dichter, ein begabter Kutscher, ein wunderbarer Cymbalspieler ist; außerdem hat er - wie kann es anders sein - eine hübsche tüchtige Frau in Pelzjacke, die ihn in der Furcht des Herrn hält und damit beglückt. In die Reihe dieser Genregeschichten passen schließlich auch die Erzählungen Die Schlacht am Ruskabach und Die Iliade von Svienize (in Lustige Geschichten aus dem Osten, 1893). Zwischen zwei Judennestern, 61

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Weitere, hier nicht näher zu betrachtende Geschichten dieser Sammlung: Der letzte Mann, Zwei Briefe, Marchelles und Morchelles, Der Kampf um die Schönheit, Schma Israel, Der taube Jankel, Der beste Schadchen, Abel der Karaite, Häschen Wasserrad. Die Gesellschaft 2 (1886) Bd 2, H.3, S. 144-149, Zitat S. 144 (Vorbemerkung der Redaktion).

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Kurniki und Babniki, entbrennt (in der erstgenannten Geschichte) stellvertretend eine Schlacht um die Frage von jüdischer Aufklärung und chassidischer Orthodoxie (Sacher-Masoch wirft übrigens Orthodoxie und Chassidismus häufig zusammen - seine zweifellos vorhandenen Kenntnisse auf jüdischem Gebiet haben ihre deutlichen Grenzen). Natürlich ist die Sympathie auf Seiten der Aufklärung; aber Semach Goldhahn (aus dem orthodoxen Babniki) und Jenta Sonnenschein (aus dem aufgeklärten Kumiki) feiern schließlich ihre Hochzeit unter Beteiligung beider Dörfer, nachdem Jenta den orthodoxen Rabbi Löwenstamm mit dessen eigenen talmudischen Waffen aus dem Felde geschlagen hat. Die Iliade von Svienile besteht darin, daß der polnische Gutsbesitzer Boleslaw Bartmanski wegen einer beschämenden Ungerechtigkeit gegenüber seinem .Arrendar' Jesch Flickelles von allen Juden seiner Umgebung boykottiert wird; erst seine Gattin Arkadia schafft es - natürlich mit den spezifischen Waffen einer Frau - , die Juden zum Einlenken zu bewegen und ihrem Mann schließlich die Friedensbedingungen zu diktieren. Die Geschichte ist ein Loblied auf die jüdische Solidarität, die es vermag, Judenhasser an ihrer empfindlichsten Stelle zu treffen und so zum Umdenken zu bewegen; das gelingt freilich nur da, wo einerseits der Handel und Wandel weitgehend durch Juden bestimmt wird und andererseits eine vernünftige Frau den auf Abwege geratenen Ehemann zur Ordnung rufen kann.

IX. Eine Art Enzyklopädie jüdischen Lebens legt Sacher-Masoch in der zunächst französisch (1888), dann deutsch (1891) erschienenen Sammlung Jüdisches Leben in Wort und Bild (Contes Juifs. Récits de famille) vor.63 Dabei wird vom Autor - anders als im beschönigenden Vorwort des Verlegers Bensheimer (S. 11-14) - in einer Art Einleitung („Israel", S. 15-22) auf die bedrohliche Situation der europäischen Juden am Ende eines durch Emanzipation gekennzeichneten Jahrhunderts hingewiesen und nach der Ursache des neuerlichen Rassenhasses gefragt. Sacher-Masoch findet sie im Neid auf das älteste Kulturvolk Europas, ein Volk, das auch im 19.Jahrhundert „den reinsten Gottesglauben, die beste Moral, die mildesten Sitten besitzt und auf allen Gebieten menschlichen Wissens die regste Thätigkeit entwickelt" (S. 17). Familiensinn, Mitleid und Nächstenliebe, Achtung vor Geist und Wissenschaft, Liebe zur Freiheit und zum Fortschritt, Kosmopolitismus: das sind die wesentlichen Kennzeichen des jüdischen Volks, die zugleich wahrhafte Werte der europäischen Zivilisation sind. Sacher-Masoch verteidigt warm den Prozeß der Assimilation, wobei er auf das WestOst-Gefälle hinweist: 63

Jüdisches Leben, hrsg.v. Farin (Anm.ll).

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Hans Otto Horch Wir sehen in den östlichen Ländern die Juden vielfach auf einer Stufe, die nicht weit von jener entfernt ist, die sie im Mittelalter einnahmen, ja manchmal sogar an biblische Verhältnisse erinnert, man sieht noch die Herrschaft des Aberglaubens, den Kampf, den erleuchtete Geister gegen denselben führen, und langsam gegen Westen ziehend, verfolgen wir die Fortschritte des Judenthums im Laufe der Jahrhunderte, bis wir dasselbe in den westlichen Landen auf dem Höhepunkt der Freiheit und der Gesittung finden, gleichberechtigt im Staate wie in der Gesellschaft, und infolge der errungenen Rechte doppelt eifrig in der Erfüllung aller nationalen und patriotischen Pflichten. (S. 22)

Daß diese Position in reformjüdischen Kreisen auf unbedingte Zustimmung stoßen kann, ist einleuchtend. Zwei Zielsetzungen verbindet Sacher-Masoch mit seiner Sammlung: zum einen die Berücksichtigung jüdischen Lebens in allen Ländern Europas, 64 zum andern eine möglichst umfangreiche Erfassung jüdischer Sitten, Feste und Spezialbegriffe, die jeweils im Untertitel der einzelnen Erzählungen notiert werden.65 Es soll Verständnis geweckt werden für die reiche Kultur der Juden - sei es noch im präassimilatorischen Stadium (Osten und Kleinasien), sei es im Stadium der Assimilation (Westen). Wenn der Autor demgemäß eine ganze Reihe von Geschichten einflicht, denen spezifisch jüdische Züge fehlen, so entspricht das dem Kalkül, die Juden als Menschen wie andere auch vorzustellen: nicht das Fremde, sondern das Vertraute wird betont. Zu diesen eher unjüdischen Geschichten zählen vor allem Geschichten aus dem westlichen Europa: etwa Wie Slobe ihre Schwester verheirathet (Belgien, S. 133-144), Schalem Mechern (Elsaß, S. 183-194), Das Trauerspiel im Rosengäßchen (Holland, S. 247-259), Der falsche Thaler (Süddeutschland, S. 276-286), Die Geschichte von der römischen Matrone (Schweden, S. 313-322), Bär und Wolf (Schweiz, S. 333-343), Zweierlei Adel (Frankreich, S. 345-354). Was die Geschichten aus dem Osten angeht, so erhalten sie ihre größere Glaubwürdigkeit durch die regionalen Spezialkenntnisse Sacher-Masochs; aber auch hier ergeben sich Unwahrscheinlichkeiten durch die Überbetonung der reformerischen Aktivitäten - so etwa, wenn der greise russische Rabbi Abdon am Ende seines Lebens Zweifel am

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Berücksichtigt werden: Russland, Galizien, Rumänien, Kroatien, Ungarn, Polen, Böhmen, Österreich, Nord- und Süddeutschland, Eisass, Schweiz, Belgien, Holland, Frankreich, Italien, Spanien, Dänemark, Schweden, England, außerdem die Türkei und Jerusalem. Religiöses, Feste und heilige Handlungen: Cheder, Masser, Mondheiligung, Synagogaler Gottesdienst, Aufruf zur Thora, Benschen des Rabbiners, Schames, Sabbath, Pilger, Schwärmer, Tempel, Hochzeit, Tod und Begräbnis, Beth-chaim, Passahfest, Prophet Elias, Omer, Aberglaube, Lillith, Askese, Galuth, Purim und Schuschan-Purim, Haman und Esther, Kol-Nidre, Laubhüttenfest, Talmud und Kabbala, Zadik, Chassidim, Hairem, Wunder, Theologischer Disput, Hanuka, Rosch Haschonnah, Jom Kipur, Schebuoth. Soziale und ökonomische Sphäre: Ackerbau, Sklaverei, Militär, Handel, Familie, Ehe, Kinder, Liebe, Handwerk, Vaterland, Wissensdrang, Justiz und Beschdin, Schadchen, Schnorrer, Industrie, Judenverfolgung, Medizin, Ehre, Duell, Aristokratie, Wissenschaft, Kunst, Literatur. Sonstige Begriffe: Prostek, Possenreißer, Rosche, Golem, Meschugge, Dalles, Kapores, Chochmad Jad.

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Sinn seines dem Talmud und der Kabbala gewidmeten Lebens bekommt und sich von seinem Bauer gewordenen Sohn zum Buch der Natur bekehren läßt (S. 35-46), wenn die .Erlösung' (in der gleichnamigen Erzählung aus Ungarn, S. 233-246) der Tochter des Zeloten Herschmann und seiner habsüchtigen Frau von ihren sozialen Zwängen nur durch die aufgeklärte Haltung ihres Onkels und ihres Bräutigams möglich wird, wenn die medizinische Kunst des österreichischen Talmudisten Mebus Kohn vom aufgeklärten jungen Arzt Leopold Pfeffermann ad absurdum geführt wird {Zwei Ärzte, S. 287-298), oder wenn schließlich in der Iliade von Pultoff (S. 299-311) in manichäischer Weise zwei russische Ehepaare die Möglichkeiten aufgeklärter Religiosität und Bildung bzw. bornierten Zelotismus und Habsucht vorführen und die gebildete Vögele Bendavid mit Billigung ihres Mannes und des Reformrabbiners den Zadik Löwenstamm der Scharlatanerie überführt. Von der Verquickung der ,masochistischen' mit der folkloristischen Thematik sind die Erzählungen der Sammlung allerdings weitgehend frei, sieht man einmal von der nicht von ungefähr in die Türkei verlegten Geschichte Lewana (S. 47-57) ab, wo sich der in die Sklaverei verkaufte Nahum Bukarest in seine Herrin Zamira Ben Oporto verliebt, nachdem diese - eine Jüdin (!) - ihn ausgepeitscht hat. Die im Pelz über den Zadik triumphierende Frau der Iliade von Pultoff (S. 31 Of.) verschafft diesem keinen Lustgewinn mehr, sondern treibt ihn in die Flucht, seine Macht ist gebrochen. Aufs ganze gesehen sind die Geschichten der Sammlung das Dokument einer aufgeklärt-humanen Gesinnung, wie sie am Ende des 19 Jahrhunderts bei nichtjüdischen Schriftstellern angesichts eines zunehmenden Antisemitismus nicht allzu häufig zu finden ist. Sacher-Masochs Arbeit gewinnt hier - wie vorher nur in den Judengeschichten von 1878 - eine Seriosität, die anzuerkennen ist. Gleichwohl muß man letztlich seinen Judengeschichten insgesamt einen geringeren Stellenwert zuerkennen als den Ghettogeschichten seiner jüdischen Kollegen. Das .Anempfinden' (Wilhelm Goldbaum) eines judenfreundlichen nichtjüdischen Autors kann wirkliche Authentizität, die sich aus Erfahrung und existentieller Identifikation ergibt, nicht ersetzen, auch wenn sich Sacher-Masoch redlich um Einsicht in die Quellen jüdischen Lebens bemüht hat.66 In einer Literaturgeschichte der jüdischen 66

Vgl. z.B. seinen Aufsalz: Die jüdischen Sekten in Galizien. In: Deutsche Revue über das gesamte nationale Leben der Gegenwart. Breslau. 14 (1889) Bd 3, S. 40-54. Der Autor will seinen Lesern „dunkles Terrain", nämlich das jüdische Sektenwesen des Ostens, erschließen (S. 40) und wählt hierzu die Chassidim und die Karaiten aus. Während die Darstellung des Chassidismus ambivalent bleibt (etwa wie in der Erzählung Hasara raba), wird die ethische Reinheit der Karaiten (wie in Der Judenraphael von Hadaßka) besonders hervorgehoben (S. 48ff.). Die Eigenarten der Chassidim werden allerdings - entsprechend der naturalistischen Doktrin, auf die sich Sacher-Masoch ausdrücklich und mit großem Selbstbewußtsein beruft (S. 47) - auf die galizischen Bedingungen zurückgeführt und so rational verständlich zu machen versucht. Der Zadik Liebmann von Sadogora,

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Dorf- und Ghettoerzählung kann Sacher-Masoch insofern nur als außenseiterischer .Judenraphael' gebucht werden - ein Autor, der sich zwar nicht vom Judenhasser zum Judenfreund bekehren muß wie sein Plutin Samojlenko, der aber nicht frei ist von der ambivalenten Faszination des liberalen Schriftstellers durch den (scheinbaren) Exotismus der (ost)jüdischen Welt. Daß sich für den sexuellen Außenseiter Sacher-Masoch ein Weg bot, sich für die Juden von ihrer Opfer-Rolle her zu interessieren, war ein wesentlicher Gesichtspunkt des hier Vorgetragenen. Judith und Dalila einerseits, Shylock andererseits waren für Sacher-Masoch modellhafte Bestandteile seines anthropologischen und gesellschaftlichen Entwurfs; in dieser Hinsicht - und als selbst Betroffener - hat der Skandalautor des ausgehenden 19.Jahrhunderts die von Hans Mayer67 so eindringlich gestellte Forderung erfüllt, daß sich Aufklärung gerade im Umgang mit den Außenseitern der Gesellschaft bewähren müsse.

dessen im Jahr 1857 erfolgter Besuch geschildert wird (S. 44ff.), gibt dem Autor gleichsam eine Lizenz, künftig die Juden des Ostens zu schildern, indem er auf die judenfreundliche Haltung der Familie Sacher-Masoch hinweist (S. 45). Die Bemühung um wirkliches Wissen und der Reiz der Kolportage (die pelztragenden schönen Frauen des sadagorischen Hofstaats, S. 45) verbinden sich auch im Essay zu einer für den Autor typischen Melange.

Renate Böschenstein (Genf)

Mythos als Wasserscheide Die jüdische Komponente der Psychoanalyse: Beobachtungen zu ihrem Zusammenhang mit der Literatur des Jahrhundertbeginns

1. „La psychanalyse est-elle une histoire juive?" war das Thema eines Colloquiums, das 1980 in Montpellier veranstaltet wurde.1 Die Tragweite der Frage liegt auf der Hand. Die Psychoanalyse ist - zumindest im Sinne ihres Gründers - eine Wissenschaft, die generell gültige psychische Strukturen und Prozesse beschreibt, wobei die Methode solcher Exploration grundsätzlich ebenfalls von jedermann erlernbar ist. Andererseits legt das Faktum, daß nicht nur Freud jüdischer Herkunft war, sondern seine schockierende Theorie in den ersten Jahren vor allem bei jüdischen Hörern und Lesern Verständnis fand,2 den Gedanken nahe, nach einer spezifischen Affinität jüdischer und psychoanalytischer Denkformen zu suchen. Im Geiste der Bemerkung Karl Abrahams, die „talmudische Denkweise" könne nicht plötzlich „aus uns verschwunden sein",3 hat man immer wieder versucht, Analogien zwischen der von Talmud und Kabbala dargebotenen Vorstellungswelt und den von der Psychoanalyse aufgedeckten Phänomenen sowie den zugehörigen Interpretationsmodellen aufzuweisen.4 Diskussionspunkte sind vor allem Zahlenmystik, Traumdeutung, Sexualsymbolik, Wortspiele, dialogische Argumentationsweise. Indes ist die empirische Basis solcher Vergleiche sehr unsicher. Die bisher veröffentlichten Schriften, Briefe und Doku-

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Hrsg.v. A.uJJ. Rassial, Paris 1981. Ein großer Teil der Aufsätze ist lacanistisch orientiert. Das Beispiel eines ausgewogenen, reflektierten Strukturvergleichs bietet der Artikel von E.Levinas: Quelques vues talmudiques sur le rêve, S. 114-128. In der humanitären Vereinigung B'nai B'rith (Söhne des Bundes), in die er am 23.9.1897 eingetreten war, hielt Freud mehrere Vorträge, so am 7.12.1897 Über Traumdeutung. Der Beifall, mit dem Freuds Gedanken hier aufgenommen wurden, stach wohltuend ab von der Verständnislosigkeit vieler ärztlicher Kollegen. Vgl. den Brief an Fliess vom 12.12.1897. In: S .Freud: Briefe an W .Fliess 1887-1904. Hrsg.v. J.M. Masson. Frankfurt 1986. S. 311. Vgl. auch den Brief vom 11.3.1900, S. 443. Abraham an Freud, 11.5.1908. In: S.Freud / K.Abraham: Briefe 1907-1926. Hrsg.v. H.C. Abraham und E.L. Freud. Frankfurt M980. S. 48. Die Reihe solcher Versuche reicht von H.Silberers vorsichtigen Hinweisen auf Parallelen zwischen psychoanalytischer und kabbalistischer Lehre (Besprechung von E.Bischoff: Elemente der Kabbala. In: Imago IV, 1915/16, S. 182-185) über D.Bakans Auffassung Freuds als eines geheimen Kabbalisten (S.Freud and the Jewish Mystical Tradition. Princeton 1958) bis zum Bemühen von S.Yeshua, von der Konzeption der Intertextualität her Analogien zwischen dem Verhältnis von Text und Kommentar im Talmud und dem Verhältnis des Traumtextes zu seinen Deutungen herzustellen (Psychanalyse, rhétorique, Talmud et littérature. Vortrag, gehalten in Genf am 15.2.1988). Einen Überblick über diese Ansätze bietet Th.Pfrimmer: Freud lecteur de la Bible. Paris 1982.

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mente von und über Freud erlauben kein genaues Urteil über seine hebräischen Sprachkenntnisse und Uber seine Bekanntschaft mit rabbinischen und mystischen Texten. Scheint seine Äußerung, daß sein „Vater tatsächlich aus chassidischem Milieu stammte",5 zur Annahme eines entsprechenden Einflusses zu ermutigen, so bezeugen die anschließenden Sätze gerade, daß Freud als das spätgeborene Kind dieses Vaters, der „seinen heimatlichen Beziehungen seit fast zwanzig Jahren entfremdet" war, „unjüdisch erzogen" wurde. Inwieweit ist dies aber wieder wörtlich zu nehmen? Aus Freuds Jugendbriefen geht hervor, daß in der Familie Feste wie Purim gefeiert wurden.6 Angesichts solcher Unsicherheit rekurrieren manche Interpreten auf rein strukturelle Vergleiche - diese aber führen wiederum in heikle und ungelöste Fragen wie die nach der Definition der jüdischen Mentalität und letztlich nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. Zu bedenken ist auch, daß die Patienten, an deren Symptomen die Semantik des Unbewußten abgelesen oder bestätigt wurde, keineswegs alle Juden waren.7 Der hier vorgelegte Versuch, den Zusammenhang der frühen Psychoanalyse mit dem Judentum und der zeitgenössischen Literatur exemplarisch zu beleuchten, soll sich auf das historisch Faßbare beschränken. Aber auch er stößt auf methodische Schwierigkeiten. Die erste: Die Retrospektive auf die von jüdischen Figuren dominierte Wiener fin-de-siècle-Szene läßt die beiden Problemkreise Psychoanalyse/Judentum und Psychoanalyse/Literatur als eng verbunden erscheinen. Die Prüfung der Sachlage stellt aber dieses Bild zunächst in Frage. Einerseits suchten die frühen Analytiker Material und Bestätigungen für ihre Thesen in der gesamten Weltliteratur - umsomehr, als sich „die Sache" ja außerhalb Wiens durchsetzen sollte. Es war Freud zudem sehr bitter bewußt, daß das Provokante seiner Lehre dadurch potenziert wurde, daß er ,.nicht Oberhuber" - er hätte auch sagen können Hochroitzpointner - hieß.8 Andererseits hängen die großen Themen, welche die Literatur der Jahrhundertwende mit den analytischen Fragestellungen verbinden - die Inkohärenz des Ich, der Traum, der Tod - nicht notwendig mit der jüdischen Problematik zusammen. So wird denn auch in Michael Worbs' umfassender und subtiler Darstellung der Beziehungen zwischen Wiener Literatur und Psychoanalyse die jüdische Problematik nur am Rande berührt,9 obgleich der Autor - im Anschluß an Schorske10 - durchaus auf die 5

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An A.A.Roback, 20.2.1930. In: Briefe 1873-1939. Hrsg.v. E.LJreud. Frankfurt 1960. S. 391. An E .Fluss, 17.3.1873. In: Selbstdarstellung. Hrsg.v. I.Grubrich-Simitis. Frankfurt 1987. S. 114. Über diese interessante Seite der frühen Psychoanalyse berichtet eine Art „documentation romançée" von LJlem: La vie quotidienne de Freud et de ses patients. Paris 1986. Leider verspielt das Buch seine wichtige Fragestellung an eine geschmacklose Präsentation des Materials. An Abraham, 20.7.08. Vgl. Anm.3, S. 57. Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt 1983. C.Schorske: Fin-de-Siècle Vienna. Politics and Culture. New York 1981. Dt.Fassung: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle. Frankfurt 1982.

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politisch-soziale Bedingtheit der analytischen und literarischen Wendung nach innen reflektiert. Doch gibt es ein Gebiet, das für Psychoanalytiker und literarische Autoren wie speziell für die Denker der .jüdischen Renaissance" in den Jahren zwischen Jahrhundertwende und erstem Weltkrieg gleichermaßen wichtig wird: die Auseinandersetzung mit dem Mythos. Und gerade durch dieses Gebiet zieht sich, wie zu zeigen sein wird, eine Demarkationslinie, die in allen Lagern die Geister scheidet. Bei der Untersuchung dieses Feldes möchte ich ausgehen von Freuds eigenem Denken über den Mythos und von dem, was ich seine Mythenbildung nenne. Dieses Thema empfiehlt sich als Zentrum, weil es auf alle Betroffenen ausgestrahlt hat. Zuvor aber ein Hinweis auf die zweite Schwierigkeit: die verschiedenen Genera von Zeugnissen - theoretische Abhandlungen, literarische Werke, briefliche und mündliche Äußerungen - erfordern verschiedene Arten von Deutung. Namentlich bei den letzteren ist nicht nur Adressatenstrategie vorauszusetzen, sondern auch Verdrängung. Schnitzler hat in seinem panoramischen Zeitroman Der Weg ins Freie einen differenzierten Fächer jüdischen Verhaltens innerhalb der Wiener Gesellschaft entworfen, einschließlich von Selbsthaß und snobistischer Anpassung. Wenn Hofmannsthal als Grund seiner „Verstörung" über diesen Roman die Judenproblematik ausdrücklich ausschließt,11 so liegt die Vermutung der Selbsttäuschung nahe. In Hofmannsthals Briefwechsel mit Schnitzler und Beer-Hofmann zeigen sich so wenige Spuren jüdischer Thematik, daß bei der Innigkeit des freundschaftlichen Umgangs und der Verschiedenheit im Verhältnis zur jüdischen Abkunft etwas wie ein sprechendes Schweigen entsteht. Erst die Aufführung von „Jaákobs Traum" brach zwischen Hofmannsthal, der hier jüdischen Nationalismus empfand, und Beer-Hofmann das Schweigen auf;12 erst Schnitzlers Tagebücher haben gezeigt, wie sehr er Hofmannsthals Koketterie mit der Adelswelt mißbilligte.13 2. Freud hingegen hat in der Traumdeutung mit erstaunlicher Offenheit von der Traumatisierung durch die Schwierigkeiten seiner jüdischen Existenz 11

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Vgl.: H.v.Hofimamisthal/ A.Schnitzler: Briefwechsel. Frankfurt 1964. S. 239-259. Zitat S. 243. Vgl.: H.v.Hofmannsthal/ R.Beer-Hofmann: Briefwechsel. Frankfurt 1972. S. 144-170. Beer-Hofmann, tief verletzt, verteidigte sich gegen den Vorwurf mit dem Hinweis auf die dialektische Beziehung zwischen Jaákob und Edom und interpretierte die „Erwählung" der Juden im Sinn der Parabel vom verworfenen Eckstein. Hofmannsthals Kritik wurde für die Freunde zum Anlaß einer grundsätzlichen schmerzhaften Klärung ihrer Beziehungen. Vgl. dazu: A.Schnitzler: H.v.Hofmannsthal. Charakteristik aus den Tagebüchern. Hrsg.v. B.Urban und W.Volke. In: Hofmannsthal-Forschungen ΙΠ, Freiburg 1975, bes. S. 48. (Eintragung vom 18.6.1922). Die inzwischen vorliegenden Tagebücher (hrsg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1981/83/85) berichten detailliert über Schnitzlers Rezeption der Psychoanalyse, die einerseits sogar eine Veränderung seines Traumlebens bewirkte, andererseits Kritik einschloß. Nützlich zur Orientierung ist die Dokumentation: A.Schnitzler: Sulla Psicoanalisi. A cura di L.Reitani. Milano 1987.

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gesprochen: von der Behinderung seiner akademischen Karriere, die besonders fühlbar war auf dem Hintergrund der zur Zeit des liberalen Bürgerministeriums im Kind erregten Hoffnung, auch ein Jude könne Karriere machen;14 von des Vaters passiv hingenommener Demütigung durch einen christlichen Mitbürger in Freiberg, die zur Identifikation des jungen Sohnes mit dem Römerfeind Hannibal führte.15 Die Gestalt dieses Vaters eröffnet die Reihe der jüdischen Elemente in Freuds Leben, von denen hier nur die markantesten in Erinnerung gerufen seien. Die ausführliche Darstellung von M.Krüll,15* die auch ein detailliertes Bild vom Leben im galizischen „Shtetl" entwirft, läßt, soweit die spärlichen Dokumente es gestatten, ein Bild dieses im Geschäftsleben zwar untüchtigen, aber von Freud verehrten und wegen „der ihm eigenen Mischung von tiefer Weisheit und phantastisch leichtem Sinn" als prägend empfundenen Mannes erstehen.16 Zum schon erwähnten „Unjüdischen" von Freuds Erziehung gehörte, daß er als kleines Kind dem Einfluß einer katholischen Dienstmagd überantwortet wurde; andererseits kam Freud wohl von seinem Vater jene Vorliebe für jüdische Witze und die ihnen eigene paradoxe Logik zu, die ein greifbares jüdisches Moment seines Denkens bildet.17 Eine dieser jüdischen Anekdoten hat sogar zur Ausgestaltung von Freuds zentralem Lebensmythos, der Identifikation mit Moses, beigetragen: die Geschichte vom kleinen Jungen, der Moses zum heimlichen Sohn der ägyptischen Prinzessin erklärt.18 Das Antlitz des Befreiers und Gesetzgebers der Kinder Israel gehört gewiß zu jenen tief eingegrabenen Vorstellungen, die der kindliche Leser und Betrachter Freud von der Philippsonschen Bibel erhielt. Dieses heute nicht leicht zugängliche Werk, das der Siebenjährige von seinem Vater zur Lektüre und der Erwachsene mit einer hebräischen Widmung als Geschenk erhielt, hat Th.Pfrimmer in seiner sorgfältigen Arbeit über Freuds Bibellektüre differenziert vorgestellt.19 Wichtig ist, daß die reichen Kommentare dieser zweisprachigen, illustrierten Ausgabe das Kind zugleich in die biblische und in die Welt der Wissenschaft einführten; wichtig auch, daß hier einerseits die Geschichte Israels in den Kontext der anderen antiken Kulturen eingefügt wurde, andererseits 14 15 15t

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Studienausgabe Bd.n Frankfurt 1972. S. 153ff. und S. 203ff. (Onkel-Traum). Vgl. Anm.14, S. 208. Freud und sein Vater. München 1979. Die klar entfaltete Materialfülle macht das Buch zu einem Markstein der Freudliteratur, ganz unabhängig von der Gültigkeit seiner These, die tabuisierte Vaterbeziehung habe Freuds Abwendung von der Verführungstheorie und damit von seiner eigentlichen Entdeckung verschuldet. An Fliess, 2.11.1896. Vgl. Anm.2, S. 212. Vgl.dazu Th.Reik: Dreißig Jahre mit Freud. München 1976. S. 44f. Im übrigen hat Reiks Bemerkung, Jones habe in seiner Biographie Freuds jüdische Komponente nicht genug berücksichtigt, mehrfach in der Freudliteratur als Stimulus gewirkt. Vgl. Studienausgabe Bd.I, Frankfurt 1969, S. 170 (Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Kap.10: Die Symbolik im Traum). Reik berichtet, daß Freud diesen Witz auch gesprächsweise anführte (Anm.17, S. 50). Vgl. Anm.4.

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aber der Verfasser die griechische Kultur durchaus kritisch behandelte. Moses, in einem Stich nach einem Brustbild des französischen klassizistischen Hofmalers Philippe de Champaigne präsentiert, erscheint hier als ruhiger, geistvoller Mann, wie ein Künstler oder Gelehrter, der die Gesetzestafel eher wie ein eigenes Werk dem Beschauer entgegenhält.20 Etwas vom Geist der Propheten empfand der Gymnasiast Freud in seinem Religionslehrer S.Hammerschlag, dem er über die Schulzeit hinaus verbunden blieb. Den anderen, den schmerzlichen Weg der Identifikation mit der jüdischen Herkunft - die Reaktion auf den zunehmenden Antisemitismus - lernte Freud gleich Schnitzler21 vor allem im medizinischen Milieu zu gehen. Ein bewegendes Zeugnis ist sein Engagement für den Kollegen C.Koller, der durch eine Beleidigung in ein Duell verwickelt wurde.22 Sein jüdisches Außenseitertum hat Freud als positive Bedingung für seinen Mut zum Widerstand gegen konventionelles Denken interpretiert. So lehren es seine großen Bekenntnisse zum Judentum: der Dankbrief an seine ,3rüder" aus der Loge B'nai B'rith für deren Ehrung anläßlich des 70.Geburtstags,23 der Schluß des zuerst in der Genfer „Revue juive" erschienenen Aufsatzes Die Widerstände gegen die Psychoanalyse,24 das Vorwort zur hebräischen Ausgabe von Totem und Tabu,25 In diesen Texten formuliert er aber zugleich ein jenseits von Religion und Nationalgefühl liegendes, nicht verbalisierbares „Wesentliches", das seine Zugehörigkeit zum Judentum begründe. Ebensowenig diskursiv verbalisierbar ist aber auch die tiefe Gemeinsamkeit des Verfolgtseins, speziell der Angst um die Kinder. Ein .Judenstück" nennt Freud scheinbar trocken im Brief Herzls Schauspiel Das neue Ghetto,26 das die moderne Gefangenschaft der Juden in der vom Antisemitismus bewirkten Isolation darstellt. Zur Zeit der Dreyfus-Affäre verfaßt, wurde es nach Widerständen in Wien erst im Jahr 1898 unter beträchtlichem Aufsehen aufgeführt. Der Besuch des Schauspiels löste in Freud einen Traum aus, in dem es wegen „irgendwelcher Vorgänge in der Stadt Rom" notwendig wurde, 20

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Abbildungen dieses Moses-Porträts finden sich außer bei Pfrimmer (Anm.4) auch bei M.Krüll (Anm.15) und bei E.Freud u.a. (Hrsg.): S.Freud. Sein Leben in Texten und Bildern. Frankfurt 1976. Zu Freuds Religionsunterricht vgl. Pfrimmer (Anm.2), S. 57ff. Vgl. seinen Brief an M.Bemays vom 6.1.1885. Vgl. Anm.5, S. 127f. Wenige Jahre später, 1893, erklärte die deutsch-österreichische Studentenschaft Juden für satisfaktionsunfähig (Waidhofener Beschluß). Die explosive Wirkung dieser Erklärung (unter anderem auf den jungen, noch deutschnationalen Th.Herzl) beschreibt Schnitzler in seiner Autobiographie: Jugend in Wien. Hrsg. v. Th. Nicki und H.Schnitzler. München 1971. S. 136ff. und S. 294. Vgl. Anm.5, S. 362ff. In: Selbstdarstellung (Anm.6) S. 233. Studienausgabe Bd.IX, S. 293. An Fliess, 4.1.1898, vgl. Anm.2, S. 319. Freuds Verhältnis zu Heizl untersucht umfassend J.Chemouni: Freud et le sionisme, Paris 1988. Im Blick des Verfassers suchen die beiden Autoren von ähnlichen Voraussetzungen aus den jüdischen Traum vom gelobten Land zu erfüllen, der eine konkret, der andere durch Erschließung eines inneren Neulandes.

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„die Kinder zu flüchten."27 „Rom" ist hier ein Stichwort - es führt auf die Frage, wie sich die von Freud mit den Juden geteilte „Heimlichkeit der gleichen seelischen Konstruktion2* übereinbringen läßt damit, daß er den erlösenden Schlüssel zu seinen Konflikten in der Identifikation mit einer Gestalt des griechischen Mythos gefunden hat - in einer Identifikation, die ihn gerade im Kern zum Bruder der ganzen Menschheit machte. 3. Die Spannung zwischen jüdischer und antiker Kultur in Freuds Denken hat insbesondere M.Robert scharf herausgearbeitet und aus dem unterdrückten Kampf mit dem jüdischen Vater gedeutet.29 Wie sie möchten auch spätere Autoren bei Freud zwischen einer jüdischen „culture d'appartenance", welche die Tiefenstrukturen bestimme, und einer christlich-antiken, das intellektuelle Profil prägenden „culture de référence" unterscheiden.30 Sie müssen aber diese Dichotomie angesichts der komplexen Situation jeweils wieder einschränken. Um Freuds Verhältnis zur Antike in seiner Eigentümlichkeit zu bestimmen, müßte, was hier nicht möglich ist, der ganze Horizont der modernen jüdischen Antike-Rezeption entworfen werden. Ist in dieser ein grundsätzlicher Unterschied zur christlichen insofern vorgegeben, als das Moment jahrhundertelanger Integrationsversuche in bezug auf die antike Kultur für den bewußt vom jüdischen Standpunkt aus Rezipierenden entfällt, so ist doch gerade die deutsche Kultur des 19. und 20Jahrhunderts durch die intensive Bemühung jüdischer Dichter und Philologen um die antike Welt gekennzeichnet, von Heine bis zu E.Norden. Für das Verständnis Freuds und seiner Beziehung zur Literatur ist diese Frage eminent wichtig, denn die antiken Modelle boten, wie M.Worbs es mit Recht für Freud wie für Hofmannsthal gezeigt hat,31 um die Jahrhundertwende ein Ausdrucksmedium für Wahrnehmungen, denen der zeitgenössische Diskurs nicht gewachsen war. Zu bedenken ist, daß die Gymnasialausbildung des 19.Jahrhunderts die Schüler in täglich mehrstündigem Unterricht so früh mit den alten Sprachen vertraut machte, daß deren Welt für Aufgeschlossene gewiß zum Element ihrer „culture d'appartenance" wurde. Ein Beispiel: BeerHofmann berichtet von seinem zum Professor der Medizin aufgestiegenen Großonkel, der lebenslang seelische Stärkung bei seinen Patronen Seneca und Plutarch fand.32 Freud, der von jeher mit ungemeiner Natürlichkeit 27

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Studienausgabe Bd.n, S. 426ff. Die Sorge um die Zukunft der durch ihre jüdische Herkunft benachteiligten Kinder zeichnet sich auch deutlich ab in den Erinnerungen seines ältesten Sohnes (Martin Freud: S.Freud: Man and Father. New York 1958; frz. Ausgabe Paris 1975.) Anm.23, S. 363. D'Oedipe à Moïse. Freud et la conscience juive. Paris 1974. Dt. Fassung: S.Freud zwischen Moses und Oedipus. Die jüdischen Wurzeln der Psychoanalyse. München 1975. So Pfirimmer (Anm.4) und J.Chemouni (Anm.26). Anm.9, Kap. 4, S. 259-333. Paula. Ein Fragment. In: Gesammelte Werke, Frankfurt 1963, S. 684f.

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antike Motive und Zitate in seine Schriften und Briefe einflocht und sich noch im Alter daran freute, große Partien aus Sophokles und Homer auswendig zu wissen,33 stand der Antike gewiß nicht mit dem Respekt eines Fremden, wie M.Robert meint, gegenüber. Dennoch ist eine Ambivalenz in seiner Beziehung zu den von ihm leidenschaftlich geliebten Resten des Altertums nicht zu verkennen. Sprechend ist vor allem seine bekannte „RomNeurose", die ihm jahrelang verbot, die Stadt, nach der er sich sehnte wie nach Jerusalem, die aber zugleich die Stadt der Imperialisten, Tempelzerstörer und Päpste war, zu betreten. Auch nachdem der Abschluß der Selbstanalyse und die Vollendung der „Traumdeutung" das Tabu aufgehoben hatten, veranlaßte ihn der Anblick des Titusbogens zu einer Postkarte: „Der Jude übersteht's!" Daß sich die Rom-Sehnsucht dann nach Ägypten verschob, entspricht der mythischen Formel vom Ägypter Moses, in der Freud die Spannung zwischen dem Jüdischen und dem Nichtjüdischen seiner inneren Welt aufzulösen hoffte. Athen, von der jüdischen Tradition her weniger belastet als Rom, erregte dennoch Schuldgefühle gegenüber dem nicht durch klassische Bildung akkulturierten Vater.34 Unschätzbar mußte dem mit solchen Spannungen Lebenden eine Identifikationsmöglichkeit sein, die von der deutschen Literatur geboten und von der Familie der Braut untermauert wurde: diejenige mit Lessings Nathan. Sie ist dokumentiert in einem - ganz auffällig als Kunstwerk gestalteten Brief an die Braut.35 Dieser entstammt einer hochaffektiven Situation: an einem der wenigen in Hamburg verbrachten Urlaubstage mußte der Verlobte die Braut entbehren, da ihre Familie den Festtag zum Gedenken an die Tempelzerstörung beging. Er beschreibt sein Gespräch mit einem alten jüdischen Graveur, der sich dem unbekannten Kunden gegenüber als begeisterter Schüler des Großvaters der Braut, des Hamburger „Chacham" Isaac Bernays, bekennt. Diesen schildert er als „weisen Nathan", der die Religion mit „Geist und Humanität" lehrte. Der junge Freidenker erkennt in Bernays' Interpretationsverfahren, das auch in unsinnig scheinenden Geboten einen Sinn nachwies, „eine Art Erziehung des Menschengeschlechts in Lessingschem Sinne". Insbesondere beeindruckt ihn die - auch historisch verbürgte - antiasketische Haltung von Nathan-Bernays: „Der Jude ist für die Freude, und Freude ist für den Juden." Aus dieser Maxime, die ihn tief berühren mußte, schöpfte der junge Freud die Hoffnung, trotz seiner Absage an die jüdische „Form" auch für sein Haus „das Wesen des sinnvollen und lebensfrohen Judentums" zu gewinnen. Speziell für das Verhältnis zur Antike bringt das Gespräch noch einen beruhigenden Hinweis: die Sprachforschung 33

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An AZweig, 4.4.1934. In: S.Freud / AZweig: Briefwechsel. Hrsg.v. E.L. Freud. Frankfun 1968. S. 82. Karte aus Rom an Abraham, 13.9.1913, Anm.3, S. 145. Über Athen: Eine Erinnerungsstörung auf der Akropolis, Studienausgabe Bd.IV, S. 283-293. 23.7.1883, Anm.5, S. 19.

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von Bernays' berühmtem Sohn, Jacob, leitet sich von den Sprachstudien des Vaters her. Die Beziehung zur Braut besiegelt also gleichsam die Verklammerung jüdisch-aufgeklärter Ahnenschaft mit der durch Lessing figurierten Synthese von antikem Erbe und vergeistigter Religiosität. In Freuds künftigem Heim sollte Lessing als Statue gegenwärtig sein36 - viel stärker blieb er präsent als stilistisches Vorbild für Nathan-Freud.37 4. Solche Identifikation mit Lessing und seiner poetischen Figur möchte die öfter geäußerte Meinung bestärken, der revolutionäre Seelenforscher sei in seinem literarischen Geschmack ein Bürger des 19.Jahrhunderts gewesen, der die ihn umgebende moderne Literatur nicht als solche wahrgenommen habe. Dies gilt aber für ihn selbst und für seine Schüler nur mit Modifikationen. Ein sehr lebendiges Bild der analytischen Rezeption der zeitgenössischen Schriftsteller ersteht aus einem - soweit ich sehe - noch nicht genügend ausgewerteten Dokument, den Protokollen der „Mittwochsgesellschaft", d.h. der Gruppe von Anhängern der neuen Theorie, die sich seit 1902 in Freuds Wohnung zu Vorträgen mit anschließender Diskussion trafen.38 Unter den Teilnehmern ist als wichtige Vermittlergestalt zwischen Literatur und Psychoanalyse neben O.Rank hervorzuheben Th.Reik. Die Proliferation seines Schreibens, sein Mangel an Originalität und die typischen Kunstfehler der beginnenden psychoanalytischen Literaturinterpretation (Reik schreibt frisch, 36

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Isaac Bemays (1772-1849), aus Mainz stammend, in Würzburg als Talmudkenner ausgebildet, wirkte ab 1821 als Oberrabbiner in der deutsch-jüdischen Gemeinde in Hamburg. Er suchte orthodoxe Gesinnung mit modemer Bildung zu vereinen, führte die deutsche Predigt ein und formte die Talmud-Thora in eine praktisch orientierte Volksschule um. Lesungen aus den Psalmen und aus Jehuda Halevy sollten die modernen Juden anziehen. Bernays verfocht diese Ziele gegen die Anhänger der „Klaus" und der Reformsynagoge. Als begabter Redner gewann er großen Einfluß. (Vgl. den Artikel in der Jewish Encyclopedia, London 1902.) Jacob Bernays (1824-1881) blieb dem Judentum treu und lehrte ab 1854 in Breslau zugleich am Jüdischen theologischen Seminar und - als Privatdozent - an der Universität. Freud spricht in seinem Brief auch von Michael Bemays, dem Literarhistoriker (1834-1897), erwähnt aber nicht, daß dieser früh zum Christentum übertrat. In der hohen Einschätzung von Lessings Einfluß auf Freuds Schreiben stimme ich W.Schönau zu (S.Freuds Prosa, Stuttgart 1968, S. 42-48), trotz der gegen diese These vorgebrachten Kritiken (zusammengestellt bei Worbs, Anm.9, S. 100). Daß auf seine Sprachgestaltung im einzelnen noch andere, auch zeitgenössische Schreibarten eingewirkt haben, ist evident. Wichtig scheint mir, daß man in der Syntax Spuren eines von Freud früh gelesenen deutsch-jüdischen Autors - Börnes - findet. Zu seinem Verhältnis zu Börne vgl.: Zur Vorgeschichte der analytischen Technik. In: Studienausgabe, Ergänzungsband S. 253-255. Zu Freuds Lessing-Verehrung vgl. E.Freud (Anm.20) S. 96. H.Nunberg / P.Fedem (Hrsg.): Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. 4 Bde.. Frankfurt 1976-1981. Instruktiv das Nachwort von HXeupold-Löwenthal und der Aufsatz des gleichen Verfassers: Wien und die Entstehung der Psychoanalyse. In: R.Waissenberger (Hrsg.): Wien 1890-1920. Wien/Heidelberg 1984. S. 101-108. Eine lebendige Vorstellung von diesem Kreis geben Lou Andreas-Salomé (In der Schule bei Freud, München 1965) und der Musikwissenschaftler M.Graf, der Vater des „kleinen Hans" (Psychoanalysis Quarterly XI, 1942, S. 465-476; auch in Tel Quel Nr.88, 1981, S. 92-101).

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er behandle Schnitzlers Gestalten wie „wirklich lebende Menschen" 39 ) ändern nichts daran, daß dieser temperamentvolle, zionistisch engagierte und an Religionsproblematik besonders interessierte Mann nach beiden Seiten hin anregend wirkte. Er hatte persönlichen Kontakt zu Schnitzler, der ihn nach Ausweis der Tagebücher schätzte, mit den Reserven, die er gegenüber den reduktionistischen Tendenzen der Psychoanalyse überhaupt hegte. Das eigentliche „analytisch-literarische Leben" vollzieht sich in den MittwochsDiskussionen. Ärzte, Schriftsteller, Geisteswissenschaftler, Pädagogen erörtern medizinische, literarische und soziale Probleme aus der Sicht der neuen Wissenschaft - auf Seiten der Bruderhorde mit viel Temperament und Polemik, auf der Seite des Vaters mit ruhiger Ausgewogenheit. Aber auch er äußert mitunter spontaner als in den Schriften seine subjektiven Wertungen. Als der „Fackel"-Mitarbeiter Fritz Wittels dem Kreis die Kraussche Idealgestalt der Hetäre nahebringen will, weist Freud sie barsch als „Haderlump" zurück.40 Kritisch ist er gegen Peter Altenberg und vor allem gegen Gerhart Hauptmann. An dessen Griselda knüpfen Ausführungen Freuds von grundsätzlichem Interesse an. Unter den Autoren, über deren Antizipation analytischer Einsichten sich Freud so oft dankbar äußert, kann man zwei Gruppen unterscheiden: solche, die gleichsam blind aus dem Unbewußten heraus Material liefern (wie Jensen), und solche, die durch Beobachtung und Selbstanalyse den Rang von mit andern Mitteln arbeitenden Kollegen haben (wie unter den Zeitgenossen vor allem Schnitzler). Seit der ersten Ausstrahlung von Freuds Schriften bildet sich nun aber eine dritte Gruppe: diejenige, welche die Theoreme der Analyse in Poesie umzusetzen suchen. Gegen diese wendet sich Freud mit unerwarteter Schärfe: die bewußte, den Rezipienten zur Reflexion einladende Problematisierung psychischer Phänomene töte die Wirkung der Kunst.41 „Die Kunst des Dichters besteht also wesentlich in der Verhüllung... Wir haben wohl das Recht, ein Dichterwerk zu analysieren, aber es ist vom Dichter nicht recht, unsere Analysen zu poetisieren." Hier ist nicht nur eine für das „Schreiben nach Freud" bedeutsame Problematik angerührt: ein Seitenblick Freuds auf Hofmannsthals eben aufgeführte Elektro läßt erkennen, daß hier zumindest ein Schlüssel geliefert wird für jene merkwürdige und traurige Distanz, die Freud und einen

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Arthur Schnitzler als Psycholog. Minden (1913), S.IV. - Zu Reiks Persönlichkeit vgl. seine Erinnerungen an Freud (Anm.17). Reiks Bedeutung hebt auch hervor G.Bevilacqua in seinem Artikel über „Schnitzler e Freud" in: Anima ed esatezza. Letteratura e scienza nella cultura austriaca tra '800 e '900. A cura di R.Morello. Casale Monf. 1983. S. 213-222. Protokoll vom 15.5.1907. Protokoll vom 31.3.1909. Die Bedeutung dieser Stellungnahme hebt auch Worbs hervor (Anm.9, S. 265). H.Bahrs Prophezeiung einer ,,vehemente[n] Beeinflussung der Weltliteratur durch Freud", wie sie ihm zumindest BZuckerkandl aus der Erinnerung für das Jahr 1908 zuschreibt, liefe also Freuds eigenen damaligen Intentionen ganz zuwider (zitiert nach: Die Wiener Moderne. Hrsg. von G.Wunberg. Stuttgart 1981. S. 174).

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seiner frühesten und kongenialsten Leser zu einem Beispiel jener „Nächsten" macht, die auf „getrenntesten Bergen" verweilen. Wie läßt sich Freuds scharfe Stellungnahme erklären? Ad malam partem gedeutet, läßt sie auf ein gewisses Rivalitätsgefiihl gegenüber den Dichtern schließen, ad bonam partem auf die Sorge, daß die Fixierung auf die neue Theorie diese gerade ihrer selbständigen und dadurch für die Analytiker wertvollen Beobachtungsgabe berauben könnte. M. Worbs nimmt an, daß Freuds „klassizistisches Kunstverständnis" ihn hinderte, das Ausagieren der Neurose auf der Bühne als Kunst zu akzeptieren.42 Mir scheint indes, daß der entscheidende Trennungspunkt im abweichenden Verhältnis zum Mythos liegt. Darauf ist noch zurückzukommen. Was nun den generellen Vorwurf mangelnder Bezogenheit auf die moderne Literatur angeht, so zeigen sowohl die Diskussionen in der Mittwochsgesellschaft wie auch die Buchbesprechungen in der „Imago" durchaus ein Bemühen um Aktualität. Gewiß wurden ältere Autoren wie Kleist, Grillparzer, C.F.Meyer erörtert, aber ebenso Wedekind, Schnitzler, W.Calé. Was den zum größten Teil nichtprofessionellen Lesern in der Tat fehlt, ist der Blick für die Form als Signatur des Modemen. Doch ist dieses Kriterium Resultat einer literaturwissenschaftlichen „déformation professionnelle", welche das innerliterarisch Zukunftweisende auszeichnet: die gleichsam natürliche Rezeption der Literatur durch einen breiten Leserkreis in einem bestimmten historischen Moment richtet sich immer weit mehr thematisch aus. Fontane hielt den zeittypischen Heyse für einen bedeutenden Autor. Doch wurde das Problem den Analytikern langsam bewußt: 1916 heißt es in der „Imago", die analytische Literaturinterpretation müsse sich von ihrer Fixierung auf den Inhalt lösen. Daß Freud selbst durchaus zu unkonventionellen literarischen Neigungen fähig war, zeigt seine Vorliebe für zwei eigentümlich für sich stehende Autoren: J.J. David und J.PopperLynkeus. Zusammen mit den Ärzten Binswanger und Rie und den Autoren Schnitzler, Beer-Hofmann und Stefan Zweig figurieren Freud und sein (mit David befreundeter) Bruder auf der interessanten Subskribentenliste der Gesamtausgabe dieses verhalten-unerbittlichen Schilderers zeitgenössischer Zustände, den P.Wertheimer in der „Gesellschaft" nicht zu Unrecht als „Dichter des Grau" kennzeichnete.43 Bekanntlich verehrte Freud den Autor der Phantasien eines Realisten als parallelen Entdecker der Traumzensur (aufgrund seiner Skizze Träumen wie Wachen). Popper-Lynkeus' Sammlung enthielt aber auch eine poetische Version des biblischen Berichts über die Geburt des Moses, die den Propheten zum unehelichen Sohn des Ägypterkönigs und einer Jüdin macht.44 Freud, kurz vor seinem Tod über diese 42 43

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Anm.9, S. 266. Jg. 14, Heft 7, 1.4.1898, S. 439-446. Zitiert nach: Das Junge Wien. Österreichische Literatur· und Kunstkritik 1887-1902. Hrsg. von G.Wunberg. Bd.II. Tübingen 1976. S. 837-844. Der Sohn des Königs von Ägypten. Freud hat seine Anerkennung für Popper-Lynkeus mehrfach formuliert, so in Zusätzen zur Traumdeutung, in zwei kleinen Aufsätzen und in

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Quelle befragt, nahm an, daß die inzwischen vergessene Geschichte durch „cryptomancie" in ihm weitergewirkt habe.45 Wenn er in diesem Zusammenhang an Popper-Lynkeus „la multitude de ses orientations" bewundert, so kann sich das ebenso auf die Tätigkeitsfelder des Ingenieurs und Sozialreformers wie auf den Reichtum der Schauplätze und Figuren jener Phantasien beziehen, die in einer präkafkaesken harten, sprunghaften, das Innere durch Beschreibung des Äußeren andeutenden Schreibweise ein schonungsloses Panorama unerwarteter menschlicher Verhaltensmöglichkeiten entfalten. Mit David wie mit Popper-Lynkeus fühlte sich Freud gewiß auch durch die Bitterkeit einer harten jüdischen Außenseiter-Jugend verbunden. An den Diskussionen des Mittwochs-Kreises aber fällt auf der Folie der mannigfachen aktuellen Interessen - vom Marxismus bis zum Frauenstudium - auf, daß unter den Zeitproblemen gerade das jüdische, das doch eines der brennendsten war und ins Leben der meisten Mitglieder direkt einschnitt, zurücktritt.46 Wenn etwa über Schnitzler diskutiert wird, geht es um die Allmacht der Gedanken oder den Narzißmus, nicht um den bedeutenden Anteil jüdischer Thematik an seinem Werk. Wo Th.Reik in seiner umfangreichen Studie über Schnitzler das Judenproblem streift, ordnet er es genereller psychologischer Thematik wie der Vater-Sohn-Beziehung unter.47 Was bewirkt diese Zurückhaltung? Das Selbstverständliche des Problems? Die Angst, das der neuen Schule anhaftende Odium zu verstärken? Die Insistenz auf der allgemeinen Gültigkeit der neuentdeckten psychischen Gesetze? Diese letztere Deutung liegt nahe an einer der wenigen Stellen, wo das Thema berührt wird. Als der nichtjüdische Arzt und Schriftsteller R.v. Urbantschitsch seine erotische Entwicklung geschildert hat, heben Hitschmann und Sadger den Unterschied zwischen der Sozialisation des „Ariers" und der des von der Überschätzung des Familienlebens geprägten „Semiten" hervor.48 (Auf die von Freud und seinem Kreis gebrauchte Terminologie ist gleich zurückzukommen.) Entwickelt wird also ein sehr moderner Gesichtspunkt: der

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seinem Brief vom 4.8.1916 (Anm.5, S. 313f.). Erhellend sind die Einführungen von C-Heim und J.Starobinski zur französischen Ausgabe: Fantaisies d'un réaliste. Paris 1987. Poppers Gestalt wird sehr lebendig aus seiner Selbstdarstellung: Mein Leben und Wirken. Dresden 1924. Vgl. zum Verhältnis Freud - Popper auch: J. Le Rider: La signification de Josef Popper - Lynkeus pour Sigmund Freud. In: Austriaca Nr.21, Nov.1985, S. 27-33 ein Aufsatz, der indes Poppers poetischer Eigenart nicht gerecht wird. An Israel Doryon. 7.10.1938 und 25.10.1938. Im zweiten Brief insistiert Freud noch einmal auf der ganz und gar nicht-jüdischen Abkunft des Moses in seiner eigenen Konzeption. Die Briefe sind zitiert bei J.Chemouni (Anm.30, S. 263f.). Graf (Anm.38, Tel Quel S. 99) berichtet von einem einschneidenden Gespräch, in dem ihm Freud energisch davon abriet, seinen Sohn durch die Taufe den antisemitischen Anfeindungen zu entziehen. Dabei handelt es sich aber charakteristischerweise um ein Privatgespräch. Vgl. Anm.39. Protokoll vom 15.1.1908. Vgl. auch das Protokoll vom 9.12.1908: erörtert wird der Fall eines jungen Mannes, der wegen seiner - objektiv nicht auffälligen - „semitischen Nase" verfolgt zu werden glaubt.

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Einfluß der Sozialisation auf die psychische Struktur - aber er wird nicht weiter verfolgt. Eine andere Diskussion über jüdische Sozialisation löste aus der Versuch des inzwischen von Kraus abgefallenen Wittels, den Zusammenhang von Kunst und Neurose bei Kraus aus dessen jüdisch-bürgerlicher Herkunft zu deuten: der erbitterte Kampf gegen den Journalismus sei eine Form des Vatermords, indem die „Neue Freie Presse" als Lieblingsblatt der bürgerlichen Juden das „Organ des Vaters" repräsentiere.49 Freuds Warnung vor der Veröffentlichung solcher Deutung zeigt nicht nur die Angst vor dem Zerwürfnis mit Kraus,50 sondern auch die Ablehnung reduktionistischer Erklärung großer geistiger Leistung. 5. Ein bereits recht aktueller jüdischer Name erscheint in den von 1906 bis 1918 reichenden Protokollen nur einmal am Rande: der von Martin Buber. Das erstaunt auf den ersten Blick umso mehr, als die von Freud so hochgeschätzte Lou Andreas-Salomé schon vor ihrem Eintritt in seine „Schule" zu Buber in Beziehung stand: sie hatte in seiner Reihe „Die Gesellschaft" ihre wichtige Arbeit Die Erotik publiziert.51 Daß der Blick der frühen Analytiker an der jüdischen Emeuerungsbewegung trotz ihrer Vernachlässigung in den Mittwochs-Diskussionen faktisch nicht vorüberging, zeigen denn auch zwei Rezensionen im zweiten „Imago"-Band (1913), die über den vom Präger Verein Bar Kochba herausgegebenen Aufsatzband Vom Judentum und über Bin Gorions Sagen der Juden referieren. Der erste Artikel, charakteristischerweise aus der Feder des religionspsychologisch so stark interessierten Reik, führt nicht nur an einen Berührungspunkt der jungen Analyse mit den jungen Impulsen zur Entfaltung spezifisch jüdischen modernen Geisteslebens - sie führt zugleich an die schon genannte „Wasserscheide" des modernen Denkens, die Konzeption des Mythos. Um den Stellenwert des Berührungspunktes zu bezeichnen, sei zunächst das Prager Sammelbuch kurz charakterisiert. Aus der Retrospektive stellt es ein großartiges Dokument deutsch-jüdischer Geistigkeit dar. Zu den Beiträgern, ausgesucht als „Glieder, Träger einer ihrer selbst bewußt

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Protokoll vom 12.1.1910. Freud hatte sich 1906 in der Plagiatsaffäre Fliess-Swoboda-Weininger hilfesuchend an Kraus gewandt und damals noch von einer ,,teilweise[n] Übereinstimmung" ihrer Ansichten gesprochen. Allgemein wird angenommen, daß Wittels' Abfall von Kraus auch die Entfremdung zwischen diesem und Freud förderte. Eine tiefe Divergenz in bezug auf die Stellung zur Sexualität, die Freud ebenso wie Kraus aus der Verdrängung erlösen, aber der Kultur integrieren will, tritt schon im Protokoll vom 15.5.1907 zutage. Zum Kontext der Weininger-Affäre vgl. J. Le Rider: Der Fall Otto Weininger. Wien/München 1985. Weininger wird in den Diskussionen der Mittwochsgesellschaft in erkenntnistheoretischem Zusammenhang und bei der Erörterung des durch Schuldgefühle charakterisierten Menschentypus erwähnt. Vgl. dazu Bubers Brief an L. Andreas-Salomé vom 10.1.1910. In: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Bd.I. Heidelberg 1972. S. 276f.

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gewordenen jüdischen Volksgemeinschaft", 52 zählen profilierte literarische Autoren und Gelehrte, unter ihnen K.Wolfskehl, M.Susman, Achad Haam, E.Kahler. Alle Arbeiten kreisen um die Aufgabe, innerhalb der modernen Welt eine spezifische Form geistigen, religiösen und praktischen Lebens zu finden, in welcher die historisch-metaphysischen Wurzeln der jüdischen Existenz nach der Zeit des Verfalls wieder fruchtbar werden könnten. Dabei ist eindrucksvoll die Prägung vieler Autoren durch das deutsche idealistische Denken und seine Renaissance zur Zeit der Jahrhundertwende: die transzendental interpretierte platonische Idee durchzieht den Band als vielfach variiertes Leitmotiv, trotz aller Hinwendung zur Praxis und Körperlichkeit. Für M.Goldstein ist Israel „das Volk der ethischen Idee", das als solches „den neuen Sinn der Welt aus sich herausgebähren" wird. Zugleich wirkt nach der Herdersche Gedanke der besonderen Entfaltung Gottes in den einzelnen Völkern: für H.Kohn und M.Susman ist gerade die metaphysische Verwurzelung nur auf dem Weg über die Nation möglich. Im Kontext der Versuche, die eigentümliche Sendung des Judentums zu erfassen, wird auch seine Spannung zum Griechentum thematisiert (H.Kohn, K.Singer). Ihren höchsten religiösen Schwung erreicht die Konzeption der besonderen Mission des Judentums in H.Bergmanns herausragendem Aufsatz Die Heiligung des Namens, der die Mitarbeit an der Vollendung der dem Menschen zugekehrten Existenzform Gottes postuliert. Der panoramische Charakter des Buchs erweist sich als Hilfe auch bei der Bemühung um Klärung der terminologischen Situation, deren Unübersichtlichkeit die Beurteilung von Äußerungen aus jener Epoche zum Judenproblem oft erschwert. Die Untersuchungen über die Genese des nationalsozialistischen Vokabulars, welche deren Ursprünge, wie es naheliegt, meist in konservativen und deutsch-nationalistischen Schriften aufsuchten, haben dazu geführt, aus dem Gebrauch von Wörtern aus den semantischen Feldern „Rasse" und „Volk" auf präfaschistische Ideologie zu schließen. Aber wie in der Mittwochsgesellschaft wird auch im Band Vom Judentum mit Selbstverständlichkeit von „arischen Autoren" gesprochen. Es ergibt sich das Bild einer sprachlichen Verwirrung, in der die Unsicherheit in bezug auf das zu wählende Wort verschlungen ist mit dem Kampf um die Klärung der Sache. Ein Beispiel dieses Kampfes ist Bubers Auseinandersetzung mit H.Cohen über die Begriffe Nation, Nationalität, Staat, Volk. 53 „Ich habe nie begriffen, warum ich mich meiner Abkunft oder wie man zu sagen begann: Rasse, schämen sollte", schreibt Freud 1925 in seiner Selbstdarstellung mit Bezug auf seine Studienzeit in den 70er Jahren. Den für ihn also von vornherein historisch relativierten Terminus behält er aber durchaus bei: in der Traumdeutung spricht er von der „Abstammung aus landesfremder Rasse"; 54 1923 bekennt er sich gegenüber R.Rolland zu einer „Rasse", der in der Geschichte stets alles Übel zur Last gelegt wird. Häufig gebraucht er auch den Begriff „Volk", wobei manchmal der antike Sinn von „gens" mitzuklingen scheint. Der Band Vom Judentum zeigt, wie unter dem Eindruck von Herzls ekstatischer Erfahrung: „Wir sind ein Volk, ein Volkl" diese Bezeichnung an Strahlkraft gewinnt.

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Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hrsg. vom Verein Jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag. Leipzig H913. S. VI. Völker, Staaten und Zion. In: Die jüdische Bewegung. Zweite Folge 1916-1920. Berlin 1920. S. 25-70. Ein extremes Beispiel für die terminologische Verwirrung: den Senatspräsidenten Schreber quälen „arische" und „katholische" Skorpione, die seinen Kopf zerstören wollen. In einer Anmerkung weist er selbst auf die Verbreitung des Ausdrucks „arisch" um die Jahrhundertwende hin (Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. 1903. Frankfurt 1985. S. 68). Studienausgabe Bd.II, S. 207.

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Sehr wichtig ist nun für die Aufrichtung des neuen jüdischen Menschenbildes der Bezug zum Mythos. Wiederentdeckt werden soll die .jüdische Antike" mit dem „ungeahnten Reichtum unserer Mythologie". 5 5 J.Wassermann unterscheidet idealtypisch scharf zwischen zwei Arten von Juden: dem „Literaten" als dem „vom Mythos losgelösten Menschen" und dem „Orientalen" im mythischen Sinn". Jener ist ein ruheloser Individualist, dieser ein von der Tradition getragener, schöpferischer, erfüllter Mensch. In diesem Kontext ist Reiks Auseinandersetzung mit Bubers zentralem Aufsatz Der Mythos der Juden zu sehen. Die sehr positive Würdigung bezeichnet zugleich auch deutlich jene Demarkationslinie in den Versuchen der Jahrhundertwende, den Mythos modernem Vorstellen und Empfinden wieder zu integrieren. Reik begrüßt den Nachweis, daß angesichts der Fülle jüdischer Mythen eine im Anschluß an Renan in der Mythen- und Rassenforschung entwickelte Theorie unhaltbar ist: es lasse sich streng unterscheiden zwischen zur Mythenbildung fähigen und unfähigen Völkern und die Semiten gehörten zu den letzteren. Zugleich bekämpft Buber die innerjüdische rationalistische Kritik an jüdischen Mythen als an einer Trübung der monotheistischen Idee. Zwischen dem Kräfte-Aggregat Elohim und dem entsinnlichten Gott der Propheten entfalte sich dynamisch Jahve in der Begegnung mit der Natur und dem Menschen. Buber leitet die Mythenbildung aus einer Funktion des primitiven Seelenlebens ab, die später in Momenten intensiver Erfahrung wieder in Kraft trete, da sie der kausalen Weltinterpretation überlegen sei. Aber diese Konzeption kann Reik nicht akzeptieren. So willkommen der Psychoanalyse der Nachweis ist, daß alle Völker Mythen bilden, so ist doch nicht der Mythos ewig, sondern die „Dynamik der unbewußten Tendenzen, welche an seiner Erschaffung so hervorragend tätig sind." Wenn Buber jene Variante des jüdischen Mythos erwähnt, die den Menschen auf Gottes Schicksal einwirken läßt, so bedauert Reik, daß hier nicht der Schritt getan wird zur analytischen Überzeugung, „daß der Mensch Gott erschaffen hat". Die Frage, ob der Mythos und die mythischen Elemente in den Religionen kollektive psychische Projektion seien oder eine wie immer gebrochene Form der Offenbarung von Wahrheit über die Welt - diese Frage ist eine Wasserscheide in jenen Jahren mannigfacher Anstrengung, dem religiösen und kulturellen Leben gerade aus dem Mythos heraus neue Substanz zu geben. Nicht jedem ist diese Frage klar bewußt: so fordert Otto Stoessl mit Fanfarenton die „Erneuerung des Mythos", 56 sieht diesen aber, wie seine Formulierungen erkennen lassen, lediglich als Produkt der Phantasie an. Freud bleibt, seit er im Umkreis seiner Oedipus-Intuition die Idee „endopsychischer Mythen" gefaßt hat,57 scharf und klar bei seinem antimetaphysi55 56

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R.Weltsch: Theodor Herzl und wir. S. 162. Die Wage, Jg.4, Heft 34, 19.8.1901; abgedruckt in: Das junge Wien (Anm.43) S. 1160-1166. An Fliess, 12.12.1897. Anm.2, S. 311. In den Kontext der modernen Mythos-Diskussion stellt Freuds Mythos-Konzeption R.Vogt: Der Mythos. Versuch einer begrifflichen Annä-

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sehen Gesichtspunkt Von seiner Position aus läßt sich nicht an eine Erneuerung des Mythos aus dem Bewußtsein heraus denken, wie sie Buber erhoffte. Das ist zumindest ein Grund dafür, daß es auch in Zukunft keine Kommunikation mit dem - seinerseits gegenüber Freud sehr ablehnenden - Buber gab.58 Die Bedeutung dieses unterschiedlichen Verhaltens zum Mythos geht über eine wissenschaftliche Differenz weit hinaus. Zugleich ist gerade hier die jüdische Problematik impliziert. Das zeigt sich eben in der uns paradox scheinenden gespannten Fremdheit zwischen Freud und Hofmannsthal. Hofmannsthal, später Verfasser eines einfühlenden, wenn auch etwas ambivalenten Freud-Porträts,58 hat gerade in der Zeit seiner mythosförmigen Produktion Freud sehr hart abqualifiziert: „Freud dessen Schriften ich sämtlich kenne, halte ich abgesehen von fachlicher Akribie (der scharfsinnige jüdische Arzt) für eine absolute Mediocrität voll bornierten, provinzmäßigen Eigendünkels."59 Wie läßt sich eine solche, zu Hofmannsthals sonst so vornehmer Gesinnung kontrastierende Formulierung verstehen? Es soll hier nicht gewagt werden, Hofmannsthals Verhältnis zu der jüdischen Komponente seiner Herkunft im ganzen zu erfassen. Aber gerade die Abweichung in der Mythoskonzeption kann vielleicht ein Schlaglicht darauf werfen. Die Analogien zwischen Hofmannsthals Gestaltung der griechischen Mythen und Freuds neuer Konzeption sind bekannt und oft untersucht worden. M.Worbs 60 weist aber mit Recht auf einen entscheidenden Unterschied hin: der Triumph des Unbewußten, wie ihn die Schlüsse von Elektra und Oedipus und die Sphinx feiern, läuft Freuds Intention durchaus zuwider. Dieser Triumph hängt zusammen mit dem ambivalenten Status zwischen Innen und Außen, den das Unbewußte bei Hofmannsthal gewinnt Daß auch für ihn die Mythen seelische Projektionen sind, wird durch seine poetische Praxis (ihr Motto ist gleichsam der Innenhof, der Elektra umschließt) ebenso klar dokumentiert wie durch eine Reihe von begleitenden Äußerungen. Auf eine novalesisch inspirierte Weise öffnet sich aber das Unbewußte bei Hofmannsthal auf eine Art umfassenden Weltgrundes hin und gewährt so dem isolierten Ich den Zugang zur Totalität dessen, was Hofmannsthal

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herung. In: Psyche 39, 1985, S. 768-797. In ihrem biographischen Abriß über Buber versteht G.Schaeder in einleuchtender Argumentation Bubers fundamentale Abwehr der Freudschen Theorie aus seinem Bewußtsein, in seinem Urtrauma, der frühen Trennung von seiner Mutter, auch „die schöpferische Mitte seiner Existenz" zu besitzen. Vgl. Anm.51, S. 37. Anhang zu: Zwei Briefe über den „Schwierigen", mitgeteilt von R.Hirsch. In: Hofmannsthal-Blätter Heft 7, 1971, S. 74. Hofmannsthals Freud-Würdigung erschien 1822 in der amerikanischen Zeitschrift „The Dial" (Gesammelte Werke. Hrsg.v. B. Schoeller. Reden und Aufsätze Π. Frankfurt 1979. S. 192-196). Grundlegend für das Verhältnis Hofmannsthals zu Freud ist immer noch: B.Urban: Hofmannsthal, Freud und die Psychoanalyse. Frankfurt/Bern/Las Vegas 1978. Anm.9, S. 31 Iff.

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„Leben" nennt. Notizen aus den Jahren 1907/0861 zeigen die innere Qual, aus der diese prekäre Konzeption hervorging. Der Dichter kämpft mit dem Selbstvorwurf, wenn er von seinen Figuren spreche, „so spreche ich von mir." Er verteidigt sich damit, er spreche damit zugleich vom Unbewußten der Figuren (sein Hinweis auf die Psychopathologie des Alltagslebens zeigt, daß seine Umschreibungen dieses meinen). Elektra ist „ein exteriorisiertes, materialisiertes Wesen, abgesprengt von mir", damit aber auch abgesprengt vom „Weltwesen in mir". Die Suche nach dem Ausweg aus der narzißtischen Kunst ist verschlungen mit der Angst vor der „Wortkunst". Wieviel die Dominanz des Gestalthaften und Strukturellen im Mythos für die Erlösung aus den Aponen der Sprache bedeutet, läßt noch der späte Kommentar zur Ägyptischen Helena erkennen. Es war Hofmannsthal aber natürlich klar, daß das Unbewußte in Freuds Konzeption nicht jene romantische Dimension besaß. Im Xenodoxus sollte später gar der Teufel als „Psychoanalytiker par excellence" erscheinen infolge seiner „Geschicklichkeit, das Höhere als Betrug oder Dummheit zu nehmen und als Ausfluß des Leiblichen." Für Hofmannsthal war es gewiß eine Überlebensfrage, ob das für ihn so wichtig gewordene Unbewußte in individuell-beschränkendem oder in universalöffnendem Sinn zu verstehen sei. Wenn er in seinem Urteil über Freud .Judentum" und „Scharfsinn" zusammenbringt, so greift er auf ein seit E.M.Arndt belegbares Klischee zurück: die Vorstellung vom „zersetzenden jüdischen Verstand".62 Dieses war zu Beginn des Jahrhunderts sehr verbreitet. In den Phantasien eines Realisten erkennt J.V.Widmann - ohne negativen Akzent - die „spinnwebenfeine und dabei eisenstarke Dialektik alter Rabbiner."63 Wassermanns Klage über den Rationalismus der modernen Juden, die ihn in Wien erschreckten, bringt den Topos zusammen mit der Ablösung vom Mythos; sein Protest gegen das Zerfasern der „dunkelsten, heimlichsten Gebiete der Seele"64 zielt gewiß auf Freud, vielleicht aber auch auf einige literarische Autoren. Jedenfalls wird der Topos von der zeitgenössischen Kritik gerade auch auf die Gruppe angewandt, zu der man Hofmannsthal zählte, den „modernen Wiener Typus." 65 Ist es nicht denkbar, daß Hofmannsthal unter der Suggestion dieses Vorstellungsklischees seine eigene starke analytische Fähigkeit, wie sie sich nicht in seiner Reflexion, aber

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Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hrsg.v. B. Schoeller u.a.. Reden und Aufsätze ΠΙ. Frankfurt 1980. S. 493. Vgl. dazu R.Schäfer: Zur Geschichte des Wortes „zersetzen". In: Zeitschrift für deutsche Wortforschung Bd.18, 1962, S. 40-80. Im Anhang zur „Selbstdarstellung"; Anm.44, S. 136. Mein Weg als Deutscher und Jude, Kap. 19. In: J.Wassermann, Deutscher und Jude. Reden und Schriften 1904-1933. Heidelberg 1984. S. 112. A.Gold: Ästhetik des Sterbens. In: Die Zeit, 24.8.1895. Als exemplarisch wird hier BeerHofmann behandelt: „Denn sie alle werden wie er von einem scharfen, zersetzenden Verstand, einem jüdischen Verstand, beherrscht." Zitiert nach: Die Wiener Moderne (Anm.41) S. 406.

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sehr wohl in der subtilen Konstruktion der psychischen Problematik seiner Figuren niederschlug, auf die jüdische Komponente seiner Herkunft zurückführte? Vielleicht fürchtete er selbst diese Fähigkeit als mögliches Hemmnis der Verehrung des „ganzen Lebens" und verleugnete im Urteil über Freud eine Seite seiner selbst? Es lag nahe, daß sich Hofmannsthal unter den Analytikern H.Silberer zuwandte, der den Phänomenen Mythos und Traum durch Deutungen auf verschiedenen Ebenen (retrograd und anagogisch) nach Art des mehrfachen Schriftsinns gerecht zu werden suchte,66 in seiner Symbolauffassung verwandt mit Jung. Wie deutlich sich aber hier die Wasser trennen, zeigt sich daran, daß Buber gerade Oedipus und die Sphinx, jenes so stark vom Analytischen geprägte Stück, als ein Zeugnis neuer mythischer Kunst begrüßt hat - Buber, der später in der Zusammenarbeit mit dem Zürcher Jung-Schüler Hans Trüb selbst Einfluß auf die Ausbildung einer nicht-analytischen Form der Psychotherapie gewinnen sollte.67 Im Verhältnis zwischen Jung und Freud polarisiert sich die Mythen- und Symboldeutung in einer Weise, die Freud in den Augen seiner Zeitgenossen vielfach zum Repräsentanten eines jüdischen Rationalismus stempelte. Die Auseinandersetzung vollzieht sich auf drei Ebenen. Das seit 1907 bezeugte Interesse der Burghölzli-Psychiater für Freuds Methode brachte der „Sache" den ersten Durchbruch in die internationale Öffentlichkeit. Strategische Überlegung ließ Freud in Zürich ein geeignetes europäisches Zentrum und in dem dynamischen Jung einen fähigen Promotor seiner Lehre sehen. Aber als „Moses" hing er auch mit intensivem Gefühl an seinem .Joshua", der das „gelobte Land der Psychiatrie" in Besitz nehmen sollte.68 Die dritte und entscheidende Ebene wird deutlich, wenn Freud den in den Zwist verwikkelten Abraham mit dem Argument zur Geduld mahnt, Jung habe als Christ und Pfarrerssohn weit größere Widerstände gegen die Analyse zu überwinden gehabt als die ihm selbst durch „Rassenverwandtschaft" näheren Freunde Abraham und Ferenczi.69 „Wir Juden haben es im ganzen leichter, da uns das mystische Element abgeht." Freuds eigene Toleranz aber reicht nicht über jene Wasserscheide hinweg, jenseits welcher das Unbewußte zu einem von mystischen Symbolen erfüllten Zwischenreich zwischen Innen und Außen wird. Die Zeit von Jungs Abfall ist diejenige, in der Freud, ursprünglich gerade durch Jung zu solchen Fragestellungen ermutigt, die „Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker" untersucht. Ganz in seinem Sinn hatte Abraham schon 1909 in einer Schrift über Traum und 66

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Probleme der Mystik und ihrer Symbolik. Wien 1914. - Der Traum. Stuttgart 1919. Zu Hofmannsthals Silberer-Lektüre vgl. Urban (Anm.59). Brief vom 24.2.1906. „Das was Sie einmal als Mythos bezeichnet haben, ist darin auf eine ewige Art lebendig geworden, wie in unserer Zeit nur noch in den Werken Rodins." Anm.51, Bd.I, S. 235. Freud an Jung, 17.1.1909. In: S.Freud/C.GJung: Briefwechsel. Hrsg. von W.Mc Guire u. W.Sauerländer. Frankfurt 1974. S. 218. An Abraham, 3.5.1908. Anm.3, S. 47.

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Mythos in bewußter Ablehnung „philosophisch-religiöser Deutung" den Mythos als ein „erhalten gebliebenes Stück aus dem Seelenleben des Volkes" definiert.70 Im Hinblick auf Freuds Moses-Identifikation ist es wichtig, daß Abraham 1912 in einem Aufsatz über Amenhotep IV.71 die Bedeutung der Lehre Echnatons als Vorläuferin des jüdischen Monotheismus hervorhebt. Stärker als die damalige Autorität Breasted betont er Atons Geistigkeit, seine Nicht-Identität mit dem konkreten Gestirn. Freud selber bekennt sich - anonym - 1914 im Michelangelo-Aufsatz zum Mythosgegner Moses. Dessen Ägyptertum, das Skandalon der Spätschrift, ist ihm dabei gewiß schon in Gedanken präsent. Schon in der Diskussion der Mittwochsgesellschaft über Ranks Geburt des Helden wies er auf die ägyptische Etymologie des Namens Moses hin, von der ihn bereits Philippson unterrichtet hatte.72 Freuds Deutung der Statue bringt aber Moses auch mit seiner frühen Identifikationsfigur Nathan überein: wie sein Moses den Zorn auf das abergläubische Volk beherrscht, so Nathan nach der Ermordung seiner Familie seine Racheimpulse. So verschlingen sich in Freuds Verhältnis zum Mythos weltanschauliche Grundhaltung, jüdische Problematik und persönlichste Betroffenheit. Die Divergenz von Freud und Jung im Verhältnis zum Mythos ist keine einfache Antithese. Noch der späte Jung erklärt - auch in Auseinandersetzung mit Buber - , daß die von ihm erforschten Phänomene (Bilder-Archetypen-Komplexe) psychische und nicht transzendente Wirklichkeit seien. Indes spricht er ihnen Subjektcharakter, Autonomie und ein der Gewalt mythischer Mächte entsprechendes Wirkungspotential zu.73 Im Buch Wandlungen und Symbole der Libido von 1912, das wegen der Ausdehnung des Libidobegriffs zum Bruch mit Freud führte, ist Jung noch sehr vorsichtig, schließt sich an Abrahams oben zitierte Definition an und erwähnt die Überlegenheit der „sittlichen Autonomie" über das Verhalten des mythosgebundenen Menschen.74 Aber die Faszination, mit der das Füllhorn mythischer Erzählungen ausgeschüttet wird, gibt diesen bereits einen über die genetisch auflösbare Projektion hinausreichenden Status. So heißt es denn auch im Aufsatz Über das Unbewußte von 1918:75 „Das überpersönliche Unbewußte ist als allgemein verbreitete Hirnstruktur ein allgemein verbreiteter .allgegenwärtiger' und .allwissender' Geist. Aber den Menschen weiß es, wie er immer war, und niemals wie er in diesem Augenblicke ist, es weiß ihn als Mythos." Wie sehr für beide Seiten das Mythosproblem affektiv aufgeladen war, spricht

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Leipzig/Wien 1909. S. 71. Imago I, S. 334-360. Vgl. Pfrimmer (Anm.4) S. 192. Vgl. den Brief an R.C.Smith, 30.6.1960. In: Briefe. Hrsg.v. A Jaffé. 3.Bd. Olten/Freiburg Ί 9 8 0 , S. 316-319. S. 26; S. 225. Gesammelte Werke Bd.X. Olten/Freiburg 1974. S. 22.

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besonders suggestiv aus der kürzlich zugänglich gewordenen Dokumentation über Sabina Spielrein. Die junge russische Jüdin, die sich aus schweren seelischen Störungen zu eigener ärztlicher und analytischer Tätigkeit herausarbeitete, gestaltete ihre Übertragungsliebe zu Jung zu einem zeittypischen literarischen Phantasma: mit Jung wollte sie einen - natürlich Siegfried genannten - germanisch-jüdischen Erlöserknaben erzeugen. Im Kontext dieser intimen Konfliktsituation äußert Freud rückhaltlos seine Bitterkeit über den „germanischen Heros" Jung: „Wir sind u bleiben Juden. Die Anderen werden uns immer nur ausnützen und uns nie verstehen oder würdigen."76 Jung hingegen bezeichnet es als „Fluch des Juden", daß er „sein eigenstes und tiefstes Seelisches .infantile Wunscherfüllung' nennt." 77 Sabina Spielrein lebe „einen Theil der jüdischen Seele" noch nicht, für den als Stichwort „die Propheten" stehen. Die oben erwähnten Beobachtungen zum unsicheren Sprachgebrauch der Epoche warnen uns zunächst, den Stellenwert solcher Konzeptionen und Formulierungen zu überschätzen. Auch Freud hatte etwa aus den Erfahrungen mit seinen zahlreichen russischen Patienten Schlüsse auf besondere Verhaltensweisen der russischen Seele gezogen.78 Aber er bezeichnet, mit Bezug auf Äußerungen Jungs, auch im Medium jener zeittypischen Konzepte mit Bestimmtheit den Anspruch auf die Allgemeinverbindlichkeit der psychoanalytischen Erkenntnisform: A propos du sémitisme il y a certainement de grandes différences avec l'esprit aryen. Nous en avons eu la confirmation tous les jours. C'est pourquoi il y aura certainement, ici et là-bas, des conceptions du monde et un art différents. Mais il ne devrait pas y avoir de science aryenne et juive particulière. [...] Si ces différences s'étendaient à l'interprétation des données objectives de la science, alors c'est que quelque chose ne va pas [...]79 Die Tragweite von Jungs privater Äußerung wird Jahre später deutlich, wenn sie, für die Öffentlichkeit formuliert, wiederkehrt in seiner Grundsatzerklärung im „Zentralblatt" 1934: Meines Erachtens ist es ein schwerer Fehler der bisherigen medizinischen Psychologie gewesen, daß sie jüdische Kategorien, die nicht einmal für alle Juden verbindlich sind, unbesehen auf den christlichen Germanen oder Slawen verwandte. Damit hat sie nämlich das kostbarste Geheimnis des germanischen Menschen, seinen schöpferisch ahnungsvollen Seelengrund als kindisch-banalen Sumpf erklärt [,..]80 76

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S.Spielrein: Tagebuch einer heimlichen Symmetrie. Hrsg.v. A.Carotenuto. Freiburg 1986. S. 124. S. 219f. Vgl. dazu L.Andreas-Salomé: Lebensrückblick. Hrsg.v. E.Pfeiffer. Frankfurt 1968. S. 151. Lou Andreas-Salomé war für solche Gedanken sehr aufgeschlossen, da sie seit den 90er Jahren mehrere Arbeiten über die russische Mentalität verfaßt hatte. Brief an Ferenczi vom 8.6.1913, zum erstenmal veröffentlicht in französischer Übersetzung bei J.Chemouni (Anm.30), S. 9. Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie. Wiederabgedruckt in: Gesammelte Werke Bd.X. S. 180-202. Zitat S. 191.

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Es ist hier nicht der Ort, Jungs prekäre Stellung innerhalb der psychoanalytischen Institutionen zu Beginn des nationalsozialistischen Regimes zu diskutieren.81 Doch ist es nötig, hinzuweisen auf die gefährlichen Konsequenzen seiner Mythoskonzeption, die zutage treten, wenn er im Jahr 1936 den Umbruch in Deutschland als Wiederkehr des Archetypus Wotan, einer Art von germanischem Dionysos, interpretiert.82 6. Sabina Spielrein mit ihren Jungschen Ansätzen gehört in eine analytischliterarische Diskussion, die wohl beigetragen hat zu einer neuen Mythenbildung Freuds: der Vorstellung vom Todestrieb. „Mythos" nenne ich diese Theorie, da ihre Herleitung - gleich der Moses-Spekulation - so sehr abweicht von der Freud sonst eigenen stringenten Argumentation. In seinem berühmten „Doppelgänger"-Brief an Schnitzler nennt Freud unter anderen Berührungspunkten die Verwandtschaft von Schnitzlers Fixierung auf die „Polarität von Lieben und Sterben" mit seiner eigenen Theorie vom Antagonismus zwischen Eros und Todestrieb.83 Gewiß ist es unzulässig, die Lehre, nach der jeder Organismus sich nach Rückkehr in den Zustand der Ruhe sehnt und von den Sexualtrieben darin aufgehalten wird, global, wie es gern geschieht, mit romantischen Vorstellungen von der Todesgebundenheit des Lebens zusammenzubringen. Doch hat gewiß die an die Romantik anknüpfende Präsenz des Todes in der Wiener Literatur der Jahrhundertwende diesen Freudschen Mythos genährt, so sehr auch in ihr die Beziehung zwischen Leben, Liebe und Tod variiert. Im November 1911 trug Sabina Spielrein in der Mittwochsgesellschaft einen Teil ihrer Arbeit Destruktion als Ursache des Werdens vor,83 in der sie die Funktion des Todes als Bedingung psychischer Neugeburt betonte. Vorangegangen war ein Vortrag von Reik über den engen Zusammenhang zwischen sexuellen und Todesphantasien. In diesem Vortrag und der zugehörigen Diskussion wird besonders oft auf Schnitzler hingewiesen. Reik erwähnt auch Beer-Hofmann, über den er damals arbeitete. Mit diesem Namen scheint die stärkste positive Berührungsstelle von Judentum, Literatur und Psychoanalyse bezeichnet. Daß Freud Beer-Hofmann besonders verehrte, geht nicht nur aus seinem Brief zu dessen 70.Geburtstag hervor, in dem er von der „hoheitsvollen Schönheit" seiner Dichtung spricht,84 sondern auch aus dem Zeugnis ihres gemeinsamen Arztes M.Schur.85 Zunächst mag es erstaunen, daß Freud „viele bedeutsame Übereinstimmungen" vermutet zwischen sich selbst und einem Dichter mythischer Visionen, der sein Werk als religiöses Bekenntnis verstand.

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Die Fakten sind versammelt in einem dem Thema „Jung face au nazisme" gewidmeten Heft der Cahiers de psychologie jungienne (Nr.12, 1977). Wotan. In: Gesammelte Werke Bd.X, S. 203-218. Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen IV, S. 465-503. Fischer-Almanach 77, 1963, S. 64f. S .Freud. Leben und Sterben, Frankfurt 1982. S. 251f.

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Aber blickt man zugleich aus der analytischen und der jüdischen Perspektive auf Beer-Hofmanns Dichtungen, so wird gerade deutlich, daß Freuds Konzeption des Mythos und der mythischen Elemente in den Religionen nicht auf rationalistischen Reduktionismus festzulegen ist. 7. Der Zusammenhang, in dem Beer-Hofmann in der Mittwochsgesellschaft erwähnt wird - Unsterblichkeit als Leben in den Kindern - legt den Gedanken an das damals so gefeierte Schlaflied für Mirjam nahe. In diesem Gedicht gibt nur der Name der Adressatin dem Thema eine jüdische Konnotation. Anders in der großen Erzählung Der Tod Georgs. Ihr Protagonist, Paul, Inbild des zur menschlichen Bindung unfähigen narzißtischen Ästheten, findet die Überwindung des Todes in der Integration in die Geschlechterkette seiner jüdischen Ahnen. Hier aber bietet die auf der einen Seite mit Freuds Todesmythos verwandte Erzählung auch Analogien zu einem anderen, dem Moses-Nathan-Mythos. Das Wesen des von den jüdischen Ahnen verehrten Gottes ist Gerechtigkeit.86 Und langsam ihren Gott von Opfem und Räucherungen lösend hoben sie ihn hoch über ihre Häupter, bis er, kein Kampfesgott von Hirten mehr - ein Wahrer allen Rechtes - über vergänglichen Sonnen und Welten, unsichtbar, allem leuchtend, stand.

Ein solcher Gott steht dem Nathans nahe. Freud liebte besonders Jaákobs Traum, das Vorspiel zum David-Zyklus. Diese biblische Dichtung bringt die von Freud geschätzte, von seiner eigenen Theorie unabhängige Gestaltung psychischer Strukturen.87 Die für den Analytiker wie für den jüdisch Erzogenen zentrale Vater-Sohn-Beziehung hatte Beer-Hofmann schon im Grafen von Charolais unter anderem am Beispiel eines Geldjuden gestaltet, den der Tod des Vaters im Feuer des Autodafé für immer verhärtet hat. In Jaákobs Traum verschlingt sich die visionäre Evokation göttlicher Berufung mit einem nicht nur angedeuteten, sondern in farbig-dynamischer Rede ins Bewußtsein gehobenen Familienroman. Die vom eigenen Vater fast an ihm vollzogene Opferung hat Jizchak für sein ganzes Leben traumatisiert. Für die Gottsucherin Rebekka ist der Lieblingssohn Jaákob daher mehr das Kind Abráhams selbst. Im Bruderzwist vertritt Edom (Esau) die Verlockung der mythischen Stammesgötter gegenüber dem erschreckenden Anspruch des unsichtbaren, immer nahen Gottes der Väter. Aber auch Jaákob sträubt sich zunächst gegen die Erwählung. Zwar ruft ihn der eine Engel auf: „Sei

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„Gerechtigkeit" als Leitmotiv hebt W.H. Sokel hervor in einer soeben erschienenen subtilen Studie: Narzißmus und Judentum. Zu R.Beer-Hofmanns Der Tod Georgs. In: Literatur und Kritik. Nr.221/222, 1988, S. 8-20. Auch er sieht einen engen Zusammenhang zwischen der frühen Erzählung und dem Spätwerk. Beer-Hofmann besuchte Freuds Vorlesungen (vgl. L.Andreas-Salomé, Anm.38, S. 59); aber gerade die tiefe Gebundenheit an die jüdische Thematik Schloß die von Freud gescheute „Umsetzung" von Theorie aus.

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Licht der Völker! Blinder Augen öffne! / Gefangne führ' aus Finsternis und Haft.../ Gott glüht und hämmert dich zum heiligen Volke...". Aber der verstoßene Engel stellt ihm die Kehrseite vor Augen, den Fluch: „Volk wirst du, d'raus sich alle Beute holen. / An dir zu freveln, wem war's nicht erlaubt?"88 In doppelter Weise trifft dies Schicksal des Berufenen auf Freud zu: auf den Juden, dessen gedemütigter Vater den Namen Jakob trug, und auf den, der seinen Kampf um die wissenschaftliche Wahrheit im Augenblick des Verzagens verglichen hatte mit dem Ringen Jakobs mit dem Engel.89 Genauer als über Freuds Rezeption des Werks, das, vom Publikum lange erwartet, Ende 1918 erschien, sind wir über diejenige seines Schülers Reik informiert. Seine zweite Schrift über Beer-Hofmann (1919) besteht aus einem im April des gleichen Jahres gehaltenen Vortrag über das bis dahin vorliegende Werk und einer begeisterten Paraphrase des neuen dramatischen Spiels. Die leidenschaftliche Anteilnahme Reiks versteht sich auch aus der Reaktion auf eine aktuelle Welle von Antisemitismus, „da das Judentum den uralten, nie verlöschenden Hass wieder zu spüren bekam". Aber schon der erste Teil ist gegenüber Reiks früheren Schriften viel stärker von der jüdischen Problematik akzentuiert: er mündet in den Nachweis, daß Beer-Hofmanns poetische Eigentümlichkeit verstanden werden müsse aus seiner .jüdischen Erlebnisart", d.h. der Dominanz der Motive Gerechtigkeit, Zusammengehörigkeitsgefühl der Generationen, Religion als überindividuelles Phänomen, Anerkennung der geheimen Leitung Gottes. Reik fällt die Versöhnung der psychoanalytischen und der religiösen Perspektive hier nicht schwer: in seiner bibelexegetischen Studie über Jakobs Kampf würdigt er das Drama als „schönes Beispiel einer sublimierten Auffassung des Stoffes" und meint generell, daß die psychoanalytische Durchdringung der Jakobsgeschichte deren Gehalt an „geistigen Wahrheiten" nicht ausschließe.90 Auf der Folie von Beer-Hofmanns Dichtung zeichnet sich deutlicher ab, daß wahrscheinlich auch das Verhältnis zur jüdischen Tradition zu jener Distanz Freuds und seines Kreises gegenüber Hofmannsthal beigetragen hat. War Hofmannsthal zunächst in der „Imago" als intimer Seelenkenner von E.Lorenz gewürdigt worden, so tut ihn nun Reik als Verfasser von „Epigonenpoesie" ab, und zwar unter dem Eindruck des moralischen Engagements von BeerHofmann. Man versteht diese Perspektive, so wenig sie dem großen Künstler Hofmannsthal gerecht wird, wenn man eines der wenigen Werke, in denen Hofmannsthal ein alttestamentarisches Thema gewählt hat, mit Jaâkobs Traum vergleicht: das mit Kessler zusammen für Diaghilew und Strauss verfaßte Textbuch zur Josephslegende. Nicht von ungefähr sollen für Dekor und Stil die Kartons von Veronese Vorbild sein. Das Sujet ist hier Teil der 88 89 90

Gesammelte Werke (Anm.32), S. 78. An Fliess, 7.5.1900. Anm.2, S. 453. Imago V, 1917/19, S. 325-361.

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großen Kultursynthese, in der das spezifisch Alttestamentarische ganz verschwindet. Der Hintergrund des jungen Frühlingsgottes Hippolytos-Joseph, der dem dumpfen Zauber der ägyptischen Phädra trotzt, ist die Hirtenwelt der Poesie, nicht die der Bibel.91 Der Revenant des biblischen Traumdeuters Joseph aber war zugleich ein Jakob, der nach der „Berufung" durch die Entdeckung der ödipalen Struktur das Los weitgehender Verkennung durch die Zeitgenossen tragen mußte - Verkennung wegen einer Botschaft, die dieser hochmoralische Mensch in gewisser Weise unwillig überbrachte. Es war die paradoxe Situation dieses Nathan, um des von ihm verehrten „Gottes Logos" willen die ungeheure Potenz der den mythischen Gewalten analogen Triebe gegen den scheinbaren Primat des Logos im Menschen verkünden zu müssen - und ein weiteres Paradoxon, daß er seine innerste Überzeugung, die ihm seine letzten qualvollen Jahre bestehen half, nur in der von ihm so relativierten Form des „Mythos" aussprechen konnte: in seiner Deutung des Moses als Ägypter, die er unter den größten Bedenken, im historisch unglücklichsten Moment, veröffentlichte wie unter Zwang. Ein vornehmer Anhänger des Echnaton, nach dessen Tod in Ägypten isoliert, wandert aus mit dem Stamm der versklavten Juden und unterwirft sie einem einzigen, vergeistigten, magische Rituale verachtenden Gòtt. Solchen Anforderungen nicht gewachsen, empört sich das Volk und tötet seinen Vater - nach dem in Totem und Tabu entwickelten Modell. Die Sage verschmilzt seine Gestalt mit der des midianitischen Hirten, der dem Volk in Gestalt des stürmisch-konkret sich manifestierenden Jahve wieder einen mythischen Stammesgott schenkt. Doch die Lehre der erleuchteten Leviten setzt in einem langsamen Prozeß die vergeistigte Religion des Ägypters Moses wieder durch. Warum genügte es für diesen Mythos nicht, einen Israeliten den Monotheismus des Echnaton übernehmen zu lassen? Die verschiedensten Deutungen sind vorgelegt worden. Mir drängen sich zwei Gründe auf. Der erste: wie konnte Freud seine antik-menschenallgemeine Identifikation, die mit Oedipus, mit der jüdischen Moses-Identifikation übereinbringen? Das Alte Testament bietet Beispiele für die Revolte von Söhnen, aber nicht für die ödipale trianguläre Struktur. In Beer-Hofmanns Jaákobs-Drama wird sie vom modernen Dichter eingefügt. K. Abraham aber hatte in seinem von Freud genau gelesenen Aufsatz das Einzelgängertum des Echnaton aus der Mutterbindung des früh Vaterlosen gedeutet. Damit wird in den Moses-Mythos die ödipale Struktur eingebracht, das Kerntheorem mit dem weltanschaulichen Bekenntnis verbunden. Der zweite und

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In die gleiche Hirtenwelt gehört auch der Patriarch Agur aus Die Wege und die Begegnungen. Der Unterschied zu Beer-Hofmanns, aber auch zu Freuds Welt wird sehr deutlich, wenn Hofmannsthal in einem - freilich sehr adressatenbezogenen - Brief an Strauss Josephs Gottsuchen ein „wildes Springen nach der hochhängenden Frucht der Inspiration" und Gott einen „Zustand" der Trance nennt (Briefwechsel. Hrsg. von F.und A.Strauss. Zürich 21955. S. 169f.).

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wichtigere Grund: Niemals hätte sich Freud zu religiösen Gefühlen bekannt. Aber die Sätze, mit denen er den Gott Echnatons und des ägyptischen Moses beschreibt, atmen affektive Intensität. Während Jahve als ursprünglich unheimlicher, blutgieriger Nachtdämon erschlossen wird, hat Moses die „Idee einer einzigen, die ganze Welt umfassenden Gottheit" gebracht, „die nicht minder alliebend war als allmächtig, die ein Leben in Wahrheit und Gerechtigkeit zum höchsten Ziel setzt."92 Nur die Idee dieses „anderen Gottes" hat das Volk Israel bis heute erhalten. Mit anderen Worten: diese Gottesidee ist das „Wesentliche" des Jüdischen. Insofern überschreitet es aber logischerweise stets sich selbst, d.h. seine ethnische Gebundenheit, „...macht denn nur das Blut / Den Vater? nur das Blut?" fragte Nathans Tochter. 93 Sicher sollte die nichtjüdische Abkunft des Moses ein Bekenntnis sein zur Synthese der Formen des Logos, wie sie Lessing und seine Geistesverwandten erschaffen haben. Warum reicht es nicht aus, die Legitimität solcher Synthese systematisch darzulegen? Von der Naturwissenschaft wie von der Beschäftigung mit Geschichte und Mythos her dachte Freud wesentlich genetisch. So mußte er die Synthese von jüdischer und nichtjüdischer Aufklärung in einen Ursprungsmythos rückprojizieren. Wie nahe aber diese Synthese auch einem vom Logos inspirierten Nichtjuden liegt, zeigen die Worte eines von Freud unbeachteten Autors: „Kant ist der Moses unserer Nation, [...] der das energische Gesetz vom heiligen Berge bringt." 94

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Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: Studienausgabe Bd.IX, S. 499.

V/7. Hölderlin an Carl Gok, 1.1.1799. Andere Varianten der Deutung des Moses als Prototyp des Aufklärers im deutschen idealistischen Denken nennt G.Kurz in: Höhere Aufklärung. Aufklärung und Aufklärungskritik bei Hölderlin. In: Idealismus und Aufklärung. Hrsg.v. ChJamme und G.Kurz. Stuttgart 1988. S. 280. Folgende in den Themenkreis gehörige Schriften sind nach Abschluss des Manuskripts erschienen oder mir zugänglich geworden: R. Vogt: Psychoanalyse zwischen Mythos und Aufklärung oder Das Rätsel der Sphinx. Frankfurt a.M./New York 1986; P.-L. Assoun: Freud et Nietzsche, Paris ! 1982; P. Gay: Ein gottloser Jude, 1988; P. Gay: Sigmund Freud. Ein Deutscher und sein Unbehagen. In: Freud, Juden und andere Deutsche, München 1989; J. Le Rider: Freud zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung. In: J. Schmidt (Hg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, S. 475-496.

Anhang

Wie bereits im Ersten Teil an gleicher Stelle vermerkt, treten die Arbeitsgruppen der Werner-Reimers-Stiftung mit einem populärwissenschaftlichen Vortrag an die Öffentlichkeit. Dieser Vortrag wurde im März 1988 von Walter Grab (Tel-Aviv) gehalten. Seine Textfassung folgt nun gemeinsam mit dem Diskussionsbericht von Florian Krobb (Göttingen) und Stefan Wirtz (Aachen) im dafür vorgesehenen Anhang.

Walter Grab (Tel-Aviv)

„Jüdischer Selbsthaß" und jüdische Selbstachtung in der deutschen Literatur und Publizistik 1890 bis 1933

Bevor ich auf das Thema meines Vortrages eingehe, möchte ich einige Begriffe kurz definieren, um Mißverständnisse zu vermeiden, und außerdem den wissenschaftstheoretischen Standpunkt meiner Reflexionen mitteilen. Der jüdische Selbsthaß ist der Titel eines Buchs, das der dem Judentum entstammende Kulturphilosoph und Gesellschaftskritiker Theodor Lessing im Jahre 1930 veröffentlichte.1 Lessing, der zu Beginn der Naziherrschaft ermordet wurde, war selbst keineswegs von jüdischem Selbsthaß erfüllt; vielmehr bekannte er sich zur jüdischen Gemeinschaft und sprach den Juden die Aufgabe zu, „Vertreter des geistigen Schicksals der Menschheit" zu werden. Das Judentum solle sich zum Träger einer „zwischenvölkischen allvermittelnden Sendung" machen, die „von Boden und Landschaft" unabhängig ist und „den geistigen Adel der reinen Vernunftmenschheit" begründet.2 Lessing definierte Selbsthaß als ein psychopathologisches Phänomen. Die von Selbsthaß besessenen Juden kranken an einer unglücklichen „Feindesliebe", nämlich an ausschließlicher Hingabe an das Deutschtum. Von den sechs jüdischen Psychopathen, die das Fremde mehr als sich selbst liebten und deren Leidensgeschichte Lessing schildert, nämlich Arthur Trebitsch, Maximilian Harden, Paul Rèe, Max Steiner, Walter Calé und Otto Weininger, wurden die vier Letztgenannten eigene Richter und Henker und begingen Selbstmord. Meine Untersuchung betrifft keine Neurotiker, deren Leiden sich bis zur Selbstvemichtung steigerte. Ich bezeichne mit jüdischem Selbsthaß die Vorstellung geistig gesunder Menschen, ihr Jude-Sein als Makel und Belastung anzusehen, weil sie rassen-antisemitische oder christlich-antijudaistische Stereotypen übernehmen. Nach der Definition von Jean Paul Sartre, der ich zustimme, gilt als Jude, wer von seiner Umwelt als Jude bezeichnet wird, unabhängig davon, ob er religiöse Bindungen besitzt oder nicht oder sogar bei seiner Geburt oder als Erwachsener christlich getauft wurde.3 Ich betrachte den gesamten deutschsprachigen Raum als soziokulturelle Einheit Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthaß. Berlin 1930; Neuausgabe München 1984. Theodor Lessing: Jüdisches Schicksal. In: Der Jude, Sonderheft Judentum und Deutschtum. Berlin 1926. S. 11-17, Zitate S. 14. Vgl. Jean Paul Sartre: Betrachtungen zur Judenfrage. Zürich 1948.

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und beziehe mich auf akkulturierte Schriftsteller und Publizisten jüdischer Herkunft, die entweder im Wilhelminischen Reich oder in der Donaumonarchie aufwuchsen und in der Epoche nach dem Aufkommen der organisierten völkischen und rassenantisemitischen Bewegung und vor der Vernichtung des deutschen und österreichischen Judentums wirkten. Zuweilen hört man die Behauptung, daß vor allem jüdische Linksintellektuelle stark von Selbsthaß zerfressen waren, weil sie, von ihren ethnischen Wurzeln losgerissen, die Lösung der Judenfrage lediglich im Rahmen einer internationalen Befreiung der Menschheit von kapitalistischer Ausbeutung suchten.4 Die Ansicht, daß der Selbsthaß besonders unter jüdischen Sozialisten und Kommunisten verbreitet war, ist jedoch, wie ich zeigen werde, empirisch unbeweisbar. Im Gegenteil - Schriftsteller und Publizisten, die dem linken politischen Spektrum angehörten, bekannten sich in der Regel stolz zu ihrem jüdischen Erbe, während dem Judentum entstammende Geistesgrößen, die konservativ eingestellt waren, die adeligen Eliten Alteuropas verehrten und eine hierarchische Lebensordnung guthießen, ihre Herkunft oft als Schmach empfanden und dem Judentum keine positiven Aspekte abgewinnen konnten. Um diese Auffassung zu erhärten, werde ich zunächst die sozialen, politischen und künstlerischen Konzeptionen von vier konservativen und vier fortschrittlichen jüdischen Koryphäen des mitteleuropäischen Geisteslebens untersuchen, bevor ich die Ursachen ihres jüdischen Selbsthasses oder ihrer jüdischen Selbstachtung analysiere. Der Wiener Gesellschaftskritiker Karl Kraus gründete im Jahre 1899 die Kulturzeitschrift „Die Fackel", um kompromißlos und unabhängig die Sprachverlottening, Lügen und Korruption der Presse kritisieren zu können. Als Hauptfeinde galten ihm die jüdischen Herausgeber und Redakteure liberaler Blätter. Für Kraus, der sich vorbehaltslos zu den antijüdischen Denkmodellen Otto Weiningers bekannte, galt das Judentum als Inbegriff alles Negativen der modernen Zivilisation; Theodor Lessing nannte ihn „das leuchtendste Beispiel des jüdischen Selbsthasses".5 In seinem Drama Die letzten Tage der Menschheit verspottete Kraus jüdische Literaten, Schieber und Spekulanten mit einem so unbarmherzigen Sarkasmus, daß sich daran geschulte Antisemiten ein Beispiel nehmen konnten. Im Jahre 1899 teilte Kraus der jüdischen Kultusgemeinde seinen Austritt mit, ohne sich vorerst für eine andere Konfession zu entscheiden. Seine Konversion zum Katholizismus zwölf Jahre später wollte er als entschiedene Absage an eine rationalistische Geisteshaltung verstanden wissen.6 1923 trat Kraus jedoch wieder aus der 4

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Diese Behauptung wird besonders von Edmund Silberner: Sozialisten zur Judenfrage. Berlin 1962 (im Hinblick auf Karl Marx) und modifiziert in seiner Arbeit: Kommunisten zur Judenfrage. Köln und Opladen 1983 (im Hinblick auf Rosa Luxemburg und Leo Trotzki) aufgestellt. Th.Lessing (Anm.l), S. 43. Marcel Reich-Ranicki: Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur, spricht S. 26 vom „extremen Selbsthaß" von Karl Kraus. Alfred Pfabigan: Karl Kraus und der Sozialismus. Eine politische Biographie. Wien 1976, S. 149.

Jüdischer Selbsthaß" und jüdische Selbstachtung in der deutschen Literatur

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Kirche aus, weil der Salzburger Erzbischof dem Regisseur Max Reinhardt gestattet hatte, das von Hugo von Hofmannsthal verfaßte Spiel Das Salzburger große Welttheater in der Kollegienkirche aufzuführen. Kraus lehnte den Zionismus anfangs ab, weil er den künftigen Judenstaat lediglich für „ein neues Ghetto" hielt. Er verspottete den Wiener assimilierten Literaten Theodor Herzl, der sich die Krone des „Königtums Zion" aufs Haupt setzen wolle. Den Zionisten, die, wie er meinte, die gleichen Ziele verfolgten wie die Antisemiten, nämlich „die Befreiung der Völker durch die Auswanderung der Juden nach Palästina", werde es nur gelingen, „in den ermattenden Herzen der galizischen Proleten verderbliche Gluten zu entzünden".7 Später brach Kraus seine Angriffe auf den Zionismus ab, der ihm gleichgültig wurde. In der „Fackel" kam nicht nur der Rassentheoretiker Houston Stewart Chamberlain zweimal ausführlich zu Wort,8 sondern sogar der pseudoreligiöse Rassenapostel Jörg Lanz von Liebenfels, dessen „arische Ostara-Bücherei" die Lieblingslektüre des jungen Adolf Hitler war. Lanz bescheinigte Kraus, daß dieser einem „blonden Judentypus" angehöre, „Märtyrer der publizistischen Überzeugungstreue" sei, „hervorragenden Intellekt mit einer vornehmen Gesinnung" verbinde und den „Ariogermanen wieder das Recht der öffentlichen Aussprache zurückgegeben" habe.9 Der jüdische Selbsthaß von Kraus war verknüpft mit seiner moralisierenden Kritik der Vermarktung von Literatur im kapitalistischen Kulturbetrieb. Er erblickte in der Presse eine von der jüdischen Plutokratie gesteuerte Bewußtseinsindustrie, die alle geistigen Werte zur Profitquelle machte. Kraus, der die Reinheit der Sprache als Maßstab für die Lauterkeit der Gesinnung ansah, behauptete nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie, daß der von der Presse herbeigeführte Verfall der Sprachkultur die Phantasie der Menschheit geschwächt und die Kriegskatastrophe ermöglicht habe.10 Seine Verehrung der Sprache, die er als Wunder der Schöpfung und als Wurzel alles Seins betrachtete, hing mit seinem Judentum zusammen, dem er ver-

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Karl Kraus: Eine Krone für Zion. Satirische Streitschrift gegen den Zionismus und seine Propheten, Wien 1898. Vgl. auch die Fackel, 1 Jg. Nr.ll, Juli 1899, S. 6, und ebd., 2Jg. Nr.51, August 1900, S. 15. H.St. Chamberlain: Der voraussetzungslose Mommsen, in: Die Fackel, 3 Jg. Nr.87, Ende November 1901, S. 1-13, und ders.: „Katholische" Universitäten, 3Jg. Nr.92, Mitte Jänner 1902, S. 16-32. Jörg Lanz von Liebenfels machte diese (und viele andere) lobenden Bemerkungen bei der Beantwortung einer Rundfrage über Karl Kraus, die die Zeitschrift „Der Brenner" im Juni/Juli 1913 an verschiedene Autoren gestellt hatte. Kraus druckte das Lob des Antisemiten Lanz in vollem Wortlaut nicht nur in der Fackel, 15Jg. Nr.381-383, September 1913, S. 44-46 ab, sondern wiederholte es - wenn auch mit anderer Absicht - nochmals im 35 Jg. Nr. 890-905, Ende Juli 1934, S. 102f. - Über Lanz von Liebenfels vgl. Wilfried Daim: Der Mann, der Hitler die Ideen gab. Wien 1985. Ich danke Dr. Sigurd Paul Scheichl, Innsbruck, für wertvolle Ratschläge und Informationen über die politische Haltung von Karl Kraus. Vgl. Kraus' Aufsatz „Gespenster". In: Die Fackel, 21 Jg. Nr.514-518, 1919, S. 21-86.

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zweifelt zu entrinnen hoffte: denn er wurde zwar als Jude vom Rassenantisemitismus aus dem deutschen Volkskörper verstoßen, konnte jedoch - so hoffte er - durch vollendete Sprachbeherrschung beweisen, daß er als wahrer Kulturträger Heimatrecht besaß. Der Sprachmystiker Kraus, der das klassische Schönheitsideal als unerreichten Höhepunkt ansah und überragendes stilistisches Feingefühl besaß, drang trotz seiner schonungslosen Kritik an einzelnen Personen, Mißständen und Institutionen niemals zur Erkenntnis der ökonomischen und sozialen Zusammenhänge vor und hatte wenig Einsicht in gesellschaftliche Prozesse. Sein kulturkritischer Protest war von einer antiegalitären und fortschrittspessimistischen Grundhaltung sowie von einer Sehnsucht nach aristokratischem Umgang geprägt. Auf diesem Hintergrund ist seine Liebesbeziehung mit der antisemitischen konservativen Baronin Sidonie Nádherny von Borutin zu sehen, auf deren Gut Janowitz in Böhmen er Erholung von den publizistischen Kämpfen suchte.11 Obwohl Kraus in Wirklichkeit ein antiliberaler und elitärer Kulturkonservativer war, ergaben sich aufgrund seines Pazifismus und seiner satirischen Enthüllung von Mißständen im Bereich der Presse und der Justiz gewisse Berührungen mit der Arbeiterpartei. Oft berief er sich auf einen „wahren Sozialismus", von dem er allerdings keine deutlichen Vorstellungen hatte. Die Polemik gegen die Übelstände der Republik und der Sozialdemokratie nahm in den Heften der „Fackel" in den zwanziger Jahren großen Raum ein. Als Kraus beim Machtantritt Hitlers in Deutschland zu begreifen begann, daß sein lebenslanger Kampf gegen die jüdische Presse den Nazis in die Hände gespielt hatte, erlitt er einen tiefen Schock. Schon vor dem ersten Weltkrieg hatte er bei autoritären Führerpersönlichkeiten wie dem Thronfolger Franz Ferdinand, der ihm als Prototyp eines „starken Mannes" galt, Zuflucht gesucht; nunmehr war er so verblendet, in seinem Essay Die dritte Walpurgisnacht zum Apologeten des Austrofaschismus hinabzusinken und seinem Exponenten, dem bigotten und reaktionären Millimetternich-Kanzler Engelbert Dollfuß, die Rettung Österreichs zuzutrauen.12 Es blieb Kraus, der im Juni 1936 starb, erspart zu erleben, daß seine Illusionen beim Anschluß Österreichs an Nazideutschland endgültig vernichtet wurden. Politisch weiter rechts als Kraus stand Hugo von Hofmannsthal, dessen Poesien im Wien des Fin de Siècle das Lebensgefühl und Raffinement der dekadenten und untergangsreifen Luxuswelt widerspiegelten. Er war Nachkomme einer 1835 geadelten Familie von Großhandelsherren und Bankiers, 11

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Vgl. Karl Kraus: Briefe an Sidonie Nádhemy von Borutin 1913-36. Hrsg. von Heinrich Fischer und Michael Lazarus. 2 Bde. München 1974. Der Essay „Die dritte Walpurgisnacht" wurde von Kraus im Sommer 1933 geschrieben und war als Heft der „Fackel" gedacht. Kraus veröffentlichte diese Schrift aber nicht. Sie erschien erst 1952 in München mit einem Nachwort von Heinrich Fischer..

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wuchs in Wohlhabenheit auf und empfand sein eigenes Zeitalter als permanenten Krisenzustand, in dem der Mensch nicht mehr seine humane Bestimmung universaler Geistesbildung und sittlicher Vervollkommnung erfüllen könne. Schon als Sechzehnjähriger war der frühreife Dichter von Angst vor der Brutalität der Klassenkonflikte erfüllt, befürchtete, daß rohe Proletarierfäuste seine ästhetische Traumwelt in Trümmer schlagen würden, und verabscheute die moderne Massengesellschaft mit ihren Forderungen nach sozialer Gleichheit und Nivellierung. Als nach der Begründung der Zweiten Internationale eine machtvolle Arbeiterdemonstration am l.Mai 1890 durch Wien zog, fühlte er die Kulturwerte bedroht und schrieb in einem Gedicht: Tobt der Pöbel in den Gassen, Ei, mein Kind, so laß' ihn schrei'n, Denn sein Lieben und sein Hassen Ist verächtlich und gemein! Während sie uns Zeit noch lassen, Wollen wir uns Schönerm weih'n.13

Der Poet, dessen ästhetische Utopie die soziale Wirklichkeit vermied, wich in seinen Schöpfungen in den Bereich des Irrationalen und Mythischen aus, verherrlichte die zerfallende Habsburgermonarchie und fühlte sich den ästhetischen Werten des christlichen Abendlandes verpflichtet. Sein Spiel vom Sterben des reichen Mannes: Jedermann und sein Salzburger großes Welttheater bauten auf den katholischen Kulturtraditionen auf und sollten zeigen, daß Leiden besser sei als Aufbegehren und daß der Einzelne trotz aller Wandlungen an übergeordnete, ewige, religiös-sittliche Mächte gebunden bleibe. Der sanfte Ästhet Hofmannsthal, der in seinen Schöpfungen die zeitbedingten Widersprüche und Krisen des sterbenden Vielvölkerstaates ins Zeitlose erhob, verlor mit dem Zusammenbruch Österreichs am Ende des ersten Weltkriegs die Wurzeln seines geistigen Erdreichs. Der zeitweilige Erfolg der Arbeiterbewegung nach 1918 bewog ihn, eine „Konservative Revolution" zu propagieren, die eine politische Neuordnung Europas schaffen sollte. Als der völkische und antisemitische Literaturhistoriker Josef Nadler an die Wiener Universität berufen wurde, freundete sich Hofmannsthal mit ihm an. 1922 sandte ihm der Literaturkritiker Willy Haas, der zum „Prager Kreis" gehörte und ihn seit vielen Jahren verehrte, das Manuskript eines Aufsatzes ein, der in einem Sammelband über Juden in der deutschen Literatur erscheinen sollte. In diesem Essay suchte Haas das Jüdische im Werk Hofmannsthals aufzuspüren und bezeichnete ihn als „Dichter des ahasverischen Problemkreises", dessen Helden heimatlos seien und sich auf ewiger Wanderschaft befänden. Seine Dichtung der Krisenzeit sei „Unerlöstheit" und

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Zitiert in: Jugend in Wien. Literatur um 1900. Sonderausstellung des Schiller-Nationalmuseums, Katalog 24. Hrsg. von L.Greve und W.Volke, Stuttgart 1974, S. 87.

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daher sei er ein ,repräsentativer Jude".14 Als der zartbesaitete Poet diesen Essay las, hatte er einen Wutausbruch. In einem aufgeregten Brief an Haas stellte er sich - mehr als zehn Jahre vor dem Machtantritt der Nazis - selbst einen „Ariernachweis" aus und bewies damit unfreiwillig, wie sehr er vom Antisemitismus der Umwelt angesteckt war.15 Er erklärte, daß schon sein Großvater väterlicherseits zum Christentum konvertiert sei, um „in die menschliche und allgemein anerkannte Sphäre zu treten", und eine Mailänderin aus uralter und vornehmer Familie geheiratet habe. Seine Mutter entstamme einer Familie niederösterreichischer Bauern, die „seit ungezählten Jahrhunderten im gleichen Dorf ansässig" sei.16 Bei der weitschweifigen und umständlichen Aufzählung seiner christlichen Ahnen verschwieg, ja tabuisierte Hofmannsthal die Tatsache, daß sein Adel, auf den er zeitlebens nicht wenig stolz war, auf niemanden anders zurückging als auf seinen jüdischen Urgroßvater, den reichen Habsburger Hoffaktor Isaak Low Hofmann, der im Zeitalter Metternichs in den erblichen Freihermstand erhoben worden war und den Namen von Hofmannsthal angenommen hatte. Mit der Betonung der ,3odenständigkeit" seiner mütterlichen Vorfahren wollte der Dichter offenbar die Annahme von Haas widerlegen, daß er und seine Dichtungen irgendetwas mit dem wandernden Juden Ahasver zu tun haben könnten. Hofmannsthal war außer sich vor Erregung: „Ich bin unvermögend, mich gegen Interpretationen der vagsten Art zu wehren, die Sie etwa Lust haben, aus meinen Arbeiten hervorzuspinnen" schrieb er zornentbrannt. Bisher habe er Haas für einen aufmerksamen Freund gehalten; „nun hat sich dies alles verkehrt und statt eines menschlichen Gesichtes sieht mir eine der häßlichsten Larven des .Zeitgeistes' entgegen."17 Er brach die Beziehung zu seinem langjährigen Verehrer vorläufig ab, vergaß jedoch die ihm vermeintlich angetane Beleidigung nicht und riet Haas noch zehn Monate später brieflich, die Literaturkritik aufzugeben und „sich einem ehrlichen bürgerlichen Beruf zuzuwenden.18 Noch krasser als bei Kraus und Hofmannsthal trat die Tragik des jüdischen Selbsthasses bei Egon Friedeil zutage. Werk und Persönlichkeit dieses vielseitigen Schauspielers und Kulturphilosophen sind in den letzten Jahren mehrfach gewürdigt worden. Man hat die hohe stilistische Qualität seiner farbigen und phantasievollen Kulturgeschichten ebenso gerühmt wie 14

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Vgl. Willy Haas: Hugo von Hofmannsthal. In: Gustav Krojanker (Hrsg.): Juden in der deutschen Literatur. Essays über zeitgenössische Schriftsteller. Berlin 1922. S. 139-164. Die Richtigstellung Hofmannsthals, daß der letzte Jude in seiner Familie der Urgroßvater väterlicherseits gewesen sei, findet sich auf S. 145, Anm. Brief Hofmannsthals an Haas vom 4.VI.1922. In: Hugo von Hofmannsthal/Willy Haas. Ein Briefwechsel, Berlin o J . (1968). S. 46f. Vgl. John Milfull: Juden, Österreicher und andere Deutsche. Anmerkungen zum Identitätsproblem am Beispiel der Prosa Hofmannsthals 1912-1916. In: Geschichte und Gesellschaft, 7Jg. 1981, Heft 3/4, S. 582-589. Brief Hofmannsthals an Haas vom 4.VI.1922 (Anm.15) S. 46. Ebd. S. 47. Ebd., Brief Hofmannsthals an Haas vom 6.IV.1923, S. 48.

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den Assoziationsreichtum seiner Essays und Theaterkritiken; die zahlreichen witzigen Anekdoten und pointierten Aphorismen von und über Friedeil werden von Kennern ebenso geschätzt wie die Groteske Goethe im Examen, die als einer der besten Einakter der deutschen Kleinbühne gilt. Ruhm und Beliebtheit Friedells haben einen so hohen Gipfel erklommen, daß die österreichische Postverwaltung zu seinem hundertsten Geburtstag 1978 eine Sondermarke mit seinem Konterfei herausgab. Bisher wurde jedoch die politische und ideologische Einstellung Friedells ebensowenig untersucht wie sein jüdischer Selbsthaß.19 Seinen ursprünglichen Familiennamen Friedmann, der jüdisch klang, änderte er als Neunzehnjähriger 1897 in Friedell um und ließ sich im gleichen Jahr taufen. Vor dem ersten Weltkrieg gehörte er gemeinsam mit den beiden jüdischen Literaten Alfred Polgar und Peter Altenberg zum Mittelpunkt der Wiener Bohème, betätigte sich als Schauspieler und Theaterkritiker und war eine Zeitlang künstlerischer Leiter des Kabaretts ,.Fledermaus". Im Weltkrieg veranstaltete er eine Serie von Vortragsabenden in der Wiener „Urania", wo er patriotische Kriegsbegeisterung zu entfachen versuchte, die kulturelle Überlegenheit der Mittelmächte über ihre Gegner hervorhob und behauptete, daß Deutschland nach dem Endsieg die politische Herrschaft über ganz Europa antreten werde. Der militärische Zusammenbruch und die revolutionären Massenbewegungen erschütterten ihn zutiefst; in einem seiner Essays erklärte er, alle Revolutionen seien „etwas sinnlos Zerstörendes, wild Animalisches, schaudererregend Häßliches".20 Friedells dreibändige Kulturgeschichte der Neuzeit, die seit 1927 erschien, entsprach dem Publikumsgeschmack und machte ihn weit über die Grenzen Österreichs zu einem berühmten Mann. Er verkündete dort, daß „die geistige und moralische Zukunft Europas" bei Deutschland liege,21 das sich infolge seines „tiefen germanischen Ethos" 22 einen „unvergänglichen Ruhmestitel" im Reiche des Geistes errungen habe; Rußland sei „das Chaos" und gehöre „überhaupt nicht zu Europa", während Frankreich „sich in schleichendem, aber unaufhaltsamem Niedergang" befinde. 23 Er war von der prinzipiellen Höherwertigkeit des Deutschtums über alle andern Völker ebenso 19

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Friedells jüdischer Selbsthaß ist erstmals vom amerikanischen Historiker Gordon Patterson in seiner Dissertation „The Misunderstood Clown: Egon Friedell and his Vienna" (masch.. University of California, Los Angeles 1979) gründlich untersucht worden. Vgl. G.Patterson: Race and Antisemitism in the Life and Work of Egon Friedell. In: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte, 10Jg„ Tel Aviv 1981, S. 319-339. Egon Friedell: Dubary. In: Die Weltbühne, 17Jg„ Nr.18, 1921, S. 271, zitiert bei G .Patterson (Anm.l9), S. 324. Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum ersten Weltkrieg. München, l.Band 1927, 2.Bd. 1928, 3.Bd. 1931. Es wird nach der einbändigen Ausgabe, 53.-55.Tausend der Gesamtauflage, München o J . (ca. 1960) zitiert; S. 1225. Ebd. S. 600. Ebd. S. 1225.

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überzeugt wie von dem Glauben, daß „große Männer Geschichte machen". Friedrich der Große und Bismarck galten ihm als „unüberwindliche Helden";24 dem Preußenkönig bescheinigte er, daß „alle seine Einzelhandlungen, im Gegensatz zu denen seiner gekrönten Rivalen, ideenreich, geistvoll und sinnerfüllt waren",25 ebenso sei Bismarcks Politik eine „ M i s c h u n g aus Realismus und Idealismus, aus anpassungskräftiger Elastizität und unerschütterlicher Prinzipientreue" gewesen.26 Friedells Kulturgeschichte predigte Irrationalismus und war von vehementem Judenhaß erfüllt. In der Neuzeit und ihren Errungenschaften erblickte er nichts anderes als „die Ära des finstersten, unfruchtbarsten und borniertesten Aberglaubens der bisherigen Geschichte". Er prophezeite, daß der Mensch der Zukunft ,4m Besitz einer exakten Astrologie" und „eines genauen und ständigen Rapports mit höheren Geistern" sein werde.27 Der Rationalismus galt Friedell als ein „Giftkörper", der „zu Beginn der Neuzeit in die europäische Menschheit eintrat"28 und „eine der rudimentärsten, primitivsten und infantilsten Geistesperioden" hervorgebracht habe.29 An dier ser verderblichen Ausbreitung der Vemunftlehren seien großenteils die Juden schuld. Der jüdische Aufklärer Moses Mendelssohn sei eine Erscheinung, in der „in einer letzten modernsten Maskierung das Ressentiment der Juden gegen den Heiland, verbunden mit der fanatischen Anbetung des 2 x 2 = 4 und der Rentenrechnung, der jüdische Haß gegen die Idealität, gegen das Geheimnis, gegen Gott" erkennbar sei.30 Der Geist des Judentums bleibe immer rationalistisch; „die Annahme, daß die Wirklichkeit aus jenen Dingen bestehe, die man beweisen, womöglich abtasten kann: dieser himmelschreiende Nonsens ist eine jüdische Erfindung."30 Friedell, der die materialistische Geschichtsauffassung von Karl Marx für eine „barbarische Banalität"31 hielt, schleuderte seinen Bannstrahl auch auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds, die er eine .jüdische Wissenschaft" nannte. In ihr scheint in der Tat jenes odium generis humani - der Haß des Menschengeschlechts - das schon die Alten den Juden nachsagten, wieder einmal zu Wort gekommen zu sein: ihr Ziel ist ganz unverhüllt die Verhäßlichung und Entgötterung der Welt.

Friedell zitierte Nietzsche, der gesagt habe, daß mit den Juden der Sklavenaufstand in der Moral beginne, und fuhrt fort: 24 25 26 27 28 29 30 31

Ebd. S. 604. Ebd. S. 600. Ebd. S. 1235. Alle drei Zitate S. 239. Ebd. S. 479. Ebd. S. 240. Ebd. S. 679, auch das folgende Zitat. Ebd. S. 1209.

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Mit der Psychoanalyse beginnt der Sklavenaufstand der Amoral. [...] Ihre Konzeption wächst aus dem Herrschwunsch des Neurotikers, der sich die Menschheit zu unterwerfen sucht [...], weil er unterbewußt weiß, daß er als Jude und das heißt: als typischer homo itTeligiosus, auf diesem Gebiet mit den andern nicht konkurrieren kann.

Bei der Psychoanalyse handle es sich „um einen großartigen Infektionsversuch, einen schleichenden Racheakt der Schlechtweggekommenen", sie verkünde „den Anbruch des Satansreichs" und sei nichts anderes als eine .jüdische Umwertung der Werte".32 Als die Nazis in Deutschland die Macht übernahmen, bastelte sich Frieden eine eigene „Rassentheorie" zusammen, um der Schande seiner jüdischen Herkunft zu entgehen. Gingen die deutsch-völkischen Rassisten davon aus, daß die unveränderbare Abstammung von jüdischen Eltern das entscheidende Kriterium des Jude-Seins sei, so meinte Friedell, der freie Wille des betroffenen Individuums genüge, um als „Arier" anerkannt zu werden. In seiner Kulturgeschichte des Altertums, deren ersten Band er einem Bewunderer Hitlers, dem norwegischen Schriftsteller Knut Hamsun, widmete, berief sich Friedell auf den Rassentheoretiker H.St.Chamberlain und behauptete, der Talmud habe eine „mosaische Rasse" erzeugt, die sich sowohl in „gewissen geistigen und seelischen Eigenschaften" als auch in „physiologischen Merkmalen" manifestiere: Man braucht nicht die authentische Hethiternase zu besitzen, um Jude zu sein, vielmehr bezeichnet dieses Wort vor allem eine besondere Art, zu fühlen und zu denken; ein Mensch kann sehr schnell, ohne Israelit zu sein, Jude werden, [...] andererseits ist es sinnlos, einen Israeliten echtester Abstammung, dem es gelungen ist, die Fesseln Esras und Nehemias abzuwerfen, in dessen Kopf das Gesetz Mosis und in dessen Herzen die Verachtung anderer keine Stätte mehr findet, einen Juden zu nennen. 33

Diese Selbsterniedrigung zielte darauf ab, mit den braunen Machthabern zu einem Arrangement zu gelangen. In einem Brief an den Nazischriftsteller Hanns Saßmann versuchte sich Friedell anzubiedern, schlug vor, sein nächstes Buch bei einem „nationalsozialistischen Verlag" zu veröffentlichen und behauptete, er habe mit den „verschmockten und frivolen Jouijuden" nichts zu tun, weil er niemals in seinem „Leben mit einem Nichtchristen befreundet" gewesen sei.34 Die Nazis scherten sich keinen Pfifferling um Friedells „Rassentheorie" und ließen sein flehentliches Werben unbeantwortet. Als fünf Tage nach dem Anschluß Österreichs an Nazideutschland, dem 16.März 1938, einige SA-Männer bei Friedell eindrangen, um ihn zu verhaften, er32 33 34

Ebd. alle Zitate S. 1518. Egon Friedell: Kulturgeschichte Ägyptens und des alten Orients. München 1936, S. 92. Die Zitate aus einem unveröffentlichten Brief Friedells an Saßmann (geschrieben 1935) finden sich bei G Patterson: Race and Antisemitism in the Life and Work of Egon Friedell (Anm.19) S. 334.

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kannte er, daß seine Versuche, der jüdischen Schicksalsgemeinschaft zu entrinnen, vergeblich waren und sprang von einem Fenster seiner Wohnung in den Tod. Waren bei den bisher genannten Geistesgrößen die Wirkungen der in Wien verbreiteten antisemitischen Hetze unverkennbar, so kann man den jüdischen Selbsthaß Walther Rathenaus als Folge einer unvollkommenen Integration in die politisch und sozial maßgebende Gesellschaftsschicht des Wilhelminischen Reiches ansehen. Er wuchs als Sohn des Begründers der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft in einer Berliner akkulturierten Patrizierfamilie auf, die von der großbürgerlich-adeligen Elite als vollwertiges Mitglied anerkannt sein wollte. Obwohl Rathenau zu Zugeständnissen an die Arbeiterbewegung bereit war, hielt er den von der Sozialdemokratie angestrebten Staat für „eine gesetzliche Zwangsanstalt, die den Starken und Begabten zwingt, die Früchte seines Lebens auszuliefern, damit Schwache und Unbefähigte Muße finden, ihn durch Mehrheit zu beherrschen".35 Er glaubte, daß das Volk nur unter Kontrolle und Leitung einer aristokratischen Oberschicht zu Leistungen fähig sei, die in einer Demokratie ausbleiben müßten. Sein Bekenntnis zu einer „germanischen Gesinnung" verband sich mit dem Bestreben, das Großbürgertum auf die Werte und Ideale des traditionellen Geburtsadels zu verpflichten, ein nationales Sendungsbewußtsein zu wecken und den deutschen Hegemonialanspruch in Europa durchzusetzen. Er war Anhänger der Kulturphilosophie des französischen Rassentheoretikers Gobineau, wandelte jedoch dessen fatalistischen Mythos vom „Untergang der arischen Edelrasse durch ständige Blutsmischung" in ein Argument für die Notwendigkeit der Etablierung der neuen, bürgerlichadeligen Elite um und verlieh dem statischen Rassebegriff dadurch einen dynamischen, sozialdarwinistischen Charakter. In seiner Abhandlung Zur Kritik der Zeit schrieb Rathenau der „nordisch-germanischen Auslese höchster Menschenrassen" entscheidende Führungs- und Erziehungsfunktionen zu, die der Legitimierung „europäischer Kulturarbeit" in den Kolonien dienen sollten.36

35

36

Walther Rathenau: Zur Mechanik des Geistes, Kapitel „Die Pragmatik der Seele". In: Rathenau, Hauptwerke und Gespräche. (Hrsg. von Emst Schulin. Walther Rathenau Gesamtausgabe, Bd.II). München und Heidelberg 1977. S. 266-295, Zitat S. 275. Über Rathenau vgl. Emst Schulin: Waither Rathenau. Repräsentant, Kritiker und Opfer seiner Zeit. Göttingen 1979; Hans Dieter Hellige: Rathenau und Harden in der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs. Eine sozialgeschichtlich-biographische Studie zur Entstehung neokonservativer Positionen bei Unternehmern und Intellektuellen. In: Walther RathenauMaximilian Harden, Briefwechsel 1897-1920 (Waither Rathenau Gesamtausgabe, Bd.VI). München und Heidelberg 1983. S. 15-299. Walther Rathenau: Zur Kritik der Zeit, Kapitel „Der Mensch im Zeitalter der Mechanisierung und Entgermanisierung". In: Walther Rathenau, Hauptwerke und Gespräche. (Hrsg. von Emst Schulin. Walther Rathenau Gesamtausgabe, Bd.II). München und Heidelberg 1977. S. 70ff.

„Jüdischer Selbsthaß" und jüdische Selbstachtung in der deutschen Literatur

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Rathenau litt daran, daß ihm die judenfeindliche Umwelt die Verwirklichung seines Herzenswunsches versagte, aktiver Offizier bei den preußischen Gardekürassieren zu werden. In seiner Schrift Staat und Judentum hieß es: In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und daß keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.37

Er erklärte zwar 1895 beim Berliner Amtsgericht seinen Austritt aus dem Judentum, ließ sich jedoch nicht taufen, weil er die Konversion aus Karrieregründen für unehrenhaft hielt. Da er sich auch weiterhin mit der adeligen Oberschicht solidarisierte, verfiel er in eine tiefe psychische Krise und entwickelte Haßgefühle gegen das Judentum. Dies kam in seinem Aufruf Höre Israel zum Ausdruck, den er im Jahre 1897 unter dem Pseudonym „W.Hartenau" in der Zeitschrift Maximilian Hardens „Die Zukunft" veröffentlichte.38 Dieser Aufsatz richtete sich sowohl gegen die Protzerei jüdischer Neureicher als auch gegen die aus Rußland und Polen in Deutschland einströmenden handeltreibenden und wenig bemittelten Ostjuden, die die Assimilation der alteingesessenen jüdischen Patrizier untergruben. Rathenau plädierte für die „bewußte Selbsterziehung" der Juden und für ihre „Anartung" an die „Stammeseigenschaften des Gastlandes", um die Werte und das Verhalten der „militärisch straff erzogenen und gezüchteten", angeblich rassisch höherwertigen preußischen Aristokratie nachvollziehen zu können.39 Er forderte gänzliche Assimilation, um im Deutschtum untertauchen zu können, denn die Erhaltung des Judentums bestehe lediglich aus sinnlos gewordenen Riten und Gesetzen und sei nichts anderes als ein Stück verstorbener Orient inmitten der blühenden abendländischen Kultur. In seinem Selbsthaß schreckte Rathenau vor den übelsten rassistischen Stereotypen nicht zurück; er bezeichnete die deutschen Juden als eine „asiatische Horde" und rief aus: Seht euch in den Spiegel! [...] Habt ihr erst euren unkonstruktiven Bau, die hohen Schultern, die ungelenken Füße, die weiche Rundlichkeit der Formen als Zeichen körperlichen Verfalls erkannt, so werdet ihr einmal ein paar Generationen an eurer äußeren Wiedergeburt arbeiten!40

Rathenau distanzierte sich später von diesem Dokument extremen jüdischen Selbsthasses und griff in seinem Aufsatz Staat und Judentum (1911) die 37 38 39

40

Walther Rathenau: Gesammelte Schriften. Berlin 1925. Bd.l, S. 188f. Der Aufsatz „Höre Israel!" erschien am 6.März 1897 in der „Zukunft". Vgl. Emst Schulin: Walther Rathenau und sein Integrationsversuch als „Deutscher jüdischen Stammes". In: Walter Grab (Hrsg.): Jüdische Integraüon und Identität in Deutschland und Österreich 1848-1918. Beiheft 6 des Jahrbuchs des Instituts für deutsche Geschichte, Tel Aviv 1983, S. 13-40. Die Zitate sind dem Aufsatz Rathenaus „Höre Israel!" entnommen.

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Judenpolitik Preußens an, die die Juden aus dem Staatsdienst ausschaltete und in die Arme der Liberalen und Sozialdemokraten trieb. In einem im Weltkrieg erschienenen Aufruf An Deutschlands Jugend bezeichnete er sich als „Deutscher jüdischen Stammes".41 Er schuf das wirtschaftliche Fundament für eine längere Kriegsführung, indem er die wichtigsten Rohstoffe staatlich beaufsichtigen ließ und die deutsche Industrie planwirtschaftlich umbildete. 1921 wurde er zum Minister für Wiederaufbau, am Anfang des nächsten Jahres zum Außenminister ernannt. Bis zu seiner Ermordung durch nationalistische Fanatiker hielt er an seiner Verehrung des blonden arischen Herrenmenschen fest; obwohl er zum Märtyrer der Weimarer Republik wurde, war er ideologisch infolge seiner Hochschätzung einer hierarchischen Staatsund Lebensordnung und seiner Verachtung von „Fremdstämmigen" von seinen Mördern nicht weit entfernt. Ich verlasse nun die Problematik des jüdischen Selbst/nasses und komme im zweiten Teil meines Vortrags auf die jüdische Selbstachtung linksgerichteter Publizisten und Schriftsteller zu sprechen. Der libertäre Sozialist und anarchistische Kulturphilosoph Gustav Landauer, der 1870 als Sprößling einer assimilierten Familie in Karlsruhe geboren wurde und 1919 als Opfer der Konterrevolution in München starb, war Apostel der Gewaltlosigkeit. Er strebte die Errichtung einer auf gegenseitiger Hilfe beruhenden herrschaftsfreien und sittlichen Gemeinschaft an, die die Isolierung und Entfremdung der Menschen aufheben sollte. Als Anhänger der direkten Demokratie, bei der die gewählten Mandatare unmittelbar dem Volk verantwortlich sein sollten, lehnte er die Institutionen des Parlamentarismus und der politischen Parteien ab und forderte, die Bevölkerung zu politischem Bewußtsein zu erziehen, damit sie an allen Entscheidungen, die ihr Leben bestimmten, selbst teilnehmen könnte.42 Sein humanistischer und individualistischer Anarchismus unterschied sich grundsätzlich vom Sozialismus marxistischer Prägung. Er teilte nicht die Auffassung der Marxisten, daß die technischen Erfindungen der Menschheit zum Segen gereichten, und glaubte auch nicht an den naturgesetzlichen und damit wissenschaftlich vorhersehbaren Übergang des Kapitalismus zum Sozialismus. Auch der Lehre vom Klassenkampf, der zur Diktatur des Proletariats führen sollte, widersprach Landauer, weil er jede Art von Diktatur ablehnte und sich keine Illusionen über die revolutionäre Fähigkeit der Arbeiterklasse machte. Er betonte, daß jede staatliche Zwangsherrschaft dazu tendierte, die Individualität zu unterdrücken und die „Gewalt des Geistes" zu entkräften. Er forderte zwar die Revolution, verlieh diesem Begriff jedoch einen geistigen, 41 42

Wie Anm.39. Der Aufruf „An Deutschlands Jugend" wurde 1918 geschrieben. Vgl. Eugene Lunn: Prophet of Community. The Romantic Socialism of Gustav Landauer. Berkeley and Los Angeles 1973; Norbert Altenhofen Tradition als Revolution. Gustav Landauers „geworden-werdendes" Judentum. In: David Bronsen (Hrsg.): Jews and Germans from 1860 to 1933. The Problematic Symbiosis, Heidelberg 1979. S. 173-208.

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keinen politischen Inhalt, und erblickte die Hauptaufgabe des Anarchismus darin, der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen Einhalt zu gebieten. Er begriff den gesamten Geschichtsablauf als eine Folge von Revolutionen, wobei das unruhestiftende Element die immer wiederkehrenden Versuche der Menschheit sind, sich von Unrecht, staatlicher Willkür und Gewalt zu befreien und zu neuen, utopischen, aber möglich erscheinenden Lebensformen zu greifen. Die Revolution sollte - nach seinen, zwei Wochen vor seiner Ermordung geäußerten Worten - „Zustände schaffen, die jedem Menschen gestatten, an den Gütern der Erde und der Kultur teilzunehmen".43 Landauers geschichtsphilosophische und gesellschaftstheoretische Positionen waren bereits ausgebildet, als er 1908 Martin Bubers Chassidische Erzählungen kennenlernte und sich mit Tradition und Problematik des Judentums intensiv zu beschäftigen begann. Er war fasziniert und schrieb: Nirgends so wie vom Denken und Dichten Martin Bubers kann der Jude lernen, [...] daß das Judentum eine unverlierbare innere Eigenschaft ist, deren Gleichheit eine Zahl Individuen zu einer Gemeinschaft verbindet.44 Landauers Aufruf zum Sozialismus, den er 1911 verfaßte, bezeugt die Aneignung der durch Buber vermittelten Tradition des Judentums als einer geschichtlichen Gestalt der Revolutionsidee. Er begriff die jüdische Diaspora nicht als Fluch, sondern als historische Chance, forderte die Rückbesinnung auf die revolutionären Elemente der jüdischen Prophetie und Mystik, und kritisierte sowohl die Assimilanten als auch die Zionisten, weil weder die Übernahme des Nationalismus anderer Völker noch auch die Verwestlichung und Gier nach materiellen Werten zur Lösung der Judenfrage beitragen könne. Laut Landauer führte der Weg zur befreiten Menschheit für die Juden über die Wiedergewinnung ihrer jüdischen Identität. Eben weil die Juden keine politische Macht besäßen und in verschiedenen Kulturkreisen lebten, seien sie nicht obrigkeitshörig und daher dazu berufen, den Ideen der Humanität, der Menschheitsverbrüderung und des Universalismus Geltung zu verschaffen. Landauers Verehrung der Erhabenheit und Ethik der jüdischen Tradition entsprach der Geringschätzung, mit der er die Assimilanten beurteilte, die sich ihrer jüdischen Herkunft schämten. Als .Judennot" empfand Landauer die Not der assimilierten Westjuden, die ihren ethnischen Ursprüngen entfremdet waren, nicht aber der Ostjuden, die an ihrem kulturellen und religiösen Erbe festhielten.45 In einer Debatte mit den jüdischen Literaturkriti43

44

45

Martin Buber (Hrsg.): Gustav Landauer, sein Lebensweg in Briefen, unter Mitwirkung von Ina Britschen-Schimmer. 2 Bde. Frankfurt/M. 1929, Bd.2, Brief an Buber vom ló.April 1919. Das Zitat stammt aus einer Besprechung Landauers über Bubers Buch „Die Legende des Baalschem" (1910), vgl. N.Altenhofer (Anm.42), S. 178. Vgl. Elkana Margalith: The Dilemmas of Gustav Landauer. In: Walter Grab (Hrsg.):

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kern Julius Bab und Fritz Mauthner, die sich als Deutsche empfanden und die Erneuerung der jüdischen Volkskultur ablehnten, verfaßte Landauer den Aufsatz Sind das Ketzergedanken?, in dem er sein Weltbürgertum mit seiner Bejahung der jüdischen Tradition zu verknüpfen suchte. Dort heißt es: Mein Deutschtum und Judentum tun einander nichts zuleid und vieles zulieb. Wie zwei Brüder [...] von einer Mutter [...] in gleichem Maße geliebt werden, [...] so erlebe ich dieses seltsame und vertraute Nebeneinander als ein Köstliches und kenne in diesem Verhalten nichts Primäres oder Sekundäres. [...] Meine und meiner Kinder Sprache ist deutsch. Mein Judentum spüre ich in meiner Mimik, in meinem Gesichtsausdruck, meiner Haltung, meinem Aussehen und so geben diese Zeichen mir die Gewißheit, daß es in allem lebt, was ich beginne und bin. [...] Wie ein wilder Schrei über die Welt hin und wie eine kaum flüsternde Stimme in unserem Innersten sagt uns unabweisbar eine Stimme, daß der Jude nur zugleich mit der Menschheit erlöst werden kann und daß es ein und dasselbe ist: auf den Messias in Verbannung und Zerstreuung zu harren und der Messias der Völker zu sein. 46

In einem Aufsatz, den Landauer 1913 in seiner Zeitschrift „Der Sozialist" anläßlich des russischen Ritualmordprozesses von Mendel Beilis publizierte, sprach er nicht nur mit Hochachtung von der ostjüdischen Bewahrung der Tradition, sondern kam auch auf die Perspektive des Verhältnisses zwischen Deutschen und Juden zu sprechen, das er angesichts der antisemitischen Hetze skeptisch beurteilte; er schloß eine mögliche Katastrophe nicht aus. Auch im Jahre 1916, als viele deutsche Juden das Einströmen von polnischen Juden nach Deutschland als peinlich empfanden und befürchteten, daß dies ihre eigene Assimilation beeinträchtigen könnte, verteidigte Landauer die Ostjuden. Im Gegensatz zu Martin Buber lehnte er es ab, den Weltkrieg als Symbol deutsch-jüdischer Schicksalsgemeinschaft zu interpretieren. Damit gab Buber nach Landauers Meinung das preis, was die Einzigartigkeit des Judentums ausmachte: geistige Gemeinschaft und sittlicher Bund, aber nicht Staatsvolk zu sein. Diese Auffassung entsprach dem Abschluß seines Aufsatzes Sind das Ketzergedanken?, in dem er sein entschiedenstes Bekenntnis zum Judentum ablegte: Die Nationen, die sich zu Staaten abgegrenzt haben, haben draußen Nachbarn, die ihre Feinde sind; die jüdische Nation hat die Nachbarn in der eigenen Brust, und diese Nachbargenossenschaft ist Friede und Einheit. Sollte das nicht ein Zeichen sein des Berufs, den das Judentum an der Menschheit zu erfüllen hat?47

Auch Lion Feuchtwanger, der Sproß einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie in München, schrieb dem Judentum die Mission zu, die Menschheit von materiellen und geistigen Fesseln zu befreien. Der Schriftsteller, der 1907

44

47

Juden und jüdische Aspekte in der deutschen Arbeiterbewegung 1848-1918. Beiheft 2 des Jahrbuchs des Instituts für deutsche Geschichte, Tel Aviv 1977, S. 131-146. Gustav Landauer: Sind das Ketzergedanken? In: Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba (Hrsg.): Vom Judentum. Ein Sammelband. Leipzig 1913. S. 250-257, Zitate S. 254f. Ebd. S. 256f.

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seine Doktorarbeit über Heines Rabbi von Bacharach schrieb, legte in seinen Romanen den Akzent auf die historische Einkleidung einer aktuellen Thematik und politischen Gegenwartsbotschaft. Er war ein Propagandist der Aufklärung, der gegen irrationale und restaurative Tendenzen zu Felde zog und es unternahm, die Wesenszüge seiner eigenen Epoche in ein historisches Gewand zu kleiden, um den Sieg des Fortschritts und der Vernunft zu deuten. Obwohl er dem historischen Materialismus wesentliche Anregungen für sein Weltbild verdankte, war er kein Marxist. Er erblickte in der historischen Entwicklung nicht die Geschichte von Klassenkämpfen, sondern vielmehr den Kampf einer winzigen, aber urteilsfähigen Minderheit gegen die kompakte Majorität der Gewalttätigen und Ignoranten, die nur ihrem blinden Instinkt folgen. Für die Wahl seiner Stoffe gab die wirkliche oder vermeintliche Analogie zwischen Ereignissen der Vergangenheit und der Gegenwart den Ausschlag.48 Feuchtwanger wurde durch seinen Mitte der zwanziger Jahre veröffentlichten Roman Jud Süß berühmt, den er als Anklage gegen den Antisemitismus verstanden wissen wollte. In seinem Buch Erfolg zeichnete er mit Präzision und Hellsichtigkeit die Exponenten, Drahtzieher und Hintermänner der entstehenden Nazibewegung in Bayern und warnte vor den Gefahren, die die Weimarer Republik mit Vernichtung bedrohten. Auch nach der Machtübernahme der Nazis, als Feuchtwanger im französischen und seit 1940 im amerikanischen Exil lebte, blieb er ein Optimist des Aufklärungsglaubens, obwohl sich der Umschlag des Fortschritts in Barbarei während des zweiten Weltkriegs vor aller Augen sichtbar vollzog. Während seiner französischen Emigration nahm der Schriftsteller an einigen antifaschistischen Kongressen teil und war führendes Mitglied von Hilfskomitees für Opfer der Nazidiktatur. Er wurde zu einem Besuch der Sowjetunion eingeladen und legte in seinem Reisebericht Moskau 1937 ein Bekenntnis zu den dortigen welthistorischen Aufbauleistungen ab. Er erwähnte kein Wort von Massenverhaftungen, Terror und Intemierungslagern, hielt jedoch die Judenfrage in der Sowjetunion für gelöst und glaubte, daß Stalin der richtige Mann sei, um den vernunftgemäßen Weg zu einer Ordnung sozialistischer Gerechtigkeit zu beschreiten.49 Zweifellos enthielt dieser „Reisebericht" eine Fülle von gravierenden Fehlurteilen; man muß allerdings bedenken, daß Feuchtwanger von der Beschwichtigungspolitik der konservativen Regierungen Englands und Frankreichs äußerst bedrückt 48

49

Vgl. Kurt Böttcher und Paul Günter Krohn (Bearb.): Lion Feuchtwanger. Berlin/DDR 1960; Lothar Kahn: Insight and Action. The Life and Work of Lion Feuchtwanger. Cranbury, NJ. 1975; Hans-Albert Walter: Der falsche Franklin oder ein echter Feuchtwanger. Kritische Bemerkungen zu einem Bestsellerroman der Exilliteratur. In: Lion Feuchtwanger: Waffen für Amerika. 2 Bde., Frankfurt/M. 1986. Bd.2, S. 357-463. „Moskau 1937" wurde seit der Erstauflage nicht mehr publiziert und nicht in die Ausgabe von Feuchtwangers Werken zu seinem lOO.Geburtstag 1984 (Fischer Verlag, Frankfurt) aufgenommen.

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war, die den Nazis eine Konzession nach der andern machte und mit Hitler zu einer Verständigung kommen wollte. In seinem erzählerischen Werk war Feuchtwanger oft bestrebt, Verständnis für das Judentum zu vermitteln und die Ursachen des Antisemitismus zu analysieren. In seinem Aufsatz Die Verjudung der abendländischen Literatur hob er hervor, daß das jüdische Volk infolge seiner Geschichte besonders zu eminenten literarischen Leistungen befähigt sei. Der ständige Zwang, sich zu verteidigen, [...] machte den Juden zum Rhetor und lehrte ihn alle Mittel des rednerischen und literarischen Effekts. Die ständige Abhängigkeit von andern machte ihn zum Psychologen, hieß ihn mit Takt die Stimmung des andern erforschen, sich in ihn einfühlen, dem Gegner gerecht zu werden. Die Not zwang ihn, die Ursachen seiner Leiden zu suchen, sie klar zu sehen und zu benennen. 50

Durch Feuchtwangers Werk zieht sich die Idee, daß dem jüdischen Geist, der mit Vernunft, Aufklärung und Humanismus identisch ist, eine fortschrittliche „messianische Sendung" zukommt. Der Jude Süß Oppenheimer, dem Feuchtwanger Charakterzüge Walther Rathenaus verlieh, wandelt sich vom skrupellosen und machthungrigen Höfling zum moralischen und aufgeklärten Weltweisen, der den Konflikten der Gewalthaber zum Opfer fällt. Damit wollte der Schriftsteller zeigen, wie das von Juden repräsentierte zeitlose geistige Prinzip der Vernunft von der komipten, amoralischen und zeitlich begrenzten Macht, die eitle und vergebliche Ziele anstrebt, zum Schweigen gebracht wird.51 In seiner Trilogie Der jüdische Krieg suchte Feuchtwanger ursprünglich am Beispiel des Geschichtsschreibers Flavius Josephus, eines kosmopolitischen Juden, die Überlegenheit des humanistischen Weltbürgertums über den nationalistischen Wahnwitz darzustellen. Nach der Machtübernahme der Nazis und dem Beginn seines Exils änderte er jedoch seine Konzeption. Der am kaiserlichen Hof in Rom lebende opportunistische Josephus wird ein Kämpfer gegen die Gewaltherrschaft des despotischen Kaisers Domitian. Er wandelt sich vom Weltbürger zum jüdischen Patrioten, geht in seine Heimat zurück, unterstützt den Verzweiflungskampf seines Volkes und kommt dabei um. Die gegenwartsbezogene Aussage lautete, daß Sittlichkeit und Kultur in Zeiten der Barbarei und der tyrannischen Unterdrückung nicht nur mit geistigen Mitteln, sondern mit Waffengewalt bis zur Selbstaufopferung verteidigt werden müssen. In seinem Roman Die Jüdin von Toledo wollte Feuchtwanger demonstrieren, daß Juden nur solange von den Machthabern als Motoren der Modernisierung eingesetzt werden, als sie ihnen Nutzen bringen, sodann aber 50

51

Lion Feuchtwanger: Die Verjudung der abendländischen Literatur. In: ders., Ein Buch nur für meine Freunde. Frankfurt 1984, S. 431-436, Zitat S. 436. Vgl. Lion Feuchtwanger: Über ,Jud Süß" (1929). In: ders., Ein Buch nur für meine Freunde (Anm.50), S. 379-382.

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als Sündenböcke aus der Gesellschaft ausgestoßen und physisch vernichtet werden. Der jüdische Finanzminister Jehuda Ibn Esra, dessen Tochter Rachel Geliebte des kastilischen Königs ist, verkörpert Vernunft, Sittlichkeit und Friedenssehnsucht, wird jedoch aus Staatsräson vom König den stupiden und kriegerischen Rittern zum Opfer gebracht und getötet. - In seinem letzten Roman, Jefta und seine Tochter, erzählte Feuchtwanger eine im Buch der Richter überlieferte Begebenheit von der Opferung der Tochter durch den eigenen Vater - übrigens ein Motiv, das er schon in Jud Süß verwendet hatte. Dabei suchte er den Gegenwartsbezug zu gestalten, indem er die trotz aller Verfolgungen ungebrochene Einheit des jüdischen Volkes und die Notwendigkeit seines Kampfs um Frieden und Freiheit betonte. Ein enger Freund Feuchtwangers war Arnold Zweig, der einer in Schlesien lebenden mittelständischen assimilierten Familie entstammte und seit seiner Jugend nationaljüdischen Ideen zuneigte. Schon in seiner im Alter von 22 Jahren 1909 verfaßten Novelle Aufzeichnungen über eine Familie Klopfer stellte er das Schicksal einer jüdischen Familie dar, die durch den Antisemitismus entwurzelt und zerrüttet wird und in der Urheimat Palästina eine Wiedergeburt des Judentums zu erlangen hofft. 52 Zweig stand seit 1912 mit Martin Buber in Kontakt, von dessen Chassidischen Erzählungen und Idealisierung des Ostjudentums er ähnlich beeinflußt wurde wie Gustav Landauer. In den ersten Kriegsjahren diente Zweig als Armierungssoldat in Belgien und Frankreich und schrieb einige Erzählungen voll deutschem Hurrapatriotismus. Als er 1917 an die Ostfront versetzt wurde, hatte er Gelegenheit, das polnische und litauische Judentum kennenzulemen. In seinem reich mit Lithographien illustrierten Buch Das ostjüdische Antlitz, das 1920 erschien, sang Zweig ein Loblied auf die Lebenskraft und Begeisterungsfähigkeit der jüdischen Jugend Osteuropas und meinte, daß in Palästina eine Gemeinschaft entstehen werde, die die Ideen der nationalen Wiedergeburt und des Sozialismus miteinander verbinden könne. Zweig, der in der Weimarer Republik keiner politischen Partei angehörte, sich aber als „linksstehenden Autor" bezeichnete, arbeitete an Martin Bubers Zeitschrift „Der Jude" mit und untersuchte in zahlreichen Essays und Vorträgen Aspekte der jüdischen Problematik. In seiner Abhandlung Das neue Kanaan legte er ein Bekenntnis zum Zionismus ab und betonte, daß das nationale Heim der Juden „nur unter dem Beifall der Araber Palästinas gebaut werden" könne.53 Im Gegensatz zu Feuchtwanger schrieb Zweig dem Judentum keine welthistorische Befreiungsmission zu; er meinte aber, daß die Juden infolge ihrer religiösen Verfolgungen und ökonomischen Funktionen im Feudalzeitalter ein stärkeres Gerechtigkeitsgefühl und eine

52

53

Vgl. Manuel Wiznitzer: Arnold Zweig. Das Leben eines deutsch-jüdischen Schriftstellers. Frankfurt/M. 1987. S. 21f. Ebd. S. 35.

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größere geistige Beweglichkeit als andere Völker ausgebildet hätten.54 Um die religiöse und rassistische Judenfeindschaft zu erklären, machte er sich mit den Lehren der Psychoanalyse bekannt. In seinem 1927 erschienenen Buch Caliban oder Politik und Leidenschaft, das er Sigmund Freud widmete, führte er die Irrationalität des antisemitischen Gruppenaffekts sowohl auf soziale als auch auf psychologische Ursachen zurück.55 In seinem Romanwerk, insbesondere der Tetralogie Der große Krieg der weißen Männer, stellte Zweig assimilierte deutsche Juden in den Mittelpunkt und griff dabei oft auf seine eigenen Kriegserlebnisse zurück. Er hob meist ihre Ethik und Menschenfreundschaft hervor; seine Kritik beschränkte sich auf übertriebene deutschnationale Gesinnung von Juden, wie etwa beim Kriegsgerichtsrat Posnanski, der den Soldaten Grischa zum Tode verurteilt. Arnold Zweig war der einzige bedeutende deutsch-jüdische Schriftsteller, der nach der Machtübernahme der Nazis nach Palästina auswanderte. In der Bilanz der deutschen Judenheit, die er Ende 1933 als sein erneutes Bekenntnis zur jüdischen Solidarität veröffentlichte, konstatierte er, daß die nationale Heimstätte in Palästina bisher für die deutschen Juden eine „romantische Utopie" gewesen sei, nunmehr jedoch als „begehbare Rettungsplanke" und praktischer Weg in die Zukunft gelten müsse.56 Durch eine ausführliche Schilderung der jüdischen Verdienste um Deutschland suchte Zweig die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Unrecht zu lenken, das die Nazis an den deutschen Juden begingen. Er bedauerte, daß ihre hervorragenden Leistungen im Kulturbereich und in der Wissenschaft nicht ihrem jüdischen Erbteil, sondern allzuoft den Deutschen zugeschrieben wurden, und bezeichnete es als einen Strukturfehler der Emanzipation, daß man die Juden bloß als Individuen befreite und nicht als Volk, das man in seiner Besonderheit als gleichberechtigtes und vollwertiges Mitglied der Völkergemeinschaft anerkannte.57 Daher hätten die Juden „ihre lebensgestaltende Leidenschaft" nicht auf das eigene Volk, sondern auf „die sittliche Neuordnung jener Gesellschaften" gerichtet, die sie aufgenommen hatten.58 Zweig kritisierte Karl Kraus, weil dieser nach dem Machtantritt der Nazis schwieg und „den Kampf gegen die Gewalt in dem Augenblick eingestellt" habe, wo er am notwendigsten wurde;59 hingegen rühmte er Rathenau und behauptete, dieser wäre „Sozialist geworden, hätten ihn nicht Geburt und Erziehung zum Erben" eines Weltunternehmens gemacht, „das ihn 54

55

56

57 58 59

Arnold Zweig: Der Jude in der deutschen Gegenwart. In: Der Jude, Sonderheft Antisemitismus und jüdisches Volkstum, Berlin 1925, S. 1-8. Arnold Zweig: Caliban oder Politik und Leidenschaft. Versuch über die menschlichen Gruppenleidenschaften, dargetan am Antisemitismus. Potsdam 1927. Arnold Zweig: Bilanz der deutschen Judenheit 1933. Ein Versuch. Amsterdam 1934, S. 304, 308. Ebd. S. 312. Ebd. S. 273. Ebd. S. 274.

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in den Dienst der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und des liberalen Staates stellte".60 Die „Mächte der Unvernunft und der Affektbesessenheit" hätten ihn ebenso ermordet wie den Anarchisten Gustav Landauer, „der die persönliche Tat im Neubau unmittelbaren sozialistischen Zusammenlebens weit über die marxistische Doktrin stellte".61 Zweig nahm auch Karl Marx, den er einen „wilden Propheten in der Maske eines wissenschaftlich beweisenden Nationalökonomen" nannte,62 für das Judentum in Anspruch und stellte fest, daß die Arbeiterklasse als zeitgemäßer Träger der Ideen von 1789 der natürliche Bündnispartner der Juden sei. Zahlreiche jüdische Geistesgrößen hätten sich im Kampf um die Verteidigung der Zivilisation mit den Arbeitern verbündet. Wir gaben ihnen die geistige Führung, die selbst zu erwerben der Machtstaat sie hinderte, sie verbürgten uns die Sicherheit unseres Lebens und die Grundlagen unserer Arbeit als Juden. [...] Erst durch den Kampf gegen die allgemeine Ungerechtigkeit von Klasse zu Klasse [wird] auch den Juden als Juden Gerechtigkeit gesichert.63

Die Menschheitsgeschichte sei nichts anderes als ein „Gesittungsprozeß", der auf Abschaffung von Vorrechten und Unterdrückung abziele, wobei die kulturelle Entwicklung als Zurückdrängung des angeborenen, egoistischen und brutalen Strebens nach Triebbefriedigung anzusehen sei. Die Juden seien als Volk dazu bestimmt, als Prüfstein dieses Gesittungsverlaufs und der relativen Reife der andern Völker zu dienen. „Die Menschheit braucht Juden!" rief Zweig emphatisch aus. „Sie braucht uns, um ihre üblen Affekte an uns abzureagieren. Sie braucht uns, um zu offenbaren, wie reif und wie unreif sie wirklich sei".64 Obwohl Zweig in einigen früheren Büchern die Ostjuden verherrlicht hatte, konnte er sich mit dem ostjüdischen Lebensstil, der ihm in Palästina begegnete, nicht anfreunden. Der an die deutsche Sprache und Kultur gebundene Schriftsteller wurde nicht nur mit materiellen Schwierigkeiten, sondern auch mit bornierten Vertretern einer nationalistisch verengten Ideologie konfrontiert, die im Gegensatz zu seinen idealistischen Illusionen standen.65 Trotz seiner Enttäuschung vom Zionismus war Zweig jedoch auch nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1948 niemals zu öffentlicher antiisraelischer Stellungnahme zu bewegen und lehnte ein Jahr vor

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Ebd. S. 276. Ebd. S. 277. Ebd. S. 275. Ebd. S. 28 lf. Ebd. S. 309. Vgl. David R.Midgley: Arnold Zweig. Zu Werk und Wandlung 1927-1948. Königstein/ Ts. 1980; Margarita Pazi: Arnold Zweig - Der Weg zurück in die Homeyerstraße. In: Arbeitskreis Heinrich Mann, Mitteilungsblatt Sonderheft, hrsg. von Peter-Paul Schneider, Lübeck 1981, S. 225-237.

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seinem Tode die Aufforderung der DDR-Behörden ab, Israel wegen des Sechstagekrieges von 1967 zu verurteilen. Ebenso wie Arnold Zweig empfand auch Egon Erwin Kisch sein Judentum weder als Belastung noch als Auserwähltheit. Die jüdische Tradition, Kultur und Ethik blieb ihm zeitlebens liebenswert und verehrungswürdig. In seiner Geburtsstadt Prag erlebte Kisch, der einer alteingesessenen Kaufmannsfamilie entstammte, vor dem ersten Weltkrieg die nationale und soziale Unterdrückung der tschechischen Mehrheit durch die deutsche Minderheit und die politischen Kämpfe der tschechischen Unabhängigkeitsbewegung mit. Schon als junger Reporter, lang bevor er sich Mitte der zwanziger Jahre der kommunistischen Partei anschloß, suchte er die Wirklichkeit vom Klassenstandpunkt aus zu beurteilen und bemühte sich, den Lesern die Lebenserfahrungen von proletarischen und subproletarischen Schichten aus deren eigener Sicht zu vermitteln. Es gelang Kisch, die Reportage zur literarischen Gattung eigener Art zu erheben und zu zeigen, daß sie schärfere Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Zuständen als die meisten andern Kunstgattungen üben kann.66 Vielen Reportagen Kirschs liegt jüdische Thematik zugrunde, ohne daß er die Juden verteufelte wie Friedeil oder als Träger der Aufklärung und des Geistes verherrlichte wie Feuchtwanger. Er bagatellisierte zwar niemals jüdische Fehler und Schwächen, zeigte jedoch stets Sympathie für sein verfolgtes und gehetztes Volk. Einige Beispiele mögen genügen. Bei einer Reise nach London im Jahre 1913 besuchte er das jiddische Literaturcafe in Whitechapel, wo er anarchistische und sozialistische Revolutionäre traf, die aus dem zaristischen Rußland geflohen waren. Er vernahm die Lieder eines Arbeiterdichters, dessen Spezialität Reime jiddischer Worte auf englische waren, und gab in seiner Reportage ein Bruchstück eines Gedichts dieses Liedermachers über das Elend der in Schwitzbuden schuftenden jüdischen Proletarier wieder: Fun dei Kindheit, fun dei Yugend Finsterst ob dein Welt in shop. Und kein heim, dos hostu nit, Mied dein herz, dein kopp. Oi! seh! man behandelt dich punkt wie a hand. Fun dei schwere horewanie leben reiche in paleste [...] 6 7

In der Erzählung Dem Golem auf der Spur, die er erstmals in seiner Sammlung Der rasende Reporter 1924 und elf Jahre später stilistisch verändert in den Geschichten aus sieben Ghettos veröffentlichte, berichtete Kisch, er habe den zur Abwehr von Judenmördern aus Lehm geformten und vom 66

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Vgl. Christian Emst Siegel: Egon Erwin Kisch. Reportage und klassischer Journalismus. Bremen 1973. E.E.Kisch: Jiddisches Literaturcafé. In: ders., Der rasende Reporter. Köln 1983. S. 353-357, Zitat S. 356. Horewanie (jidd.), Arbeit.

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Prager Hohen Rabbi Low zum Leben erweckten Golem vergeblich auf dem Dachstuhl der Präger Altneusynagoge gesucht. Diese Reportage ist in Wirklichkeit eine Parabel, deren Sinn darin besteht, daß die Juden nicht mystischen und phantastischen Traditionen nachhängen sollen, sondern die Aufgabe haben, ihre Zukunft selbst zu bestimmen und sich gemeinsam mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten anderer Völker aus Elend und Entfremdung durch eigene Kraft zu befreien. 68 - Die historische Erzählung Aus Glaubenshaß, die auf eigenen archivalischen Recherchen beruhte,69 berichtete vom Prager Juden Lazar Abeles, der im Jahre 1693 von den Jesuiten fälschlich beschuldigt wurde, gemeinsam mit seinem Freund Löbl Kurtzhandl seinen zwölfjährigen Sohn Simon, der angeblich zum Christentum übertreten wollte, umgebracht zu haben. Lazar Abeles wurde von jesuitischen Mordgesellen im Kerker erdrosselt, während Kurtzhandl auf ein Rad geflochten wurde, wo man ihm die Glieder brach und den Brustkorb eindrückte. Jedem aufmerksamen Leser dieser erschütternden Geschichte mußte die Analogie auffallen, die zwischen dem Mord an den beiden jüdischen Opfern des religiösen Glaubenshasses ein Vierteljahrtausend zuvor und den Untaten bestand, die die vom Rassenwahn befallenen Nazis in ihren Kerkern und Konzentrationslagern verübten. Kisch deutete an, daß die Intoleranz und der Fanatismus der Kirche nicht nur als ideologisches Vorbild späterer Judenmörder diente, sondern auch, daß die Emanzipation der Juden kein abgeschlossener Prozeß war, wie der vom Fortschrittsdenken der Aufklärung gespeiste Liberalismus geglaubt hatte, sondern rückgängig gemacht werden konnte. Die Reportage Kapitalistische Romanze von den Bagdad-Juden, die 1932 in der Sammlung China geheim erschien, handelte von dem aus Bagdad stammenden jüdischen Grundstückspekulanten und Opiumhändler Aron Hardoon, der in Shanghai die prunkvolle Synagoge „Ohel Mosche" errichtet und der dortigen jüdischen Gemeinde zugesagt hatte, ihr sein Vermögen von 200 Millionen Dollar testamentarisch zu hinterlassen. Als er jedoch 1931 starb, stellte sich heraus, daß er im Geheimen zum Buddhismus übergetreten war, das gesamte Vermögen seiner Konkubine vermacht und der jüdischen Gemeinde keinen Groschen vererbt hatte. Der höhnische Spott, mit dem Kisch diese Pointe erzählte, bewies, daß sein Kriterium nicht nationale oder religiöse Zugehörigkeit zum Judentum war, sondern vielmehr die

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Vgl. Hans-Albert Walter: „Der größte Phantast der Realität". Ein Vorschlag, wie Kisch zu lesen sei. Nachwort der Neuauflage von Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter. Köln 1983. S. 387-412; Walter Grab: Egon Erwin Kisch und das Judentum. In: Walter Grab und Julius Schoeps (Hrsg.): Juden in der Weimarer Republik. Beiheft 9 des Jahrbuchs des Instituts für deutsche Geschichte, Stuttgart und Bonn 1986, S. 218-243. Diese Erzählung erschien erstmals in der Reportagesammlung „Prager Pitaval" 1931 und wurde überarbeitet in die 1935 veröffentlichten „Geschichten aus sieben Ghettos" übernommen.

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Klassenfrage im Vordergrund stand, und daß er jüdische Kapitalisten und Spekulanten ebenso verabscheute und bekämpfte wie alle andern. Kisch lebte seit 1933 im französischen Exil, nahm als Reporter am spanischen Bürgerkrieg teil und flüchtete zu Beginn des zweiten Weltkriegs nach Mexiko, von wo er gemeinsam mit andern Antifaschisten zum Kampf gegen die Nazis aufrief. Er lernte das Land gründlich kennen, studierte seine Geschichte und Traditionen, reiste in entlegene Gegenden und verfaßte eine Reportagesammlung Entdeckungen in Mexiko.10 Seinem Spürsinn gelang es, ein Dorf jüdischer Indianer ausfindig zu machen, deren Abstammung teilweise auf die vor der spanischen Inquisition geflohenen Marannen zurückging. Ihr Rabbiner, der auch den Tempel ausgemalt hatte, war von Beruf Bäcker und entstammte einer Familie von Falaschas, also abessinischen Juden. Kischs Reportage Indiodorf unter dem Davidstern ist ein literarisches Kleinod und zeigt, wie sehr er der jüdischen Schicksalsgemeinschaft verbunden blieb. Er nahm an einem Gottesdienst der jüdischen Indianer teil und sprach auch das Totengebet für seine Eltern. Die ergreifenden Gedanken, die dem längst seinem Glauben entfremdeten Atheisten und Agnostiker durch den Kopf gingen, als er unter den Nachkommen der Marannen stand, die ihrer Religion vierhundert Jahre lang treu geblieben waren, stellten ohne jedes Pathos ein Bekenntnis zu den zeitlosen Werten der jüdischen Ethik dar. Die in Mexiko von emigrierten Antifaschisten redigierte Monatsschrift . f r e i e s Deutschland" widmete eine Festnummer dem 60.Geburtstag Kischs. Zahlreiche Publizisten aus aller Welt sandten ihm Gratulationsschreiben. Als man ihn jedoch fragte, wer ihm wohl die größte Freude bereitet habe, nannte er den Namen Adolf Hitlers - denn dieser hatte sich genau an Kischs 60.Geburtstag, dem 29.April 1945, umgebracht. Der Reporter kehrte ein Jahr nach Kriegsende nach Prag zurück und starb dort Ende März 1948, wenige Wochen nach der kommunistischen Machtübernahme. Es blieb ihm erspart, die Schauprozesse und Hinrichtungen vieler seiner Freunde zu erleben, die, wie er selbst, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz ersehnt hatten. Ich möchte als Abschluß die Ursachen des jüdischen Selbst/zasses konservativer und der jüdischen Selbstac/zfimg fortschrittlicher Autoren kurz analysieren. Dabei ist zunächst zu betonen, daß der Selbsthaß nicht mit Kritik an Juden verwechselt werden darf. Kritik ist eine rationale Reflexion, während Haß als Emotion zu psychologischen Kategorien gehört. Kritik an jüdischem Verhalten haben auch linke Autoren wie etwa Kurt Tucholsky geübt, der in seinem Abschiedsbrief an Arnold Zweig vom Dezember 1935 die deutschen Juden tadelte, weil sie beim Machtantritt der Nazis nicht 70

Diese Sammlung erschien erstmals im deutschsprachigen Verlag „El libro libre" in Mexiko City 1945.

„Jüdischer Selbsthaß" und jüdische Selbstachtung in der deutschen Literatur

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sogleich massenhaft aus Deutschland auswanderten. Aber im Gegensatz zu Autoren, die wirklich von jüdischem Selbsthaß besessen waren, kritisierte Tucholsky die Deutschen viel schärfer als die Juden. Der jüdische Selbsthaß, der während der „Großen Depression" (1873-1896) zu einem weitverbreiteten Phänomen intellektueller Juden in Deutschland und Österreich wurde, ist großenteils aus dem Umstand zu erklären, daß die Emanzipation in den sechziger Jahren des 19.Jahrhunderts ein Torso blieb und die jüdische Religion nicht den christlichen Konfessionen gleichgestellt wurde. Das Judentum blieb immer nur eine geduldete Religion und erhielt im Gegensatz zur protestantischen und katholischen Kirche keinen Anspruch auf Staatsmittel; auch blieb den Juden im allgemeinen eine Laufbahn im öffentlichen Dienst, in der Justiz und im Heer verschlossen. Nicht nur die Konservativen, sondern auch die Liberalen, die die Emanzipationsgesetzgebung durchführten, verlangten von den Juden, ihre als negativ angesehenen Gewohnheiten und Traditionen abzulegen, was de facto auf eine „Entjudung" hinauslief. Viele Juden waren bereit, diese Forderung zu akzeptieren und sich gänzlich der deutschen Bevölkerungsmehrheit zu assimilieren. Der aufkommende Rassenantisemitismus jedoch, der die Juden als Sündenböcke für alle gesellschaftlichen Mißstände ansah, benutzte anthropologische Argumente, um die Juden auszugrenzen, und behauptete, sie seien als Angehörige eines orientalischen und fremdartigen Volkstums unassimilierbar. Dabei gingen die Rassenantisemiten von der Annahme einer Hierarchie höherwertiger und minderwertiger Kulturen aus. Dem Judentum entstammende Schriftsteller und Publizisten, die bewußt oder unbewußt die Auffassungen übernahmen, daß es bei Religionen, Lebensformen, Sprachen und Traditionen Rangstufen gebe und daß das Judentum prinzipiell moralisch verderbt und biologisch minderwertig sei, empfanden ihre ethnische Herkunft als Belastung und waren von Komplexen wegen ihres angeblichen Makels geplagt. Ihr jüdischer Selbsthaß war meist die Kehrseite ihrer Deutschtümelei, ihres Adelskultes und ihrer Germanenanbetung. Wer jedoch begriff, daß die Funktion des Rassenantisemitismus darin bestand, den Vormarsch der organisierten Arbeiterbewegung zu hemmen und die Proletarier von den wirklichen Urhebern des Massenelends abzulenken, fiel nicht der Verinnerlichung von feindlichen Stereotypen zum Opfer. Demokratische und sozialistische Autoren, die die traditionelle soziale Hierarchie ablehnten, die Notwendigkeit der politischen Gleichheit aller Staatsbürger unabhängig von Herkunft und Besitz betonten und von der Gleichwertigkeit aller Religionen und Kulturen ausgingen, waren von jüdischer Selbstachtung erfüllt. Daher vermochten sie auch die jiddisch sprechenden und ihrer nationalen Kultur nicht entfremdeten Ostjuden als völlig gleichberechtigt anzusehen. Sie wiesen den deutschnationalen Dünkel, die elitäre und arrogante Verachtung anderer Kulturen zurück und neigten dazu, das

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Judentum zu idealisieren und ihm eine menschheitliche Befreiungsmission zuzuschreiben. Sie verfielen nicht jenem Kulturpessimismus, der für die von Selbsthaß zerfressenen konservativen Intellektuellen kennzeichnend war, sondern hofften, daß in der künftigen sozialistischen Weltordnung auch der jüdische Genius gleichberechtigt neben dem Genius anderer Völker schöpferisch tätig sein werde - wie Arnold Zweig als Abschluß seiner Bilanz der deutschen Judenheit optimistisch sagte.71

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Arnold Zweig: Bilanz der deutschen Judenheit (Anm.56), S. 315.

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Über Judentum und Antisemitismus, literarisches Bild und historische Situation: Grundzüge der Diskussion

Auch die Debatten dieses zweiten Symposions über das Verhältnis von Judentum, Antisemitismus und deutschsprachiger Literatur hinterließen den Eindruck, daß der Erkenntnisfortschritt in der Fülle der Details, der Erschließung neuen Materials und neuer Quellen liegt. Immer noch fehlen Grundlagen für eine adäquate Einschätzung von literaturgeschichtlichen Sachverhalten, werden neue Aufschlüsse für das Aufeinander-Bezogensein von historischer Situation und literarischer Spiegelung sowie Bewertung der Conditio Judaica benötigt. „Die Zeit der großen Sprüche, ausgreifenden Fragen und weitgespannten Bögen", so H. Denkler, sei dagegen augenscheinlich vorbei. Dennoch verharrten die Teilnehmer nicht bei der positivistischen Anhäufung von Fakten, sondern bemühten sich, ihrer wissenschaftlichen Verantwortung durch engagierten interdisziplinären Austausch sowie selbstkritische Reflexion der eigenen Analysekriterien gerecht zu werden. Trotz der geplanten Beschränkung auf den Zeitraum zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg mußte in Referaten und Gesprächen teilweise weit zurückgegriffen werden, um die Voraussetzungen und Entwicklungen der historischen wie literarischen Phänomene erklärbar zu machen. Das Debattenprotokoll versucht nicht nur, die Vielfalt der angesprochenen Probleme systematisch zu dokumentieren, sondern auch durch teilweise wörtliche Wiedergabe von Diskussionsbeiträgen einige Schwerpunkte - wie etwa die Fragen zum jüdischen Selbsthaß auf historischer, die Fragen von Rezeptionsbedingungen und Wirkungsmechanismen auf eher literaturwissenschaftlicher Ebene - ausführlicher darzustellen.

Z u m historischen Hintergrund Die Begriffe „Akkulturation" und „Assimilation" standen im Mittelpunkt vieler Erörterungen. Nicht die deutsche Nation, sondern die (mit nichtjüdischen Intellektuellen geteilte) Verehrung für deutsche Kultur und klassische Antike war für zahlreiche Juden im 19. Jahrhundert integrationsstiftend (A. Herzig). Nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 suchten auch die ehemals liberalen deutschen Bildungsschichten verstärkt Orientierung an christlich-germanischen Ideologemen. Bei der daraus resultierenden Aus-

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grenzung der Juden wirkten vor allem „deutsch-nationale Geschichtslehrer als Multiplikatoren" (W. Häusler). Dennoch blieb in der zweiten Jahrhunderthälfte, zunehmend auch bei osteuropäischen Juden, „die Sehnsucht nach Deutschland oder der deutschen Kultur" bestehen. Für einen Gebildeten wie Franzos wäre es „undenkbar gewesen, daß er sich ausgerechnet für die rumänische, polnische und ukrainische Assimilation entschieden hätte" (W. Grab). Daß es überhaupt „eine polnische Kultur gibt, hat Franzos einfach negiert" (M. Pazi). Aus diesem Befund ergaben sich folgende Fragen: H. Denkler: „Was bedeutet in diesem Zusammenhang deutsche Kulturl Woher ergibt sich die Attraktion dieser deutschen Kultur, von Goethe, Schiller, Humboldt?' H.-J, Schräder: „Was sind die Assimilationshoffnungen und -erwartungen? Sind nur Gründe kultureller Fortgeschrittenheit maßgeblich, oder hängt das damit zusammen, daß in anderen Völkern aus der damaligen Perspektive die Vorgaben noch unüberwindlicher erschienen als in Deutschland und von daher gar keine Motivation zu Assimilationsversuchen entstand?" Warum ist aber dann, so die Frage von I. Shedletzky, „die Animosität zwischen Christen und Juden wirksamer als zwischen anderen .Nationalitäten'?" W. Häusler erweiterte die Überlegungen zu den Ursachen der Judenfeindschaft um eine psychologische Dimension: ,.Könnten wir diese Erscheinungen des Antisemitismus nicht auch zu einem sehr wesentlichen Teil als Phänomen von Projektionen betrachten, die unterbewußt aktiviert werden, um mit der eigenen Hilflosigkeit, mit dem eigenen Versagen, mit dem eigenen schlechten Gewissen fertig zu werden?" Das unter philosemitischem Anspruch auftretende obrigkeitliche Konzept der Assimilation hatte antisemitische Auswirkungen insofern, als zur endgültigen Lösung der , Judenfrage" die Entäußerung aller Erkenntnismerkmale und religiösen Eigenständigkeit angestrebt war (H.-J. Schräder). W. Grab: „Der Jude muß sich entjuden, wenn er sich eindeutschen will." Der Effekt der Assimilationsforderung war, daß den Juden keine Zeit zur Säkularisierung ihrer Religion blieb und sie gleich zur Apologie gezwungen wurden, hob I. Shedletzky hervor. K. Rossbacher: „Deshalb meine These, daß unter besümmten Bedingungen die Assimilation in der Gruppe der Juden ruckarüg geht, wenn sie es innerhalb einer Generaüon schaffen müssen. Dann kommen die Verschärfungen, die Verkrümmungen des Bewußtseins, des halb-assimilierten Judentums, dann ist das wieder Quelle von Aggressionen anderer." Aus dem Anpassungsdruck ergeben sich auch die Probleme der jüdischen Über-Assimilation, die als Spott- und Zerrbilder in der Literatur ihren Niederschlag fanden. Ausgesprochen kontrovers diskutierte vor diesem Hintergrund das Symposion W. Grabs nach dessen eigenem Bekunden „polemischen Vor-

Über Judentum und Antisemitismus: Grundzüge der Diskussion

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trag" zum Verhältnis von .jüdischem Selbsthaß" und jüdischer Selbstachtung. In seinen antithetischen Ausführungen legte es der israelische Historiker bewußt auf eine politische Spitze an, nämlich „gegen jene, die sagen, .links ist Selbsthaß', und das sagt Silberner und sehr viele, die ihm nachbeten. Ich habe lediglich versucht, die These Silberners mit einer Gegenthese zu erschüttern". Edmund Silberner hatte seit den fünfziger Jahren in verschiedenen Arbeiten nachzuweisen versucht, w i e kommunistische und sozialistische Juden bzw. Nicht-Juden zum Judentum gestanden haben. Seine These, je radikaler jemand links stehe, desto eher und mehr sei er v o m .jüdischen Selbsthaß" betroffen, hatte in den nächsten Jahren großen Einfluß auf eine ganze HistorikerGeneration. H. Denkler: „Ich schließe an Ihre These an, die besagt, wer in Opposition zur herrschenden Ideologie stehe, bei dem sei diese Art von Selbsthaß, wie Sie ihn beschrieben haben, nicht anzutreffen. Wenn ich mir nun die vielen jüdischen Oppositionellen auf der politischen Linken anschaue, dann ist doch sehr auffallig, daß die meisten - seien sie nun marxistischer Couleur oder .wahre Sozialisten', Menschheitsreformer - auf eine Menschheitsgemeinschaft zusteuern, in der die Gleichheit aller garantiert ist; aber für viele ist selbstverständlich, daß diese Gleichheit aller nur erreicht werden kann, wenn ihr eigenes Judentum überwunden wird, hinter ihnen zurückbleibt. Ist nicht dieses Prinzip, das Judentum hinter sich zu lassen und Teil dieser Menschheitsgesellschaft zu werden, auch eine Form von kritischer Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, die letztlich zur Ablösung davon führt? Selbsthaß kann man das nicht nennen, aber doch Abkopplung." W. Grab: ,.Das, was Sie jetzt gesagt haben, ist der Grund, warum ich das Wort .Selbsthaß' für nicht geglückt halte. Erfunden hat es Theodor Lessing. Die Linken haben das Judentum auflösen wollen in einer Menschheitsbefreiung. Und haben es hinter sich lassen wollen, aber gleichzeitig haben sie es nicht gehaßt. Sie haben es kritisiert." H. Denkler: „Das war der linke Flügel, gehen wir jetzt einmal nach rechts. Sie werden mir zustimmen, daß es keinen Zugzwang gibt zwischen rechter Positionswahl und dem, was wir hier mit Haß umschrieben haben. Es gibt eine Reihe recht Konservativer, die durchaus zu ihrem Judentum gestanden haben." W. Grab: „Natürlich gibt es die. Aber man darf hier nichts verwechseln: Nicht alle Konservativen sind Selbsthasser, aber Selbsthasser sind in der Regel auf dem rechten Flügel zu finden. Es hat viele Juden gegeben, die keinen Selbsthaß gehabt haben, die aber dennoch national eingestellt waren." H.-P. Bayerdörfer: „Das relativiert ja doch die Einlinigkeit der beiden Beispielreihen. Sie geht nicht absolut im historischen Feld auf." W. Grab: „Unter den deutsch-jüdischen Intellektuellen hat es natürlich sehr viele Schattierungen gegeben. Kraus gehört ja nur mit Einschränkungen nach rechts. Dennoch habe ich sie zusammengebunden, um das Prinzipielle herauszustellen. Unter der Gefahr, daß man einiges etwas grobschlächtig oder holzschnittartig macht. Dennoch möchte ich sagen, Haß im Sinne von Hofmannsthal, das haben die Linken nicht gehabt."

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H. Steinecke: „Es ist schlecht, zu schnell mit Kollektivbegriffen zu operieren, zu problematisch, Schriftsteller in rechts und links, in hassend und liebend einzuteilen. Somit scheinen mir die Kausalketten im Vortrag allzu kurz angelegt zu sein: Nicht jeder, der links war, war damit gefeit gegen Selbsthaßgefühle." K.Ch. Köhnke: .faktisch handelt es sich doch um eine Typologie, die nicht mehr sein will als ein Mittel der Heuristik, d.h. als Anlaß für Diskussionen." H,-J. Schräder: „Über die Zentralthese kann es rein logisch keine großen Divergenzen geben, denn zur zentralen Ideologie der extremen Rechten gehörte ein Judenhaß und zu der der Linken eben nicht, da unterlief er gelegentlich. Und daraus ergeben sich Folgerungen. Ich würde da nicht von .Selbsthaß' sprechen, sondern von Identitätskrise reden. Identitätskrisen entstehen ganz notwendig und selbstverständlich, wenn ich einer Parteigruppierung angehöre, die programmatisch meine Gruppe haßt. Damit wäre im Sinne einer idealtypischen Zustimmung Ihre Zentralthese auch gar nicht sonderlich provokant, sondern provokant waren die Beispiele." W. Grab: „Die Rechten haben das Judentum als Makel, als Belastung betrachtet, nicht nur geleugnet, das meine ich. Die Rechten haben sich im Prinzip geschämt, daß sie sich den falschen Vater ausgesucht haben." W. Häusler: „Ich meine, wir sollten einen Schritt weitergehen, und ich möchte eine These formulieren, daß wir auch ausgehen müßten von einem Selbsthaß der Nicht-Juden in dieser Zeit, die auch nicht fertig werden mit den Erscheinungen des über die Gesamtgesellschaft hereinbrechenden Kapitalismus. Ähnlich wie bei Marx in seiner Schrift zur Judenfrage geht es hier um den gesamtgesellschaftlichen Charakter der Emanzipation." Allerdings nicht nur auf der innerjüdischen Ebene ist das Verhältnis der politischen Linken zum Judentum ideologisch umstritten. Immerhin durften z.B. an den Stammtischen ehemaliger Achtundvierziger neben den Juden auch die Antisemiten mitdebattieren, nach dem Prinzip: jeder hat dasselbe Rederecht. Der Antisemitismus wurde aus dieser altliberalen Position nicht von vornherein disqualifiziert, sondern als Politikum beurteilt, die Judengegner wurden im parteipolitischen Sinne als Parteigänger einer politischen Richtung angesehen. (H. Denkler) Auch in Frankreich war antisemitisches Schrifttum in erster Linie antiaufklärerisch, mit einer Ausnahme: die Frühsozialisten agierten antijüdisch, während das Gros der französischen Intellektuellen mit ihrem Engagement in der Dreyfus-Affäre für eine Rehabilitierung des jüdischen Offiziers gesorgt hat; Vergleichbares hat es in Deutschland nicht gegeben. (F.-R. Hausmann) Als exemplarisch in diesem Kontext erweisen sich die scharfen, ablehnenden Reaktionen Lassalles gegenüber Aron Bernstein: W. Grab: „Lassalle hat alle die, die etwas rechts von ihm standen, vor seinem Publikum, den Arbeitern, versucht, so widerwärtig wie möglich zu zeichnen. Bernstein stand rechts von Lassalle. In diesem Sinne hat er wohl auch dessen Ghetto-Novellen verurteilt. Aber er hat auch Bernsteins Sprache angegriffen. Er hat nicht gesagt: ,Du bist mein politischer Gegner'. Er schreibt von einem „miesen Kauderwelsch"."

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J.H. Schoeps: „Es hat ja auch unter den Juden die Übernahme antisemitischer Stereotype gegeben. Das ist m.E. bei Lassalle genauso gegeben wie bei anderen. Er hatte auch die Bilder und Stereotype im Kopf; und der Angriff gegen die Sprache ist ein solches Stereotyp."

Wie problematisch es insgesamt ist, für die komplexen Einzelphänomene des Antisemitismus monokausale Analysekriterien zu verwenden, unterstrich einmal mehr die Suche nach Erklärungsmustern hinsichtlich der Funktion der historischen Judenfeindschaft im Vorfeld des Nationalsozialismus. So war der Antisemitismus des Wieners Karl Lueger ein opportunistisches Zugeständnis an seine kleinbürgerlichen Wählerschichten (W. Häusler), genauso wie die wenig produktive theologische Agitation des protestantischen Predigers Adolf Stoecker seine Öffnung für sowohl nationale als auch antisemitische Ideen ebnete. Während die protestantische Kirche „mit Hilfe von politisch-antisemitischen Krücken" versuchte, die Massen wieder zur Religion zurückzuführen, schmolz dazu parallel Stoeckers Distanz - entgegen der protestantischen Legende - zum Rassen- und Radau-Antisemitismus zunehmend dahin. Auch er wurde zum Opportunisten des Erfolges, verfolgte seine Ziele mit Hilfe von Atheisten wie ausgesprochenen Gegnern von Religion und Kirche. Nur konsequent, kam es daher bereits um 1879/80 nach seinen Veranstaltungen zu pogromartigen Exzessen mit der Zerstörung jüdischer Geschäfte. (W. Jochmann) Trotz gewisser Gemeinsamkeiten indes - so W. Grabs These - erwies sich der österreichische Antisemitismus im Gegensatz zum deutschen als virulenter. Denn im Habsburger-Reich existierte neben der sozialen Komponente eine gleichfalls stark nationale Variante, die auf dem Minderheitenstatus der Deutschen (etwa 25 %) basierte: sie mußten sich im Vielvölkerstaat gegen andere nationale Gruppen behaupten. Nicht nur daraus ergab sich die Frage, ob es nicht unterschwellige Ressentiments gibt, die stärker gewirkt haben und deshalb mehr erklären können als sozialgeschichtliche Faktoren (H. Denkler). Können also soziologische Analysen wie die von Norbert Elias an das Problem des Antisemitismus nahe genug heranreichen? H.-P. Bayerdörfer: „1. Die Allgemeinheit der Kategorien läßt möglicherweise das dezidiert Jüdische durch die Maschen fallen. Oder das Jüdische wird zu einem Allgemeinfall. Was kommt eigentlich noch hinzu im Hinblick auf das Judentum? Warum gibt es einen Antisemitismus, der durchschlägt, aber nicht einen Anti-Slowakismus oder ähnliches? - 2. Wenn man auf die Kategorien von Elias zurückgeht, dann erklären sie sicherlich die Abweichung und die Aggression gegen das abweichende Verhalten. Aber sie erklären nicht das, was beim Antisemitismus nach 1870 so entscheidend dazukommt, daß nämlich auch das angeglichene Verhalten wiederum diskreditiert wird mit genau derselben Argumentation. Hier findet die Abweichung nur verdeckt statt."

Mehr denn je bedarf es somit einer pluralistischen Annäherung an die Gesamtproblematik des Antisemitismus.

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Vor diesem Hintergrund zeichnet sich die besondere Bedeutung historischer Aufarbeitung in der Gegenwart ab, welche nachhaltig durch einen bedenkenswerten Vorfall am Rande des öffentlichen Vortrages von Walter Grab unterstrichen wurde: Im Vorfeld war nämlich die Plakatierung zu dieser Veranstaltung in der ganzen Stadt von Unbekannten abgerissen oder unkenntlich gemacht worden.

Zur Beziehung zwischen sozialhistorischer Situation und Literatur Eine das Kolloquium stark beschäftigende Frage war die der Wechselwirkung zwischen Realität und Literatur. Ein interessantes, viel zu wenig behandeltes Thema ist die deutsch-jüdische Mischehe, mit der sich Emanzipationstheoretiker und Schriftsteller gleichermaßen auseinandersetzten: „Das ist das exklusive Thema überhaupt der deutsch-jüdischen Belletristik. Wenn man das Assimilations- und Emanzipationsbedürfnis ernst nimmt, dann ist die Mischehe die ideale Lösung." (I. Shedletzky)

Auch in der französischen Trivialliteratur war die Mischehe ein populärer Gegenstand: „Hier ist es seit Balzac ein durchgehendes Motiv, daß der jüdische Mann im Duell endet" (F.-R. Hausmann). Leopold Kompert schildert in seinen Erzählungen die Mischehe „zwischen traditionsbewußten und assimilierten Juden, die dann scheitert" (Th. Winkelbauer). Die mit Kompert assoziierte Gattung der Dorf- und Ghettogeschichte war aus Reisebeschreibungen und kulturhistorischen Darstellungen hervorgegangen (H. Steinecke). Innerhalb ihrer Entwicklung orientierte sie sich zunehmend an .Aktualität", „Realität" und ,.neuen Motivfeldern" (R. Böschenstein). Den Zusammenhang zwischen sozialhistorischer Realität und Autorintention erhellt eine Äußerung Komperts, an die H.-P. Bayerdörfer erinnerte: „Wir gehen jetzt einer Zeit entgegen, in der das Ghetto endgültig von der europäischen Landkarte verschwinden wird, sowohl als regionale wie als kulturelle Größe. Wir müssen sammeln, damit wir das nicht aus dem Gedächtnis, aus der Vermittlung für unsere eigene Identität verlieren."

H.-J. Schräder nuancierte daraufhin, daß Ghettogeschichten „als exotische Literatur" gelesen worden seien, es bleibe aber die Frage nach dem „Wahrheitsgehalt des Exotischen". Dabei ist zu beachten, daß man an exotisch anmutende Ghettoschilderungen heute nicht die an moderner Reportageliteratur entwickelten Wahrheitskriterien anlegen darf; bei Kompert beispielsweise verbinden sich „Phantasie, Imagination, Beobachtung, Kulturgeschichte und Tendenz". „Historizität und Gattungsbezug" müssen im Zusammenhang gesehen werden (H. Denkler).

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H.O. Horch: „Bei aller ästhetischen Schwäche dieser sogenannten Dorf- und Ghettogeschichten: Es ist immer noch ein aufklärerischer Impuls darin. Denn man geht von der tatsächlichen Situation der Juden aus, und die ist ja fatal genug." Verklärung und Idyllisierung der Ghettosituation sind andererseits „typisch für jemanden, der über eine Welt schreibt, zu der er eben nicht oder nicht mehr gehört. Das ist eine gewisse Entfremdung von der Welt, die er schildert." (Th. Winkelbauer) Hier wird präsent, wie die historische Lebenssituation der Autoren selbst ihre literarische Produktion beeinflußt haben könnte. Allerdings verbergen sich hinter diesem gattungsspezifischen Paradigma grundsätzliche Probleme des Verhältnisses von Literatur und Realität: R. Böschenstein: „Hier geht es um das Gesamtproblem des realistischen Schreibens. Einerseits muß der Bezug auf die außertextuelle Realität unbedingt ins Auge gefaßt werden, weil die Schriftsteller die konventionelle Auffassung dieser Realität respektieren, zugleich darf dabei aber nicht direkt wie aus einem Dokument zurückgeschlossen werden." Th. Winkelbauer: „Symptomatisch ist hier die Frage nach dem Realitätsgehalt der Werke von Kompert. Er hat Versatzstücke aus der Realität genommen, um sie dann nach eigenem Belieben zusammenzusetzen. Das Wesentliche sind ihm seine Konzeption und seine pädagogische Intention." K. Dittmar: „Dickens z.B. hat auf das sozial-historische Faktum von negativen Judencharakteren hingewiesen. Trotzdem muß man auch bei ihm immer den autonomen literarischen Text beachten und sollte nicht sofort auf sozial-historische Bedingungen verweisen." Auch H. Denklers Anmerkung zu den nicht-deutschsprachigen Literaturen steht der Annahme einer einsinnigen Beziehung zwischen Lebenssituation und Judenbild in fiktionalen Texten diametral entgegen: „Literarische Stereotype, Topoi, Klischees in der französischen, englischen und deutschen Literatur gleichen sich sehr; es wird nach ähnlichen Mustern verfahren, obwohl die sozialgeschichtlichen Verhältnisse sehr unterschiedlich sind." Seine daraus abgeleitete Frage „Gibt es literarische Topoi, die sich selbst produzieren?" führt zu binnenliterarischen Aspekten.

Zum literarischen Judenbild Ein zentrales Thema in den Debatten zum literarischen Judenbild auf der Bühne, im realistischen Roman und in den Dorf- und Ghettogeschichten bildete die Verwendung von Klischees und Stereotypen, ihre Ausprägungen und Funktionen. Zum Wesen eines Klischees gehört ein „erstaunlicher Transponierungseffekt von semantisch negativen Wertigkeiten etwa des Wortes .Jude' hinüber in eine Figuration des Juden, die dann eben diese

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ganzen gleichsam fiktiven Wertigkeiten im historischen Prozeß etwa seit Ende des Mittelalters weitertransportiert" (H.O. Horch). H.-J. Schräder erschien der Begriff „Klischee" differenzierungsbedürftig. Bisher habe die Diskussion sich auf sprachliche Muster und aus der Trivialliteratur übernommene Versatzstücke bezogen: „Dazu kommen Figurenstereotype, z.B. daß die männlichen Figuren viel negativer dargestellt werden als die weiblichen, und Motivzusammenhänge, die auch klischierungsfähig sind, wie wir das bei der Mischehen-Thematik gesehen haben." ν v V. Zmegac: „Was passiert, wenn sich Klischees bzw. sprachliche Zeichen und mentale Vorstellungen von der Realität und Erfahrungsbasis völlig ablösen und ein ganz befremdliches Eigenleben führen?" Obwohl manche der schon im 19. Jahrhundert benutzten sprachlichen Klischees auf nationalsozialistische Zerrbilder nach Art der „Stürmer"-Karikaturen vorauszuweisen scheinen, man mithin einigen Autoren „eine Unsensibilität bezüglich des sprachlichen Details vorwerfen muß, gegenüber der man geradezu Aggressionen b e k o m m t " (H.O. Horch), sollte sich der zurückblickende Beobachter der Gefahr bewußt bleiben, „daß man übersensibel reagiert und sozusagen die vergangene Literatur mit unseren sehr geschärften Augen liest. Und wenn dann ein vergangener Autor in seiner Unbefangenheit bestimmte Begriffe verwendet, dann muß man das relativieren. Man muß ihn behandeln als normalen Menschen." (H. Steinecke) Sogar jüdische Autoren verwendeten verschiedentlich „Begriffe, die f ü r uns heute völlig außer Diskussion stehen" (H.-J. Schräder). R. Böschenstein: „Mit Erstaunen habe ich gesehen, daß nicht nur Freud und Buber solche Ausdrücke unbefangen benutzten. Buber bringt ein Vokabular bis hin zum Begriff des .Zersetzens'. Er spricht mit größter Frische von .Menschenmaterial'; auch Wassermann spricht von .zersetzenden modernen Wiener Juden'. Wenn man die Sätze herausgelöst liest, wären das schreckliche germanische Antisemiten. Freud verwendet .Volk', .Stamm', auch .Rasse'. Aber der Unterschied liegt natürlich in der geschichtlichen Entwicklung: Man darf den Autoren den späteren Gebrauch der Worte nicht anrechnen. Unser Sprachgebrauch und der Sprachgebrauch der Autoren - das muß in der Beurteilung schon getrennt werden." H.O. Horch: „Der angesprochene Rassebegriff ist merkwürdigerweise auch adaptiert in den jüdischen Zeitschriften. - Und es gibt Georg Hermann, der 90% seiner Figuren mit Juden besetzt hat. Aber das ist in zweierlei Hinsicht auch wieder nicht realitätsabbildend, denn einerseits schildert er eine absolut isolierte jüdische Gesellschaft mit ganz wenigen Ausnahmen, wo eben Christen noch mit hinzukommen, die dann fast als Außenseiter in dieser jüdischen Gesellschaft gelten. Korrelat dazu ist, daß er ein sehr starres und schlimmes Ostjudenbild hat, jedenfalls ein mit Stereotypen besetztes." I. Shedletzky verwies dabei auf die Tatsache,

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„daß in der Literatur .normale' Juden nicht erscheinen oder nicht erscheinen können. Sie können erscheinen - zugespitzt gesagt - als edle oder ganz schlimme Juden. Und wenn sie gut sind, sind sie zugleich auch edel. Ich glaube, daß man vielleicht als Germanist beunruhigt sein sollte über die immer vorbildlichen Juden. Da ist man dann immer zu schnell beruhigt. Ein normales Volk besteht eben auch aus Negativ-Charakteren, ist nicht eindimensional positiv."

Bei Sacher-Masoch beispielsweise werden einer allgemein judenfreundlichen Haltung zum Trotz dennoch durch Beschreibungsmuster und Figurenkonstellationen Klischeevorstellungen vermittelt und verstärkt - Ausweis einer „sehr ambivalenten Judenfreundlichkeit" (H.O. Horch). Klischees können jedoch nicht nur als ideologisch eindeutige Elemente der Sinnvermittlung eingesetzt werden, sondern in ironischer Brechung eine „artifizielle und ideologiekritische Verwendung" finden (G. Kurz). Figurenkonstellation und Sympathielenkung sind durchaus in der Lage, ein zunächst negatives und widerwärtiges Klischee als unangemessen und falsch zu entlarven: „Das nimmt den reflektierenden Leser ein." (H.-J. Schräder) Als zusätzliche Möglichkeit nannte H. Denkler die Klischeeverwendung mit didaktisch-aufklärerischer Intention, die an die Tradition der Lehrdichtung anknüpfe. Umgekehrt könne man an die gezielte Strategie denken, daß „positive Aufhängeklischees langsam in einen kritischen Duktus überführt werden und am Schluß in eine entlarvende Pointe umschlagen" (H.-P. Bayerdörfer). Daß die Wissenschaft äußerst sensibel umzugehen hat mit einer eindeutigen Festlegung von Autoren auf bestimmte literarische Konzepte, didaktische Ziele und ideologische Strategien, erwies besonders die Quellen-Diskussion im Anschluß an J.H. Schoeps' Bernstein-Vortrag: So machte H.-J. Schräder aus literaturwissenschaftlicher Sicht nochmals deutlich, daß vor allem bei der Rekonstruktion der Autorenmeinung aus Briefen analytische Vorsicht angebracht sei, handele es sich doch hierbei nicht zuletzt um adressatengebundene Zeugnisse. Tagebücher - so R. Böschenstein - seien vor diesem Hintergrund wesentlich offener. J.H. Schoeps sah darin das Resultat einer generell unterschiedlichen Fragestellung: den Historiker interessiere in erster Linie das sozial-historische Umfeld, den Literaturwissenschaftler das Werk. Zum Problem wurde die Relevanz der behandelten Texte und Autoren angesichts der Tatsache, daß viele dieser Werke wegen ästhetischer und inhaltlicher Fremdheit kaum noch ein modernes Lesepublikum zu erreichen vermögen. F.-R. Hausmann: „Wie ist der ästhetische Wert einzuordnen, und benutzen wir hier Literatur nicht nur als historische Quellen, um Aufschlüsse über das Verhältnis Christen-Juden im 19. Jahrhundert zu finden? Müßten wir nicht auch bei jedem dieser Autoren streng nach den literarischen Leistungen fragen und sehen, inwieweit die ästhetische Auibereitung dessen gelungen ist, was sie gemacht haben?"

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H. Steinecke: „Inwieweit ist gut und schlecht ein ästhetischer Begriff und ein ethischer Begriff? Ist Stil ein Abstraktum? Ist es wirklich möglich, daß eine fatale Gesinnung und eine extrem reaktionäre (oder eine faschistische oder eine antisemitische) Hand in Hand gehen kann mit gutem Stil?" Daraus entwickelte sich zwangsläufig eine Diskussion über das Verhältnis von Kunstcharakter und moralischer Aussage der Texte. H.O. Horch erkannte es als „Zentralproblem der Tagung, wie man die Machart der Texte - ob man das nun .Ästhetik' nennt oder nicht - unmittelbar mit dem Transport der Inhalte verbindet". H. Steinecke erinnerte im Anschluß daran, daß Börne gelitten habe, „wenn schlechte Gesinnung mit gutem Stil verbunden war und umgekehrt gute Gesinnung mit schlechtem Stil". Vor einem Kurzschluß warnte abschließend G. Kurz: „In dem Moment, wo etwas ästhetisch schön ist, muß ich es doch nicht unbedingt für politisch tot erklären." Allerdings, so schränkte schließlich K. Rossbacher ein, entziehe sich der Antisemitismus der ästhetischen Disposition letztendlich doch, selbst wenn der Leser methodisch richtig frage, inwieweit sich das Erzählerbewußtsein von der Figurenrede distanziere. Folgerichtig komme der Analyseund Differenzierungsfähigkeit des Rezipienten eine allzu häufig übersehene entscheidende Funktion zu. Damit war das Augenmerk der Diskussionsteilnehmer auf den Bereich der Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit von Klischees gerichtet. Der rückblickende Beobachter ist in der Lage, „sehr genau zu lesen, um dann die Chance zu haben, auf bestimmte Details aufmerksam zu werden und das Ganze etwas zu differenzieren. Die Regel ist ja ganz anders. Die Regel ist, daß man einen Roman wie Soll und Haben als Unterhaltungslektüre verschlingt und daß dann die antijüdischen Stereotype in der Regel voll durchschlagen". (H.O. Horch) Die übergroße Mehrheit des zeitgenössischen Lesepublikums hat dagegen, so muß unterstellt werden, Literatur als Bestätigung vorgefaßter Meinungen „selektiv" zur Kenntnis genommen, winzige, das Bild differenzierende Hinweise dagegen überlesen (M. Pazi, H.O. Horch).

Zu Rezeption und Wirkung Besonders im Anschluß an die Vorträge zu Gustav Freytag und Wilhelm Raabe prägte das „Phänomen des Auseinanderklaffens von Produktionsund Rezeptionspoetik" (V. Zmegac) die Kontroversen. Die Frage, ob ein politisch sensibler Autor die Folgen seiner schriftstellerischen Erzeugnisse hätte abschätzen müssen, wurde durch zwei Gesichtspunkte erweitert: Zum einen sei mit Sicherheit Freytag, vielleicht auch Raabe, vom Erfolg ihrer Bücher Soll und Haben und Der Hungerpastor selber überrascht gewesen. Denn nicht Inhalt oder Autorintention seien für den Zuspruch der Leserschaft verantwortlich zu machen, sondern die „Sucht des Publikums, antijü-

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dische Darstellungen zu lesen: das Publikum wollte das lesen!" (M. Pazi) v V V. Zmegac: „Es ist doch ein quälendes Problem: Wie kommt es, daß ein Autor wie Freytag, den wir doch alle im heutigen Wortgebrauch einen politisch sensiblen Autor nennen würden, im Hinblick auf die Antisemitismus-Problematik siehe die „Grenzboten" und den Wagner-Aufsatz - sich der Konsequenzen hätte bewußt werden müssen, daß er solch einen Roman unter die Leute bringt, obwohl er genau weiß, was für Folgen das haben kann. Das ist ein seltsam gespaltenes Bewußtsein."

M. Pazi: „Es ist ausgeschlossen, daß Freytag antijüdische Momente in seinem Roman hochspielt, im gleichen Zeitraum aber ausgesprochen projüdische Artikel schreibt. Was er Positives über die Situation der Juden in Prag gebracht hat, findet man sonst nirgends." R. Böschenstein: „Kann man eigentlich klar trennen zwischen dem empirischen Autor und dem poetischen oder literarischen? In der Vergangenheit ist da vielfach geäußert worden, daß sie nichts miteinander zu tun haben, das Werk sich sozusagen selber schreibt. Ich denke, dies ist ein gleitender Übergang. Die Frage spitzt sich da zu, wo es sich um die realistische Literatur handelt, also Referenz auf die außertextuelle Realität für das Werk konstitutiv ist, und das bei einer so moralisch besonderen Frage wie hier. Wir haben oft schon den scharfen Unterschied gesehen, daß Autoren auf der empirischen Ebene, also in Briefwechseln und Äußerungen, einen zeittypischen, konventionellen Antisemitismus vernehmen lassen, während sie in den Werken, in denen sie die jüdische Thematik gestaltet haben, ein tiefes Verständnis für die Juden zu erkennen geben. Mir scheint aber, daß man im Fall Freytag besonders schlecht trennen kann." H. Steinecke: „Wo liegt eigentlich das Erkenntnisinteresse all dieser Überlegungen? Ist es für uns von Interesse, die verrutschten Intentionen so genau zu erforschen, wenn wir nicht an der Spezialliteratur mitwirken, wo wir doch die Rezeption des Freytagschen Werkes noch aus dem Jahre 1855 kennen, und die ist eindeutig. Ich weiß nicht, ob man die Entstehungsgeschichte praktisch als Entschuldigung des sozusagen aus Versehen herausgerutschten Antisemitismus anführen kann." H.-J, Schräder: „Die Frage ist immer, warum muß eine solche Figur, die nicht negativ ausgezeichnet werden soll, eine solche Sprache sprechen." H. Denkler: ,JSoll und Haben ist ein absolut stimmiger Parallelfall zum Hungerpastor. Auch im Falle des Hungerpastors ist ein politischer Roman beabsichtigt gewesen. Äußere politische Einflüsse zwangen den Autor, seine Konzeption zu ändern. Als Folge dieser Konzeptionsänderung wurde der Roman in eine Richtung gedrängt, die im ursprünglichen Konzept nicht vorgesehen war. Als Ergebnis zeigt sich auch hier, daß man mit Eindeutigkeit sagen kann, der Autor ist kein Antisemit, das Buch ist von Anbeginn nicht antisemitisch motiviert gewesen, und es ist unter dem Zwang politischer Veränderungen eine Entwicklung innerhalb des Textes eingetreten, die diesen Text so gestaltet hat, daß er antisemitisch rezipiert werden konnte. Das entschuldigt allerdings gar nichts. Es erklärt nur, wie bei Autoren, die an anderen Stellen völlig anders schreiben, plötzlich etwas entsteht, was man nicht erwartet hätte und was die Zeitgenossen nicht so verstanden haben wie wir heute." H.-J. Neubauer: „Man sollte nicht so tun, als ob dieser Antisemitismus überhaupt nicht zu Gustav Freytag und zu seiner Ideologie als Publizist und Literat

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Florian Krobb (Göttingen) und Stefan Wirtz (Aachen) passen würde. Wenn man nämlich sieht, daß Freytag ein breitgefáchertes Bild von den Juden gehabt hat, dann paßt dieser Roman nämlich auch wieder ganz gut hinein. Es gibt also ein Konzept, nach dem dieser Roman genau richtig konstruiert ist, und das ist das Konzept des deutschen, mittelständischen Bürgers, dessen Apologie in diesem Roman geschrieben wird. Und was da nicht hineinpaßt, das wird ausgegrenzt in beiden Fassungen." H.O. Horch: „Später indes vermeidet es Freytag krampfhaft, auf Jüdisches zu sprechen zu kommen. Oder er hebt im Gegenteil die sehr positive Rolle der Juden im Mittelalter hervor. Freytag war sich also durchaus bewußt, daß es unheilvolle Lesemöglichkeiten gegeben hat."

Zum anderen wurde auf die politische Situation in der Entstehungszeit der beiden Romane als Verständnishintergrund des Publikums hingewiesen: Sie erschienen in einer Reaktionsphase, als viele jüdische Emanzipationserfolge wieder zurückgedrängt und Juden in Pamphleten als „Wanzen" beschimpft wurden (W. Grab). Die Wahrnehmung, daß Freytag und Raabe als Zeitautoren eigentlich in Opposition zu derartigen Ausfällen standen - eine Erkenntnis, die nicht nur aus der Werkinterpretation, sondern vielmehr aus der Erforschung der „politischen Alltagsexistenz" der Autoren zu gewinnen ist (H. Denkler) - , verhinderten die auffälligen kompositorischen Mängel der Romane. Die Struktur der kontrastierenden Lebenswege verstärkte die einseitige antisemitische Rezeption (H.O. Horch). Bei vielen Lesern waren wohl, so H.-J. Schräder, „Vorurteile als Bildungsbarrieren", die das Erkennen der relativierenden Zwischentöne hemmten, ursächlich für die „Diskrepanz von Intentionen und Wirkungen". Ergänzt werden muß, daß der Verkaufserfolg der Bücher später, unter veränderten politisch-sozialen Bedingungen, noch wuchs, das Vorverständnis der Rezipienten den Ausgangspositionen der Verfasser mithin zunehmend inkongruent wurde. Das Bedürfnis des Publikums nach jüdischen Negativgestalten, nach komischen, verlachbaren Judenrollen, läßt sich auch theaterhistorisch nachweisen (H.-P. Bayerdörfer). H. Denkler: „Die Autoren sehen das Pittoreske der Judenfigur, der Judenproblematik, der Judenfrage. Es ist ein sensationeller Stoff. Und er verspricht literarische Wirkungen zu erzeugen, ohne daß man allzuviel hinzuzufügen braucht. Die Auswertung dieses Stoffes, die Ausnutzung des damit gegebenen Wirkungspotentials wird versucht, ohne daß man die sozialen Fragen anschneidet, die mit ihm verbunden sind. Man bedient sich eines Stoffes um der literarischen Wirkung willen, man hat noch nicht das Sensorium zu bedenken, was damit sozial und über den Weg der Rezeption angerichtet wird."

Was H. Denkler hier mit der Formulierung „skrupellose Unbefangenheit" umschrieb, kann jedoch auch als „Mangel an Reflexion" kritisiert werden (R. Böschenstein). Eine verantwortungsvollere Haltung der Autoren, ein Bewußtsein für ungewollte Wirkungen wird erst von der AntisemitismusDebatte im preußischen Landtag (1880) an spürbar.

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H. Denkler: „Von diesem Augenblick an sind die Autoren, die vorsichtig sein wollen, auch vorsichtig, und sie können sich diese Art des .unbefangenen' Umgangs mit einem wirkungsträchtigen Thema nicht mehr erlauben." H.O. Horch: „Es läßt sich übrigens diese Vorsicht darin nachweisen, daß in Briefwechseln häufig diese Stereotype ganz harmlos und selbstverständlich auftauchen, etwa bei Storm, aber im Werk nach außen hin nicht zu Tage treten." R. Böschenstein: „Ich möchte noch einmal den Gedanken Gutzkows über das .vermiedene Judenstereotyp' aufgreifen. Ich glaube, das gilt auch für Keller. Keller hat im Werk ganz bewußt solche Stereotype vermieden. Man sieht, daß er als Autor ein größeres Verantwortungsbewußtsein hat als im Briefwechsel, wo er sich im Ärger schon einmal gehen läßt. Hier muß man die Autoren auch einmal positiv würdigen, muß auch einmal diese Punkte zusammenstellen." Auch für die den zweiten Teil des Kolloquiums dominierenden Gattungen der Dorf- und Ghettogeschichten wurden die Fragen der Rezeption und Wirkung ausführlich erörtert. Das Problem, wie über Aufnahme von Literatur überhaupt Aufschlüsse gewonnen werden könnten, nannte K. Rossbacher die „typische Ohnmachtsfrage der Rezeptionsgeschichte". Die Autoren-Rolle des „kulturgeschichtlichen Dolmetschers" deute darauf hin, daß beispielsweise Kompert „für Leute geschrieben hat, die nichts von der Lebensweise der böhmischen Dorfjuden wußten, und das wären dann die Christen. Aber auch das ist wahrscheinlich nicht ganz sicher, denn es hätte auch an Juden in Wien gehen können im Sinne des ,Vergeßt-das-nicht*. Anspielungen auf das Bildungsniveau im Text könnten hier zu Rückschlüssen führen. Und schließlich die Publikationsorte." Bedeutsam für die Rezeptionsgeschichte ist weiterhin die Tatsache, daß die jüdischen Dorfgeschichten Komperts schon in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts in die meisten europäischen Sprachen übersetzt worden sind (Th. Winkelbauer). I. Shedletzky: „Die Ghettogeschichten waren ein ganz wichtiger Faktor in der Entwicklung einer deutsch-jüdischen Belletristik im 19. Jahrhundert. Zwar waren sie zunächst innerjüdisch umstritten, avancierten aber dann zum Prototyp überhaupt der jüdischen Belletristik. Weil aber einseitige Wiederholungen skurriler Judentypen den Tod der jüdischen Belletristik bedeutet hätten, mußten Milieuund Sittenschilderungen hinzukommen. - Später war es Karpeles (1898), der über Neuerscheinungen auf dem Gebiet der deutsch-jüdischen Literatur berichtete, gleichzeitig aber forderte, den modernen jüdischen Roman zu schreiben: die Ghettogeschichte sei ein Anachronismus. Parallel dazu entwickelte sich trotzdem auch wieder der Prototyp der Ghettogeschichte. Ihn findet man weiterhin in den deutschen Literaturgeschichten. Das ist ein wichtiger Punkt zur Rezensionsgeschichte, mehr als zur Rezeptionsgeschichte." Hervorgehoben wurde auch, daß die Geschichten Aron Bernsteins in der zionistischen Literaturrezeption eine wichtige Rolle spielten; sie beförderten „die Öffnung zum Ostjudentum" und wurden zum „Vorbild für eine jüdische Renaissance in der zionistischen Bewegung" (I. Shedletzky). Aus dieser Zeitlage heraus wird ebenfalls die „erstaunlich positive Würdigung" Sacher-

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Masochs in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" verständlich (H.O. Horch). Daß auch negative Befunde Indizien für ein mögliches Rezeptionsverhalten geben können, verdeutlichte M. Pazi: „Warum haben die zeitgenössischen jüdischen und nichtjüdischen Leser nicht massiver auf zweifelhafte Stellen reagiert? Es gibt mit Sicherheit Dinge, die dadurch, daß man sie richtigstellt, nur ärger werden. Ich würde darin beinahe eine jüdische oder liberale Reaktion auf den Antisemitismus sehen: die fehlende Reaktion als deutliches Zeichen einer Reaktion." Generell muß mitbedacht werden, daß persönliche Umstände und subjektive Einstellungen fraglos die Rezeption bestimmten, so daß verallgemeinernde Aussagen darüber, was als antisemitisch gegolten hat und was nicht, schwer zu treffen sind (M. Pazi). Auch wenn bestimmte Begriffe, Bilder und Klischees im 19. Jahrhundert mit größerer Unbefangenheit benutzt wurden von dem Furchtbaren, was nach den historischen Erfahrungen und schlimmen Umwertungen an diesen Worten klebt, „kann man sich nicht mehr völlig freimachen" (H.-J. Schräder); heute „gehören die Assoziationen zum Wort dazu, in der reinen Ursprungsfassung kann es nicht mehr isoliert betrachtet werden" (R. Böschenstein). Die Schwierigkeiten der heutigen Literaturwissenschaft mit diesem ausgesprochen problematischen Themenkomplex machte nochmals eine Generaldebatte deutlich: H. Steinecke: „Widerstreitet nicht die Fragestellung, die wir automatisch immer an die Literatur anlegen, nämlich die nach Bildern, Stereotypen, Klischees, automatisch der anderen, daß Literatur von einer gewissen Qualitätsklasse ab versucht, ambivalent zu sein, vielschichtig zu sein, gerade Klischees zu vermeiden oder sie nur zu ganz besonderen Zwecken einzusetzen? Und selbst wenn die Judendarstellung realistisch ist - und sie ist es weitgehend - , hat der Schriftsteller auch eine humanitäre Aufgabe; er darf nicht alles so sagen, wie es vielleicht ist. Er ist ja nicht nur Realist, sondern auch Humanist. Und er meidet wie die Pest irgendetwas, was diese fatalen Assoziationen hervorrufen könnte." R. Böschenstein: „Trotzdem ist es sehr interessant, wie sehr intelligente Autoren sprachlich triviale Klischees in ihren Texten verarbeitet haben, ohne über diese Klischeehaftigkeit nachzudenken. Andererseits muß man vorsichtig sein mit der Annahme, daß gewisse negative Worte Stichworte mit Indizcharakter für die Mentalität der Autoren sind." H. Steinecke: .Aber ist es nicht oft eine spätere Interpretation, in Texten antisemitische Klischees bestätigt zu sehen? Ist das nicht der ideale Leser, der Aufbau und Destruktion von Klischees genau im Sinne des Autors verfolgt? Der normale Leser, und den werden die Autoren ja auch gehabt haben, sieht natürlich seine Klischees bestätigt. Und alle die Feinheiten, die die Literaturwissenschaftler heute herausfiltrieren, die gehen da doch oft unter." H.-P. Bayerdörfer: „Immerhin sollte man nicht übersehen, daß Börne anhand der Posse generell seine Maxime formuliert: Im Falle des Deutschen ist es immer

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so, daß wenn ein Jude auf der Bühne steht, von der dargestellten Figur auf die Allgemeinheit geschlossen wird." H.O. H o r c h : „Trotzdem ist die Frage ja sehr genau zu stellen, wie perspektiviert der Autor jeweils? Ist es eine auktoriaie Perspektive, eine eindeutig erkennbare? Der späte Raabe ist nur ein Beispiel, wie komplex das Problem ist entgegen manchen Vorstellungen, Literatur könne man einfach als historische Quelle ohne Übersetzungsvorgang sehen. Stellen können immer nur im ganzen Kontext funktionieren, übrigens eine zentrale Frage, die bis hin zur Fassbinder-Diskussion immer wieder virulent geworden ist. Eine ganz zentrale Frage des Verhältnisses von Literatur und Antisemitismus." M. Pazi: „Ich glaube allerdings trotz allem nicht, daß man einen Juden nicht negativ darstellen darf. Das sind Menschen wie alle anderen Menschen. Er darf natürlich nicht verzerrt sein. Und ein edler Jude ist genauso verzerrt wie ein schlechter."

Reaktionen auf den Antisemitismus Literarhistorisch als sehr schwierig erwies es sich auch während dieses Symposions, offizielle jüdische Reaktionen auf den Antisemitismus - außer von Börne - vor der letzten Jahrhundertwende nachzuweisen. Denn erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts interessierte sich die jüdische Presse intensiv für literarische Rezensionen und Besprechungen von Theateraufführungen. (I. Shedletzky) Zweifellos gab es Bühnenstücke, die antisemitische Aufführungen mit Hilfe von überdurchschnittlich edel konzipierten Figuren zu konterkarieren versuchten. Jedoch darin lag gleichzeitig auch ihre Schwäche: die Judenrollen wurden zu unfreiwilligen Karikaturen. Diese Werke - so betonte H.-J. Neubauer - bildeten sogar eine zeitlich begrenzte Tradition, die im Anschluß an Sessa aufkam, aber nur kurz und halbherzig war. Paradigmatisch für diese These: Julius von Voß, der ein pro-jüdisches Gegenstück zu Sessas Verkehr geschrieben hatte, das aber letztlich nicht gespielt wurde; Voß galt im preußischen Berlin als „outcast", bekam theatergeschichtlich erst um 1820 Einfluß und Wirkung. (H. Denkler) Das lag auch daran, daß jüdische Rollen es insgesamt schwer hatten, vom Publikum als seriös bewertet zu werden: ν

V. Zmegac: „Wenn man die jüdische Rolle als komische Rolle per se sieht, dann handelt es sich um den Versuch, eine in der sozialen Realität vorhandene, sehr auffällige, sehr prägnante Gestalt sozusagen umzufunktionieren für Zwecke der Bühnenkomik, und dann handelt es sich um einen relativ künstlerisch-immanenten Vorgang. Der Jude ist einfach jemand, der durch bestimmte Merkmale auffällt und somit zum Lachen beim Publikum reizt, eine Gestalt, die sich leicht modellieren läßt. Der sozialgeschichtliche Hintergrund dieser Immanenz wäre dann die Schlußfolgerung, man muß nicht unbedingt von einem antisemitischen Background sprechen."

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Sicherlich schrieben David Kaiisch in Berlin und Leo Berg in Wien für die populären Unterhaltungstheater und Vorstadtbühnen mit ihren pro-jüdischen Possen gegen die antisemitische Negativ-Posse an, womit die zeitgenössische Debatte abgefangen wurde. Doch ihr umgestalteter .Nathan der Possenbühne' lebte nur noch bis in die sechziger/siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, bis zu einer Zeit, wo das Bildungstheater mit seinen klassischen Judenrollen fast schon resigniert hatte: hier wurde nur noch die ästhetische Qualität des einzelnen Schauspielers beurteilt, nicht mehr der ideologische Transport der Rolle selbst. So bleibt - wie H.-P. Bayerdörfer schloß - „die Unbesorgtheit eines Teiles der deutschen Juden hinsichtlich antisemitischer Tendenzen im Theater- und Literaturbereich in der Tat aufregend". Zugleich ist es offenkundig, daß das Publikum die komische Judenrolle verlangte. Dabei hatten viele Possenjuden dramaturgische Verknüpfungs- oder dialogische Vermittlungsfunktionen: es waren zumeist kleine, kurze Rollen, die gerade deshalb leicht Stereotype transportieren konnten (H. Denkler). So muß man grundsätzlich davon ausgehen, daß der einfache positive Jude des 18. Jahrhunderts das 19. Jahrhundert nicht mehr erreichte, während die Possenjuden präsent blieben (H.-P. Bayerdörfer). Gerade im Theaterbereich sind jüdische Reaktionen, gemessen an den Äußerungen der Nichtjuden, selten. Antisemitische Stücke wurden besonders von assimilationsorientierten Juden ausgegrenzt aus dem gemeinsamen Kontext des kulturell akzeptierten Niveaus, wurden zum unerheblichen Teil der Theaterkultur (H.-J. Neubauer). Ähnlich äußerte sich die durchschnittliche Reaktion der nichtjüdischen Literaturkritiker: Das Stück wurde ästhetisch abqualifiziert, „und damit hatte man es auch ideologisch vom Tisch" (H. Denkler). Die Wirkung wurde weitgehend übersehen. Insgesamt gab es indes auch hier keine einheitliche Position. So schrieb Aron Bernstein zu jüdischen Problemen nur ganz vereinzelt. Als er mehrfach als Jude angegriffen wurde, reagierte er trotzdem gemäßigt. Wie Auerbach wurde er erst durch die Antisemitenbewegung wirklich aufgeschreckt. Nun agitierte er besonders gegen Stoecker. Das war typisch für eine ganze Generation. Denn die fünfziger und sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren für die Juden Jahre der Hoffnung. Die Enttäuschung setzte erst Ende der siebziger Jahre ein (J.H. Schoeps). Karl Emil Franzos gar war Mitglied in deutschnationalen Burschenschaften, hielt großdeutsche Reden (M. Pazi). Schließlich ist Gutzkow trotz seiner äußerst ambivalent angelegten Judengestalten in der jiddischen Liteatur und im jiddischen Theater der Jahrhundertwende und danach eine populäre Figur gewesen (I. Shedletzky). Selbst in innerjüdischen Debatten aus Anlaß Gutzkowscher Artikel wurde er von prominenten Juden verteidigt (H. Steinecke).

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Perspektiven der Forschung „Warum sind wir denn so oft auf Klischees gestoßen?" - H. Steinecke lenkte mit dieser das Grundproblem deutsch-jüdischer Literatur berührenden Frage am Ende der Tagung genau auf die Bereiche und weißen Flecken der Forschung, die in Zukunft notwendig gefüllt werden müssen, will man nicht in einem Additionsprinzip positivistischer Faktenhäufung stecken bleiben: „ Z u r e c h t haben wir zwar Anleihen bei der Sozial- und Kulturgeschichte gemacht, doch wenn wir uns mit Erfahrungsräumen beschäftigen, müssen wir mehr mit der Mentalitätsgeschichte arbeiten. Das scheint bisher ein Defizit gewesen zu sein, das dafür verantwortlich ist, daß wir uns so viel mit Autoren beschäftigt haben, die eine Reihe von Klischees literarisch einsetzen. Denn ein Autor der Mittelklasse kann das Neue nur in alte Bilder fassen und die neuen Erfahrungen meistens nur in Mythologemen auffangen."

Während sich die bisherige Diskussion vor allem auf sprachliche Muster und Versatzstücke bezogen habe, so auch H.-J. Schräders weiterführender Gedankengang, müsse man zu einer „versuchsweisen Anwendung von solchen Momenten kommen, wie sie in der Trivial-Literaturforschung mit dem Begriff der Schema-Literatur eingesetzt worden sind. Dies ist besonders wichtig, weil damit Lesebedürfnisse, Sensationsreize, Wiedererkennungseffekte u.ä. genauer beschreibbar gemacht werden könnten. Eine solche Weiterfuhrung ist insofern also wichtig, als man da an die Mechanismen herankommt, die sich mit der Ideogenese in Deutschland verbinden lassen. Die Trivial-Literatur hat eben nicht als Einzelwerk, sondern als Gesamtphänomen eine ganz ungeheure Wirkung gehabt. Auf die Frage aber, ob hier die Schemarichtungen andere sind oder vielleicht bloß Anleihen, ist bisher überhaupt noch nicht eingegangen worden". Mit dem erneuten Rückbezug auf die Wirkungsfunktionen von Werken wurde noch einmal deutlich, daß besonders Lücken auf dem Gebiet der Leserschichtenforschung zu beklagen sind (K. Dittmar). Allerdings würden isolierte Analysekriterien nicht nur in diesem Fall den Blick über Einzelprobleme der deutsch-jüdischen Literaturgeschichte hinaus eher verhindern. Einzeluntersuchungen sollten somit „eingebettet werden in den Rahmen einer generellen Klischeeforschung. Denn es besteht immer die Gefahr, daß man etwas Generelles für etwas Spezifisches hält. Und wenn überhaupt etwas als Klischee wirkt, muß man sich fragen, ob es in den verschiedenen Sprachen und Literaturen verschieden oder vergleichbar ist. Hier fehlt einfach ein konkreter linguistischer Rahmen". (R. Böschenstein) So müßte unter Einschluß einer Forschungsdisziplin wie der Komparatistik grundsätzlich das Problem des Transfers von Primärwerken, Begriffen und ideologischen Floskeln aufgearbeitet werden (H.-P. Bayerdörfer). Exemplarisch wäre auf dieser Ebene zum Beispiel die Reaktion in der jüdischamerikanischen Literatur gegen Ende der zwanziger Jahre auf die Entwick-

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lung in Deutschland zu analysieren (K. Dittmar), während im deutschen Sprachraum noch viel detaillierter zwischen einzelnen Literaturformen und Genre-Systemen unterschieden werden könnte. H. Steinecke: „Stichwort: Literaturkritik, Theaterkritik, Journalismus. Wie ändert sich hierbei Stil und Sprache der Literatur, wenn die Grenzen sich auch teilweise de facto verwischen? Natürlich knüpfen sich daran populäre Vorurteile durch die Identifizierung solchen Schreibens mit der sogenannten Asphalt-Literatur als .zersetzender Literatur', durch die Transponierung des Begriffes Journalismus zum Schimpfwort."

Als ähnlich bearbeitungswürdig gelten vor diesem Hintergrund .Judendarstellungen in der Karikatur, insbesondere in Witzblättern" (H.-P. Bayerdörfer), „die Geschichte der Illustrationen" (H.O. Horch), „die stilistische Funktion des Jiddischen, das mit ironischen Mitteln negative Stereotype transportiert hat" (K. Dittmar), der gesamte Bereich der programmatischen „antisemitischen Literatur" (H. Denkler), „die Rezeption deutscher Literatur in den hebräischen Zeitschriften", eine Arbeit, die im übrigen die letzte Forschungslücke im Verhältnis zwischen deutsch-jüdischer Literatur und Publizistik schließen würde (I. Shedletzky), wie schließlich die thematische Ausweitung des Projektes >rJuden und Antisemitismus in der Popular-Literatur" auf den Rahmen der „Popular-Kultur": H.-P. Bayerdörfer: „Hier stehen besonders Fragen nach den Wirkungsmustern im Vordergrund. Da gibt es ja auch eine systematische und wissenschaftstheoretisch sehr anspruchsvolle Semiotik, die versucht, in allen außersprachlichen Bereichen entsprechende Bedeutungsmuster einschließlich der Stereotypenforschung dingfest zu machen und Beschreibungs- und Kategorisierungsmuster zu entwickeln. Man müßte die populäre Erzählung sowohl im historischen Rahmen als auch vom historischen Ansatz her überprüfen. Man ist relativ schnell aufgeschmissen, wenn man es mit dem visuellen künstlerischen Rand von Darstellungen zu tun hat. Es fehlt einfach am Handwerkszeug, um sie zu erfassen, und es fehlt an den Kenntnissen, ganz bestimmte historische Entwicklungen zu ergreifen, zu erkennen und wahrzunehmen."

Ein historisches .Handwerkszeug', das in einer Reihe von Bereichen noch seiner Komplettierung bedarf: Viel detaillierter sollten die historischen Rahmenbedingungen (W. Häusler) untersucht werden; sinnvoll könnte hier eine Zusammenstellung aller Arbeiten zu den diversen Gebieten der Regionalgeschichte sein (W. Grab). Es fehlen exakte juristische Arbeiten (M. Pazi), die besonders das Problem der Administration näher beleuchten (W. Häusler). Auch sind die Mängel bisheriger kirchenhistorischer Untersuchungen keinesfalls beseitigt (H.-J. Schräder), klaffen Lücken hinsichtlich psychologischer und theologischer Interpretationsmuster (H. Denkler). Und nach wie vor bestehen inceder Arbeit Definitionsschwierigkeiten bei Begriffen wie .jüdisch', .Judentum' und ,Jude' (I. Shedletzky, H.O. Horch). Am Ende dieses Kolloquiums wurde eines mehr als deutlich: In Zukunft muß sich die Forschung verstärkt auf übergreifende Themen konzentrieren,

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weniger auf einzelne Autoren (M. Pazi). Und sie darf schließlich den Sprung in die Moderne nicht verpassen: W. Grab: „Das Jahr 1918 ist für das deutsche und in etwas geringerem Maße auch für das österreichische Judentum eine Zäsur. Und zwar aus einem bestimmten historischen Grunde, der sich natürlich auch literarisch niederschlägt, insbesondere in der Publizistik. Weil nämlich 1918 verfassungsmäßig die Juden real alle diejenigen Posten einnehmen konnten, die ihnen vorher von der Obrigkeit verwehrt worden waren, und darauf mit wilden antisemitischen Exzessen reagiert wurde. Solche Exzesse sind dagegen zur Zeit der alten Autorität und Monarchie nicht möglich gewesen. Von unten konnten solche Hitlers nicht hochkommen unter Wilhelm oder unter Franz Joseph. Nicht nur, weil die Situation eine andere war, sondern sie wurden nicht gelassen. Es waren natürlich solche potentiellen Typen da. Aber sie konnten nicht hochkommen."

So wird auch für den Zeitraum nach 1918 ein interdisziplinärer Ansatz, der Austausch und die gegenseitige Ergänzung zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft unter Einschluß von Sozial-, Kultur-, Mentalitäts- und Religionsgeschichte notwendig sein, um den Aufgaben verantwortungsvoller Forschung gerecht zu werden und Erkenntnisfortschritte zu erzielen. Wie zentral diese Aufgabe auch heute ist, zeigt sich darin, daß Phänomene, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts virulent waren, sich in der Weimarer Zeit über das Dritte Reich hinaus bis in die Gegenwart nachweisen lassen: so gab es in Mittelfranken in den sechziger Jahren noch immer einen hohen Anteil von NPD-Wählern, existierten noch bis vor kurzem in Schleswig-Holstein Straßen mit den Namen der beiden Antisemiten Bartels und Schönerer. (W. Jochmann) Mehr denn je (so H. Denkler abschließend) müsse man deshalb die Forderung der Schriftstellerin Christa Wolf im Ohr behalten: „Wovon man nicht reden kann, davon muß man langsam zu schweigen aufhören."

Personenregister

Abeles, Lazar 333 Abeles, Simon 333 Abraham, Hilda C. 287 Abraham, Karl 287 288 293 303 304 309 Achad Haam 299 Acosta, Uriel 125 Adam, Edmonde 170 Adam, Paul 62 Adler, Max 159 Adler, Victor 25 28 Aguet, R. 53 Albertsen, Leif Ludwig 90 Altenberg, Peter 295 319 Altenhofer, Norbert 324 325 Amann, Paul 200 201 202 205 Amyntor, Gerhard von 228 229 Anderson, George K. 53 Andrássy, Graf 202 Andreas-Salomé, Lou 294 298 305 307 Angely, Louis 114 Angenot, Marc 59 Angress, Ruth K. 89 90 91 Aram, Max 149 238 245 Arendt, Dieter 148 Arndt, Ernst Moritz 90 302 Arnim, Achim von 72 73 76-80 83 84 85 86 87 88 91 Arnim, Bettina von 87 Arnim, Karl Otto Ludwig von 84 Aron, Raymond 52 Aronheim, Adolf [Aron] 153

Ascher, Saul 74 78 Assoun, P.-L. 310 Auerbach, Berthold Vni 118 119 121 130 140 144 146 147 149 152 153 158 159 202 203 204 205 206 215 219 220 221 222 227 232 235 240 241 243 247 250 252 352 Auerbach, Jakob 118 Auspitz (Familie) 185 Bab, Julius 117 326 Babilas, Wolfgang 70 Bachenheimer, S. 149 158 163-165 Badeni, Graf 30 Bahr, Hermann 19 20 21 70 188 295 Bakan, David 287 Balzac, Honoré de 52 59 60 61 342 Banville, Théodore de 62 Barbeau, R. 71 Barber, Ida 248 Bardeleben, Hauptmann von 79 Bamay, Ludwig 127 Barnekow, Curth von 79 Barruel, Augustin 58 Barta, Johannes 214 Bartels, Adolf 355 Bartfeld, F. 53 Barth, Karl 80 Baruch (Geschäftsmann) 152 Baß, Josef 150 Bassan, Fernande 53

358

Bauer, Jean-Marie 67 Bauer, Otto 33 Bauernfeld, Eduard von 281 Baum, Oskar 227 Baumann, Mademoiselle 96 Baumgarten, Alexander Gottlieb 243 Baur, Uwe 202 251 Bayerdörfer, Hans-Peter VIII 92-117 244 251 339 341 342 345 348 350 352 353 354 Bebel, August 21 Beck, Hanno 186 Beck, Karl 206 240 Beer-Hofmann, Richard 289 292 296 302 306-309 Behrendt, Bernd 15 Benda, Julien 71 Benecke 85 Bensheimer (Verlag) 283 Berg, Leo 149 352 Berg [Ebersberg], Ottokar Franz 116 Berger, Alfred von 188 Bergmann, Hugo 299 Bergson, Henri 71 Bermann, Tamar 256 Bernays, Isaac ,Chacham' 293 294 Bernays, Issak s. Schiff, Hermann Bernays, Jacob 294 Bemays, Michael 291 294 Bernstein, Aron VIII 215 219 221 222 234-246 247 250 262 263 340 345 349 352 Bernstein, Henry 71 Bettelheim, Anton 172 204 220 Bevilacqua, G. 295 Bie, Oscar 149 Bieberstein, Johannes Rogalla von 56 Bielolahwek, Hermann 187

Personenregister

Bihl, Wolfdieter 193 Billroth, Theodor 24 Bin Gorion (Berdyczewski), Micha Josef 298 Binswangen Ludwig 296 Birnbaum, Nathan 20 Birus, Hendrik 267 Bischoff, E. 287 Bismarck, Otto von 2 12 221 320 Blaicher, G. 256 Bleichröder, Salomon 85 Bloch, Joseph Samuel 26 Bloy, Léon 71 Blücher, Gebhard Leberecht Fürst 138 Blum, Léon 71 Blum, Robert 114 Blumenkranz, Bernhard 55 56 Blumenthal, Oscar 159 166-168 Bock, Claus Victor 81 Boeckel, Otto 9 Boehlich, Walter 5 148 Böhm, P. Conrad 199 200 Börne, Ludwig 111 118 121 123 152 153 201 294 346 350 351 Böschenstein (-Schäfer), Renate Vin 87 287-310 302 342 343 344 345 347 348 349 350 353 Böttcher, Kurt 327 Bonnières, Robert de 66 Bonz (Verlag) 229 Born (Familie) 140 141 Bom, Max 130 140 141 Botz, Gerhard 187 Bourget, Paul 64 67 Boussei, P. 70 Boyer, John W. 19 Brakelmann, Günter 5 Brandeis (Verlag) 248 260 Brandes, Wilhelm 150 151 Bréal, Clotilde 68

Personenregister

Breasted, James Henry 304 Bredin, Jean-Denis 58 Brentano, Clemens 72 73 77 78 84 85 87 88 89 90 91 241 Breßlau, Harry 116 157 Briegel, Manfred 82 Briegleb, Klaus 157 250 Britschen-Schimmer, Ina 325 Brockhaus, F.A. (Verlag) 119 Brockhusen-Langen, von 10 Brodzki 134 Bronsen, David 251 324 Broszat, Martin 133 Bruck, Karl Ludwig Freiherr von 206 Brühl, Moriz Augustin 153 Brühw.ein, Johann Friedrich Leonhard 106 Brunner, Sebastian 24 209 Brunschwig, Henri 124 Buber, Martin 298 299 300 301 303 304 325 326 329 344 Bucher, Max 251 Büchmann, Georg 127 Bülow, Hans von 10 Bürger, Gottfried August 107 Büsching, Johann Gustav 102 103 Bunzl, John 19 33 Busch, Isidor 203 205 Byrnes, Robert F. 52 Cahan, Abraham 50 51 Cahun, David Léon 61 69 Calé, Walter 296 313 Caliseli, Edward Ν. 35 Carassus, E. 70 Carotenuto, Α. 305 Carpin, Dr. s. Pinn, Karl Carter, T.E. 146 Castex, Pierre-Georges 60 Castle, Eduard 201 248 Céline, Louis-Ferdinand 69 Cerf 67

359

Cervantes Saavedra, Miguel de 197 Chabauty, E.A. Abbé 58 Chaix-Ruy, J. 59 Chamberlain, Houston Stewart 29 315 321 Champaigne, Philippe de 291 Charmatz, Richard 209 Charnacé, Guy de 61 Chasot, Graf von 79 Chateaubriand, Francois-René de 53 62 63 Chatrian, Alexandre 68 Chemouni, J. 291 292 297 305 Chiarini, Abbé Louis (Luigi) 58 Chmelnicki, Bogdan 271 Classe, Kurt 143 Claudel, Paul 64 Cleemputte, Adolphe van s. Simond, Charles Clermont-Tonnère, Stanislas de 97 Cohen, Hermann 160 299 Cohen, Jules 67 Cohn (Familie in Wolfenbüttel) 152 Cohn, Frau Dr. 152 Conrads, Norbert 136 Conze, Werner 59 Corrodi, August 88 Corti, Egon Caesar Conte 56 Cotta (Verlag) 220 221 259 Crémieux, Adolphe 57 Cromwell, Oliver 53 Csokor, Franz Theodor 20 Cumberland, Richard 35 36 94 98 99 100 101 114 Daim, Wilfried 29 315 Dalberg, Wolfgang Heribert Freiherr von 95 96 97 98 Dansette, A. 57 Darmesteter, Arsène 59 Darmesteter, James 59

360

Darwin, Charles 184 186 279 Daudet, Alphonse 61 62 70 David, Jakob Julius 296 297 Davis, Eliza 40 41 Debré, Moses 52 Deckert, Josef 26 27 Deleuze, Gilles 265 266 268 Delhorbe, C. 70 Demandi, Karl E. 260 Denkler, Horst VII VIII 19 92 112 116 130 148-168 148 153 155 159 248 337 338 339 340 341 342 343 345 347 348 349 351 352 354 355 Denscher, Bernhard 196 Dessau, Bettina 92 Dessauer, Der alte s. Leopold I. von Anhalt-Dessau Dessauer, Julius Heinrich 153 Deutsch 67 Deutsch, Ernst 93 Deutsch, Otto Erich 203 Devrient (Familie) 117 Devrient, Emil 127 Devrient, Ludwig 109 110 113 115 Diaghilew, Sergej 308 Dickens, Charles 36 40-43 343 Diderot, Denis 55 Disraeli, Benjamin 36 50 Dittmar, Kurt VU 35-51 343 353 354 Doebbelin, Carl Theophil 94 Döring, Heinrich 102 115 Dohm, Christian Wilhelm von 98 Dollfuß, Engelbert 316 Dollingen 67 Domitian 328 Donath, Oskar 192 Donnay, Maurice 64 65 Doryon, Israel 297 Dove, Alfred 4 131 281

Personenregister

Drabek, Anna 185 187 Dreyfus, Alfred 30 52 53 54 57 61 69 70 71 92 158 291 340 Dreyfus, François Georges 59 Drieu la Rochelle, Pierre 69 Droste-Hülshoff, Annette von 243 Droysen, Johann Gustav 85 135 138 141 142 143 281 Drumont, Edouard 61 62 67 70 71 Dühring, Eugen 5 Duerr, Hans Peter 172 Du Gard, Roger Martin 70 Dumas Fils, Alexandre 65 Du Maurier, George Louis 35 50 Duncan, Bruce 76 80 91 Duncker, Maximilian 134 135 138 142 Ebeling, Hans-Heinrich 153 Ebers, Georg 229 230 231 281 Ebner-Eschenbach, Marie von 176 177 187 Eckert, Willehad P. 31 Eckhof, Conrad 95 Eckstein, Ernst 229 Edgeworth, Maria 36-39 40 43 48 Edgeworth, Richard Lovell 36 Edinger, Dora 150 Ehrmann, Salomon 192 Eichendorff, Adolf von 84 Eichendorff, Joseph von 73 75 76 80 84 85 86 88 90 Eichendorff, Wilhelm von 84 Eichmeier, Jens Peter 135 Eisenlohr, Dr. 9 10 Eisenmenger, Johann Andreas 26 78 91 Eisfeld, Gerhard 138 Elias, Norbert 172 174-176 180 183 184 341

Personenregister

Eliot, George 36 39 40 45 48-50 Eliot, Thomas Stearns 180 Eloesser, Arthur 86 Elster, Ernst 142 Elster, Hanns Martin 159 Elster, Otto 159 Engel, Eduard 149 Engel, Johann Jakob 95 100 Engels, Friedrich 27 28 33 Epstein, Paul 149 Erb, Rainer 72 108 149 Erckmann, Emile 68 Erdmann, Karl Dietrich 75 Ernst II., Herzog von SachsenCoburg-Gotha 134 136 138 142 144 146 147 Ersch, Johann Samuel 102 Estermann, Alfred 122 Eulenberg, Herbert 150 Fagin, Robert 42 Falkenstein, Seckel 151 Farin, Michael 258 259 260 283 Farin, Susanne 269 Fassbinder, Rainer Werner 93 351 Federn, Paul 294 Feilchenfeldt, Konrad 72 87 Ferenczi, Sándor 303 305 Fetscher, Iring 28 Feuchtwanger, Lion IX 83 326-329 332 Feuchtwanger, Ludwig 83 Fiala, Brigitte 207 Fichte, Johann Gottlieb 78 83 84 89 Fiedler, Leslie 49 Fisch, Harold VII 35 37 Fischer, Heinrich 316 Fischer, Rolf 30 Fischer, Wilhelm 228 Fischer-Lichte, Erika 96 100 Fischhof, Adolf 196

361

Hem, L. 288 Fließ, Wilhelm 287 290 291 298 300 308 Fluß, Emil 288 Förster, Eva 70 Fontane, Theodor 86 126 144 296 France, Anatole 70 Francke, Karl 142 Frank, Peter 196 Frank, Walter 16 Frankl, Ludwig August 201 202 203 Frantz, Constantin 2-4 Franz, Georg 209 Franz Ferdinand, Erzherzog von Österreich 316 Franz Josef I., Kaiser von Österreich 187 193 355 Franzos, Heinrich 218 Franzos, Karl Emil VIII 149 197 201 202 210 211 212 213 215 218-233 235 243 244 245 247 250 259 260 261 262 263 264 275 280 352 Franzos, Ottilie 220 231 Frenzel, Elisabeth 53 92 98 102 117 Freud, Ernst L. 287 288 293 294 Freud, Jakob 288 308 Freud, Martin 292 Freud, Sigmund VIII 29 31 81 267 287-310 320 330 344 Freund & Jeckel (Carl Freund) 245 Freytag, Gustav VII 90 130-147 149 187 275 346 347 348 Friedeberg, M. 262 Friedegg, Emst 221 Friedeil, Egon IX 318-322 332 Friedjung, Heinrich 25 Friedmann, Egon s. Friedell,

362

Egon Friedrich Π., der Große, König von Preußen 98 138 320 Fries, Jakob Friedrich 72 73 Friesen, Gerhard K. 119 Frühwald, Wolfgang 72-91 77 82 85 Fuchs, Friedrich 84 Furth, Pierre-Pascal 69 Gall, Franz-Joseph 59 Gans, Eduard 120 Gautier, Théophile 63 Gay, Peter 181 310 Gebhardt, Bruno 75 84 Gebhardt, Walther 131 Geffcken, Heinrich 132 Geffcken, Johannes 132 Geiger, Abraham 239 240 Geiger, Ludwig VIII 220 234 239 262 280 Geis, Robert Raphael 12 Gelber, Mark H. 149 Gellion-Danglar, Eugène 59 Gensei, Reinhold 120 125 126 128 George, Stefan 81 Gerhardt, Dagobert von s. Amyntor, Gerhard von Gerlach, Antje 130 Gerschel (Verlag) 245 Gide, André 71 Gilbert, Felix 141 Gill, Arnon 133 Gille, B. 56 Gilman, Sander L. 90 251 Girardin, Delphine 61 Glaser, Adolf 149 158 Gleichman, Peter 174 175 Gneisenau, August Wilhelm von 79 138 Gobineau, Arthur Comte 58 59 322 Goebel, Heinrich 150

Personenregister

Görres, Joseph 81 90 Goethe, Johann Wolfgang 14 76 77 78 79 81 104 185 273 275 280 319 Gok, Carl 310 Gold, A. 302 Gold, Hugo 196 Goldbaum, Dr. (Sanitätsrat) 235 Goldbaum, Wilhelm VIII 198 224 243 262 263 264 285 Goldmann, N. 55 Goldschmied, M. 247 Goldschmidt, J. 281 Goldschmidt (preuß. Generalkonsul) 206 Goldstein, Moritz 299 Goldstücker, Eduard 216 Goluchowski, Agenor Graf 194 Gomperz (Familie) 185 Gomperz, Frau 258 Gomperz, Heinrich 187 Gomperz, Rudolf 189 Gomperz, Theodor 187 188 189 Goncourt, Brüder 52 61 Gordon, Milton 173 Gorse, L. 58 Gosche, Dr. 152 Gottschall, Rudolf von 281 Goudsblom, Johan 174 175 Grab, Walter IX 74 216 313-336 323 325 333 338 339 340 341 342 348 354 355 Graetz, Heinrich 208 209 Graf, Hans 294 297 Graf, M. 294 297 Grauthof, Ema 68 Grauthof, Otto 68 Green, N. 56 Gregor, Joseph 117 Gregorig, Josef 187 Greive, Hermann 70 Greschat, Martin 5 Greve, Ludwig 317

363

Personenregister

Grillparzer, Franz 86 177 196 296 Grimm, Jacob 73 85 91 Grimm, Wilhelm 73 85 91 Grodzinsky, F.S. 60 Grote, G. 160 Gruber, Johann Gottfried 102 Grubrich-Simitis, Ilse 288 Grün, Anastasius 200 Grünfeld, Max 240 Gubitz, Friedrich Wilhelm 242 Guesde, Jules 57 Guinon, Albert 61 62 Gutzkow, Karl VIII 118-129 144 184 250 349 352 Gyp s. Martel de Janville, Sibylle Comtesse Haas, Willy 317 318 Haberland, Detlef 169 186 Hadrian 68 Häntzschel, Günter 250 Härle, Heinrich 117 Härtl, Heinz 76 77 78 79 84 Häusler, Wolfgang VII 19-34 19 20 23 174 185 201 207 248 338 340 341 354 Halévy, Jacques Fromental 53 67 Halévy, Jehuda 294 Halévy, Léon 59 Hamerling, Robert 31 153 281 Hammerschlag, S. 291 Hamsun, Knut 321 Hannibal 290 Hansen, Marcus Lee 49 50 Harap, Louis 35 Harden, Maximilian 149 313 322 323 Hardenberg, Friedrich von s. Novalis Hardenberg, Karl August Fürst von 73 76 77 83 88 89 106 120 124

Hardy, Barbara 40 Hartenau, W. s. Rathenau, Walther Hartmann, Eduard von 221 Hartmann, Moritz 153 155 199

200 Hasper, Eberhard 264 Hauptmann, Gerhart 295 Hausmann, Frank-Rutger VII 52-71 69 340 342 345 Hawlik, Johannes 188 Haym, Rudolf 135 138 Hebel, Johann Peter 147 Heer, Friedrich 30 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 124 141 Heim, C. 297 Hein, Jürgen VIII 204 Hein, Robert 19 Heine, Heinrich Vffl 74 86 121 152 153 156 157 200 201 240 243 247 250 292 327 Heinemann, William 50 Heinrich, Gerd 87 Heintz, Günter 122 Heller, Isidor 200 Hellige, Hans Dieter 322 Hellwing, Isak A. 19 Hempel, Karl Friedrich 136 Henckmann, Gisela 76 78 Henschel, Brüder 117 Herbig (Verlag) 203 Herder, Johann Gottfried 108 299 Herlitz, Georg 248 272 Herloßsohn, Karl 114 Hermand, Jost 247 260 Hermann, Georg 344 Herrmann, Renate 135 139 Hertzberg, Arthur 55 Herz, Cornelius 57 Herz, Henriette 87 Herzberg-Fränkel, Leo VIII 226

364

247-257 261 Herzfeld, Hans 87 Herzig, Arno 337 Herzl, Theodor 20 32 92 149 217 255 291 299 300 315 Hess, Moses 245 Heydebreck, Claus von 133 Heymann (Verleger) 88 Heyse, Paul 234 296 Hilberg, Arnold (Verlag) 252 Himmel, Helmuth 177 Hinrichs, Carl 132 Hirsch, Moritz Baron von 249 Hirsch, Rudolf 301 Hirschfeld (Verleger) 88 Hirschler, Gertrude 52 Hirzel, Salomon 131 132 135 137 138 141 Hitler, Adolf 29 30 315 316 321 328 334 355 Hitschmann, Eduard 297 Hock, Stefan 196 197 198 199 200 201 202 203 204 206 208 215 Hölderlin, Friedrich 310 Hölty, Ludwig Christoph Heinrich 199 Hoffmann, Christhard 52 131 149 173 244 251 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 85 Hofmann, Isaak Low 318 Hofmannsthal, Hugo von IX 251 289 292 295 296 301 302 303 308 309 315 316-318 339 Hohenlohe, Fürstin Marie zu 172 Hohenlohe-Ingelfingen, Prinz Carl 11 Holbach, Paul Baron von 55 Holder, C. ten 71 Holeczek, Heinz 97 Holst, Ludolf 88

Personenregister

Holubek, Franz 26 Homberg, Herz 191 Homer 293 Honigmann, David 240 Horch, Hans Otto VIII 19 69 112 124 130 131 146 147 149 215 220 222 234 248 258-286 260 261 343 344 345 346 348 349 350 354 Horwitz, Lazar 209 Hotho, Heinrich Gustav 152 Houben, Heinrich Hubert 119 124 127 128 Howells, William Dean 51 Hubrich, Peter Heinz 145 Hübner, Rudolf 135 141 Hugo, Victor 53 281 Humboldt, Wilhelm von 87 Iffland, August Wilhelm 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 110 111 112 117 Iggers, Wilma A. 192 196 205 217 240 Ilg, Albert 169 Itzig, Moritz 76 78-80 83 84 88 Jacobowski, Ludwig 149 164 Jacobs, Monty 102 Jacoby, Joel 122 123 155 Jaffé, Aniela 304 Jamme, Christoph 310 Jean Paul 250 Jellinek, Adolf 196 235 Jensen, Marie 153 155 156 157 Jensen, Wilhelm 153 156 295 Jentzsch, Helmut 94 95 Jochmann, Werner VII 1-18 1 5 174 341 355 Johnson, Uwe 148 160 Jolies, Charlotte 136 Jones, Emest 290 Joseph Π., Kaiser 21 24 98 192 193 195 213 217 249 275 Josephus, Flavius 328

Personenregister

Jüdel, Max 152 158 Julius (Verleger) 88 Jung, Carl Gustav 303 304 305 306 Jurt, Joseph 61 Kafka, Franz 251 297 Kahler, Erich von 299 Kahn, Lothar 251 327 Kaiser, Friedrich 170 172 Kaiser, Gerhard R. 85 Kaiisch, David 116 352 Kampmann, Wanda 158 Kann, Robert A. 187 Kant, Immanuel 243 310 Karl VI., Kaiser 190 Karniel, Josef 192 Karpeles, Gustav 149 220 247 248 260 262 278 349 Kauffmann (Familie) 141 Kaufmann, Jacob 130 205 Kautsky, Karl 28 Kaznelson, Siegmund 86 Kean, Edmund 112 113 Keller, Gottfried 349 Kemp, Friedhelm 77 Kempf, R. 59 Kessler, Harry Graf 308 Kestenberg-Gladstein, Ruth 190 191 192 195 212 217 Kienzle, Michael 145 Kinder, Hermann 145 Kindermann, Heinz 95 Kirk, Clara M. 51 Kirk, Rudolf 51 Kirschner, Bruno 248 272 Kisch, Egon Erwin IX 332-334 Klahr, Alfred 20 Klanska, Maria 221 248 Klapp, Michael 208 Klar, Paul Aloys 211 Klarfeld, Abraham 218 Klein, Luce Arthur 52 Kleist, Heinrich von 88 296

365

Klopstock, Friedrich Gottlieb 199 Knecht, Edgar 53 Knies, Karl 143 Kobler, Franz 56 Köhnke, Klaus Christian VII 130-147 340 Körner, Josef 78 Kohn, Abraham 249 Kohn, Adolf 136 Kohn, Elias 228 Kohn, Hans 299 Kohn, Salomon 240 247 Kohut, Heinz 81 82 Koller, Carl 291 Komlóssy (ungar. Antisemit) 26 Kompert, Leopold VIII 69 130 190-217 219 220 222 223 224 226 235 240 243 245 247 250 251 255 262 263 342 343 349 Kompert, Marie 206 Kompert, Moritz 199 206 Kopetz, W. Gustav 191 Koralek, Philipp 67 Körte, Hermann 174 175 Kortländer, Bernd 119 Kortzfleisch, Siegfried von 19 Kosch, Wilhelm 248 Krakowski, Anna 52 Kraus, Hans-Joachim 12 Kraus, Karl IX 29 295 298 314-316 318 330 339 Kreuzer, Helmut 171 Krobb, Florian 337-355 Krohn, Paul Günter 327 Krohn, Rabbiner O. (Borszczów, Galizien) 158 161 162 Krojanker, Gustav 318 Kronawetter, Ferdinand 21 28 Krosigk, Konrad von X Krüger, Hans Karl 76 Krüll, Marianne 290 291 Kruse, Joseph A. 119

366

Kühne, Oberamtmann von Strelnow 133 Kürnberger, Ferdinand 203 251 Kugelmann 67 Kuh, Ephraim Moses 151 Kuh, Gebrüder 84 Kulke, Eduard 240 247 248 Kuranda, Ignaz 196 210 Kurtzhandl, Löbl 333 Kurz, Gerhard VIII 247-257 310 345 346 Labes, Caroline von 84 Labroue, Henri 55 Lacan, Jacques 287 Lagarde, Anna de 14 Lagarde, Paul de 13 14 Laistner, Ludwig 234 Lamparter, Eduard 12 Landauer, Gustav IX 324-326 329 331 Landesmann, Heinrich s. Lorm, Hieronymus Lane Jr., Lauriat 42 Lang, C. L. 248 Langbehn, Julius 14 15 Lanz von Liebenfels, Jörg 29 315 Lapouge, Claude Vacher de 59 Lassalle, Ferdinand 57 66 153 340 341 Latschka, Adam 26 Laubert, R. 70 Lauer, Simon 61 Lauser, Wilhelm 230 Lavedan, Henri 61 Lazarus, Michael 316 Lazarus, Moritz 149 Lazarus, Nahida Ruth 149 Lefysohn 67 Lehmann, Meir 240 247 Lehrmann, Cuno 52 Leitner, Rudolf 193 194 Lemmerich, Jost 140

Personenregister

Lenau, Nikolaus 177 178 200 201 Leopold I. von Anhalt-Dessau 138 Le Rider, J. 297 298 310 Leroux, Pierre 58 Lesseps, Ferdinand 57 Lessing, Gotthold Ephraim Vili 80 90 92-117 126 128 281 293 294 304 307 309 310 Lessing, Theodor IX 313 314 339 Letteris, Meir 205 Leupold-Löwenthal, H. 294 Leuß, Hans 12 Levaillant, Maurice 63 Leven, Narcisse 57 Levi (Buchhändler) 152 Levin, Rahel s. Vamhagen, Rahel Lévinas, Emmanuel 287 Levy, Sarah 78 87 Lewald, Elisabeth 242 243 Lewald, Fanny 227 236 238 242 243 Lewald, Otto 236 238 241 242 Lewis, Matthew 42 Lewita 67 Lieben (Familie) 185 Liebmann von Sadagora, Zadik 285 Lienbacher, Dr. 208 Liepmann, Eduard 10 Liesegang, Erich 159 Lipscher, Vladimir 190 192 Liptzin, Sol 35 49 149 Littrow, H. 281 Loewe, Louis 57 Löwenstein 152 Löwenthal, Carl 122 Löwy, Marie s. Kompert, Marie Lohrmann, Klaus 196

Personenregister

Lommatzsch, Siegfried 82 Longfellow, Henry Wadsworth 273 Lorenz, E. 308 Lorm, Hieronymus 204 220 221 Lublinski, Samuel VIII Ludwig I. von Bayern 81 Ludwig XVI. von Frankreich 56 58 Lueger, Karl 26 27 30 174 176 188 341 Lunn, Eugene 324 Luther, Martin 14 138 154 Luxemburg, Rosa 314 Magris, Claudio 20 177 Maimonides (Mose ben Maimón) 280 Maizeroy, René 62 Mallarmé, Stéphane 70 Malthus, Thomas Robert 58 Manasse ben Israel 53 Mann, Heinrich 331 Mannheim, Karl 186 Mannheimer, Isak Noa 209 Manteuffel, Edwin Freiherr von 142 Marcus, Steven 42 Margalith, Elkana 325 Marggraff, Herrmann 114 144 Marin, Bernd 19 Marlitt, Eugenie 281 Marlowe, Christopher 35 43 Marr, Wilhelm 9 10 11 12 17 25 Martel de Janville, Sibylle Comtesse 64 Martersteig, Max 96 Martin, Bernd 8 59 97 Marx, Adrien 67 Marx, Karl 27 57 66 144 297 314 320 324 327 331 339 340 Masaryk, Thomas G. 30 Masoch, Franz von 259

367

Masson, Jeffrey M. 287 Mathy, Karl 135 138 Matthisson, Friedrich von 199 Maturin, Charles 42 Maupassant, Guy de 52 61 62 64 65 Maurois, André 71 Maurras, Charles 69 Mauthner, Fritz 326 Mayer, Hans 93 97 144 286 Mayer, Heinrich 170 Me Guire, William 303 Meinecke, Friedrich 16 Meister, Hulda s. Sacher-Masoch, Hulda von Mélèze, Josette 53 Mendelssohn (Familie) 85 Mendelssohn, Abraham 73 Mendelssohn, Moses 73 80 82 90 92 98 99 105 216 320 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 73 Mendès, Catulle 65 71 Menzel, Wolfgang 118 119 122 Meredith, George 36 Mersand, Joseph 35 Méry, Joseph 63 65 Metternich, Klemens Fürst 112 318 Meurin, Léon 58 Meyer, Conrad Ferdinand 296 Meyer, Richard Moritz 159 Michelangelo Buonarotti 304 Midgley, David R. 331 Mieroslawski, Ludvik von 134 Milfull, John 318 Mill, John Stuart 187 Miller, Norbert 88 169 177 183 Mirbeau, Octave 70 Missoffe, Michel 64 Mitterer, Felix 189 Modder, Montagu Frank 35 Moering, Renate 91

368

Molinari, Theodor 140 Mommsen, Theodor 148 315 Montefiore, Moses 57 281 Montesquieu, Charles 55 Mordecai, Rachel 36 Morello, R. 295 Morice, Charles 70 Mortara, Edgardo 57 Mosen, Julius 123 Mosenthal, Salomon Ritter von 206 221 235 247 262 263 Mousseaux, Roger Gougenot des 58 Mozart, Wolfgang Amadeus 108 Müller, Adam 76 77 79 Müller-Gutenbrunn, Adam 31 Müller-Jabusch, Maximilian 151 Mülsch, Elisabeth-Christine 61 69 Münk, Salomon 57 Muschg, Adolf 185 187 Musset, Alfred de 61 Nádherny von Borutin, Sidonie Baronin 316 Nadler, Josef 317 Nagl, Johann Willibald 201 248 Naman, Anne Aresty 35 Napoleon ΙΠ. 57 Napoleon Bonaparte 56 80 106 Neander, August 120 Neher, R. 69 Nero 68 Nerval, Gérard de 61 Neubauer, Hans-Joachim 72 92 108 109 347 351 352 Neustadt, Adolf 197 198 199 200 201 202 203 204 Nicki, Therese 291 Nietzsche, Friedrich 163 310 320 Norden, Eduard 292 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 85 301

Personenregister

Novogoratz, Hans 24 Nowak, Kurt 82 83 Nozière, F. 64 Nunberg, Hermann 294 Ochs, Marx 151 Offenbach, Jacques 67 Ohnet, Georges 61 62 Okonski 260 Onnau, Hans Elmar 2 Onody, Géza 30 Oppenheim, Bernhard 153 Oppenheimer, Joseph 152 328 Orcet, G. d' 62 Orzeszkowa, Eliza 219 250 255 259 260 Osten-Sacken, Peter von der 240 Ostwald, Paul 135 Otruba, Gustav 195 Oxaal, Ivar 187 Quinn, Susan 82 Pantenius, Theodor Hermann 230 Paoli, Betty 206 210 211 Parik, V. 196 Pascal, Georges de 58 Pattai, Robert 25 187 Patterson, Gordon 319 321 Pazi, Margarita VID 180 206 215 218-233 331 338 346 347 350 351 352 354 355 Péreire, Brüder 144 Pemerstorfer, Engelbert 21 Perutz, Kathrin 265 Peters, Uwe Henrik 82 Pfabigan, Alfred 314 Pfeiffer, Eduard 153 Pfeiffer, Emst 305 Pfizer, Gustav 122 Pfnmmer, Th. 287 290 291 292 304 Philippson, Ludwig 124 215 220 234 253 261 290 304 Philipson, David 35

Personenregister

Pietzcker, Carl 267 Pinn, Karl 262 Pius IX., Papst 63 Plutarch 292 Pörnbacher, Karl 196 Polenz, Benno von 5 6 Polenz, Wilhelm von 5 6 Polgar, Alfred 319 Poliakov, Léon 52 55 Pollack, Martin 248 Pollak, Marie s. Kompert, Marie Pollak, Michael 187 Polleroß, Friedrich B. 19 Popper-Lynkeus, Josef 296 297 Porto-Rie he, George de 71 Posner, A. 150 Preese, Heinrich s. Schiff, Hermann Protokolle der Weisen von Zion 107 Proust, Marcel 52 70 Proyart, Abbé Liévin-Bonaventure 58 Prutz, Robert 144 Psenner, Ludwig 26 Pulzer, Peter G. J. 28 184 Purnal, Roland 53 Quasthoff, Uta 256 Raabe, August 151 Raabe, Gustav 151 152 Raabe, Wilhelm VII 130 148-168 346 348 351 Rahmer, Moritz 281 Randall, Earle Stanley 62 Rank, Josef 201 202 203 205 Rank, Otto 294 304 Rappaport, Moritz 250 Rassial, A. 287 Rassial, J. J. 287 Rathenau, Walther IX 322-324 328 330 Ratti-Menton, Conte de 57

369

Reclam (Verlag) 248 Rèe, Paul 313 Rehberg, Karl-Siegbert 174 176 Reich-Ranicki, Marcel 75 314 Reik, Theodor 290 294 295 297 298 300 306 308 Reinach, Baron 57 Reinach (Familie) 66 Reinach, Joseph 59 Reinach, Théodore 59 Reinhardt, Max 315 Reitani, L. 289 Rembrandt 14 15 241 Renan, Ernest 59 281 300 Rengstorf, Karl Heinrich 19 Reuter, Fritz 130 149 Richardson, Samuel 197 Richter, Claus 145 Richter, Günter 136 Rie, Oskar 296 Riehl, Wilhelm Heinrich 208 281 Rießer, Gabriel 120 121 122 124 125 153 Riff, Michael A. 216 Rilke, Rainer Maria 81 251 Rinner, Fridrun 248 258 Roback, Abraham A. 288 Robert, Ludwig 72 Robert, Marthe 292 293 Rodin, Auguste 303 Rogers, William 140 Rohling, August 26 263 274 Rohrbacher, Stefan 72 Rolland, Romain 67 68 299 Ronsard, Pierre de 52 Roscher, Wilhelm 143 Rosegger, Peter 231 Rosenberg, Alfred 58 Rosenberg, Edgar 35 43 48 Rosenthal 152 Rossbacher, Karlheinz VII 169-189 176 177 188 338 346 349

370

Roth, Joseph 20 33 248 Rothfuchs, Eduard 140 145 Rothkirch, von (Familie) 140 Rothschild (Familie) 57 58 85 86 151 206 265 Rothschild (Familie in Stadtoldendorf) 152 Rothschild, James 56 Rousseau, Jean Jacques 55 Rozenblit, Marsha 173 174 Rubin, Abba 35 Rudeck, Wilhelm 133 Rudolf, Erzherzog und Kronprinz von Österreich 249 Rühs, Christian Friedrich 72 73 74 Riilf, Gutmann 150 Rülf, Isaak 235 Runggaldier, Adelheid 185 Rupp, Heinz 248 Rutkowski, Emst von 32 Saar, Ferdinand von VII 169-189 258 267 Sabbatai Zwi 270 Sacher-Masoch, Hulda von 265 Sacher-Masoch, Leopold von Vin 219 248 250 258-286 349 Sacher-Masoch, Wanda von 258 265 Sachs, Michael 239 Sade, Donatien-Alphonse-François Marquis de 266 Sadger, Isidore 297 Sainte Albin, Rémond de 95 Salomonsohn, L. 149 Sölten, Felix 188 Sammons, Jeffrey L. 149 Samuely, Nathan 281 S am wer, Karl 136 Sand, George 64 Saphir, Moritz Gottlieb 249 Sartre, Jean-Paul 313

Personenregister

Saßmann, Hanns 321 Sauerländer, Wolfgang 303 Sautter, Udo 2 Savigny, Friedrich Carl von 84 Savoir, Alfred 64 Schaeder, Grete 301 Schäfer, Renate s. Böschenstein, Renate Schaelsky, E. 59 Schamhorst, Gerhard Johann von 79 Scheffel, Victor von 281 Scheicher, Joseph 29 Scheichl, Sigurd Paul 186 187 315 Schellberg, Wilhelm 84 Schemann, Ludwig 58 Scheu, Robert 188 Schiff, David Bär s. Schiff, Hermann Schiff, Hermann 240 244 Schiffmann, Mina 215 263 Schiller, Friedrich 110 138 196 206 225 275 Schiller, Otto 209 Schlegel, Dorothea 73 Schlegel, Friedrich 87 89 Schleiermacher, Friedrich 82 83 87 89 Schlesinger (Verleger) 88 231 Schlitz, Hans Graf von 84 Schmidinger, Walter 93 Schmidt, Hans 133 134 Schmidt, Jochen 310 Schmidt, Julian 126 138 Schmidt, Michael 72 108 149 Schmoller, Gustav 143 Schnabel, Franz 83 Schneider, Emest 25 187 Schneider, Gerhard 196 Schneider, Michael 130 139 145 Schneider, Peter-Paul 331 Schnitzler, Arthur 29 31 169

Personenregister

177 289 291 295 296 297 306 Schnitzler, Heinrich 291 Schocken (Verlag) 245 Schoeller, Bernd 301 302 Schönau, W. 294 Schöne, Albrecht 90 267 Schönerer, Georg Ritter von 5 14 19 20 21 25 28 30 184 355 Schoeps, Julius H. VIII 216 234-246 240 245 333 341 345 352 Scholem, Gershom 233 Schopenhauer, Arthur 185 Schorske, Carl E. 288 Schräder, Hans-Jürgen 148 338 340 342 344 345 347 348 350 353 354 Schreber, Daniel Paul 299 Schreiber, Gustav 133 Schröder, Friedrich Ludwig 96 103 Schubert, Kurt 185 Schulin, Ernst 8 59 97 322 323 Schultze, Johannes 138 Schulz, Ursula 92 Schulze, Emst 220 Schulze, M. 149 157 158 Schulze (Juden-Missionar) 153 Schur, Max 306 Schwarz, Egon 171 Schwöb, Marcel 54 71 Scott, Walter 36 43-45 53 Scribe, Eugène 53 61 Sée, Germain 67 Seeberg, Alfred 12 Seeberg, Reinhold 12 Ségur, Sophie Comtesse de 61 62 Seibt, Ferdinand 195 Seidel, Heinrich 281 Seneca 292 Sennett, Richard 177 181 182

371

Sessa, Karl Borromäus 72 73 89 106 107 108 109 110 111 113 351 Shakespeare, William 35 42 43 93 95 96 100 102 103 112 113 114 115 116 281 Shedletzky, Itta VIII 338 342 344 349 351 352 354 Siegel, Christian Ernst 332 Sigi, Johann Baptist 3 13 Sigi, Rupert 3 Silberer, Herbert 287 303 Silberner, Edmund 28 314 339 Silberstein, Adolph 281 Simion, Markus 75 88 Simmel, Georg 147 Simmel, Johannes Mario 139 Simon, August 232 Simond, Charles 62 Simonyi, Ivan 30 Singer 152 Singer, Isidor 149 Singer, Kurt 299 Sinsheimer, Hermann 117 Sittenfeld (Verleger) 88 Smith, Roger C. 304 Smolenski, Peter 281 Smollett, Tobias 35 36 Soboul, Albert 55 Söntgen, Gertrude X Sösemann, Bernd 67 Sokel, Walter H. 307 Sokrates 243 Sombart, Werner 141 144 145 Sonnenthal, Adolf 115 Sophokles 293 Sorlin, Pierre 64 Soury, Jules 59 Spielrein, Sabina 305 306 Spinoza, Baruch de 123 204 240 250 Spira, Leopold 19 Spirek, Alfred 264

372

Spitzer, Daniel 176 Springer (Verleger) 88 Stägemann, Friedrich August 76 Stahl, Friedrich Julius 155 Stahr, Adolf 236 238 242 243 Starobinski, Jean 297 Stauben, Daniel 69 Steckelmacher, Moritz 262 Steffens, Karl 75 Stein, Heinrich Friedrich Karl FreiheiT vom 85 134 Stein, Julius 136 Stein, Leopold 280 281 Stein, Peter 119 Steinecke, Hartmut Vm 118-129 119 130 136 184 258 340 342 344 346 347 350 352 353 354 Steiner, Max 313 Steinheim, Salomon Ludwig 125 Steinicke (Dresden) 96 Steinsdorff, Sibylle von 75 Steinthal, Heymann 211214 Stephan, Inge 267 Stern, Adolf 149 Stern, Itzig Feitel 110 Stern, Julius 207 Stifter, Adalbert 177 201 267 Stoecker, Adolf 5-7 11 12 13 16 17 341 352 Stölzl, Christoph 30 192 193 195 200 210 Stoessl, Otto 300 Stoffers, Wilhelm 31 204 264 Stojalowski, Pater 30 Stolz, Alban 281 Stone, Harry 42 Sträter, Edmund 157 158 160 Strauss, Alice 309 Strauss, Franz 309 Strauss, Herbert Α. IX 52 72 108 131 149 173 174 183 244 251 Strauss, Richard 308 309

Personenregister

Strauss, Walter A. 52 61 62 Streicher, Julius 141 Strelka, Joseph P. 196 Stromer, Theodor 281 Stümcke, Heinrich 92 104 117 Stuhlpfarrer, Karl 185 Sturm, Heribert 207 Stutzer, Dietmar 85 Suarès, André 71 Suchy, Barbara 55 Sue, Eugène 52 153 Süß, Jud s. Oppenheimer, Joseph Sulzer, Salomon 196 Susman, Margarete 299 Swiatlowski, Zbginiew 267 268 Swoboda 298 Szajkowski, Z. 55 Szántó, Simon 207 208 Taaffe, Eduard Graf von 24 Tasso, Torquato 185 Tauber, Josef Samuel 240 Tempeltey, Ed. 134 Thackeray, William 36 Thierry, J.-J. 53 Thöni, Hans 189 Tieck, Ludwig 87 Tilloy, Möns. Anselme 58 Titus 52 Todesco (Familie) 185 Torquemada, Thomas de 53 Toury, Jacob 88 141 145 203 205 207 208 Toussenel, Alphonse 58 Trebitsch, Arthur 313 Treitschke, Heinrich von 5 148 281 Treue, Wilhelm 84 Trewendt (Verlag) 229 Trollope, Anthony 36 45-48 Trotzki, Leo 314 Trüb, Hans 303 Tucholsky, Kurt 86 334 335 Ullmann, Philippine 149 158

Personenregister

Ulrich, Paul 131 Urban, Bernd 289 301 303 Urbantschitsch, Rudolf von 297 Vanderem, Fernand 66 Varnhagen, Rahel 72 73 86 87 152 153 Varnhagen von Ense, Karl August 76 87 Vasiii, Paul Graf s. Adam, Edmonde Vecchio, Palma 68 Veit, Moritz 135 238 239 Verdès-Leroux, J. 52 54 57 Vergani, Ernst 26 187 Veronese, Paolo 308 Vesely, Jiri 176 Vespasian 52 Vidocq, François-Eugène 61 Vielmetti, Nikolaus 185 Vieweg (Verlag) 153 Vigneaux, Sydney 61 62 Vigny, Alfred de 53 Vogelsang, Karl von 26 Vogt, Rolf 300 310 Vogüé, Eugène Vicomte de 66 Volke, Werner 289 317 Voltaire 52 55 Voß, Julius von 103 104 105 106 107 109 110 117 351 Wabnegger, Erwin 119 Wachten, Johannes 20 Wagner, Richard 29 52 Wahl, Saul 236 Wahnrau, Gerhard 94 Waissenberger, Robert 294 Waldeck-Rousseau, Pierre 54 Waiden, Herwarth 149 Waldstein (Familie) 196 Waldteufel 67 Walesrode, Ludwig 153 Walter, Hans-Albert 327 333 Warburg, Isaac 84 Wardi, Charlotte 52

373

Wartburg, Walther von 54 Wassermann, Jakob 10 11 149 300 302 344 Weber, Max 5 Wedekind, Frank 296 Weill, Alexandre 69 235 245 Weininger, Otto 29 298 313 314 Weinzierl, Erika 19 31 Weisl, Wolfgang von 32 Weiß, Adolf 136 Weiß, Heinrich 190 191 194 Weiss, Hilde 19 Weiss, Walter 178 Weltsch, Robert 300 Wendel, Hermann 150 Werfel, Franz 20 Werth, vom (Mainz) 17 Wertheim, Philipp 235 238 240 243 Wertheimer, Henriette 196 206 Wertheimer, Joseph 195 196 207 Wertheimer, P. 296 Wertheimstein (Familie) 185 Wertheimstein, Josephine von 187 Whiteside, Andrew G. 19 Widal, Auguste s. Stauben, Daniel Widmann, Joseph Viktor 302 Wiesinger, Albert 24 208 209 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 133 Wild, Rainer 172 Wildenbruch, Ernst von 281 Wilhelm Π., Kaiser 14 355 Windthorst, Ludwig 13 Winkelbauer, Thomas VIII 190-217 342 343 349 Wirschem, Karin 130 145 Wirtz, Stefan 337-355 Wittels, Fritz 295 298

374

Wittersheim 67 Wittner, Otto 199 Wiznitzer, Manuel 329 Wodenegg, Andrea 219 259 260 264 Wolf, Christa 355 Wolf, Gerson 190 193 195 207 215 Wolff (Verleger) 88 Wolff, Albert 67 Wolff, Kurt H. 186 Wolff, Theodor 67 71 Wolfskehl, Karl 299 Worbs, Michael 288 292 294 295 296 301 Wunberg, Gotthart 295 296 Wurm (Schauspieler) 109 110 114 Wurzbach, Constant von 195 205 213 Yashinsky, Palomba 52

Personenregister

Yeshua, S. 287 York von Wartenburg, Hans David Ludwig Graf 85 134 Young, E. J. 59 Zangwill, Israel 50 51 Zeidler, Jakob 201 248 Zeman, Herbert 196 Zerinschek, Klaus 248 258 Zimmermann, Dorothee 260 Zimmermann, Margarete 70 Zimmern, Helen 36 Zmarzlik, Hans-Günter 8 Zmegaé,Viktor 344 346 347 351 Zohn, Harry 20 Zola, Emile 54 61 62 70 281 Zuckerkandl, Bertha 295 Zuckermann, Hugo 32 Zunz, Leopold 153 Zweig, Arnold IX 293 329-332 334 336 Zweig, Stefan 20 23 231 296

Personenregister

Teilnehmerliste Prof. Dr. Hans-Peter Bayerdörfer (München) Dr. Renate Böschenstein (Genève) Prof. Dr. Horst Denkler (Berlin) Dr. Kurt Dittmar (Hamburg) Prof. Dr. Walter Grab (Tel-Aviv) Prof. Dr. Wolfgang Häusler (Wien) Prof. Dr. Frank-Rutger Hausmann (Aachen) Prof. Dr. Arno Herzig (Hamburg) Prof. Dr. Hans Otto Horch (Aachen) Prof. Dr. Werner Jochmann (Hamburg) Heinz Knobloch (Berlin, DDR) Dr. Klaus Christian Köhnke (Berlin) Prof. Dr. Gerhard Kurz (Gießen) Prof. Dr. Walter Müller-Seidel (München) Hans-Joachim Neubauer (Berlin) Prof. Dr. Margarita Pazi (Tel-Aviv) Prof. Dr. Karlheinz Rossbacher (Salzburg) Prof. Dr. Julius H. Schoeps (Duisburg) Prof. Dr. Hans-Jürgen Schräder (Genève) Dr. Itta Shedletzky (Jerusalem) Prof. Dr. Hartmut Steinecke (Paderborn) Dr. Thomas Winkelbauer (Wien) Stefan Wirtz, M. A. (Aachen) Prof. Dr. Viktor ¿megac (Zagreb)